Ressourcenarbeit in der Flüchtlingshilfe: bei Stress durch Migration und Flucht [1. Aufl.] 9783662604700, 9783662604717

Erzwungene Migration und Flucht bedeuten oft eine große Verunsicherung oder sogar Traumatisierung der Betroffenen. Nach

270 31 2MB

German Pages XIX, 161 [172] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIX
Wissen (Gisela Perren-Klingler)....Pages 1-55
Praktische Ressourcenarbeit (Gisela Perren-Klingler)....Pages 57-87
Übungen (Gisela Perren-Klingler)....Pages 89-129
Psychologisches Debriefing (europäische Version, nach Perren-Klingler) (Gisela Perren-Klingler)....Pages 131-149
Anhang: „Kultur“ und interkulturelle Kommunikation (Gisela Perren-Klingler)....Pages 151-156
Back Matter ....Pages 157-161
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Ressourcenarbeit in der Flüchtlingshilfe: bei Stress durch Migration und Flucht [1. Aufl.]
 9783662604700, 9783662604717

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Gisela Perren-Klingler

Ressourcenarbeit in der Flüchtlingshilfe bei Stress durch Migration und Flucht

Ressourcenarbeit in der Flüchtlingshilfe

Gisela Perren-Klingler

Ressourcenarbeit in der Flüchtlingshilfe bei Stress durch Migration und Flucht Mit einem Geleitwort von Christof Meier, Zürich

Gisela Perren-Klingler Visp, Valais, Schweiz

ISBN 978-3-662-60470-0 ISBN 978-3-662-60471-7  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-60471-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Fotonachweis Umschlag: © Daniel Ernst, stock.adobe.com (Symbolbild mit Fotomodellen) Planung: Katrin Lenhart Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Geleitwort

Viele geflüchtete Menschen haben Erfahrungen mit Gewalt, Entwurzelung und Verlust. Diese oft traumatischen Erlebnisse hinterlassen körperliche, seelische und soziale Spuren, mit denen die Betroffenen auf ihrem weiteren Weg leben müssen. Vielfach fehlt es ihnen aber an der nötigen Kraft und Ruhe, ihre normalen Reaktionen zu verstehen, zu verarbeiten und vernarben zu lassen. Ihre psychische Gesundheit ist zu schwach und zu wenig stabil, um die Zukunft im Hinblick auf ihre Integration oder ihre Rückkehr eigenständig anzugehen. Geflüchtete benötigen Unterstützung, die die Beratungsund Gesundheitssysteme in den Aufnahmeländern nicht selten konzeptuell, quantitativ und kulturell überfordert. Diese in den 1990-er Jahren formulierten Feststellungen bildeten damals die Ausgangslage, mit der sich die Asyl-Organisation für den Kanton Zürich (AOZ) konfrontiert sah. Zehntausende von Menschen flüchteten vor den Kriegen im Balkan in die Schweiz. Sie fanden Schutz und Existenzsicherung, durften aber nicht arbeiten. Auch konnten sie gesundheitlich und sozial nur ungenügend versorgt werden. Insbesondere für den damaligen Leiter der AOZ, Rolf Widmer, zeichnete sich deshalb schon bald ab, dass neue Wege gesucht und beschritten werden mussten. Und er machte vieles möglich. Es folgte eine Phase, in der innert wenigen Jahren verschiedenste Projekte aufgebaut wurden, die nicht nur die Situation der aus Bosnien, Kroatien, Serbien oder dem Kosovo geflüchteten Frauen, Männer und Kinder verbesserte, sondern auch Ansätze verfolgten, die in der Folge weiterentwickelt und professionalisiert wurden. Das veränderte die Konzepte in der Flüchtlingsbetreuung und der Sozialhilfe nachhaltig. Eines der damals realisierten V

VI      Geleitwort

Pilotprojekte zielte auf die psychische Gesundheit. Es ging darum, zu lernen, wie Menschen (wieder) befähigt werden können, ihre persönlichen und kulturellen Ressourcen zu nutzen und sich mit ihren Erfahrungen kreativ auseinanderzusetzen. Zwischen Dezember 1994 und September 1995 wurde eine erste zwölftägige Ausbildung durchgeführt, die auch aus heutiger Sicht außergewöhnlich war. Der Inhalt war primär auf die Begleitung von Kriegsflüchtlingen aus dem Balkan ausgerichtet und umfasste einerseits die Teilaspekte Wissen, Techniken und Selbstaufbau und andererseits ein Vorgehen, bei dem das Gelernte an weitere Flüchtlinge weitergegeben (multipliziert) wurde. Konsequenterweise wurde der Kurs transkulturell durchgeführt und als Ausbildung „für und mit Betroffenen“ ausgeschrieben. Teilgenommen haben 12 Betreuerinnen und Betreuer aus der Schweiz und 18 vorläufige aufgenommene Kriegsflüchtlinge aus dem Balkan. Ergänzend dazu wurden in dieser Zeit durch den neu aufgebauten PsychoSozialen Dienst der AOZ Projekte umgesetzt, in denen die teilnehmenden Flüchtlinge aktiv und mit verantwortungsvollen Aufgaben eingesetzt wurden. Sie übersetzten und leisteten kulturelle Vermittlungen; sie begleiteten Familien und Einzelpersonen, die mehr Betreuung benötigten, als die zuständige Institution leisten konnte; sie waren Vertrauenspersonen und Wohnpartner von unbegleiteten Minderjährigen; sie arbeiteten mit Kindern, leiteten Spielgruppen und koordinierten Treffpunkte; sie bauten Rückkehrberatungen auf und realisierten kulturspezifische Präventionsarbeit im Gesundheitsbereich. Dies ermöglichte einerseits ein erweitertes sowie sprachlich und kulturell angepassteres Betreuungsangebot und andererseits den Mitwirkenden eine Tagesstruktur, eine Aufgabe und nicht zuletzt Respekt und Wertschätzung. Der Erfolg dieser Arbeit führte dazu, dass für die neu dazu gekommenen Mediator/ innen – so wurden die in den Projekten aktiven Flüchtlinge bezeichnet – zwischen Herbst 1996 und Frühling 1997 ein konzeptuell angepasster und ergänzter Folgekurs durchgeführt wurde, den 53 Personen vollständig absolvierten, 29 in der „Gruppe Balkan“ und 24 im „interkulturellen Kurs“. Der erste Kurs und der Grundblock des zweiten Kurses wurden von Dr. Gisela Perren-Klingler fachlich geleitet. Ich selbst organisierte, koordinierte und protokollierte die Ausbildungen und leitete den PsychoSozialen Dienst. Gemeinsam verdichteten wir die Materialen und Erfahrungen zum „Handbuch Ressourcenarbeit“, das wir 1998 – und 2002 in einer leicht überarbeiteten Neuauflage – als Co-Autoren publizierten. Der Name war ebenso Programm wie der Untertitel „Für die Betreuung von und mit Flüchtlingen, die Begleitung traumatisierter Menschen, die Praxis und den Alltag“.

Geleitwort     VII

Die hier vorliegende Weiterentwicklung des Handbuchs freut mich sehr. Sie wird von Gisela Perren-Klingler alleine verantwortet. Sie verfügt über das Wissen, die Erfahrung und die Kompetenzen, die damaligen Erkenntnisse zu überprüfen, auf der Basis praxisnaher Arbeit auf den aktuellen Stand zu bringen und hinsichtlich aktueller Fragen im Flüchtlingsbereich zu erweitern. Mein beruflicher Weg entfernte mich von der direkten Arbeit mit Asylsuchenden und Flüchtlingen, blieb aber innerhalb des Migrations- und Integrationsbereichs. Nicht zuletzt dadurch ergibt es sich, dass ich immer wieder mit Personen in Kontakt stehe, die vor unterdessen zwanzig Jahren als Flüchtlinge an den oben erwähnten Ausbildungen teilnahmen und sich in unseren Projekten engagierten. Vielen von ihnen gelang es trotz langjährigem Arbeitsverbot und kriegs- oder fluchtbedingt belasteter Biographie gesund zu bleiben, Ausbildungen abzuschließen und beruflich und sozial in unserer Gesellschaft anzukommen. Als ich in den letzten Wochen verschiedene der damals Beteiligten auf die Ausbildungen und das Handbuch ansprach, reichte dazu immer eine kurze Frage. Alle hatten sofort Erinnerungen, alle wussten zu erzählen, alle sprudelten von kleineren und größeren Anekdoten. Und alle sprachen davon, wie wichtig und bedeutsam es für sie gewesen ist, Wissen zu erhalten, bei ihren Ressourcen abgeholt zu werden und als Mensch gefragt und wertgeschätzt zu werden. Dies weiterzugeben, war allen ein Anliegen. Es ist nicht so, dass wir zu jener Zeit oder in der Folge „direkte Traumaarbeit“ geleistet haben – wir kannten unsere Grenzen und schützten uns vor therapeutischen Ansprüchen, aber alle wussten um Techniken, die sie bei Gisela Perren-Klingler gelernt hatten und die sie in ihren weiteren Tätigkeiten mit Erfolg anwenden konnten. Beim einen war es die kognitive Gesprächsführung, wenn ihnen ein Gegenüber eine schwierige Situation erzählte. Bei einer anderen das Einsetzen von Ankern, um sich oder anderen Kraft zu geben. Und bei wieder anderen war es das Herstellen von Beziehungen, der Umgang mit Ohnmacht oder die stets offene Frage nach der Zukunft. Diese rückblickenden Gespräche stärkten meine Überzeugung, dass ein überarbeitetes Handbuch Ressourcenarbeit auch heute von Bedeutung ist. Es kann und wird Flüchtlingen, Betreuenden und allen, die sich für die psychische Gesundheit ihrer Mitmenschen engagieren, eine wertvolle Unterstützung sein. Christof Meier, Integrationsbeauftragter der Stadt Zürich

Vorwort

Das vorliegende Buch entstand neu aus einem „Handbuch“, das 1998 mit dem ausführlichen Titel: „Ressourcenarbeit, ein Handbuch für die Betreuung von und mit Flüchtlingen, die Begleitung traumatisierter Menschen, die Praxis und den Alltag“ erschien. Es war im Anschluss an einen ersten „bi-kulturellen Kurs“ entstanden, den die Asylorganisationen Zürich organisiert hatten. Denn in der Folge der Balkankrise und der Balkankriege kamen viele Asylbewerber und Flüchtlinge in die Schweiz, und viele von ihnen waren schwer gezeichnet von ihren Erfahrungen. Der bi-kulturelle Kurs wurde in Zusammenarbeit mit Rolf Widmer und Christof Meier geplant, organisiert und durchgeführt, sechs Blöcke, die jeder aus zwei vollen Tagen bestand. Der „Bi-kulturelle Charakter“ des Kurses bestand darin, dass zwei Gruppen, eine Asylbewerber und Flüchtlinge vom Balkan (Bosnier, Serben, Kroaten und Albaner) und eine von im Asylwesen aktiven Schweizern (Freiwillige und Angestellte) zusammen ausgebildet wurden. Die Voraussetzung war, dass die Teilnehmer einigermaßen Deutsch verstanden. Doch gab es auch immer einen Übersetzer, der von Deutsch auf Serbo-Kroatisch und Albanisch übersetzte. Die Inhalte vorzugeben und die praktischen Übungen zu erstellen, war meine Aufgabe; ich hatte zu Beginn des Kurses ein komplettes Programm

Die Autoren verwenden in diesem Buch überwiegend das generische Maskulinum, bei einigen gängigen Substantiven auch ein Binnen-I. Die Autoren weisen ausdrücklich darauf hin, dass bei jeder Art der Darstellung immer alle Geschlechter mit eingeschlossen werden sollen. IX

X      Vorwort

mit Zielen für theoretisches und praktisches Wissen vorbereitet. Doch ich musste dieses bereits im ersten Block anpassen, da die Teilnehmer, gezeichnet durch ihre Kriegs- und Verfolgungserfahrungen, dem Kurs nicht folgen konnten. Sie waren viel zu übererregt oder dissoziiert, um am Kurs teilzunehmen und zu lernen. Sie sahen sich selber aber nicht primär als Patienten mit Recht auf Psychotherapie, sondern als Opfer politischer Prozesse, die Europa nicht zu stoppen imstande (oder willens) gewesen war. „Wir sind total normal, nur leiden wir unter dem, was passiert ist; wir wollen keine Psychiater“ war der Grundton in den ersten beiden Kurstagen. Das sind eben kulturspezifische Wahrnehmungen. Es gelang mir, die Teilnehmer davon zu überzeugen, dass sie unter massivem Stress litten, ob er auf Kriegsgeschehen – und Verfolgung, Fluchterfahrungen oder der Aufnahme in die Schweiz beruhte, wurde dahingestellt. Denn sie hatten Recht: sie litten unter all den erwähnten Erlebnissen, aber Leid kann man nicht behandeln; behandeln können wir nur Pathologien, Folgestörungen aufgrund des Erlebten. Mit Leid muss man anders umgehen. Leid kann man aber durch Aktivierung von Ressourcen – individuellen, wie gemeinschaftlichen – erträglicher machen, und das war eines der Ziele des Kurses. Damals war das Neue dieser Flüchtlingsarbeit, dass man partizipativ, d. h. unter Einbeziehung der Betroffenen, Wissen vermittelte und die zwei Kulturen, jene aus dem Herkunfts- und jene aus dem Aufnahmeland, gleicherweise als kompetent betrachtete und beide einsetzte. Als Ziel sollte beiden Gruppen soviel Bewusstsein von der eigenen, wie auch der anderen Kultur und Ressourcen vermittelt werden, dass sie als Multiplikatoren oder Mediatoren bei den Flüchtlingsgruppen „bi-kulturell“ wirken konnten. Wir definierten als Nachhaltigkeit, wenn mehr als die Hälfte der Kursbesucher auch noch nach zwei -Jahren das Gelernte anwenden würden. Das inhaltliche Ziel war, die Teilnehmer zu lehren, wie Menschen auf extremen Stress und Traumafolgestörungen reagieren, und wie man damit niederschwellig und doch effizient umgehen kann. Sie sollten lernen, Ressourcen aus beiden Kulturen zu benützen – für sich selber und ihre Mitflüchtlinge. Ihre Lebensqualität sollte verbessert und damit auch die Eingliederung in die Schweiz schneller und besser ermöglicht werden. Das praktische Ziel war aber vor allem: sinnvolle Gesprächsführung, Mobilisierung von Ressourcen, die Gesundheit fördern, den Kindern Luft verschaffen und friedliches Zusammenleben. Die praktischen Übungen waren darauf ausgerichtet. Nach der ersten Erfahrung mit der Anpassung an Bedürfnisse der Gruppe brachte ich in jedem Kursblock auch spontan Theorien und Übungen ein, die sich in der Diskussion als notwendig erwiesen hatten.

Vorwort     XI

Schon damals, in den 1990ger Jahren, gab es Reibungen zwischen dem Gastland und den Asylbewerbern; mich schockierte wiederholt die Aussage der Balkanflüchtlinge, „Schweizer seien schlechte Eltern“. Diese Bemerkung inspirierte eine Gruppenübung zur Frage, welche Werte der jeweiligen Kultur in der Erziehung gelten. Mit der Klärung der kulturabhängigen Werte, wurde das Interesse für die jeweiligen Haltungen und den Respekt für die andere Seite geweckt. Die Bemerkungen über die schlechten Schweizer Eltern verstummten und wichen der Neugier, wie die Schweizer Eltern es schafften, mit „so wenig Autorität“ ihre Kinder doch zu angepassten und nützlichen Schweizer Bürgern zu erziehen. Aber auch die Schweizer begannen die Erziehungswerte der Flüchtlinge positiver wahrzunehmen. Es zeigte sich, dass man sich als Organisator auch überfordern kann, wenn man Angehörige zu vieler verschiedene Kulturen im gleichen Kurs ausbilden will; der Lerneffekt war dort am intensivsten, wo das Herkunftsland, z. B. Ex-Jugoslawien, als Einheit angesehen wurde, und die vier verschiedenen Ethnien, Serben, Kroaten, Bosnier und Albaner, zusammen ausgebildet wurden. Man durfte auch erwarten, dass Vertreter von teilweise verfeindeten Bevölkerungsgruppen, auf dem neutralen Boden der Schweiz Zusammenarbeit lernen würden. Die beiden Konzepte Salutogenese mit der Selbstkohärenz und kulturelle Peerarbeit waren die Grundlage für die Kurse. Dabei wurde bedacht, dass es zwei Arten von kulturellen Ressourcen gibt, wenn man mit Flüchtlingen arbeitet: einerseits haben Flüchtlinge Ressourcen, die es ihnen ermöglichen, trotz den schwierigen Erfahrungen weiterzuleben, sich zu integrieren und im neuen Land aktiv zu werden, andererseits verfügen viele Europäische Aufnahmeländer über vielfältige institutionelle und individuelle Ressourcen, speziell für Flüchtlinge, aber auch allgemein in ihren Gesundheits- und Sozialinstitutionen. Doch sind gerade diese Aufnahmeinstitutionen geprägt von kulturellen und politischen Konzepten des jeweiligen Landes, was an sich weder gut noch schlecht ist, wessen man sich jedoch bewusst sein muss. Auch die Ankommenden bringen ihre eigene Kultur mit, und auch das kann bewusst genutzt werden. Dank der Praxisorientierung erfuhren sowohl die Schweizer als auch die Flüchtlinge viele Aspekte der Selbstkohärenz am eigenen Leib. Wahrscheinlich trug das zur Effizienz der Kurse bei. Die Teilnehmer erbaten sich eine ausführliche Kursunterlage, und so ist das erste „Handbuch Ressourcenarbeit für, von und mit Flüchtlingen“ entstanden. Nach dem Rückgang der Notfallinterventionen für Flüchtlinge wurde das Ressourcenhandbuch weiterhin angewandt und angefordert, sodass weitere 3000 Exemplare Abnehmer fanden.

XII      Vorwort

Vieles, was in den Kursen der 1990er Jahre sinnvoll zu lernen war, lässt sich auf die heutige Situation im Flüchtlingswesen, 20 Jahre später, übertragen. Doch gibt es auch große Unterschiede: Alle Menschen aus Ex Jugoslawien hatten seit dem 2. Weltkrieg in einem modernen europäischen Staat – sozialistischer Prägung – gelebt. Sie waren relativ aufgeklärt, und die Religion spielte eher eine untergeordnete Rolle. Hingegen kommen die heutigen Asylbewerber aus ganz andern und sehr verschiedenen ethnischen, kulturellen und politischen Kontexten: Afghanistan, Syrien (mit einer besonderen Gruppe, den yesidischen Frauen), Pakistan, Nordafrika, Somalia, Eritrea usw. Der gemeinsame Nenner ist vor allem die Suche nach einem besseren Leben und meistens die Religion, der Islam mit seinen verschiedenen Untergruppen. Gender spezifisches Verhalten, sei es die Ganzverschleierung oder die Weigerung, die Hand eines Vertreters des andern Geschlechts zu berühren, Blickkontakt, unterschiedliche Grenzen in Bezug auf Gewalt und die Infiltration durch islamistische Strömungen erschweren den Empfängerländern heutzutage die Aufnahme von Migranten in die jeweiligen Strukturen. Zum ersten Mal ist es auch nötig, minimale Verhaltensregeln für Ankommende öffentlich zu formulieren, zu lehren und möglichst weit durchzusetzen. Dieser Schritt wurde von verschiedenen politischen Gruppen gefordert oder bekämpft und gleichzeitig musste man die aufkeimende Angst und Ablehnung durch die lokale Bevölkerung ernst nehmen und praktisch angehen. In vielen Diskussionen um einen Ausweg aus der politisierten Sicht, einigte man sich auf ein Minimum an Verhaltensregeln, um das Zusammenleben zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen so zu regeln, dass Ängste und die daraus entstehende Ablehnung begrenzt gehalten werden können. In der Flüchtlingskrise von 2015 wurde die salutogenetische und Peer – orientierte Sichtweise wieder aktuell. Die von der WHO deklarierten „psycho-social interventions for trauma“, welche die Syrer, Jesiden, aber auch die Afghanen, Eritreer, Somalis und Sudanesen als „traumatisiert“ ansprachen, wurden von den Betroffenen abgelehnt, so wie damals die Psychotherapie, diesmal auch noch unter Betonung der Kulturfremdheit. Und doch benötigte die große Anzahl der angekommenen Flüchtlingen Betreuung und Hilfe bei der Integration, besonders deshalb, weil den meisten die Europäische Kultur sehr fremd ist. Folglich müssen die eingesetzten Betreuer plötzlich auch ihnen fremde Kulturen annehmen und schätzen lernen, und gleichzeitig eine minimale Anpassung an Normen des Empfangslandes lehren und vertreten. Auch wenn sich mehrheitlich junge

Vorwort     XIII

Sozialarbeiter, Sozialpädagogen und einige Freiwillige, u. a. Pfarrer und Lehrer, auf diese Arbeit einlassen, darf man über diesem Vorteil ihr Anrecht auf eine gute Ausbildung, die sie zu gutem Einsatz befähigt, nicht vergessen. Bei ihrer Ausbildung, besonders in Deutschland, wurde das salutogenetische Ressourcen- und Peerkonzept in verschiedenen Kursen erneut angewandt. Leider wurden m. W. (noch) keine Peers ausgebildet, weshalb die Frage bestehen bleibt, ob es sich nicht lohnt, schnell kulturspezifische, vielleicht auch genderspezifische Peers zu trainieren. Jede Gruppe von Migranten und Flüchtlingen bringt ihre eigenen Ressourcen, ihre kulturellen Fähigkeiten und Hemmnisse, ihre spezifischen potenziell traumatischen Erfahrungen und ihre eigenen als Peers auszubildenden Leaders mit sich. All dies spielt bei der Integration dieser Menschen eine Rolle. Es liegt an uns, im Gastland, neugierig darauf zu sein, alles wahr- und anzunehmen und jeweils neue Wege zu suchen, um diese Menschen wirklich ankommen und sich schnell integrieren zu lassen. Viele Ziele bleiben gleich: den omnipräsenten Stress der Betroffenen senken, ihnen ermöglichen, über die Erfahrungen zu sprechen und schnell so viel lernen, dass sie hier, auch im Exil, wieder ein gutes Leben führen. Gefragt sind Kreativität und Freude an den neuen Herausforderungen, sowie Flexibilität im Umgang mit den uns noch unbekannten Kulturen. Gleichzeitig müssen unsere unverzichtbaren Werte, wie das demokratische Verständnis unserer Gesellschaft und die grundlegenden Menschenrechte (beim Hochkommissariat für Menschenrechte in Genf zu beziehen, auch via Internet: http://www.unchr.ch/html/menu6/1/udgerman.http.) von allen respektiert und als Leitlinien angenommen werden. Für diesen Einsatz, Migranten und Flüchtlinge bei der Integration zu unterstützen, wurde das vergriffene „Handbuch Ressourcenarbeit“ überarbeitet und auf den aktuellen Wissensstand gebracht. Die Übungen und die Grundlagen sind immer noch praxisrelevant und deswegen etwas ausführlicher dargestellt. Einige heute nicht mehr aktuelle Aspekte wurden weggelassen und andere mehr betont. Dem Springer Verlag ist für sein Engagement, das Buch neu herauszugeben, zu danken, den Lektorinnen für ihre Geduld mit mir, sowie Elisabeth Balscheit aus Känerkinden/BL und Guntram Strahm aus Escholzmatt/Lu für ihre präzisen Korrekturen und vielen andern Freunden, die mich bei der Redaktion des Buches unterstützt und ermutigt haben. Visp, Schweiz

Gisela Perren-Klingler

Inhaltsverzeichnis

1 Wissen 1 1.1 Salutogenese 2 1.2 Ressourcen 3 1.3 Peerarbeit (Arbeit mit Gleichen, ausgebildeten pädagogischen Laien) 3 1.4 Trauma 4 1.4.1 Definition 4 1.4.2 Neurobiologie des extremen oder potenziell traumatischen Stresses 5 1.4.3 Stress sozial betrachtet; das Ressourcenungleichgewicht 7 1.4.4 Folgen potenziell traumatischer Ereignisse 8 1.4.5 Dissoziation 11 1.4.6 Umgang mit Traumata 12 1.4.7 Sinnschöpfung 15 1.5 Verlusterlebnisse 16 1.5.1 Trauer 17 1.5.2 Depression 19 1.6 Das „Niederlegen“ der Geschichte 21 1.6.1 Die Kraft des Wortes 21 1.6.2 Kognition und Emotion 23 1.6.3 Die lähmende Wahrheit salutogenetisch umdeuten 25 1.6.4 Kulturelle Zugänge 25 1.6.5 Reframing und posttraumatisches Wachstum 27 XV

XVI      Inhaltsverzeichnis

1.7

Kinder und Jugendliche 28 1.7.1 Werte in der Erziehung 28 1.7.2 Entwicklungsphasen 30 1.7.3 Besondere Problematiken 33 1.8 Familie 36 1.8.1 Die unvollständige Familie 36 1.8.2 Wiedereingliederung von Familienmitgliedern 38 1.9 Spezielle Fragestellungen 40 1.9.1 Gesundheit, Sexualität, Sucht, Hilfsbedürftige 40 1.9.2 Schuld, Scham, Täter und Opfer 44 1.9.3 Konflikte und Verhandeln 47 1.9.4 Hausaufgaben 48 1.10 Psychohygiene 50 1.10.1 Sekundärtraumatisierung (stellvertretende Traumatisierung) 51 1.10.2 Selbstschutz 51 1.10.3 Ohnmacht 53 Literatur 55

2 Praktische Ressourcenarbeit 57 2.1 Einleitung 58 2.2 Voraussetzungen für Beziehung 59 2.2.1 Rapport herstellen (s. dazu Übung 1) 59 2.2.2 Genau beobachten: Verändern der Physiologie wahrnehmen (Kalibrieren) (s. dazu Übung 2) 60 2.3 Ein Gespräch führen 61 2.3.1 Struktur eines Gesprächs: Das Diamantmodell 61 2.3.2 Konkretes, sinnes-spezifisches Formulieren (Benutzen der fünf Sinneskanäle; s. dazu Übung 6) 63 2.3.3 Ziel formulieren (s. dazu Übung 7) 66 2.3.4 Kognitive Sprache verwenden 67 2.4 Arten, die Welt wahrzunehmen (Wahrnehmungspositionen) 71 2.5 Assoziative Techniken, Ressourcenarbeit im engeren Sinne 73 2.5.1 Atmen (s. Übung 15) 73 2.5.2 Ankern (s. Übungen 17, 18) 74

Inhaltsverzeichnis     XVII

2.6 Dissoziative Techniken beim Denken an Unangenehmes 78 2.7 Werte transkulturell betrachtet 80 2.8 Verhandeln 81 2.9 Zukunftsplanung 82 2.10 Rückkehr und Abschied 84 Literatur 87 3 Übungen 89 3.1 Hinweise und Bemerkungen für die praktische Arbeit 89 3.2 Anleitungen zu den praktischen Übungen 93 3.2.1 Voraussetzung für Beziehungsaufnahme 93 3.2.2 Gesprächsführung 96 3.2.3 Notfallsituationen: Zurückholen ins Hier und Jetzt 97 3.2.4 Selbstschutz 109 Literatur 129 4 Psychologisches Debriefing (europäische Version, nach ­Perren-Klingler) 131 4.1 Einleitung 131 4.2 Technik des psychologischen Debriefings 133 4.2.1 Einzeldebriefing 135 4.2.2 Gruppendebriefing 140 Literatur 149 5 Anhang: „Kultur“ und interkulturelle Kommunikation 151 5.1 Der Begriff Kultur 151 5.2 Interkulturelle Kommunikation 153 Weiterführende Literatur 157 Stichwortverzeichnis 159

Über die Autorin

Dr. med. Gisela Perren-Klingler (1944) ist Kinderpsychiaterin, war lange Jahre ärztliche Delegierte des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes und besuchte in dieser Eigenschaft zahlreiche Gefängnisse in Lateinamerika, dem Nahen Ostens, Europa und Afrika. Sie war u. a. Mitglied der International Society for Traumatic Stress Studies, Delegierte des Schweizerischen Parlamentes in der Europäischen Kommission von Strassburg zur Prävention von Folter (1993–2001) und Mitglied der IHFFC (International Humanitarian Fact Finding Commision) von 2007–2017, die letzten 5 Jahre als Präsidentin. Sie hat in freier Praxis als Psychiaterin und Psychotherapeutin gearbeitet und ist immer noch als Ausbildnerin mit dem Spezialgebiet Traumaprävention und -integration tätig, besonders in Lateinamerika und im Libanon. Gisela Perren-Klingler ist Herausgeberin des Buchs „Trauma: Vom Schrecken des Einzelnen zu den Ressourcen der Gruppe“ (Verlag Paul Haupt 1996), „Debriefing: Erste Hilfe durch das Wort“ (Verlag Paul Haupt 2000), Psychische Gesundheit und Katastrophen (Springer Verlag 2015) und Autorin vieler Fachartikel.

XIX

1 Wissen

Inhaltsverzeichnis

1.1 Salutogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.2 Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.3 Peerarbeit (Arbeit mit Gleichen, ausgebildeten pädagogischen Laien) . . 3 1.4 Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.4.1 Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.4.2 Neurobiologie des extremen oder potenziell traumatischen Stresses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.4.3 Stress sozial betrachtet; das Ressourcenungleichgewicht . . . . . . 7 1.4.4 Folgen potenziell traumatischer Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1.4.5 Dissoziation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.4.6 Umgang mit Traumata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.4.7 Sinnschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.5 Verlusterlebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.5.1 Trauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.5.2 Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.6 Das „Niederlegen“ der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.6.1 Die Kraft des Wortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.6.2 Kognition und Emotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.6.3 Die lähmende Wahrheit salutogenetisch umdeuten . . . . . . . . . 25 1.6.4 Kulturelle Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1.6.5 Reframing und posttraumatisches Wachstum . . . . . . . . . . . . . 27 1.7 Kinder und Jugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1.7.1 Werte in der Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1.7.2 Entwicklungsphasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Perren-Klingler, Ressourcenarbeit in der Flüchtlingshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60471-7_1

1

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1.7.3 Besondere Problematiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1.8 Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1.8.1 Die unvollständige Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1.8.2 Wiedereingliederung von Familienmitgliedern . . . . . . . . . . . . 38 1.9 Spezielle Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1.9.1 Gesundheit, Sexualität, Sucht, Hilfsbedürftige . . . . . . . . . . . . 40 1.9.2 Schuld, Scham, Täter und Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1.9.3 Konflikte und Verhandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1.9.4 Hausaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1.10 Psychohygiene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 1.10.1 Sekundärtraumatisierung (stellvertretende Traumatisierung) . . . 51 1.10.2 Selbstschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 1.10.3 Ohnmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

1.1 Salutogenese Salutogenese (Orientierung an der Gesundheit, und nicht an der Pathologie) ist ein Konzept Aaron Antonovskys, Medizin – Soziologe aus den USA, der in den 1970er und 1980er Jahren, in Israel erforschte, wie Holocaust Überlebende mit dem zurechtkamen, was sie erlebt hatten. Bei der Salutogenese geht es vereinfacht dargestellt darum, in Menschen, die Schlimmes erlebt haben, die Fähigkeiten wahrzunehmen, wachzurufen und zu fördern, die ihnen erlauben, mit schwierigen Erfahrungen fertigzuwerden. Diese Fähigkeit, die Selbstkohärenz, besteht aus den drei (heute auch in Tests messbaren) Parametern: Kontrollierbarkeit, Verständlichkeit und Sinnhaftigkeit. Selbstkohärenz erlaubt Menschen, auch schwierigste Erfahrungen zu überleben und nicht an deren Folgen zu erkranken, sondern ein sinn- und ressourcenvolles Leben bis ins hohe Alter zu führen. Es versteht sich von selber, dass auch gesund überlebende Menschen den Holocaust, Krieg, Verfolgung und Folter mit grossem Leid erlebt haben; aber ihre Selbstkohärenz hat ihnen ermöglicht, trotz Leid, Schmerz und Todesängsten alle diese Erfahrungen so zu integrieren, dass sie gesund bleiben konnten. Das Konzept der Resilienz, das in der Forschung mit schwer belasteten Kindern entstanden ist, ist der Salutogenese sehr nah, doch mit 17 Parametern viel schwieriger umzusetzen. Deswegen wird in der Ausbildung der Peers nur auf die Salutogenese zurückgegriffen. Salutogenese mit den drei Anteilen, Kontrollierbarkeit, Verständlichkeit und Sinnhaftigkeit bedeutet Ressourcenarbeit.

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1.2 Ressourcen Ressourcen sind Quellen von individuellen und kommunitären Schätzen. Es sind beim Individuum Fähigkeiten, Wissen, Erfahrungen, familiäre und kulturelle Bande, in den Gemeinschaften sind es die Kultur im Allgemeinen, formelle und informelle Organisationen, Institutionen und politische Gegebenheiten. Dass ein Ressourcen-Ungleichgewicht hohen Stress verursacht, hat Hobfoll (1989) in seinen Arbeiten aufgezeigt.

1.3 Peerarbeit (Arbeit mit Gleichen, ausgebildeten pädagogischen Laien) Die Arbeit mit Gleichen ist ein uraltes Konzept, von menschlichen Gemeinschaften schon immer eingesetzt, welches von der WHO (World Health Organisation) am Kongress „Health for all by the year of 2000“ erstmals in Alma Ata 1979 erwähnt wurde. Damals wurde das Wort Peer (Gleicher) noch nicht benützt, sondern das Wort „Multiplikator“. Das bedeutet, dass Gesundheit nicht nur eine Aufgabe für Ärzte und Spitäler ist, sondern sie alle Bürger eines Landes angeht, als ein gemeinsames Gut und eine gemeinsame Verantwortung. In der in Alma Ata neu als wichtig erkannten „Primary Health Care“ (Basis- Gesundheitsversorgung) spielen nicht nur Gesundheitsberufe im alten Verständnis, d. h. Ärzte und Pflegepersonal, eine Rolle, sondern auch an der Gemeindebasis haben gewöhnliche Mitmenschen eine wichtige Funktion. Man begann z. B. in den USA und England für sexuelle Aufklärung, Prävention von Schwangerschaften und sexuell übertragbare Krankheiten „Peers“, in Schulen auszubilden. Das waren Schüler, die lernten, wie mit Gleichaltrigen über diese Probleme zu sprechen und ihnen Wege zu besserer sexueller Gesundheit zu weisen. Später wurde dieses Konzept angewandt, um Berufsleute, wie Polizisten, Feuerwehrleute und Sanitäter, die bei der Ausübung ihres Berufes wiederholtem hohem Stress ausgesetzt sind, zu sich selbst schützendem Verhalten zu motivieren und es ihnen durch Gesundheitsvertreter beizubringen. Denn diese „harten“ Berufsgruppen waren nicht bereit, über ihre Erfahrungen mit Psychologen zu sprechen. Hingegen konnten Kollegen, Peers aus den eigenen Reihen diese Berufsleute für extremen Stress bei Einsätzen und Mittel zu dessen Integration sensibilisieren. Heute ist in vielen dieser Corps die Vorsorge für Stress Management und die Ausbildung von Peers institutionalisiert und ein wichtiger Teil in der permanenten Weiterbildung (Beerlage 2009).

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Dieser Ansatz hat dazu geführt, Peers in der Balkankrise einzusetzen, wo kulturelle und soziale Unterschiede zwischen helfenden Berufen in den europäischen Aufnahmeländern und den Ankommenden so groß waren, dass es nur noch Missverständnisse gab.

1.4 Trauma 1.4.1 Definition Ein „Trauma“ (Mehrzahl „Traumata“) ist eine subjektive Erfahrung, bei der die „Unversehrtheit“ einer oder mehrerer Personen bedroht oder angegriffen wird. Ausgelöst vom Erleben eines gewaltsamen Ereignisses ausserhalb des „Bekannten“, „der Norm“ (1986, Diagnostisch Statistisches Manual III und folgende) bezeichnet „Trauma“ die Gefährdung der körperlichen und/oder psychischen Integrität der Betroffenen. Ein solches Ereignis, ein kritisches Ereignis löst extrem hohen Stress aus. An sich ermöglicht Stress einem Lebewesen, sich das Überleben zu sichern, unter Aufbietung aller biologischen Ressourcen: Menschen haben nach hoher Stress-Exposition auf der biologischen und psychischen Ebene sehr viel geleistet, sie haben überlebt. Doch nach dem Ereignis beginnen sie sich Gedanken über das Vorgefallene zu machen, sie reagieren mit extremen Gefühlen auf das Geschehen (bedingt durch den hohen Stress), besonders dann, wenn wichtige Werte betroffen oder angegriffen waren. Spezifische Reaktionen belasten nun die Überlebenden. Nicht immer aber ist eine „Traumatisierung“ die Folge; es gibt kein noch so schreckliches Ereignis, welches alle Menschen traumatisiert; sogar Folter, Vergewaltigung und alle andern schrecklichen Erfahrungen „traumatisieren“ nur einen relativ kleinen Teil der Betroffenen. Das heisst nicht, dass alle diese Betroffenen nicht gelitten hätten oder immer noch leiden würden; ob sie aber einerseits mit dem Leid und andererseits mit dem extremen Stress umgehen können, hängt ebenso von den sozialen und persönlichen Ressourcen ab, wie auch von den biologischen Bedingungen, die beim Überwinden helfen. Es ist also nicht vor allem das Ereignis, sondern die Ressourcen von Gemeinschaft und Individuum, die darüber entscheiden werden, wer später davon krank und wer daran wachsen wird. Aus diesem Grund ist es sinnvoller, von potenziell traumatischen oder traumatogenen Erfahrungen zu sprechen, als von „Traumata“. Potenziell traumatische Ereignisse können sowohl naturbedingt sein (z. B. Hurrikane, Lawinen, Überschwemmungen, Erdbeben, etc.) als auch von den Menschen selbst „gemacht“ sein: in der Familie z. B. von körperlicher oder psychischer Misshandlung oder sexuellen Missbrauch, in der Gesellschaft

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z. B. von Unfällen im Verkehr oder bei der Arbeit, von medizinischen Eingriffen, krimineller Gewalt, Vergewaltigungen, Umweltkatastrophen, in der Politik z. B. von Verfolgung, Folter, Krieg und Flucht. Davon können nicht nur die direkt implizierten Personen, sondern auch andere, die „nur“ Zeugen waren oder sogar nur davon gehört haben, betroffen sein. Ein kritisches Ereignis ruft eine individuelle und kollektive somatische und psychische Belastung im Dienste des Überlebens hervor, doch reagieren verschiedene Menschen auf ein traumatogenes Ereignis unterschiedlich; einige können es wegstecken, andere werden davon krank. Durch Naturgewalten bedingte kritische Ereignisse rufen neben den immer gleichbleibenden biologischen Reaktionen andere Interpretationsweisen hervor, als solche, die von Menschen bedingt sind. Von Menschen hervorgerufene traumatogene Ereignisse enthalten stets eine Form von Machtmissbrauch. Dadurch wird das Netz des Zusammenlebens nachhaltig verletzt es führt auch zu „psychosozialer Zerstörung“ (Martín-Baró 1994). Auch diese psycho-sozialen Aspekte müssen in der Bewältigungsarbeit einbezogen werden. Hilfreich ist es, zwischen kritischen Ereignissen zu unterscheiden, die ein einziges Mal stattfinden und danach abgeschlossen sind (Typ 1), und solchen, die wiederholt auftreten und permanent als Bedrohung in der Luft liegen (Typ 2). Sie haben nicht die gleichen Folgen und verlangen andere Bewältigungsstrategien, wobei Typ 2-Traumen bei Kindern und Jugendlichen besonders gravierend sind. Es gibt Übergänge und Mischformen der beiden Typen, sowie chronische, immer wiederkehrende und sequenzielle traumatogene Ereignisse. Eine potenziell traumatische oder traumatogene Erfahrung kann man auch als eine Exposition an extremen Stress betrachten; die Reaktionen während und nach der Exposition lassen sich als biologisch bedingte Stress-Folgen ansehen. Stress ist ein allgemeinmenschliches Phänomen, ­ bedingt von der Neurobiologie. Von Kultur zu Kultur unterschiedlich sind hingegen verhaltensmässiger Ausdruck, Interpretation und Umgang damit.

1.4.2 Neurobiologie des extremen oder potenziell traumatischen Stresses Stress ist ein Konzept, das, unter biologischen, psychologischen und sozialen Aspekten betrachtet werden kann. Wir werden uns hier auf die biologischen und sozialen Faktoren konzentrieren, da diese beiden Anteile besonders wichtig sind, wenn man sich mit den Folgen des potenziell traumatischen Stresses befasst.

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Die Stress-Reaktion ist eine Fähigkeit des Organismus, welche immer im Dienst des Überlebens steht, und in dem Sinn ein „Freund“ des Menschen. Stress ist eine spezifische Anpassungsreaktion des Organismus auf erhöhte Anforderungen. Wesentlich ist, dass nach dem Stress eine Ruhepause kommen muss. Die Stress-Reaktion hat zwei Anteile: den des zentralen und peripheren Nervensystems (den Nervenleitungen) und den auf dem Drüsensystem (Hypophyse, Nebennieren) beruhenden hormonalen. Beide beeinflussen einander permanent mit Aktivierung und Hemmung über verschiedene Rückmeldeschlaufen, die weiter aktivieren oder bremsen können. Das periphere autonome (vom Willen unabhängige) Nervensystem, der Sympathikus (S) und der Parasympathikus (PS) funktionieren im Normalfall in einer Art Gleichgewicht zwischen Aktivierung (Sympathikus) und Beruhigung (Parasympathikus, Porgess 2001). Der PS ist dem S übergeordnet und bremst ihn, wenn keine Gefahr besteht. Das lässt sich z. B. bei der Regulierung der Herzfrequenz, des Pulses, gut beobachten, wenn der Mensch sich in einer sicheren Umgebung befindet. Der myelinisierte PS, dessen Nervenbahnen mit einer Fettschicht isoliert sind, der phylogenetisch (entwicklungsgeschichtlich) jüngere Teil des PS, hemmt den S im Vorhof des Herzens und garantiert dadurch den Ruhepuls. Erst wenn der PS in der Peripherie vorbewusst wahrnimmt (was man als „Neurozeption“ (Porgess 2004) oder den sechsten Sinn bezeichnen könnte), dass Gefahr droht, deaktiviert er sich innerhalb von Millisekunden und unterlässt dadurch die Hemmung des S am Herzen: Der Puls beginnt zu rasen, die Atmung beschleunigt sich, Schweiss tritt aus usw. Sobald der Mensch das merkt, spricht er von „Angst“, kurz die S-bedingte Kampf-Flucht- Reaktion (Selye, 1936) stellt sich ein. Die Kraft wird in die Muskulatur verlegt, die Empfindungen des Körpers werden reduziert. Man spürt weder Müdigkeit noch Hunger, Durst oder Schmerz. Zusätzlich sind die Emotionen abgestellt und ist die Wahrnehmung fokussiert. Das alles ist wichtig, wenn man kämpfen oder fliehen muss. Der Organismus investiert alle seine Energie und Fähigkeiten, damit der Mensch überleben kann. Im Hirn werden gleichzeitig verschiedene Anteile (Kerne oder Netze) deaktiviert oder aktiviert. In der Peripherie haben Stress-Hormone zu wirken begonnen, um die Kampf-Flucht-Reaktion zu unterstützen. Adrenalin hilft Muskelkraft zu vergrössern und die Energiereserven aus der Leber zu aktivieren. Diese extreme Stress-Reaktion zeigt sich folgendermassen: Körperlich (durch automatischen Rückgriff auf alle Ressourcen, die zur Verfügung stehen): Herzklopfen, Zittern, Schwitzen, erhöhte Atmung und Muskelkraft, Harndrang und körperliche Anästhesie,

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Mental: durch verstärkte, fokussierte Aufmerksamkeit, sei es nach aussen (Monitoring), sei es nach innen (Blunting  = Abstumpfung). Zusätzlich werden Emotionen in den Hintergrund gedrängt. Man funktioniert „automatisch“, „gefühllos“, unter emotionaler Anästhesie und kann sich unter Umständen gerade dadurch retten. Das Problem ist, dass diese häufig lebensrettende extreme Stressreaktion am Ende des kritischen Ereignisses nicht einfach zurückgefahren und der Mensch wieder ruhig werden kann. Abhängig von vielen Faktoren, braucht die Stress-Reaktion Stunden bis Tage, bis der Mensch wieder ruhig ist. Sobald er ruhig ist, weil er sich in relativer Sicherheit weiß, beginnen sich die post-expositionalen Reaktionen zu zeigen, die dem Menschen das „verrückte“ Gefühl geben, „es“ gehe weiter. An sich sind das gesunde Zeichen dafür, dass das Hirn und „die Seele“ das Erlebte zu begreifen und integrieren versucht; dies ist aber nicht einfach, da die Erinnerungsbildung gestört ist wegen der Abschottung und Aktivierung verschiedener Hirnkerne während der Exposition. Je besser das autonome Nervensystem beruhigt wird, umso schneller kann der Betroffene zur Normalität zurückkehren. Dabei müssen vor allem biologische Grundbedürfnisse befriedigt werden. Dauert extremer Stress zu lange, springt das nicht-myelinisierte (Nervenbahnen ohne Fettschicht), phylogenetisch ältere, schon bei Reptilien vorhandene PS-Nervensystem ein und schützt den Betroffenen mit dem sogenannten Totstellreflex: Der Mensch „bricht zusammen“, scheint bewusstlos, nicht ansprechbar, sein vorher rasender Puls vermindert sich in der Frequenz massiv, ist kaum mehr spürbar, die Atmung flach, kaum mehr wahrnehmbar, die Muskulatur schlapp. Diese Reaktion ist eine Reaktion des Organismus, um die letzten vitalen biologischen Reserven zu schützen und damit den Tod durch Erschöpfung zu vermeiden; sie ist immer wieder zu beobachten, wenn Menschen zu lange exzessivem Stress ausgesetzt sind. In diesem Fall ist die Intervention rein somatisch orientiert: Ruhe (Sicherheit), viel Flüssigkeit mit Salz und Zucker angereichert (z. B. ORS, orales Rehydratationssalz), angenehme Temperatur und mindestens 12 h Schlaf. Diese Totstellreaktion kann auch auftreten, wenn man bewusst oder unbewusst das Gefühl hat, meint, man befinde sich in einer lebensbedrohlichen Situation.

1.4.3 Stress sozial betrachtet; das Ressourcenungleichgewicht Der Mensch fühlt sich normalerweise wohl, wenn er im Ressourcengleichgewicht lebt, wenn es ihm also gelingt, eine Art Gleichgewicht zwischen Problemen und Ressourcen zu etablieren. Wenn sich dieses Gleichgewicht

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verändert, entsteht Stress – eine biologische Anpassungsleistung. Im besten Fall kommt der Mensch dadurch zu einem neuen Ressourcengleichgewicht, er kann wachsen und über mehr Ressourcen verfügen. Er kann aber auch davon so gestresst werden, dass er krank wird. Bedrohliche und damit hohen Stress hervorrufende Ressourcenungleichgewichte entstehen in drei sozialen Situationen (Hobfoll 1989): • Ressourcenverlust, z. B. bei einem materiellen Verlust, dem Verlust einer Person, einer Fähigkeit usw. • Drohender Ressourcenverlust, z.  B. bei einer beginnenden Überschwemmung, wo evakuiert werden muss, oder bei der Bekanntgabe der Diagnose einer schweren Krankheit • Ungenügende Gratifikation nach hoher Ressourceninvestition, z. B. Nicht- Bestehen eines Examens nach langer Vorbereitung Das Ressourcengleichgewicht und der hohe Stress in diesem Ungleichgewicht bilden eines der Grundkonzepte dieses Buchs. Dieses Konzept zeigt auf, dass Stress eben nicht nur ein biologisches Phänomen ist, sondern immer auch eine starke soziale Komponente hat, und ist eine der Grundlagen dieser Schrift.

1.4.4 Folgen potenziell traumatischer Ereignisse Ein potenziell traumatisches Ereignis trifft und erschüttert den Menschen auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig, mit biologischen, psychischen und sozialen Anteilen. Auch wenn die Gefährdung nicht mehr besteht, zeigen von einem kritischen Ereignis betroffene Menschen Nachhallreaktionen, die in manchem den vorangehenden Stress- oder Notfall-Reaktionen gleichen. Es ist, als ob das ausgeklügelte System jedes Menschen, mit dessen Hilfe Gefährdung begegnet und bewältigt werden kann, aufgebrochen, teilweise überfordert wäre und ohne Notwendigkeit für eine gewisse Zeit „sinnlos“ weiterginge. Dieses „Als ob das Trauma weiterginge“, die „akute traumatische Reaktion“, ist normal und natürlich. Sie ist keine Ausnahme, sondern die aus der Biologie folgende Regel. Sie äussert sich in allen Kulturen in ähnlich zu beobachtenden, spezifischen und unspezifischen Reaktionen, die gleichzeitig auftreten und einander verstärken können. A. Spezifische, biologisch bedingte post-expositionale Reaktionen Übererregung: Der Körper „bleibt“ in der Stressreaktion hängen und powert sich langsam aus. Die Menschen sind überaktiv, gehetzt,

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ungeduldig, nervös und häufig aggressiv, sie haben Schlafstörungen, „stören“ ihre Umwelt und beginnen mit der Zeit an psychosomatischen Beschwerden oder Schmerzen ohne somatischen Schaden zu leiden. Wiedererleben: Plötzlich ist sie wieder da, die traumatogene Situation. Und zwar nicht nur als Erinnerung an etwas Zurückliegendes, sondern „wie wenn man wieder mitten drin wäre“ (Flashback). Die Zeit ist „ver-rückt“, und doch ist das Erlebnis im Hier und Jetzt, körperlich und emotional präsent. Beispiele dafür sind z. B. Schreckreaktionen, Albträume oder beides, bei Kindern traumatisches Wiederagieren, traumatisches Spiel (z. B. Krieg spielen). Auch grübelt man wie unter Zwang dem Ereignis nach: „Was wäre, wenn…? Wenn dieses oder jenes anders gewesen wäre…?“ All diese Phänomene sind Zeichen von – meist vergeblichen – Versuchen des Hirns, das Trauma zu bewältigen, ins Gedächtnis zu integrieren. Die Aufmerksamkeit ist in diesen rekurrenten Erinnerungen immer noch auf das kritische Ereignis fokussiert. Ausweichstrategien: Der meist unbewusste Versuch, die Erinnerung an das kritische Ereignis zu löschen (zu dissoziieren), äussert sich einerseits in einem Verhalten, das alle möglichen auslösenden Kontakte („Schlüsselreize“) vermeidet, und andererseits in einer körperlichen und emotionalen Gefühllosigkeit. Gefühle werden beinahe grundsätzlich vermieden, denn „wo Gutes kommt, ist auch das Schlechte“. Beide Reaktionen sind problematisch, da sie sowohl neue soziale Erfahrungen als auch das erneute Erleben von Glück und Freude verunmöglichen. B. Unspezifische, hauptsächlich sozial und kulturell bedingte ­post-expositionale Reaktionen Das Konzept der „unspezifischen“ akuten post-expositionalen Reaktionen wurde von Mollica (1990) eingeführt, um Reaktionen, die in verschiedenen Kulturen verschieden zu beobachten sind, zu benennen. Die Abhängigkeit von der jeweiligen Kultur zeigt sich in den Ausdrucksformen der Stress-Folgen und deren Interpretation. Es sind mehr die sozialen Anteile, die im Vordergrund stehen. Ohnmacht: Die zentrale Erfahrung in einer traumatogenen Situation ist das Erlebnis der totalen Hilflosigkeit. Dadurch, dass keine Kontrolle möglich war, erhöht sich das Gefühl der Verletzlichkeit und wird die Vorannahme zerstört, dass es die Welt gut mit einem meint. Das Urvertrauen und/oder das Erleben der eigenen persönlichen „Ganzheit“ ist angeschlagen. Unerträgliche Gefühle: Daneben melden sich oft auch Gefühle von Wut, Trauer, Scham (!) und Fragen nach dem Sinn (wieso ich?) resp. der Sinnlosigkeit. Je nach Kultur ist der Umgang mit Kontroll- und Sinnverlust unterschiedlich und mehr oder weniger belastend.

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Trauer: Auf der sozialen Ebene ist das Vertrauen verloren oder beeinträchtigt. Die – erst etwas später wirksame Erfahrung, dass die Umwelt (die Familie, der Staat, etc.) nicht in der Lage war, zu schützen, und dadurch das Ereignis nicht verhindert hat, prägt den zukünftigen Umgang Betroffener mit der Gesellschaft. Trauer ist ein wichtiger psychischer Prozess nach einem kritischen Ereignis.

Spezifische und unspezifische Reaktionen verstärken einander und führen zum beobachteten häufig verwirrenden Verhalten, das Überlebende zeigen. Auch wenn die Dauer der akuten traumatischen Reaktion sehr unterschiedlich ist und Traumata einmalige Einschnitte sind, die komplizierte Prozesse auslösen, kann man davon ausgehen, dass die Reaktionen in den meisten Fällen innerhalb von einem bis zwei Monaten abzunehmen beginnen, bis sie ganz verschwinden. Damit dies ermöglicht wird, braucht es die Hilfe der Umgebung: Sie muss Sicherheit und Ruhe vermitteln und die körperlichen Primärbedürfnisse (Schlaf, Essen, Dach über dem Kopf, primäre medizinische Versorgung) befriedigen, den Menschen so viel Selbstständigkeit wie möglich zurückgeben und ihnen dabei behilflich sein, ihre eigenen Kräfte (Ressourcen) zu stärken und zu benutzen. Das vom Amerikanischen Roten Kreuz entwickelte STOP – Modell ist die einfachste und am besten angepasste Intervention: Sicherheit geben, Reden (Talk), Organisieren der Befriedigung von Primärbedürfnissen, und das alles durch einen Peer (s. dazu Übung 4). Bleibt die traumatische Reaktion über längere Zeit (mehr als 3 Monate) bestehen, spricht man von einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS – oder in der häufiger verwendeten und besser beschreibenden englischen Abkürzung PTSD, Post Traumatic Stress Disorder). Da die globale Gültigkeit der medizinischen Definition dieses Begriffes problematisch und umstritten ist (sie betont die pathologischen Aspekte eines Traumas und vernachlässigt den jeweils einmaligen und kulturspezifischen Prozesscharakter), verstehen wir hier unter PTSD „lediglich“ die andauernde, auf dem erlebten Stress basierende Wirkung der oben erwähnten spezifischen und unspezifischen Symptome. Diese können zu psychosomatischen Symptomen wegen der körperlichen Übererregung, zu ständigen funktionalen Schmerzen oder gar zu organischen Störungen führen. Ebenso werden die Zeichen des Wiedererlebens und die Formen der Ausweichstrategien weiter verstärkt und können sich beispielsweise zu einem (von Angst und/oder Phobien geprägten) Verhalten ausweiten, das auf die Dauer neue positive soziale Erfahrungen erschwert. Betroffene Menschen werden durch ihre Aggressivität und/oder ihre gefühllose Kälte für

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die Umwelt zunehmend unerträglicher. Sie stossen so zuletzt auch in ihrem engeren Familienkreis auf Ablehnung – und finden darin die Bestätigung, dass alle und alles nur noch gegen sie sind. Manchmal geht die PTSD in eine chronische Form über. Das heisst, dass die posttraumatischen Reaktionen zur bleibenden und invalidisierenden Erfahrung werden können. Depressionen (bis hin zu Suizidalität), Zwangsverhalten, Missbrauch von Medikamenten, Drogen und Alkohol sowie ungewollte und nicht mehr steuerbare Dissoziationen treten auf und führen zu einem immer stärkeren Verlust der sozialen Fähigkeiten. Betroffene Personen benötigen, wenn immer möglich, ärztliche Hilfe.

