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German Pages 125 Year 1996
HANS-HEINRICH JESCHECK
Fälle und Lösungen zum Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil mit Aufbaumustern
Fälle und Lösungen zum Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil mit Aufbaumustern
von Dr. iur. Dr. iur. h. c. mult. HANS-HEINRICH JESCHECK em. o. Professor der Rechte an der Universität Freiburg i. Br. em. Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe a. D.
unter Mitwirkung von NORBERT PANTLE Richter in Freiburg i. Br.
Dritte, unveränderte Auflage
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Jescheck, Hans-Heinrich:
Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil I von HansHeinrich Jescheck und Thomas Weigend.- Berlin : Duncker und Humblot. Bis 4. Aufl. verf. von Hans-Heinrich Jescheck NE: Jescheck, Hans-Heinrich; Weigend, Thomas
Fälle und Lösungen. Mit Aufbaumustem. - 3., unveränd. Aufl., - 1996 ISBN 3-428-08454-3
Alle Rechte vorbehalten
© 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-08454-3
Vorwort Die vorliegende Fallsammlung zum Allgemeinen Teil des Strafrechts ist als Hilfsmittel für Studium und Unterricht gedacht und wendet sich an Universitätslehrer und Studenten. Auch die Wiederholung der Fälle zur Examensvorbereitung wird von Nutzen sein, besonders wenn die Probleme dem Leser schon bekannt sind und dieser sich an die Fallproblematik und ihre Lösungsmöglichkeiten zurückerinnern kann. Entstanden ist dieses Buch aus jahrelanger Lehrtätigkeit. Die Fallsammlung wurde mit der Zeit immer mehr ausgebaut und verfeinert, so daß schließlich ein weitgehend vollständiger Überblick über die Hauptprobleme des Allgemeinen Teils des Strafrechts zustande gekommen ist. Ursprünglich wurden nur die Fälle selbst in vervielfältigter Form als Aufgaben an die Studenten während der Vorlesung verteilt. Die Hörer sollten sich die Lösungen an Hand des Studiums der Gerichtsentscheidungen selbst erarbeiten und dann imstande sein, sie im Besprechungsteil der Vorlesung oder zur Illustration einzelner Rechtssätze oder theoretischer Aussagen auf Frage des Professors aus eigener Kraft, wenn auch mit Hilfen, vorzutragen. Diese anspruchsvolle Lehrmethode hat sich lange Zeit bewährt, sie war aber an einigermaßen überschaubare Verhältnisse gebunden. Als die Zahl der Hörer so stark zunahm, daß die Entscheidungssammlungen und Zeitschriften des Juristischen Seminars zur Vorbereitung nicht mehr ausreichten, wurden den Fällen Lösungen beigegeben und diese nach und nach ebenfalls verfeinert und ausgebaut. Das System der Verteilung von vervielfältigten Fällen mit Lösungen ließ sich jedoch auf die Dauer ebenfalls nicht aufrechterhalten, da die laufende Reproduktion dieses umfangreichen Materials im Hinblick auf die ständig wachsende Hörerzahl über die Grenze dessen, was man vernünftigerweise an Vorbereitung einer Vorlesung leisten kann, hinausging. So haben wir uns entschlossen, das Ganze in Buchform zu veröffentlichen. Dafür wurde ein anspruchsloser äußerer Rahmen gewählt, um den Preis des Heftes so gering zu halten, daß es für jeden Studenten erschwinglich ist und die Fallsammlung als Beilage zur Vorlesungsmitschrift ohne weiteres angeschafft werden kann. Die Fälle sind ganz überwiegend der Praxis des Bundesgerichtshofes und anderer Gerichte entnommen. Der Sachverhalt der Fälle ist gegenüber der Originalentscheidung oft vereinfacht oder auch verändert, um die Lösung jeweils auf das Wesentliche beschränken zu können. Nur ganz wenige "Schulfälle" sind als Ergänzung eingestreut, wenn es an geeignetem praktischen Fallmaterial fehlte. Bei einzelnen Problemkreisen - wie bei der Straftheorie und dem Gesetzlichkeitsprinzip - wurden ferner Beispiele aus der Literatur und der Gesetzesgeschichte mit Erläuterungen eingefügt. Gelegentlich wurden auch Fragen mit Antworten verwendet, um einzelne Punkte, auf die es uns ankam, zu verdeutlichen. Bei den Lösungen, Erläuterungen und Antworten wurde auf Kürze, Übersichtlichkeit und Beschränkung auf das jeweilige Hauptproblem Wert gelegt, um es dem Studenten, der der Vorlesung folgt, diese nacharbeitet oder wiederholt, so leicht wie möglich zu machen, den "springenden Punkt" mit einem Blick zu erfassen. Sehr wünschenswert ist es, wenn der Benutzer der Fallsammlung auch die Originalentscheidungen zu Rate
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Vorwort
zieht, doch wird dies aus Zeitgründen und wegen der Überfüllung der juristischen Bibliotheken und Seminare unter den gegenwärtigen Umständen nicht immer möglich sein. Für diesen Fall bringen die Lösungen stets eine zuverlässige erste Antwort auf die Fragen, die sich dem Leser beim Studium des Sachverhaltes stellen. Die Fallösungen sind eng an das Lehrbuch angelehnt. Die nähere Erläuterung des behandelten Problems, der größere Zusammenhang, in den dieses hineingestellt ist, sowie die Literatur und Rechtsprechung müssen im Lehrbuch nachgelesen werden. Deswegen wird in den Fallösungen grundsätzlich auf das Lehrbuch verwiesen. Andere Literatur ist nur dann angeführt, wenn das betreffende Problem, etwa weil es dem Besonderen Teil angehört, im Lehrbuch nicht behandelt wird. Wir hoffen, daß unsere Fälle, die vielen Generationen Freiburger Studenten bei der Erarbeitung der Hauptprobleme des Allgemeinen Teils des Strafrechts gedient haben, in dieser Form auch einem größeren Kreis von Nutzen sein werden. Freiburg i. Br., Sommersemester 1978 Hans-Heinrich Jescheck
Norbert Pantle
Inhaltsverzeichnis Erster Teil: Fälle und Lösungen I. Allgemeine Grundlagen (Lehrbuch §§ 1 - 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Fall
1: Schuldprinzip (BGHSt 20, 264) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Fall
2: "Möglicher Wortsinn" als Grenze der Auslegung (BGHSt 1, 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Frage 3: Rückwirkungsverbot. Verhältnis von Bundes- und Landesstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Frage 4: Zur Todesstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
//. Das Verbrechen (Lehrbuch § 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Frage 5: Vertragsstrafe, kriminelle Strafe, Geldbuße, Schadensersatz . . 17 Frage 6: Normverletzung und Strafdrohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Frage 7: Handlungsunwert, Erfolgsunwert, Gesinnungsunwert . . . . . . 19 Frage 8: Verbrechen und Vergehen .......................... 19 Fall
9: Verbrechensbegriff bei besonders schweren Fällen mit Regelbeispielen (BGHSt 20, 184) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
Fall
10: Verbrechensbegriff bei Versuchsmilderung . . . . . . . . . . . . . . 20
Fall
11: Straftat und Ordnungswidrigkeit (OLG Karlsruhe GA 1970, 21 313) 0
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Frage 12: Bestimmtheitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
///. Strafen und Maßregeln (Lehrbuch §§ 8 und 9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Beispiele mit Erläuterungen (Nr. 1 - 12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
IV. Die Garantiefunktion des Strafgesetzes und die Auslegung der Strafgesetze (Lehrbuch §§ 15 und 17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Beispiele mit Erläuterungen (Nr. 1 - 9) ................... , . . . . 26 Fall 13:
Analogieverbot beim Grunddelikt (RGSt 32, 165) . . . . . . . . . 29
Fall 14:
Analogieverbot bei qualifizierenden Merkmalen (BGHSt 10, 29 375) 0
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Fall 15:
Grenzen der Auslegung innerhalb des "möglichen Wortsinns" (BGH NJW 1969, 1260) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Fall 16:
Analogieverbot bei Ordnungswidrigkeiten (LG Harnburg MDR 1954, 630) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
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Inhaltsverzeichnis
V. Der Geltungsbereich des deutschen Strafrechts (Lehrbuch §§ 18 und 20) 31