1.4.5 Dissoziation Dissoziation ist eine Fähigkeit aller Menschen in allen Kulturen, eigene Gefühle nicht wahrzunehmen, um Schwieriges besser zu ertragen. Diese Fähigkeit ist an sich weder gut noch schlecht; die Frage ist, wozu sie benützt wird (oder wann sie sich aufdrängt). Sie kann automatisch, über das autonome Nervensystem gesteuert, ohne willentliches Dazutun auftreten, und sie kann auch geübt werden, um sich Dinge (z. B. Schmerzen beim Zahnarzt) besser erträglich zu machen. In vielen Kulturen spielt diese menschliche Fähigkeit eine Rolle bei religiösen Riten und wird dann als normal angesehen. Sie ist auch ein wesentlicher Teil des Totstellreflexes. Dissoziation ist ein Phänomen, das meist bei hohem Stress auftritt: man spürt weder Müdigkeit noch Hunger oder Durst, man spürt Schmerzen viel weniger, d. h. Dissoziation ermöglicht es Rettern, schneller und besser zu funktionieren, und Betroffenen, sich zu retten. Doch wenn sie nach dem Ereignis länger andauert, dann wird sie gefährlich, etwa beim Überqueren einer stark befahrenen Strasse. Im dissoziierten Zustand ist auch die Fähigkeit zu geniessen eingeschränkt. Wenn man chronisch nicht merkt, dass man müde ist, und erst bei Erschöpfung ins Bett fällt, macht das auf die Dauer krank. Beim Umgang mit der Dissoziation, bei Trauma-Folgestörungen, muss man sich folgendes vor Augen halten. Einerseits dissoziiert der/die Betroffene aus dem Hier und jetzt, zurück an den Ort oder in die Situation des traumatischen Ereignisses, was es den Betroffenen verunmöglicht, das Geschehen in der Vergangenheit zu verorten. Andererseits kann Dissoziation vor zu vielen Flashbacks schützen, sodass die Gegenwart einigermassen bewältigt wird. Sie kann sogar zur Heilung betragen, wenn man nochmals über das Geschehene ruhig und ordnend

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reden will. Doch grundsätzlich muss sie ausgeschaltet werden, wenn man die Gefühle und die dahinter liegenden verletzten Werte kennen lernen will, und selbstverständlich, wenn man das neu geschenkte Leben geniessen will.

1.4.6 Umgang mit Traumata Körperliche Traumata (Verletzungen) heilen in der Regel nur teilweise und hinterlassen Narben. Genauso werden auch von einem seelischen Trauma Spuren bleiben. Es sind Spuren, die man als seelische Narben bezeichnen kann, und mit denen man weiterleben muss und – auch „gut“ – kann. Aufgabe einer helfenden Person ist deshalb nie die „Heilung“, sondern die Unterstützung dabei, die Extremerfahrung in die jeweils spezifische Lebensgeschichte zu integrieren und den Überlebenden wahrnehmen zu lassen, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt, auch weiterhin Gutes zu erleben und zu tun. Damit sollte man jedoch nicht warten, bis das „Trauma“ vorbei ist, denn nur allzu oft (und insbesondere in Kriegs- oder Migrationssituationen) laufen potenziell traumatisierende Prozesse weiter. Auch ist es meist nicht möglich, sich dabei auf bestehende Vorgehensweisen oder anerkannte „Rezepte“ abzustützen, denn jede Situation ist neu – jeder Mensch ist anders – und erfordert eine kreative und spezifische Anpassung. Doch wissen wir heute, dass die Beruhigung der weiter andauernden Stress- Reaktionen dabei zentral ist. Das STOP-Modell eignet sich gut als Leitlinie, und die Beruhigung des peripheren Nervensystems wird am besten durch ruhige Atmung erreicht. Die Atmung ist der einzige willentlich steuerbare Prozess, der die autonomen Funktionen von Sympathikus und Parasympathikus beeinflusst (s. dazu Atemübung, Übung 15). Die Wege und Hinweise in diesem Buch zeigen auf, wie man in Ergänzung und/oder als Alternative zu einer spezifischen Therapie allgemein, niederschwellig und „kulturspezifisch“ vorgehen kann. Sie bilden ein „Gerüst“, an dem man sich orientieren und die Arbeit ausrichten kann. Dabei geht es um einen Zugang über die Gesundheit, die Befähigung zur Bewältigung des Alltages und das Verhindern neuer traumatogener Erlebnisse, d. h. es geht um die Aktivierung von Resilienz oder Selbstkohärenz. Es gilt durch Stärkung der Ressourcen dazu beizutragen, dass Menschen in schwierigen Situationen über mehr Widerstandskraft gegen neu auftretende Widerwärtigkeiten verfügen. Die wichtigste Voraussetzung für den sinnvollen Umgang mit solchen Menschen (und ihren post-traumatischen Reaktionen) ist, ihr Überleben und ihre noch vorhandenen Kräfte im Fokus zu behalten. Denn jedes Über-

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leben beweist, dass das kritische Ereignis nicht „total“ war. Es gibt stets genügend Ressourcen, um die Erinnerungen zu integrieren und ein zwar verändertes, aber ein gutes und sinnvolles Leben zu finden! Im Bemühen, eine traumatogene Erfahrung in ihr Leben einzuordnen, benötigen betroffene Menschen „Antworten“, spezifische auf die spezifischen Reaktionen, unspezifische auf die unspezifischen Reaktionen: A. Umgang mit den spezifischen Reaktionen: Gegen die Übererregung braucht es Ruhe, die Sicherheit, gibt, aber auch einen geregelten Tagesablauf mit genügend Schlafenszeiten und den Verzicht auf grössere Mengen von aufpeitschenden oder beruhigenden Mitteln wie Kaffee, Zigaretten oder Alkohol. Grosse Bedeutung kommt (sinnvollen, anstrengenden, kreativen, ermüdenden) Aktivitäten zu: Arbeit, manuelle Beschäftigung, Sport, Spiel, Physiotherapie, Schule, Zeichnen etc. Am besten kann man die Übererregung durch eine einfache Atemübung beeinflussen, weil man dadurch das ganze autonome (vegetative) Nervensystem wieder ins Lot briongt und damit auch die spezifischen und unspezifischen Reaktionen vermindert. Das Wiedererleben: Um das Ereignis im Gedächtnis ablegen zu können und dadurch vernarben zu lassen, ist es wichtig, das als chaotisch erlebte Geschehen zu ordnen und es in einen grösseren Rahmen zu stellen. Das oft schamvolle Schweigen sollte gelöst und der Ablauf der Ereignisse besprochen werden. Auch können bestimmte Techniken (z. B. Atemübungen, Ü Nr. 15) Flashbacks vermindern helfen. Zu gegebener Zeit kann ein psychologisches Debriefing (s. Kap. 4) dabei sehr hilfreich sein. Die Ausweich- und Vermeidungsstrategien: Sie können vermindert werden, indem die betroffenen Menschen (möglichst bald) alles wieder tun müssen, was sie vorher auch taten, indem sie sich aktiv mit dem Vermiedenen konfrontieren, eventuell das erste Mal in Begleitung, und indem sie darin unterstützt werden, auch wieder Positives (gute alte Erinnerungen, gute neue Erlebnisse, kleine, positive Veränderungen) wahrzunehmen und sogar zu geniessen. B. Umgang mit unspezifischen Reaktionen Gegen die unspezifischen Reaktionen muss alles versucht werden, um den Menschen wieder Selbstachtung und Selbstvertrauen („Selfempowerment“) sowie das Gefühl zu geben, dass sie sich wieder selbst steuern und ihrer Umwelt wieder vertrauen können. Die Hilfestellung darf weder aufgedrängt werden noch infantilisierend wirken, enthält aber Aspekte, innerhalb deren auch Information, Konfrontation (die besonders auch für Trauerprozesse nötig ist!) und Sinnfragen ihren

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Platz haben müssen. In vielen Kulturen gibt es spezifische Rituale, um „den Schreck“ zu beruhigen; es lohnt sich immer wieder nachzufragen, was man denn „dort“ in einer ähnlichen Situation machen würde. Überlebende sind in der Regel, mindestens anfänglich, selbst die besten Spezialisten im Wissen darum, was sie und ihre Mitbetroffenen benötigen, um sich so schnell wie möglich zu erholen. Hilfe zielt darauf ab, dies im jeweiligen Rahmen zu fördern: Informationen orientieren über die Normalität der post-expositionalen Reaktion, Hinweise lenken die Aufmerksamkeit auf positive, konstruktive Veränderungen, und gezielte Unterstützungen, stärken die Kräfte. Grundsätzlich gilt es, den laufenden Prozess noch besser zu fördern und sowohl bestätigend als auch anregend zu begleiten. Dabei können gruppen- und kulturspezifische Rituale im Umgang mit Schrecken, Trauer und Verlust äusserst wertvoll sein. Zu diesen soll man ermutigen, denn sie helfen den Betroffenen zusätzlich, in die jeweilige Gemeinschaft zurückzukehren. Sind diese Rituale der helfenden Person nicht bekannt, sollten sie direkt angesprochen werden: „Was habt ihr für Erfahrungen? Was macht ihr bei diesen oder jenen Problemen?“ etc. Dabei gilt es aber zu beachten, dass es unangenehm und schwierig ist, über traumatogene Erfahrungen zu sprechen, und dass es legitim ist, dies zu verweigern. „Widerstand“ sollte nicht gewaltsam „gebrochen“ werden, doch lässt sich dazu motivieren, durch ehrliches Interesse und durch das Angebot, zusammen in Ruhe ein Narrativ des Geschehenen zu machen. Meistens sind Menschen kurz nach der kritischen Erfahrung, noch von ihrer Übererregung getrieben, sehr darauf erpicht, über das Ereignis zu sprechen. Doch dann passiert häufig zweierlei: Die Betroffenen werden beim Reden von unerträglichen Gefühlen eingeholt und verlieren sich im neu gesteigerten Stress; der Zuhörer erschrickt und lässt von der Frage ab, sodass langsam eine „Mauer des Schweigens“ aufgebaut wird; Betroffene sind immer weniger in der Lage zu erzählen, und fühlen sich immer mehr im Stich gelassen. Deshalb müssen Betreuer bereit sein, die ganze schlimme Geschichte anzuhören, ruhig zu bleiben, sich zu schützen und durch gezieltes Fragen Ordnung ins Chaos zu bringen. „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ ist eine alte Volksweisheit. Bei Erfahrungen, die mit Scham besetzt sind (häufig bei sexuellen Erlebnissen) braucht es besonders viel Fingerspitzengefühl und Geduld, denn auch solche Erfahrungen sind leichter zu ertragen, wenn sie mitgeteilt wurden. Im Sinne einer ersten Hilfe lassen sich die oben genannten Interventionen in einem Debriefing strukturiert anwenden. Wichtig dabei sind das Ordnen des kognitiven Chaos in Bezug auf das Geschehen und auf Emotionen und Werte, das Brechen des Schweigens, das konsequente Trennen der realen

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vergangenen Abläufe von den damit verbundenen aktuellen Empfindungen. Die Bedeutung von solch ordnenden Interventionen zur „Prävention“ und „Vernarbung“ der psycho-somatisch-sozialen Folgen von traumatogenen Ereignissen ist heute allgemein anerkannt. Das Ziel ist, dass die Betroffenen sich so schnell wie möglich ruhiger und damit besser fühlen und ihr Leben wieder aktiv in die Hand nehmen können. Dies ist erschwert, wenn sie als Migranten, Asylsuchende oder Flüchtlinge zusätzlich entwurzelt und verpflanzt sind, in ihren Möglichkeiten begrenzt und vielfach mit ihnen bisher unbekannten Tatsachen sowie Wert- und Normvorstellungen konfrontiert werden.

1.4.7 Sinnschöpfung Der Mensch muss für alles, was ihm widerfährt, einen Sinn finden oder einen Sinn erschaffen. Auch nach potenziell traumatischen Extremsituationen braucht die betroffene Person Zeit, sich einen Reim darauf zu machen, was, wie, warum – und besser noch wozu – etwas überhaupt passiert ist. Bezeichnenderweise spielt es dabei keine Rolle, ob die gefundenen Antworten objektiv wahr sind oder nicht. Wichtig ist aber, dass sie von den Betroffenen auf der subjektiven Ebene sinnvoll in die individuelle Lebensgeschichte und/ oder die gesellschaftliche Realität eingeordnet werden können. Manchmal hilft die Religion, denn der Glaube an einen Gott oder an eine höhere Ordnung, die einen nicht vergisst oder mit dem Leben jedes Einzelnen einen Plan hat, kann sinnstiftend sein. Manchmal helfen politische Erkenntnisse über das Geschehen: Menschen, die aufgrund ihrer politischen Überzeugung verfolgt wurden, haben häufig nur geringe Schwierigkeiten, darin einen „Sinn“ zu sehen und grundsätzlich weiterhin an das Gute im Menschen oder an ihre Utopie zu glauben. „Zufällige“ Opfer haben es diesbezüglich weit schwerer – z. B. auch wenn sie zu einer bestimmten Gruppe (Juden, Indios, Muslime, etc.) oder zu einer bestimmten Schicht (Strassenkinder, Intellektuelle, etc.) gehören. „Wie kann es sein, dass ich von meinem Nachbarn, mit dem ich seit der Kindheit friedlich zusammengelebt habe, plötzlich verfolgt werde?“ „Wie kann es sein, dass ich als überzeugter deutscher Jude, der im ersten Weltkrieg eine Tapferkeitsmedaille erhalten hat, plötzlich enteignet und verfolgt worden bin?“ Doch am schwierigsten ist es, wenn das Trauma von der Familie oder von einer religiösen Institution oder humanitären Organisationen ausgeht, z. B. Vergewaltigung durch ein Familienmitglied oder durch einen Priester. Doch sogar hier wird eine Sinnfindung Frieden bringen.

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Frieden – oder, mit anderen Worten, Versöhnung – ist das zentrale Ziel der Sinnstiftung und der damit verbundenen (Re-) Integration. Auf der individuellen Ebene heisst dies, dass ehemalige Opfer als wirklich Überlebende in sich selbst zur Ruhe kommen und wieder mit ihrer Umgebung in Frieden leben können. Das heisst jedoch nie, dass man Täter nicht belangen soll, im Gegenteil; die Wahrheit über die Fakten, die für eine Untersuchung, Anklage und einen Prozess erarbeitet werden muss, kann beim Finden der eigenen Ruhe, der Besserung, aber auch der Bestrafung der Täter und der zukünftigen Prävention eine wichtige Rolle spielen. Auf politischer Ebene ist dieser Prozess komplizierter. Denn es muss zuerst allen bekannt sein, was passiert ist. Das erfordert eine Konfrontation mit dem und eine Anklage für das Geschehen. Die Taten, gegen die Menschen(-rechte), die potenziell zu Traumatisierungen führen, müssen als Facts genau festgehalten, dokumentiert, Verantwortliche gefunden, dann dafür angeklagt und verurteilt werden. Die Verurteilung von Tätern hilft auch dabei, klar zu vermitteln, was richtig und was falsch ist und welche Werte nun wieder gelten sollen. Im besten Fall bereuen die Täter oder klagen sich sogar selbst an. Diesen Gefühlen müssen aber Taten folgen. Es muss bewiesen sein, dass sie ehrlich gemeint sind. Taten haben denn auch in der Regel mit Wiedergutmachung (Sühne, Reparation) zu tun. Erst danach kann Friede geschlossen und Versöhnung geschehen, und erst dann können die Erfahrungen in die individuelle, gesellschaftliche oder nationale Geschichte eingehen. Ob solche Prozesse auf nationaler Ebene überall gleich verlaufen (z. B. langsam und schmerzhaft wie in vielen Ländern Südamerikas oder auch in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg oder schnell und pragmatisch wie in Südafrika), oder ob sie von aussen gefordert oder gar ausgeführt werden sollten (wie z. B. in Ex-Jugoslawien, Kambodscha oder Rwanda durch das Internationale Kriegstribunal), ist schwer abzuschätzen. Sicher ist nur, dass Anklage, Verurteilung, Sühne und die Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit wichtige Voraussetzungen sind für eine wahrhafte Versöhnung und ein neues, im Optimum gerechteres Zusammenleben verschiedener Gruppen.

1.5 Verlusterlebnisse Migranten oder Flüchtlinge tragen verschiedene Verluste mit sich, sogar wenn sie kein kritisches Ereignis erlebt haben. Sie haben Familienmitglieder zurückgelassen, eine Landschaft, spezielles Essen, ihre tägliche Kultur usw.

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Sie müssen dafür auch trauern können, und je älter sie sind, umso schwieriger ist dies für sie. Trauer ermöglicht, etwas abzuschliessen, und öffnet so auch für Neues.

1.5.1 Trauer Trauer ist eine normale Reaktion. Denn jeder Mensch reagiert mit Trauer, wenn er etwas verliert, das ihm lieb und wichtig ist. Durch Tod, Trennung, Migration oder einen anderen Verlust betroffene Personen müssen lernen, Abschied zu nehmen. Das Gefühl der Trauer zeugt von diesem Prozess. In diesem Prozess wird das verlorene Objekt (eine Person oder eine Sache) in einem selbst mit positiven Erinnerungen wiederhergestellt und kann so treu in einem behalten werden, auch dann, wenn es in der Realität nie mehr zurückgeholt werden kann. Wer etwas verloren hat, ist vielfach zuerst schockiert und reagiert sowohl mit Schrecken als auch mit Unglauben darüber, dass der Verlust real ist. Man tut, als ob „es“ noch da wäre und/oder spürt Wut darüber, dass man betroffen ist. Damit nun die Reaktion nicht dabei stehenbleibt, ist der erste (und wichtigste) Schritt zur Bewältigung eines Verlusterlebnisses die Konfrontation mit dem Verlust. Sie bereitet Schmerz, Schmerzen des Verlusts und der Trauer. Diese sind wichtig und natürlich und dürfen nicht als Depression verkannt – und „behandelt“ – werden. Denn erst wenn man realisiert und annimmt, dass man etwas verloren hat, kann man daran gehen, sich mit dem Verlust auseinanderzusetzen – mit dem Ziel, in sich selbst Frieden zu finden, die Beziehungen zu klären und das Verlorene zumindest als Erinnerung zu behalten und zu ehren. „Es“ kann im weiteren Leben mitgetragen werden, und zwar auf eine Art und Weise, in der „ich“ bestimme, welche Erinnerungen hauptsächlich bei mir sind und welche kaum mehr. Betroffene Menschen sind darauf angewiesen, dass das, was geschehen ist, als Realität angenommen werden kann, auch emotional. Denn wenn der emotionale Prozess durch Aktivismus, durch strategisches oder „korrektes“ Verhalten, durch ein Verschieben (z. B. auf Warum-Fragen) oder durch Medikamente verhindert oder eingefroren wird, besteht die Gefahr, dass die noch zu leistende Trauerarbeit stark behindert, und verzögert und damit immer schwieriger zu leisten wird. Es geht also in einem konstruktiv (und präventiv) ausgerichteten Trauerprozess darum, zuerst die Tatsachen als solche anzunehmen. Dies heisst beispielsweise, dass Betroffene „im Moment des Verlustes“ schockiert, wortlos,

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eingefroren sein oder auch schreien dürfen/sollen – und nicht später, wenn diese Reaktionen der realen Umgebung nicht mehr entsprechen. Und dies heisst, dass das Geschehene nicht sofort verstanden und gutgeheissen werden muss, sondern die Fragen des Warum und der Differenzierung vorerst offenbleiben dürfen. Trauern ist ein Prozess, der viel Zeit braucht und der – nach der Konfrontation – darauf hinausläuft, dass man Abschied nimmt, dass ein Gedächtnis oder ein Gedenken eingerichtet wird und dass man sich selbst wieder aufrichtet. All dies kann durch kulturspezifische Rituale erleichtert werden. Jede Religion hat denn auch Rituale erfunden, die es den Trauernden erleichtern mit einem Verlust umzugehen. Diese sollten genutzt werden, auch deshalb, weil in der Regel nicht nur einzelne Personen betroffen sind, sondern ganze Systeme (Familien, Freunde, Schulklassen, Dörfer, etc.). Wenn man als Drittperson mit Menschen zusammen ist, die einen Verlust erlitten, kann man sich manchmal hilflos und überfordert fühlen. Man weiss nicht, was man tun sollte, und hat Angst, etwas Falsches zu sagen. Nützlich ist es, diesen Situationen nicht auszuweichen, sondern sie auszuhalten. So kann man unter anderem versuchen, die Konfrontation und die Suche nach sinnvollen Ritualen zu unterstützen und ihnen genügend Zeit und einen geeigneten Rahmen zu geben (z. B. salutogenetische Redewendungen, s. dazu Übung 12). Man kann auch, ohne aufdringlich zu sein, „einfach da sein“, direkt und ehrlich – und dadurch den Verlust und die Trauer zulassen, auch jene, die in einem selbst ausgelöst wird. Aber man darf dabei die Trauer der anderen Person nicht gleichsetzen mit der eigenen und „das Problem“ übernehmen, denn damit ist niemandem gedient (s. Selbstschutz, Übung 13 u. a.). Aber immer ist es möglich, Trost zu spenden. Denn obwohl Trost die Trauer nie auflösen kann, ist er doch wie eine Salbe auf einer Wunde. Er gibt die Energie, die der Trauerprozess braucht. Und da Trauern generell ein Prozess mit sehr schmerzlichen Gefühlen ist, kennen denn auch alle Kulturen Interventionen und Bräuche, die das Ziel haben, den Trauernden Linderung im Leid zu bringen: Besuche, Essen, Blumen, Karten, Gebete, Klagen, öffentliche Riten, Wache halten, etc. Bezeichnenderweise dienen all diese Bräuche auch dazu, die betroffenen Menschen zu zwingen, sich mit dem Verlust (dessen stärkste und definitivste Form der Tod ist) zu konfrontieren und ihn zu akzeptieren. Trost annehmen zu können, ist ein Zeichen von Reife. Es ist darauf zu achten, dass man nicht „billigen“ Trost spendet- z. B. einer um ein Kind trauernden Mutter: „Sie sind ja noch jung, Sie können noch mehrere Kinder haben…“ Manchmal ist es aus politischen, persönlichen oder aus sachlichen (z. B. beim Verlust von Werten) Gründen nicht möglich, auf gesellschaftlichen

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Trost und öffentliche Anerkennung zurückzugreifen. Dann ist es wichtig, sich selbst Trost zu spenden: indem man sich Gutes tut, indem man selbst ein kleines Ritual erfindet und durchführt, etc. In allen Fällen soll die Trauer ernst genommen und ihr genügend Zeit gegeben werden (sonst besteht die Gefahr von psychosomatischen Beschwerden oder Depressionen). Wird die Trauer jedoch durch weitere traumatische Erlebnisse zusätzlich „kompliziert“, gilt es in der Regel, zuerst das Trauma zu bearbeiten und erst dann den Trauerprozess einzuleiten. Besonders problematisch sind Situationen, in denen kein gesichertes Wissen darüber besteht, ob abwesende Personen noch am Leben oder bereits tot sind. Das Verschwindenlassen von Menschen, das bei gewissen Migrationsformen, in Kriegen oder in totalitären Systemen teilweise systematisch betrieben wird, ist denn auch eine besonders perfide Strategie; denn dadurch wird die Anerkennung des Todes verunmöglicht und der Trauerprozess verhindert. Die Entscheidung, den Tod trotz Unsicherheit „anzunehmen“, wird zu einer persönlichen Entscheidung der Angehörigen und kann u. U. auch Folgen haben, wie die Idee: „Ich darf (will) den Verschwundenen nicht umbringen“. Im Umgang mit Angehörigen von Verschwundenen darf man nicht zum „Mörder“ werden. Alle haben das Recht, jemanden nicht als tot abzuschreiben, sondern daran zu glauben, dass Verschwundene nicht tot sind. Die zurückgebliebenen Menschen brauchen hingegen Kraft, weiter zu warten und dafür aktiv zu sein, dass Verschwundene (oder ihre Reste) auftauchen. Dieses Warten ist äusserst schwierig, denn auf der einen Seite muss das Leben im Hier und Jetzt weitergehen, und auf der anderen Seite ist die Sorge, die Unsicherheit und die Hilflosigkeit stets gegenwärtig. Zudem sollte die Möglichkeit aufrechterhalten werden, die verschwundene Person wieder zu integrieren, falls sie (in welchem Zustand auch immer) zurückkommt. Was in diesen an sich unmöglichen Situationen getan werden kann, ist das Mittragen einer „Normalität“, in der die abwesende Person nicht vergessen wird. Dabei sollte die Ambivalenz zwischen dem Nicht-Wissen, der realen Absenz und der fantasierten Präsenz angesprochen werden. Man kann sie als Schwierigkeit akzeptieren lernen.

1.5.2 Depression Die Depression ist ein Zustand verminderter Freude am Leben, eine bleibende negative und unangenehme Stimmung, die sich über längere Zeit hinweg durch traurige, sinnlose, lustlose Gefühle und entsprechende Gedanken und schlappe

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Körperhaltung ausdrückt. Menschen sehen dysphorisch oder unfreundlich aus, d. h. ihr Gesichtsausdruck ist traurig oder sogar ausdruckslos. Typischerweise kommen mit der Depression Schlafstörungen, morgendliche „Tiefs“, Passivität, innere Leere, Ängstlichkeit und/oder Gefühle von Sinnlosigkeit und Wertlosigkeit bis hin zu Suizidgedanken. Nicht bei jeder Depression stehen die oben beschriebenen Gefühle im Vordergrund. Sie kann auch „versteckt“ (larviert) sein und sich in Schmerzen äussern, die keine organische Ursache haben und die sich mit Schmerzmitteln auch nicht behandeln lassen. Denn es ist eben nicht der Körper, sondern die Seele, die weh tut. Depressionen müssen aber von schlechter Laune (oder schlechten Tagen) unterschieden werden. Und da sie sich zudem häufig mit post-traumatischen Belastungsstörungen, Gefühlen von Trauer und Ärger über die Umwelt vermischen (und verstärken!), werden sie in vielen Fällen, auch von den Betroffenen selbst, mit diesen verwechselt. Insbesondere bei Menschen, die etwas verloren haben, ist es wichtig, nicht von Depressionen, sondern von Trauer zu sprechen. Solche Verluste können, neben dem Materiellen, auch „Ideale“ enthalten: Haus und Heim, Heimat, Nationalität, Kultur, Gerechtigkeit, Frieden, Unversehrtheit, Vertrauen, Solidarität etc. Die meisten Depressionen gehen vorbei – besonders dann, wenn die betroffenen Menschen Unterstützung von Freunden oder Bekannten (z. B. in der Form von Beschäftigung oder Zeitvertreib) bekommen. Grundsätzlich gilt, dass depressive Menschen als ganz normale Menschen zu betrachten sind. Man soll dabei nicht auf die ewigen Klagen eintreten, folglich einiges „überhören“ und versuchen, mit ihnen gemeinsam etwas zu tun, nach dem Motto: „Ja, das ist schwierig – und was machen wir jetzt heute konkret?“ (s. dazu Übung 12). Freundschaften und Beziehungen, die zu Aktivitäten verleiten und gute Momente geben können, sind denn auch häufig hilfreicher als Medikamente und Spitäler. Medikamente können aber unter Umständen die Besserung der Depression beschleunigen und dem Patienten ersparen, krank und handlungsunfähig zu bleiben. Zu beachten ist zudem, dass insbesondere bei psychosomatischen Beschwerden Entspannungs-, Antistress- oder Dissoziationsübungen sowie kulturspezifische Heilrituale sehr hilfreich sind. Andauernde und schwere Depressionen benötigen bei uns neben der psychosozialen Betreuung eine psychiatrische Behandlung. Diese ist in der Regel begleitet von entsprechender Medikation, welche die Rolle eines „seelischen Gipses“ übernimmt. Denkt der Patient an Selbstmord, so gilt es, ihn damit zu konfrontieren und mit ihm darüber zu sprechen: Was möchte er konkret tun? Hat er feste Vorstellungen? Abschiedsbrief?

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Hat er/sie bereits mit den Vorbereitungen begonnen? Ist dies der Fall, so muss der Betreffende sozial dichtmaschig und rund um die Uhr betreut werden – unter Umständen in einer Klinik.

1.6 Das „Niederlegen“ der Geschichte 1.6.1 Die Kraft des Wortes Was ausgesprochen ist und was besprochen wird, hat Raum und kann angenommen werden. Auch dann, wenn es Leiden bedeutet. Das Niederlegen oder Festhalten des Geschehens ist wesentlich bei der Auseinandersetzung mit den biologischen und psycho-sozialen Folgen eines Traumas. Denn das Verschwiegene, nicht Dargelegte, wird zu einem „Geist“ (oder einem Abszess) und einer Last, die alle und alles infiziert und die Menschen unsicher, depressiv, dissoziiert oder gar verrückt macht. So zeigen z. B. die Probleme der Kinder von Holocaust-Opfern, mit denen die Eltern nie über ihre Extremerfahrungen sprachen, dass diese „Geister“ in der Erziehung wirken, und sich auf Folgegenerationen übertragen können und epigenetisch weiterspuken. Es braucht also den Mut, über Vorgefallenes zu sprechen. Auch mit Kindern. Dabei ist es selbstverständlich, dass dies nicht in allen Details erfolgen muss (ausser, das Kind war dabei!), sondern angepasst an das Alter und die Aufnahmefähigkeit. Wichtig ist aber immer, dass die Beobachtungen, Erfahrungen und Interpretationen aller mitberücksichtigt und eingeschlossen werden. Denn jede und jeder kennt nur einen (seinen) Teil der „Wahrheit“. Kinder sind sehr gute Beobachter, haben häufiger weniger Tabus und Scheuklappen als Erwachsene. In der Regel ist es auf die Dauer weniger schlimm, den eigenen Schrecken zu teilen und zu wissen, was der Schrecken der anderen war, als sich mit nicht fassbaren Ahnungen und Vermutungen herumzuschlagen. Denn meistens sind diese Fantasien noch schlimmer als die Realität: Sie orientieren sich am „worst-case-scenario“, an der extremsten aller Möglichkeiten. Allgemein gilt, dass eine traumatogene Erfahrung durch Unklarheiten und „Missverständnisse“ zusätzlich verschlimmert wird und dass insbesondere Kinder und Jugendliche durch Vertuschung oder Negation an ihrer eigenen Wahrnehmung zu zweifeln beginnen und dadurch ein gestörtes Verhältnis zur Realität entwickeln können. In jedem Falle ist es notwendig, das Erlebte zu strukturieren resp. die ganze (und die gemeinsame) Geschichte einer potenziell traumatischen Erfahrung zu „schreiben“. Jede Darstellung kann dabei helfen, denn durch

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die gewonnene Struktur wird einerseits bereits dem Schrecken des Chaos ein Teil genommen. Andererseits wird dadurch die Voraussetzung geschaffen zur Integration in die eigene Lebensgeschichte. Damit gemeint ist ein Ablegen des Erlebnisses (eine Vernarbung der Verletzung), das es ermöglicht, sich zu erinnern, ohne damit gleich wieder den ganzen Schrecken („Angst“, Stress) heraufzubeschwören. Die dabei entstehende Ordnung ist eine Voraussetzung dafür, dass das Hirn sie als kontrollierbare (schlechte) Erinnerung integrieren und ablegen kann. Eine traumatogene Erfahrung braucht Raum, der erst geschaffen werden muss. Und da Wörter ganz generell eine integrierende und damit heilende Kraft haben, darf und soll dem Sagen und Ausdrücken der erlebten Geschichte viel Platz eingeräumt werden. Dabei können betroffene Personen unterstützt werden – beispielsweise dadurch, dass man auf seine eigenen Worte achtet. So sollte man z. B. nicht „gut“ sagen, um anzuzeigen, dass man verstanden hat, wenn das Geschilderte nicht gut ist. Es gibt wenige akzeptable und nicht kränkende Bestätigungen: z. B. „ich höre, dass es für Sie schwierig war“, oder auch „OK, ich habe verstanden (und nicht, „gut, ich habe verstanden“). Man sollte nicht sagen, dass es „nicht wichtig“ oder „nicht schlimm“ ist, wenn es für das Gegenüber wichtig oder schlimm ist. Anstatt „schrecklich“ kann man „schwierig“ sagen, denn „schwierig“ zieht emotional nicht herunter wie „schrecklich“, und gibt implizit das Gefühl, dass man bereits jetzt mit etwas Kontrolle beginnen kann oder am Lernen ist. Die Gesprächsführung sollte einen klaren Anfang und ein klares Ende haben. Am einfachsten ist es, wenn man mit der Beschreibung einiger aktueller Tatsachen beginnt, womit das Gegenüber einverstanden ist, weil es evident ist. Damit erzeugt man ein Gefühl von Übereinstimmung, das es dem andern einfacher macht, im Gespräch teilzunehmen. Als zweiten Schritt kann man nun – hauptsächlich auf die Fakten konzentriert – die Fragen oder das angegebene Problem besprechen, und auftretende Gefühle quittieren („ich höre, dass das schwierig für Sie ist“). In dieser Phase sollen viele kognitive Fragen beim Klären des Problems helfen. Wenn man das Problem klarer definiert hat, und im besten Fall sogar an eine Lösung denken kann, kommt der. Dritte Schritt: Man beginnt zusammenfassend darüber zu reden, was man (oder der andere, oder beide) als nächstes tun wird – d. h. wieder von Tatsachen spricht, z. B. darüber, was nun als nächstes getan wird, wer was unternimmt usw. Das sind wieder Statements, wie am Anfang des Gesprächs. Hier kann man nun auch eventuell auftretende (bessere) Gefühle ansprechen und sich auch selber z. B. neugierig darauf zeigen, „bis wann wir x erreicht haben werden“ (s. dazu Übung 3).

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Auch andere Probleme – innere wie äussere – lassen sich besser bewältigen, wenn nach diesem Vorgehen darüber gesprochen wird. Denn es ist beispielsweise für viele Menschen leichter und einfacher, ausgesprochenen Erwartungen entgegenzutreten, als keine Klarheit darüber zu haben, welche Erwartungen bestehen. Typische Reaktionen darauf sind Trotz, Überforderung oder emotionale Attacken.

1.6.2 Kognition und Emotion Das Bereden von Ereignissen, Stimmungen und Situationen wird leichter, wenn man in einer gewissen Ordnung vorgeht. Wichtig ist insbesondere die Aufteilung in einerseits kognitive, d.  h. ausschliesslich auf Tatsachen zentrierte, andererseits emotionale Anteile und das Verfolgen eines zuvor ausgehandelten und genau definierten Zieles. Ein in diesem Sinne strukturiertes Gespräch birgt ein nicht zu unterschätzendes heilendes Potenzial in sich – und kann in sehr vielen Situationen angeboten werden. Da der Mensch starke unangenehme Gefühle besser meistert, wenn er sie einordnet und annimmt, gilt es, sie zu klären und zu benennen. Für ein mit unangenehmen Emotionen verknüpftes Problem gilt es zuerst, sich über seine kognitiven Umstände klar zu werden. So bestehen die ersten Schritte darin, sich auf einer möglichst sachlichen (und durchaus distanzierten) Ebene an die äusseren Umstände und den roten Faden des Ereignisses heranzutasten. Die erlebte Geschichte muss auf jeden Fall niedergelegt werden, und zwar so, dass betroffene Personen dabei nicht von ihren Erinnerungen emotional überwältigt werden. Dies ist möglich, erfordert aber eine relativ strenge Führung und gleichzeitig eine gewisse Kreativität. So kann man das Schreiben der Geschichte durchaus wörtlich verstehen, Darstellungen in Zeichnungen und Spielen einbeziehen, die Erzählung aus einem speziellen Blickwinkel heraus gestalten: z. B. der Sicht eines aussen stehenden Beobachters (häufig die dritte Person anstatt „ich“ verwenden) oder aus der „Helikopterperspektive“ (s. auch Kap. 4). Ziel ist in allen Fällen, dass die Abläufe und „objektiven“ Fakten geklärt werden, und zwar so, dass die Erzählung nicht auf dem schlimmstmöglichen Punkt stehenbleibt, sondern weitergeführt wird bis zum Moment von relativer Sicherheit, wo das Ereignis abgeschlossen ist. Die mit einem traumatogenen Ereignis verbundenen Emotionen sind in der Regel schlimm und unerträglich – und so stark, dass betroffene Personen oft gar nicht wissen, welche Gefühle sie bedrängen. Man muss sich als

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Gesprächsführer davor hüten, diese zu interpretieren; denn jeder Mensch spürt in der gleichen Situation individuell andere Gefühle. Nur mit Unterstützung können Betroffene sie klären und benennen. Emotionen werden primär diffus im Körper gefühlt; man kann sie anhand der K- Submodalitäten (vgl. 2.3.1.) fraktioniert erarbeiten und präzisieren. Damit beginnt man, sie zu desensibilisieren, und so können sie schon einfacher benannt und schliesslich besprochen werden. Dies bedeutet nicht, dass die Gefühle dadurch verschwinden, trägt aber dazu bei, dass Leidende sich darüber kognitiv klarer werden. Wie häufig sprechen Betroffene von einem unerträglichen „Scheissgefühl“; wenn man sie damit konfrontiert und zuerst die Körperempfindung und danach die Benennung erarbeitet, entsteht ein differenziertes Gefühl. Dadurch wird es einfacher, mit ihm umzugehen und es in das eigene Leben einzuordnen und zu integrieren (s. dazu Übung 9). Hinter schwierigen Gefühlen steht immer ein für die Betroffenen wichtiger Wert, der im Ereignis verletzt (nicht respektiert) wurde. Beim Erarbeiten und Benennen der Emotionen lohnt es sich, auch den dahinter verborgenen Wert zu suchen – und zu benennen. Mithilfe des verletzten Wertes kann ein sehr mächtiges Reframing entstehen. Das Gefühl wird in einem neuen Rahmen wahrgenommen und mithilfe des gefundenen Wertes anders interpretiert. Dies spielt beim Überwinden der hilflosen Betroffenheit eine wichtige Rolle. Neben dem Sprechen und Bereden gibt es auch das Schweigen, ein Schweigen, das man nicht mit Wörtern füllen soll, und mit dem man Betroffenheit mitteilen kann. Dieses Schweigen kann durch ein paar Worte eingeführt und durch Bewegungen oder Berührungen begleitet werden, man darf aber nie zulassen, dass das Gegenüber in einer schrecklichen Erinnerung erneut versinkt. Jedes Gespräch über Schlimmes/Schweres soll nicht an diesem Punkt beendet oder abgebrochen werden, sondern in ein Besprechen von Ressourcen münden. Damit findet man Zugang zu einer Kraft, einer aktuellen positiven Erfahrung oder einer guten Erinnerung aus dem früheren Leben des Gegenübers. Diese können personenspezifisch (Familie, Hobbies, Beruf, etc.) oder kulturspezifisch (Feste, Essen, etc.), aus der Vergangenheit oder aus der Gegenwart abgerufen oder auch aus einer Hoffnung für die Zukunft konstruiert sein. Man muss definieren, mit welcher Aktion der Betroffene den Rest des Tages füllen möchte oder kann. Man muss unbedingt die Zeichen von negativer Physiologie wahrnehmen und darf niemanden verabschieden, der noch Gefühle von Schrecklichem spürt, sondern jede Person erst dann gehen lassen, wenn Ressourcen und Aktivität mobilisiert und verstärkt sind (s. dazu Übungen 8, 17). Damit haben Betreute- und sei es auch

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nur ein wenig – mehr Kraft und Kontrolle als zuvor. Das sieht man an den Zeichen der Physiologie im Gesicht und in der Körperhaltung. Man hilft so, die schlechte Erinnerung mit neuen Ressourcen im Gedächtnis abzulegen, und das verändert sie bereits.

1.6.3 Die lähmende Wahrheit salutogenetisch umdeuten Es ist manchmal schwierig, eine Wahrheit auszusprechen, obwohl genau das nötig wäre; und häufig fürchtet man sich davor, weil man meint, dass Betroffene sie nicht ertragen und darüber zusammenbrechen. Und doch kann man nicht umhin, die bittere Wahrheit anzuerkennen, um Menschen die Chance zu geben, sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Die salutogenetischen Redewendungen sind ein Modell, das einem ermöglicht, die Wahrheit zu sagen und einen wesentlichen Schritt weiterzugehen, indem man den Betroffenen aus der totalen Hilflosigkeit herausführt, weil man ihm eine (teilweise) Kontrolle ermöglicht. Die salutogenetischen Redewendungen bestehen aus zwei Teilen: im ersten Teil bestätigt man die Wahrheit, im zweiten Teil öffnet man dem Betroffenen die Möglichkeit, etwas, wenn auch noch so Kleines, selber in die Hand zu nehmen. Auch jedes andere geordnete Besprechen des Ereignisses, hilft Betroffenen, das Geschehen unter anderen Gesichtswinkeln zu betrachten und damit zu beginnen, für sich an der Umdeutung zu arbeiten (s. dazu Übung 12).

1.6.4 Kulturelle Zugänge In jedem Gespräch gilt es zu berücksichtigen, dass verschiedene Kulturen (und verschiedene soziale Schichten und familiäre Traditionen) jeweils spezifische Zugänge zur Verwendung von Sprache haben, dass mit Worten äusserst kreativ Wirklichkeiten geschaffen werden und dass die Bedeutung von einzelnen Begriffen sehr unterschiedlich sein kann. All dies kann wichtig werden, aber nicht nur in einem einschränkenden Sinne, sondern als konkrete, erweiterte Möglichkeit. Denn im Hinblick auf die Einordnung und die psychische Verarbeitung von potenziell traumatischen Ereignissen spielt weder die Sichtweise des Betreuers noch eine allgemein anerkannte Wahrheit die entscheidende Rolle, sondern die jeweils spezifische Einordnung in das Weltverständnis der betroffenen Person. Die meisten Kulturen, Schichten und Familien haben denn auch Techniken entwickelt für den Umgang mit ausserordentlichen

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Situationen – und bezeichnenderweise geht es dabei meistens um Sinngebung und darum, eine gestörte Ordnung mit ihren spezifischen Werten wieder herzustellen. Nützlich sind Fragen, wie: „Wie würde dieses Problem in Ihrer ursprünglichen Kultur (resp. bei ihnen zu Hause) bewältigt? Gibt es Handlungen, „Rituale“, die in solchen Situationen weiterhelfen können? Wissen Sie, warum dies oder jenes geschehen konnte?“ etc. Auch wenn Gesprächsführer sich dabei durch gewisse Antworten verunsichern lassen (z. B. durch eine vermeintliche Vermischung von Realität und Fantasie), spielt dies keine Rolle; wichtig ist, dass man darauf eingehen kann und andern nicht die westliche Kultursicht überstülpt. Eine für einen Europäer klar traumatisierte Afrikanerin, die sich ihre PTSD-Symptome damit erklärt, dass sie von einem Djinn (böser Geist) besessen ist, kann nicht von der Erklärung ihrer Symptome im Rahmen von Übererregung, Dissoziation und rekurrenten Erinnerungen überzeugt werden. Es gilt hier, sich an ihr Weltbild anzupassen und herauszufinden, was der Djinn benötigen würde, um etwas ruhiger zu werden. Und vielleicht kann der Djinn über eine Atemübung ruhiger werden, oder indem man ihn anspricht und mit ihm verhandelt. Sofern nicht die Umwelt darunter leidet, ist es an sich gleichgültig, wie etwas erreicht wird. Hauptsache, es nützt. Deshalb sollte in der Gesprächsführung die Suche nach individuellen, familiären oder kulturspezifischen Ressourcen, die einer betroffenen Person helfen, aktiv unterstützt werden. Dabei können (sowohl bekannte als auch neu erfundene) Rituale eine wichtige Funktion übernehmen. Diese können ein einziges Mal oder regelmässig durchgeführt werden, müssen aber zuvor erarbeitet und in ihrer Ausführung genau besprochen werden. Eine der grossen Bedeutungen der Ressourcenarbeit liegt darin, dass ihre grundlegenden Prinzipien sehr breit (und vor allem in verschiedenen kulturellen Zusammenhängen) gültig und anwendbar und somit in ihrer Konkretisierung variabel und übertragbar sind. Je nach Situation ist es dabei sinnvoll, dass die notwendige Übersetzungsarbeit selbst vom Intervenierenden geleistet wird – oder man sich von VertreterInnen der entsprechenden Kultur unterstützen lässt. Dies kann so weit gehen, dass bestimmte Menschen nicht mehr direkt begleitet werden müssen, sondern dass man geeignete Personen – Peers – sucht, ausbildet und einsetzt, welche die direkte (Ressourcen-) Arbeit leisten können. Dabei wird ein allfälliger Verlust von „Professionalität“ bereits durch den Zugang über die Muttersprache mehr als wettgemacht. Dies ist einer der Vorteile von kulturellen Peers. Das Vorgehen bietet viele Vorteile und Möglichkeiten, verlangt aber, vorher entsprechende Strukturen bereit-

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zustellen und den eingesetzten Personen, Peers, die notwendige Unterstützung und Rückendeckung zu geben. Einige grundlegende Dinge, besonders die Förderung der Selbstkohärenz werden aber in jeder Kultur, von jedem Menschen benötigt: Sicherheit ist das erste und wichtigste für jeden Ankommenden und auch für jeden Sesshaften. Zur Sicherheit gehören als erstes die Befriedigung der Grundbedürfnisse: Dach über dem Kopf, sauberes Wasser, Essen, dann sinnvolle Beschäftigung (Empowerment, Würde – wieder – erlangen) und in einer Gruppe angenommen sein. Eine minimale „Grundsicherheit“ gibt auch eine erste Kontrolle, was zentral für die Überwindung der potenziell traumatischen Erfahrung mit ihrer Hilflosigkeit ist. Wenn diese minimale Sicherheit gewährleistet ist, treten weitere Bedürfnisse auf: Verstehen, wie das, was passiert ist, passieren konnte (in der jeweiligen kulturellen Sicht), was die Migration bewirkt hat; das erfordert viel Information, so objektiv wie möglich. Verstehen, wie die Aufnahmegesellschaft funktioniert, welche Werte hier wichtig sind. Auch eine eigene Geschichte zu konstruieren, hilft verstehen. Heute weiss man, dass das Hirn nur Erinnerungen speichern kann, wenn die jeweilige Geschichte geordnet ist, die dazu gehörenden aktuellen Gefühle (im hier und jetzt) gespürt wurden und man den dazu gehörenden (persönlichen und kulturellen) verletzten Wert hat finden können. Erst wenn diese grundlegenden Dinge gewährleistet sind, können Menschen sich Neuem zuwenden. Sinnhaftigkeit (Sinnfindung – Sinnschöpfung) ermöglicht das Ablegen (nicht Vergessen!) auch schlimmster Erfahrungen und die Zuwendung zu Neuem: eine neue Sprache zu lernen, eine neue Kultur zu erkunden, sich Arbeit zu suchen usw.

1.6.5 Reframing und posttraumatisches Wachstum Kritische Ereignisse bedeuten viel Leid für Betroffene und ihre Familien. Doch nicht immer machen sie krank. Ja sie können sogar Menschen auch weiser machen, wachsen lassen. In diesen Fällen gelingt es den Menschen, das Erlebte durch persönliche Reframings zu verändern. „Reframing“ – übersetzt- „etwas in einen andern Rahmen stellen“ – ergibt sich spontan, wenn Menschen sich nach einem traumatogenen Ereignis gesund weiterentwickeln; sie sehen das Ereignis unter einem andern Blickwinkel, z. B. „Glück gehabt zu haben“, „das nicht missen mögen, weil man so viel gelernt hat“ „nicht missen mögen, weil man durch das Ereignis sich als Elternpaar so viel näher gekommen ist“ usw. Wenn Menschen selber fähig sind, solche

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Reframings zu machen (was nicht heisst, ohne Leid), werden sie am Ereignis wachsen; im posttraumatischen Wachstum (Tedeschi und Calhoun1996) werden Menschen, durch das Ereignis weiser oder achtsamer. Reframing kann aber auch als Technik benützt werden. Die meisten hier beschrieben Techniken können auch unter dem Gesichtspunkt des Reframings betrachtet werden. Wenn man durch Stress Management wieder ruhiger wird, durch richtig angewandte Dissoziation das Schreckliche von weiter weg betrachten kann, durch gekonnte Assoziation mit seinen Ressourcen wieder in Kontakt ist, finden automatisch Reframings statt. Das psychologische Debriefing (s. Kap. 5) reframt dadurch, dass die Zeiten geordnet werden, die Gefühle bewusst gespürt und mit dem Wert neu verbunden und das Leben durch die Stress Management Techniken wieder selber bestimmt werden. In jedem Reframing gewinnt die Person eine grössere Selbstkohärenz, sei es durch mehr Kontrolle, besseres Verständnis oder eine neue, konstruktive Sinngebung, und das führt zum posttraumatischen Wachstum.

1.7 Kinder und Jugendliche Kinder und Jugendliche sind Menschen, die sich noch grundlegend entwickeln können. Sie haben Recht auf Schule und Ausbildung. Manchmal ist es gefährlich, sie zwar gutmeinenden, aber inkompetenten, pädagogisch unbedarften Erwachsenen zu überlassen. Ein minimales Wissen über Wachstum, Entwicklung und besondere Bedürfnisse (und Rechte), besonders von unbegleiteten Kindern und Jugendlichen, ist eine unerlässliche Voraussetzung, um mit dieser Gruppe zu arbeiten.

1.7.1 Werte in der Erziehung In der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen oder Familien zeigt es sich, dass Vorstellungen über Erziehung eine wesentliche Rolle spielen. Diese sind – bei allen individuellen Unterschieden – stets abhängig vom gesellschaftlichen Hintergrund oder dem, was vereinfacht als „Kultur“ steht. Jede menschliche Gemeinschaft (Familie, Religion, Dorf, Land, Nation usw.) bemüht sich, ihre Kinder zu glücklichen und „brauchbaren“ Mitgliedern zu erziehen. Sie ist für ihr Fortbestehen darauf angewiesen, ihre jeweils spezifischen Werte und Normen zu vermitteln und weiterzugeben. Dies geschieht, geleitet von oft nicht weiter definierten Vorannahmen, in der Regel unbewusst und über die konkreten Vor-Erfahrungen der Erwachsenen.

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Die sich daraus ergebenden familiären, Schicht-spezifischen und kulturellen Unterschiede in der Erziehung basieren auf einer Gemeinsamkeit: Überall gilt die Einsicht, dass ein Kind sich entwickelt („es wächst“) und dass es gewisse Dinge in einem gewissen Alter kann oder lernen muss. Der Weg vom Kleinkind zum erwachsenen und vollwertig verantwortlichen Mitglied der Gesellschaft verläuft in Schritten. Diese wiederum sind kulturell definiert und geregelt. Dabei können beispielsweise ritualisierte Übergänge, die Loslösung (oder Nichtlösung) von den Eltern oder komplizierte Systeme zum Erlernen eines Berufes eine Rolle spielen. Wichtig für die Gestaltung des Lebens der Noch-Nicht-Erwachsenen (noch nicht als erwachsen angesehenen jungen Menschen) und damit der Erziehung sind die Zielabsichten der jeweiligen Kultur. Während im Kleinkindalter noch fast überall Sicherheit, Geborgenheit etc. im Vordergrund stehen, können sich diese Ziele danach stark unterscheiden. Vergleicht man beispielsweise die Vorstellungen von „guten“ und „schlechten“ (Problem-) Kindern in Schweizer Familien mit solchen aus dem Balkan, so fällt auf, dass Werte wie Einsicht, Autonomie, Kreativität oder Kritikfähigkeit solchen wie Respekt, Gehorsam, Vaterlandsliebe gegenüberstehen. Kinder und Jugendliche sind fähig, eine eigene Identität zu bilden – und sie sind fähig in zwei (oder mehreren) verschiedenen Kulturen gleichzeitig aufzuwachsen. Sie können bi-kulturell und „bi-loyal“ sein, sofern die Wertsysteme genügend Raum haben, wo sie gelten, und sich nicht vermischen. Doch muss klar sein, welche Kultur wo das Sagen hat. So ist es beispielsweise für jedes normal begabte und entwickelte Kind leicht zu verstehen, dass zu Hause eine und „draussen“ eine andere Sprache (und Kultur) herrscht. Voraussetzung dazu ist allerdings, dass die VertreterInnen der jeweiligen Kulturen (z. B. Eltern und Lehrkräfte) einander achten und vertrauen. Ansonsten kann es Konflikte geben, die sich zunehmend verstärken oder gar eskalieren. Problematisch sind dabei verschiedene Situationen: wenn Jugendliche aus migrierten Familien „zu viele“ fremde Ideen in die Familie hineintragen, wenn ihnen „verboten“ wird, an der vor der Haustüre stattfindenden Kultur teilzunehmen, wenn sie in der Suche nach einer eigenen Identität zu wenig unterstützt und respektiert werden. Loyalitätskonflikte von Kindern lassen sich erkennen und müssen ernst genommen werden. Ein erster Schritt zu ihrer Auflösung ist, dass die „Kulturstellvertreter“ miteinander Kontakt aufnehmen, sich zusammensetzen und kennenlernen. Denn da sich die eigentlichen Lernziele nur sehr selten komplett widersprechen, ist es meist möglich, eine gemeinsame Basis zu finden und gegenseitigen Respekt aufzubauen. Letztlich hilft dieser Respekt dem betroffenen Kind/Jugendlichen, nicht völlig zerrissen zu werden und

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sich selbst als „kulturtragende“ Person zu erleben, im Optimum mit einer neuen – kombinierten- Kultur. Die Prozesse auf diesem Weg sind nicht einfach. Spannungen können auftreten, die es auszuhalten gilt und in denen Kompromisse nur mit viel Fingerspitzengefühl ausgehandelt werden können. Dabei sollten die Interessen des Kindes/Jugendlichen in den Vordergrund gestellt werden und dieses hat, zumindest nach den in unserer westlichen Welt gültigen Menschenrechten, das Recht auf eine eigenständige Entwicklung und eine fördernde Umwelt.