Fall 17: Stellvertretende Strafrechtspflege. Schutz ausländischer Rechtsgüter (OLG Hamm JZ 1960, 576) ..................... 31 Fall 18: Weltrechtsprinzip (BGHSt 27, 30) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Fall 19: Bedeutung der Normidentität (BGHSt 8, 349) . . . . . . . . . . . . 33 Fall 20: Territorialitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Fall21: Begehungsort (BGHSt 4, 333) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Fall22: Strafrechtsanwendung im Verhältnis zur DDR . . . . . . . . . . . . 35 VI. Allgemeine Grundlagen des Verbrechensbegriffs (Lehrbuch§§ 21 und 23) 36
Fall 23: Rechtfertigender und entschuldigender Notstand ("Mignonette-Fall" nach The Queen v. Dudley and Stephens, Queen's Bench Division, Bd. 14, 1884- 85, S. 273) . . . . . . . . . . . . . . . 36 Fall 24: Handeln und Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Fall 25: Handeln für einen anderen (RGSt 60, 234) . . . . . . . . . . . . . . . 38 VII. Kausalität und objektive Zurechnung (Lehrbuch§ 28) . . . . . . . . . . . . . 39
Fall 26: Äquivalenz- und Adäquanztheorie (BGHSt 1, 332) . . . . . . . . . 39 Fall27: Kausalität und hypothetische Ersatzursachen (BGHSt 13, 13) . . 40 Fall28: Kausalität und dolus generalis (OGHSt 2, 285) . . ... . ..... 41 Fall29: Kausalität und rechtmäßiges Alternativverhalten (BGHSt 11, 1) 42 Fall 30: Objektive Zurechnung gemeinsam verursachter Lebensgefahr (BGHSt 7, 112) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Fall 31: Objektive Zurechnung und Schutzbereich der Norm (BGHSt 21, 59) ......................................... 44 Fall 32: Trunkenheit und rechtmäßiges Alternativverhalten (BGHSt 24, 31) .................. . . . ................. . .... 45 VIII. Vorsatz und Tatbestandsirrtum (Lehrbuch § 29) . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
Fall 33: Vorsatz und Irrtum über den Kausalverlauf (RGSt 70, 257) . . . 46 Fall 34: Irrtum über •in normatives Tatbestandsmerkmal (RGSt 53, 237) .. . .. . ... . .................... .. .......... 47 Fall 35: Arten des Vorsatzes: Absicht (BGHSt 16, 1) . . . . . . . . . . . . . 48 Fall 36: "Aberratio ictus" (RGSt 58, 27) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Fall 37: "Error in persona" bei Täter und Anstifter (Preuß. Obertribunal GA 1859, 332) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Fall 38: Arten des Vorsatzes: direkter Vorsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Fall 39: Arten des Vorsatzes: bedingter Vorsatz (BGHSt 7, 363) . . . . . 53 Fall 40: "Error in persona" bei Mittäterschaft (BGHSt 11, 268) . . . . . . 54 Fall 41: Irrtum über den Eintritt der Schuldunfähigkeit (BGHSt 7, 325) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
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IX. Rechtfertigungsgründe (Lehrbuch§§ 31 - 36) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Fall 42: Notwehr, vorläufige Festnahme, Selbsthilfe (RGSt 55, 82) . . . . 56 Fall43: Grenzen der Notwehr (BayObLG NJW 1963, 824; OLG Stuttgart NJW 1966, 745) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Fall 44: Notwehrprovokation (BGHSt 24, 356) . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Fall 45: Voraussetzungen der Nothilfe (BGHSt 5, 245) . . . . . . . . . . . . 60 Fall 46: Notwehr und fahrlässiges Handeln (BGHSt 25, 229) . . . . . . . 62 Fall 47: Grenzen des Angriffsnotstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Fall 48: Notstand und Kollisionsbeziehung der Rechtsgüter (BGHSt 12, 299) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Fall 49: Einwilligung und mutmaßliche Einwilligung . . . . . . . . . . . . . 65 Fall 50: Züchtigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Fall 51: Einwilligung und Einverständnis (BGHSt 4, 199) . . . . . . . . . . 68 X. Die Schuldlehre (Lehrbuch§§ 40- 44) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Fall 52: Verminderte Schuldfähigkeit (BGHSt 21, 27) . . . . . . . . . . . . . 69 Fall 53: Vollrausch und Tatbestandsirrtum (RGSt 73, 177) . . . . . . . . . 69 Fall 54: "Actio libera in causa" (BGHSt 21, 381) . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Fall 55: Irrtum über die Grenzen des Selbsthilferechts (BGHSt 17, 87) 71 Fall 56: Entschuldigender Notstand und "besonderes Rechtsverhältnis" (RGSt 72, 246) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Fall 57: Erlaubnistatbestandsirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 XI. Versuch und Rücktritt (Lehrbuch §§ 49- 51) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Fall 58: Unmittelbares Ansetzen zur Tat (BGHSt 22, 80) . . . . . . . . . . 75 Fall 59: Doppelt untauglicher Versuch und grober Unverstand (RGSt 34, 217) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Fall60: "Untauglichkeit des Tatorts" (BGH NJW 1952, 514) .. . .... 76 Fall61: Untauglicher Versuch und Wahndelikt .. ....... . ....... 77 Fall62: Tatbestandsirrtum und Wahndelikt (OLG Stuttgart NJW 1962, 65) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Fall 63 : Abergläubischer Versuch (RGSt 33, 321) . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Fall 64: Rücktritt bei natürlicher Handlungseinheit (BGHSt 22, 176) 80 Fall 65 : Freiwilligkeit des Rücktritts bei Überlistung (BGHSt 7, 296) 82 Fall66: Rücktritt vom beendeten Versuch (BGH NJW 1973, 632) . . .. 82
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Fall 67: Freiwilligkeit des Rücktritts beim Erkanntwerden durch das Opfer (BGHSt 24, 48) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Fall 68 : Freiwilligkeit des Rücktritts bei enttäuschender Beute (RGSt 39, 37) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 XII. Das fahrlässige Begehungsverbrechen und das Unterlassungsverbrechen (Lehrbuch §§54- 60) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Fall 69: Fahrlässigkeit und Schutzzweck der Norm (RGSt 63, 392) . . . 86 Fall 70: Garantenstellung aus natürlicher Verbundenheit (BGHSt 19, 167) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Fall 71: Garantenstellung aus vorangegangenem gefährdenden Tun (BGHSt 7, 287) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Fall 72: Keine Garantenpflicht bei sozialadäquatem Vorverhalten (BGHSt 19, 152) .. ..... .. ... . . . ....... . ... .. . . .. . 91 Fall 73: Gebotsirrtum über die Garantenpflicht (BGHSt 16, 155) . . . . . 92 Fall 74: Keine Garantenpflicht aus Notwehrhandlung (BGHSt 23, 327; BGH NJW 1973, 1706) ... . . . ... . .. . ...... . .... .. . . 93 Fall 75: Zumutbarkeit beim Unterlassungsdelikt (BGH JZ 1973, 173) 94 XIII. Täterschaft und Teilnahme {Lehrbuch§§ 61- 65) ... . ...... . . . .. . 96 Fall 76: Subjektive Teilnahmetheorie und Tatherrschaftslehre (RGSt 74, 84) . .. ... . .. . ... . . .. . ... . . .. .. . . . . . . . .. .... . 96 Fall 77: Tatherrschaft beim Doppelselbstmord (BGHSt 19, 135) . . . . . 97 Fall 78: Mittelbare Täterschaft durch rechtmäßig handelndes Werkzeug (BGHSt 3, 4) ..... ... .. ... . ... . . .... .... . . .. . .. .. 98 Fall 79: Eigenhändiges Delikt. Vorsatz des Haupttäters (OLG Stuttgart JZ 1959, 579) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Fall 80: Notwendige Teilnahme (BGHSt 17, 369) ..... ... ..... .. . 100 Fall 81: Anstiftung zur Übersteigerung des Tatvorsatzes (BGHSt 19, 339) . . . . .. .... . ... .. . . .. . .. .. . .. . . ... . .. .. . . . . 101 Fall 82: Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe (BGHSt 24, 286) . . 102 Fall 83: Eingebildete Tatherrschaft und Anstiftung (BGHSt 21, 116) 103 XIV. Einheit und Mehrheit von Straftaten (Lehrbuch §§ 66- 69) . . .. . .. . . 104 Fall 84: Tateinheit und Tatmehrheit (BGHSt 22, 206) .. ... . . . ..... 104 Fall 85: Voraussetzungen der fortgesetzten Handlung (BGHSt 19, 323) 105 Fall 86: Handlungseinheit durch "Klammerwirkung" (BGHSt 18, 26) 106 Fall 87: Auflösung der Dauerstraftat (BGHSt 21, 203) .. . . . .. . .... 108
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XV. Die Rechtsfolgen der Straftat (Lehrbuch §§ 72- 84) .. . .. . .. . .. .. . . 109 Fall 88: Bemessung des Tagessatzes bei der Geldstrafe (OLG Celle NJW 1975, 2029) . ..... . .. . .. .. .. . ... . .. . . .. .. . .. . 109 Fall 89: Geldstrafe statt kurzfristiger Freiheitsstrafe und vorläufige Einstellung des Strafverfahrens . . . . . .. . .. . .. . .. . ... . .. 110 Fall 90: Die "Verteidigung der Rechtsordnung" (BGHSt 24, 40) . . . . . 111 Fall 91: Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Sicherungsverfahren (BGHSt 20, 232) ......... . .. . . ... . . . .. 112 Fall 92 : Entziehung der Fahrerlaubnis bei Zusammenhangstaten (BGHSt 17, 218) ... . . .. . . . ... . .. .. . . . .. . .. . ... . . . 113
Zweiter Teil: Anleitungen zur Bearbeitung strafrechtlicher Fälle A. Das vollendete vorsätzliche Begehungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 B. Das versuchte vorsätzliche Begehungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 C. Das fahrlässige Begehungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 D. Das Unterlassungsdelikt (vier Fallgestaltungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 (1) Das vorsätzliche echte Unterlassungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 (2) Das fahrlässige echte Unterlassungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 (3) Das vorsätzliche unechte Unterlassungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 (4) Das fahrlässige unechte Unterlassungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 E. Verschiedene Formen der Beteiligung (jeweils nur der Tatbestand) . . . . . 122 (1) Mittäterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 (2) Mittelbare Täterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 (3) Anstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 (4) Beihilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
Erster Teil: Fälle und Lösungen I. Allgemeine Grundlagen Lehrbuch §§ 1 - 4
Fallt Schuldprinzip A wurde wegen versuchter Vergewaltigung in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Das Gericht hat dabei zugunsten des A verminderte Schuldfähigkeit nach § 21 angenommen, aber gleichwohl als "Sicherungsmaßnahme im weitesten Sinne" eine erheblich höhere Strafe ausgesprochen, als nach dem Maß der Schuld verdient gewesen wäre. Läßt sich zur Begründung dafür anführen, daß die Überschreitung der Schuldobergrenze nach § 46 I S. 1 zulässig sei, da die Schuld nur "Grundlage" für die Zumessung der Strafe ist (BGHSt 20, 264; Gegenstück zur Verbindlichkeit der Schulduntergrenze BGHSt 24, 132)?
Lösung
Die Strafzumessung vollzieht sich in zwei Schritten: 1. Zuerst ist der gesetzliche Strafrahmen zu ermitteln. Nach §§ 177 I, 38 II reicht der gesetzliche Strafrahmen bei Vergewaltigung von zwei bis zu fünfzehn Jahren. Da A die Taten im Zustand verminderter Schuldfähigkeit begangen und außerdem. nur versucht hat, besteht eine doppelte Strafmilderungsmöglichkeit sowohl nach §§ 21, 49 I als auch nach §§ 23 II, 49 I. § 50 schließt die mehrfache Milderung nur aus, wenn die Annahme eines minder schweren Falles (z. B. § 177 II) auf einen besonderen gesetzlichen Milderungsgrund (z. B. § 23 II) gestützt wird. Nach § 49 I Nr. 3 in Verbindung mit § 21 und § 23 II ermäßigt sich das Mindestmaß infolge der doppelten Milderungsmöglichkeit im vorliegenden Falle für jede Einzeltat auf das gesetzliche Mindestmaß der Freiheitsstrafe von einem Monat (§ 38 II). Nach § 47 II S. 1 wäre daher die geringstmögliche Strafe für jede einzelne Tat eine Geldstrafe von 5 Tagessätzen (§ 40 I). § 47 II 2 greift nicht ein, da infolge der doppelten Strafmilderung kein erhöhtes Mindestmaß der Freiheitsstrafe gegeben ist. Die Gesamtstrafe ist nach § 54 durch Erhöhung der verwirkten höchsten Strafe zu bilden (Lehrbuch § 68 III).
2. Innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens ist die im Einzelfall angemessene Strafe nach § 46 zu bestimmen. Die nicht ganz eindeutige "Grundlagenformel" des § 46 I 1 ist dahin zu verstehen, daß nur eine nach Art und Maß schuldangemessene Strafe ausgesprochen werden darf, bei der freilich ~~eh § 46 I S. 2 auch die Spezialprävention zu berücksichtigen ist (zur Frage der Uber- bzw. Unterschreitung des schuldangemessenen Strafmaßes Lehrbuch § 4 I). Der Richter muß bei der Strafzumessung von der Strafe ausgehen, die nach seiner Auffassung schuldangemessen ist.