1.7.2 Entwicklungsphasen Die Entwicklung des Menschen verläuft in Phasen. Diese bauen aufeinander auf, sind durch Schwellen getrennt und haben jeweils eine Aufgabe, ein Ziel, das in ihr erreicht werden soll. Dabei sind insbesondere die Schwellen eigentliche Krisenmomente, die bewältigt werden müssen, und gleichzeitig Herausforderungen und Chancen enthalten. Eine Einteilung der Entwicklungsphasen stammt von Erik Homburger Erikson, einem kulturvergleichenden Psychoanalytiker (1950). Es ist ein am Alter des Kindes ausgerichteter Raster, der für die westliche Gesellschaft mehr oder weniger Gültigkeit hat und darüber hinaus eine Art Orientierung bieten kann. Kleinkind (0 bis ca. 1 Jahre) Urvertrauen: „Die Welt ist gut zu mir, ich kann ihr vertrauen“. Dies wird dem Kind vermittelt über klare Rhythmen (Schlaf/Wachsein, Essen/ Hunger) und über konstante, nicht häufig wechselnde Bezugspersonen. Wichtige Schritte sind die Erfahrungen, dass Hunger oder Abwesenheit nicht so schlimm sind, da „ich“ später gesättigt werde und da die Bezugsperson wieder zurückkehren wird, Personen und Dinge existieren, auch wenn ich sie im Moment nicht sehe (Objektkonstanz). Wenn das Kind zu viele widersprüchliche Botschaften erhält, entwickelt sich das Urvertrauen zu wenig und ein Urmisstrauen entsteht. Dies kann ein Grundstein sein für „Verwahrlosung“ und dissoziative Erkrankungen, für das Fehlen von inneren (auch körperlichen) Grenzen und Regeln und für die Unfähigkeit zu späteren Bindungen und dauerhaften Beziehungen. Überverwöhnung, die dem Kind das Erlernen von Frustrationstoleranz vorenthält, kann einen ähnlich schädlichen Effekt haben.

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Kind (ca. 1 bis 3 Jahre) Autonomie ist hier die Aufgabe, wobei insbesondere die Motorik, der Gang, die Hände, der Mund wichtig sind: „Ich kann mich selbst bewegen“, „ich kann selbst spielen“, etc. Autonomie und Urvertrauen verstärken einander und können bei ungenügender Entwicklung zu Zweifeln führen. Das Kind zweifelt an sich, seinen Rechten und Fähigkeiten und/oder es schämt sich. Erziehung heisst hier vor allem Unterstützung: „Du kannst das, du darfst – oder – du musst das“. Dabei gilt es, das Kind weder permanent zu überfordern, noch zu unterfordern. Kind (ca. 3 bis 5 Jahre) Initiative und Verantwortlichkeit: Das Kind wird aktiv und geht auf seine Umwelt zu. „Ich will jetzt spielen“, „ich gehe Beziehungen ein“, „ich beeinflusse die Aussenwelt“, „ich kann Regeln einhalten“ etc. Die Gefahr bei ungenügender Erfüllung dieser Aufgabe ist, dass Gefühle von „schlechtem Gewissen, resp. Verantwortlichkeit“ entstehen, z. B. das ­Sich-verantwortlich-Fühlen, wenn die Beziehungen nicht befriedigend sind, Aus diesem Grund ist sollte das Kind erleben, dass auch gute Beziehungen nicht nur harmonisch sind und in der Verantwortung aller Beteiligter liegen. Schulkind (ca. 5 bis 10 Jahre) Leistung. Diese Zeit, in der die Werte der Eltern sehr bedeutend sind, heisst auch Latenzphase und ist in der Entwicklung eine Phase relativer Ruhe. Doch für das Kind ist es wichtig, sich zu produzieren, sich darzustellen und Leistungen zu zeigen: „Ich kann, was ich will!“ Auch wird das bereits Erreichte immer selbstverständlicher und automatisiert. Dies ermöglicht Wachstum, Lernen und Selbstsicherheit. Ist dies nicht möglich, können Gefühle der Minderwertigkeit entstehen – das Fehlen der Sicherheit, Fähigkeiten zu haben, Dinge zu können und selbst jemand Wichtiger zu sein. Pubertät/Adoleszenz Identität. In dieser Phase, die im Alter zwischen 10 und 15 beginnt und zwischen 18 und 25 endet, geht es um Sexualität, persönliche Identität, gesellschaftliche Rollen und um das Finden eigener Werte, die unabhängig von denjenigen der Eltern bestehen können. Damit verbunden ist die Frage (und die Entscheidung), wohin (auch zu welchen Kulturen) ich gehöre resp. gehören will. Wird dies nicht befriedigend und genügend klar beantwortet,

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besteht die Gefahr einer Rollenkonfusion, die Unkenntnis, welche Werte ich für mich in welchen Situationen gelten lassen will resp. die Frage, wozu ich mich nach „Gut“ und „Böse“ richten soll, wenn doch z. B. nur der Stärkere/Reichere Recht hat. Junge Erwachsene Intimität: Hier geht es um die Fähigkeit, in einer Beziehung zu bleiben, keine Angst vor Nähe zu haben und diese auch weiterzugeben (z. B. sexuell oder im Da-Sein für andere). Falls diese Intimität nicht entwickelt wird, besteht die Gefahr der Isolation, sowohl sozial als auch emotional. Erwachsenenzeit Darin geht es um (berufliche) Kompetenzen, um das Festigen der Beziehungen und nicht zuletzt um die Fähigkeit, eigene Kinder durch die ersten Lebensphasen zu begleiten. Sonst stagniert die Entwicklung. Berufliches Fortkommen und Leistung sind hier sehr wichtig, genauso wie gestaltende Anteilnahme an der Gemeinschaft, sei es in der Politik, in Vereinen oder bei Hobbies. Alter Im Alter dann geht es darum, in sich ruhen zu können und trotz nachlassender Leistungen und zunehmender Beschwerden zu spüren: „Ich habe gelebt, mein Leben war gut, ich habe noch Aufgaben“. Gelingt dies nicht, besteht die Gefahr der Verzweiflung. Bei Migrierenden können in dieser Zeit intensive Erinnerungen an die Vergangenheit auftreten: sei es in der alten (Mutter)Sprache, in Melodien, Sehnsucht nach den eigenen toten Eltern, dem Familiengrab usw. Dies sind keine psychiatrischen Probleme, sondern lassen sich durch Erzählen, Geschichten „weisst du noch“, verständnisvolles Annehmen der Sehnsucht erleichtert werden. Dass sich Im Alter das Gedächtnis verändert, ist völlig normal. Lange Vergangenes wird wieder hoch aktuell und zentral. Das dabei auftretende Leiden soll man anerkennen, annehmen und lindern – und nicht als Altersdepression psychiatrisch behandeln. Dieses Schema muss fliessend verstanden werden. Es gibt einen Überblick über die Aufgaben, die es zu bewältigen gilt, und die drohenden Krisen bei Übergängen. Jeder Schritt ist wichtig und Voraussetzung für den nächstfolgenden. Und alle verstärken und unterstützen einander. Das, was ist,

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strahlt aus. Deshalb ist es oft auch nicht notwendig, jeden Punkt selbstständig zu bearbeiten. Wenn wir etwas stärken können, hat dies in der Regel positive Auswirkungen auf die ganze Persönlichkeit. Ein einziger nachgeholter Schritt zieht häufig die anderen mit.

1.7.3 Besondere Problematiken Überall auf der Welt haben Kinder eine unsichere Zukunft. Dies ist eine Tatsache, die wir akzeptieren müssen. Alles, was wir tun können, ist, den Kindern heute und jetzt eine minimale Sicherheit, Spielräume und Entfaltungsmöglichkeiten zu geben, nicht zuletzt deshalb, weil gerade Kinder im Hier und Jetzt leben wollen und sich darin auch wohl fühlen sollen. Sie haben in allen Fällen ein Recht darauf, hier und jetzt Kinder zu sein und sich entsprechend ihren Begabungen zu entwickeln, ohne dabei von Loyalitätskonflikten oder unerträglichen Ängsten erdrückt zu werden. Dies heisst unter anderem, dass sie lernen festzustellen, dass das Leben gut war und ist, so wie es war und ist – und nicht so, wie es hätte sein können. In der Arbeit mit Kindern aus dem Migrationsumfeld gilt es zu beachten, dass sie in vieler Hinsicht Sicherheit und Unterstützung brauchen, die ihre oft selbst überforderten Eltern ihnen nur sehr bedingt bieten. Mögliche Ansatzpunkte sind folglich: die Begleitung der Eltern, die Pflege der Herkunftskultur (inkl. Muttersprachunterricht), Unterstützung der Lehrer, soziale und kulturelle Kontakte in Schule und Freizeit, die Schaffung von vertrauten Räumen und Umgebungen und insbesondere das Angebot von Möglichkeiten, sich auszudrücken, mitzuteilen und Spass zu haben. Kinder und Jugendliche, die potenziell traumatische Erfahrungen machten, laufen zudem Gefahr, psychosozial zerstört zu werden. Und dies nicht nur, weil sie eine Vergangenheit in einer Phase verarbeiten sollen, in der ihre Persönlichkeitsstruktur noch gar nicht vollständig aufgebaut ist, sondern auch, weil sie in der Gegenwart mit neuen potenziell traumatischen Ereignissen konfrontiert werden (z. B. durch die Ausgrenzung in der Schule oder durch Medienberichte) und sie kaum Zukunftsfantasien haben dürfen. Solange sie noch unter einem traumatogenen Ereignis leiden, ist es ihnen auch neuro-biologisch unmöglich, an eine Zukunft zu denken. So gilt es unter anderem, das stark angeschlagene Urvertrauen aufzubauen und zu stärken. Dieser Prozess lässt sich durch Ruhe, Geduld, Konstanz, Zuverlässigkeit sowie aktive oder passive Animation unterstützen – und muss auch dann immer wieder angestossen werden, wenn die äusseren Rahmenbedingungen alles andere als ideal sind.

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Zudem sollte man Kinder mit ihren potenziell traumatischen Erlebnissen nicht alleine lassen, sondern ihnen dabei helfen, diese nach aussen zu tragen und sie (für sich) einzuordnen und „vernarben“ zu lassen. Dabei können Zeichnungen, Spiele, Modellierungen etc. einen ebenso geeigneten und altersgerechten Zugang bilden wie Gespräche. In einer bewusst erstellten Umgebung, welche sie als geschützt empfinden und auch mit positiven Erinnerungen verbinden, darf/muss man mit Kindern über die Dinge reden, die sie erlebt haben – gerade auch, weil sie selbst oft schweigen (unter Umständen im Versuch, die Eltern zu schonen) und dadurch alles in sich hineinfressen. Allerdings müssen sie nicht mit allem konfrontiert werden, aber man darf ihnen nichts verheimlichen, was sie selbst miterlebt haben. Denn es ist für ihre spätere Entwicklung (z. B. der Bildung von eigenen Werten) von grosser Bedeutung, dass sie in ihrer Realitätswahrnehmung bestätigt werden und ihnen vermittelt wird, dass ihre Gefühle richtig und wichtig sind: „Ja, du hast gut gesehen“. „Du hast Recht, dies ist traurig“. „Es ist natürlich, dass du Angst/Wut hast“ etc. Dies gilt noch stärker in Bezug für Jugendliche, die die Auflösung von gültigen Werten in Krieg oder Gewalt miterlebt haben. Die häufig ambivalente Haltung ihrer Eltern und die wegen der Migration schlechteren Bildungschancen behindern sie in ihrer Entwicklung und Identitätsfindung. Was sie wollen, ist sowohl die Teilnahme am Leben jetzt als auch die Erschliessung von nach vorne offenen Perspektiven – und sie finden allzu oft weder in der Kultur ihrer Heimat noch in der ihres Gastlandes den dafür nötigen Boden. Dazu kommt, dass sie (wie Jugendliche fast überall auf der Welt) Mühe haben, wenn ihre Erwartungen nicht sofort erfüllt werden, und dass sie, ob alleine oder in einer Gruppe, ob in einer eingenommenen oder einer zugeschriebenen Rolle, an sich auf eine geeignete „Reibungsfläche“ angewiesen wären, die sie aus einer guten Beziehung heraus mit den gesellschaftlich anerkannten Strukturen und Verhaltensweisen konfrontiert. Die Zusammenarbeit mit betroffenen Jugendlichen ist dringend nötig, aber oft schwierig und bedingt neben einer klaren Haltung auch Geduld, Konstanz und Kreativität. So sind zwar Strukturen und Regelungen sehr wichtig, doch müssen diese soweit durchlässig sein, dass sie nicht überfordern. Auch gilt es zu beachten, dass Werte wie „gute Schulbildung“ und „ehrbare Arbeit“ hier zwar nötig und unbestritten sind, aber eben doch an der im Hier und Jetzt gültigen Wirklichkeit gemessen werden müssen – sowohl von begleitenden Personen als auch von den Jugendlichen selbst. Folglich sind letztlich Lernziele gefragt, die realisierbar sind und die für jede Form von Zukunft eine Grundlage bilden können. Ein grundsätzlicher Aspekt ist derjenige der Identität. Diesbezüglich kann man davon ausgehen, dass die Probleme, die jugendliche MigrantInnen mit

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ihren „unklaren Verhältnissen“ haben, keine Randerscheinung sind, die es in bekannte Muster zurückzuführen gilt, sondern eher Vorläufer eines weltweit zunehmenden Phänomens. Damit umgehen zu lernen ist denn auch eine der zentralen Aufgaben, die sich dem „modernen“ Menschen stellen. Eine Hilfestellung dazu kann beispielsweise darin bestehen, die jeweils wichtigsten Orientierungshintergründe mit herauszuarbeiten und freizulegen, z. B. durch das Zeichnen einer Art „Landkarte“, welche die auf die einzelne Person wirksamen „kulturellen Strömungen“ festhält – oder, um es systemisch auszudrücken, wie die Person in ihren verschiedenen Mesosystemen interagieren will/kann. Zusätzlich ist wichtig, dass Kinder und Jugendliche mit Gewalterfahrungen (auch bei nicht migrierenden, z. B. mit familiärer Gewalt) auffälliges Verhalten an den Tag legen können, das es vor allem zu verstehen, pädagogisch anzugehen, aber sicher nicht zu bestrafen gilt. Gleichzeitig muss man klare Regeln des Zusammenlebens übermitteln und ihre Beachtung fordern. Kinder, bis ca. 12, manchmal auch noch später, leiden nicht unter traumatischen Flashbacks, sondern zeigen „traumatisches Spiel“. D. h. sie „erinnern“ sich im Tun. Das kann gefährlich sein für sie und andere, es kann zu „zwanghaftem Verhalten“ führen, dabei ist es „nur“ eine traumatische Erinnerung. Häufig verschwindet sie, wenn mit dem Betroffenen eine Geschichte (Narrative, 2.3.1.) dessen, was passiert ist, erstellt wird. Heutzutage weiss man, durch die Neurobiologie klar, dass es einem Traumatisierten unmöglich ist, seine Zukunft zu planen. Dadurch, dass im Hirn der Zugang zur Vergangenheit blockiert ist, wird auch der Zugang zur Zukunft gesperrt – denn dazu braucht man ja bereits gemachte Erfahrungen. Das „No Future Syndrom“ bei diesen Jugendlichen beruht also auf neuro-physiologischen Tatsachen. Das Öffnen der Zukunft kann nur durch Niederlegen und Ordnung der Geschichte im pädagogischen oder manchmal sogar therapeutischen Rahmen angegangen werden. Die Kunst besteht darin, für Jugendliche ein Umfeld zu schaffen, in dem sie Kontakt mit einigen (nicht zu vielen!) Bezugspersonen haben, wo sowohl die heimatliche als auch die hiesige Kultur Anerkennung finden. So können sie sich innerhalb eines gewissen Rahmens (z. B. Tagesstrukturen) bewegen und sich mit der Realität samt ihren Möglichkeiten und Beschränkungen konfrontieren sowie Hoffnungen und Perspektiven entwickeln. Dies kann z. B. heissen, Dinge und Fertigkeiten zu lernen, die wann und wo auch immer gebraucht werden können, um ein möglichst gutes Leben zu leben.

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1.8 Familie 1.8.1 Die unvollständige Familie Schon immer war die Familie der Ort, in dem eine ganz spezielle Art von Solidarität zwischen Generationen gelebt wird, wo Werte weitergegeben werden, wo Kinder nicht nur geboren, sondern auch zu nützlichen und brauchbaren Mitgliedern einer Gesellschaft erzogen werden, wo Freud und Leid geteilt wird, wo gehasst und geliebt wird. Leider ist die Familie auch der Ort, In welchem Menschen am meisten verborgener Gewalt ausgesetzt sind. Gewalt zwischen den Geschlechtern, auch sexuelle, Gewalt gegen Kinder, zu „Erziehungszwecken“, sexueller Missbrauch oder heftige Drohungen sind in den meisten Gesellschaften einerseits vorhanden und gleichzeitig tabuisiert. Gerade im interkulturellen Bereich ist es wichtig, die Augen – und Ohren – offen dafür zu halten, sensibel nachzufragen und die hiesigen Richtlinien genau zu kennen; was kann man tolerieren, auch wenn man damit nicht einverstanden ist, wo muss man eingreifen und wo muss man Anzeige erstatten. Es ist wichtig, sich der eigenen Verantwortung bewusst zu sein. Vor dem Alarmschlagen sollte man das Ganze mindestens mit einem Kollegen – oder sogar einem Spezialisten für Kinderschutz oder Schutz vor sexueller Gewalt – evaluiert haben. Falsche Beschuldigungen tun viel Unrecht und können Familien zerstören; zu langes Zaudern kann die Entwicklung eines Kindes oder sogar Leben zerstören. Wie konkret das „Netz“. Familie konstruiert wird und wer dabei welche Rollen und Funktionen übernimmt, ist kulturell verschieden. Doch es zeigt sich auch heute, dass überall dort, wo es möglich ist, in der Alltagsbewältigung und der gesellschaftlichen Organisation auf familiäre Strukturen zurückgegriffen wird. Die äusseren Umstände und die Gründe für eine Migration oder Flucht verhindern in vielen Fällen die gemeinsame Ankunft einer Familie im Zielland. Familien werden auseinandergerissen, und die Mitglieder müssen lernen, sich an das Fehlen eines Teiles zu gewöhnen und damit zu leben. Und obwohl dies anfänglich fast unmöglich erscheint, gelingt es dank der Anpassungsfähigkeit des Menschen, in der Regel innerhalb des verbleibenden Familienverbandes ein neues Gleichgewicht zu finden. Typischerweise übernehmen (und teilen sich) die anwesenden Personen die Funktionen des Fehlenden, wobei insbesondere der eine Elternteil und ältere Jugendliche zusätzliche Rollen zugewiesen bekommen und diese auch

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zu erfüllen vermögen. Die damit verbundene Verantwortung birgt zwar (v. a. bei Kindern und Jugendlichen) die Gefahr von Überforderung und des Verlustes einer altersgerechten Entwicklung in sich, bietet aber auch die Chance zu persönlichem Wachstum und einer ungeahnten Selbstständigkeit. Diese Prozesse gelingen umso besser, je mehr die fehlenden Familienmitglieder in das Hier und Jetzt integriert werden, ohne dass ihre Abwesenheit zu Resignation oder zu Blockierung führt. Denn sowenig es sinnvoll ist, in Gedanken stets abwesend zu sein und in einem „Was-Wäre-Wenn“ zu verharren, sowenig darf die Tatsache vergessen werden, dass die eigene Familie auch noch andere – abwesende – Menschen umfasst. Die reine Arbeitsmigration, bei der (meistens) die Männer oft monateoder gar jahrelang abwesend sind, birgt andere Probleme in sich als die Migration durch Flucht. Bei ersterer ist die Trennung in der Regel finanziell begründet und im gegenseitigen Einverständnis eines Paares erfolgt und auf eine gemeinsame Zukunft „zuhause“ ausgerichtet. Da heute zudem stets Gewissheit darüber besteht, wo der andere gerade ist (Kontakte sind möglich), ist diese Form der Familientrennung nur sehr bedingt vergleichbar mit derjenigen durch Krieg und Flucht. Bei unfreiwilligen Trennungen aus Angst um das Leben ist oft über längere Zeiten ungewiss, wo sich andere Familienmitglieder gerade befinden und ob sie überhaupt noch am Leben sind. Diese Trennungen, die viele Netze willkürlich auseinanderreissen, sind schwer zu ertragen. Fehlende Familienmitglieder haben aber auch in diesen Situationen das Recht, mindestens im Geist anwesend zu sein und „mitzuleben“. Speziell Kindern gegenüber ist es sinnvoll, den Kontakt zum fehlenden Partner aufrecht zu erhalten: sei es durch Briefe oder Telefonate, sei es durch Gespräche über gemeinsam Erlebtes oder sei es durch Fragen wie „was meint ihr, würde er/sie dazu sagen, wie würde das ihm/ihr gefallen?“, sei es, dass das Kind abends dem Abwesenden den schönsten Moment des Tages erzählt, in der Annahme, dies würde irgendwie ankommen etc. Das kann auch Trauer auslösen und ein gewisses Risiko bergen, dass die abwesende Person in ihrem eigenen Mensch-Sein vergessen geht und durch eine (ablehnende oder heroische) Vereinfachung ersetzt wird. Dies zwingt zwar zu Vorsicht und Anpassung an die jeweilige Situation, darf aber keinesfalls zur Haltung führen, als ob man ihn oder sie vergessen hätte. Aufrechterhaltung eines Kontaktes, wie auch immer möglich, ist wesentlich für ein eventuelles Wiedereingliedern von verloren Geglaubten.

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Auch wenn es sich herausstellt, dass er/sie tot ist, ist eine aktive und „konfrontative“ Haltung besser als eine negierende oder unwahre. Man kann davon ausgehen, dass sich die Familie im Hier und Jetzt eher entwickelt, wenn der Verlust besprochen wird, als wenn geschwiegen wird. In diesem Sinne heisst Begleitung und Betreuung von betroffenen Flüchtlingsfamilien, einerseits darauf zu vertrauen, dass sie nach wie vor funktionieren und ihre Aufgaben erfüllen können. Andererseits gilt es, die notwendigen Prozesse zu ermöglichen und allenfalls mit viel Sensibilität zu unterstützen oder gar zu beeinflussen. Gut gestellte Fragen oder Hinweise können – bei gegebenem Vertrauen und Respekt – sowohl eine aktive und positive Auseinandersetzung mit der aktuellen Problematik als auch einen realistischen Einbezug der abwesenden Personen unterstützen.

1.8.2 Wiedereingliederung von Familienmitgliedern Trifft eine Familie nach einer längeren Trennung wieder zusammen, bringt dies in der Regel zuerst viel Freude und Erleichterung mit sich. Und doch ist diese Situation eine spezielle Herausforderung, mit häufigen Schwierigkeiten, weil sich in der Zwischenzeit alle verändert haben. Man hat Verschiedenes erlebt, ist selbstständiger geworden, hat sich zumindest teilweise an die Abwesenheit des anderen gewöhnt, hat andere Freunde gewonnen, neue Rollen übernommen, etc. – kurz, man hat ein anderes, nicht gemeinsam geteiltes Leben gelebt. Speziell Flüchtlingsfamilien machen sehr unterschiedlichen Erfahrungen. Denn die bereits hier Anwesenden haben gelernt, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden und sich in einem gewissen Masse anzupassen. Sie haben Teile der fremden Kultur angenommen und sich vieles aufgebaut, was sie nicht mehr missen möchten. Sie sind nicht mehr die gleichen Personen, wie vor der Flucht. Damit werden die neu Ankommenden sofort konfrontiert – und haben sehr oft grosse Mühe damit. Sie verstehen weder ihre neue Umwelt noch ihre eigene Familie und suchen meist vergeblich nach der Welt, von der sie einmal getrennt wurden. Sie bringen Bilder und Erwartungen mit, die „veraltet“ sind und orientieren sich an einer vergangenen (fantasierten) Idylle. Daran hatten sie sich unter Umständen während längerer Zeit festgeklammert, und das hat ihnen vielleicht erst das Überleben in einer Extremsituation (z. B. im Krieg, Folter, Zeltlager) ermöglicht. Sie versprechen sich von ihrer Ankunft ein Ende des Schreckens, ein Stück Heimat, und finden sich dann allzu häufig in grosser Einsamkeit wieder. Alleine gelassen mit ihren Hoffnungen

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und ihren (meist traumatischen) Erinnerungen sind sie Fremde, sogar in der eigenen Familie. Sie brauchen Hilfe und eine Umgebung, die sie und ihre Nöte zumindest versteht und ernst nimmt, denn sie sind gefährdet und gefährlich, da sie unter Umständen der Überzeugung sind, dass sie nun nichts mehr zu verlieren haben. Speziell schwierig ist die Wiedereingliederung von Familienvätern, die wegen ihrer langen Abwesenheit von ihren Kindern kaum noch erkannt werden und deren Partnerinnen starke und selbstständige Frauen geworden sind. Aber in allen Fällen, in denen die Beziehung zwischen den Ehepartnern zuvor gut war, lohnt es sich, dass sie sich Zeit nehmen, sich wieder aneinander zu gewöhnen und sich – neu – kennen zu lernen. Sofort an Trennung oder Scheidung zu denken, ist falsch, denn gegenseitiger Respekt und Hilfe ist das Minimum, was ein länger Abwesender erwarten darf, insbesondere dann, wenn der Mann durch seine Gewalterfahrungen verstörter, erregter oder emotional abwesender ist als früher. Die Zeit, die sich betroffene Ehepaare geben sollten, muss mindestens sechs Monate betragen und von beiden Partnern vor allem dazu genützt werden, den anderen in seiner aktuellen Realität wahr- und ernst zu nehmen. Begleitende Personen oder BetreuerInnen können dabei wiederum unterstützend wirken und helfen, diese erste Zeit zu überbrücken. Denn gelingt es trotz allen Bemühungen nicht, die Gemeinschaft neu aufzubauen, ist eine Trennung, resp. Scheidung in sechs Monaten immer noch früh genug. Sollte dies dann der Fall sein, ist es besser, wenn sich beide Teile voneinander gelöst haben und so zwar ihre eigenen Wege gehen, aber aktive Eltern der gemeinsamen Kinder bleiben. Falls ein Partner trotzdem die sofortige Trennung anstrebt, stellt sich die Frage, ob er oder sie dennoch bereit und fähig ist, den anderen zu unterstützen. Man kann versuchen, der Familie den Mut zu machen, miteinander zu sprechen und sich mit ihrer Situation auseinanderzusetzen. Dazu braucht es viel Austausch und viel Information, denn je mehr die Dinge klar werden, desto einfacher werden sie. Unter Umständen hilft schon der Hinweis, es sei normal, sich auseinandergelebt zu haben. Es brauche sicher auch eine gewisse Zeit, bis sie einander wieder besser verstehen, weshalb es für einen definitiven Entscheid noch zu früh sei. Solche Hinweise können der Weg zu einer besseren und offeneren Gesprächsbasis sein. Das erfordert wahrscheinlich eher einen kulturellen Mediator, als einen hiesigen Familientherapeuten. In jeder Situation ist es wichtig, ruhig zu bleiben, Hektik zu vermeiden; hoher Stress oder sogar traumatogene Erfahrungen führen zu Übererregung und verunmöglichen Geduld. Also lohnt es sich, Druck abzubauen durch Normalisieren („haben wir schon oft gehabt, dies ist normal“) oder das

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Gemeinsame zu betonen („Euch geht es beiden schlecht“). Die Aufmerksamkeit gilt denn auch dem Versuch, auch noch so kleine Ansätze aufzugreifen („Hättet ihr Euch vorstellen können, wieder gemeinsam lachen zu können?“) und kleine (!) Vereinbarungen zu treffen. Dies kann schwierig sein und bedingt ein Suchen nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Dabei darf man darauf drängen, dass das Paar eine gewisse gegenseitige Verantwortung wahrnimmt und zumindest versucht, fair zu einander zu sein. Wichtig ist in jedem Fall, die verschiedenen Geschichten auszutauschen und zusammenzuführen. Dabei geht es primär um die äusseren Realitäten, und dies kann z. B. mit einer Zeitachse bewerkstelligt werden (was wurde erlebt, was ist neu – auch im Leben der Kinder). Dies sollte eher bald nach der Ankunft durchgeführt werden, damit sich keine Missverständnisse einnisten und auch nur einmal, denn ein zu häufiges Wiederholen kann auch zur Retraumatisierung führen. Auch muss nicht alles genau beschrieben werden, denn zu viel Detailwissen kann sich als problematisch erweisen. Kinder müssen dabei nicht zwangsläufig einbezogen, sollten aber informiert werden. Denn für sie ist die Konfrontation mit dem lange nicht präsenten Elternteil und der schlechten Beziehung der Eltern oft noch schwieriger und unverständlicher als für die Eltern selbst. Und manchmal haben sie selbst viel gesehen und gehört, das ihnen bestätigt werden muss, und deshalb brauchen sie Hilfe, dies einzuordnen und zu verstehen. Die hier angesprochene Thematik gilt prinzipiell auch für Situationen, in denen die Familienzusammenführung in der alten Heimat stattfindet. Sie spielen dort aber eine geringere Rolle, insbesondere dann, wenn die Rückkehr freiwillig erfolgte und genügend vorbereitet wurde. Denn dort existieren noch (oder wieder) Netze aus der Gesellschaft. Doch auch dann gehört es zur Vorbereitung, auf die erwähnten Schwierigkeiten und Bewältigungsstrategien hinzuweisen.

1.9 Spezielle Fragestellungen 1.9.1 Gesundheit, Sexualität, Sucht, Hilfsbedürftige Gesundheit besteht dann, wenn ein Mensch sich körperlich, seelisch und in seinem sozialen Kontext wohl fühlt, wenn Körper und Geist entsprechend den vorhandenen Fähigkeiten funktionieren und er/sie mit sich selbst und mit der Gesellschaft, in der er/sie lebt, in Frieden ist. Sie ist ein persönliches und ein gemeinschaftliches Gut, zu dem viel beigetragen werden kann. Denn auch wenn wir nicht alles beeinflussen können, was auf unsere

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Gesundheit wirkt, so sind doch alle verantwortlich, dafür zu sorgen, dass das gesundheitliche Gleichgewicht immer wieder aufgebaut wird und/oder erhalten bleibt. Dazu gehört eine gesunde Lebensführung, Dies beinhaltet einerseits eine gewisse Regelmässigkeit in Bezug auf Essen, Schlaf, Hygiene und Beschäftigung und zwischendurch Abwechslung, damit man nicht in Langeweile und Routine erstickt. Andererseits geht es darum, den Beziehungen Sorge zu tragen, die mit anderen Menschen und mit der jeweiligen Umwelt eingegangen werden. Denn alle Menschen sind eingebettet in ein primäres soziales Netz und müssen sich mit diesem aktiv auseinandersetzen. Dies bedeutet unter anderem, sich mit auftauchenden Problemen kognitiv und emotional zu konfrontieren und nach Lösungen zu suchen, die der Person selbst und ihrer (ganzheitlich verstandenen) Umwelt gerecht werden. Die Umsetzung dieses Gesundheitsverständnisses in die Praxis heisst konkret, dass man sich nicht damit begnügen kann, die primären Bedürfnisse anderer Menschen zu befriedigen (Essen, Schlafen, Wohnen, medizinische Versorgung, Schule), sondern ihnen von Anfang an Gelegenheit zu bieten, sich zu beschäftigen, ihre Fähigkeiten sinnbringend einzusetzen und ihrer Umwelt – auch kritisch – zu begegnen. Sie haben ein Recht darauf. Sexualität ist etwas vom Tiefsten, was der Mensch erfährt. Und deshalb kann auch in diesem Bereich die körperliche und/oder seelische Gesundheit gefördert oder auch schwer beschädigt werden. Es gilt also, sich zu schützen. Auf der körperlichen Ebene insbesondere gegen sexuell übertragbare Krankheiten und gegen unerwünschte Schwangerschaften. Beides ist möglich, mit Kondomen (in allen Fällen) oder mit Hormonen (nur in Bezug auf Schwangerschaft). Die Wirksamkeit dieses Schutzes erfordert aber oft Verhaltensänderungen und folglich Information, Akzeptanz und Training. Schwieriger wird es, wenn in der Herkunftskultur Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern herrschen, und speziell die Frauen nun andere Modelle kennen lernen. Es gilt, beiden Seiten dabei behilflich zu sein, sich an die hiesigen – auch gesetzlich klar geregelten – Verhältnisse zu gewöhnen. Das gelingt nur, wenn über Sexualität gesprochen wird – und gerade in dieser Hinsicht bestehen oft persönliche und kulturelle Schranken, die man erst überwinden muss. Dazu kommt, dass sowohl Geschlechtsverkehr als auch Krankheit von verschiedenen Menschen unterschiedlich „eingeordnet“ resp. „erklärt“ werden und zudem geschlechtsspezifische Unterschiede bestehen. Gute Präventionsarbeit hat dies alles zu berücksichtigen. Wenn sie kreativ ist, geht sie situationsspezifisch vor und übersetzt das bestehende Wissen in viele „Sprachen“, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne.

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Das kann nur gelingen, wenn man Personen aus dem Zielpublikum in Vorbereitung und Durchführung aktiv einbezieht, resp. eben bi-kulturelle Werte respektiert und bespricht. Auch auf der seelischen Ebene kann eine nicht gelungene Sexualität zu schweren gesundheitlichen Störungen und Beschädigungen führen. Insbesondere Extremsituationen wie Missbrauch und Vergewaltigung sind derart massive Eingriffe in die persönliche Integrität eines Menschen, dass die Opfer dadurch fast immer schwer getroffen werden und anschliessend unter den entsprechenden Folgen leiden. Da Sexualität aber die ganze Person betrifft und deren generelle Empfindsamkeit miteinschliesst, wirken sich auch weniger dramatische Ereignisse u. U. negativ aus. Geschlechtsverkehr ohne die nötige seelische Bereitschaft oder ohne gegenseitigen Respekt hinterlässt vielfach – und trotz allfälliger Triebbefriedigung – länger andauernde Schäden bei Menschen (beiderlei Geschlechts). Sie können dadurch die Fähigkeit verlieren, Gefühle und Zärtlichkeit zu spüren, zu zeigen und zu leben und mit ihrem Gegenüber eine tiefe Beziehung einzugehen. Vergewaltigung als Waffe, wodurch man Gemeinschaften vorsätzlich zerstört, muss in jedem Krieg in Betracht gezogen werden. Frauen, welche mit so gezeugten Kindern ankommen, brauchen spezielle Unterstützung. Die Frage ist, ob sie fähig und willens sind, diese Kinder anzunehmen und aufzuziehen, oder ob man andere Lösungen suchen muss. Besonders mit minderjährigen Müttern soll man alle hier zur Verfügung stehenden Möglichkeiten anbieten, da sie mit dieser meist sehr traumatischen Erfahrung – Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, unerwünschte Geburt und Ausstossung aus der Herkunftsgruppe- umgehen müssen und sich eine Zukunft im Ankunftsland bewusst aufbauen sollen. Frauen, die bereits andere Kinder haben, sind meistens besser zu motivieren, als Mädchen oder Jugendliche, die als erstes Kind ein ungewünschtes mitbringen. Die Hilfe muss an die jeweiligen Bedürfnisse der Mütter einerseits und andererseits an die Chancen für das Kleinkind (das auch ein Recht hat) angepasst werden und sollte nicht durch Ideologien eingeengt sein. Gerade in diesen Situationen stellt man sich die Frage, wie und wo man Ressourcen für diese Mütter sucht und findet. Da viele dieser Frauen, besonders aber auch Minderjährige (noch) nicht gelernt haben, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen, muss man behutsam und langsam vorgehen, auch wenn die Zeit drängt. Denn von diesen Entscheidungen hängen fast immer mindestens zwei Leben ab, die in Zukunft auch gut gelebt werden sollten. Sucht, ist die Abhängigkeit von einer Substanz, einer Tätigkeit oder einem Verhalten zu deren Verzicht man trotz dauernd besserem Vorsatz nicht in der Lage ist. Sie wird dann zum Problem, wenn sie in Konkurrenz zur

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Lebensführung gerät und persönlichen oder sozialen Schaden anrichtet, etwa wenn man die eigene Gesundheit ruiniert oder so viel Geld oder Zeit aufwenden muss, dass man anderen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen kann. Natürlich unterscheiden sich verschiedene Süchte in der gesellschaftlichen Akzeptanz und den Auswirkungen, aber gemeinsam ist ihnen, in der Regel, dass betroffene Menschen bei Wegfall oder Mangel des Suchtmittels an körperlichen und/oder seelischen Entzugserscheinungen zu leiden beginnen. Die Erfahrung zeigt denn auch, dass sich eine Sucht weder durch Verbote noch durch Bestrafungen wirksam bekämpfen lässt. Vielmehr erfordert es in jedem Falle den Willen der Süchtigen, ihr Verhalten zu ändern. Es genügt nicht, dass sie etwas Bestimmtes nicht mehr tun wollen. Sie benötigen ein positives Ziel, d. h. sie müssen wissen, was sie „statt dessen“ tun sollen und zudem brauchen sie die Unterstützung ihrer Umgebung, indem diese den Kontakt zu einer spezialisierten Beratungsstelle herstellt und begleitet, indem sie bei der Planung und Ausführung von gesundem Verhalten zur Seite steht und indem sie die Not bei Entzug oder Rückfällen mittragen hilft. Sie kann Interesse am nicht süchtigen, gesunden Menschen zeigen und sollte bei den nötigen Begleitungs- und (kulturspezifischen) Übersetzungsaufgaben stets transparent bleiben. Es geht um Zusammenarbeit. Hilfsbedürftige Menschen müssen meistens von verschiedenen Institutionen und/oder Personen gemeinsam betreut werden. Denn körperlich oder psychisch schwer Kranke, Invalide, Gebrechliche etc. können nicht geheilt werden. Man soll sie unterstützen und begleiten und ihnen sowohl im Alltag als auch (z. B.) in speziellen Lebenslagen, (z. B. Vorbereitung auf eine Operation) beistehen. Da viele betroffene Menschen nur noch ihr Leiden sehen und kaum noch die nötige Kraft aufbringen, die Gegenwart zu leben, ist es wichtig, sie in der Hoffnung auf eine Verminderung des Leides, in positiver Haltung und Zukunftsperspektive zu unterstützen. In all diesen speziellen Aufgaben muss man selbst ruhig und kraftvoll präsent sein und wissen, dass eine „schonende“ Haltung nicht hilft. Das heisst, dass die Realität so angenommen und benannt wird, wie sie (war und) ist. Innerhalb dieser Realität ist die helfende Aktivität und die stete Suche nach Ressourcen gefordert; dies macht stark. Zudem soll dafür gesorgt werden, dass die beteiligten Institutionen gut und transparent zusammenarbeiten (wer ist wofür zuständig? wer wird worüber informiert? etc.), und dass die betroffene Person stets versteht, was vor sich geht und was mit ihr passiert. Minimales Ziel ist, dass die Hilfsbedürftigkeit nicht zusätzlich in sozialer Isolation oder einer Depression mündet. Hilfe suchen und annehmen ist nicht Zeichen von Schwäche, sondern von Intelligenz.

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1.9.2 Schuld, Scham, Täter und Opfer In der Arbeit mit migrierten, geflüchteten und/oder traumatisierten Menschen wird man in vielfacher Weise immer wieder mit dem Äussern von Schuld und Scham konfrontiert. Beide belasten die betroffenen Personen, und beide werden durch einen Verstoss gegen kulturell gültige Werte und Normen ausgelöst – und doch müssen sie auseinandergehalten werden. Schuld und Schuldgefühl sind wiederum voneinander getrennt zu betrachten. Schuld ist ein religiöses oder juristisches Konzept, das aus der Wertung von Taten oder Handlungen erwächst („gute“ und „schlechte“ Taten). Wer andere – Einzelne, Gruppen oder die ganze Gesellschaft – schädigt, „begeht eine schlechte Tat“ und „lädt Schuld auf sich“, wird in den Augen der Gesellschaft „schuldig“. Die Gesellschaft „ahndet“ schlechte Taten, klagt an, verurteilt, verlangt Wiedergutmachung und straft. Damit diese „Strafverfahren“ in stets vergleichbarer Weise (d. h. „gerecht“) durchgeführt werden, gibt es „Gesetze“. Doch da sich die Gesetzesordnungen von Kulturkreis zu Kulturkreis stark unterscheiden, ist als gemeinsamer Nenner die Charta der Menschenrechte formuliert worden. Die Einhaltung der Gesetze ist ein wichtiger Massstab dafür, dass ein Staat funktioniert. Wenn der Staat nicht richtig funktioniert, „kommen Täter davon“, sie bleiben unbestraft, es wird keine Sühne geleistet, all dies zum Nachteil der Opfer und der Gesellschaft als Ganzes. Die Thematik „Schuld“ löst vielfach eine Dynamik aus, die auf verschiedenste Aspekte der Betreuung ausstrahlt. Deswegen sollte man sich selber auch der Frage stellen, wie man selbst mit Schuld umgeht und inwiefern die eigene Tätigkeit auf (reale oder fantasierte) eigene oder gesellschaftliche Schuld zurückzuführen und somit an sich ein Versuch von Wiedergutmachung ist. Auch muss man sich der Irritation stellen, wenn begleitete „Opfer“ schuldig werden und auch als Täter agieren – indem sie z. B. ihre Kinder oder Frauen schlagen, kriminell werden oder rassistisch denken und handeln. Ist ein Täter einsichtig, so hat er „ein schlechtes Gewissen“, also echte Schuldgefühle, und „bereut seine Tat“. Er wird die ihm auferlegte Strafe als berechtigt empfinden und so „sühnt“ er seine Tat. Oft genug ist das nicht der Fall: Der Täter „weist jegliche Schuld von sich“, braucht dann aber, um nicht mit seinem Gewissen in Konflikt zu kommen, eine Rechtfertigung. Diese kann durch ein ideologisches Konstrukt bereitgestellt werden, das sowohl die Notwendigkeit der Tat begründet als auch das Opfer genügend entwertet und entmenschlicht. Viele Täter haben auch eine Empathiestörung: sie können sich nicht oder nur

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mangelhaft vorstellen, was sie tun (z. B. Schreibtischtäter) und wie viel Leid sie andern Menschen zufügen. Manchmal sind sie selbst traumatisiert und so dissoziiert, dass sie nicht mehr bemerken, wenn sie anderen Menschen Schaden und/oder Schmerzen verursachen (z. B. Kindersoldaten). Das entbindet aber keinen Täter von seiner Verantwortung und eventueller Strafbarkeit seiner Aktionen. Täter sind schuldig, sie müssen ihre Tat anerkennen und auf irgendeine Art auch gutmachen. Schwierig wird es, wenn es ganze Gruppen oder gar Volksteile sind, die sich im Namen einer Ideologie an einer anderen Volksgruppe oder einem anderen Volk vergehen. Hier kann es unter Umständen wichtiger sein, sich in einem Friedensprozess zu finden, als den Tätern wieder Gewalt anzutun. Strafe durch erneute Gewalt, wie Einsperren, Tod, Verbannung ist also nicht zwingend, aber es muss in jedem Fall angeklagt, verurteilt und auf irgendeine Art wieder gut gemacht werden. Nur das ermöglicht Klarheit über das Geschehen, Reue, Wiedergutmachung sowie irgendwann auch Verzeihen und neuen Respekt für die verletzten Werte und Gesetze. Schuldzuweisungen auf der politischen Ebene können Betroffene davor schützen, ihre Gefühle von Wut, Verzweiflung usw. zu spüren, sind also ein Zeichen von Dissoziation. Sie dürfen nicht einfach unhinterfragt angenommen werden, nur weil sich Mitteleuropäer aus irgendeinem Grund auch schuldig fühlen. Schuldgefühle können berechtigt sein, wenn sich ein Täter seiner schlechten Tat bewusst ist, „sich dafür schämt“, sie „am liebsten ungeschehen machen würde“. Häufig jedoch haben Menschen „Schuldgefühle“, obwohl sie nichts Schlechtes getan haben. Selbstvorwürfe von Traumatisierten beruhen vielfach auf einem Missverhältnis zur Realität und gründen auf Fehlwahrnehmungen oder Nebensächlichkeiten. Sie werfen sich Dinge vor, an denen sie keine Schuld tragen, als ob es einfacher wäre, Verantwortung statt Hilflosigkeit zu fühlen. Solche unberechtigte Schuldgefühle können sich verselbstständigen, sich vom eigentlichen Ereignis lösen und zu einem absurden Rollentausch führen, indem sich einerseits objektiv unschuldige Menschen, häufig Opfer, mit „Schuldgefühlen“ quälen und andererseits grausame Täter kein schlechtes Gewissen haben und sich unschuldig gebären. Wenn jemand sich „schuldig“ fühlt, ist es sinnlos, ihn mit rationalen Argumenten vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Wie jedes andere Gefühl wird „schuldig“ höchst real im Körper empfunden. Es lohnt sich, dieses Gefühl im Körper zu erarbeiten, d. h. den Betroffenen auf der körperlichen Ebene damit zu konfrontieren. Erst wenn das Gefühl ganz gespürt wird, lässt sich nochmals nach einer Benennung, einem „Etikett“ suchen. Meist wird dann ein anderes Wort für das Gefühl gefunden, und dann

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entschlüsselt sich auch der dahinter stehende Wert. Dieser Prozess macht das Gefühl erträglicher und trägt eventuell sogar zur „Versöhnung“ mit bei (s. dazu Übung 9). Häufig wird das Gefühl von Verantwortlichkeit, der man nicht nachkommen konnte, mit „Schuldgefühl“ benannt. Es ist wichtig, sich nicht in die Falle „Schuld“ ziehen zu lassen. Ein unangenehmes Gefühl, das hinter der subjektiv erlebten Verantwortlichkeit liegt, hat nichts mit „Schuld“ resp. objektiver Verantwortung zu tun. Z. B. können Eltern, deren Kind im Mittelmeer ertrunken ist, von „Schuld“ sprechen und sich anklagen. Dahinter stecken jedoch andere schwer erträgliche Gefühle, wie Scham, das Kind nicht adäquat behütet zu haben, Trauer, Verzweiflung usw. Es können auch Rettungskräfte von „Schuld“ reden, nachdem ihnen eine Wiederbelebung misslungen ist; wenn wir annehmen, dass sie professionell gehandelt haben, gibt es keine Schuld; häufig steht hinter dem „Schuldgefühl“ das Gefühl von Ohnmacht, was Wut, Scham oder Trauer hervorruft. Wenn man dann das „Schuldgefühl“ als Gefühl ins Zentrum der Bearbeitung stellt, tut man den Betroffenen Unrecht. Ihr Ohnmachtsgefühl beruht auf dem Willen, alles richtig zu machen und so viele Leben wie möglich zu retten. Doch Menschen sind nie omnipotent, und auch die besten Eltern, der beste Sanitäter, Feuerwehrmann oder Arzt können nicht jeden Verletzten retten. Hinter dem „Schuldgefühl“ steht dann ein anderes Gefühl, z. B. Trauer über die eigene Unfähigkeit, dass man gerade diesem Menschen nicht hat helfen können. Scham ist ein bestimmtes und in unserer Kultur tabuisiertes, weil als belastend empfundenes Gefühl. Man hat „nicht genügt“ und deshalb ist man „schuldig“, „nicht gut“ oder „wertlos“. Man meint dann, man habe wesentliche für einen selbst auch gültige Werte der Gesellschaft verletzt. Die Meinung von sich selbst und diejenige anderer wichtiger Personen (in der Sozialisation meist der Mutter) ist massgebend. Scham gehört zur eigenen Intimität und zu tiefen eigenen (häufig auch kulturellen) Werten; wie jedes Gefühl darf sie nicht negiert, wegdiskutiert oder ignoriert werden, sondern muss wahr- und ernstgenommen und dann ertragen werden. Eine Person, die sich schämt, hat das Gesicht verloren und leidet an quälenden Gefühlen von Versagen und Wertlosigkeit. Meistens entsteht die Überzeugung, dass die anderen Menschen einen verachten, und man läuft Gefahr, sich zu isolieren und schliesslich in Depression zu verfallen. Es gilt das gleiche Vorgehen, wie bei den Schuldgefühlen (s. dazu Übung 9). Das ganze Gefühlschaos, mit „Schuld“ (die keine ist), „Schuldgefühlen“ (die für ein anderes Gefühl stehen), „Scham“ (die häufig nicht als das benannt wird) ist typisch für Menschen, die dank ihrer Stressreaktionen

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überlebt haben. Im Augenblick des Ereignisses als Eustress zu bezeichnen, haben sie sich nun aber zu Dauerstress, Distress gewandelt. Dieser Distress bewirkt, wie ein Verstärker, eine maximale Intensivierung der nach dem Ereignis auftretenden Gefühle. Es liegt am Intervenierenden, sich davon nicht anstecken zu lassen, sondern ruhig, wie bei jedem andern Gefühl auch, sich dafür zu interessieren und dadurch zur Klärung, Präzisierung und Beruhigung beizutragen.

1.9.3 Konflikte und Verhandeln Konflikte sind Situationen, bei denen mindestens zwei Partner beteiligt sind. Sie haben einen Ablauf, und können über verschiedene Abstufungen eskalieren, bis zu einem „point of no return“ führen – eskalieren. Wo aber ein Konflikt beginnt und wie eine spezifische Situation einzuordnen ist, darüber gehen die Ansichten von Mensch zu Mensch und von Kultur zu Kultur auseinander. So kann beispielsweise eine (laute) Meinungsverschiedenheit von der einen Partei als sachliche Diskussion interpretiert werden, während die andere Partei bereits von einem ernsthaften Konflikt spricht. Deshalb sollte man, konfrontiert mit oder involviert in einem Konflikt, davon ausgehen, dass die beiden Gegenüber eine ganz andere Sichtweise haben, als man annehmen könnte. Es lohnt sich jedenfalls, zu fragen, worum es eigentlich geht, und zu beurteilen, wie weit der Konflikt bereits fortgeschritten ist. Doch Konflikte sollten weder unbedingt vermieden werden, noch soll sich der Betreuer dafür verantwortlich fühlen. Vielmehr besteht die Aufgabe darin, die beteiligten Partner in ihren Ressourcen so zu stärken, dass sie den Konflikt regeln und bewältigen können, und darauf zu vertrauen, dass sie fähig sind, Verantwortung zu tragen (s. dazu Übungen 7, 11). Da aber Flüchtlinge oft Menschen mit geringen Reserven und wenig Raum für die Austragung von Konflikten sind, muss man als Betreuer dafür sorgen, dass es niederschwellige Gefässe für Reklamationen gibt, dass Kränkungen und Enttäuschungen anerkannt werden und dass Protest möglich ist – auch ungerechtfertigter. Man kann davon ausgehen, dass die institutionellen Bedingungen nicht Ursachen, sondern günstige oder weniger günstige Umstände für Konflikte sind. Wenn man spontan in einen akuten Konflikt eingreift, sind Fehler erlaubt. Da gilt es primär zu beruhigen (Atmung, STOP-Modell) und eine zweite Zeit für Verhandlung zu finden. Zuvor sollte dann die eigene Rolle und Zuständigkeit geklärt worden sein. Am besten ist man sich von Anfang an klar, was die eigenen Kompetenzen und Möglichkeiten sind.

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Bei Unklarheit über den Sinn eines Eingreifens, ist es hilfreich, sich Szenarien für eine Konfrontation zu überlegen und allfällige Unterstützung zu beanspruchen. Man sollte möglichst klar und transparent sein, im Sinne, dass man „neutral“, oder „gleichparteiisch“ ist. Es geht meistens nicht darum, die „gerechteste“ Lösung zu finden. Hat man Angst, so kann man es zeigen, denn dies neutralisiert oder deeskaliert oft. Das Eingreifen in einen Konflikt bedeutet in der Regel, dass eine Verhandlung stattfindet. Sie darf weder von der Suche nach Schuldigen noch von moralisierenden Diskussionen geprägt sein, sondern muss gewährleisten, dass jede Seite ihre Sicht der Sache und ihr Anliegen formulieren kann und auch die Gewissheit bekommt, gehört und verstanden zu werden. Dazu muss man genau nachfragen, mit kognitiven Fragen, Gefühle dürfen höchstens quittiert werden. Wenn man mit beiden Seiten eine genaue Sachlage des Konflikts aufgearbeitet hat, ist es bereits einfacher, mit der Verhandlung zu beginnen. Ein guter Trick in dieser Hinsicht ist die korrekte (nicht zwangsläufig akzeptierende) Wiederholung der jeweiligen Ansichten durch die Gegenoder die vermittelnde Drittpartei, denn dies entspannt und versachlicht die Stimmung. „Habe ich Sie richtig verstanden:…?“ Auch werden dadurch alle gezwungen, sich aktiv mit den anderen Positionen auseinanderzusetzen. Dies wiederum öffnet einerseits die Wahrnehmung und erleichtert andererseits die anschliessende Suche nach gemeinsamen Interessen (und die gibt es immer) und einer für alle akzeptablen Lösung. Diese muss nicht endgültig sein und kann auch darin bestehen, dass vorerst nur das Problem sauber dargestellt und das weitere Vorgehen abgesprochen wird. Bei jedem Konflikt, sei er explodiert oder gelöst, gibt es eine Zeit danach: die weitere Routine. Diese bezweckt, das Weiterleben aller Beteiligten ohne Groll und wirkt dadurch auch präventiv. Die Betreuer sind dafür zuständig. Sie können im Anschluss an Verhandlungen auch „grundsätzliche“ Themen wie Vorurteile, Regeln im Zusammenleben, Gruppenverhalten oder Sachinformationen aufgreifen, um so einerseits den gegenseitigen Respekt zu verstärken und andererseits ein Stück gemeinsamer und konstruktiver Streitkultur zu vermitteln. Dies braucht aber Zeit und ein aktives Vor-Leben von „Streitfähigkeit“.