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
Er kann diese Strafe unter Berücksichtigung von general- und spezialpräventiven Erwägungen modifizieren, jedoch darf er von seinem Ausgangspunkt nur so weit abweichen, daß die Strafe noch als schuldangemessen erscheint (Lehrbuch § 82 III 3). Auch zur Sicherung der Allgemeinheit darf keine Ausnahme vom Gebot der Schuldangemessenheit der Strafe gemacht werden. Zwar setzen die Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61 ff.) keine Schuld voraus, sondern verlangen nur die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (§ 62). Strafe und Maßregel sind aber derart wesensverschieden, daß Erwägungen zum Strafmaß nicht mit Erwägungen zur Maßregelfrage vermengt werden dürfen. Ergebnis: Das Gericht durfte die schuldangemessene Strafe nicht überschreiten. Einem durch die schuldangemessene Strafe nicht gedeckten Sicherungsbedürfnis wäre durch Unterbringung des A in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 Rechnung zu tragen gewesen (Zweispurigkeit).
Fall2 "Möglicher Wortsinn" als Grenze der Auslegung A fügt B eine Gesundheitsbeschädigung zu, 1. indem er ihm verdünnte Salzsäure ins Gesicht schüttet (vgl. BGHSt 1, 1);
2. indem er ihm mit der Handkante an den Hals schlägt. Kann A nach § 223 a bestraft werden mit der Begründung, er habe die Körperverletzung "mittels eines gefährlichen Werkzeugs" begangen? Lösung
Zu 1: Es ist zu prüfen, ob verdünnte Salzsäure im Wege der Auslegung unter den Begriff "gefährliches Werkzeug" gebracht werden kann. Nach dem natürlichen Sprachgebrauch versteht man unter einem Werkzeug in erster Linie ein mechanisch wirkendes Hilfsmittel, während Salzsäure chemisch wirkt. Maßgebend ist jedoch Sinn und Zweck der Vorschrift, die die größere Gefährlichkeit der mit einem entsprechenden Werkzeug begangenen Körperverletzung durch erhöhte Strafe erfassen will (BGHSt 1, 1 [3]), und Salzsäure ist für die Körperintegrität des Verletzten nicht weniger gefährlich als ein Messerstich. Äußerste Grenze der Auslegung ist jedoch der "mögliche Wortsinn" (Lehrbuch § 17 IV 5). In einer in zunehmendem Maße technisierten Welt wird man auch ein "chemisches" Hilfsmittel als Werkzeug bezeichnen können, ohne daß man dem Wortsinn Gewalt antut. Ergebnis: A kann nach § 223a I erste Handlungsform (gefährliches Werkzeug) bestraft werden.
Zu 2: Hier stellt sich die Frage, ob die bloße Hand, wenn sie in besonders gefährlicher Weise gebraucht wird, unter Zugrundelegung des möglichen WOrtsinns als gefährliches "Werkzeug" bezeichnet werden kann. Unter einem Werkzeug versteht man einen Gegenstand, den sich der Mensch für seine Zwecke zunutze macht; Arbeit mit den bloßen Händen ist keine Arbeit mit einem Werkzeug. Die Hand läßt sich aber, auch wenn sie in besonders gefährlicher Weise gebraucht wird, nicht unter den Begriff gefährliches Werkzeug subsumieren. Da ein Handkantenschlag gegen den Hals den gleichen Grad an Gefährlichkeit erreichen kann wie eine Körperverletzung mit einem gefährlichen Werkzeug, könnte eine rechtliche Gleichbehandlung geboten erscheinen. Ist der Handkantenschlag
I. Allgemeine Grundlagen (Lehrbuch§§ 1 - 4)
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nicht im Wege der Auslegung unter den Begriff "gefährliches Werkzeug" zu bringen, so könnte man daran denken, § 223a I erste Handlungsform auf den Handkantenschlag analog anzuwenden. Während analoge Rechtsanwendung in anderen Rechtsgebieten, insbesondere im Zivilrecht* gestattet und häufig geboten ist, gilt im Strafrecht, wie sich aus Art. 103 II GG, § 1 StGB ergibt, ein Verbot der Analogie zuungunsten des Täters. Denn wäre Analogie erlaubt, so könnte sich niemand darauf verlassen, daß nur derjenige bestraft wird, der eine durch Gesetz unter Strafe gestellte Handlung begeht (sog. Garantiefunktion des Tatbestandes). Daher ist es nicht zulässig, den Handkantenschlag als Körperverletzung mit einem gefährlichen Werkzeug zu behandeln. Nur der Gesetzgeber könnte daran durch Erweiterung des § 223 a etwas ändern. Ergebnis: A ist nicht nach § 223a I erste Handlungsform strafbar. Möglicherweise kommt aber eine Strafbarkeit nach § 223 a I vierte Handlungsform (Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung) in Betracht.