1.9.4 Hausaufgaben Der wichtige Teil der Arbeit mit Menschen spielt sich innerhalb einer Sitzung oder eines Treffens ab. Um aber das Erreichte definitiv ins Ver-

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haltensrepertoire Betroffener einzufügen, sollen spezifische „Hausaufgaben“ dafür sorgen, dass die gebahnten Erinnerungswege durch tägliche Wiederholung der Aufgabe automatisiert und definitiv im Hirn abgelegt werden. Hausaufgaben sind in vieler Hinsicht eine zu nutzende Ressource: • Sie fördern die Autonomie der Betroffenen, da sie täglich weiter üben, damit es ihnen besser geht. Sie verstärken die angesprochenen Ressourcen, die jemand beim Treffen gezeigt hat und die man für ein bestimmtes Ziel einsetzen will. Eine neue Kontrolle über nicht Kontrollierbares entsteht. • Sie erhöhen das Verständnis für verschiedene unangenehme Stress-Reaktionen, indem Beteiligte relativ schnell merken, dass diese ­ Reaktionen mit der geleisteten Hausaufgabe abflauen. Die Wirkung von Stress und der Umgang damit werden besser verstanden. • So kann man salutogenetisch arbeiten und damit Primärprävention leisten. Damit Hausaufgaben gelingen können, müssen sie genau begriffen werden. Der Intervenierende muss wissen, wie die Hausaufgabe gemacht werden wird. Der Zweck und die Zeiten der Erledigung sollen abgeklärt und verhandelt werden. Erst wenn sie so präzise in den Tagesrhythmus des Klienten eingebaut wurden, kann sich Routine einstellen. Das ist gelungene Ressourcenarbeit. Die einfache Empfehlung, eine Übung als Hausaufgabe zu machen, ist meistens nicht im Sinne des Wachsens. Betroffene wissen dann zwar, dass sie etwas tun sollten, doch da es nicht genau genug besprochen und im Tagesablauf geplant ist, wird es vergessen. Das gibt verschiedene ungute Gefühle des Klienten gegenüber seinem Betreuer, wie Ärger, schlechtes Gewissen usw. Beim Betreuer gibt es ebenfalls ein Ressourcenungleichgewicht, da er einerseits Arbeit investiert hat aber sich die Gratifikation durch das Befolgen – und damit Wachsen des Klienten – vorenthält. Es ist also besser keine Hausaufgaben zu geben, als den Menschen zu empfehlen, etwas zu tun, ohne genau instruiert und kontrolliert zu haben, ob sie es begriffen haben, ohne die Einplanung im Tagesablauf zu verhandeln und die Motivation bis zu einem übersehbaren Zeitpunkt zu stärken. Unerledigte Hausaufgaben führen zu Ressourcenverlust auf beiden Seiten, erledigte hingegen ermöglichen Wachstum, Reifen und Selbstwirksamkeit, besonders auch beim Klienten.

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Als Beispiele seien hier die Atemübung zur Stressminderung und Ressourcenarbeit erwähnt: • Die Atemübung wird in der Sitzung so lange geübt, bis man die Stressminderung durch biologische Zeichen wahrnehmen kann: Verlangsamter Puls, warme und trockene Fingerspitzen (sogar auch Hände). Dann erklärt man, wie das zustande kam, d. h. man macht „Psychoedukation“. Die Hausaufgabe, „täglich den Stress zu mindern“ erfordert einen klaren Konsens: „zweimal pro Tag, 20 min die Atmung üben“. Nun wird weiter fixiert, wann die Übung in der Tagesroutine zweimal eingebaut wird (z. B. morgens, nach der Dusche). Man kann das Versprechen abgeben, dass bereits in zwei Wochen Effekte von mehr Ruhe, besserem Schlaf usw. zu spüren sind (s. dazu Atemübung, Übung 15). • Ressourcen, resp. die erlebte Physiologie von Kompetenz und Sicherheit werden in der Sitzung besprochen, aktualisiert und installiert mittels der Quintupel und der Submodalitäten und eventuell durch S­ elbst-Ankern (s. dazu Ressourcen – und Ankerübung, Übung 17). Die Hausaufgabe besteht nun z. B. darin, jeden Abend den Moment der grössten Kompetenz im jeweiligen Tag nochmals abzurufen, durch die Quintupel zu intensivieren und den Selbstanker „aufzufüllen“. Gleichzeitig soll täglich auf Papier mit einem Stichwort benannt werden, welches die Ressource war. Beim nächsten Treffen sucht man nun mithilfe dieser Liste den „besten aller Momente“ heraus und bespricht und aktiviert ihn nochmals. Damit richtet man langsam die Aufmerksamkeit des Betroffenen weg von den schweren, nicht gelungenen Teilen des Tages, auf Momente von Kompetenz und lässt diese kurz vor dem Schlafen abrufen, was dann nachts direkt im Hirn gespeichert wird. Dies ist reine Ressourcenarbeit und Prävention von depressivem Ruminieren.

1.10 Psychohygiene Die Sorge um die seelische Gesundheit anderer beginnt damit, dass die helfende Person sich mit dem eigenen Gesundsein und dem eigenen Wohlbefinden auseinandersetzt. Denn zur erfolgreichen Vermittlung von Positivität, Optimismus und einer „Trotz-Allem-Haltung“ ist es notwendig, Kraft zu haben, sich freuen zu können und Ruhe auszustrahlen. Gelingt dies nicht, indem man z. B. ständig gestresst, genervt und/oder müde ist, kann man einer migrierten, geflüchteten oder sogar traumatisierten Person nicht erfolgreich zur Seite stehen.

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1.10.1 Sekundärtraumatisierung (stellvertretende Traumatisierung) Gewalterfahrungen verändern nicht nur das Leben der direkt betroffenen Menschen, sondern auch das ihrer sozialen Umgebung. Doch lange Zeit wurde vernachlässigt, dass Familienmitglieder und Freunde von traumatisierten Personen „angesteckt“ werden können. Dies geht dann soweit, dass diese ebenfalls posttraumatische Reaktionen und Symptome zeigen: Albträume vom Gehörten, Schlafstörungen, Übererregung, Angst, psychosomatische Störungen etc. Menschen, die sich mit der seelischen Gesundheit anderer befassen, sind in Gefahr, an der Schwere der Erlebnisse anderer stellvertretend traumatisiert zu werden oder auszubrennen. Diese Gefahr gilt es präventiv anzugehen. Sekundär (oder stellvertretend) traumatisierte Menschen werden für ihre Umgebung oft zu einer Belastung (z. B. innerhalb der eigenen Familie). Es ist absurd, wenn zusätzliche Personen unter einer gut gemeinten Gesundheitsarbeit leiden müssen. Damit ist niemandem geholfen, auch dem primär Traumatisierten nicht. Im Gegenteil, denn dieser spürt, dass er (oder sie) belastet, und sieht dies nicht nur als Beweis dafür, dass seine eigene Erfahrung nicht überwunden werden kann, sondern fühlt sich zudem verantwortlich für die gesundheitliche Beeinträchtigung der anderen. Seine Verzweiflung vergrössert sich.

1.10.2 Selbstschutz Damit jemand andere Menschen unterstützen, begleiten, und helfen kann, ihre eigenen Ressourcen zu entdecken, zu stärken und zu nutzen, muss es ihm selber einigermassen gut gehen. Wie dies erreicht und wie dies innerhalb einer schwierigen und belastenden Arbeit aufrechterhalten werden kann, muss jede und jeder selbst herausfinden. Es gilt, persönliche Strategien zu finden, wie man mit sich selber und seinen Erfahrungen umgeht, und zwar auf allen Ebenen: körperlich, seelisch, sozial. Dass man dies in der Regel nicht alleine schafft und auf eine unterstützende Umgebung angewiesen ist, versteht sich von selbst. Als wohl Wichtigstes muss man lernen, seinen eigenen Stress in Schranken zu halten durch tägliches Üben der ruhigen Atmung. Erst wenn sie beherrscht wird und automatisiert ist, kann sie einem auch in schwierigen Situationen helfen und Ruhe garantieren. Eine weitere Grundlage der Arbeit ist die Fähigkeit, die eigenen Grenzen einzuschätzen, wahrzunehmen und auch Nein zu sagen, wenn die benötigte

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Kraft im Moment nicht vorhanden ist. Man darf und soll sich schützen: vor den Leiden der anderen und vor den eigenen Ansprüchen und „Schuld“- resp. Ohnmachtsgefühlen. Denn diese erzeugen meist nur eine verschliessende Ausgrenzung oder einen hektischen Aktivismus, der sehr wenig zum Wohlergehen und zur Selbstständigkeit der anvertrauten Personen beiträgt. Sich abzugrenzen ist denn auch nicht nur negativ. Vielmehr wird oft erst dadurch eine Ordnung geschaffen, welche die für den weiteren Prozess notwendigen Voraussetzungen (wie Ruhe und Raum) ermöglicht. Wer seriös arbeiten will, versucht stets, sowohl den anderen als auch sich selbst ernst zu nehmen, und ist dadurch nicht nur darauf angewiesen, sich immer wieder aufs Neue abzugrenzen, sondern auch verpflichtet, das eigene Leben aktiv anzugehen und sich daran zu freuen. Hilfreich ist es, sich mit anderen Personen auszutauschen, sich genügend Freizeit und Ferien zu gönnen und immer wieder Befriedigung an den vielen einfachen Dingen des Alltages zu finden. Auch die anderen Kapitel dieses Buches dienen dabei als Leitfaden, denn alle Ausführungen sind von einer weiten Gültigkeit und lassen sich übertragen und präventiv anwenden. Grundsätzlich geht es darum, einerseits selbst viel Ressourcenarbeit zu leisten (Selbstaufbau) und andererseits mögliche Schutzmechanismen zu nutzen. Wir unterscheiden solche, die während der Arbeit wirksam sind von denen, die nach der Arbeit eingesetzt werden müssen. In der Arbeit mit einem geflohenen und/oder traumatisierten Menschen darf man sich trotz der eigenen Betroffenheit nicht „aufsaugen“ lassen, etwa, indem man beispielsweise die Person zwar anschaut, aber nicht sich mit ihr identifiziert, sich nicht in ihre Schuhe stellt (s. dazu Übung 13). Interesse und Echtheit werden dadurch nicht geschmälert. Man achte auf die Wortwahl und beachte die Regeln der kognitiven Sprache. Man löse sich aus dem direkten Gespräch und nehme eine Metaposition ein. So kann man sich sowohl innere Ruhe als auch einen Überblick über das Gesagte verschaffen („Habe ich Sie richtig verstanden, …“). Es geht also um kleine Pausen, die allen Teilnehmern am Gespräch guttun. Nach der Arbeit ist man, neben der bewussten Atmung, darauf angewiesen, dass nahe Personen einen wieder mit der „anderen“ Realität konfrontieren und nachfragen. Dabei werden verschiedene Aspekte wichtig: So ist es oft hilfreich, sich aus einer gewissen Distanz heraus nochmals zu überlegen, was während der Arbeit kognitiv geschehen ist, wie man sich jetzt fühlt und dazu stellt. Gerade der Selbstschutz erfordert, die eigenen Emotionen, zu benennen, zu ordnen und sich seiner eigenen Werte

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wieder bewusst zu werden. Dies kann man sowohl alleine, als auch in einem Gespräch tun. Bei einer solchen Nachbearbeitung, die auch Handlungsanweisungen und die Verbesserung der eigenen Arbeit zum Ziel hat, soll auch Positives aufgegriffen und bestätigt werden, man soll sich also auch selber loben, und Kritik und Selbstkritik sollen im Hinblick auf Verbesserungen erfolgen, indem man fragt, was besser zu machen war und wie die dafür notwendigen Ressourcen für das nächste Mal mobilisiert werden können.

1.10.3 Ohnmacht Jeder Mensch erlebt Situationen, in denen er/sie sich „unterlegen“, ausgeliefert fühlt und sich nicht mehr wehren kann: Situationen, in denen man ohnmächtig ist gegenüber einem Publikum, realer oder geschilderter Gewalt, gegenüber einem schreienden Kind, verbalen Äusserungen, Mitarbeitern, und Strukturen usw. Ohnmacht erfasst, zumindest zeitweise, die ganze Person, lähmt sie und versetzt sie in einen lebens- und würdebedrohenden Zustand. Denn ohnmächtig zu sein ist ein unerträgliches Gefühl, das nach Überwindung schreit – eine Erfahrung, die auch Traumatisierte kennen. Momente der Ohnmacht sind subjektiv und werden – meist unbewusst -von der betroffenen Person selbst bestimmt. Sie schaltet sich aus einer Situation aus und findet sich in einem belastenden Spannungsfeld zwischen dem Anspruch, etwas tun zu wollen/müssen und nichts tun zu können. Sie ist hilflos und leidet oft zusätzlich unter dem Wissen, dass das Nichtstun (objektiv) falsch ist und dass ihr Verhalten als Schwäche und Versagen gedeutet werden kann. Werden beispielsweise Menschen in konkreten beruflichen Situationen mit nachvollziehbaren und berechtigten Anforderungen konfrontiert sind, die sie nicht erfüllen können, zeigen sie vielfach Muster des Ausweichens. Oder sie versuchen, ihre Ohnmacht in Aktivität (das Gefühl, dass etwa getan wird) umzuwandeln. Beides ist gefährlich und bewirkt, gerade in der Kombination mit Machtpositionen (realer und fantasierter), unerwünschte Reaktionen wie Ablehnung oder falsche Hoffnung und führt nur selten zu konstruktiven Resultaten. Ohnmacht kann nicht mit Tricks überwunden werden, aber sie kann geteilt und akzeptiert werden. Denn manchmal ist es normal, sich ohnmächtig zu fühlen, doch man darf nicht resignieren. Es braucht G ­ elassenheit,

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Mut und Kraft, stillzustehen, der Hilflosigkeit ins Gesicht zu schauen, sie zu spüren und sie auszuhalten (s. dazu Übung 9). Das kann z. B. heissen, dass man in einer Situation zeitlicher Not dazu steht und mit dem Wissen handelt, dass Dinge unerledigt bleiben, (also nicht alles vollständig und perfekt erledigt werden kann). Da kann man sich in der Kunst üben, die Zeit, die man für eine Sache oder eine Person vorgesehen hat, eine offene Zeit sein zu lassen: das heisst, dass man nicht schon zu Beginn bereits wieder am „Gehen“ ist, sondern bis zuletzt zeitlos präsent. In der Ohnmacht geht es auch darum, ein Stück gemeinsamen Weges zurückzulegen und in jeder Situation sowohl beim Gegenüber als auch bei sich selbst zu sein. Jede Ohnmacht braucht, damit sie nicht in die Isolation führt, Raum, Ohren, Adressaten und vor allem die Möglichkeit, „Klage“ zu führen. Wird eine solche, unter Umständen sehr emotionale Klage vorgebracht, sollte man sie primär annehmen und sich nicht gleich versachlichend oder „diagnostizierend“ distanzieren. Denn da Ohnmacht, wie jedes Gefühl, stets subjektiv und für die betroffenen Menschen echt ist, ergibt es keinen Sinn, ihr mit einem „es ist ja nicht so schlimm“ zu begegnen. Besser ist es, die Klage ernsthaft anzuhören und dann evtl. zu fragen, ob andere Meinungen gewünscht wären. Auch spielt es vorerst noch keine Rolle, ob sie richtig oder falsch resp. begründet oder unbegründet ist. Eine spezielle Problematik ist die Ohnmacht, die gegenüber der ungerechten Welt empfunden wird. Sie ist schwer zu fassen, führt zu einer Opferhaltung und Schuldzuweisungen, sowie bei entsprechender Manipulation, zur Macht einer undifferenzierten und nicht differenzierenden Masse. So sollte man nicht endlos gegen die „Öffentlichkeit“, das „politische Umfeld“ mit all seiner Ignoranz und Fremdenfeindlichkeit (als Beispiele) anrennen und zu vermitteln versuchen, sondern eher eine Partisanenhaltung einnehmen. Denn eine konstruktive Feindschaft (was nicht das Gleiche wie eine feindliche Haltung ist!), schafft Raum und Erleichterung: Es ist generell einfacher, in einem Konflikt mit Gegnern umzugehen als mit Scheinfeinden. Das Wichtigste ist aber, dass Betreute nicht zu „Opfern“ von Sachzwängen werden, sondern dass man in einer gegebenen Situation anhält und handelt – und beispielsweise sich für eine (auch noch so kleine) Verbesserung anderswo einsetzt. Helfen können dabei Ressourcen, die man sich anderweitig beschafft, oder das Benennen von Hilflosigkeit und Überforderung.

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2 Praktische Ressourcenarbeit

Inhaltsverzeichnis

2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.2 Voraussetzungen für Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2.2.1 Rapport herstellen (s. dazu Übung 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2.2.2 Genau beobachten: Verändern der Physiologie wahrnehmen (Kalibrieren) (s. dazu Übung 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.3 Ein Gespräch führen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.3.1 Struktur eines Gesprächs: Das Diamantmodell . . . . . . . . . . . . 61 2.3.2 Konkretes, sinnes-spezifisches Formulieren (Benutzen der fünf Sinneskanäle; s. dazu Übung 6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2.3.3 Ziel formulieren (s. dazu Übung 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2.3.4 Kognitive Sprache verwenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2.4 Arten, die Welt wahrzunehmen (Wahrnehmungspositionen) . . . . . . . . . 71 2.5 Assoziative Techniken, Ressourcenarbeit im engeren Sinne . . . . . . . . . . 73 2.5.1 Atmen (s. Übung 15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 2.5.2 Ankern (s. Übungen 17, 18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2.6 Dissoziative Techniken beim Denken an Unangenehmes . . . . . . . . . . . . 78 2.7 Werte transkulturell betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2.8 Verhandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.9 Zukunftsplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2.10 Rückkehr und Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Perren-Klingler, Ressourcenarbeit in der Flüchtlingshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60471-7_2

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2.1 Einleitung Nachdem im Teil „Wissen“ die wichtigsten Hintergrundkenntnisse vermittelt wurden, geht es nun im Teil „Techniken“ um konkrete Hinweise für die praktische Arbeit. Anschliessend werden im Kap. 3 einzelne Übungen in den grösseren Zusammenhang eingebettet und vorgestellt, die für die Begleitung von – betroffenen oder traumatisierten – Menschen von Bedeutung sind. Sie bilden zusammen die Grundregeln und Arbeitsprinzipien, an denen man sich orientieren kann – und die man dennoch stets wieder neu erfinden muss, da jede Theorie letztlich ein „Trockenschwimmkurs“ bleibt und „im Wasser“ alles anders ist und angepasst werden muss. Die Grundidee der praktischen Ressourcenarbeit besteht darin, dass Gesundheit mehr ist als Abwesenheit von Krankheit und dass sie deswegen nicht ausschliesslich Ärzten oder anderem Gesundheitspersonal überlassen werden soll. Es heisst auch, dass medizinische Laien als „Gesundheitsmultiplikatoren“ oder eben auch „Peers“ andere Menschen, seien es Migrierte, Flüchtlinge oder Kollegen, stärken und sie dazu befähigen können, ihr Schicksal möglichst wieder selbst in die Hand zu nehmen. Dabei geht man von der Annahme aus, dass auch ohne medizinische oder psychiatrische Grundausbildung Wesentliches zur Gesundheitsförderung beigetragen wird, sofern ein bestimmtes Wissen und gewisse Techniken vorhanden sind und diese im (Arbeits-) Alltag bewusst und gezielt angewandt werden. Da man dadurch zwangsläufig in einen Bereich gerät, wo auch Manipulation und Macht (resp. Machtmissbrauch) eine Rolle spielen, muss man dabei lernen, persönliche Verantwortung zu tragen und zu leben. Wenn man sich dabei an einer klaren und transparenten Rolle im Rahmen einer Institution orientieren und – durch abgesprochene Aufträge und regelmässige Kontrollbesprechungen – unterstützen lässt, trägt man mit seinem Wissen und seiner Autorität dazu bei, dass die Kompetenzen aller Beteiligten genutzt werden, um jegliche Intervention auf das vorhandene Gute und Positive, d. h. die Gesundheit auszurichten. Der Teil „Technik“ erläutert, wozu eine Technik dient, wie sie angewandt werden muss, und wie man sich eine Indikation für deren Anwendung erarbeiten kann.

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2.2 Voraussetzungen für Beziehung Wenn Menschen einander begegnen, nehmen sie Kontakt auf. Zuerst mit einem Blick (was nehmen wir mit den Augen wahr?), dann mit einer von Kultur zu Kultur verschiedenen, aber meist klar geregelten Begrüssung. Diese allgemeine Erfahrung der Aufnahme einer situativen Beziehung muss in der Arbeit berücksichtigt werden: Bevor man mit einer anderen Person spricht und mit ihr arbeiten kann, muss man in eine Beziehung treten, in der sich der/die andere wohlfühlen und sich auf einen Prozess einlassen kann. Das Geheimnis der im Folgenden dargestellten Techniken liegt wohl darin, dass man dadurch gezwungen ist, das Gegenüber präzise zu beobachten, d. h. seine ganze Aufmerksamkeit in den Dienst der Kommunikation mit ihm zu fokussieren.

2.2.1 Rapport herstellen (s. dazu Übung 1) Eine gute Arbeitsbeziehung, sie wird hier Rapport genannt, wird durch körperliche und sprachliche Synchronisation oder Spiegeln erreicht. Sie ergibt sich häufig von selbst: unter Freunden, in einem guten Gespräch etc. Um aber auch mit anders sozialisierten, gar traumatisierten Menschen in Rapport zu treten, muss man dies bewusst tun; das gilt auch immer wieder im Alltag, mit Menschen, wo einem der Rapport nicht spontan gelingt. Er muss bewusst gelernt und geübt werden, bis er automatisiert ist. So kann in (fast) allen Situationen eine (minimale) Arbeits-Beziehung aufgebaut werden, die Vertrauen ermöglicht, ohne dass man selber „sich in die Schuhe des andern stellt“, sich identifiziert, oder das Gegenüber in eine Opferrolle drängt. Man unterscheidet zwischen einem auditiven Rapport und dem Rapport auf Körperebene. Der auditive Rapport ist verbal (die gesagten Worte, der Inhalt) oder bezieht sich auf die Intonation. Diese bezeichnet das Wie einer Äusserung: der Ton, die Stimme, das Sprechtempo etc. (d. h. die auditiven Submodalitäten, s. 2.3.1.). Der Rapport auf der Körperebene bezieht sich auf die Körpersprache, also auf die Haltung, die Bewegungen, etc. Dieser Rapport kann direkt (beide sind in der gleichen Stellung, d. h. man spiegelt die Körperposition) oder gekreuzt sein (wenn z. B. der eine die Beine und der andere die Arme kreuzt). Auch kann dieser Rapport statisch sein (d. h.

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spiegelbildlich resp. gleichzeitig) oder dynamisch (d. h. man folgt dem anderen oder man führt). Sich in einem guten Rapport befinden, bedeutet, seinem Gegenüber auf auditiver und körperlicher Ebene zu folgen, Bewegungen, Rhythmus, Tonfall etc. zu übernehmen. Man geht mit dem anderen „im Schritt“ (man synchronisiert). Wenn man das Gefühl hat, genug und gut synchronisiert zu sein, kann man zu führen beginnen (z. B. das Tempo verlangsamen). Wenn der andere folgt, weiss man, dass er offen ist für eine Botschaft. Ein guter Rapport ist denn auch wie ein Tanz, bei welchem man ab einem gewissen Moment nicht mehr weiss, wer führt und wer folgt. Der Kommunikator aber ist für die eingeschlagene Richtung verantwortlich. Diese hängt vom gemeinsamen Ziel ab. Rapport herzustellen braucht Übung. Ein gutes Feld zum Training und zum Sammeln von Erfahrungen bildet der normale Alltag: z. B. Zugfahrten, Kaffeebegegnungen, an der Kasse des Supermarktes anstehen etc. In fast allen Situationen gibt es Gelegenheiten zu üben, und man sollte in der Regel keine Bedenken haben, unangenehm aufzufallen. Der Rapport wird nicht bewusst bemerkt. Ein anderer sehr wertvoller Zugang ist die Eigenbeobachtung. Denn in einem guten Gespräch besteht oft automatisch ein guter Rapport. In gutem Rapport zu sein, ist nicht spektakulär; es sind nicht die grossen Gesten, womit man sich auf den anderen einstellt, sondern eher die unauffälligen, leisen. Dabei spielen z. B. Rhythmen oder der Atem (sprechen, wenn ausgeatmet wird) eine wichtige Rolle. Jeder Rapport kann auch gebrochen werden. Häufig darf oder muss man ihn sogar abbrechen, denn man sollte unter Umständen selber zwischendurch „Luft holen“. Das Ziel ist denn auch nicht, möglichst lange Zeit im Rapport zu sein, sondern ihn immer wieder auszuführen und (dadurch) immer intensiver „fraktioniert“ herzustellen.

2.2.2 Genau beobachten: Verändern der Physiologie wahrnehmen (Kalibrieren) (s. dazu Übung 2) Der menschliche Körper und seine Physiologie reagiert auf und produziert gleichzeitig menschliche Stimmungen und Gefühle (Polyvagaltheorie, Porgess 2001). So verändert sich z. B. die Atmung, im Gesicht der Tonus und die Farbe automatisch, je nachdem man an etwas Angenehmes oder aber Unangenehmes denkt. Wenn man lächelt, wird automatisch die Wut

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etwas kleiner, oder man kann einfacher an etwas Angenehmes denken. Alle diese Veränderungen lassen sich beobachten, noch bevor sie die Person selber spürt: Die Auswirkungen von Veränderungen in der Physiologie sind transkulturell gleich und wahrnehmbar, hängen vom autonomen (d. h. vom willensunabhängigen, sympathischen und parasympathischen) Nervensystem ab und verändern sich, dem Träger unbewusst, in kürzester Zeit. Das heisst auch, dass man dank guter Beobachtung der Veränderungen in der Physiologie einschreiten kann, bevor die Person von einem Gefühl überflutet wird. Die vom Willen unabhängige Physiologie lügt nie! Die physiologischen Veränderungen sind besonders gut im Gesicht zu beobachten, sie zeigen sich in der Durchblutung (obere Wangen, Lippen, Augenwinkel) und des Muskeltonus. Beispiele sind Stirnrunzeln, Wangenfalten, Lippengrösse, Tiefe der Lachfalten in den Augenwinkeln, Hautspannungen usw. Auch der Augenglanz wechselt (wässriger oder trockener). All diese Veränderungen sind von Mensch zu Mensch verschieden und lassen keine direkte Interpretation eines Zustandes zu. Wichtig ist es, die Veränderungen wahrzunehmen und bei Unklarheit nachzufragen. Beobachtet man die Veränderungen der Physiologie, so hilft das auch, Interpretationen von Gefühlen zu vermeiden; wenn der Gefühlszustand des Gesprächspartners schwer fassbar ist, sollte man möglichst nachfragen. Z. B. „Ihre Augen werden nass, was sagen Ihre Tränen?“ Das Kalibrieren oder die Beobachtung von Veränderungen der Physiologie erlaubt, nachzufragen und zu beurteilen, ob Menschen in Kontakt mit einem guten oder positiven Gedanken sind, oder ob sie an etwas Negatives, das Stress auslöst, denken.

2.3 Ein Gespräch führen Bei jedem Gespräch lohnt es sich, einige Ordnungsregeln zu berücksichtigen. Denn der Zweck des Gesprächs ist im weitesten Sinn, Ordnung zu schaffen, sei es durch einfache Information und Erklärungen, sei es durch Besprechen von Problemen und Suche nach Lösungsansätzen mittels Ressourcen, sei es durch Klären von Emotionen.

2.3.1 Struktur eines Gesprächs: Das Diamantmodell Eine Methode, den Menschen mittels Gesprächsführung von Anfang an im Rapport zu begleiten, ist die Gestaltung des Gesprächs in Form eines Diamanten. (s. dazu Übung 3).

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1. mit geschlossenen Fragen beginnen/ Feststellungen: Fakten klären, sich vorstellen, wo sind wir usw.

2. Offene Fragen für zusätzliche Informationen vielleicht auch Gefühle (Achtung Überflutung !)

3. Rückkehr zu geschlossenen Fragen, Zusammenfassung und Planung der nächsten Schritte

Schritt 1: „Yes-Set“ d. h. man bereitet eine fruchtbare Arbeit vor. Man beginnt (selbstverständlich im Rapport) mit mindestens drei kognitiven Statements, Feststellungen, womit das Gesprächspartner nur einverstanden sein kann: z. B. „wir sind hier, um…“; „sie haben mich angerufen, um mit mir über…zu reden…“. Damit wird der Rapport auch auf der inhaltlichen Ebene geschaffen, und so erleichtert man das Gespräch. Durch das dreimal wiederholte „ja“ des Gesprächspartners wird es einfacher, auch später Zustimmung von ihm zu erhalten. Schritt 2: Problemstellung, Zielformulierung und Ressourcenaktivierung. Hier sind offene Fragen nötig, womit der Gesprächspartner seine Bedürfnisse, Freuden oder Probleme mitteilen kann: z. B. „Was möchten sie von mir?“ (keine „warum“ Fragen, wenn schon, „wozu“ -Fragen). In dieser Phase wird nun das besprochen, was ansteht; von wo man wohin gehen will, welche Ressourcen man zur Verfügung hat usw. Findet man eine Lösung, oder den ersten Schritt dazu, so darf man in diesem Moment nicht aufhören, sondern muss im Schritt 3 einen Abschluss finden und die Speicherung der Lösung im Hirn vorbereiten. Schritt 3: Mit der Organisation der nächsten Schritte, die in der Welt draussen stattfinden sollen, wird das Gespräch geschlossen, indem man auf Statements, zurückgreift und wieder ein „Yes-Set“ anstrebt, sodass der

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Gesprächspartner nur ja sagen kann. Es geht darum, wie das Besprochene umgesetzt wird: „Sie machen in den nächsten Tagen X und ich Y; in einer Woche haben Sie damit dann X1 bis X 4 und ich Y 1 und Y 2 erledigt und wir können uns wieder in N Tagen treffen, um weiter zu sehen“. Damit soll dann die Person entlassen werden, und zwar mit einer guten beobachteten Physiologie, die sich z. B. in einem rosigeren Gesicht, leuchtenden Augen usw. zeigt, (oder mindestens mit einer deutlich besseren als am Anfang des Gesprächs). Denn es ist diese Physiologie, die zusammen mit dem Inhalt abgespeichert wird.

2.3.2 Konkretes, sinnes-spezifisches Formulieren (Benutzen der fünf Sinneskanäle; s. dazu Übung 6) Ein weiterer Aspekt, der zu sorgfältiger und präziser Arbeit zwingt, ist die Sprache. Denn man muss immer davon ausgehen, dass verschiedene Menschen mit dem gleichen Wort unterschiedliche Erfahrungen verbinden und nur selten das Gleiche darunter verstehen, auch dann, wenn sie dieselbe Sprache sprechen. Doch sehr oft wird diese „Wahrheit“ zu wenig berücksichtigt und manchmal sogar absichtlich falsch einsetzt, also missbraucht. So sprechen z. B. PolitikerInnen – und fast alle Menschen – häufig und gerne über allgemein anerkannte Werte wie „Freiheit“, „Demokratie“, „Gerechtigkeit“ etc., ohne zu erläutern, was sie darunter verstehen. Dabei lassen sie die ZuhörerInnen im Glauben, dass beide Seiten das Gleiche meinen. Ebenso verstehen die Menschen unter „Schreck“, „Angst“, „Freude“ Verschiedenes. Es ist wichtig, herauszufinden, was der Gesprächspartner darunter versteht. Besonders wirksam ist diese Nachfrage-Technik immer dann, wenn es gilt, (unabsichtlich programmierte) Missverständnisse auszuräumen oder (in bewusster Stimmungsmache) positive oder negative Emotionen zu schüren. Um sich auf einen Gesprächspartner einzulassen, sollte man bei abstrakten Begriffen nachfragen, was darunter verstanden wird. Um aber nicht in die Sphären des Philosophierens abzugleiten, muss man systematisch nach der inneren und äusseren Wahrnehmung durch die fünf Sinne fragen, (VAKOG, oder der Quintupel). Die fünf Sinne und die fünf Sinnesrepräsentanzen oder Modalitäten: Die Quintupel.

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Jeder Mensch verfügt normalerweise über fünf Sinne, mittels derer er die Welt wahrnimmt. In seiner Erinnerung repräsentiert er die Welt ebenso, d. h. er „sieht“, resp. stellt sich Bilder (oder Filme) vor, „hört“ innere Klänge, „riecht“ und „schmeckt“ mit den Repräsentanzen des „inneren Geruchs- und Geschmackssinnes und spürt in seinem Körper wieder das, was er damals wahrnahm. Die entsprechenden sensorischen Areale in der Hirnrinde werden bei der äusseren Wahrnehmung aktiviert, und genau die gleichen Areale aktivieren sich auch bei der Erinnerung. Die Sinnesareale in der Hirnrinde sind je entsprechend dem Sinn lokalisiert; z. B. die Sehrinde im Hinterhauptlappen, die Hörrinde im Schläfenlappen. Es gibt keine abstrakten Erinnerungen; manchmal sind die Sinneserfahrungen allerdings unter viel Kognitivem verschüttet. Die fünf Modalitäten sind: Visuell (V):  die optische Wahrnehmung der Umgebung mit den Augen und die Vorstellung und inneren Bilder etc. und die Erinnerung des Gesehenen. Auditiv (A):  das Hören mit den Ohren, was von aussen kommt, wie Geräusche, Stimmen, Lärm, Stille usw., und was von Innen kommt, wie das innere Sprechen, innere Kommentare und die Erinnerung des Gehörten. Kinästhetisch (K):  das Spüren mit dem Körper, Bewegung, Oberflächen(z. B. heiss – kalt) und Tiefenempfindung (z. B. Lage eines Gelenks), Gefühle, Müdigkeit, Hunger, Durst, Schmerz und Lust. Olfaktorisch (O): das Riechen mit der Nase, die Gerüche, Düfte, Beschaffenheit der eingeatmeten Luft etc. und deren Erinnerung. Gustativ (G): der Geschmack auf der Zunge, die Speichelmenge, wie sich der Mund anfühlt etc. und die Erinnerung daran.

Die Fokussierung auf Sinneswahrnehmungen lässt sich verstärken, indem man bei jeder Modalität (jedem Sinneskanal) die Submodalitäten sucht und abfragt. Die Submodaliäten sind Unterstrukturen der Wahrnehmung/Erinnerung, die, wie man heute weiss, über spezifische Lokalisierungen in den entsprechenden sensorischen Hirnrinden verfügen. Die Submodalitäten verfeinern die Struktur der Wahrnehmung. Wenn man im Gespräch danach fragt, zwingt man den Gesprächspartner, sich präziser und intensiver mit der Betrachtung der äusseren – oder inneren Realität auseinanderzusetzen. Dadurch wird die Erfahrung ebenfalls verstärkt.

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Die Submodalitäten in den fünf Sinnen werden im Folgenden präzisiert, allerdings nicht erschöpfend, aber doch in ihren Hauptanteilen. Sehen:  Licht, Schatten, Farben/schwarz und weiss, Schärfe/Unschärfe, Glanz/Mattigkeit, Bewegung/unbewegt, Tiefe/Flachheit, Panorama/gerahmt, Kontraste, … Hören:  Nach aussen: Geräusche, Lärm, Stimmen, Töne, Musik, Stille, Lautstärke, Rhythmus, Pausen, Tonhöhe,… Nach innen: innerer Kommentar, die eigene (oder auch fremde) Stimme, woher im Körper, in welchem Ohr hört man sie mehr, was sagt sie: genau, sagt sie es wiederholt oder nur einmal Riechen: Gerüche, Düfte, Luft, Feuchtigkeit/Trockenheit, in der Nase Schmecken: süss, sauer, bitter, salzig, anderes (Symbolisches, z. B. die Süsse des Glücks) auf der Zunge Fühlen:  Gesamteindruck, Körperempfindungen, Bewegung, Ober­ flächen – und Tiefen-Sensibilität, Gefühle, Emotionen: sind sie drin oder aufgesetzt, warm/kalt, ruhig/bewegt, wandernd, pulsierend, schwer/leicht, nach untern/oben ziehend, drei-/zweidimensional, Beschaffenheit und Konsistenz: flüssig, fest, gasförmig, viskös usw

Das heisst also: „Wenn Sie an Freiheit denken, welche Vorstellungen, Bilder oder Klänge tauchen Ihnen auf? Und wie riecht es und welches Gefühl gibt das?“ Nur so kann man sich davor schützen, eigene Vorstellungen einzugeben und zu glauben, man verstehe, was der Andere mit Freiheit meint…. Um die Submodalitäten zu aktivieren (oder bewusst zu machen), muss man nun weiterfragen: „in dem, was Sie sehen (oder sich imaginieren): gibt es da viel oder wenig Licht? Spiel mit Licht und Schatten? Gibt es Farben oder sehen Sie es schwarz/weiss?. Gibt es Bewegung (d. h. ist es ein Film?) oder ist es statisch (d. h. eine Foto)? Ist es drei-dimensional, tief oder flach? Scharf oder unscharf? usw. Die Genauigkeit in der sinnesspezifischen Sprache spielt eine zentrale Rolle, beim Verständnis, was ein bestimmtes Wort – in der eigenen oder in der fremden Sprache – für eine andere Person bedeutet. Man muss sich davor hüten, sich mit abstrakten oder theoretischen/philosophischen Antworten zu begnügen, und soll durch Fragen solche Antworten hervorrufen, die auf persönlichen und sinnlichen Erlebnissen beruhen, gefüllt mit Erfahrungen aus allen fünf Sinnen. Denn nur diese sinnesgeleiteten Bedeutungen sind wirksam.

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2.3.3 Ziel formulieren (s. dazu Übung 7) In jedem Gespräch muss man ein klares und konkretes Ziel vor Augen und für sich selber vorläufig formuliert haben. Die Frage kann lauten: „Was erwarten Sie heute von mir? Was müssen wir erreichen, damit Sie zufrieden weggehen?“ Selbstverständlich muss man Klarheit darüber haben, was man selber bezweckt – am besten vorher-. Das eigene Ziel und das des Partners (wird ab jetzt mit A bezeichnet) muss dann zusammengeführt vielleicht sogar verhandelt werden. Ein Ziel soll – damit es erreicht werden kann – nach vier verschiedenen Kriterien formuliert werden. Nur so sind Gespräche sinnvoll und effizient. • Das Ziel muss in positiver Sprache formuliert sein: „Ich möchte x“, und nicht „ich möchte nicht mehr y“. Sich in dieser Weise positiv auszudrücken ist wesentlich; anderenfalls lässt sich das Ziel nie erreichen, resp. man weiss gar nicht, auf welches Ziel man hinsteuert. „Ich möchte nicht mehr traurig sein“, sagt nichts aus drüber, was die Person wirklich tun möchte. Das könnte heissen: „ich möchte froh (zufrieden, dankbar usw.) an X denken“; aber auch „ich möchte mit einem Lächeln auf den Lippen durch die Strasse gehen“ – oder vielleicht „… y treffen.“ Damit hat man bereits das Hirn in die Richtung gelenkt, wo es anfängt zur Lösung eines Problems beizutragen. Dazu kommt, dass das Hirn kein Konzept von „nicht“ hat, d. h. „nicht Angst haben“ bedeutet für das Hirn an „Angst“ zu denken und die Physiologie bereits in diese Richtung zu lenken. (z. B. denken Sie nicht an blaue Elefanten!) • Das Ziel muss sinnesspezifisch formuliert sein: d. h. wie A sich sein Ziel ausmalt oder was er darunter versteht. Was sieht, hört, spürt usw. er, wenn er am Ziel ist. Mit der positiven Formulierung sind Menschen meistens gezwungen, sich bereits sinnesspezifische Vorstellungen vom Ziel zu machen, und damit ihre Gedanken zu aktivieren. • Das Ziel muss an die eigenen Werte angepasst und im System verträglich sein („ökologisch“), das heisst, das Ziel darf keine wichtigen Werte verletzen, weder eigene, noch diejenigen des Umfeldes. Es nützt nichts, wenn die Sekretärin sich gegen ihren Chef zu wehren lernt und dafür ihren Job verliert. Ihre „Ökologie“ ist so nicht gewährleistet, weil sie mit ihrem Verhalten gegen eigene Werte (inklusive die Sicherung ihres Überlebens) und diejenigen ihres Umfeldes (sei es am Arbeitsplatz, sei es der finanziell von ihr abhängigen Familie) stösst. • Das Ziel muss erreichbar sein, indem es im Bereich von As Fähigkeiten liegt.

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Es geht darum, dass der Betreute in einem durchaus auch ernsten und vielleicht langen Gespräch im ersten Schritt konkret definiert, was er möchte (welches Ziel?). Hier gilt es häufig, das sprachlich negierende Ziel (z. B. „kein Kopfweh mehr“) so umzuformulieren, dass das Ziel von A wirklich klar artikuliert ist und man damit weiter arbeiten kann. Die Frage lautet: „was möchten Sie statt dem Kopfweh?“. Erst im zweiten Schritt stellt man die Frage, was A benötigt, welche Ressourcen auf dem Weg zum Ziel helfen. Diese Präzisierungen und Klärungen nehmen häufig den grössten Teil der Zeit in Anspruch, und das ursprüngliche Ziel kann sich sehr verändern. Letztlich muss es in einem klar definierten Zusammenhang stehen und nach den Regeln der Zielformulierung definiert sein. Bei der Zielformulierung und den benötigten Ressourcen soll man sich auf Dinge beschränken, die A selbst beeinflussen kann. Ziele wie „Ich brauche Arbeit“ oder „Ich möchte eine andere Wohnung“ mögen zwar wichtig und richtig sein, entziehen sich aber As direktem Einfluss. Stattdessen könnte/müsste A z. B. gefragt werden: „Was brauchen Sie, damit Sie (wieder) Arbeit suchen können?“ oder: „Was wäre ihr erster Schritt, um eine andere Wohnung zu finden?“ oder „Was brauchen Sie, um in der Zeit, bis Sie anders wohnen können, in der alten Wohnung gut zu leben?“ Ist das Ziel formuliert, eruiert man, was A als (eigene) Ressource zu dessen Erreichung braucht. Diese Ressourcen lassen sich in As „Vergangenheit“ suchen, ausbauen und im Rahmen einer Ankerübung zugänglich machen. Sie können aber auch aus As aktuellen Fähigkeiten bestehen. Auch dieser Teil muss im Gespräch vorbereitet werden. Bei grossen Zielen lohnt es sich, eine Fraktionstaktik(„Salamitaktik“) anzuwenden, indem man nach dem ersten Schritt zum erarbeiteten (grossen) Ziel fragt. Damit bedeutet der Zeithorizont nicht Jahre, sondern Tage oder Wochen. Es ist besser, ein erstes kleines Ziel anzupeilen, und dann das nächste kleine, als beim Ansteuern eines grossen Zieles zu scheitern mit dem Risiko von Frustration oder sogar Verzweiflung.

2.3.4 Kognitive Sprache verwenden Kognitive Sprache zum Kennen eines Ereignisses, einer Geschichte: Tatsachen, „Facts“ (vgl. dazu Kap. 4, Schritt 2). Kognitive Sprache benützen heisst, präzise nach Tatsachen zu fragen. Es kann sich um äussere Tatsachen handeln, wie Ereignisse, z. B. Feste oder auch um potenziell traumatische Ereignisse. Es können aber auch innere

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Zustände sein, sei es Schmerz oder ein Gefühl (Emotion). Die kognitive Sprache vermindert automatisch das Spüren von Emotionen: Man äussert sich „dissoziativ“, wie ein Zuschauer seiner selbst. Das Ziel der kognitiven Sprache ist, Informationen so miteinander zu teilen, dass dabei keine Emotionen auftreten. Die Kognition wird am besten über die fünf W-Fragen erlangt: „Wer?“, „Wann?“, „Was?“, „Wo?“, „Wie?“. Was können sie sehen, hören, riechen, schmecken spüren? Wo in ihrem Körper spüren sie es, ist es warm oder kalt usw. Eine solche Sprache wird auch in verschiedenen Schritten des Debriefing benötigt; zusätzlich muss bei der Arbeit eine Frage schnell nach der andern kommen, sodass A keine Zeit hat, in Gefühle abzutauchen. Die Frage „Warum?“ darf hier nicht gestellt werden! Denn das „warum?“ zielt immer auf Interpretationen ab; sinnvolle Antworten auf das „Warum?“ können nur via Gefühle gegeben werden und dabei sind Werte im Spiel. Ein kognitiv geführtes Gespräch dient dazu, Betroffenen zu ermöglichen von ihrem Erlebnis oder Problem zu erzählen, ohne von ihren Gefühlen überschwemmt zu werden, was zu einer Retraumatisierung führen kann. Innerhalb eines solchen kognitiv gesteuerten Gespräches darf/muss häufig „eingegriffen“, resp. unterbrochen werden, auch mit direkten Anweisungen, z. B. von jetzt an in der dritten Person oder aus der Sicht eines (fiktiven) Betrachters oder aus der Helikoptersicht zu erzählen. Dies ist weder unhöflich noch störend, im Gegenteil. Der Gesprächspartner wird froh oder gar erleichtert sein, einmal sein Erlebnis oder Problem erzählen zu können, ohne von Emotionen überflutet zu werden. Denn Sprechen über eine schlimme Erfahrung oder ein Problem löst in der Regel auch unerträgliche (bedrohliche) Emotionen aus. Deshalb ist es von ausserordentlicher Wichtigkeit, ein Gespräch so zu steuern, dass Betroffene nicht in eine belastende Stimmung eintauchen oder gar einen Flashback erleiden. Man muss sich also getrauen, den andern zu halten und zu führen. Aus der neurobiologischen Forschung weiss man, dass man bei einem Flashback wieder die gleiche Physiologie erlebt, wie in der ursprünglichen hoch stressigen Situation. Da das Hirn eine Lernmaschine ist, fällt es ihm immer leichter, den Flashback zu produzieren, bis er voll automatisiert ist und sich jederzeit selber aktivieren kann. All das entspricht einer Retraumatisierung und muss verhindert werden. Das kognitiv gestaltete Gespräch soll auch den Intervenierenden davor schützen, sich durch Mit-Leiden auszubrennen (zwar gilt das bei einigen Helfern als empathisch, nützt aber weder dem Hilfe Suchenden noch dem Helfer, ist also sinnlos!). Deswegen soll das Gespräch stets sachlich und beschreibend bleiben. Dies bedeutet unter anderem, immer bereit zu sein, schnell eine nächste kognitiv orientierte Frage zu stellen, um A dazu zu

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bringen, von Ereignissen und Fakten zu erzählen -was er/sie gehört/gesehen und getan hat-, und nicht von seinen Gefühlen zu sprechen.

Kognitive Sprache zum Erkennen einer Emotion und des zugrunde liegenden Wertes (vgl. dazu Kap. 4 Schritt 3) Emotionen gehören zum Leben und schöne – angenehme – Emotionen machen das Leben lebenswert. Emotionen treten immer dann auf, wenn Werte eines Menschen angesprochen und aktiviert werden, sei es, dass wichtige Werte respektiert oder im Einklang mit der Umgebung sind und damit angenehme, „gute“ Emotionen (Glück, Dankbarkeit, Freude) hervorrufen, sei es, dass wichtige Werte verletzt und so unangenehme, „negative“ Emotionen (Angst/Stress, Wut, Trauer, Scham) auslösen. Der Mensch hat die Tendenz, unangenehme Gefühle „wegzuschieben“, zu dissoziieren; das kann in einem Moment, wo man funktionieren muss, wichtig sein; doch sind ungute Gefühle immer auch ein Signal dafür, dass man etwas für sich und den dahinter versteckten Wert, der nicht respektiert wurde, tun muss. Manchmal brauchen Menschen die Konfrontation, damit sie sich wieder an ihren Wert erinnern: Dazu müssen sie das Gefühl zuerst körperlich spüren, um es danach zu benennen und ihm so den Platz wieder zu geben, der ihm gebührt. Eine unangenehme Emotion wird er- und verarbeitet, indem die Person (A) kognitiv beschreibt, was sie im Körper spürt, unter der Führung des Betreuers (B). Dieser muss die Submodalitäten der kinästhetischen Ebene zur Definition des Gefühls suchen. Das muss schnell gehen, denn sonst entfernt sich A davon (dissoziiert), da es für sie unangenehm ist oder sie davon überflutet wird; in diesem Moment darf das ungute Gefühl auch nicht „weggeatmet“ werden. Wenn das Gefühl klar im Körper erarbeitet und damit gespürt wird, soll B es genau zurückerzählen; dann muss A das körperlich gespürte Gefühl benennen: es bekommt den Namen eines Gefühls (Emotion), und wird noch durch ein Adjektiv präzisiert (s. Übung 9). Um den dem Gefühl zugrunde liegenden Wert zu finden, stellt man die Frage „warum?“. Manchmal muss man mühsam suchen, manchmal erhält man die Antwort relativ schnell. Hat man den richtigen Wert gefunden, so verändert sich die Physiologie von unangenehm (wegen des unangenehmen Gefühls) hin zu sehr angenehm (wegen des benannten – und damit neu respektierten Wertes). Ein „Reframing“ entsteht, ein neues Verstehen, weshalb man sich so schlecht gefühlt hat und nun wieder gleichsam mit seinem wichtigen Wert vereint ist.

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Kognitive Sprache zum Zurückholen ins Hier und Jetzt bei Überflutung durch Gefühle (nach Yvonne Dolan s. dazu Übung 5) Man muss sich klar sein, dass Menschen im Notfall und in Krisen kaum ansprechbar sind. Das Gleiche gilt, wenn Betroffene aus irgendeinem Grund in einem Gespräch „abstürzen“, d. h. von Stress und Emotionen überrollt werden und dem – vor unseren Augen- hilflos ausgeliefert sind. Die Gefahr einer Re-Traumatisierung ist real, und ihr muss entgegengewirkt werden. Wenn es nicht gelingt, Menschen mit kognitiver Sprache vor dem Abtauchen in Gefühle oder Flashbacks zu schützen, d. h. wenn man sieht, dass man den Menschen mit Worten nicht mehr erreichen kann, gilt es massiv einzuschreiten: Man steht (schnell) auf, packt ihn am/unter dem Arm, zieht ihn hoch, spricht laut und bestimmt und zieht ihn entschlossen an einen andern Ort im Raum: und befiehlt ihm, schnell fünf Dinge zu nennen, die er sieht: „schnell, schnell…“, dann fünf Dinge die er hört; dann vier (andere) Dinge, die er sieht, hört; dann drei usw. bis ein Ding. Man kann, wenn nötig dabei helfen, bis man merkt, dass die Person wieder ganz anwesend ist; dann kann man die Atemübung anschliessen, bis man sicher ist, dass sie ruhig und nicht mehr gestresst ist; in der für diese Sitzung verbleibenden Zeit sollte nur noch Ressourcenarbeit betrieben werden. Sind die Flashbacks so intensiv, dass keine Ressourcenarbeit mehr möglich ist, braucht es meistens einen Traumatherapeuten, um das zu beheben. Doch das ist eher selten.

Salutogenetische Redewendungen (Genoni-Perren s. dazu Übung 12) In der salutogenetischen Redewendung wird eine wichtige, unangenehme oder sogar potenziell traumatische Wahrheit, die gerne verschwiegen („ungeschehen“ gemacht) würde, einerseits ausgesprochen, andererseits gleichzeitig erträglich gemacht. Das geschieht durch Öffnung auf eine Handlungsmöglichkeit, und wird verbunden durch ein „und“ (kein „aber“). Man benützt ausschliesslich eine kognitive Sprache, um zu bestätigen, was passiert ist, und auch, um für die nächste Zukunft eine Handlung zu planen und durchzuführen. Die Bestätigung des Geschehens belastet, die Betonung der anstehenden, für die Person sinngebenden Handlung jedoch, lässt die Blockade im Ereignis für einen Moment verschwinden. Das kann man an der Veränderung der Physiologie erkennen. Wenn man die unten vorgeschlagenen Grundformulierungen beherrscht, ist es sinnvoll, nach und nach die Sprache einfacher und eleganter werden lassen.

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Z. B. „Es ist wahr, dass euer Klassenkamerad X sich das Leben durch Erhängen genommen hat, und es ist auch (oder „gleichzeitig“) wahr, dass wir jetzt zusammen für seine Beerdigung eine Ehrung und bleibende Erinnerung an ihn planen können“. Eleganter könnte es heissen: „Ja, es ist nicht zu ändern: euer Klassenkamerad X hat sich das Leben genommen. Jetzt gilt es, zusammen zu besprechen, wie wir zu seiner Beerdigung etwas tun können, um ihn zu ehren sodass er uns in guter Erinnerung bleibt“. Man muss diese Redewendungen viele Male geübt haben, im Kleinen, um dann auch ein schwieriges Ereignis so zu bearbeiten. (z. B: „es ist wahr, dass heute Morgen das Brot ausgegangen ist, und es ist auch wahr, dass wir jetzt mit den Bircher-Flöckli, Yoghurt und Aprikosen ein gutes Frühstück für alle zubereiten können“. Eleganter: „Herrje! das Brot ist ausgegangen. Und jetzt machen wir ein gutes Frühstück für alle, mit Bircher-Flöckli, Joghurt und den Aprikosen.“ Die Konfrontation mit dem belastenden (nicht zu ändernden) Ereignis, und die vorgeschlagene Handlungsmöglichkeit helfen, sich aus der Lähmung zu befreien. Es ist wesentlich, dass die beiden Tatsachen nebeneinander bestehen können und dass die beiden Sätze mit einem „und“ (und keinem „aber“) verbunden werden. Das unlogische „und“ hat einen hypnotischen Effekt, und erzeugt ein „Yes Set“, welches befreit.