Frage 3 Rückwirkungsverbot. Verhältnis von Bundes- und Landesstrafrecht Der Raub hat in der Bundesrepublik laufend zugenommen (die Verurteiltenziffer für "Raub und Erpressung" stieg von 8,9 im Jahre 1973 auf 10,3 im Jahre 1976 an). (Zur Verurteiltenziffer Lehrbuch § 5 I). 1. Könnte ein Bundesgesetz mit rückwirkender Kraft erlassen werden, durch das die Mindeststrafe für Raub abweichend von § 249 auf zwei Jahre Freiheitsstrafe festgesetzt würde? 2. Könnte ein Landesgesetz eine solche Strafschärfung wenigstens für die Zukunft einführen? Antwort Zu 1: Grundsätzlich entscheidet der Gesetzgeber nach eigenem Ermessen in Anwendung der maßgeblichen Gesichtspunkte der Kriminalpolitik, welche Strafdrohungen er aufstellt. Sein Ermessen ist jedoch eingeschränkt durch höherrangiges Recht, insbesondere durch das Grundgesetz (Art. 20 III GG). Im vorliegenden Beispiel würde die rückwirkende Verschärfung der Strafdrohung für Raub einen Verstoß gegen Art. 103 II GG darstellen. Da nach dieser Vorschrift eine Tat nur dann bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit bereits vor der Tat gesetzlich bestimmt war, dürfen keine neuen Straftatbestände mit Rückwirkung geschaffen werden (Rückwirkungsverbot). Nicht ausdrücklich ist in Art. 103 II GG jedoch die Frage geregelt, ob auch für bestehende Straftatbestände rückwirkende Strafschärfungen unzulässig sind. Diese Frage wird in Rechtsprechung und Lehre heute einhellig bejaht (Lehrbuch § 15 IV 3 Fußnote 34; vgl. auch § 2 I StGB, wo ausdrücklich vorgeschrieben ist, daß die Strafe sich nach dem Gesetz bestimmt, das zur Zeit der Tat gilt). * Art. 1 Abs. 2 und 3 des schweizerischen Zivilgesetzbuches lauten: "Kann dem Gesetze keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Reg~l entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Er folgt dabei bewährter Lehre und Uberlieferung" .
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
Ergebnis: Ein Gesetz mit der rückwirkenden Strafschärfung wäre wegen Verstoßes gegen Art. 103 II GG nichtig (zum Verfahren der Feststellung der Nichtigkeit vgl. Art. 100 GG und§§ SOff. BVerfGG).
Zu 2: Nach Art. 74 Nr. 1 GG sind auf dem Gebiet des Strafrechts Bund und Länder konkurrierend für die Gesetzgebung zuständig. Das bedeutet nach Art. 72 I GG, daß die Länder nur insoweit für die Strafgesetzgebung zuständig sind, als der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht noch keinen Gebrauch gemacht hat. Der Bundesgesetzgeber hat den Raub in §§ 249ff. abschließend geregelt, so daß für ein Gesetzgebungsrecht der Länder kein Raum bleibt (vgl. auch Art. 4 II EGStGB; dazu Lehrbuch § 13 I 2 b). Ergebnis: Das Gesetz wäre wegen Unzuständigkeit des Landes nichtig (zum Verfahren der Feststellung der Nichtigkeit vgl. Art. 100 GG und §§SOff. BVerfGG).
Frage 4 Zur Todesstrafe 1. Aufgrund des Haager Abkommens zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen von 1970 (BGBI 1972 II S. 1506) wurde durch das 11. Strafrechtsänderungsgesetz vom 16. 12. 1971 der § 316 c über Angriff auf den Luftverkehr mit einer Strafdrohung von 5 bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe im Normalstrafrahmen eingeführt. Hätte durch § 316c für die Flugzeugentführung auch die Todesstrafe eingeführt werden können? 2. Läge die Wiedereinführung der Todesstrafe durch verfassungsänderndes Gesetz nach Art. 79 GG in der Linie der Kriminalpolitik der Bundesrepublik?