2.4 Arten, die Welt wahrzunehmen (Wahrnehmungspositionen) In jeglicher Arbeit mit Flüchtlingen und Migranten muss man von der Annahme ausgehen, dass gewisse Dinge, wie z. B. Ereignisse nicht rückgängig gemacht werden können. Es ist aber auch davon auszugehen, dass es allen Menschen möglich ist, die Erinnerung an eine allenfalls belastende Vergangenheit vernarben zu lassen und aus ihrem eigenen Leben so viel Kraft zu schöpfen, dass sie die Gegenwart neu und konstruktiv gestalten können. Um auch traumatisierte Personen wieder zu befähigen, ihr Leben selbst zu steuern, hilft die bewusste Benützung der beiden Wahrnehmungspositionen, Dissoziation und Assoziation. In der Assoziation erlebt man eine Situation über die fünf Sinne in der Realität oder in der Erinnerung erneut, als ob sie Wirklichkeit wäre. Die körperlich und emotional erfahrbare Ressource wird mit ihrer ganzen Kraft spürbar, und die Aufmerksamkeit ist vollständig darauf fokussiert. Man

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spürt Gefühle, wie Glück, Ruhe, Kompetenz usw. Assoziiert zu sein heisst, dass alle Sinne beteiligt sind und „es“ (körperlich und emotional) gespürt wird. Man ist innerlich beteiligt, indem alle fünf Sinne benützt werden für die Erfahrung: VAKOG, z. B. Ein gutes Essen mit Freunden in seinem ganzen Kontext, mit Bildern, Klängen, Gesprächen, inneren Kommentaren, Gerüchen, dem Geschmack auf der Zunge und den dazu gehörenden Gefühlen zu geniessen ist typisch assoziativ. Man kann natürlich auch schlimme oder belastende Situationen – oder Erinnerungen so erleben, und so sich schlechte Gefühle, oder sogar Flashbacks machen. In der Dissoziation wird eine Situation wie „von aussen“ und aus der Position eines nicht beteiligten Zeugen betrachtet. Das Wahrgenommene löst weder körperliche noch emotionale Reaktionen aus. Man ist unempfindlich, spürt nichts (oder nur sehr wenig), wie aus grosser Distanz. Dissoziiert zu sein heisst, dass das Ereignis von aussen oder aus der Helikoptersicht betrachtet wird (nur sehen und hören). Damit ist das Freundestreffen seiner emotionalen Wirkung entleert. Man denkt es sich unbeteiligt: man sieht und hört ausschliesslich (VA), riecht, schmeckt und spürt nichts. (Gutes assoziativ erleben und Schlechtes dissoziativ betrachten: oder sich mit den Ressourcen vereinen, sie benützen und Probleme sowie Verletzungen aus weiter Distanz betrachten). Man kann bei der Arbeit zwischen Assoziation und Dissoziation einfach unterscheiden, indem man sich an den Anteilen der Quintupel, VAKOG, orientiert. Beide Formen werden von Menschen auch im täglichen Leben angewandt. Sie haben ihre Bedeutung und ihre Berechtigung auch nach kritischen Ereignissen, sofern sie „richtig“ benützt werden: Das heisst: Es ist nützlich, bei guten Erinnerungen und angenehmen Gefühlen mit allen Sinnen dabei, d. h. assoziiert zu sein und emotional mitzuschwingen. Bei unangenehmen Gefühlen kann es sinnvoll sein, diese innerlich wegzustellen und die Erinnerung daran oder das Problem aus der Distanz und nur kognitiv zu betrachten, sich zu dissoziieren. Es tut folglich nicht gut, z. B. Unangenehmes aus der Vergangenheit assoziiert und die Schönheiten des Hier und Jetzt dissoziiert zu beobachten. Das ist eine „Verwechslung“, die in der Traumareaktion (aber auch in der Depression) auftritt und die betroffenen Personen viel Kraft kostet. Wenn es im Folgenden darum geht, die Fähigkeit zu stärken, je nach Situation eine bestimmte (dissoziative/assoziative) Wahrnehmungsposition

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einzunehmen, sollte nicht vergessen werden, dass es auch anderweitig möglich ist, verschiedene Standpunkte einzunehmen (d. h. mit der Dissoziation zu spielen) und dadurch beispielsweise aufzuzeigen, dass Realität auch konstruiert ist; jede neue Sichtweise kann auch eine neue „Realität“ schaffen. Menschen, die „vergessen“ haben, dass sie die Welt auch als schön, den Alltag auch als gut assoziativ erleben können und dass Ereignisse und Erlebtes in verschiedenen Zusammenhängen gelten können, brauchen Unterstützung. Sie sollen wieder lernen, nicht nur die eine (in der Regel die negative) Seite zu erleben und sich wieder mit den angenehmen Gefühlen zu assoziieren. Das belastende Unangenehme sollen sie emotional unbeteiligt wahrnehmen und so auch eher eine Lösung dafür finden. Dies heisst nicht, dass man schlimmen Dingen positive Seiten abgewinnen sollte. Das Anliegen ist vielmehr aufzuzeigen, wie nützlich Kenntnis und Anwendung des assoziativen und dissoziativen Verhaltens ist, damit die Menschen sich von belastenden Erlebnissen abwenden und der Bewältigung oder gar dem Genuss des Lebens zuwenden können. Es geht um die Freiheit der Wahl, Selbststeuerung oder Emanzipation.

2.5 Assoziative Techniken, Ressourcenarbeit im engeren Sinne 2.5.1 Atmen (s. Übung 15) Atmen ist ein Lebensprozess, der immer stattfindet. Mittels dem Atmen können sich Menschen in wunderbare Zustände (s. Meditation, Verliebtheit) oder auch in Stress-, Angst- und Panik-Attacken versetzen. D. h. die Befindlichkeit, die Physiologie der Menschen hängt immer essenziell mit der Atmung zusammen. Deswegen kann die Atmung eigentlich immer als erste Ressource betrachtet und benützt werden. Jeder Mensch, der während einer gewissen Zeit langsam, kontrolliert und gleichmässig atmet, wird dadurch innerlich ruhiger und bekommt einen klareren Kopf. Dies gilt auch für traumatisierte Personen oder solche mit Angst – und Panikzuständen. Eine kontrollierte, „gute“ Atmung hilft nicht nur, eine momentane Übererregung oder den inneren „Stau“ abzulegen und sich somit im Hier und Jetzt besser zurechtzufinden, sondern auch, um sich auf Dauer weniger Flashbacks, Albträume oder Panikattacken zu produzieren und über eine ruhigere Physiologie zu verfügen.

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In diesem Zusammenhang gilt es zu betonen, dass die Atmung die einzige Möglichkeit ist, wie man bewusst und ohne Medikamente Einfluss auf die Beruhigung des autonomen, vom Willen unabhängigen, sympathischen und auf die Aktivierung des parasympathischen Nervensystems Einfluss nehmen kann. Durch kontrollierte Atmung wird der Herzschlag beschleunigt oder verlangsamt, man wirkt auf den Hirnstamm ein, von wo der das Herz steuernde Parasympathikus ausgeht. Viele psychosomatische Stress-Zeichen und Schmerzen können so als erstes beruhigt werden und das gibt den Betroffenen das Gefühl von einer gewissen Kontrolle zurück (Porgess 2001). Sobald Menschen einmal selber gemerkt haben, dass sie sich durch Atmung beruhigen können, sind sie meistens motiviert, dies auch allein zu tun und zu üben: dann wird eine klar strukturierte Hausaufgabe eingesehen und meist auch befolgt. Die Instruktion besteht darin, zweimal am Tag, während mindestens 15 bis 20 min genauso, wie eben geübt, zu atmen. Bevor man Menschen mit dieser Hausaufgabe entlässt, muss man jedoch sicher sein, dass die Übung auch verstanden wurde und genauso durchgeführt wird wie instruiert. Das bedingt eine mindestens zweimalige Kontrolle, wo A dieses Atmen vorführt. Es ist sinnlos, ja sogar schädlich, jemanden mit einer falschen Atemtechnik wegzuschicken; hyperventiliert ein Traumatisierter zu Hause, dann provoziert er häufigere und intensivere Flashbacks und dissoziiert sich noch mehr.

2.5.2 Ankern (s. Übungen 17, 18) Es ist bekannt, dass oft ein kleiner Sinnes-Hinweis genügt, um an einen bestimmten Ort erinnert oder in eine bestimmte Situation zurückversetzt zu werden. So kann es z. B. sein, dass beim Hören einer speziellen Musik sofort die (gleiche) Stimmung aufkommt, in der man früher schon einmal war, als diese Musik ertönte. Oder es kann sein, dass der Geruch oder auch Geschmack eines bestimmten Gewürzes plötzlich an eine vergangene Mahlzeit oder an die Küche der Grossmutter erinnert. Solche Erinnerungsauslöser oder Schlüsselreize sind wie „Anker“. Es sind bedingte Reflexe. Sie können von jedem Sinn ausgelöst werden und z. B. aus einem Bild, einer Stimme, einem Geruch, Geschmack oder auch nur aus einem bestimmten Wort bestehen. Sie verändern die Physiologie, meist unbewusst – aber sie können und sollen (sofern sie positiv, resp. nützlich sind) auch bewusst gefördert und eingesetzt werden. Denn solche Anker sind Ressourcen, die alle Menschen besitzen und nutzten sollten. Sie zu suchen und zugänglich zu machen, ist ein wesentlicher Teil dieser Arbeit.

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Anker sind bedingte Reflexe für eine bestimmte Physiologie, wie beim Pawlowschen Hund. Dort wurde ein Glockensignal zum (auditiven) Anker für die Produktion von Magensaft. Neurobiologisch gesehen, sind Anker implizite körperliche Erinnerungen. Sie lassen sich über den Körper, unter Umgehung des Bewusstseins aktivieren. Hier bezwecken wir, eine Physiologie von Selbstwirksamkeit zu erarbeiten: guten Körpertonus, „Kompetenz“, gutes, sicheres Gefühl. Das erfordert eine dementsprechende Physiologie. Diese wird mit assoziativer Technik erarbeitet. Als Voraussetzung muss man eruieren, welche Physiologie A in einer entsprechenden Situation genau benötigt, ob es Spannung, Kompetenz, Selbstvertrauen ist oder eher Entspannung und innerer Frieden. Um schwierige Momente zu bewältigen, kann jeder Mensch auf Ressourcen aus vergangenen Erfahrungen zurückgreifen und daraus Kraft schöpfen. Dies kann man üben und mithilfe eines Ankers „konditionieren“. Die Übung ist aber weder Anleitung noch Vorgabe, sondern eine Art Orientierungshilfe dafür, wie eine Ankerübung durchgeführt und wie mit der Quintupel (VAKOG, dem Führen durch alle fünf Sinne) gearbeitet wird. Es geht also darum, andere Menschen dazu zu motivieren, tief in gute Erlebnisse einzutauchen und diese so zu verankern, dass sich die entsprechende Physiologie, (auch die Gefühle) als Ressource auch in anderen Situationen einsetzen lässt. Verankern heisst, aus dem Moment der Erinnerung via Körpergedächtnis die Physiologie so zu aktivieren, dass sie später wieder automatisch, nur via Anker, abgerufen werden kann. Dabei geht man davon aus, dass ein gesetzter Anker – wie bei jedem bedingten Reflex – immer die gleiche Physiologie, d. h. emotionale Assoziation, Körpertonus und/oder Verhaltensweise auslöst. Im Prinzip sind alle Formen von Ankern nützlich, doch die kinästhetischen (körperlichen) sind hier die wichtigsten. Denn sie sind einfach anzuwenden, einfach zu kontrollieren und können unauffällig während einer gewissen Zeit gehalten werden. Auch lassen sie sich durch Wiederholungen oder Ergänzungen übereinanderlegen und durch Übung verstärken. Dies ist meist notwendig und immer sinnvoll: Es kann nie zu viel sein! Man kann zwei verschiedene Gruppen von Physiologie ankern: • die aktive mit hohem Körpertonus, wo man aufmerksam, kompetent in der Welt steht. • die beruhigte, mit niedrigem Körpertonus, wo man sich erholen und schlafen kann.

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In der Arbeit mit Folgen von hohem Stress sind beide Arten von Physiologie nützlich, doch muss man genau definieren (s. Übung 7), wofür man eine zu ankernde Physiologie benötigt. Ein Anker wird gesetzt, indem man sich assoziativ in eine Situation versetzt, in der man sich gut, aufmerksam und kompetent fühlte und innerlich ruhig (aber nicht „entspannt“) war. Als Vorarbeit hilft man, eine solche Erinnerung und ihre entsprechende Physiologie zu finden, diese dann auszubauen und zu verstärken durch entsprechendes sinnesspezifisches Nachfragen. Manche Menschen gelangen erst so wieder zu einem assoziierten, entweder gut gespannten oder auch entspannten Zustand. Mehrere Anker lassen sich übereinanderlegen, damit sich die erforderliche und hervorgerufene Physiologie verstärkt und so die Bewältigung einer schwierigen Situation ermöglichen. Allerdings müssen sie einen ähnlichen Körpertonus vermitteln. (also nicht entspannter Tonus, wenn man kämpfen will, oder Kampftonus, wenn man schlafen will!). Betroffene können sich auch Selbstanker setzen, genauso präzise, wie beschrieben. Dazu muss vor der Aktivierung der Physiologie abgemacht werden, welchen Selbstanker A wünscht, etwa eine kleine Bewegung (z. B. die Faust, zwei Finger aufeinander drücken usw.). Die Aktivierung der verankerten Physiologie erfolgt immer gleich. Da es relativ häufig geschieht, dass z. B. traumatisierte oder depressive Personen vorerst einmal der Überzeugung sind, keine guten Erinnerungen oder entsprechende Erlebnisse zu haben, geht es im ersten Teil der Arbeit darum, in einem Gespräch und mit gezielten Fragen nach den „vergrabenen Schätzen“ zu suchen. Nützlich sind dabei Fragen nach Zugehörigkeiten oder konkreten Situationen, weniger gut sind solche nach der Kindheit. Dabei soll man sanft und drängend vorgehen – man kann sich darauf verlassen, dass alle Menschen unzählige Ressourcen haben, die man wecken kann. Jeder Mensch hat Erinnerungen an Feste, Landschaften, Freunde, an Tätigkeiten, die Spass mach(t)en usw. All dies sind Ressourcen, die man im ungezwungenen Gespräch suchen kann. Die veränderte Physiologie verrät sofort, wenn man sich einem „vergrabenen Schatz“ nähert. Um von einem (kleinen) Angebot einer guten Erinnerung zu einer als Ressource nutzbaren vollen Assoziation zu kommen, werden dann das Erlebnis und damit die Physiologie durch Aktivierung der fünf Sinne intensiviert. Wenn man zusätzlich zu den fünf Sinnen auch die Submodalitäten benützt, kann man die Physiologie noch intensivieren. Die Bedeutung dieser Ressourcenarbeit liegt darin, dass sie einen Zugang zu Kräften und Energien, ermöglicht, über welche die Menschen selbst ver-

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fügen. Diese wiederzuentdecken und für die Alltagsbewältigung einzusetzen, ist das wichtigste Ziel der Arbeit und kann häufig genügen, um zusammen mit der Atemübung positive heilende Prozesse auszulösen. Es ist unbedingt zu beachten, dass diese Form von Ressourcenarbeit nicht auf ein „therapeutisches“ Setting oder eine ruhige und konzentrierte Stimmung angewiesen ist. Sie kann in sehr vielen Situationen durchgeführt werden – auch unauffällig und ohne grosse Erklärung. Wichtig ist einzig, dass man z. B. beim Betrachten von Fotos, beim Erzählen von einer Familienfeier, etc. die Quintupel „abfragt“ und die einzelnen Sinne durch gezielte, aber normale und echt interessierte Fragen anspricht. Dabei darf es auch Unterbrüche geben oder lustig sein (apropos: Lachen ist eine gute Ressource). Man achte auf plötzlich auftretende „Aber“, welche unter Umständen dann zum Sprechen über Negatives führen; dann soll die Gesprächsführung dafür sorgen, dass es beim Positiven bleibt. Das „Aber“ kann immer noch später bearbeitet werden- wenn nötig. Manchmal ist das Suchen und Setzen von Ankern schwierig, wenn z. B. Trauer aufsteigt, dass es nicht mehr so ist, wie es in der entsprechenden Situation einmal war. Diese Trauer darf sein, denn auch so ist es möglich, Ressourcen zu stärken, und zudem ist es nützlich und gesund, zumindest für einige Minuten aus einer passiven Grundstimmung auszusteigen. Denn es ist besser, fröhlich oder traurig zu sein als gar nichts mehr zu empfinden. In Ressourcenübungen werden die persönlichen Kräfte gestärkt, sei es in sehr allgemeiner Form, sei es für spezifische Fragestellungen oder konkrete Probleme. Somit wird zuerst eine wünschbare Situation geschildert, diese im Gespräch in ein positives, nicht zu hohes (Zwischen-) Ziel umformuliert und anschliessend danach gefragt, welche eigene Ressourcen für das gesteckte erste Ziel benötigt werden. Diese Ressourcen sucht und stärkt man dann im Rahmen einer Ankerübung. Das Vorgehen lässt sich in den Grundzügen auf sehr viele Situationen in der Betreuung, Beratung und Begleitung von Menschen anwenden, entspricht einer essenziellen Grundhaltung und soll deshalb so oft wie möglich geübt und reflektiert werden! Alle Anker können trainiert werden. Dadurch werden sie sehr stark und wirkungsvoll, so stark, dass auch ein Fremder sich von Zeit zu Zeit daheim fühlt, ein Gefangener von Zeit zu Zeit „frei“ ist, ein Mensch auch in belastenden Situationen Kraft findet für neue Herausforderungen. Die Selbststärkung, das Aufhellen negativer Grundstimmungen und die Anwendung im konkreten Alltag helfen, unangenehme oder negative Physiologien zu bewältigen. Menschen können lernen, immer wieder auf vorhandene Ressourcen zurückzugreifen, um Situationen zu bewältigen und diese Fähigkeit durch das Setzen von Selbstankern zu stärken.

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Auch Intervenierende benötigen starke Selbstanker. Sie helfen, in der Arbeit ruhig und sicher genug zu sein, was nach aussen sichtbar und wirksam ist, und sie geben dem Betreuer Kraft, sich zu schützen. Deshalb ist es sinnvoll, auch sich selbst immer wieder Anker zu setzen, die man bei Bedarf benützt. Sie dürfen nicht zu kompliziert sein, sodass sie vielseitig und unauffällig anwendbar sind: bewährt hat sich z. B. der Druck zwischen Daumen und einem Finger. Sowohl die Atemübung (Nr. 15), wie die Sandübung (Nr. 16) und Powerübung (Nr. 14) sind assoziative Übungen, die Ressourcen mobilisieren.

2.6 Dissoziative Techniken beim Denken an Unangenehmes Etwas vereinfacht, aber dennoch präzise ausgedrückt, geht es in der praktischen Arbeit darum, Menschen darin zu unterstützen, einerseits assoziativ in positive Erinnerungen, d. h. vorhandene Ressourcen einzutauchen und daraus Kraft zu schöpfen, und andererseits unangenehme Erinnerungen dissoziativ anzugehen, sich davon nicht blockieren zu lassen, sie also „nur“ zu denken, ohne die fünf Sinne zu aktivieren. Im täglichen Leben tun das alle gesunden Menschen und besonders Kinder automatisch. Die Fähigkeit, an ein Problem von aussen heranzugehen und es aus Distanz zu betrachten, ist aus unserem Alltag bekannt – sowohl als Möglichkeit, über eine Situation nachzudenken wie auch als Strategie, um in Gefahr zu handeln und zu überleben. Durch die entstehende Distanz lassen sich häufig bereits neue Lösungsansätze erkennen. Es gibt zwei Möglichkeiten zu dissoziieren. Sie sind gut kombinierbar und bedeuten beide nicht, dass alle Emotionen verschwinden, sondern lediglich, dass man – geschützt durch ein gutes Sein im Hier und Jetzt (Anker) – die Dinge ein wenig entfernen und sie gewissermassen durch ein umgekehrtes Fernglas betrachten kann: Alles ist weit weg und klein und betrifft einen kaum mehr. In der einen Art der Dissoziation benützt man denn auch ausschliesslich die Sprache – nur kognitiv-, in der anderen arbeitet man mit Bildern oder Filmen und nimmt damit eine Art Aussenperspektive ein oder projiziert das Problem nach Aussen, weit weg. Beides gibt die Chance, die bleierne, hemmende emotionale Blockade soweit aufzulösen, dass sich Auswege auftun. Während solcher Gespräche muss man häufig „eingreifen“, unterbrechen, indem man präziser – kognitiv, Facts orientiert- nachfragt, um eine

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eventuelle Überflutung durch Gefühle abzuwenden. Direkte Anweisungen helfen dabei: z. B. von jetzt an in der dritten Person oder aus der Sicht eines (fiktiven) Betrachters zu erzählen. Dies ist weder unhöflich noch störend, im Gegenteil: auch der Gesprächspartner wird froh oder gar erleichtert sein, einmal sein Erlebnis zu erzählen, ohne dabei von Emotionen überflutet und blockiert zu werden. Da sich die kognitive Gesprächsführung in sehr vielen Situationen bewährt, lohnt es sich, sie so zu trainieren, dass man sie – bei Bedarf! – automatisch einsetzt. Dies heisst, dass man die entsprechenden Fragen nicht suchen muss, und dass immer noch genügend Aufmerksamkeit für einen guten Rapport und das Kalibrieren zur Verfügung steht. Dies heisst jedoch nicht, dass Assoziatives keinen Platz mehr hat, sondern nur, dass es streng von Dissoziativem getrennt wird und die Gesprächsführer für deren strikte Trennung verantwortlich sind. Eine weitergehende Möglichkeit, mit Menschen dissoziativ zu arbeiten, besteht darin, sie anzuleiten, die Erinnerung „nach aussen“ zu projizieren und dort „wie von aussen“ zu betrachten. Dies hat den Vorteil, dass das sichere Hier und Jetzt mit dem Gesprächsleiter wie ein Anker zur Verfügung steht, ohne dass man alles aussprechen muss. Es genügt, wenn das Ereignis „wie als Film“ betrachtet wird und dieser nicht im schlimmsten Moment stehen bleibt, sondern durch entsprechende Fragen bis ans Ende des Ereignisses „weitergetrieben“ wird (s. Übung 19). Wenn alle diese Methoden, für Distanzierung nicht genügen, um Menschen vor überflutenden Gefühlen zu schützen, gilt es, eine massivere Technik zu benützen, um ins sichere Hier und Jetzt zurückzuführen ­(STOP-Modell, Übung 4, Technik nach Yvonne Dolan, Übung 5). Besteht bei der dissoziativen Betrachtung einer unangenehmen Situation genügend Sicherheit, kann man einen Schritt weitergehen und die Erinnerung bearbeiten. Das heisst beispielsweise, dass die Geschichte durch den Einbau von Ressourcen ein wenig erträglicher wird oder dass aufgezeigt wird, ob und wie eine nachträgliche Versöhnung möglich ist. Bedeutend ist die Dissoziation in der Ressourcenarbeit zudem deshalb, weil sie es ermöglicht, die zur Vernarbung eines schlimmen Ereignisses notwendige Geschichte niederzulegen. Das muss nicht unbedingt nur auf der verbalen Ebene, es kann auch in bildlichen Darstellungen geschehen: zeichnen, malen, spielen, aufschreiben, kleben, usw. Die Erinnerung wird auf diese Weise geordnet, geklärt und materialisiert und dadurch dissoziiert, und es wird so möglich, wenn auch nicht immer notwendig, darüber zu sprechen.

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Wie konkret genau gearbeitet wird, hängt meist von der Situation, den verfügbaren Mitteln, der jeweiligen Zielsetzung und Kreativität ab. Wichtig ist hingegen, die konsequente, aber angepasste Anwendung der Grundregeln für assoziatives Ankern und dissoziative Betrachtung. So ist es beispielsweise auch mit Kindern möglich, eine gute Vergangenheit zu verankern, die sichere Realität im Hier und Jetzt zu spüren und die dazwischen liegende – vielleicht schlimme – Geschichte z. B. aufzuzeichnen. Dass es sich in der Regel lohnt, eine belastende Geschichte überhaupt aufzugreifen, zeigen nicht nur das heutige Wissen um neuro-biologische Prozesse und die eigene Erfahrung aus der Arbeit, sondern z. B. auch der Bericht von Irma Sonnenberg Menkel, die Anne Frank im Konzentrationslager Bergen-Belsen begleitete und als 100-jährige Frau erstmals darüber gesprochen hat. Sie sagt, es gebe wohl sehr viele Menschen wie sie, die ihre Geschichten (allzu) lange „eingeschlossen“ hätten, aber es sei nötig, diese zu erzählen, wie schlimm sie auch seinen. Denn das hilft beim Finden von Ruhe, weil das Hirn erst dann die Erinnerung so ablegen kann, dass man nicht mehr von Stress und Gefühlen überrollt wird. Die wichtigsten Prinzipien der Ressourcenarbeit sind im Debriefing (Kap. 4) zusammengefasst. Dort kommen alle zur Anwendung – und zwar in einer Struktur anhand welcher mit betroffenen Menschen die Geschichte eines traumatischen Ereignisses aufgearbeitet wird. Dadurch kann das Debriefing auch als Leitfaden für andere Gespräche dienen.

2.7 Werte transkulturell betrachtet In jeder Kultur gibt es „heilige“ Werte, welche als Identität stiftend betrachtet werden. Wenn im Migranten das Gefühl entsteht, dass das Aufnahmeland diese Werte nicht respektiert, wird Kommunikation schwierig. Das Gleiche gilt aber auch vice versa. Deshalb soll ein Vertreter des Aufnahmelands sich trauen, wichtige aktuelle Werte im Zusammenleben zu erklären, zu betonen und deren Respektierung einzufordern. Das ist das Recht des Gastgebers. Das heisst aber nicht, dass Gäste alle Werte des Gastlandes annehmen und auf eigene Werte verzichten müssen. Die Asylorganisation in Zürich hat in den 90er Jahren relativ bald ein Leitbild mit Grundregeln des Zusammenlebens in der Schweiz geschaffen. Die Werte: Gleichberechtigung, Gewaltfreiheit, Rücksichtnahme, Eigenverantwortung, Eigenleistung, Arbeitsmoral wurden definiert und als nicht verhandelbar festgesetzt.

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Im Prinzip ist es nun wichtig, alle diese abstrakten Begriffe mit sinnesspezifischem Inhalt zu füllen (quintupeln!), weil sonst Missverständnisse entstehen. Von den damaligen Migranten wurden zwar ähnliche, aber schlecht annehmbare Werte in diese Forderungen hinein interpretiert, Werte wie Pünktlichkeit, Umweltschutz, Sparsamkeit und Meinungsfreiheit. Doch wenn diese Werte nicht auf der Basis der zuerst genannten grundlegenden verstanden werden, so können Pünktlichkeit oder Sparsamkeit als Schikane empfunden werden. Um die ganze Diskussion etwas zu schärfen, lohnt es sich, über einen Aspekt des Lebens, wo kulturelle Vorannahmen eine wichtige Rolle spielen, sich auszutauschen. Dies können z. B. Werte in der Erziehung sein, ein Thema von grosser Wichtigkeit und grossem Konfliktpotenzial: Welche Werte sind massgebend bei der Erziehung von Kleinkindern, Schulkindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen? Welche Absichten bleiben über alle Kulturen hinweg gleich? Welches sind die spezifischen, an eine bestimmte Kultur gebundenen und angepassten Werte und welches sind die in verschiedenem Kontext auch verschieden wichtigen Werte (s. Übung 10)? Erst wenn man sich über diese Voraussetzungen klar ist, kann man anfangen, Verständnis zu geben und zu fordern. Erst dann kann man auch anfangen zu verhandeln, was nun im Gastland als kleinster gemeinsamer Nenner angenommen werden muss. Wichtig ist dabei, dass keine Seite quasi automatisch die andere Seite be- oder ver-urteilt. Bi-Kulturalität ist eine Ressource, in der sich Kinder und Jugendliche sehr einfach und frei zu bewegen wissen, sobald sie erkannt haben, dass jede Kultur ihren (spezifischen) Wert – und ihren Ort – hat: z. B. nach dem Motto: zu Hause wird Sprache X gesprochen – und das ist gut so (da kann ich mit meinen Grosseltern kommunizieren, wunderbare Feste feiern und Ferien an einem andern Ort machen), und „draussen“ wird schweizerdeutsch gesprochen, und auch das ist gut und ermöglicht mir, mit meinen Klassenkameraden und Lehrern in Kontakt zu bleiben und einen Beruf zu lernen. Bi – Kulturalität ist vor allem eine Ressource, denken wir schon nur an die Küche. Es ist eine Kultur des Sowohl als Auch.

2.8 Verhandeln Zwischen sich zufällig treffenden Menschen, zwischen Freunden, Ehepartnern, benachbarten Familien, zwischen einzelnen Gruppen oder auch Nationen, immer und überall entstehen Situationen, in denen Uneinigkeit

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herrscht. Und nicht selten prallen dabei widersprüchliche Auffassungen oder Interessen so aufeinander, dass es zu einer eigentlichen Auseinandersetzung, einem Konflikt oder einem Machtkampf kommt. Um zu verhindern, dass solche Konflikte eskalieren und um zu erreichen, dass die beteiligten Parteien zu „PartnerInnen“ werden, bietet sich Verhandeln an. Voraussetzung dafür ist, dass man sich einig ist, uneinig zu sein, und dass man ein minimales Interesse an den Anliegen der Gegenpartei und an einer „friedlichen Lösung“ mitbringt (s. Übung 11). Kommt man zu sich abzeichnenden Konflikten dazu, so kann man eingreifen, und in einem gewissen Mass coachen, wenn beide Teile damit einverstanden sind. Man muss in sich hineinhorchen, ob man beiden gleich gut gesinnt ist, also bezüglich Endergebnis nicht jemanden bevorzugen möchte („weil er mehr recht hat“), man sollte also gleichparteiisch sein. Um das Verhandeln überhaupt zu beginnen, müssen beide Parteien ihre Bedürfnisse, um die es im Konflikt geht, darstellen können. Es ist wichtig das Bedürfnis sinnesspezifisch und nach den Regeln der Zielformulierung zu erfragen; ebenfalls muss kognitiv gefragt werden, denn in dieser Phase schaden Emotionen; häufig lohnt es sich, den dahinter liegenden Wert zu suchen. Wenn beide Parteien ihre Bedürfnisse und Ziele geäussert haben, muss man nochmals nachfragen, ob man (und die andere Partei) richtig verstanden hat. Dann wird nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner gesucht, danach, worüber sich beide einig sind oder sein können. Das Ende einer ersten Verhandlungsrunde ist erreicht, wenn nächste gemeinsame friedliche Schritte, oder Schritte in gegenseitigem Einverständnis geplant und organisiert wurden sowie wenn man ein nächstes Treffen abgemacht hat, an dem man nochmals zurückschaut und die nächsten Schritte verhandelt.

2.9 Zukunftsplanung Migranten, ob freiwillige oder geflüchtete, leben immer in der Erwartung, nach Hause zurückzukehren oder geschickt zu werden. Menschen, die ein potenziell traumatisches Ereignis erlebten, resp. das potenziell traumatische Ereignis nicht integrieren konnten, belasten ihr Denken (oder ihr Hirn) durch zwei typische, die Zukunft betreffende Phänomene: Sie wünschen sich das Verlorene zurück, so wie es damals war, vor dem Verlust.

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Das „Nie wieder“ kontaminiert die Zukunftsperspektive mit dem Erlebten, unter Umständen mit in die Zukunft projizierten Ängsten, die aus Erinnerungen stammen oder sogar Flashbacks, was massiven Stress auslöst.

Menschen, die stets an die Vergangenheit oder/und an die Zukunft denken, leben nicht gesund und laufen Gefahr, die Schönheiten und die (Heraus) Forderungen der Gegenwart zu verpassen. Dennoch sind Vergangenheit und Zukunft wichtige Orientierungspunkte im Leben, nach denen Denken und Handeln ausgerichtet werden müssen. Während die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit dazu befähigen kann, die Gegenwart gut zu bewältigen, besteht die Zukunft „nur“ als (dissoziierte) Vision. Aber sie ist eine entscheidende Realität und dient auch als Richtungsweiser: Ziele werden gesetzt, Ängste und Hoffnungen steigen auf, und all dies beeinflusst Haltungen und Aktionen im Hier und Jetzt. Entscheidend ist, dass es, solange man lebt, eine offene Zukunft gibt. Niemand kann mit Sicherheit sagen, was morgen sein wird. Die unbekannte Zukunft ist denn auch eine Herausforderung, der sich alle Menschen immer wieder stellen müssen. Die aktuelle Situation und die erahnte Zukunft sollten dabei nicht blockieren, sondern das Wissen mobilisieren, dass es gut werden kann. Es gilt, sich einerseits geeignete kurz- und langfristige Ziele zu setzen und andererseits flexibel und offen für viele der kommenden Möglichkeiten zu bleiben. Die Zukunft sollte selbstwirksam, d. h. mit Verständnis, Kontrolle und Sinnhaftigkeit geplant werden. Die Planung beginnt in der Gegenwart, und kann von Visionen angestossen werden. Doch braucht es auch ein gutes Mass an Realitätssinn, speziell wenn es um auferlegte Rückkehr geht. Es gibt aktive und innovative Kräfte, wie Unzufriedenheit, gespürter Mangel, Chaos, oder Glauben, wie auch erhaltende, wie Konsens, Tradition, Skepsis, Konservativismus, Zufriedenheit und Überfluss. Zwar muss man auf der Vergangenheit aufbauen, aber man kann nicht davon ausgehen, dass jede künftige Veränderung schlecht ist, da die Zukunft in jedem Fall anders sein wird. Ebenso ist es sinnlos und unnütz, Veränderungen anzustreben, die nur sehr wenig mit der heutigen Situation zu tun haben und ausserhalb jeglicher Fähigkeiten liegen. Hilfreich ist z. B. eine Einstellung, die das Bestehende ernst nimmt und gleichzeitig einen Traditionsbegriff akzeptiert, wie ihn der Schweizer Poet Mani Matter formuliert hat: „Was unsere Väter schufen, war, als sie es schufen, neu. Bleiben wir unseren Vätern treu, so schaffen wir neu.“

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Die Zukunft kann und muss geplant werden, doch das darf nicht dazu verführen, Wünsche und Visionen als unveränderbare Ziele anzusehen, oder alles bis ins Kleinste planen zu wollen. Denn dies führt unweigerlich zu Enttäuschungen. Es ist sinnvoll, die Zukunft so weit offen zu halten, dass sie einen nicht unvorbereitet überrumpelt. Wenn dann dennoch alles anders kommt als geplant, kann man es als Herausforderung, und nicht als persönliches Versagen interpretieren. Dies zeigt sich exemplarisch im Leben von Nelson Mandela, der auch in äusserst schwierigen Situationen seine Hoffnung und seine Kommunikationsfähigkeit aufrecht erhielt und sein Leben lang lachen konnte.

2.10 Rückkehr und Abschied Viele Menschen müssen sich unter schwierigen Bedingungen mit ihrer Zukunft auseinandersetzen. Damit sie eine aktivere und gestaltende Rolle übernehmen können, brauchen sie Unterstützung. Diese beginnt zwarbekräftigen wollen mit der Konfrontation, dass ein Teil der (äusseren) Vergangenheit ausgelöscht ist, darf aber nicht dabei stehenbleiben. Wichtig ist, dass den menschlichen und materiellen Verlusten Raum und Inhalt gegeben wird, denn das Formulieren dessen, wofür das Verlorene steht, verschafft einerseits Luft durch mögliche Trauer und erleichtert andererseits die Suche nach sinnvollen alternativen Zielen und neuen Inhalten. Nicht nur Asylsuchende und Gewaltflüchtlinge, aber sie besonders, müssen mit einer Zukunft leben, die „per Definition“ unsicher und ungewiss ist. Sie spüren und wissen, dass ihre Möglichkeiten, mit der Zukunft zu spielen, nicht, wie geträumt, riesig sind, und empfinden dies als Belastung. Sie richten sich nach Wünschen und Hoffnungen und vergessen dabei vielfach, dass sie die Realität des vorübergehenden Gastrechtes berücksichtigen müssen. Sie warten ab, ohne die Zeit für das Nachher, wo immer dieses sein wird, zu nutzen. Gewollt oder aufgedrängt, das Warten wird durch eigene oder fremde Entscheide ein Ende haben. Spätestens dann wird die Zukunft in der harten Gegenwart angekommen sein. Und dann ist es sehr spät, um positive Perspektiven zu entwickeln und für sich möglichst gute Startbedingungen zu schaffen. Auf der psychologischen Ebene geht es folglich darum, den fremden, meistens lokal-politisch bedingten Entscheid in einem persönlichen Prozess zu akzeptieren oder sogar zu einem eigenen zu machen (was, wann, wie), und darum, die vorhandenen positiven Aspekte zu erarbeiten und zu stärken.

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Ressourcen gibt es immer, sogar bei einer erzwungenen Rückkehr in das Land, aus dem man flüchtete: Jeder Mensch hat familiäre, lokale, landschaftliche, berufliche, politische, kulturelle und andere Wurzeln und will in seinem Gemeinwesen mitreden und mitbestimmen können. Und jede Rückkehr bringt unter anderem die Chance mit sich, wieder selbstständig und autonom zu werden, sich wieder in der Muttersprache auszudrücken und grössere individuelle und gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Deshalb sollten Menschen, die mit betroffenen Personen arbeiten, ihre Zeit und Energie nicht endlos in nur bedingt realistische Verlängerungsoptionen für eine Aufenthaltsbewilligung investieren, sondern sich konkret mit einer eventuellen Rückkehr auseinandersetzen. Es gilt, im Einzelfalle die Möglichkeit, in Sicherheit und Würde zurückzukehren (und zwar nicht in die Sicherheit eines mitteleuropäischen Landes) anzunehmen, jene einer materiellen Basisexistenz vorzubereiten und das alte soziale Netz zu reaktivieren. Die Planung der Rückkehr orientiert sich an den allgemein gültigen Prinzipen der Zukunftsplanung. Sie bemüht sich um möglichst viele Informationen und trennt zwischen Kognition und Emotion. Sie fragt, wie die Zukunft erfolgreich zu bewältigen ist, und versucht, dies zu bearbeiten. Diese Planung kann durch Institutionen und Personen begleitet, sowie unterstützt werden und beispielsweise in folgenden Schritten ablaufen: Zuerst braucht es eine Standortbestimmung und eine Annahme der aktuellen Situation. Danach darf und soll fantasiert werden, und zwar im negativen und im positiven Sinn. Sinnvollerweise wird mit den ängstlichen und pessimistischen Vermutungen und Ahnungen begonnen. Sie zu formulieren, hat einen mehrfachen Zweck. Einerseits bekommen diese dadurch Gestalt und werden folglich fassbarer für eine Bewältigung. Andererseits ist die schlimmstmögliche Variante, falls sie später eintrifft, zumindest nicht unbekannt. Trifft sie dann doch nicht ein, obwohl man sogar darauf vorbereitet wäre, entspricht das einer positiven Wende. Bei den positiven Fantasien geht es um etwas anderes. In ihnen darf der Gesprächspartner kritiklos, in Form eines „Brainstorming“ alle Wünsche und Träume ausdrücken, sofern er sie sinnesspezifisch formuliert (vgl. Techniken) und sofern man nachfragt, wofür sie jeweils stehen und wie man sie unter Umständen anders – aber mit ähnlichem Inhalt und Effekt – erreichen könnte. Geht man von den negativen und positiven Extremszenarien aus, so lässt sich eine relativ reale Zukunftsvariante vorsehen, die sich konkret auf die zu erwartende Lebenssituation bezieht. Das erlaubt, konkrete Schritte zu

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planen und Ziele zu formulieren. Die betroffene Person mit ihrer Familie steht im Zentrum und muss die „Resultate“ akzeptieren. Denn nur sie weiss, was sie noch benötigt und was sie noch zusätzlich lernen möchte oder muss. Und nur sie ist in der Lage, sich letztlich für einen, ihren Weg, zu entscheiden und diesen zu gehen. Dabei ist zu beachten, dass „nicht entscheiden können“ meist „nicht entscheiden wollen“ heisst oder auf eine falsche Zielformulierung hinweist. Rückblickend kann jede Entscheidung auch „falsch“ sein. Dennoch war sie gut, wenn sie aufgrund einer aktiven Auseinandersetzung zustande kam. Unsere Begleitung in diesem Prozess besteht darin, zu animieren, Raum und Zeit für den Prozess zur Verfügung zu stellen, nachzufragen, Rückmeldungen zu geben, – und für die Entscheidung vielleicht sogar eine Art Patenschaft zu übernehmen. Selbstverständlich braucht es konkrete Unterstützung bei der Informationsbeschaffung, der Organisation von geplanten Schritten und der Abklärung von realisierbaren Möglichkeiten. Als Leitfaden dient dabei, dass eine Rückkehr sowohl psychisch als auch materiell umso einfacher wird, je besser man sich darüber informiert und darauf vorbereitet, was einen erwartet. Und da alles, was man im Gastland gelebt und gelernt hat, mitgenommen wird, gilt es, die Zeit zwischen dem Heute und dem Tag X zu nutzen, sich vorzubereiten und dabei gut und aktiv zu leben. Denn wenn man weiss, was man aus dem Gastland mit nach Hause nimmt, hat man mehr Ressourcen, als wenn man unvorbereitet, unwissend und „ohne Gepäck“ abreist oder abgeschoben wird. Ein seelisch starker, offener und kreativer Mensch ist in der Lage, eine solche Zukunft anzunehmen, zu gestalten und zu bewältigen. Rückkehr heisst immer auch Abschied. So werden Rückkehrende immer ein wenig zum Gastland gehören und auch „Heimweh“ haben. Sie werden zu Menschen mit zwei Heimaten und zu Botschaftern von einem Land, das nicht nur gut oder schlecht war, sondern ein Ort, der ebenso seine schönen und schwierigen Seiten hat wie alle anderen Länder, aber in einer Notsituation vorübergehendes Gastrecht gewährte. Abschied Nehmende verlassen denn auch Situationen, unter denen sie litten, als auch Dinge und Personen, die ihnen lieb und wichtig wurden. Menschen, die sich verabschieden, müssen sich fragen, was sie verlassen und was ihnen das im Innern bedeutet. Sie sollten sich entscheiden, von wem sie Abschied nehmen möchten, mit wem sie weiterhin Kontakt pflegen wollen, wem sie danken möchten, was sie mitnehmen und was sie hierlassen möchten (auch emotional und symbolisch) etc. Sie sollten sich auch überlegen, wie die Kinder Kontakte und die neu erlernte Sprache behalten

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können – und ob sie den Abschied in einem bestimmten Rahmen begehen und mit einem „Ritual“ bekräftigen wollen (s. Übung 22). Betroffene Menschen können in diesem Prozess – sofern sie dies wünschen und annehmen – unterstützt werden, und die begleitenden Personen sollten nicht vergessen, dass auch sie Abschied nehmen müssen. Dabei soll man nicht „um den Brei herum“ reden, sondern über die aktuelle Realität. Dies bedingt einen direkten und ehrlichen Umgang, von beiden Seiten. So ist es durchaus möglich, dass ein durch die Aussicht auf einen späteren Besuch verharmloster Abschied nicht die gewünschte tröstende Wirkung hat, sondern als unpersönliche Floskel ausgelegt wird, und dass ein „harter“, definitiver Abschied („wir werden uns vielleicht nie mehr sehen, und ich danke Dir für die Zeit, die wir gemeinsam hatten“) sehr herzlich sein und gut tun kann. Gelungener Abschied kann auch neugierig und offen machen. Loslassen vom Bekannten, gibt die Chance eines Neuanfanges und den Freiraum für die Begegnung mit Neuem.

Literatur Porgess S (2001) The polyvagal theory: Phylogenetic substrates of a social nervous system. Intern. Journal of Psychophysiology 42:123–146

3 Übungen

Inhaltsverzeichnis

3.1 Hinweise und Bemerkungen für die praktische Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.2 Anleitungen zu den praktischen Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3.2.1 Voraussetzung für Beziehungsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3.2.2 Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3.2.3 Notfallsituationen: Zurückholen ins Hier und Jetzt . . . . . . . . . . . 97 3.2.4 Selbstschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

3.1 Hinweise und Bemerkungen für die praktische Arbeit Es ist natürlich möglich, die hier beschriebenen Grundprinzipien und Arbeitsweisen in einem vorgegebenen, auch therapeutischen Setting anzuwenden. Aber die grosse Bedeutung der Ressourcenarbeit liegt darin, dass sie nicht auf geschlossene Räume und „kranke“ KlientInnen angewiesen ist. Sie ist flexibel, alltagstauglich und hilft allen Menschen, ihr je eigenes Leben anzunehmen und zu bewältigen. Natürlich muss der Intervenierende sowohl den Rahmen als auch die Beziehung reflektieren und dem Gesprächspartner klar darstellen. Transparenz ist wichtig für beide Teile, wenn man eigenes Ausbrennen vermeiden und Enttäuschungen bei beiden verhindern will. Doch auch jenseits von Psychotherapie kann/soll Ressourcenarbeit von Peers jeglicher Art geleistet werden. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Perren-Klingler, Ressourcenarbeit in der Flüchtlingshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60471-7_3

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Denn gerade traumatisierte Personen befürchten dass sie  als  nicht „normal“ angesehen werden, wo doch ein Ereignis ausserhalb der Norm ihre aktuelle Not verursacht hat; sie tun sich  schwer damit, „psychologische“ oder „psycho-soziale“ Hilfe anzunehmen. Sie sind irritiert darüber, dass sie „so anders“ sind, als sie sich selber bisher kannten. Überdies haben MigrantInnen einerseits den Zugang zu traditionellen Heilungsritualen und Lebensbewältigung ihrer Kultur verloren, andererseits ist ihnen das Konzept der Psychotherapie fremd und sie erleben die in der Medizin verortete Psychiatrie noch als viel stigmatisierender als die Menschen bei uns. Helfer aus dem sozialen, kirchlichen oder pädagogischen und Freiwilligen-Bereich sollten sich deshalb an der jeweils realen Situation ­ orientieren und sich bewusst bleiben, dass ihre Aufgabe darin besteht, Prozesse zusammen mit den Betroffenen einzuleiten und weiter zu begleiten. Es sind Prozesse, in denen man Probleme zumindest auflistet und sauber darstellt, Voraussetzungen für Gespräche „darüber“ schafft, Ziele setzt und erreicht, und in denen Menschen (wieder) lernen, dass es neben dem Schlimmen auch schöne Momente gab, gibt und geben wird. Die Hemmschwelle, solche Hilfe anzunehmen sinkt, besonders wenn sie in bekannten oder informellen Settings – am Arbeitsplatz, beim Kaffee-Trinken etc. angeboten wird. Wie und in welchem Auftrag man an diese Aufgabe herangeht, hängt von den persönlichen Möglichkeiten im jeweils gegebenen Kontext ab. Der Auftrag, aber auch die Institution, in der man arbeitet, haben ihre eigenen Regeln, mit denen man in Frieden bleiben muss. Es gilt, gute Beziehungen mit Betroffenen aufzubauen und zu stärken. Diese können auch dann echt, nah und offen sein, wenn zeitweise „Hintergedanken“ oder andere Meinungen auftreten oder wenn man sich abgrenzt. Es geht darum, Sicherheit und Vertrauen zu schaffen, ohne sich (durch „Freundschaft“ oder „Leiden“ und die damit verbundenen Ansprüche) vereinnahmen oder „missbrauchen“ zu lassen. Eine solche Beziehung aufzubauen, ist nicht einfach und verlangt nicht nur Kreativität und Konsequenz, sondern unter anderem auch Mut und Geduld. Auch muss man es beispielsweise zulassen, wenn vorerst oder während längerer Zeit „nur“ Kaffee getrunken wird oder die äusseren Bedingungen nervös und hektisch sind: selbst eine intensive Arbeit erfordert nicht unbedingt eine ruhige und konzentrierte Atmosphäre. In jedem „gemütlichen“ Chaos lässt sich über einen guten Rapport Kontakt herstellen und dafür sorgen, dass es dem Gesprächspartner am Schluss ein klein wenig besser geht als zuvor. Dies ist wichtig und sollte auch dann erreicht werden, wenn das Gespräch sehr schwierig war. Konkret heisst dies, immer wieder eines der stets vorhandenen „Angebote“ aufzunehmen und in eine Ressource zu verwandeln: ein Lachen, ein guter Gedanke, eine schöne Erinnerung.

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Wenn im Gespräch von Positivem erzählt wird und dann ein „Aber“ folgt, kann/soll man einschreiten und zum vorherigen Thema und auf das Positive zurückzukehren. Denn es scheint zwar einfacher und naheliegender, über Negatives zu sprechen, das hat jedoch den Effekt, dass es anschliessend allen schlechter geht: die entstehende „negative“ Physiologie ist auch ansteckend. Wenn der Gesprächspartner primär über Leiden, Krankheiten oder als krankhaft wahrgenommene Reaktionen zu sprechen beginnt, (z. B. „ich schlafe schlecht“, „bin ich verrückt?“) oder zum ersten Mal seine Geschichte zu erzählen beginnt, muss man darauf eingehen und – mithilfe der kognitiven Sprache – auch nachfragen. Man kann sich z. B. auch für „die bösen Geister“ interessieren, denn sonst entsteht im Betroffenen das Gefühl, über „das Schlimme“ dürfe nicht gesprochen werden, wodurch die „Mauer des Schweigens“ weiter gebaut wird. Grundsätzlich soll man wichtige Hinweise, selbst „heikle“ Themen, durch weiteres kognitives Fragen aufgreifen und die Gesprächspartner auch mit Schwierigem konfrontieren. Denn sonst entsteht der Eindruck, dass über alles gesprochen wurde, nur über das „Schlimme“ nicht – und das Thema bleibt tabu. Die Kunst besteht also einerseits darin, behutsam an der Sicherheit zu arbeiten, mit kleinen an den jeweiligen Ressourcen orientierten Zielen, andererseits auch darin, bei Erzählen von Unangenehmem und Schrecklichem hinzuhören und linguistisch so zu führen, dass es ausgesprochen und mitgeteilt werden kann, ohne dass die so gefürchtete Überwältigung durch Stress und Gefühle auftritt. Dabei helfen Wissen und speziell gelernte Techniken. Tritt im Zuhörer ein ungutes Gefühl auf, so darf man auch kurz innehalten, aussteigen und/oder eine Metaposition einnehmen, um wieder positive Ressourcen aufzubauen. Kleine Pausen und Unterbrechungen (im Rapport oder im Gespräch) sind möglich und bewusst einzusetzen: z. B. „Lassen Sie mich einen Moment laut denken!“, „Lassen Sie mich kurz zusammenfassen.“. Dieses Arbeitsmittel wird gut akzeptiert, denn damit nimmt man den Gesprächspartner ernst und verschafft sich Luft, um das Gespräch unter Umständen wieder auf eine für alle „ökologische“ Ebene zu bringen. „Ökologie“ bedeutet hier, darauf zu achten, dass Dinge, die sich nicht ändern lassen, nicht nur beklagt, sondern angenommen werden und man anschliessend danach fragt, ob „etwas anderes“ im Hier und Jetzt denkbar ist. Dies heisst beispielsweise, hartnäckig und konsequent dafür zu sorgen, dass genügend kleine und realistische Ziele angesteuert werden. Dies gilt auch für Intervenierende, denn man soll sich nicht überfordern und erreicht schon viel, wenn die Person beginnt, sich mit ihrer aktuellen Realität auseinanderzusetzen, oder Konfliktpartner feststellen, dass beide ein Problem haben.

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Generell geht es darum, dass es nicht beim Gespräch über Dinge bleibt, sondern dass man konkret wird und Übungen einbaut (!). Auf die Frage „Was brauchen Sie?“ darf man sich nicht mit allgemeinen, unrealistischen Antworten zufriedengeben, sondern soll man so lange weiter eingrenzen, bis ein Ziel gefunden ist, das die betroffene Person tatsächlich anstreben und beeinflussen kann. Dieses unverzichtbare Vorgehen ist in der Praxis nicht einfach und verlangt viel Disziplin. Es nützt niemandem, die Augen vor unangenehmen Tatsachen zu schliessen und alle Lösungen nach Aussen, „an die Regierung“, „an die Politik“ usw. zu delegieren. Man soll den Gesprächspartner befähigen, sich mit sich und seinen eigenen Möglichkeiten zur Gestaltung von Gegenwart und Zukunft auseinanderzusetzen. Erneute Selbstermächtigung entsteht nur in kleinen Schritten; dabei zu helfen ist wohl die höchste Aufgabe von Peers und führt auch zur Wiederherstellung der Würde, eines grundlegenden Menschenrechts. Dazu muss auch die Vergangenheit aufgegriffen werden, wie sich aus den Grundlagen der Ressourcenarbeit von selbst versteht. Die entsprechenden Techniken und Übungen zeigen, wie dies ausgeführt wird. Wenn z. B. Trauer und/oder Tränen aufsteigen, soll man das als normal zulassen. Tränen sind erlaubt und können guttun. Hingegen müssen Flashbacks, Angstzustände oder Weinkrämpfe verhindert werden. Denn diese „vergiften“ die Seele und behindern jegliche Arbeit: wenn man Menschen ­psycho-sozial begleitet, darf man nicht zusätzliches Leid provozieren oder sie sogar r­ e-traumatisieren. Dabei hilft die präzise Beobachtung, um – über die Physiologie – frühzeitig, zu erkennen, wenn Gefahr besteht, und dann einzugreifen, z. B. mit der Aufforderung an den Gesprächspartner, nicht auf den Boden zu starren, sondern einen anzuschauen, mit der Atemübung oder einer kognitiven Frage. Sollte es dennoch geschehen, dass jemand „emotional abstürzt“, soll man sofort intervenieren und ihn zurückholen ins Hier und Jetzt und zu ruhiger und gleichmässiger Atmung führen. Dies erfordert viel Entschlossenheit und Autorität (s. dazu Übungen 4, 5, 15 usw.). Die hier beschriebenen Übungen sollen genaue Abläufe idealtypisch darstellen. Damit man sie sinnvoll anwenden kann, müssen sie vorher mit Kollegen geübt werden; es darf nicht vorkommen, dass man ein Setting vorbereitet, in dem man quasi das „Kochrezept“ anwendet, resp. sich von den geschriebenen Anweisungen, wie von einem Kochrezept leiten lässt. Damit würden sich die Spontaneität und Natürlichkeit der Interventionen verlieren und ein pseudo-therapeutisches Setting hergestellt. Jede Übung, trainiert man zuerst im ungefährlichen Kontext, bevor man sie mit Betroffenen anwendet. Am besten übt man in Arbeits- oder Übungsgruppen.

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In fast jeder Übung gibt es drei Positionen; alle sind wichtig, und sie alle einzunehmen lohnt sich, um zu erfahren, was man tut, wenn man so arbeitet, und wie es sich anfühlt. Deshalb wird auch gefordert, jede Übung dreimal durchzuspielen, damit jeder Teilnehmer jede Position kennen lernt. So wird bereits ein wenig Routine für den Ablauf des Prozesses gefunden. Position „A“ ist diejenige des Betroffenen, Klienten, Migranten, Flüchtlings usw. Position „B“ ist diejenige des Intervenierenden, Peers, „Flüchtlingshelfers“, Freiwilligen, Lehrers usw. Position „C“ ist diejenige des Beobachters, d.  h. desjenigen, der garantiert, dass die Übung richtig, wie beschrieben, durchgeführt wird. Er/ sie kontrolliert auch, ob B in Rapport zu A ist. Wird ein nicht adäquater Schritt beobachtet, soll sofort interveniert werden; man soll keine Kraft verlieren, indem man sich in Fehlern verausgabt. C ist auch verantwortlich für die Einhaltung der Zeitvorgabe, damit eine Übung nicht zu lange dauert.

3.2 Anleitungen zu den praktischen Übungen 3.2.1 Voraussetzung für Beziehungsaufnahme Übung 1: Rapportspiel Es gibt einen auditiven Rapport (Inhalt und analoge Anteile) und einen Rapport auf Körperebene. Der Rapport auf der Inhaltsebene ergibt sich dadurch, dass man auf den Betroffenen eingeht. Der Rapport auf der Körperebene kann direkt (beide sind in der gleichen Stellung, d. h. man spiegelt die Körperposition) oder gekreuzt sein (hält z. B. der eine die Beine parallel hat, hat der andere die Arme auch parallel z. B. auf dem Schoss, ohne sie zu kreuzen). Auch kann dieser Rapport statisch sein (d. h. spiegelbildlich resp. gleichzeitig) oder dynamisch (d. h. man folgt dem anderen oder man führt). In einem guten Rapport sein, bedeutet, dass man seinem Gegenüber auf auditiver und körperlicher Ebene folgt, dass man Bewegungen, Rhythmus, Tonfall usw. übernimmt. Man geht mit dem anderen „im Schritt“ („synchronisiert“). Sobald man das Gefühl von guter Synchronisation hat, kann das „Führen“ beginnen (z. B. das Tempo verlangsamen, eine andere Körperposition einnehmen). Wenn der andere folgt, weiss man, dass er offen ist für eine Botschaft oder die anstehende Arbeit. Ein guter Rapport ist denn auch wie ein Tanz, bei welchem man schliesslich nicht mehr weiss, wer führt und wer folgt. Der Kommunikator aber ist verantwortlich für die Richtung, die eingeschlagen wird. Diese hängt vom gemeinsamen Ziel ab. Es ist die unabdingbare Voraussetzung für jegliche weitere Arbeit.

94     G. Perren-Klingler Bemerkungen und Hinweise

Rapport herzustellen braucht Übung. Ein gutes Feld zum Training und zum Sammeln von Erfahrungen bildet der normale Alltag: z. B. Zugfahrten, Kaffeebegegnungen, an der Kasse des Supermarktes anstehen etc. In fast allen Situationen gibt es Gelegenheiten, um zu üben; dabei muss man in der Regel keine Bedenken haben, unangenehm aufzufallen, es wird nicht bemerkt. Ein weiterer wertvoller Zugang ist die Selbst-Beobachtung; denn in einem guten Gespräch ist man oft automatisch in gutem Rapport – und umgekehrt, in einem unguten fehlt der Rapport, hat einer der beiden Partner das Gegenüber oder man selbst den Rapport abgebrochen. In gutem Rapport zu sein, ist nicht spektakulär: es sind nicht die grossen Gesten, mit denen man sich auf den anderen einstellt, sondern eher die unauffälligen, leisen. Dabei spielen z. B. Rhythmen oder der Atem (sprechen, wenn das Gegenüber ausatmet) eine wichtige Rolle. Jeder Rapport kann auch gebrochen werden. Manchmal muss er auch abgebrochen werden, denn es kann wichtig sein, selber zwischendurch „Luft zu holen“. Das Ziel ist denn auch nicht, möglichst lange Zeit im Rapport zu sein, sondern diesen immer wieder und (dadurch) immer intensiver den Rapport „fraktioniert“ herzustellen.

Durchführung in Dreier- oder Vierergruppen

A ist „Klient“/B ist „Kommunikator“/C ist/sind „Beobachter“ A erzählt B etwas (z. B. was er gestern gemacht hat, oder wie er vorhin an den aktuellen Ort kam). B bemüht sich, einen guten Rapport herzustellen und lange genug dabei zu bleiben, bevor er dann zu führen beginnt. Wenn A innert 30 Sekunden folgt, klappte es und die Übung ist beendet Die C’s beobachten, auf welcher Körperebene A und B im Rapport sind und achten dabei auch auf Momente, wo diese es nicht merken. Rückmeldungen: zuerst von A und B, dann von C. Zeit pro Durchgang: 5 bis 10 Minuten

Übung 2: Genau beobachten (Kalibrieren) Der menschliche Körper und seine Physiologie (d. h. seine inneren körperlichen und emotionalen Zustände) reagieren auf und produzieren unsere Stimmungen. Die beobachtbaren Veränderungen in der Physiologie zeigen sich während des Geschehens, besonders im Gesicht, in der Durchblutung (obere Wangen, Lippen, Augenwinkel) und der Muskulatur (Tonus, wie Stirnrunzeln,

3 Übungen     95

Wangenfalten, Farbänderungen, Tiefe der Lachfalten im Augenwinkel, Hautspannungen). Auch der Augenglanz kann sich verändern. Somit sollte man mit seinem Blick am Gesicht des andern „kleben“, sodass man es keinen Moment aus den Augen verliert; sonst verpasst man die Veränderungen. All diese Veränderungen sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Deshalb ist es gefährlich, sie zu interpretieren und (vorschnelle) Schlüsse daraus zu ziehen. Wichtig ist, dass man diese kleinen Veränderungen wahrnimmt. Falls man nicht versteht, wo man sich in einem Prozess befindet, man also Informationen zur Bedeutung (d. h. zur jeweiligen Stimmung) benötigt, kann/muss man nachfragen. Die Betroffenen haben die passende, richtige Antwort! Bemerkungen und Hinweise

Guter Rapport ist Voraussetzung, genaues Beobachten der Veränderungen das Ziel dieser Übung. Zur Übungsanweisung siehe auch Übung: Ressourcen ankern. Oder: Um zu üben, die Wahrnehmung minimaler Veränderungen zu üben, kann man zuerst an eine angenehme Person denken lassen (aus dem Umfeld, keine „grosse Liebe“), danach an eine „unangenehme“ Person; (nicht „der Todfeind“). Auch an das Lieblingsfest oder eine gute Erinnerung kann man denken lassen – nicht sinnvoll ist es, eine unangenehme Erinnerung zu provozieren.

Durchführung in Dreier- oder Vierergruppen

A ist „Klient“/B ist „Kommunikator“/C ist/sind „Beobachter“ Rapport B sagt zu A: „Denken Sie an eine angenehme Person, (oder das Lieblingsfest oder eine gute Erinnerung), und erzählen Sie davon.“ Oder: „Welches ist für Sie das schönste Fest im Jahresablauf?“ A gibt dem Fest (der Person, der Erinnerung usw.) einen Namen und schildert B das Fest, indem A sinnesspezifisch davon erzählt, was es zu sehen, was es zu hören gibt, von den Gerüchen, den Geschmäcken und von seinen guten Gefühlen (VAKOG). (Dabei kann/muss B unterstützend und konkretisierend nachfragen). B und C beobachten die minimalen Veränderungen in der Physiologie des Gesichts. A ist abwesend. B und C sprechen darüber, was sie beobachtet haben: Austausch und Einigung über die beschreibbaren Veränderungen; mindesten drei

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d. h. „rosigere/bleichere Wangen“, „mehr/weniger Stirnfalten“, „grössere, vollere/feinere Ober- oder Unterlippe“, „glänzendere/mattere Augen“ usw. A kommt wieder zurück und denkt die Erinnerung nochmals durch (ohne Worte, evtl. mit geschlossenen Augen). Dabei kann das Zurückrufen des Namens helfen. B und C beobachten: Können die gleichen Veränderungen wieder bemerkt werden? Austausch der Erfahrungen. Zeit: pro Durchgang 5 bis 10 Minuten

3.2.2 Gesprächsführung Die tägliche Erfahrung und die Praxis in der Betreuung zeigen, dass wir stets in einem Dialog sind, in dem sowohl ausgetauscht als auch verhandelt wird. Ein Gespräch braucht im Grund immer die gleiche Struktur: sie ist im Diamantmodell einfach dargestellt. Übung 3: Diamantmodell Schritt 1: Feststellungen, Yes – Set Schritt 2: offenes Gespräch, mit Fragen und Antworten. Schritt 3: Konsequenzen aus Schritt 2 und deren Organisation, bzw. Umsetzung in der Realität draussen. Die drei Schritte müssen gewahrt bleiben, und sie sind wie ein Rapport auf der sprachlichen Ebene. Bemerkungen und Hinweise

Ein gutes Gespräch läuft automatisch so oder ähnlich ab; doch, wenn man das Modell vor Augen hat, verliert man den Faden nicht, auch wenn A nur klagt, oder die ganze Welt verändern will: Man kann immer wieder auf die anfänglich formulierten Feststellungen zurückkommen, wo man sich geeinigt hat (durch das Yes – Set). Diese Technik hat viel mit der Zielformulierung zu tun, und eine Zielformulierung, nach diesem Modell erarbeitet, ist effizient und elegant und Betroffene haben das Gefühl, dass man sie ernst nimmt. Man ist auch ganz auf sie eingegangen – auf eine äusserst einfache Weise und ohne jegliche Interpretation. Durchführung in Dreier – oder Vierergruppen:

A ist „Klient“/B ist „Kommunikator“/C ist/sind „Beobachter“ A möchte eine Arbeit finden. B setzt sich mit A in körperlichen Rapport und führt die Unterhaltung

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Schritt 1: „Yes – Set“ : Wozu sind Sie gekommen; geschlossene Fragen, die durch die Evidenz ein „Ja“ erhalten müssen: z. B. „Nun sind Sie da, um mit mir zu reden.“ „Sie haben mir am Telefon gesagt, dass Sie Arbeit finden möchten“. Es folgen mindestens drei weitere Statements – die nur zählen, wenn A „ja“ sagt oder nickt. Schritt 2: Zielformulierung: hier können offene Fragen gestellt werden. „Was ist das Problem?“ „Was stellen Sie Sich unter einer möglichen Arbeit vor?“ „Welche Vorstellung haben Sie Sich gemacht, was Sie finden könnten?“, „Wie könnten Sie vorgehen, um dazu zu kommen?“, „Was denken Sie dazu?“ etc. in dieser Phase wird „gearbeitet“, indem man Klärungen anstrebt, darüber was für A möglich ist, wie (nicht „ob“) er schon selber „etwas mit Arbeit“ gesucht hat, wie er sich das vorstellt usw., was er von B erwartet. Wenn das geklärt ist und A sich mit dem Procedere- einverstanden erklärt – mindestens teilweise -, folgt Schritt 3: Organisation: „Also, wenn ich Sie richtig verstanden habe, möchten Sie X und die erste Aktivität im Hinblick auf dieses Ziel ist folgendermassen aufgeteilt: Sie machen X1 („ja“) und X2(„ja“) Ich kümmere mich um Y („ja“); ich werde dazu Z machen, und Sie können mich in einer Woche wieder anrufen („ja“). Schluss der Sitzung, nur mit einer guten Physiologie von A. Zeit pro Durchgang 30 Minuten

3.2.3 Notfallsituationen: Zurückholen ins Hier und Jetzt Man muss sich klar sein, dass Menschen im Notfall und in Krisen kaum ansprechbar sind. Genau das Gleiche gilt, wenn Betroffene in Gesprächen aus irgendeinem Grund „abstürzen“, d. h. von Stress und Emotionen überrollt werden und diesen total hilflos ausgeliefert sind. Das beruht auf einem Fehler des Intervenierenden(er hat zu wenig genau kalibriert) und muss vermieden werden; denn es kann zu zu einer Retraumatisierung führen. Man muss also sehr schnell handeln und darf nur wenige Parameter benützen, um mit dem Menschen in Kontakt zu kommen. Es ist sinnlos, intelligent reden oder erklären zu wollen. Übung 4: Das STOP-Modell (nordamerikanisches Rotes Kreuz) Die vier Buchstaben STOP stehen für die vier wesentlichen Schritte, englisch, „Security“, „Talk“, „Organization“, „Peer/Parent“: („Sicherheit“, „Reden“, „Organisieren“, „Peer/Parent“ (d. h. kein Psychologe; bei Kindern die Eltern oder eine auch vertraute Person).

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1. Unter Sicherheit ist primär die äussere Sicherheit zu verstehen, z. B. Sicherheit vor dem Verkehr nach einem Autounfall, Sicherheit vor Wasser bei einer Überschwemmung, Sicherheit vor einem Täter,(), aber auch Sicherheit vor Neugierigen und Medien. Es geht hier auch um die Grundbedürfnisse, wie ein Dach über dem Kopf, Trinken und Essen. Für die betroffene Person geht es darum, die Stress Physiologie zu beruhigen Sicherheit bedeutet auch, dass man mit der Person an einem möglichst ruhigen Ort zu reden beginnt, und sie, wenn sie vom Stress geschüttelt wird, z. B. mit einer Atemübung beruhigt. 2. Talk – reden Konkret gilt es, die „6 A – Regeln“ zu beachten (Perren-Klingler 2015). Ansprechen (mit Feststellungen, sich vorstellen, usw.), mit fester, aber ruhiger Stimme. Anfassen darf erst als zweiter Schritt folgen und muss mit ruhiger, fester Hand geschehen, an Schulter, Oberarm oder Hand; (kein Streicheln!). Anschauen lassen: Blickkontakt fordern, der Sicherheit gibt; und solange jemand die Stirn des zugewandten Gegenübers ansieht, kann auch kein Flashback auftreten. Anhören, wenn jemand sprechen will, und „quittieren“ nach dem Motto: „Ich höre, dass es schwierig ist für Sie und Sie viel Stress haben; deswegen hilft bewusstes Atmen“ Atmen – die Atemübung ist ein Ziel des Modells. Aushalten, dass die Situation für die Person chaotisch und schwierig ist, sich aber bereits hin zu Ressourcen bewegt, wenn wir ruhig und bestimmt anwesend sind. Wir können nicht ändern, was passiert ist, so gerne wir es meist würden, hingegen können wir schon jetzt Ressourcen mobilisieren, die den Umgang mit dem Geschehen erleichtern. Talk wird primär so verstanden, dass man nach dem Diamantmodell vorgeht. Das Ende dieses Abschnittes führt bereits ins 3. Organisieren der nächsten anstehenden Schritte. 4. Peer/Parent, eigenes soziales Netz Dass es beim P keine Psychologen braucht, versteht sich von selbst, es kann der nicht betroffene Nachbar sein, der Feuerwehrmann usw. Dass bei Kindern eine ruhige, ihnen bekannte Person Wunder wirkt, ist wohl nicht hervorzuheben. Das macht auch klar, dass in Notsituationen Kinder, die niemanden haben, unbedingt von einer einzigen Person betreut werden müssen, und nicht von Hand zu Hand weitergegeben werden dürfen. Das vermindert ihre bereits prekäre Sicherheit dadurch, dass sie weiterhin eigentlich alleine gelassen werden.

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Durchführung in Dreier- oder Vierergruppen

A ist „Klient“/B ist „Kommunikator“/C ist/sind „Beobachter“ Diese Übung wird mindestens dreimal durchgespielt, indem im ersten Durchgang (1.), im zweiten (2.) und im dritten (3.) alle drei Möglichkeiten von Reaktionen in Krisen durchgespielt werden: 1. Übererregt, 2. Dissoziiert, 3. Weinerliches Klebeverhalten (Regression) Rapport. B richtet seine Aufmerksamkeit total auf A A hat sich eine Situation ausgedacht, und benimmt sich dementsprechend übererregt, (oder dissoziiert, oder mit weinerlichem Klebeverhalten). B interveniert nach dem STOP und Diamant Modell; sobald die Atemübung eingeführt ist, A ruhiger wird und die Organisation steht, ist die Übung beendet. Zeit pro Durchgang: 30 Minuten

Übung 5: Zurückholen ins Hier und Jetzt bei Auftreten von schwierigen Gefühlen (nach Yvonne Dolan) Eine andere Möglichkeit, im Notfall zu intervenieren ist das Modell von Yvonne Dolan: d. h. wenn man sieht, dass man den Menschen mit Worten nicht mehr erreichen kann, gilt es massiv einzuschreiten: Man steht (schnell) auf, packt den Menschen am/unter dem Arm, zieht ihn hoch, spricht laut und bestimmt und zieht ihn entschlossen an einen andern Ort im Raum: man befiehlt ihm, schnell 5 Dinge zu nennen, die er sieht: „schnell, schnell…“, drängend, dann 5 Dinge die er hört; dann 4 (andere) Dinge, die er sieht, hört; dann 3 usw. Helfen, wenn nötig, bis man merkt, dass die Person wieder ganz hier anwesend ist; dann kann man die Atemübung anschliessen, bis man sicher ist, dass die Person ruhiger und ungestresst ist; dann sollte man für diese Sitzung nur noch Ressourcenarbeit betreiben. Es ist eine Technik, in der man ausschliesslich eine kognitive Sprache benützt. Gleiches Übungssetting, wie im STOP Modell. Übung 6: Sinnesspezifisches Verbalisieren Wenn man mit einem Menschen für dessen psychische Gesundheit arbeiten will, kann man sich nicht damit begnügen, man wisse schon, was der andere meint, wenn er von „Angst“, „Freude“, „Schreck“ oder auch von „Freiheit“, „Pünktlichkeit“ oder „Vertrauen“ etc. spricht. Man muss genau nachfragen, was ihm diese oder andere Begriffe bedeuten, und dabei alle fünf Sinne berücksichtigen (VAKOG, Quitupel).

100     G. Perren-Klingler

Das Ziel der folgenden Übung ist, dass A durch passende Fragen dazu gebracht wird, genau zu formulieren, was ein bestimmtes Wort für ihn heisst resp. was er denkt und fühlt, wenn er dieses Wort gebraucht. Es geht jedoch nicht um intellektuelle oder philosophische Antworten, sondern um (innere) Bilder, Vorstellungen, innere Kommentare, (körperliche) Wahrnehmungen und Gefühle etc. Diese Technik ist auch nützlich bei der Suche nach Ressourcen. Dazu werden die Quintupel und die Submodalitäten benützt. Bemerkungen und Hinweise

Diese Übung lässt sich mit jedem abstrakten Begriff durchführen. Doch in einer ersten Phase muss man mit „ungefährlichen“ resp. allgemein als positiv anerkannten Wörtern arbeiten, wie z. B. Freiheit, Pünktlichkeit, Vertrauen usw. Nach Erarbeiten der sinnlichen Repräsentanzen des abstrakten Wortes lohnt es sich eine genaue Rückerzählung anzufügen – nicht eine Zusammenfassung-, nach dem Motto: „Habe ich Sie richtig verstanden? Bitte korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre“ : Dabei ist es wichtig, dass A korrigierend eingreift. Denn sehr häufig verstehen wir, was wir zu verstehen meinen oder wollen – und nicht das, was A eigentlich meint. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass die Bilder und Vorstellungen je nach Persönlichkeit und kulturellem Hintergrund sehr verschieden sind (so ist z. B. der Blick von einem Berg in die Landschaft als Vorstellung von Freiheit sehr schweizerisch). Warum-Fragen sind zu vermeiden, denn sie führen meist nur zu intellektuellen Antworten und Gefühlen, weil wir dahinter versteckte Werte mobilisieren. Besser ist es zu fragen, „Wie wissen Sie das?“, „Wie kommt Ihre Erkenntnis zustande?“ und daran anschliessend auf das jeweilige Sinnesorgan hinzuweisen: „Wie klingt das?“, „Wie riecht das?“ etc.

Durchführung in Dreier- oder Vierergruppen

A ist „Klient“/B ist „Kommunikator“/C ist/sind „Beobachter“ Rapport In einem lockeren Gespräch fragt B den A: Was ist für Sie „Freiheit“? A soll nun sehr spezifisch erläutern, was er/sie persönlich darunter versteht, ungefähr nach dem Motto: Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Freiheit denken? Hier wird eine sehr spezifische Antwort kommen: Bilder oder Klänge, Gefühl oder sogar ein Geruch, man sucht Präzisierungen für alle fünf Sinne; Hat A genau beschrieben, was er sich denkt, kann man auch vertieft nachfragen anhand der Submodalitäten:

3 Übungen     101

Gibt es Farben in Ihrem Bild? Gibt es viel oder wenig Licht? Gibt es Bewegung, d. h. ist es wie ein Film, oder ist es unbewegt, d. h. wie eine Postkarte? Wie ist die Schärfe etc. (d. h. Submodalitäten); Was gibt es zu hören, was riechen, schmecken und was spüren Sie? B gibt eine genaue Nacherzählung dessen, was er gehört hat: „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, bitte korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre…“ ist für Sie Freiheit: wenn Sie …. (genaues Wiederholen, A korrigiert) Zeit pro Durchgang: 10 Minuten

Übung 7: Zielformulierung In jedem Gespräch muss man ein Ziel formulieren: was müssen wir erreichen, damit Sie zufrieden weggehen? Man muss sich auch im Klaren darüber sein, was man selbst bezweckt, doch das sollte man vorher bereits geklärt haben. Das Ziel muss nach den folgenden vier verschiedenen Kriterien formuliert werden: • • • •

Positive Sprache Sinnesspezifisch formulieren „Ökologie“ respektieren d. h. eigene und systemische Werte berücksichtigen Erreichbarkeit des Ziels durch A selbst, Machbarkeit

Bemerkungen und Hinweise

Für uns kann das Ziel z. B. sein „in 50 min geht X mit einem Quäntchen Hoffnung mehr weg, als er herkam; ich sehe das an seiner Gesichtsphysiologie, höre es an seiner Stimme und sehe es an seinen Bewegungen“. Denn durch die Ressourcenarbeit mobilisiert man eine bestimmte Physiologie (z. B. von Sicherheit, Vertrauen, Kompetenz), die man dann in verschiedenen Situationen mittels Anker benützen kann. Ausgangspunkt bilden eine vom Klienten erwünschte Situation resp. die von ihm für ein bestimmtes Problem benötigten Ressourcen; etwa: „Ich möchte ruhig bleiben, wenn meine Kinder Streit haben“, „ich möchte die Kraft und den Mut haben, um meinem Betreuer zu sagen, dass ich mich ungerecht behandelt fühle“. Die Zielformulierung und das Finden der benötigten Ressourcen aus As Vergangenheit ist wichtig. Damit begreift man, was genau verändert werden sollte und kann man A dazu motivieren den ersten Schritt in die gewünschte Richtung selbst zu tun. Dieses Gespräch hilft auch herauszufinden, auf welche Sinne und

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Submodalitäten A anspricht und reagiert. So vorbereitet, überfordert man weder A noch sich selbst und verhindert man, dass man in „Fallen“ tritt und z. B. Situationen ankert, die nicht positiv oder ambivalent waren. Durchführung in Dreier- oder Vierergruppen

A ist „Klient“/B ist „Kommunikator“/C ist/sind „Beobachter“ Rapport A formuliert im Gespräch mit B sein Problem und dafür ein spezifisches Ziel nach den vier Kriterien. Gemeinsam mit B definiert A, welche Ressourcen er/sie benötigt: Nun wird eine Situation im Leben von A gesucht, in welcher er diese Eigenschaft (Ressource) sehr stark „gelebt“ oder gespürt hat. (z. B. „Mut“ ; Frage: „wann haben Sie das letzte Mal so richtig Mut gespürt?“), Weiterfahren mit der Aktivierung der Sinnesrepräsentanz von „Mut“, s. Ressourcenübung, Nr. 8 Zeit: pro Durchgang 30 bis 45 Minuten

Übungen zur kognitiven Sprache Da sich die kognitive Gesprächsführung in sehr vielen Situationen bewährt, lohnt es sich, sie so zu trainieren, dass sie sich – bei Bedarf! – automatisch einstellt. Dann müssen die entsprechenden Fragen nicht gesucht werden und genügend Aufmerksamkeit für einen guten Rapport und die Kalibration steht zur Verfügung. Man kann kognitiv arbeiten, um eine stärkere Assoziation an eine Ressourcenerfahrung zu erreichen; man kann aber auch kognitiv arbeiten, um eine Dissoziation aufrecht zu erhalten.   Bei der Aktivierung von Resourcen müssen alle Sinneskanäle und Submodalitäten aktiviert werden, während für die Dissoziation nur sehen und hören als Sinneskanal benützt werden dürfen. Übung 8: Kognitiv Ressourcen aktivieren Bei der Aktivierung von Ressourcen müssen alle Sinneskanäle und sämtliche Submodalitäten aktiviert werden, während für Dissoziation nur das Sehen und Hören, nicht aber Spüren, Empfinden, Riechen und Schmecken abgefragt werden dürfen. Selbstverständlich soll man am Ende dieser Arbeit auch noch auf die Gefühle eingehen, so nach dem Motto: „und wie würden Sie dieses gute Gefühl (die Physiologie verrät es) nennen? Und wo spüren Sie es? usw.“

3 Übungen     103

Durchführung in Dreier- oder Vierergruppen

A ist „Klient“/B ist „Kommunikator“/C ist/sind „Beobachter“ Rapport + Kalibration B fragt A nach einem Fest und wie es sich abspielt. B berücksichtigt dabei die kognitive Sprache mit allen 5 Sinnen und mit den Submodalitäten und fragt aktiv danach. B lässt sich die Dinge genau schildern, mit vielen sinnes-spezifischen Zwischenfragen; hat er alle fünf Sinne mit den Submodalitäten abgefragt, so gibt er eine genaue Nacherzählung, möglichst in den gleichen, von A benützten Worten und bittet um Korrektur, falls er etwas falsch beschreibt. Zeit pro Durchgang: 15 Minuten

Übung 9: Kognitiv Emotionen und Werte besprechen Unangenehme Gefühle oder auch „funktionelle“ Schmerzen (d.  h. Schmerzen, die nicht auf einem geschädigten Organ, resp. Gewebe beruhen) belasten und werden gerne wenn irgend möglich weggeschoben. Sie haben aber immer auch eine Funktion, d. h. drücken etwas darüber aus, was im Menschen gerade vorgeht, sind also wichtige Zeichen. Nimmt man diese ernst, lohnt es sich im Gespräch darauf zu achten, nachzufragen, den Partner damit zu konfrontieren. Meist verändern sich diese Zeichen schon dadurch allein. Wird ein Mensch mit seinem unangenehmen Gefühl konfrontiert und erarbeitet es präzise, so erkennt er den zugrunde liegenden verletzten Wert und das so geklärte Gefühl kann abflauen. Damit hat man ein Reframing erreicht, indem die Aufmerksamkeit vom unguten (unangenehmen) Gefühl abgewandt ist und sich auf den dahinter liegenden Wert konzentriert, was automatisch – und ohne willentliches Dazutun- ein gutes Gefühl vermittelt und damit die Physiologie zum Angenehmen verändert. Wenn der richtige Wert gefunden ist und der Person entspricht, entsteht eine „Versöhnungsphysiologie“, und man sieht eine dreifache Kongruenz. DREIFACHE KONGRUENZ: Eine echte kongruente, in sich stimmige Antwort wird folgendermassen beobachtet: Man erhält ein „doppeltes Ja“, sprachlich und mit Bejahungsbewegung des Körpers. Dann entsteht eine minimale Pause, und danach folgt eine Meta – Antwort, z. B. ein Lächeln, ein Seufzer, ein massiveres linguistisches oder körperliches Bejahungszeichen, wie das Wort „genau“, eine grosse Bewegung usw.

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Diese Übung kann man ausführen, wenn Menschen über ein ungutes Gefühl klagen, aber auch, nachdem man etwas kognitiv erarbeitet hat. Wichtig ist, zu akzeptieren, dass transkulturell verschiedene verletzte Werte ungute Gefühle hervorrufen. Deswegen soll man unbedingt lange genug nachfragen, bis A seinen eigenen Wert gefunden hat. Die Übung hat zwei wichtige Effekte:

• A fühlt sich ernst genommen und in der Lage, sein eigenes Gefühl zu würdigen und anzunehmen; das senkt bereits den Stress. • A wird sich klar, dass hinter dem unangenehmen Gefühl ein Wert steht. Indem man ihn benennt und als wichtig hervorhebt, ist der Wert wieder respektiert und aufgerichtet. Eine wesentliche Voraussetzung ist jedoch, dass man sich enthält, zu interpretieren oder eigene Werte einzugeben. Durchführung in Dreier- oder Vierergruppen

A ist „Klient“/B ist „Kommunikator“/C ist/sind „Beobachter“ Rapport Um bei der vorigen Übung zu bleiben, fragt man nun weiter nach den kinästhetischen Submodalitäten; sobald man eine Antwort erhält, stellt man schnell die nächste Frage, damit A nicht im unangenehmen Gefühl versinkt oder sich dissoziiert. Man redet nur noch von „es“, benennt das Gefühl nicht mehr. Sie spüren Ärger; wo in Ihrem Körper? Ist es drin oder wie von aussen kommend? Ist es wärmer oder kälter als der Rest des Körpers? Ist es ruhig oder bewegt? Wenn bewegt, an Ort und Stelle oder wandernd? Wie ist seine Oberfläche? Wie ist seine Konsistenz? Ist es schwer oder leicht? Zieht es nach oben oder unten? Nacherzählung: „und dieses Gefühl, das Sie folgendermassen spüren: (Wiederholung sämtlicher Submodalitäten), wie nennen Sie das? Manchmal sagen es die Leute sofort heraus, manchmal suchen sie nach dem genauen Gefühlsnamen; beides ist OK. Fremdsprachige müssen das Gefühl unbedingt in ihrer Muttersprache bezeichnen; B muss kalibrieren, ob die Person sich kongruent einverstanden verhält. Dann stellt man die Frage „Warum?“ auf der Suche nach dem dahinter verborgenen Wert: „Warum dieses Gefühl?“ ;

3 Übungen     105

„Und warum ist es wichtig?“ ; „Und warum ist es wichtig für Sie?“ ; „Und warum ist es so wichtig für Sie?“ „Und was ist dabei so wichtig?“ Man muss zusammen suchen, bis A seinen Wert findet; wenn man Vorschläge macht, darf man nur eine Auswahl anbieten, keine „ja“, „nein“ – Angebote. Man kann das Gefühl verstärken, dadurch, dass man es nochmals benennt und normalisiert durch die Einführung des gefundenen Wertes: „Und dieses X (Gefühl) ist völlig normal und natürlich, weil für Sie Y – der Wert – so wichtig ist.“ Zeit: pro Durchgang: 30 Minuten

Übung 10: Bi-kulturell Werte suchen Die folgende Übung ist eine Anregung, wie sich bi-kulturelle Lebenssituationen thematisieren lassen. Sie bezweckt, „eigene“ Werte zu stärken, „fremde“ kennenzulernen und davon ausgehend nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Weitere Ziele sind dabei das beidseitige Formulieren von emotional besetzten Begriffen und – zumindest indirekt – die Erkenntnis, dass es häufig um „Ähnliches“ geht. Die Übung ist für kulturell gemischte Gruppen konzipiert und muss in der konkreten Durchführung an die jeweilige Situation angepasst werden. Besonders geeignet ist sie z. B. in scheinbar unlösbaren Konflikten oder Erziehungsfragen und in der Arbeit mit Jugendlichen, wo die Bi-Kulturalität Werte und Rollen speziell infrage stellt. Es ist meist hilfreich, sich darüber geordnet zu äussern, Missverständnisse und Vorurteile zu besänftigen, was eine gute Physiologie gibt. Durchführung in kleineren oder grösseren Gruppen:

das Thema ist vorgegeben: „Gute Erziehung“, „Pünktlichkeit“, „Anstand zwischen den Geschlechtern“, „Gerechtigkeit“.

In kleinen, kulturell möglichst homogenen Gruppen wird gemeinsam nach fünf Werten gesucht, die in Bezug auf ein Thema allen wichtig sind. Jede Gruppe einigt sich darauf, was sie jeweils darunter genau versteht (s. dazu auch Übung 6). Die Einstiegsfrage ist: „Was ist uns wichtig in der Erziehung?“ ODER „Warum ist Erziehung wichtig?“ ODER „Was ist wichtig im Umgang zwischen den Geschlechtern, und warum?“ Die Werte der einzelnen Gruppen werden zusammengetragen, ausgetauscht und erläutert: worin besteht jeweils die Bedeutung für uns und wie ist der betreffende Wert mit der entsprechenden Kultur verbunden.

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Was unter einem Wert verstanden wird, kann mit dem Beschreiben der Modalitäten und Submodalitäten erreicht werden. Gemeinsam sucht man nun nach übergreifenden Werten (oder Kombinationen), die für beide resp. alle Kulturen gelten, und zu denen wir alle stehen können. Wiederum wird geklärt, was wir darunter verstehen. Bemerkungen und Hinweise

Die Übungsanweisung ist bewusst relativ vage gehalten. Sie bietet nur ein Gerüst, woran man sich orientieren kann, und ist lediglich ein Vorschlag, wie man die Übung zum sinnesspezifischen Verbalisieren in einer gemischten Gruppe konstruktiv umsetzen kann.

Übung 11: Verhandeln Entsteht ein Konflikt zwischen zwei Gruppen, so ist es wichtig, dass er nicht eskaliert, besonders wenn die Menschen relativ dicht beieinander leben müssen. Die folgende Übung beschreibt den idealtypischen Ablauf in einer Situation, wo wir als vermittelnde Drittpartei anwesend sind. Die dabei angewandten Prinzipien lassen sich auch übertragen auf Konflikte, in denen wir selbst involviert sind. Damit das Ziel der ersten Phase erreicht wird, muss der Intervenierende (C) ruhig und flexibel sein (Selbstanker) und das Gespräch aktiv führen. Sie ist abgeschlossen, wenn A bestätigt, dass B As Anliegen verstanden und sinngemäss korrekt formuliert hat – und umgekehrt. Das stellt ein vielfach bewährtes Arbeitsprinzip dar, da es alle ernst nimmt, das Gespräch versachlicht und Voraussetzungen schafft, sich dem Partner zu öffnen und ihm zuzuhören. Wichtige Grundsätze aus anderen Übungen sind zu beachten: Rapport (Übung 1), Kalibrieren (Übung  2), Sinnesspezifisch Verbalisieren (Übung 6), Zielformulierung für die jeweilige Partei (Übung 7), Kognitiv Erzählen lassen (Übung 8). Die Methode und das Ziel der Übung besteht darin, zwischen A und B eine gewisse Beziehung aufzubauen, (kleine) Veränderungen zu bemerken, genügend kleine und realistische Ziele zu stecken und primär sinnspezifisch und kognitiv – und nicht emotional – zu argumentieren. Es vereinfacht häufig, die Absicht hinter dem Ziel („ Wozu? “) zu suchen, mit dem dahinter verborgenen Wert. Dann lassen sich Alternativen finden, um der gleichen Absicht und dem dahinter verborgenen Wert, dem man treu bleiben will, gerecht zu werden.

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Bemerkungen und Hinweise

Die letzte Phase der Übung (gemeinsames Erarbeiten der Unterschiede, resp. Einigung auf Ziel) ist auch dann durchzuführen, wenn die vorangehenden Schritte nur teilweise oder gar nicht geglückt sind, denn sie schlägt eine Brücke in die Zukunft Durchführung in Dreier-, Vierer- oder grösseren Gruppen

A ist „Klient“/B ist „Kommunikator“/C ist/sind „Beobachter“ Rapport A und B schildern kurz die je eigene Position und geben bekannt, welches Ziel sie haben; jedeR spricht für sich. Keine Vorwürfe, keine Anschuldigungen. C sorgt dafür, dass diese durch die Gegenpartei so wiedergegeben werden, dass sich sowohl A als auch B angehört fühlen. A und B geben bekannt, welche (positiven) Absichten sie dabei verfolgen. C fordert die Gegenparteien auf, diese Ziele so wiederzugeben, dass sich A und B angehört fühlen und die andere Position verständlich, nachvollziehbar und minimal akzeptierbar ist. Beide Parteien geben bekannt, welche (positiven) Absichten sie mit ihrem Ziel haben. A, B und C suchen gemeinsam, ob (und wie) sich diese Absichten auch anders oder durch andere Ziele erreichen lassen, sodass sie von der Gegenpartei besser akzeptiert oder gar unterstützt werden können. A, B und C erarbeiten die Gemeinsamkeiten und Unterschiede, resp. einigen sich darüber, wo sie sich einig und wo uneinig sind. Erarbeiten eines – noch so kleinen – gemeinsamen Ziels oder eines Kompromisses. Sie beschreiben gemeinsam, was alle konkret dazu beitragen können. Planen der Kontrolle und der nächsten Schritte. A ist „Klient“/B ist „Kommunikator“/C ist/sind „Beobachter“ Zeit: pro Durchgang 30 bis 45 Minuten

Übung 12: Salutogenetische Redewendungen (Genoni-Perren) In der salutogenetischen Redewendung wird eine wichtige, schwierige Wahrheit, die gerne verschwiegen würde, ausgesprochen und gleichzeitig erträglich gemacht, durch Öffnung der Lähmung auf eine Handlungsmöglichkeit. Man muss sie viele Male geübt haben, im Kleinen, um dann auch ein schwereres Ereignis so zu bearbeiten.

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Das Aussprechen der gefürchteten Wahrheit macht den Empfänger hilflos, stresst und dissoziiert ihn („das kann nicht wahr sein“) und kann potenziell sehr traumatisch sein. Deswegen ist der zweite Teil so wichtig, weil er den Menschen sofort wieder in seiner Umgebung verortet und mit seinen Ressourcen verbindet, auch wenn der Schmerz ihn durchschüttelt und er sich am liebsten verkriechen oder sogar sterben würde. Der zweite Teil des Satzes muss etwas enthalten, was der Person wichtig ist und was sie in der Realität einfach tun kann, weil sie es schon immer getan hat. Diese Redewendungen können individuell oder auch in Gruppen benützt werden. Über die Eleganz und Natürlichkeit bei Könnern ist bereits im vorigen Kapitel berichtet worden. Z. B.: „Es ist wahr, dass Klassenkamerad X bei diesem Verkehrsunfall zu Tode gekommen ist, und es ist auch wahr, dass wir für die Beerdigung eine schöne Ehrung an ihn vorbereiten können“. „Es ist wahr, dass der Vater von X sich umgebracht hat, und es ist auch wahr, dass wir X nun in den nächsten Tagen besonders unterstützen werden, indem wir Y machen.“ „Es ist wahr, dass du aus dem Krieg hast fliehen müssen, und es ist ebenso wahr, dass du nun hier die Gelegenheit, Deutsch zu lernen, ab morgen täglich ergreifen kannst.“ „Es ist wahr, dass du dein Kind bei der Überfahrt über das Mittelmehr verloren hast, und es ist ebenfalls wahr, dass du hier mit deinen drei Kindern einen täglichen Spaziergang für ihre Gesundheit machen kannst.“ Nach all diesen Sätzen bespricht man die Organisation der vorgscschlagenen Aktion (Ehrung oder Unterstützung) für die nächsten Tage, nach dem Motto: „wer macht was?“ unter Einschluss aller Klassenkameraden oder der Mutter, indem man ihr Wege zeigt, wo sie mit den Kindern spazieren gehen kann. Es ist unabdingbar, dass man die beiden Aussagen mit „und“ verbindet, und keinesfalls mit „aber“ ; sonst ist der ganze Effekt verpufft. Das heisst also, Üben ist die Voraussetzung für die heilende Verwendung der salutogenetischen Redewendungen.

Durchführung in Dreier- oder Vierergruppen

A ist „Klient“/B ist „Kommunikator“/C ist/sind „Beobachter“ Rapport. B richtet seine Aufmerksamkeit ganz auf A Der erste Teil des Satzes lautet: „ES IST WAHR, dass X passiert ist“ PAUSE „UND es ist AUCH (ebenso) wahr, dass du Y TUN KANNST“ Zeit pro Durchgang: 20 Minuten

3 Übungen     109

3.2.4 Selbstschutz Alle Menschen brauchen Kraft und Energie, um ihr Leben zu bewältigen. Dies ist umso mehr der Fall, wenn man mit Überlebenden von hohem Stress oder Migrierten arbeitet. Das viele Schlimme, das man dabei manchmal anhören muss, kann einen treffen, bis hin zur stellvertretenden Traumatisierung. Um dies zu vermeiden, muss man lernen, sich selber zu schützen. Menschen, die einem über potenziell traumatische Erfahrungen berichten, haben die Fähigkeit, den Zuhörer in ihre eigene negative Trance, einen negativen Bann, hineinzuziehen, wovor man sich hüten muss. Neben einer möglichst ausgeglichenen Lebensweise, tragfähigem sozialem Netz, Sport, gesundem Essen, wenig Alkohol, Weiterbildung im Beruf und Supervision, gibt es spezifische Möglichkeiten, sich zu schützen und so vor dem Ausbrennen zu bewahren. Übung 13: Effizienter Selbstschutz in der Arbeit Um sich effizient zu schützen, kann man folgende einfache Techniken/Tricks anwenden: a. Körpertonus gespannt: wenn man gerade sitzt und den Körpertonus erhöht, wie z. B. bei Entschlossenheit oder Stolz, wird man von der Geschichte weniger überrollt. Dazu hilft natürlich auch regelmässig betriebener Sport, weil so der Tonus gefestigt wird. b. Blick nicht in die Augen, sondern auf die Augenbrauen des Betroffenen. Richtet man den Blick hingegen auf das „dritte Auge“, auf die Stirn, bemerken Betroffene die leichte Konvergenz der Augen des Intervenierenden. Den Fokus auf seine Augenbrauen nimmt der Betroffene nur wahr, wenn der Intervenierende mitten im Gespräch seine Augen darauf hebt; um dies zu umgehen, sieht man kurz weg oder schliesst die Augen, um dann direkt die Augenbrauen zu fixieren. c. Linguistische Tricks: Vergangenheit in der Sprache retablieren: Wenn Betroffene über ein Geschehen in der Gegenwart zu reden beginnen und es so dramatisieren, soll man mindestens einmal nach dem Zeitpunkt fragen, wann das genau war, und sie so mit der Sprache in die Vergangenheit zurückführen; nützt das nichts, so muss man selbst innerlich unbedingt die Vergangenheit einführen: „ Es war x y “ ; oder man addiert innerlich „gewesen“.

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„Für Sie (Dich) anfügen“: Wenn Betroffene über „schrecklich“ reden, muss man innerlich „für Sie“ (oder „für Dich“) anfügen; wenn man diese Distanz nicht herstellt, bleibt man selbst im „Schrecken“. d. Beobachtungsgesteuerte Tricks: Jedes Mal, wenn man die Lage seines Gesprächspartners interpretiert und mit einem Gefühl verbindet (sich empathisch einfühlen), mobilisiert man in sich bereits einen Teil dieses Gefühls. Davor sollte man sich schützen, indem man das Beobachtete beschreibt und eventuell nachfragt: „diese Tränen, was sagen sie?“; oder sich selber kommentiert: „Jetzt wird sein Gesicht rosiger (oder bleicher), die Muskeln spannen sich etc. und nachfragt: „Was ist eben passiert?“ oder, anders ausgedrückt, man beobachtet das Gesicht des andern und beschreibt es, ohne Gefühle hinein zu interpretieren. Sobald man merkt, dass man seine Aufmerksamkeit vom Gesprächspartner abzieht und in sich selber hineinverlagert (Gefühle treten auf!), muss die Alarmglocke läuten: wenn man das geschehen lässt, wird man von den Gefühlen des Gesprächspartners kontaminiert und eventuell auch (sekundär) traumatisiert. Durchführung in Dreier- oder Vierergruppen

A ist „Klient“/B ist „Kommunikator“/C ist/sind „Beobachter“ Rapport A erzählt B eine „schreckliche“ Geschichte, benützt viele emotionale Wörter, („schlimm“, „schrecklich“, „furchtbar“, „unerträglich“, „hilflos“ usw.) B hört zu, fragt kognitiv nach und wendet die Techniken an. Zeit pro Durchgang: 20 Minuten

Übung 14: Powerübung (nach Ursula Müller) Durchführung in kleineren oder grösseren Gruppen mit folgender Instruktion: Wir sitzen im Kreis. Gerade Haltung. Keine Störungen. Ruhiger Atem. (vgl. Atemübung – Übung 8) Beine ausstrecken. Das rechte Bein über das linke schlagen. Arme ausstrecken. Den linken Arm über den rechten schlagen. Die Hände falten und nach unten vor die Brust zurückziehen. (Wir haben die Hände gefaltet, aber mit gekreuzten Armen.) Wir sind wie eingebettet im Dotter des Eis. Um uns ist das Eiweiss. Und ganz aussen ist eine dünne Schale, die uns vor allem schützt. Unsere Umgebung um uns ist in Farben, die uns gefallen und in denen

3 Übungen     111

wir uns wohlfühlen. Es riecht sehr vertraut und angenehm. Über die Füsse sind wir mit „draussen“ verbunden. Sie nehmen die Wärme der Sonne auf und leiten sie zu uns. Es ist uns warm. und wir sind sicher für den Abschluss ändert der Instruktor die Stimme (lauter, fester): Wir öffnen die Hände wieder, nehmen die Beine zurück, machen die Augen auf und fassen die Hände unserer Nachbarn. Wir stehen auf und singen ein gemeinsames Lied. Langsam übernehmen unsere Bewegungen den Rhythmus. Wir tanzen … Zeit der Gruppenübung: 20 bis 30 Minuten

WAHRNEHMUNGSPOSITIONEN (Gutes assoziativ erleben und Schlechtes dissoziativ wahrnehmen) A. ASSOZIATIVE TECHNIKEN, KÖRPERBEZOGENE RESSOUR­ CENARBEIT Ressourcenarbeit erfordert als Vorbedingung, dass beide Beteiligten eine gewisse innere Ruhe finden und sich im aktuellen Hier und Jetzt orientieren. Das wird am direktesten erreicht durch die Atmung oder/und eine andere assoziative Übung. Wenn der Mensch assoziiert ist, erlebt er mit allen Sinnen, sei es die Aussenwelt, sei es, die Innenwelt in der Erinnerung. Die Kunst im Leben besteht darin, dass man Gutes assoziiert erlebt und Schlechtes, Beängstigendes (potenziell traumatische oder hohen Stress erzeugende Ereignisse) dissoziiert angeht. Ressourcenarbeit ist immer Arbeit mit Assoziation, d. h. Will man eine Ressource aktivieren, sodass sich die Physiologie des Betroffenen verbessert, so muss man assoziiert arbeiten. Verschiedene Ressourcen, resp. die dadurch aktualisierte Physiologie lassen sich erarbeiten: Man kann sie dann ankern und dem Betroffenen als Selbstanker für bestimmte Situationen mitgeben. So erarbeitet man z. B. die Physiologie der Konzentration mit Kindern am einfachsten, wenn sie an ihr Lieblingsspiel denken und man sie quintupelt und ihnen dann einen Anker für die Situation x in der Schule gibt. Wichtig ist, dass die Physiologie dem Bedarf in der jeweiligen Situation entspricht: z. B. im Sprachdiktat benötigt das Kind eine andere Physiologie (hören, sich wiederholen oder visualisieren, je nach Orthografie der Sprache), als in einer Mathematikprüfung (Perren-Klingler und Zwissig 1993).

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Übung 15: Atemübung Diese Übung muss man zuerst für sich selbst erlernen. Beherrscht man sie und findet dadurch Ruhe, so kann man sie vor einer spezifischen Arbeit auch mit andern anwenden. Zudem ist es möglich, sich selbst einen Atem- oder Ruheanker zu setzen. Der Erfolg lässt sich an der Beruhigung des Pulses (weniger als 60 Schläge pro Minute) oder an den Fingerspitzen: (warm und trocken) kontrollieren, d. h. die Physiologie ist „entstresst“, resp. angenehm. Bei dieser Atmung wird fast ausschliesslich mit dem Brustkorb (Thorax) geatmet (Polyvagaltheorie). Bringt man die Atemübung anderen Menschen bei, so muss man führen durch Erklärungen, durch Vorzählen (von 1 bis 5 zum Einatmen und von 5 bis 1 zum Ausatmen), durch Vor-Atmen etc. Je nach Situation soll man einen Rhythmus direkt vorgeben oder zuerst denjenigen des anderen annehmen und davon ausgehend verlangsamen. (s. dazu Übung 1: Rapport, kalibrieren und dann führen.) Andere Formen der Hilfen in der Atemübung sind das Bewegen der Arme (Heben mit der Einatmung, Senken mit der Ausatmung), das Herumgehen in einem bestimmten Schrittrhythmus – oder auch „unbemerkte“ Übungsformen beim Singen, Sport, Tanzen, Rennen, bei der Massage, etc. Es liegt an der Kreativität von B, den einfachsten, und für A am besten annehmbaren Weg zu finden. (Der Rhythmus von Kindern und sehr alten Menschen kann etwas schneller sein.) Mit anderen Menschen zu atmen ist auch eine Möglichkeit der Krisenintervention. Denn es ist der schnellste Weg, um übererregte Menschen zu sich finden zu lassen. Die betroffene Person muss dazu sitzen oder stehen und sich möglichst gerade halten. Traumatisierte Menschen oder Angstpatienten dürfen nicht „versinken“, vor allem nicht in einer Entspannungsübung!! Die Instruktionen müssen zudem anfänglich in ebenso „erregter“, resp. aktiver Stimme gegeben werden, wie A sie benützt (Rapport), und erst wenn dieser zu folgen beginnt, kann man die Stimme – und den Befehlston – mit dem Verlangsamen der Atemfrequenz – auch senken. Bemerkungen und Hinweise

Wenn Betroffene durch die Übung erfahren haben, wie sie sich durch die Atmung beruhigen können, motiviert man sie dazu, dies zu Hause zu üben. Durch mindestens zweimaliges Kontrollieren, muss man sich aber vergewissern, dass die Übung verstanden wurde und richtig angewendet wird. Auch soll erarbeitet werden, wie und wann das „zweimal pro Tag während 15–20 Minuten“ organisiert wird. „Wann machen Sie es am Morgen? Vor oder nach dem Duschen? Vor oder nach dem Frühstück? Nachdem die Kinder aus dem Haus sind?“ usw.

3 Übungen     113

„Wann machen Sie es am Abend? Bevor die Kinder aus der Schule heimkommen? Vor oder nach dem Nachtessen? Kurz vor dem zu Bett gehen?“ Den Menschen, die Panikattacken, Angstzuständen oder Flashbacks – Zeichen von sehr hohem Stress – verspricht man, dass sie schon nach einer Woche genauen Übens einen Unterschied wahrnehmen, und dass mit der Zeit die Frequenz und Intensität dieser unkontrollierbaren schlechten Zustände abnehmen. Allerdings besteht die Gefahr von vermehrten Flashbacks und Angstzuständen wenn die Menschen, vor allem hoch motivierte, die Atemübung nicht genau genug ausführen und fleissig hyperventilieren.

Durchführung in Dreier- oder Vierergruppen

A ist „Klient“/B ist „Kommunikator“/C ist/sind „Beobachter“ Rapport B führt A durch die Übung und gibt Hilfestellungen. A sitzt, mit geradem Rücken und den Schultern nach hinten, sodass die Wirbelsäule den Kopf so trägt, als ob er am Hinterkopf, wie an einem Faden, hochgezogen würde. Die Füsse haben guten Kontakt zum Boden, die Unterarme liegen auf den Oberschenkeln oder hängen herunter, alle Muskeln sind möglichst weich, doch tonisch, d. h. nicht schlapp. Als Erstes instruiert B, dass A nach dem Einatmen einen Stopp macht, resp. die Atmung kurz anhält. Meist merken erregte Menschen nicht, wann und wie sie ein – oder ausatmen. So muss B genau kalibrieren, wann der Thorax von A ungefähr halb voll ist, „STOPP“ befehlen. – und das Ausatmen nach einer Sekunde erlauben. Wenn das klappt und A bereits automatisch den Stopp macht, folgt der zweite Schritt: „Wie durch ein Röhrchen langsam (und nur durch den Mund) ausatmen, bis die Luft, ohne zu forcieren, draussen ist“. Sobald das Ausatmen nach dem Stopp funktioniert (Geduld!), mit Zählen von fünf auf eins beginnen, indem man sich zuerst an die Geschwindigkeit der Ausatmung von A anpasst („pacing, synchronisieren“), dann unmerklich für A mit jeder Ausatmung etwas langsamer zählt („leading, führen“). Das Einatmen wird (noch) nicht kontrolliert. Wenn das Abzählen von 5 auf 1 beim Ausatmen fünf Sekunden entspricht, hat man sein erstes Ziel erreicht. Wenn A beide Schritte – den Stopp und die verlangsamten Ausatmung – beherrscht, kommt der schwierigste Teil: die Kontrolle und Verlangsamung der Einatmung.

114     G. Perren-Klingler

Die Instruktion ist die gleiche, wie für das Einatmen: „die Luft durch den Mund, wie durch ein dünnes Röhrchen einziehen sobald die Pause nach dem Ausatmen den Lufthunger wieder anstösst. „Und wenn Sie wieder Lust (Bedürfnis) zum Einatmen haben, beginnen Sie langsam wieder einzuatmen…“ Meist pumpen die Menschen bei dieser Instruktion zuerst zu viel Luft, sodass man (um Hyperventilation zu verhindern) wieder relativ befehlend „STOPP“ sagen muss, sobald der Thorax ungefähr halb voll ist. Mit der Zeit merkt A, dass es genügend Luft gibt, und dann kann man mit Zählen von 1–5 beginnen, zuerst schneller, und dann immer langsamer, bis man bei fünf Sekunden ankommt. Diese Atmung wird nun so lange ausgeführt, bis die Physiologie weniger Stress zeigt, d. h. B man einen verlangsamten Puls oder/und warme, trockene Fingerspitzen feststellt. Wichtig ist, A zu loben, jedes Mal, sobald er/sie der Instruktion folgt; denn das Lob gibt A ein verbessertes Gefühl von Sicherheit und Kontrolle, was auch Erwachsene, besonders von Stress oder Angst belastete, brauchen. Zeit pro Durchgang: 10 bis 15 Minuten Besprechen der Hausaufgabe: Verhandeln, bis klar ist, wann und wie die Übung gemacht wird, Zeit: 10 bis 15 Minuten

Übung 16: Sandübung Diese Übung zeigt eine andere Möglichkeit auf, wie man Menschen zu grosser innerer Ruhe bringt, in der sie gleichzeitig ganz assoziiert sind. Gerade für gestresste, traumatisierte (oder sonst dissoziierte) Personen ist sie sehr hilfreich, um ihnen wieder einen Zugang zu gutem Körpergefühl und innerer Ruhe zu ermöglichen. Bereits einige Momente von Wohlgefühl in der eigenen Haut können Wunder wirken – oder zumindest gesundheitsfördernde Prozesse auslösen. Bemerkungen und Hinweise

In dieser Übung darf man nicht durch alle fünf Sinne führen – denn an Sand in der Nase kann man ersticken und Sand zwischen den Zähnen ist auch nicht sehr angenehm. Vielfach sieht man, dass A der Instruktion folgt, sobald er unbewusst seine Fingerspitzen bewegt, um den Sand ausfliessen zu lassen. Diese Übung lässt sich auch so variieren, dass ein leichter Sommerregen oder das wohlige Gefühl unter der Dusche als Ausgangspunkt benützt werden. In der Vorstellung wird nun A aber nicht von aussen berieselt, sondern von innen. Im Gegensatz zur Atemübung ist diese Übung nicht für alle Menschen geeignet, da Sand und Wüste mit unangenehmen Erfahrungen verbunden sein können (z. B. Irak-Veteranen! Kalibration!). Anstelle von Sand kann auch Wasser, Luft, Energie oder Licht benützt werden.

3 Übungen     115

Durchführung in Dreier- oder Vierergruppen

A ist „Klient“/B ist „Kommunikator“/C ist/sind „Beobachter“ Rapport A steht, gerade, mit leicht abstehenden Armen und atmet ruhig und gleichmässig A denkt sich und fühlt, unter Anweisung von B, dass Sand, wie durch einen Trichter, in den Kopf einrieselt und von oben nach unten, durch den ganzen Körper, rieselt: Kopf, Hals, Oberkörper – Oberarme, Unterarme, und wie er durch die ausgestreckten Hände-Finger und die Füsse ausfliesst und dort von einem leichten Wind weg-geweht wird. (dies ist wichtig, weil die Menschen sonst sich denken, sie würden im sich anhäufenden Sand ersticken – Negativphysiologie!). A kann den Sand fühlen, er rieselt bis in die Fingerspitzen – und vielleicht sogar hören Dieses Gefühl wird während ca. 30 Sekunden gehalten. Nun wird die Übung präziser, indem man gewisse Submodalitäten verändern lässt: Temperatur des Sandes verändert (wärmer/kühler) und die angenehmste Temperatur weiter spürt (Geduld, Zeit lassen, mindestens 10 Sekunden nach jedem Vorschlag) die Rieselgeschwindigkeit beschleunigt/verlangsamt und das Angenehmste behält die Trockenheit/Feuchtigkeit anpasst und die angenehmste Feuchtigkeit/Trockenheit auswählt. die Sandkorngrösse verändert – kleiner- feiner/gröber und die angenehmste Sandkorngrösse auswählt. Nun kann dem Sand mit seinen sehr persönlichen Qualitäten noch ein Lieblingsduft – in der richtigen Konzentration – beigefügt werden, und er kann auf seinem Weg durch den Körper alle Müdigkeit und/oder Verspannungen mitnehmen. Am Ende wird der Trichter geschlossen, der restliche Sand rieselt aus, bis auch das allerletzte Sandkorn aus dem Körper ausgerieselt und weggeblasen ist. Dann müssen die Teilnehmer langsam wieder ins Hier und Jetzt geholt werden, sich strecken und auf den Boden stampfen… Zeit pro Durchgang: 10 bis 15 Minuten

Übung 17: Ankern von Ressourcen Anker sind bedingte Reflexe für eine bestimmte Physiologie, wie beim Pawlowschen Hund. Dort wurde ein Glockensignal zum (auditiven)

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Anker für die Produktion von Magensaft. Hier wird fast ausschliesslich mit kinästhetischen, im Körper gefühlten Ankern gearbeitet, da sie am besten zu setzen, abzurufen und zu kontrollieren sind. Doch im Prinzip gibt es Anker in allen 5 Sinnen, gute, resp. angenehme, sowie schlechte, wie z. B. solche, die Flashbacks hervorrufen. Will man einen effizienten Anker setzen, so benötigt man eine dementsprechend gute Physiologie. Diese wird mittels assoziativer Technik erreicht. Als Voraussetzung eruiert man, welche Physiologie und welchen Körpertonus A in einer bestimmten Situation braucht. Ein Anker wird gesetzt, wenn der Höhepunkt der erwünschten Physiologie erreicht und sichtbar ist. Dies wird an einem präzisen Ort (Handgelenk, Schulter, Finger, vorher abmachen, wo) mit einer präzisen Berührung gemacht. Das Körpergedächtnis ist äusserst genau, deswegen muss auch der Anker präzise sein. Ein Anker muss während mindestens sechs Sekunden gehalten werden, damit er sich im impliziten (willensunabhängigen) Gedächtnis festigt. Er wird ebenso genau wieder „gelöst“, entweder wenn die Physiologie schwächer wird, oder wenn die sechs Sekunden vorbei sind. In der Übung soll eine Physiologie aktiviert werden, die es ermöglicht, sicher, kompetent, entschlossen und äusserst aufmerksam und auch selbstwirksam zu handeln. Genau gleich lässt sich auch eine Physiologie erarbeiten, die es einem ermöglicht, sich zu entspannen und ruhig zu werden, um dann schlafen zu gehen, die dann einen andern Körperanker braucht. Als Ausgangspunkt dient eine Erinnerung von A: eine Situation, in der er das erwünschte Körpergefühl oder die gewünschte Kompetenz sehr stark spürte. In diese Situation wird A durch das Aktivieren der Quintupel und die Submodalitäten zurückversetzt. Wenn die Physiologie anzeigt, dass A voll assoziiert ist, und voll und ganz in der entsprechenden Erinnerung lebt, wird dies durch einen körperlichen Reiz von mindestens sechs Sekunden Dauer festgehalten – von A selbst (z. B. gegeneinander Drücken von zwei Fingern) oder von B (z. B. Hand auf die Schulter). Wenn die sechs Sekunden vorbei sind, wird der Anker entfernt, indem man die zwei Finger im Selbstanker aktiv köst, oder indem man seine Hand von A’s Schulter nimmt. Alle Ressourcenübungen können am Maximum der erreichten Physiologie auch zum Ankern genutzt werden, um die spezifische Physiologie zu fixieren und abrufbar zu machen. Bemerkungen und Hinweise

Es gilt zu beachten, dass jede Situation anders ist und wir uns von genauer Beobachtung leiten lassen müssen. Wichtig ist auch, dass wir stets in einem guten Rapport sind und nie Inhalte suggerieren, sondern lediglich offene Vorgaben resp. Strukturen geben.

3 Übungen     117

Häufig wird eine Ankerübung durch ein Gespräch eingeleitet und vorbereitet, indem man über die entsprechende Situation (Ressource) so spricht, dass bereits alle Sinne einbezogen werden. Jeder Sinn kann als Ausgangspunkt auf der Suche nach Ressourcen dienen: Wie roch bei Euch zu Hause der Boden nach dem ersten Regen? Wie ist der Sonnenuntergang in Deiner Heimat? Wie schmeckte das Essen Deiner (Gross-) Mutter? Wie klingt deine Lieblingsmusik? Man muss sich vor der Übung auf eine präzise Geste als Selbstanker einigen. Häufig wünschen sich die Menschen mehr „Sicherheit“. Wenn man sich an einem sicheren Ort wähnt, lässt aber der Körpertonus nach, und man entspannt sich. Das führt bei Angst – oder Trauma Betroffenen häufig zu einer Attacke von „Angst“, „Stress“ oder Flashbacks. Deswegen soll man, bei diesen Übungen eher mit „Kompetenz“. „Selbstsicherheit“, „Selbstvertrauen“ oder sogar „Stolz“ arbeiten; der dabei entstehende höhere Körpertonus hilft, sich „sicherer“, „kompetenter“ zu fühlen und umgeht damit die Gefahr der Überflutung wegen des zu niedrigen Körpertonus.

Durchführung in Dreier- oder Vierergruppen

A ist „Klient“/B ist „Kommunikator“/C ist/sind „Beobachter“ Rapport Nachdem man im informellen Gespräch die Ressource bereits sinnesspezifisch aktiviert hat, schliesst A die Augen und lässt sich von B führen: „Denken Sie an diese Situation, wo Sie sich ganz kompetent gefühlt haben. Geben Sie ihr einen Namen. Wenn Sie möchten, können Sie ihn nennen („Codewort“).! Es ist, als ob Sie jetzt wieder dort wären. Sie können alles sehen, was es zu sehen gibt. Wie ist das Licht? Gibt es Schatten? Gibt es Kontraste? Wie sind die Farben? Sind sie glänzen, sind sie matt? Wie tief ist das Bild? Gibt es Bewegung?“ Usw. „Und während Sie alles sehen, können Sie auch alles hören. Was gibt es für Geräusche? Gibt es Lärm, gibt es Stimmen? Gibt es Töne oder Musik? Sie können es genau hören. Wie ist die Lautstärke, wie der Rhythmus? Sind die Geräusche hoch oder tief? Gibt es Pausen, stille Momente?“ Usw. „Und gleichzeitig können Sie auch ihre innere Stimme hören, die das kommentiert: was sagt sie, aus welchem Teil Ihres Körpers kommt sie, in welchem Ohr hören Sie sie mehr? Gibt sie den Kommentar einmal oder wiederholt sie sich? Ein Wort oder ganze Sätze?“ Usw. „Und während Sie alles sehen und hören, können sie auch alles riechen. Was gibt es für Gerüche? Welche Düfte sind zu erkennen? Woher kommen sie? Sind es viele, gibt es einen, der besonders stark ist? Wie ist die Luft, die durch die Nase fliesst, trocken oder feucht, warm oder kalt?“ Usw.

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„Und während Sie alles sehen und hören und riechen, können Sie auch alles schmecken. Wie ist der Geschmack auf der Zunge? Ist er süss – sauer – bitter – salzig? Schmecken Sie anderes?“ Usw. „Sicherheit? Kompetenz? Geborgenheit? Heimat? Alles, was Sie sehen und hören und riechen und schmecken, haben Sie in Sich. Wo können Sie es spüren? Fühlen Sie Ihre Sicherheit! Von Kopf bis Fuss, bis in die Fingerspitzen. Nehmen Sie sie zu Sich“ (in der vorher abgemachten Geste). „Behalten Sie so Ihre Sicherheit in Ihrer Hand“ – (mindestens sechs Sekunden, dabei weiterreden, nochmals von vorne); oder man ankert mit einer Hand, die man fest und ruhig auf die Schulter von A legt (wieder mindestens sechs Sekunden und weiter redend); Dann Faust von A öffnen oder die Hand von der Schulter wegnehmen. A kommt vollständig zurück in das Hier und Jetzt (Kontrollfragen). Anschliessend wird der Anker angewendet und kontrolliert (Veränderung der Physiologie). Zeit pro Durchgang: 10 bis 15 Minuten oder auch länger PS: Diese Übung kann auch als Hausaufgabe jeden Abend nach dem Atmen durchgeführt werden, für den „erfolgreichsten“, „stolzesten“ „kompetentesten“ Moment des Tages; ein Grundprogramm zur Prävention von Depression!

Übung 18: Ankern mit Zielformulierung Der Anker einer Ressource lässt sich auch dazu benützen, dass die jeweilige Physiologie der Person in einer anderen Situation zur Verfügung steht. Ausgangspunkt bildet eine vom Klienten erwünschte Situation resp. die von ihm für ein bestimmtes Problem benötigte Ressource, z. B.: „Ich möchte ruhig bleiben, wenn meine Kinder Streit haben“, „ ich möchte die Kraft und den Mut haben, um meinem Betreuer zu sagen, dass ich mich ungerecht behandelt fühle“. Der Betroffene soll im Gespräch, durchaus auch in einer ernsten und langen Diskussion, konkret formulieren, was er möchte (welches Ziel?) und was er dazu braucht (welche Ressourcen?). In dieser Vorbereitungsphase, die ungefähr 3/4 der Arbeit (resp. der Übung) umfasst, kann sich das „ursprüngliche“ Ziel verändern; doch ist es wichtig, dass es letztlich in einem klar definierten Zusammenhang steht, und nach den Regeln der Zielformulierung definiert ist. Ist das Ziel formuliert, fragt man, welche eigene Ressource A braucht, um es zu erreichen. Diese Ressourcen, z. B. „Kompetenz“, „Ruhe“, „Vertrauen“, „Sicherheit“ usw. können in As „Vergangenheit“ gesucht, ausgebaut und

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durch eine Ankerübung wieder zugänglich gemacht werden. Wiederum ist es wichtig, dass man auch diesen Teil im Gespräch vorbereitet. Z. B. „wann haben Sie Sich das letzte Mal so richtig kompetent gefühlt? Was haben Sie gemacht?“ …. „Versetzen Sie Sich nochmals in diese Situation, als ob Sie jetzt wieder drin wären…“ Bemerkungen und Hinweise

Für die Zielformulierung und die benötigten Ressourcen muss man sich auf Dinge beschränken, die A selbst beeinflussen kann. Ziele wie „Ich brauche Arbeit“ oder „Ich möchte eine andere Wohnung“, „ich möchte Gerechtigkeit“ usw. sind zwar wichtig und richtig, entziehen sich aber unserem direkten Einfluss. Stattdessen kann man A zur Frage führen: „Was brauche ich, um den ersten Schritt (z. B. Arbeitssuche) zu bewältigen?“ oder: „Was brauche ich, damit ich in der Zeit, bis ich eine andere Wohnung habe oder auch Gerechtigkeit erreiche, möglichst gut leben kann?“ Durchführung in Dreier – oder Vierergruppen

A ist „Klient“/B ist „Kommunikator“/C ist/sind „Beobachter“ Rapport A formuliert im Gespräch mit B sein Problem und ein spezifisches Ziel Gemeinsam mit B definiert A, was er/sie für Ressourcen benötigt, um dieses Ziel zu erreichen. Dann wird eine Situation im Leben von A gesucht, in der er/sie diese Eigenschaft (Ressource) sehr stark gelebthat. Ressourcenübung: Quintupel mit Submodalitäten (Selbst-) Anker Kontrolle Diese Übung wird dann in der dissoziativen Übung „Planen neuen Verhaltens“ weitergeführt. (s. Übung Nr 24) Zeit pro Durchgang: 30 bis 45 Minuten

DISSOZIATIVE TECHNIKEN Alle Menschen besitzen die Fähigkeit zu dissoziieren, d. h. Erlebnisse und Situationen aus Distanz zu betrachten, ohne innerlich beteiligt zu sein. Dissoziation ist eine NORMALE Fähigkeit jedes Menschen in jeder Kultur. Damit diese emotionslose, aber aktive Auseinandersetzung bewusst, kontrolliert und „im richtigen Moment“ eingesetzt werden kann, ist es hilfreich, sie zu üben. Die folgende Technik zeigt, wie wir einen Partner dazu bringen, an eine unangenehme (aktuelle, vergangene oder zukünftige) Situation zu denken, ohne die Sicherheit des Hier und Jetzt zu verlassen. Sie

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hat zum Ziel, sich etwas Unangenehmes anzuschauen und dabei emotional unbeteiligt zu bleiben. Das ermöglicht es, durch unangenehme Emotionen blockierte Ressourcen zu mobilisieren. Dadurch werden auch die Grundlagen für einen anderen Umgang mit Problemsituationen geschaffen. Darauf aufbauende Übungen stehen weiter unten. Alle folgenden Übungen sind der visuellen Dissoziation gewidmet; sie ist die einfachste Weise, mit Dissoziation zum Schutz vor emotionaler Überflutung zu arbeiten. Das Benützen von Bildern, resp. „Fernsehschirmen“ hilft ganz gezielt eine Dissoziation aus dem Hier und Jetzt herzustellen. Doch kann man auch mit sprachlicher Dissoziation arbeiten: der Erzähler spricht von sich z. B. mit seinem Namen und in der dritten Person („er“, „Hans“, „sie“, „Lena“), der Betreuer mit „Du/Sie, Frau X,“ im Hier und Jetzt, mit dem Vornamen, „Hans, Lena, er/sie“ auf dem Bildschirm. Übung 19: Fernseher: Grundübung Wichtig: Diese Übung ist unbedingt zunächst mit kleinen Begebenheiten durchzuführen, z. B. mit versalzenem Essen oder einem eher unwichtigen ärgerlichen Erlebnis. Die Bearbeitung grösserer Probleme verlangt erweiterte Techniken und grosse Sicherheit der begleitenden Person. Doch immer ist es sinnvoll, die Übung kurz vorzubesprechen und die Grundsätze der kognitiven Sprache unbedingt zu beachten. Bemerkungen und Hinweise

Als Vorübung ist es nützlich, A, ein neutrales nur nebliges Fernsehbild in schwarz/ weiss imaginieren zu lassen. Das Bild soll in einer Distanz von mindestens 3 m, nicht zu gross und etwas höher als in Augenhöhe von A sein. Es ist nur schwarz/ weiss, etwas unscharf und ohne Ton. Vor dem Aufbau des Fernsehbildes wird eine tonische starke Ressource (Kompetenz, Stolz, Entschlossenheit usw.) für das Hier und Jetzt aufgebaut und geankert. A muss sich im Hier und Jetzt mit dem Intervenierenden ruhig und sicher fühlen. Hier benützen wir „Y“ für den Vornamen von A, konkret dass „Y“, d. h. „Hans“ oder „Lena“ dort vorne im Bild zu sehen ist. Denn es ist wichtig, dass die Person des Hier und jetzt, A, Herr/Frau Soundso, permanent sprachlich von der Person auf dem Fernsehschirm getrennt wird. Das heisst, dass man A mit „Sie“, d. h. in der Höflichkeitsform (oder 2. Person, Du) anspricht, während man Y als „er/sie“, „Hans“ oder „Lena“ “ d. h. in der dritten Person nennt. Die Situation kann zusätzlich mit einem Codewort, das weniger Emotionen aktiviert, bezeichnet werden. B sitzt im Winkel von 90 Grad zu A, und in einer Position, die es ihm erlaubt, mit einer Hand die vorher erarbeitete Ressourcen „Sicherheit“ oder „Kompetenz“

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auf der Schulter von A zu ankern und mit der andern auf den Fernseher zu zeigen. A braucht nicht zu reden, während er seinen Film betrachtet. B spricht und gibt Anweisungen zur Struktur: „während Sie hier bei mir sitzen, können Sie da vorne Y (Hans, Lena) in der Situation sehen; Der Film darf nur in schwarz/weiss und unscharf sein, muss unbedingt schnell laufen und darf nirgends anhalten“. B muss gut beobachten, vor allem die Augen des A, die als Erstes anzeigen, wenn er im Film emotional zu werden droht, resp. die Person sich zu assoziieren beginnt an die unangenehme Emotion: Der Prozess der ungewollten Reassoziation geht regelhaft vor sich: Die Atmung stoppt, der Film beginnt sich als Erstes zu verlangsamen, es kommen Farben und es entsteht ein Close-Up (die Augen werden starr, mit weiten Pupillen) und damit ist die Assoziation quasi geschehen. Wenn das droht, muss man A ins Hier und Jetzt zurückholen (s. dazu Übungen Notfalltechniken – Übung 4, Dolan, Übung 5, STOP) und mit ihm solange atmen (Übung 15), bis er wieder ganz ruhig ist, bevor man mit dem Film weiterfährt.

Durchführung in Dreier- oder Vierergruppen

A ist „Klient“/B ist „Kommunikator“/C ist/sind „Beobachter“ Rapport. Der Ressourcenanker ist auf der Schulter von A etabliert (Hier – und Jetzt – Anker) und man kann die gute Physiologie beobachten. B hält den Anker immer dann, wenn A den Fernseher visualisiert; alle Instruktionen werden ohne Anker, mit Blickkontakt gegeben. B erklärt A den Übungsablauf (A und B haben Blickkontakt!): „Denken Sie Sich, dass nachher dort vorne ein Fernsehgerät ist, Sie einen Bildschirm imaginieren. Er hat nur ein schwarz/weiss-Bild, das neblig und unscharf ist, und er hat keinen Ton“. Imaginieren lassen. (Anker) Wieder Instruktion im Hier und jetzt: (ohne Anker) „Nachher können Sie da vorne Hans/Lena in Situation Y zusehen Und während Sie immer hier bei mir bleiben werden (Anker), können Sie dann dort auf dem Fernseher den Film über die (vorher besprochene) Erinnerung mit Y im Bild sehen. Der Film ist ziemlich schnell, scharz/weiss, unscharf und ohne Ton, sobald er fertig ist, drehen Sie ihren Kopf und schauen wieder zu mir.“ Durchführung der Übung: B setzt den Anker, A baut das Bild auf (Kopfdrehen nach vorne), schaut den imaginären Film, schaltet den Fernseher ab (Kopf zurück zu B). Erst dann löst B den Anker. Zeit pro Durchgang: 15 Minuten

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Fernseher: Erweiterte Übungen Die folgenden Hinweise darüber, wie die in der vorhergehenden Übung dargestellte Möglichkeit der emotional neutralen Betrachtung einer (vergangenen) Situation erweitert werden kann, dürfen erst dann aufgegriffen und geübt werden, wenn die Grundübung der einfachen Dissoziation (Ü 19) beherrscht wird und auch jederzeit sicher geführt und reagiert werden kann. Alle Anweisungen und Bemerkungen zu Übung 19 gelten weiterhin, auch der Hinweis, mit etwas „Kleinem“ zu arbeiten. Übung 20: Multiple Dissoziation Alle Anweisungen und Bemerkungen zu Übung 19 gelten weiterhin. Eine multiple Dissoziation ist eine Technik, die bei der Gefahr von starken Gefühlen bei der Distanzierung helfen kann: Im Fernseher ist wiederum ein Fernseher zu sehen, und in diesem wiederum einer, je etwas kleiner und etwas weiter entfernt als der vorangehende etc. – und dass sich erst etwa im Zehnten, kleinsten, am weitesten entfernten Bildschirm der zu betrachtende Film befindet (schlechte Erinnerung, potenziell traumatische Erinnerung). Diese Technik eignet sich für Erinnerungen, die den Betroffenen verfolgen, und über die er nicht zu sprechen wagt, da er die emotionale Überflutung fürchtet. Der Aufbau dieses multiplen Fernsehers wird in einem ersten Schritt eingeübt, sodass er „abgerufen“ werden kann, ohne den belastenden Inhalt (z. B. mit einem Lieblingstier, das „dort, zu hinterst“ gesehen/imaginiert wird). Die Arbeit mit den spezifischen visuellen Submodalitäten ist eine Voraussetzung fürs Gelingen: der Film darf nur in schwarz/weiss gesehen werden, und muss schnell laufen, die Distanz ist durch die zehn Bildschirme verstärkt, die Bildgrösse (sehr klein, da im ca.10. Fernsehschirm), die Unschärfe und das stumme Ablaufen, ohne Ton, hilft die Sicherheit des Hier und Jetzt (Anker) zu bewahren. Es gibt meistens eine erste, erleichternde Möglichkeit, das Ganze zu ordnen. Kommentare, wie „so ruhig habe ich noch nie daran denken können“, „ja, es ist distant, weit weg“ usw. und eine ruhige Physiologie zeigen an, dass sich bereits etwas verändert hat. Übung 21: Verändern des emotionalen Zugangs zu Erinnerungen: Ressourcen einbauen bei belastenden Erinnerungen (eignet sich nicht für Flashbacks) Es gibt Erinnerungen, die einen emotional blockieren. Durch sogenannte „emotionale Brücken“ wird man bei jedem Erinnern wieder vom gleichen Gefühl übermannt, resp. der gleichen Physiologie blockiert. Dies verunmöglicht, aus dem Geschehnis zu lernen, oder auch sonstige

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Aufgaben zu bewältigen. Wenn jemand z. B. nur wegen der verhassten Französischlehrerin nicht richtig hat Französisch lernen können ist dies eine typische emotionale Brücke, die mit dem Klang der französischen Sprache verbunden worden ist. Da kann Ressourcenarbeit schon früh (d. h. noch in der Schulzeit) den emotionalen Zugang verändern. Mit den vorigen Übungen lernte A das emotional belastende Ereignis im „Film“ emotionslos zu betrachten. Mit den folgenden Schritten soll die Erinnerung durch Aktivierung von Ressourcen „entmint“ werden, d. h. As emotionale Blockade beim Gedanken an „Französisch“ gelöst werden. Damit A die Situation im Film nicht nur emotionslos betrachtet, sondern sie zudem so bearbeitet, dass die Erinnerung von unangenehmen, blockierenden Emotionen befreit wird, kann mithilfe der Dissoziation Ressourcenarbeit geleistet werden. Bis dahin hatte ihn eine „Emotionsbrücke“ blockiert, sobald er an die Situation dachte. Nachdem also A den Film analog zur vorherigen Übung 20 visualisiert hat und mit B wieder Blickkontakt aufgenommen hat, fragt man: „Was hätte Y in dieser Situation gebraucht?“ A: „Mehr Mut“; B: „ Wann waren Sie zum letzten Mal so richtig mutig?“ Diese Ressource wird nun sofort „gequintupelt“, geankert und „Y da vorne“ geschickt. „Was verändert sich da vorne?“ Nur visuelle Beschreibung zulassen, wie z. B. „Er/sie hat eine straffere Körperhaltung“ oder „Er/sie lächelt“. Es ist aber zu beachten, dass die Situation nie verhindert werden kann (z. B. „Bitte Besuch geh weg “). Doch können Ressourcen die emotionale Evaluation des Geschehens entlasten und damit verändern. So wird – neurobiologisch gesehen- eine veränderte Erinnerung an das Geschehen gespeichert und die belastende emotionale Beteiligung gelöst. Bei jeder Instruktion im Hier und Jetzt, mit Blickkontakt, wird der Anker entfernt, da der Anker ja eine Hilfe fürs Dissoziieren sein soll. Übung 22: Abschied nehmen (besonders auch bei unverarbeiteter oder eingefrorener Trauer) Das Abschiednehmen in dieser Übung ersetzt keinen Trauerprozess. Es kann diesen aber ermöglichen, ein wenig erleichtern und betroffenen Menschen aufzeigen, dass auch ein nachträglicher Abschied und sogar eine Versöhnung erreichbar sind. Auch wenn A am Schluss noch immer traurig ist, ist das OK, denn es handelt sich um einen Prozess, der das Finden von Frieden zum Ziel hat, sicher nicht aber das Vergessen. Auch hier gilt es, anfangs genügend klein zu arbeiten, z. B. mit einem „kleinen“ Verlust aus der Kindheit (Meerschweinchen etc.).

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A ist „Klient“/B ist „Kommunikator“/C ist/sind „Beobachter“ Rapport A imaginiert im Fernseher, rechts im Bild, den dissoziierten Y (d. h. sich selber), links im Bild das, was er damals verloren hat. „Und während Sie nun hier bei mir bleiben (A ist von B geankert), können die beiden da vorne voneinander Abschied nehmen. Das Gespräch muss von gegenseitigem Respekt getragen sein, alles kann gesagt werden, was noch gesagt werden sollte, doch ohne Vorwürfe und voller Respekt; Sie können da vorne über alles reden (für B hörbar) was sie miteinander noch zu besprechen und sich zu sagen haben“; Dankbarkeit, Verzeihen („Ich verstehe, du konntest nicht anders, deine Absicht war für mich gut gemeint, doch ungeschickt ausgeführt“ usw.) sind meistens die Themen, die anstehen. B soll durchaus den/das Verlorene antworten lassen und darauf eingehen. „Was möchte Y dort vorne, demjenigen, von dem er sich verabschieden wird, noch mitteilen?“ „Dann soll er dies jetzt tun“ … „Sofern es nötig ist, können sie auch noch Frieden schliessen und sich versöhnen“. Y kann versprechen, dass er „Das Verlorene“ bei sich behalten wird, dass er sich an „Ihn/sie/es“ erinnern wird. … Wenn alles erledigt ist, dann verabschieden sie sich voneinander, wie es für diese Beziehung richtig ist (Händedruck, Umarmung, usw.) Sie sagen sich definitiv „Adieu“ (und NICHT „auf Wiedersehen“). Danach führt B „Das/den Verabschiedete/n“, mit seiner linken Hand und gestrecktem linkem Arm nach links aus dem Bildschirm heraus. Mit der rechten Hand ist immer noch der Anker gesetzt. A folgt zuerst mit seinem Blick, dann einer Kopfbewegung der linken Hand Bs, die in einem grossen Bogen langsam nach links hinter den Stuhl von A führt. A kann sich voll umdrehen, und Ihn/sie/es hinter seinem Stuhl, dort wo es hingehört, deponieren. „Er/sie/es ist jetzt in Ihrer Vergangenheit. Wenn Sie wollen, können Sie Sich jederzeit umdrehen und mit ihm Kontakt aufnehmen.“ Danach sieht A nochmals auf den Bildschirm und holt sich selber – mit Hilfe von B (annähernde Armbewegung von B) – wieder zu sich zurück. Wenn A bestätigt, dass er wieder ganz „da“ (reassoziiert) ist, kann der Anker gelöst werden. Zeit pro Durchgang: 2–30 Minuten

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Damit die Bewegung nach hinten links gross und kontinuierlich ausgeführt wird, sollte man sie zuvor üben und jeweils entsprechend sitzen. Man kann auch zusammen aufstehen, um ganz bis hinter A zeigen zu können. Hat man einen realen Abschied vor sich, so lohnt es sich, diesen nach den gleichen Kriterien zu gestalten, wie oben beschrieben: Alle offenen Fragen und Bemerkungen miteinander – mit viel Respekt- besprechen, bis man einander in Frieden verlassen kann, weil alles Unerledigte erledigt, und alle Spannungen gelöst sind. Trauer kann zwar nicht verhindert werden, der Trauerprozess braucht seine Zeit. Doch auf diese Weise wurde die Tür für den Trauerprozess geöffnet, was mit der Zeit inneren Frieden bringt. Übung 23: Die Geschichte darstellen (mithilfe der Dissoziation) Die folgenden Übungen sollen Betroffene über einen spielerischen Zugang dazu befähigen, Schreckensbilder und stark stressende Geschichten geordnet und abgeschlossen darzustellen. Dadurch lassen sie sich über die nonverbale Ebene auf das Ereignis ein und können anschliessend, wenn nötig, über die Erlebnisse dissoziativ sprechen und danach Gefühle assoziativ klären. Alle diese Techniken hat die Autorin in ihrer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen entwickelt. Sie werden hier zum, ersten Mal schriftlich publiziert. • Geschichte zeichnen Man nimmt ein Blatt Papier und unterteilt es in Höhe und Quere in 9 gleich grosse Vierecke, d. h. man ordnet je drei Vierecke in Höhe- und Quere an. Sie werden nummeriert von eins bis neun – wie beim Schreiben – von links nach rechts.  (In Sprachen, die sich von rechts nach links oder noch anders schreiben, muss man sich anpassen!). Im Viereck Nummer 1 (oben links) wird der Beginn der Geschichte, als noch alles gut war, im neunten und letzten Viereck (unten rechts) das Ende des Ereignisses, etwa die Ankunft im Asylland, oder der Moment erster Sicherheit etc. dargestellt („die zwei Sicherheitssäulen“, s. Debriefing, Kap. 5). Im Quadrat des Zentrums (Nummer 5) wird nun „das Schlimmste“ gezeichnet. Hier muss man achtgeben und viel kognitiv nachfragen, damit das Kind emotional nicht abtaucht, resp. sich an den Schreck assoziiert. Danach wird die Geschichte wahlweise von Quadrat eins bis Quadrat neun gezeichnet („Und was war gerade vorher?“, „Und was war gerade nachher?“). So werden die einzelnen Stationen der Geschichte zu einem Ganzen, zu einem Narrativ, geordnet. Dieses muss vom Intervenierenden am Ende möglichst präzise nacherzählt werden, mit der Bitte

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an den Zeichner zu korrigieren, wenn man dies nicht genau genug tut oder etwas falsch verstanden hat. • Man kann auch ein schmales, langes Papier als  „Zeit- oder Lebenslinie“ nehmen. Man teilt es in der Mitte der Länge nach durch Falten oder einen Tintenstrich von Oben bis Unten. Oben ist der Beginn des Lebens, unten lässt man absichtlich Platz, um genügend Zeit bis zum Tod zu geben (bis 120!). Man teilt die Zeit ein, z. B. Jahrzehnte, oder auch Jahre und markiert sie. Dann setzt man das „Heute“ fest. Gute Physiologie erarbeiten…. so wird das Präsens zu einem (visuellen) Anker der Sicherheit, lokal, auf dem Papier. Dann lässt man die schönsten Ereignisse datieren und aufzeichnen auf der rechten Seite der Lebenslinie – als Sicherheits- oder Ressourcenanker. Jedes Ereignis wird mit einem Codewort versehen, z. B. „Heirat mit D“, „Universitätsabschluss“, „Geburt von C“ etc. Genauso werden Geburtstage, Familienfeste, geglückte Herausforderungen usw. aufgezeichnet. Erst dann lässt man auf der linken Papierhälfte das oder die potenziell traumatischen Ereignisse (Verfolgung, Flucht, aber auch eventuelle Unfälle etc.) – ebenfalls mit Codewort – aufzeichnen. Über die gezeichnete Geschichte kann man nun mit der betroffenen Person sprechen, egal wie schrecklich sie auch war. Wichtig ist allerdings, dass man auf die dissoziative (beschreibende) Sprache achtet und die Menschen, wenn sie sich zu sehr über das Papier (meist am Boden) beugen, zwischendurch aufstehen, herumgehen und in der dritten Person sprechen lässt. • Stimmungsbilder: Heutzutage kann man sich Smileys ausdrucken, am besten in Farbe, möglichst viele verschiedene und sie ausschneiden: Besonders Kinder, aber auch Erwachsene, welche die Sprache nicht beherrschen, oder aufgrund ihrer Herkunft keine abstrakten Worte für Emotionen kennen, kann man so besser erreichen. Ein Ziel ist, dass Betroffene merken, wie schnell Gefühle wechseln, dass auch das schrecklichste Gefühl nur kurze Zeit herrscht und danach wieder anderes im Vordergrund steht. • Tagesrhythmus: Eine Uhr wird dargestellt, mit 24 h. Die Nacht (Schlaf ) wird mit acht Stunden von Anfang an grau oder schwarz („Nacht“) gezeichnet. Dann wird mittels Smileys die Befindlichkeit zu verschiedenen Tageszeiten aufgezeichnet: guten Momenten lässt man mehr Raum, um so wieder zur Ressourcenarbeit zu kommen; die unguten Smileys sieht man auch gemeinsam an und bespricht eventuelle Trigger oder Konflikte oder benötigte Ressourcen, um darüber hinweg zu kommen usw.

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Es gibt viele andere Möglichkeiten, wie die grundsätzlichen Ziele dieser Übungen erreicht werden können, z. B. durch Arbeit mit Puppen oder Kleben von Collagen. Alle diese Übungen sind spielerisch und dürfen es bei allen nötigen Anpassungen und erwünschten kreativen Variationen auch bleiben, sofern man die Grundsätze der vorigen Übungen einhält. Der Effekt verändert sich nicht. Es spielt keine Rolle, wie und mit welchen Mitteln die Geschichte erstellt wird. Sie kann erzählt, gezeichnet oder gespielt werden. Wichtig ist einzig, dass sie formuliert und zeitlich geordnet wird und dass der dabei auftretende Stress und die daraus entstehenden aktuellen Gefühle nicht nochmals erlitten werden. Sie dürfen erst nach Erstellen des Narrativs, speziell geschützt, ein letztes Mal gefühlt und benannt werden. Mit dem Narrativ soll man auch herausfinden, welcher persönlich und/oder kulturell wichtige Wert im Ereignis verletzt wurde. Das Wichtige dabei ist nur, dass man das Dissoziative (kognitives Beschreiben) streng und konsequent vom Assoziativen (Emotion spüren) trennt. Übung 24: Planen und trainieren zukünftigen Verhaltens Wenn man, wie in Ü 21, einer belastenden Erinnerung den Schrecken genommen, sie normalisiert hat, muss man unter Umständen mit dem Betroffenen ein neues Verhalten planen. Und trainieren, z. B. wenn ein Mensch wegen einer emotionalen Blockade mit andern nicht gut interagieren kann, lohnt es sich, dies zu planen und zu trainieren. Dabei soll man nicht zu viel auf einmal wollen, denn das geht schief und entmutigt. Ein realistisches Ziel könnte also sein: „Wenn ich das nächste Mal dieser Person begegne, möchte ich sie freundlich begrüssen können“. Diese Zielformulierung muss, wie in Ü 7 erarbeitet werden. Dann lässt man – auf dem Bildschirm A dissoziiert (Y) mit diesem neuen Verhalten gegenüber der Person (D) visualisieren. Vielleicht gilt es noch zusätzliche Ressourcen einzubauen („was braucht der/die da vorne noch?“), bis das neue Verhalten für A befriedigend ist. Dann wird es sechs mal im Film (dissoziiert) durchgespielt, in Farbe und in der realen Geschwindigkeit. Dann wird das Ganze assoziiert („geh in den FIlm rein, wie wenn es jetzt wäre, und sieh durch deine eigenen Augen, höre, woher die Klänge kommenm, spüre, wie du dich bewegst; brauchst du noch etwas?“). In der ersten Assoziation zeigt die Physiologie an, ob das programmierte Verhalten ökologisch ist und ausgeführt werden kann. Wenn das neue Verhalten stimmt, nach dem ersten reassoziierten Durchgang, wird es assoziativ weitere sechs Male durchgespielt. Als letztes wird nun nach dem Indikator (Trigger) gesucht, der

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anzeigt, dass man dieses Verhalten iin Gang setzt. z. B. „die Stimme des Chefs, dem man mit einem Lächeln begegnen möchte.“ Natürlich kann man auch einen Selbstanker für die entsprechende Physiologie setzen lassen. Im Test beschreibt man den Trigger: „sie hören die Stimme ihres Chefs....“, und nun folgt automatisch die Anwendung des Selbstankers und die erarbeitete Physiologie. Als Letztes fragt man, wann dies das nächste Mal ansteht – und es sollte in der nächsten Woche passieren...., bevor die ganze Arbeit vergessen ist. Durchführung in Dreier- oder Vierergruppen

A ist „Klient“/B ist „Kommunikator“/C ist/sind „Beobachter“ Rapport Bildschirm: „Bitte imaginieren Sie da vorne Y mit Person D: sie stehen einander gegenüber, wie begrüssen sie einander? Was braucht Y, um ruhig und freundlich guten Tag zu sagen?“ „Er/sie braucht Ruhe“ „Wie können Sie ruhig sein?“ Man schlägt die Atemübung vor, und sobald die Atmung ruhig ist, ankert man und fordert auf, diese Ruhe „dem Y da vorne zu schicken“. „Wie hat sich Y verändert?“ Beschreibende Antwort: „Körper gerader, Kopf gehoben, Lächeln usw.“ „Braucht Y da vorne noch etwas anderes?“ „Selbstvertrauen“ „OK, wann waren Sie das letzte Mal so richtig voller Selbstvertrauen?“ „….“ man sieht die Veränderung von As Physiologie. „gehen sie in diese Situation, wo Sie voller Selbstvertrauen sind, hinein, wie wenn es jetzt wieder wäre, quintupeln“ mit Submodalitäten und ankern, und sofort Y da vorne schicken lassen. „Braucht Y noch etwas anderes?“ Man erarbeitet solange Ressourcen, bis Y da vorne alle nötigen Ressourcen in sich hat. Dann lässt man den Film des freundlichen Begrüssens durchspielen; ist A befriedigt, wird der gleiche Film weitere sechsmal durchgespielt. Ist A zufrieden mit der dissoziativ wahrgenommenen „freundlichen Begrüssung“, muss eine Reassoziation erfolgen: „Gehen Sie nun in den Bildschirm hinein und spüren Sie, wie es ist, wenn sie D freundlich begrüssen; sie sehen nun D direkt vor sich, sind in der Umgebung drin, und begrüssen D freundlich, spüren den Händedruck“ usw. „Spielen Sie das einmal durch.

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Brauchen Sie noch etwas zusätzlich?“ Ist die Antwort ja, folgt weitere Ressourcenarbeit. Sobald die gespielte Szene OK ist, wird diese auch sechs Mal assoziativ durchgespielt, um das Verhalten zu automatisieren. Dann wird eine „Brücke in die Zukunft“ geschlagen, indem man nachfragt, wann dieses Verhalten das nächste Mal benötigt wird. „Und lassen Sie Sich überraschen, wie sich das Treffen mit D verändert, wenn sie D freundlich begrüssen“ Und lassen Sie es mich nachher wissen.“ Zeit pro Durchgang: 20 Minuten

Bei der „Brücke in die Zukunft“ – auch „post-hypnotische Suggestion“ genannt darf man linguistisch keine Zweifel einführen, mit „ob“, „versuchen“ usw.

Literatur Perren-Klingler G (2015) Psychische Gesundheit und Katastrophe, Internationale Perspektiven in der psychosozialen Notfallversorgung. Springer, Berlin Perren-Klingler G, Zwissig F (1993) Lernen mit allen Sinnen. Paul Haupt Verlag, Bern

4 Psychologisches Debriefing (europäische Version, nach Perren-Klingler)

Inhaltsverzeichnis

4.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 4.2 Technik des psychologischen Debriefings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 4.2.1 Einzeldebriefing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 4.2.2 Gruppendebriefing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

4.1 Einleitung Das englische Wort „Debriefing“, kommt aus dem Bereich der Einsatzkräfte, und des Militärs und bedeutet dort, „Rechenschaft ablegen“ nach getaner Mission. Ausser in der spanischen Sprache gibt es keine allgemein akzeptierten Übersetzungen. So wie auf Spanisch („Decodificación“) kann man es auf Deutsch am besten als „Dekodifizierung“ eines Ereignisses bezeichnen, in welcher Ordnung geschaffen wird auf kognitiver Ebene für die Facts, auf emotionaler Ebene für die auftretenden Gefühle und in der Psychoedukation die Erkennung, Einordnung von und der Umgang mit darauf folgenden Stress – Reaktionen. Es soll Ordnung und Ruhe verschaffen auf allen beteiligten Ebenen, sodass Betroffene sich wieder der Aktualität bei der Arbeit und ihrer Zukunft widmen können. Im Versuch, einen in allen Sprachen verständlichen Begriff zu finden, dachte man schon an das Wort „Reprozessieren“ oder auch den Begriff  „ressoucenorientierte Selbstrekonstruktion“. Doch bis heute gibt

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Perren-Klingler, Ressourcenarbeit in der Flüchtlingshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60471-7_4

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es keinen Konsens über einen international akzeptierbaren – und übersetzbaren Begriff. Bis dies geschieht, wird man weiterhin mit dem aus dem Englischen entlehnten Wort „Debriefing“ vorlieb nehmen müssen. Im psychologischen Debriefing werden viele der vorher gelernten Techniken benützt, doch da es ein komplexer Prozess ist, wird ihm ein eigenes Kapitel gewidmet. Es beruht auf der kognitiven Verhaltenstheorie und ist so strukturiert, dass es auch Peers lernen können; die Peerarbeit senkt die Hemmschwelle, über das Erlebte zu reden, sei es nach einem schwierigen Einsatz, sei es nach politischer Verfolgung und Flucht. Viele der hier zusammengeführten Techniken können auch einzeln im Gespräch mit Betroffenen benützt werden. Wie schon bei den einzelnen Techniken betont, ist es wichtig, dass auch diese Technik im Kleinen geübt wurde, bevor man sie mit Betroffenen anwendet. Auch hier gilt, dass weniger mehr bedeuten kann: d. h. wenn ein kognitives Gespräch oder eine Aktivierung von Ressourcen genügt, um jemanden in einem besseren Zustand zu entlassen, soll nicht der ganze Prozess abgewickelt werden. Wenn jemand sich jedoch von seiner Geschichte nicht lösen kann und von wiederkehrenden Erinnerungen verfolgt wird, wirkt diese Technik beim Abschliessen helfend und befreiend. Das Debriefing ist ein strukturierter Prozess, in dem man jeden Schritt durch die vorangehenden vorbereitet, d. h. die Reihenfolge der Schritte zwingend von 1–7 befolgen muss. Das Debriefing wurde u. a. von Jeff Mitchell (1983, im Rahmen schwieriger Arbeit von Einsatzkräften, wie Polizei, Feuerwehr, Sanitäter, Militär entwickelt („critical incident stress management, CISM“), um Erlebtes zu ordnen und Stress zu senken. Es hilft, das Geschehen in der Vergangenheit abzulegen und Stress bedingten Krankheiten vorzubeugen. Es wurde vor allem bei Einsatzkräften angewandt. Später fand es Verwendung bei vom Krieg zurückgekehrten Soldaten. Mitchell benützt es nur mit Gruppen, während es hier auch mit Einzelnen angewandt wird. Lange Zeit wurde die Effizienz der Technik nicht erforscht. Später wurde behauptet, es schade gar. Doch unterdessen ist Debriefing anerkannt für die Prävention und Integration von Folgen extremen, potenziell traumatischen Stresses. Debriefing hilft, Erinnerungen an schwierige Ereignisse, mit den entsprechenden Gefühlen und Reaktionen, oder sogar Symptomen, zu ordnen und so schneller und besser zu verarbeiten und „vernarben“ zu lassen. Immerhin haben die Menschen, denen wir im Debriefing begegnen, überlebt und sehr viel zum Durchhalten beigetragen, auch wenn sie das Gefühl von komplettem Versagen plagt. Dank den damals automatischen und lebensrettenden extremen Stressreaktionen, haben wir den Menschen

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vor uns. Das Problem dieser Stress Reaktionen ist jedoch, dass sie nachhallen, sowie im Hier und Jetzt unerträgliche Gefühle und vom Hirn und autonomen Nervensystem bedingte Stress – Reaktionen provozieren. Das ist an sich normal und natürlich, weswegen Debriefing auch keine Therapie ist, sondern eher eine Art erste Hilfe für die Seele, die „neue, andere“ Möglichkeiten erschliesst, um an das Ereignis zu denken. Dabei werden zwei Hauptziele verfolgt: einerseits die psychische Gesundheit des Einzelnen und andererseits die Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit einer „Schicksalsgemeinschaft“. Die dem Debriefing zugrunde liegenden Annahmen beruhen darauf, dass der extreme Stress („Trauma“) die betroffenen Menschen zwar rettet, danach (wenn sie darüber nachdenken, sich erinnern) aber so stark erschüttert, dass sie nicht mehr in der Lage sind, Vergangenheit und Gegenwart klar voneinander zu „trennen“ und die Ereignisse in eine logische Folge zu bringen. Und da die neuro-biologische Forschung zeigt, dass eine klare (und in Gruppen eine gemeinsame!) Geschichte einerseits besser ertragen und andererseits erst dann im Gedächtnis abgelegt werden kann, gilt es, diese Geschichte zusammenzutragen und zu „schreiben“ – auch dann, wenn bereits viel Zeit vergangen ist. Man weiss heute, dass das Hirn nur ein geordnetes Narrativ ablegt und damit von weiteren unnötigen traumatischen Erinnerungen ablässt. Oft wird erst dadurch auch ein Trauerprozess möglich. Das Debriefing ist sinnvoll, wenn man nach einem Ereignis ausserhalb des normalen Erfahrungshorizontes präventive Gesundheitsarbeit leisten will. Es dient aber auch dazu, eine Geschichte lange Zeit nach dem Ereignis aufzuarbeiten, resp. zusammenzutragen und auszutauschen, und dadurch eine Phase von Verarbeitung vorzubereiten. Ein Debriefing muss durch speziell dafür ausgebildete Peers oder Fachleute der psychischen Gesundheit durchgeführt werden. Die folgenden Handlungsanweisungen ersetzen keine Ausbildung.

4.2 Technik des psychologischen Debriefings Debriefing ist ein Prozess in sieben Schritten und die dazu gehörige Technik eine Anleitung, wie eine potenziell traumatische Erfahrung aufgearbeitet werden soll. Die Technik ist dissoziativ, wenn man dem roten Faden der Geschichte nachgeht, assoziativ, wenn erzählt wird, welche Gefühle und Werte beim Gespräch in der aktuellen Situation auftauchen. Sie benützt alle drei Zeiten, Vergangenheit (Schritt 2), Präsens (Schritt 3/4, 1/7) und Zukunft (Schritt 5/6), und ordnet sie. Dieses Vorgehen ist sowohl im

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(privaten) Alltag als auch in der praktischen Arbeit von grosser Bedeutung und in seiner Struktur auch als erfolgreiche Überlebensstrategie aus anderen Zusammenhängen bekannt (z. B. von gefolterten Häftlingen aus Lateinamerika, s. Becerra in Perren-Klingler 2000). Es ist auch eine Kulturtechnik, die schon immer nach kritischen Ereignissen benützt wurde. Wir finden die Beschreibung davon bei Homer (Achill nach dem Tod von Patroklos), in der Bibel (die Jünglinge im Feuerofen oder die Jünger von Emmaus), bei Wolfram von Eschenbach (Parzival auf der Gralsburg) und in anderen alten Texten. Im Unterschied zur heutigen Zeit, hatten damals Priester oder Götter die Funktion des Debriefers, doch die Struktur des Vorgehens war bereits damals die gleiche: Zuerst Narrativ – dann Mitteilen von Gefühlen – und als Letztes Umgang und Abschluss, meist mit einem Ritual. ABLAUF EINES DEBRIEFINGS, nach Jeff Mitchell

1. Einführung

7. Abschluss

2. Facts

6. Ritual

3. Gedanken

5. Information 4. Emotionen

Ein Debriefing lässt sich in Gruppen, Familien oder mit Einzelpersonen durchführen. Für die Durchführung, muss man nicht Arzt oder Psychologe sein, wichtiger ist es, dass die DebrieferInnen einen direkten Bezug zu diesen Personen und deren Erfahrungen haben. Sie müssen über Hintergrundkenntnisse und ähnliche – aber verarbeitete – Erfahrungen verfügen, um glaubwürdig zu sein, also z. B. Polizisten, Krankenpfleger oder Flüchtlinge sein, sogenannte Peers. So schafft man Raum für niederschwellige und offene Gespräche, verhindert Aussagen wie „Du weisst ja sowieso nicht, wie es war“, vermeidet unnötige situationsspezifische zeitraubende Erklärungen zum Verständnis von Abläufen (Polizei, Medizin, Feuerwehr, Flucht usw.). Die nachfolgende Anleitung zum Einzel – Debriefing bietet das Gerüst, dessen Struktur man einhalten muss. Im Prinzip enthält es keine einzige neue Technik, alle wurden in den obenstehenden Abschnitten bereits geübt. Neu ist die strukturierte Kombination von geregelten Schritten.

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4.2.1 Einzeldebriefing Schritt 1: Einführung (im Sinne einer informierten Zustimmung) Rapport mit der Person. Erklären, dass das Recht auf eine Aussprache besteht, nachdem etwas Schwieriges geschehen ist. Mitteilen, dass das Ziel die psychische Gesundheit und neues Wohlbefinden ist: Dazu muss man Ordnung ins „Stress-Chaos“ bringen, indem zuerst die Geschichte, dann die auftretenden Gefühle und danach die normalen Reaktionen auf solch grossen Stress geordnet und Möglichkeiten des Stress – Managements besprochen werden. Man muss genau erfahren, was passiert ist, muss die heute beim Erinnern auftretenden Gefühle kennen, und wissen, was Reaktionen auf extremen Stress sind, und wie man damit umgeht, damit sie abklingen. Eventuell ist die Einführung in erste Techniken von Stressmanagement (Atmen) bereits am Anfang des Prozesses nötig. Es besteht Schweigepflicht: d. h. was hier erzählt wird, bleibt hier. Deshalb gibt es auch keine Notizen oder Berichte zum Prozess. Dies gilt für alle und alles. Nichts wird bewertet, weder im positiven noch im negativen Sinn. Die vorgesehene Zeit ist nach Hinten offen, d. h. man nimmt sich die nötige Zeit (1,5 bis 2,5 h). In diesem Prozess sollte niemand das Debriefing stören (Telefone abschalten!) und der Raum darf nicht verlassen werden (z. B. noch vor Beginn die Toilette benützen oder die Parkuhr bezahlen). Der Prozess verliert seine Dynamik und Wirksamkeit, wenn man ihn unterbricht oder in mehreren Sitzungen durchführt. Schritt 2: Faktenphase (Geschichte) mit zwei Säulen Die Person soll darin unterstützt werden, dass sie sich an das Ereignis genau erinnert. Sie berichtet ausschliesslich kognitiv, d. h. dissoziiert, was geschehen ist, möglichst präzise und vollständig. Eine zeitliche Orientierung hilft dabei. Die Person erzählt, was sie gesehen, gehört, getan hat und – falls wichtig – was sie gerochen hat – jedoch auf keinen Fall, was sie gedacht oder emotional gespürt hat. Die fünf „w“ Fragen (wann, wo, wer, was, wie) sind Leitfragen. Der Debriefer muss viel aktiv nachfragen, es ist also nicht eine „Erzählung“ des A. Man beginnt mit der Frage „Wann genau“ „Es“ passierte, da man normalerweise den „Titel“ bereits kennt und ungefähr weiss, worum es sich handelt. Das Festsetzen des genauen Zeitpunktes („Wann genau ist es passiert?“) ermöglicht, sofort die Säulen von Sicherheit vor dem Beginn („Vorher“) und dem Ende des Ereignisses („Nachher“) zu finden.

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Die erste („Sicherheits-“) Säule – bezieht sich auf den letzten Moment, als die Welt noch vollkommen in Ordnung war. Die beobachtbare Physiologie muss nochmals Wohlbefinden und Ruhe anzeigen (ruhige Atmung, glänzende Augen, Lächeln usw.). Damit stärkt sich der Betroffene auch mit Vertrauen für den Prozess. Sobald diese „Erste Säule“ steht, wird das Ende des Ereignisses gesucht: „Wann war es fertig?“ Hier fragt man absichtlich unscharf. Denn häufig erklären Menschen dann, dass „Es“ eben nicht zu Ende sei, weil „Seit damals“ die Stresszeichen stören. Das gibt die erste Möglichkeit, den Unterschied zwischen dem Ereignis und seinen Konsequenzen zu erklären. Das Ende des Ereignisses gibt nie eine komplette Sicherheit, aber die Person weiss, dass nun eine Phase der Rettung oder der Ruhe kommt (z. B. der Vergewaltiger steht auf und geht; die Reanimation wird abgebrochen). Es ist wesentlich, dass man sich vom Schrecken des Ereignisses nicht einholen lässt und das Ende nicht findet oder erst Stunden oder sogar Tage später annimmt. Hat man beide Säulen fixiert und kennt Anfang und Ende des Ereignisses, so ordnet man von der ersten Säule ausgehend und erarbeitet von dort her die Sequenz der Geschichte. Die DebrieferIn übernimmt dabei eine sehr wichtige Rolle. Er/sie stellt viele präzise, sinnesspezifische Fragen, hört aktiv zu und sorgt dafür, dass die dissoziative Ebene nicht verlassen wird. Sie strukturiert das Erzählte und fasst es zwischendurch zusammen. Es ist wichtig, schnell zu arbeiten und man darf, ja soll unterbrechen. Sobald man die Geschichte zwischen den beiden Säulen erarbeitet hat, erzählt man die genaue Geschichte präzise, so genau wie möglich in den Worten des Betroffenen, und in der Vergangenheitszeit (Imperfekt/Perfekt) zurück, unter Einbeziehung der beiden Säulen, und bittet um Korrektur, falls man etwas falsch verstanden hat. Es ist KEINE Zusammenfassung, sondern die genaue Geschichte. Aus der Geschichte „…ich…“ wird die Geschichte „…Du…“ oder „…Sie…“, was einen dissoziativen Effekt hat und meistens bereits eine gewisse Distanz ermöglicht. Spezifische Techniken  Fragen: „Was genau ist passiert?“ „Wann genau?“ „Was war gerade vorher?“ (erste Säule); „Habe ich richtig verstanden, dass…?“, „Wenn ich richtig verstanden habe…“ helfen, den Prozess zu präzisieren und zu ordnen Tricks: Man sitzt in einem 90 Grad Winkel, und so nah, dass man den Teilnehmer (A) jederzeit am Unterarm antippen kann. Man fordert Blickkontakt, denn er macht es schwieriger, in Gefühle abzutauchen, und lässt den

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Intervenierenden schneller wahrnehmen, wenn diese Gefahr besteht: Man kann das folgendermassen beobachten: zuerst wenden sich die Augen ab, dann der ganze Kopf, danach senkt sich der Kopf – und in diesem Moment ist der Mensch von Stress und Emotionen überflutet. Immer wenn der Blickkontakt abzubrechen beginnt, tippt man den Unterarm (mit zwei Fingern) tonisch an und stellt dabei eine weitere genaue Frage. Man kann etwas präzisieren lassen auf der kognitiven Ebene (visuelle Präzision) oder den Satz beginnen mit „Ich habe noch nicht ganz verstanden…“ und jetzt die Präzision erbitten. Damit stellt sich der Blickkontakt automatisch wieder her. Schritt 3/4: Übergangsphase: Gedanken, Gefühle Erst nachdem das Geschehen geklärt wurde, spricht man darüber, was A damals dabei dachte und heute denkt und fühlt (Übergang Vergangenheit – Präsens): Was ist das Schlimmste? Was ist das Schwierigste? Warum? „Was haben Sie damals gedacht? ...Und was denken Sie jetzt?...“ ist der Übergang von der Vergangenheit zum Präsens: Wenn man mit dieser Frage im Präsens angekommen ist, darf man nicht mehr in die Vergangenheit zurückgehen. „Und warum?“ … „Und warum ist das wichtig?“ … „Und warum ist das wichtig für Sie?...“ heisst, dass man im Hier und Jetzt, auf der Suche nach dem heutigen Gefühl und dem verletzten Wert ist; es geht um ein kontrolliertes Nachdenken über die (damaligen und heutigen) Gedanken und die zugrunde liegenden Werte. Wenn nun Gefühle – im Hier und Jetzt- auftauchen, ist das wichtig. Man erkennt manchmal zuerst den verletzten Wert, – (nicht den eigenen Wert, sondern denjenigen des Betroffenen), und manchmal stösst man zuerst auf das aktuelle Gefühl. Beides ist OK. Auftauchende Gefühle müssen über den Körper erspürt und zugelassen werden – mit den kinästhetischen Submodalitäten. Weil dieses Gefühl meist oder immer unangenehm ist, muss man schnell arbeiten und soll es auch auf keinen Fall weg-atmen; sobald die Submodalitäten erarbeitet sind, folgt eine präzise Rückbeschreibung und die Suche nach der Benennung des Gefühls: „Und dieses Gefühl, das Sie im Bauch spüren, heiss, ruhig, usw., wie würden sie es benennen?“. Ein Wort für eine Emotion muss gefunden werden, mit einem zusätzlichen Adjektiv; z. B. „Hilflose Wut“; Fremdsprachige sollen das Gefühl in der Muttersprache benennen, damit der Beobachter kontrollieren kann, ob es so stimmt (die Physiologie funktioniert nur in der Muttersprache!). Das Benennen ermöglicht bereits eine gewisse Kontrolle, sodass die Physiologie sich zum Besseren wendet. Wenn der Wert noch nicht benannt ist, wird nochmals ein „Warum?“ formuliert.

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Die Fragen auf der Suche nach dem verletzten Wert sind konsekutiv und sollen immer „unscharf“ gestellt werden: „Und warum?...“; „Und warum ist das wichtig?...“; „Und warum ist das so wichtig?...“; „Und warum ist das so wichtig für Sie?...“. Auf der Suche nach dem Wert muss man selber innerlich viele Hypothesen aufstellen, und permanent verifizieren oder falsifizieren. Manchmal ist es eine mühselige Arbeit, bis man den Wert des Gesprächspartners ermittelt hat, doch dieser fühlt sich nicht davon gestört, im Gegenteil, seine gute Physiologie zeigt, dass er bereits (noch unbewusst) mit dem Wert verbunden ist. Es gilt also nur noch, ihn bewusst zu machen und zu benennen. Wenn man Gefühl und Wert erarbeitet hat, kommt der „Erlösende Satz“ (ein Reframing): „Und diese hilflose Wut ist total normal und natürlich, weil für Sie X (der Wert) so wichtig ist“. Dazu muss man langsam sprechen, denn dieser Satz muss einsinken; sobald er eingegangen ist, erhält man ein kongruentes „Ja“, das bedeutet, dass man drei Anteile erhält in der Antwort: 1. ein verbales „Ja“, 2. ein körperliches „Ja“ (z. B. Nicken) und 3. ein Meta- „Ja“: nach einer kurzen Pause, z. B. ein Lächeln, Seufzen, „genauso!“ usw. Nur mit dieser dreifachen kongruenten Antwort ist man sicher, dass man das Gefühl und den Wert richtig erarbeitet hat. Das ist ebenso wichtig, wie die genaue Geschichte. Gleichzeitig hat man das unangenehme („schreckliche“) Gefühl „entmint“, da es mit dem verletzten (und nun wieder respektvoll benannten) Wert verbunden wurde. Wird hingegen dieses schreckliche Gefühl nicht entschärft und mit dem zugrunde liegenden Wert verbunden, dann taucht es immer wieder unbearbeitet auf und verewigt den Stress. Das macht dann die Menschen krank, sei es mit einer Post-traumatischen Stress Störung, sei es mit Depression, dissoziativen, psychosomatischen Krankheiten oder Schmerzzuständen. Ist das Gefühl über den Wert normalisiert, kann man überleiten zu Phase 5 Schritt 5: Reaktions- und Bewältigungsphase „Es gibt noch andere normale und natürliche Reaktionen nach einem solchen Ereignis, wie…“ und man benennt die wichtigsten körperlichen und psychischen Reaktionen nach Stress Exposition. Sie stammen aus den drei Gruppen: Übererregung, wiederkehrende Erinnerungen und Vermeidungsverhalten. z. B. „es kann sein, dass man nach einem ähnlichen Ereignis, wie dem eben besprochenen, unruhig ist, ungeduldig,

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sich aggressiv fühlt usw.“ (Übererregung). „Es kann auch sein, dass man fast zwanghaft sich immer wieder mit dem Vorgefallenen beschäftigt, was gewesen wäre, wenn..., oder dass man von Bildern oder Filmen davon tags oder nachts eingeholt wird usw.“ (wiederkehrende Erinnerungen). „Es kann auch sein, dass man sich wie gefühllos, wie in Watte oder in einem Nebel fühlt und sich gar nicht freuen kann, weder darüber, dass man überlebt hat, noch wenn man Menschen trifft, die man sehr mag. Es kann auch sein, dass man gewisse Situationen oder Orte vermeidet“. (inneres und äusseres Vermeidungsverhalten). Dies darf keine Aufzählung sein, sondern soll dialogisch abgecheckt werden. Die Erklärung, dass diese Reaktionen alle normal und natürlich sind, kein Zeichen von Verrücktheit, erleichtert die Betroffenen meistens enorm. „Alle diese Reaktionen sind natürlich, normal, vorübergehend und ein Zeichen dafür, dass sich Körper und Geist auf eine neue Situation einstellen müssen.“ Die DebrieferIn informiert über hilfreiches Verhalten, um den Stress zu managen: ein geregelter Tagesablauf, viel Bewegung, sinnvolle Aktivitäten, gute Kontakte im sozialen Umfeld, Atmen, „Gesundheit“ (gutes Essen, wenig Rauchen, wenig Medikamente, wenig Alkohol, resp. nicht mehr als vorher etc.). Es werden hier konkrete Möglichkeiten erarbeitet, um die körperlichen und mentalen Folgen von Stress zu mindern. Am Ende der Phase 5 muss die TeilnehmerIn ein Paket haben, in dem ihr Stress Management für die nächsten 8 Wochen niedergelegt ist, und sie sich verpflichtet, danach zu leben: folgende Übungen sind immer Bestandteil des Stress Managements: 2 mal im Tag während 20 Minuten die gelehrte und beherrschte Atemübung machen, mindestens 3 mal in der Woche während mindestens 45 Minuten Schweiss-treibenden Sport machen, seine Freundschaften pflegen und gesund leben. Damit kann man den Leuten versprechen, dass sie ihre Reaktionen vermindern und bereits in 8 Wochen mit einer ganz andern Befindlichkeit zurückkommen werden. Abschnitt Schritt 6/7: Schlussakt und Wiedereintritt Für das Hirn ist es wichtig, dass es etwas nicht nur „verstanden“ hat, sondern dies auch durch eine Handlung in der Realität verankert. Die Frage lautet: „Mit welcher einmaligen- symbolischen Handlung können Sie diese Geschichte für Sich nun abschliessen?“ Meistens hängt dieser Abschlussakt mit dem im Ereignis verletzten und nun wieder aufgerichteten Wert zusammen. Wenn man in der Phase 5 Vermeidungsverhalten eruiert hat, sollte auch dieses im Schlussakt berücksichtigt werden: z. B. über den

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vermiedenen Ort des Geschehens gehen und dort eine Kerze anzünden oder Blumen niederlegen…. Der Teilnehmer muss dies selber steuern (ein negatives Beispiel, weil nicht vom Betroffenen steuerbar, wäre einen Täter – oder Unfallverursacher – danach zu fragen, warum er das getan hat; die Antwort des Täters wird aus der Negierung der Tat und/oder seiner Verantwortung bestehen und so dem Betroffenen nur mehr Stress bereiten). Die vereinbarte und klar instruierte Schlusshandlung soll in den nächsten Tagen nach dem Debriefing stattfinden und der DebrieferIn mit einem Telefon oder SMS mitgeteilt werden. Eine Telefonnummer für allfällige Fragen oder zusätzliche Informationen (nicht „Probleme“ suggerieren), muss abgegeben und der zweite Terminin acht Wochen- festgesetzt werden. Als Letztes fasst man den Prozess kurz zusammen, betont die Schweigepflicht und dankt für die Mitarbeit. In einer zweiten Kontrollsitzung nach acht Wochen, prüft man, wie viel besser es der Person geht, oder ob sie – in seltenen Fällen- noch etwas braucht und was man dazu tun kann. Man kann auch einen ersten Lerneffekt ansprechen: „Sie wissen nun, wie Sie mit grossem Stress umgehen können“.

4.2.2 Gruppendebriefing Vorbemerkungen: Eine Ausbildung zum Einzeldebriefer ist zwar die Basis, doch genügt sie nicht, um auch Gruppendebriefings durchzuführen; die Struktur ist gleich, doch die Techniken müssen an Gruppen angepasst werden. Ein Gruppendebriefing muss von mehr als einer Person geführt werden, im Optimum in Zusammenarbeit zwischen Peers und Fachleuten für psychische Gesundheit. Wenn die DebrieferInnen einander kennen, ist das von Vorteil. Vor der Sitzung werden die Aufgaben verteilt. Die Atmosphäre muss so gestaltet werden, dass man sich in der Gruppe konfrontieren kann; denn im Stress kann eine Tatsache durch verschiedene Akteure verschieden wahrgenommen werden. Häufig bringen Konfrontationen Klarheit und vermindern die Spannungen in der Gruppe. Eine wichtige Voraussetzung für ein Gruppendebriefing ist, dass alle Teilnehmer das gleiche Ereignis, zur gleichen Zeit erlebt haben; das heisst, man kann nicht Terrorismus – Opfer zusammen debriefen (z. B. in einem Spital),

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sondern die Gruppe muss sich schon vorher kennen (wie z. B. in einem Spitalteam), und sie muss im gleichen spezifischen terroristischen Ereignis, am gleichen Ort, am gleichen Datum und zur gleichen Zeit, anwesend gewesen sein. Auch wenn sich niemand zwingen lässt, sollten alle Gruppenmitglieder teilnehmen, damit eine genaue Gruppengeschichte erstellt werden kann. Häufig hilft ein Gruppenmitglied einem andern, durch zusätzliche Information bereits Fakten bei der Geschichte anders wahrzunehmen und damit anders zu verarbeiten. Bei Gruppendebriefings muss im Raum ein Tisch stehen, auf dem mindestens Wasser und Gläser aufgestellt sind; auch ein Aschenbecher kann sinnvoll sein. Bei der Arbeit mit einer Gruppe sollten die zwei oder drei DebrieferInnen sich so in der Gruppe verteilt setzen, dass sie Blickkontakt untereinander haben und sich allenfalls aufteilen können, um mit einzelnen Personen individuell in Rapport zu gehen, ohne denjenigen mit der Gruppe zu verlieren. Bewährt hat sich die Position im Dreieck und der sogenannte „Leuchtturmblick“, bei dem die Gruppe regelmässig von links nach rechts – und dann wieder zurück – angeschaut wird. So geht kein Gruppenmitglied unbemerkt „verloren“. Da die TeilnehmerInnen oft übererregt sind (als Hilfe kann zu Beginn eine Atemübung machen), sollten die DebrieferInnen nicht zu schnell sowie deutlich und laut genug sprechen – und gleichzeitig darauf achten, dass während des ganzen Prozesses keine Löcher entstehen, in denen besonders gefährdete Personen emotional oder dissoziativ abtauchen können. Während die TeilnehmerInnen ihre Geschichte erzählen, bringen sie sich auch als Person ein. Dies mag zwar unter Umständen „stören“, ermöglicht aber auch, die vielen Ressourcen aus der Gruppe zu erkennen und nutzen: nicht nur zur gegenseitigen Ergänzung des geschilderten Ereignisses, sondern auch zur direkten und solidarischen Unterstützung der Anwesenden. Dies sollen die DebrieferInnen zulassen oder sogar fördern, mit einer gewissen Achtsamkeit; Trösten: ja, Bagatellisieren: nein. Denn alle Teilnehmer müssen jederzeit respektiert und ernst genommen werden, es dürfen keine Pauschalierungen (wie: „Du musst vergessen“) stehen bleiben, und der Tröstende soll den Faden des Prozesses nicht verlieren. Wenn jemand von einem Gefühl überwältig wird, kann es durchaus sinnvoll sein, dass ihn zuerst eine DebrieferIn herausholt, mit Atmen beruhigt und nachher einem Gruppenmitglied übergibt, das neben ihn sitzt und ihm weitere Aufmerksamkeit spendet. Seine Hand hält und/oder tröstet.

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Unerschiede in der Technik zum Einzeldebriefing Schritt 1: Neben der Einleitung und der Erklärung, was man tun wird und wozu das gut ist, gibt es drei Gruppenregeln (deren zwei auch im Einzeldebriefing gelten): • Vertraulichkeit: alles, was hier besprochen wird, bleibt hier, weder die DebrieferInnen noch die TeilnehmerInnen dürfen ausserhalb über den Prozess sprechen. Es gibt nichts Schriftliches. • Gegenseitige Achtung, jeder soll zu Ende reden dürfen, es gibt keine Vorwürfe. (Der/die Verantwortlichen für psychische Gesundheit, hat die Aufgabe, schon früh wahrzunehmen, wenn jemand anfängt, Vorwürfe zu formulieren, und ihn dann zu unterbrechen, mit einer ­Phasen-entsprechenden Frage). • Alle bleiben im Raum, von Anfang bis Ende, deswegen muss vor Beginn noch ein dringender Toilettengang oder das Einstellen der Parkuhr getätigt werden. Da die DebrieferInnen die TeilnehmerInnen in der Regel nicht kennen, wird der Einstieg mit einer kleinen Vorstellungsrunde verbunden. Diese beschränkt sich zwar auf die wichtigsten Gegebenheiten (Namen, evtl. Funktion, evtl. Grund der Anwesenheit), ist aber von grosser Bedeutung. Denn sie gibt den DebrieferInnen Gelegenheit, alle mit einzubeziehen und sich zudem einen ersten Eindruck von der Gruppe zu verschaffen: Zum Beispiel über den aktuellen Erregungszustand oder über mögliche vorhandene Ressourcen. Schon in der Vorstellungsrunde lohnt es sich, jemanden konkret anzusprechen mit einer konkreten Frage, und es ist wichtig, eine Antwort zu erhalten. Dazu sollte man jemanden aus der Gruppe auswählen, der einem Blickkontakt gibt, d. h. bereits mit einem in Kontakt getreten ist. Fragt man jemanden, der dissoziiert scheint oder den Blick abgewandt – auf den Boden, in die Luft – hat, erhält man entweder keine – oder eine emotionale Antwort. Zu Beginn führen die DebrieferInnen das Gespräch so, dass sie erfahren, was geschehen ist: „Ich weiss noch nicht genau, was eigentlich passiert ist…“, „Ich kann erst verstehen, wenn ich genau weiss, was passiert ist…“. Das ermöglicht es, das Ausweichen einzelner TeilnehmerInnen (die z. B. alles schon der Polizei erzählt haben) zu umgehen und darauf hinzuweisen, dass jedeR einzelne und die gemeinsame Geschichte wichtig sind.

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Unter Umständen sind einzelne TeilnehmerInnen nur widerwillig anwesend und überzeugt, dass dieses Zusammentreffen nichts bringt (da sie entweder keine Probleme haben oder da ihnen hier sowieso nicht geholfen werden könne). Gerade diese Menschen muss man darauf hinweisen, es gehe um ein Recht aller auf eine gemeinsame Aussprache. Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass der Austausch der einzelnen Geschichten einen wichtigen Beitrag für die psychische Gesundheit leistet, und auch für die Gruppe ist es wichtig, die Geschichte jedes Mitgliedes zu kennen. Es handelt sich um die Erfahrungen vieler Menschen, die trotz sehr schwieriger Erlebnisse gesund blieben und weiter aktiv und normal lebten sollen. In Schritt 2 wird eine Gruppengeschichte erstellt, die jeder ergänzen soll. Die DebrieferInnen sind sehr aktiv und fragen kognitiv nach, damit niemand in Gefühle abtauchen kann. Gleichzeitig behalten sie die Gruppe im Auge (Leuchtturmblick), darauf achtend, dass jedeR ständig präsent ist und jedeR zu Worte kommt, d. h. nicht aussteigt. Häufig gibt es einen Leader, der/die alles erzählen möchte; das muss man unterbinden, denn es soll eine Geschichte aller entstehen, in der das Geschehnis „Wie aus der Sicht eines Helikopters“ mit der Hilfe ALLER aktualisiert und präzisiert  wird. „Ausgeschlossene“ oder „Vergessene“ sind entweder besonders gefährdet oder machen sich später durch Störungen bemerkbar. Meistens hilf diese kognitive Arbeit zu so viel mehr gemeinsamer Klarheit, dass die Spannung in der Gruppe bereits fühlbar sinkt. Zur Erarbeitung der beiden Säulen sucht man nach einer Gruppenaktivität, welche vor dem Ereignis ausgeführt wurde (z. B. Routine, gemeinsame Teilnahme an X –; „Alle schliefen bereits..“), in welcher sich noch alle wohl fühlten Die zweite Säule, das Ende des Ereignisses, wird Im Konsens gefunden: z. B. wenn die Gruppe sich nach dem Ereignis trifft (in der Einsatzzentrale, an einem Ort, wo das Ereignis sicher nicht nochmals droht, als alle gerettet waren). Da nach einem kritischen Ereignis das Bedürfnis nach Sicherheit enorm ist soll man nicht nach „Sicherheit“ fragen, sondern eher nach dem Moment, wo keine Gefahr mehr drohte, oder „es fertig war“. Die DebrieferInnen müssen das Erzählen aktiv führen und begleiten. Sie müssen folglich schon sehr früh sich einen groben Überblick über die Ereignisse verschaffen. Denn das ermöglicht ihnen einerseits, das Gespräch chronologisch zu ordnen und andererseits abzuschätzen, welche Informationen wichtig sind resp. welche nicht unbedingt gebraucht werden. Als hilfreich erweist es sich, wenn die DebrieferInnen das Gehörte und diesen „Film“ von Zeit zu Zeit zusammenfassen und von der Gruppe korrigieren lassen. Es hat sich bewährt, nach einem groben zeitlichen Raster

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vorzugehen – z. B. vor dem Ereignis/das Ereignis/nach dem Ereignis/ Rettung – und jeden dieser Abschnitte direkt (und mit Einbezug der Einzelgeschichten) abzuschliessen. Auch eine Flip Chart ist hilfreich, besonders wenn man jedes Gruppenmitglied sukzessive dazu einlädt, die eigene Position darauf einzuzeichnen. Die DebrieferInnen müssen stets darauf achten und dafür sorgen, dass weder Einzelpersonen noch die ganze Gruppe dissoziieren oder emotional überflutet werden. Diese Aufgabe erfüllen sie durch guten Rapport, gute Beobachtung und gezielte Gesprächsführung. Dazu gehören neben der kognitiven Fragestellung auch direkte Hilfestellungen (z. B. die Aufforderung, aus einer äusseren Perspektive heraus zu erzählen) und Eingriffe (z. B. das Aufstehen, um die Blicke zu heben) oder das Unterbrechen des Erzählenden durch Ansprechen einer anderen Person: „Gibt es jemanden, der X gesehen hat? Wer hat gesehen, was X gemacht hat?“ etc. Dies bedingt aber, dass man später wieder auf die übergangene Person zurückkommt und auch sie selbst zu Wort kommen lässt, damit sie ihre Wahrnehmungen beschreibt. Das Ziel der DebrieferInnen ist, die Sinneswahrnehmungen (nur Sehen und Hören) jedes Einzelnen zusammenzutragen und zu einer gemeinsamen, sich ergänzenden Geschichte zu verbinden. Individuelle ­ Erinnerungs-Unschärfen sollen so aufgehoben und objektiviert werden. Die DebrieferInnen bilden – als Team! – einen neutralen und interessierten Kristallisationspunkt, der Fragen stellt, der zuhört und zwischendurch zusammenfasst. Teil dieser Aufgabe ist es, allfällige Schuldzuweisungen, Konflikte oder Bewertungen sofort aufzufangen. Sie gehören nicht in das Debriefing. Man verweist auf den Dienstweg, falls jemand Fehler gemacht hat. Es geht darum, eine momentane Einigung anzustreben und festzustellen, was gelaufen ist und dass alle im Ereignis ihr Bestes gegeben haben. Die DebrieferInnen sind keine Richter, sondern interessieren sich für die reale Geschichte, in welcher jeder einzelne sich eingeschlossen weiss, und ausschliesslich die psychische Gesundheit aller Beteiligten zählt. Die Faktenphase wird mit einer genauen Rückerzählung durch einen der DebrieferInnen abgeschlossen. Man ermuntert die Teilnehmer, eventuelle Unschärfen oder falsche Aussagen des Erzählers zu korrigieren. Diese exakte Erzählung ist die Voraussetzung für die nötige Distanz und dient als Vorbereitung für ein neues Verständnis der Ereignisse. Schritt 3/4: In der Emotionsphase, muss man mit Einzelnen arbeiten, da Gefühle privat – resp. individuell sind; sowohl die Gedanken, wie auch die dabei JETZT auftretenden Gefühle einer Person werden systematisch erarbeitet. Dabei ist darauf zu achten, dass dies ausschliesslich auf der Ebene

4  Psychologisches Debriefing …     145

der körperlichen Erfahrung geschieht: Was fühlen Sie konkret JETZT, und wo in Ihrem Körper spüren Sie „es“? Die Beschreibung dieser körperlich gespürten Emotion sollte möglichst präzise sein, was die DebrieferInnen dadurch erreichen, dass sie die einzelnen Submodalitäten erfragen. Der Befragte soll das Gefühl bewusst im Körper spüren und ihm einen konkreten Namen für eine Emotion mit Adjektiv und Substantiv geben. Die DebrieferInnen helfen bei diesem kognitiven Benennen der Emotionen und achten darauf, dass der gefundene Begriff für die betroffene Person stimmt. Denn dadurch wird einerseits eine gewisse Kontrolle über die erlebte Emotion gefunden, andererseits hilft die Akzeptanz der Wahrnehmung als adäquate und passende Reaktion bei der Annahme des Gefühls. Hat man ein Gefühl mit einer ersten Person erarbeitet, wird die Gruppe gefragt, ob jemand etwas Ähnliches auch spürt, d. h. man schafft „Gefühlsgruppen“. Sobald jedes Mitglied sich in einer Gefühlsgruppe eingebracht hat, sucht man den Gruppenwert. Es geht also nicht um individuelle Werte, auch wenn diese sich anfänglich aufdrängen, sondern um das Auffinden des Gruppenwerts, z. B. Professionalität bei Helfern, spezifische nationale oder religiöse Werte bei Flüchtlingen usw. Die Normalisierung ist dann genau gleich: „Alle diese verschiedenen Gefühle, wie… (alle Gefühlsgruppen erwähnen) sind absolut normal und natürlich, weil für Sie alle Y (der Gruppenwert, z. B. Professionalismus, Zugehörigkeit) so wichtig ist.“ Das öffentliche und doch geschützte Aussprechen und Benennen der emotionalen Belastungen bricht sowohl für die einzelne Person als auch für die Gruppe das Schweigen und ist für das Zusammenleben oder die gemeinsame Arbeit aller von grosser Bedeutung. Die Debriefer müssen deshalb darauf achten, dass alle zu Wort kommen und auch ernst genommen werden: keine Diskussionen und Bewertungen, sondern nur klärendes Nachfragen: „Was bedeutet es für Sie?“ „Wie würden Sie es benennen?“ In vielen Gruppen gibt es tabuisierte Gefühle: Helfer aus dem Gesundheitsbereich fühlen keine Trauer, wenn jemand gestorben ist; von Polizisten wird häufig die Angst nicht erwähnt; es gilt da mit dem „Dritten Ohr“ auch das zu hören, was nicht gesagt werden darf und es zu benennen, am besten in einer Frage („in diesem Einsatz konnten Sie ein Kind nicht retten, das ist auch traurig; gibt es jemanden, der nicht ein Quäntchen Trauer spürt?“). Beim Erinnern an die damaligen schwierigen Momente und beim Nachdenken über die jetzigen Schwierigkeiten und deren Bedeutung geht es auch um das Wahrnehmen der Ohnmachtsgefühle. Denn Ohnmacht und Hilflosigkeit sind zentrale Themen des potenziellen Traumas, die man – zwar nicht ausführlich, sondern nur kurz (oder als Adjektiv für ein Gefühl) – aufgreifen soll.

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In Schritt 5 ist die Planung der Aktivitäten für das Stress Management meistens einfacher als im Einzeldebriefing, da die TeilnehmerInnen einander unterstützen, z. B. zusammen rennen gehen oder einen anderen Sport ausüben. Die Atemübung muss zuerst in der Gruppe ausgeführt, dann trainiert werden, bis alle sie verstanden haben (Kontrolle!). Es gibt Gruppen, die dann die Atemübung einmal am Tag an ihrem gemeinsamen (Arbeits) Ort machen. Doch auch hier soll die Atemübung zweimal pro Tag durchgeführt werden, bis sie wirklich integriert ist, mindestens aber bis zur zweiten Sitzung. Bei der Erarbeitung von und der Suche nach den spezifischen Reaktionen darf es keine monologisierende Predigt geben, sondern dies sollte im Dialog und möglichst konkret geschehen. Zu diesem Zweck werden einerseits unspezifische Fragen („Was hat sich seitdem für Sie verändert?“), dann aber auch konkrete Fragen gestellt („Was passiert mit Ihnen, wenn Sie nicht schlafen können?“, „Wie ist es, wenn sie nicht essen mögen?“ „Wann genau haben Sie Schweissausbrüche?“, „In welchen Situationen haben Sie Angstgefühle?“, „nach solchen Ereignissen können Menschen von Bildern oder Filmen verfolgt werden, nicht mehr zur Ruhe kommen...“ usw. – s. Einzeldebriefing). Der Dialog soll so ausführlich wie nötig sein – ohne inexistente Reaktionen heraufzubeschwören. Die DebrieferInnen müssen ihr Wissen unbedingt auswendig einbringen können. D. h. es gibt kein Papier in der Hand! Ziele der DebrieferInnen sind neben dem Hinweis auf die Normalität der Reaktionen auch konkrete, Hilfestellungen, welche die wichtigsten Aspekte aufgreifen: z. B. die Bedeutung von Aktivität und Bewegung, sowie eines geregelten Tagesablaufs, die Gefahren von Genuss- und Beruhigungsmitteln, der Nutzen einfacher Übungen (z. B. Stressmanagement), der Einbezug von Ressourcen, etc. Allfällige Vermeidungsstrategien sind zu erklären und wenn möglich durch klare Instruktionen aufzulösen, mit Hilfe von Gruppenmitgliedern. Ausgehend von den bereits vorhandenen Kenntnissen des Umgangs mit Stressreaktionen sowie ergänzt durch zusätzliche Möglichkeiten sollen die Teilnehmer lernen und direkt üben. Es mag hilfreich sein, die Zeit anzusprechen und vorwegzunehmen, in der z. B. wieder gut geschlafen wird. Man darf auch fragen, was weiterhelfen könnte – und auch danach, was sich bereits veränderte. Denn damit lässt sich z. B. die Aufmerksamkeit von den Schrecken eines Albtraumes auf die Veränderungen umleiten. – Schritt 6, der Schlusakt, muss, als Ziel, in eine gemeinsame Handlung münden: Zusammen etwas tun, womit sich die Gruppe klar macht, dass das Ereignis vorüber ist und sie sich Neuem zuwenden kann. Auch in der Gruppe muss der Schlussakt einen Bezug zum erarbeiteten Gruppenwert haben.

4  Psychologisches Debriefing …     147

Jedes Debriefing muss gut abgeschlossen werden. Man fragt zwar nach einem Rahmen und einer Bedeutung, aber nicht nach einem Sinn, den es vielleicht (noch) nicht gibt. Auch ist es häufig zu früh, darüber zu sprechen, was sich aus dem Ereignis lernen lässt. Viel wichtiger ist es, Möglichkeiten zu erwägen, wie die Geschichte zu Ende geschrieben werden könnte: unter anderem durch die gemeinsame Aktivität, das Gruppen-Ritual. Diese Rituale, die für die Teilnehmenden grosse Bedeutung haben, sind sehr unterschiedlich und häufig überraschend. Es gibt keine richtigen und keine falschen Rituale. Wichtig ist, dass sie für die betroffene Gruppe stimmen, dass sie einen Schlussstein hinter das Erlebte setzen und dass sie in den nächsten Tagen oder Wochen ausgeführt werden. Ausserdem wird eine  Kontaktperson bestimmt, die einem der Debriefer über den Schlussakt telefonisch berichtet und, und sich meldet, falls jemand mehr Hilfe benötigen würde. Schritt 7: Am Ende geben die DebrieferInnen noch Gelegenheit für Fragen und formulieren zudem eine Art Zusammenfassung des ganzen Prozesses. Sie zeigen dabei Respekt vor dem Gehörten und anerkennen das bisher für die Bewältigung Geleistete. Sie sollen keine Bewertung abgeben (z. B. „Das habt ihr gut gemacht…“). Hingegen können sie anerkennen, dass jeder sein Bestes gegeben hat. Wichtig ist, dass das Debriefing nicht in negativer Stimmung beendet wird. In der Praxis bewährt es sich, mit einer Atem- oder Ressourcenübung zu schliessen. Nochmals wird auf die absolute Vertraulichkeit hingewiesen, für die Zusammenarbeit gedankt, eine Telefonnummer zu aller Verfügung angegeben und die zweite Sitzung in 8 Wochen anberaumt. Bemerkungen und Hinweise Bei einem Debriefing werden viele theoretische und praktische Aspekte aufgegriffen, die bisher ausführlich dargestellt wurden. Sie wurden nur wenig wiederholt, da sie vorausgesetzt werden. Insbesondere ist es wichtig, dass die DebrieferInnen über persönliche (Übungs-) Erfahrungen verfügen, wie ausschliesslich dissoziativ oder voll assoziativ gearbeitet wird. Debriefing ist keine Soforttechnik nach einem potenziell traumatischen Ereignis. Die Sofortintervention besteht aus dem STOP-Modell (s. o.): Das Debriefing erfolgt erst später, am frühsten drei Tage (bis zwölf Wochen) nach dem kritischen Ereignis, wenn bereits eine gewisse Sicherheit existiert und wenn alle mindestens einmal geschlafen, geduscht und gegessen haben. Es kann aber auch noch Jahre später angewandt werden und nützen. Und häufig verändern sich danach Gruppenbeziehungen zum Besseren, da Missverständnisse und falsche Wahrnehmungen korrigiert wurden.

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Einer der wichtigsten Aspekte des Debriefings ist, dass es überhaupt stattfindet. Denn es ermöglicht betroffenen Menschen, ihre Erfahrungen an- und auszusprechen und dabei ernst genommen zu werden. Bei einer Gruppe kommt dazu, dass ihren Mitgliedern, oft zum ersten Mal, Gelegenheit gegeben wird, die „individuellen Wahrnehmungen“ auszutauschen und eine gemeinsame Geschichte zu schreiben, was zu einer grösseren und häufig intensiveren Gruppenkohäsion führt. Es hilft Gerüchte zu vermeiden oder wieder abzubauen. Da das Debriefing für alle Teilnehmenden zwar hilfreich und wichtig ist, für einige schwer belastete Personen jedoch vielleicht nicht ausreicht, haben die DebrieferInnen auch eine gewisse Triagefunktion. Sie können einzelne Personen – direkt oder nach acht Wochen – darauf aufmerksam machen, dass eine vertiefende therapeutische Unterstützung helfen könnte. Meist kann man aber damit bis zur zweiten Sitzung abwarten, da es manchmal überrascht, wie Menschen schon nur eine einfache Intervention verarbeiten und davon Nutzen ziehen können. Das Folgetreffen lässt sich relativ offen gestalten. Prinzipiell sollen die Beteiligten darüber berichten, wie es ihnen jetzt geht, wie das Ritual durchgeführt wurde, was sie gelernt haben und wie sie die nächsten Wochen und Monate der Normalität vorbereiten. Wenn das Ritual nicht durchgeführt wurde (werden konnte), muss man herausfinden, wie es dazu kam (NICHT „Warum?“). Es ist ein wesentlicher Bestandteil des Prozesses und darf nicht einfach unter den Tisch fallen. Das Debriefing ist anspruchsvoll. Es verlangt von den DebrieferInnen grosse Sicherheit im Umgang mit potenziell traumatisierten Menschen, mit kleinen und grossen Gruppen, mit der kognitiven Gesprächsführung – und damit zwangsläufig auch mit der Sprache: Wenn immer möglich wird ein Debriefing in der Muttersprache aller Anwesenden durchgeführt, andernfalls auch mit speziell geschulten ÜbersetzerInnen. Debriefing kann man üben, in jedem Gespräch. Wichtig ist, darauf zu achten, kognitive Anteile klar von den emotionalen zu trennen. Als spezielle Übung lässt sich in Gruppen von ca. 10–15 Personen ein fiktives, gut durchdachtes und mit einem Szenario vorbereitetes Beispiel aufführen. Etwa acht übernehmen die Rolle einer TeilnehmerIn, drei diejenige einer DebrieferIn, und die anderen sind BeobachterInnen. In der Arbeit mit Einzelpersonen, Familien oder kleinen Gruppen kann man sich an der Grundstruktur des Debriefings orientieren. Dadurch leistet man mit relativ kleinem Aufwand gesundheitsbezogene und psychosozial relevante Betreuungsarbeit.

4  Psychologisches Debriefing …     149

Literatur Mitchell JT (1983) When disaster strikes. The critical incident stress debriefing process. Journal of Emergency Medical Services 8:36–39 Perren-Klingler G (Hrsg) (2000) Debriefing – erste Hilfe durch das Wort. Paul Haupt, Bern

5 Anhang: „Kultur“ und interkulturelle Kommunikation

Inhaltsverzeichnis

5.1 Der Begriff Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 5.2 Interkulturelle Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Die hier verkürzt dargestellten Überlegungen basieren auf einem von Alex Sutter (Büro für interkulturelle Bildung, Bern) und Christof Meier (Asylorganisationen, Zürich) durchgeführten Workshop „Interkulturelle Kommunikation“.

5.1 Der Begriff Kultur In der Alltagssprache lässt sich zwischen drei Grundbedeutungen von Kultur unterscheiden. Erstens geht es um eine Abgrenzung der von Menschen hervorgebrachten Veränderungen zum natürlich Gegebenen (z. B. in der Landwirtschaft). Zweitens bezeichnet Kultur mit der professionellen und laienhaften Herstellung von geistig-künstlerischer Produktion einen Teilbereich der modernen Gesellschaft (z. B. das Theater). Und drittens wird der Begriff Kultur verwendet, wenn man ein Set von gesellschaftlichen Werten und Normen konzipiert, welche das Verhalten der einzelnen Menschen in einem gewissen Ausmass steuern. Der so verstandene Kulturbegriff wird entweder auf eine ganze Gesellschaft (Nation, Sprachgruppe, Religion) oder auf bestimmte Gruppen © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Perren-Klingler, Ressourcenarbeit in der Flüchtlingshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60471-7_5

151

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(Schichten, Altersklassen, „Subkulturen“) angewendet und bedeutet unter anderem, dass Verhaltensweisen weder ausschliesslich biologisch festgelegt noch individuell beliebig sind. Vielmehr erscheinen Handlungsmuster, Normen und Werte als durch Sozialisation erlernte Erwartungen, die der einzelne Mensch erfüll oder verweigert (abweichendes Verhalten). Dieses dritte, aus der Soziologie und der Ethnologie stammende Verständnis von Kultur ist von grossen praktischer Bedeutung und zugleich – sowohl in der theoretischen Diskussion als auch in der konkreten Realität – schwer zu fassen, umstritten und in vieler Hinsicht sogar gefährlich. Üblicherweise wird Kultur in diesem Sinne verstanden, wenn sich eine Gruppe von anderen Gruppen unterscheidet, durch die besondere Beziehung von Strukturen und Regeln mit dem jeweiligen Weltbild und dem daraus abgeleiteten praktischen und symbolischen Alltagsleben. Mit in diese Richtung weisenden Definitionen kann man zwar arbeiten, doch die Praxis zeigt, dass man dadurch Missbräuchen und Ideologisierungen Vorschub leistet. So wird nicht selten – und oft in Verbindung mit der politischen Konstruktion einer Ethnie – eine nach aussen abgegrenzte Gruppe erdacht, die dem einzelnen Menschen kaum mehr Spielraum lässt und auf der (interne und externe) Vermischungs- und Teilungsängste aufgebaut werden, Fremdenfeindlichkeit und kultureller Rassismus. Diese Gefahr besteht nicht nur, wenn die eine „Kulturgemeinschaft“ sich der anderen “überlegen” fühlt, sondern auch dann, wenn alle Kulturen als prinzipiell gleichwertig gelten. Denn daraus lässt sich als notwendig folgern, dass es nötig ist, sich zu schützen und nur die Herkunftskultur zu akzeptieren. Das Ernstnehmen der Unterschiede in Denken und Handeln und das Verständnis für “kulturbedingte” Eigenheiten erfordert einen Kulturbegriff, der diese Ideologisierung verhindert, indem er das Konzept von monokulturellen Menschengruppen ausschliesst sie durch Begriffe, wie „Gemeinschaft“ oder „Gesellschaft“ ersetzt. An sich könnte man einen analytisch brauchbaren Kulturbegriff prägen, der sich z. B. auf konkrete soziale Felder und deren Interaktionsprozesse bezieht, um den angedeuteten Gefahren auszuweichen. Doch da man im Alltag auf den gegebenen Begriffsgebrauch Rücksicht nehmen muss, und er auch auf ein mehrdeutiges und relativ offenes Verständnis von Kultur angewiesen ist, lohnt es sich, diesen Begriff vorsichtig zu benützen und dabei folgende Punkte zu berücksichtigen: • Kultur ist erlernt, verinnerlicht und selbstverständlich. • Kultur gibt Handlungsoptionen, verleiht Sicherheit und verunsichert. • Kultur ist funktional, macht Sinn und besitzt eine innere Logik.

5  Anhang: „Kultur“ und interkulturelle Kommunikation     153

• Kultur ist situativ und hat verschiedene Register, die „gespielt“ werden können. • Kultur ist dynamisch, reagiert auf ihre Umwelt und verändert sich. • Kultur äussert sich über Symbolsysteme, kann verstanden und missverstanden werden. • Kultur ist sinnlich, erfahrbar und emotional. Somit darf man zwar von den kulturellen Hintergründen betroffener Menschen oder Gruppen sprechen und sollte diese auch „berücksichtigen“, aber im Wissen, dass es sich stets um einzelne Personen handelt. Diese sind lern-, anpassungs- und widerstandsfähig und haben sich im Laufe ihrer Lebensgeschichte eine gemischte kulturelle Identität zugelegt, die in einem je spezifischen Kontext zum Ausdruck kommt.

5.2 Interkulturelle Kommunikation Da alle Menschen von verschiedenen Subkulturen geprägt sind, kann man davon ausgehen, dass sich die interkulturelle Kommunikation in ihren Grundzügen kaum von „anderer“ Kommunikation unterscheidet. Das heisst, dass man an sich alle Theorien und Modelle zur Kommunikation auf die interkulturelle übertragen und anwenden kann. Da hier die vielen vorgängig gemachten Hinweise zur interkulturellen Kommunikation nicht wiederholt werden sollen, folgt lediglich eine Aufzählung von Aspekten, die in einer konkreten Situation wichtig sind und die interkulturelle Begegnung beeinflussen. Grundsätzlich geht es dabei darum, wie man sich seiner eigenen Einstellungen und Muster möglichst bewusst sein kann und weiss, was für einen selber wichtig (resp. unveränderbar) und was „weicher“ (resp. flexibler) oder verhandelbar ist. Denn nur so kann man die eigenen gültigen Werte klar und transparent vermitteln, gleichzeitig offen bleiben und immer wieder unbekannte Zusammenhänge entdecken und verstehen, was aber nicht heisst, dass alles akzeptiert werden muss. Auf der verbalen Ebene darf man sich nicht damit begnügen, direkt oder indirekt (mit einer Übersetzung) ein Gespräch zu führen, sondern muss berücksichtigen, dass jede Sprache mit ihrem Wortschatz, ihrer Grammatik und ihren Redewendungen den Alltag und die Welt auf ihre eigene Weise ordnet und deshalb nur bedingt verständlich ist. Auf der sozialpsychologischen Ebene braucht man Kenntnisse über soziokulturelle Identitäten, Statusfragen und Rollenerwartungen, und man

154     G. Perren-Klingler

muss die Wirkungsweise von Vorurteilen und Pauschalisierungen erkennen. Dazu gehören sowohl die Distanzierung von sich selbst zugeschriebenen Eigenschaften, („Obwohl ich aus einer Bauersfamilie stamme, mag ich klassische Musik“) oder die Identifikation mit („Wir Männer sind nun mal so“), oder auch die Anwendung von positiven („Deutsche sind fleissig“) oder negativen („Deutsche haben keinen Geschmack“) Stereotypen bei Fremdzuschreibungen. Auf der nonverbalen Ebene geht es nicht nur um die Bedeutung der Körpersprache (Mimik, Gestik, Aussehen, Distanz, etc.), sondern auch um Verhaltensmuster in gegebenen Situationen. Dazu gehören beispielsweise Begrüssungs- und Besuchsrituale oder Ess – und Hygienegebräuche, wie auch Fragen von Geben und Nehmen, von Höflichkeit (was ist anständig?), von Gesprächsführung oder Konfliktstilen. Auf der weltanschaulichen Ebene stehen Grundannahmen über die Ordnung der Welt sowie die Stellung und Ziele des Menschen im Vordergrund. Sie äussern sich beispielsweise in Werten und Normen oder in Idealen und Überzeugungen. In einer gegebenen Situation kann es hilfreich sein, die Orientierung der beteiligten Personen in Bezug auf folgende (polarisierende!) Punkte zu hinterfragen: • Welche Bedeutung hat das Individuum samt seinem Recht auf Selbstentfaltung und seiner persönlichen Verantwortung bei der Zugehörigkeit zu einem (Familien- oder Clan-) Verband, die gleichzeitig Einschränkungen und Schutz mit sich bringt? • Handelt der Mensch zielstrebig, eigensinnig, schöpferisch und auf seinen eigenen Vorteil bedacht oder eher einfühlsam, aufopferungsbereit, traditionsbewusst und konformistisch? Ist Zeit eher linear, messbar und zukunftsgerichtet zu verstehen oder als etwas, das in Kreisläufe und Rhythmen eingebettet und primär eine Qualität ist? • Steht eine analytische und sachliche oder eine kosmologische und magische Denkweise im Vordergrund, wenn über etwas nachgedacht wird? Gibt es klar geregelte Formen der Entscheidungsfindung oder ein Ausdiskutieren bis zu einem allgemeinen Konsens? Besteht ein Ideal z. B. in den Geschlechterrollen, in der Partnerschaft oder der Hierarchie? • Sind es eher effizienzorientierte Werte wie Disziplin, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und Genauigkeit, an denen man sich orientiert, oder sind es eher gemeinschaftsbezogene wie das Eingehen auf soziale oder religiöse Erwartungen und Verpflichtungen? Wie steht es um die Trennung der Bereiche Arbeit, Freizeit und Privatleben?

5  Anhang: „Kultur“ und interkulturelle Kommunikation     155

Im Umgang mit solchen polarisierenden Werten ist davon auszugehen, dass die Menschen unabhängig von ihrer Herkunft oft beide Seiten in sich haben. Nur die Gewichtung in einer bestimmten Situation ist unterschiedlich – und eine Sensibilisierung dafür folglich ein guter Ausgangspunkt, um harte Wertgegensätze zumindest ein wenig abzuschwächen. Auch sollte man sich bewusst sein, dass einer Wertung (was ist gut? was ist schlecht?) nicht immer die gleiche Wertachse zugrunde liegt und dass eine Klärung dieser oft unausgesprochen gültigen „Voraussetzungen“ dazu dienen kann, scheinbar unvereinbare Wertungen kompatibler zu machen. Solche Wertachsen basieren oft auf sehr unterschiedlichen Gegensatzpaaren mit ihren spezifischen Werten z. B. angenehm und unangenehm / lustvoll und schmerzhaft / schön und hässlich / nützlich und schädlich / reich und arm / gesund und krank / klug und dumm / tapfer und feige / fleissig und faul / ehrlich und unehrlich / tauglich und untauglich / zuverlässig und unzuverlässig / wahrhaftig und unglaubwürdig / heilig und profan / wahr und falsch / gut und böse / gerecht und ungerecht / tugendhaft und lasterhaft / sauber und schmutzig / etc.

Auch jeder Intervenierende wird in solchem Sinne wahrgenommen, und häufig wird nicht zwischen Funktionen, Rollen und der Person mit ihren eigenen Überzeugungen unterschieden. Denn die Anerkennung der eigenen gesellschaftlichen Normen und der Verpflichtungen eines Mitteleuropäers sind für migrierte Menschen oft ein wesentlicher – interkultureller – Lernschritt. Es ist wichtig, diesen Lernschritt anzustossen und zu begleiten, ebenso wie die Vermittlung anderer wichtiger Grundprinzipien, deren Kenntnis und Respektierung das (integrierte) Leben hier erst ermöglichen – oder es zumindest vereinfachen. So gilt es nicht nur, alle hier Anwesenden mit einigen administrativen Abläufen und Regelungen vertraut zu machen, sondern auch, für das einzustehen, was als das Fundament einer offenen und demokratischen Gesellschaft verstanden wird: individuelles Selbstbestimmungsrecht, demokratische Ordnung, Gleichberechtigung der Geschlechter, Gewaltlosigkeit, überfamiliäre Solidarität, staatlich organisierte Gewaltentrennung, staatliches Gewaltmonopol, Religionsfreiheit usw. In der Praxis soll man diese und andere Punkte – z. B. die grundlegenden Rechte und Pflichten – in einem ersten Schritt diskutieren und mit konkreten Inhalten versehen. Doch kann jede interkulturelle Kommunikation nur dann erfolgreich sein, wenn sie nicht nur auf dem Verstehen der anderen Position beruht, sondern auch klar vermittelt, wo man selbst, auch mit seinen eigenen Erwartungen, steht. Erst das ermöglicht eine

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Zusammenarbeit, die auf den im Empfangsland gültigen (resp. möglichen) Idealen beruht und dem Migranten Raum gibt zu seiner individuellen kulturellen Freiheit. Im Sinne einer Schlussbemerkung wird darauf hingewiesen, dass jede Betreuungsarbeit in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ eine wesentliche Grundlage findet. Die von der Generalversammlung der UNO im Dezember 1948 verabschiedeten Menschenrechte beginnen mit dem Artikel 1. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“

Die Menschenrechtserklärung ist beim Hochkommissariat für Menschenrechte in Genf zu beziehen, auch via Internet: http//www.unchr.ch/htm/ menu6/1/udgerman.http.

Weiterführende Literatur

Antonovsky A (1979) Health, stress and coping: new perspectives on mental and physical well-being. Jossey-Bass, San Francisco Antonovsky A (1997) Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Deutsche erweiterte Ausgabe, von Alex Franke. DGVT, Tübingen APA American Psychiatric Association (2013) Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders V. American Psychiatric Association, Washington Beerlage I (2015) Psychosoziales Belastungs- und Handlungsverständnis für Interventionen nach Notfallereignissen und belastenden Einsatzsituationen. In: Perren-Klingler G (Hrsg) Psychische Gesundheit und Katastrophen. Springer, Heidelberg Dolan Y (2009) Schritt für Schritt zur Freude zurück. Das Leben nach traumatischen Erfahrungen. Carl-Auer, Heidelberg Erickson EH (1950) Childhood and society. Imago, London (Deutsch: Kindheit und Gesellschaft (1979) Klett Kotta, Baar) Meier C, Perren-Klingler G (1998) Ressourcenarbeit: ein Handbuch für die Betreuung von und mit Flüchtlingen. Asylorganisation Zürich, Zürich Mitchell JT (1998) Critical incident stress management, a new era in crisis intervention. Trauma Stress Points 12(4):6–11 Perren-Klingler G (2015) Salutogenese und Ressourcenarbeit als Basis der PSNV. In: Perren-Klingler G (Hrsg) Psychische Gesundheit und Katastrophen. Spinger Sonnenberg Menkel I (1997) Camp memory of Anne Frank, The Irish Times, 18. August.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Perren-Klingler, Ressourcenarbeit in der Flüchtlingshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60471-7

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Stichwortverzeichnis

A

E

Abschied 86, 123 Alter 32 Ankern 74 mit Zielformulierung 118 von Ressourcen 115 Assoziation 71 Atemübung 50, 98, 112 Atmung 12, 73 Ausweichstrategie 9, 13

Emotion 23 kognitive 103 Entfaltungsmöglichkeit 33 Entwicklungsphase 30 Ereignis, kritisches 4 Erfahrung, traumatogene 4, 5, 33, 82 Erwachsene 32 Erziehung 28, 31, 81, 105 F

B

Belastungsstörung, posttraumatische 10 Beziehung, Voraussetzungen 59 D

Debriefing 14, 80 psychologisches 132 Depression 19 Diamantmodell 61, 96 Dissoziation 11, 72 multiple 122 Distress 47

Familie unvollständige 36 Wiedereingliederung 38 Flashback 9, 11, 68 Kinder 35 Fokussierung 6, 9 Folter 2, 4 G

Geschichte, Niederlegung 23 Gespräch 61 Gesundheit 40 seelische 41, 50

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Perren-Klingler, Ressourcenarbeit in der Flüchtlingshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60471-7

159

160     Stichwortverzeichnis H

P

Hausaufgaben 49 Hilflosigkeit 9, 54, 145

Parasympathikus 6, 12, 74 Peer 98 Peerarbeit 3, 132 Powerübung 110 PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) 10 PTSD (Post Traumatic Stress Disorder) 10 Pubertät s. Jugendliche

I

Identität 31 Integration 3, 16, 22 J

Jugendliche 28, 31 Q

Quintupel 63, 72 K

Kalibrieren 94 Kinder 28, 30 Kognition 23 Konflikt 47 Konfrontation 13, 16–18, 71 Kongruenz, dreifache 103 Kontrolle 27 Kontrollierbarkeit 2 Kultur 28 verschiedene 25 M

Modalitäten 63 N

Nervensystem, autonomes 6, 7, 11, 13 Neurobiologie 5 Neurozeption 6 Notfallsituation 97, 99

R

Rapport 59 Rapportspiel 93 Reaktion akute traumatische 8 post-expositionale 7, 9 posttraumatische 11, 51 unspezifische 13 Redewendung, salutogenetische 70, 107 Reframing 27 Resilienz 2, 12 Ressource 3 Ankern 115 kognitive 102 Ressourcenungleichgewicht 7 Ritual 14, 18, 26 Rückkehr 85 S

O

Ohnmacht 9, 53 Opfer 44

Salutogenese 2, 70 Sandübung 114 Scham 9, 44, 46 Schreiben der Geschichte 23

Stichwortverzeichnis    161

Schuld 44 Schuldgefühle 45 Sekundärtraumatisierung 51 Selbstkohärenz 2 Selbstschutz 51, 109 Selbstwirksamkeit 49, 75 Selfempowerment 13 Sexualität 41 Sicherheit 98 Sinnesrepräsentanz 63 Sinneswahrnehmung 64 Sinnhaftigkeit 2, 27 Sinnschöpfung 15 Sprache 63 kognitive 67 STOP-Modell 97 Stress Distress 47 extremer 5 neurobiologische Abläufe 5 Stressreaktion 7, 46, 132 Submodaliäten 64 Sucht 42 Sympathikus 6, 12 T

Täter 16, 44 Trauer 10, 16 Trauerprozess 17 Trauma Definition 4 Folgen 8 neurobiologische Stressabläufe 5 Traumatisierung 4

stellvertretende 51 Trost 18 U

Übererregung 8, 13 Urmisstrauen 30 Urvertrauen 30 V

VAKOG 63, 72 Vergewaltigung 4, 42 Verhandeln 48, 81, 106 Verlusterlebnis s. Trauer Vermeidungsstrategie 13 Versöhnung 16 Verständlichkeit 2 Verstehen 27 W

Wachstum, posttraumatisches 28 Wahrheit 25 Wahrnehmungsposition 71 Werte 28 bi-kulturelle 105 transkulturelle 80 Wiedererleben 9, 13 Wut 9 Z

Zielformulierung, positive 66, 101 Zukunftsplanung 82