Antwort Zu 1: Nein, die Todesstrafe ist nach Art. 102 GG abgeschafft. Ein Gesetz, das sie wieder einführte, wäre wegen Verstoßes gegen Art. 102 GG nichtig. Zu 2: Die Todesstrafe wird in der Wissenschaft - trotz immer wieder aufkommender Gegenströmungen in der öffentlichen Meinung - fast einhellig als kriminalpolitisch unvertretbar abgelehnt (Lehrbuch § 71 1). Die Kriminalpolitik heiligt nicht jedes Mittel, sondern sie findet ihre Grenzen am Schuldgrundsatz, am Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und am Grundsatz der Humanität (Lehrbuch § 4 111). Der letztere Grundsatz verlangt, daß man versuchen muß, den Täter, der bestraft werden muß, zu resozialisieren, d. h. für das Leben in der Gemeinschaft wiederzugewinnen und tauglich zu machen. Auch bei schwerster Schuld darf der Verurteilte nicht gänzlich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Einen rationalen Grund für die Einführung der Todesstrafe gibt es nicht, da die Todesstrafe keine stärkere Abschreckungswirkung erreicht als die lebenslange Freiheitsstrafe und diese andererseits auch genügt, um die notwendige Generalprävention zu gewährleisten (über die Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe vgl. BVerfG NJW 1977, 1525).
Il. Das Verbrechen (Lehrbuch§ 7)
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II. Das Verbrechen Lehrbuch§ 7 Frage 5 Vertragsstrafe, kriminelle Strafe, Geldbuße, Schadensersatz Die Diebstähle in Warenhäusern und Selbstbedienungsläden haben in den letzten Jahren stark zugenommen. a) Gibt das bürgerliche Recht dem Geschäftsinhaber irgendwelche Sanktionen gegen den ertappten Ladendieb an die Hand? b) Weiche Sanktionen kennt das Strafrecht für derartige Fälle? c) Kann neben dem Strafrecht auch das Ordnungswidrigkeitenrecht angewendet werden? d) Kommen Schadensersatz und Strafe nebeneinander in Betracht?
Antwort 1. Eine eigentliche Sanktion kennt das bürgerliche Recht in Gestalt der Vertragsstrafe(§§ 339ff. BGB), doch scheidet diese hier aus, weil zwischen dem Dieb und dem Geschäftsinhaber keine Vereinbarung besteht, nach der eine Vertragsstrafe zu zahlen wäre. Der Geschäftsinhaber kann von dem Dieb nur Schadensersatz nach §§ 823 I, 823 II BGB in Verbindung mit§§ 242, 248a StGB verlangen. Nach§ 249 BGB besteht der Schadensersatz in der Rückgabe der gestohlenen Sache (Naturalrestitution), nach § 251 BGB kann Wertersatz verlangt werden, falls die gestohlene Sache etwa beschädigt worden ist oder sonst eine Wertminderung erfahren hat.
Umstritten ist, ob der Geschäftsinhaber unter dem Gesichtspunkt des Schadensersatzes auch Ersatz für die Kosten verlangen kann, die mit der Aufklärung von Ladendiebstählen in Verbindung stehen. Dabei hat sich folgende Linie als herrschend herausgebildet: Falls der Geschäftsinhaber für die Ergreifung eines Diebes eine angemessene Prämie ausgelobt hat und diese Prämie nach der Ergreifung des Diebes ausbezahlen muß, so kann er dafür Ersatz verlangen, weil dieser zusätzliche Schaden durch den Diebstahl verursacht ist (vgl. AG München NJW 1973, 1044). Hat der Geschäftsinhaber dagegen Hausdetektive angestellt oder sonst Vorkehrungen gegen Diebstähle getroffen (z.B. durch die Installierung von Fernsehkameras), so kann er die dadurch entstehenden Kosten nicht anteilsmäßig auf die ertappten Diebe umlegen, da es sich nicht um Folgekosten, sondern um Kosten für Vorsorgemaßnahmen handelt. Ebensowenig kann der Geschäftsinhaber Ersatz für die Bearbeitung des Diebstahls verlangen, sei es konkret für die Lohnkosten seines Personals, solange es mit der Bearbeitung des Diebstahls beschäftigt ist, sei es abstrakt durch eine pauschale Gebühr, weil es sich hierbei noch um den normalen Verwaltungsaufwand des Geschäftsinhabers handelt. 2. Weiche Sanktionen kennt das Strafrecht für derartige Fälle? Der Ladendiebstahl ist ein gewöhnlicher Diebstahl nach §§ 242, 248a. Nimmt der Dieb eine geringwertige Sache weg (Wertgrenze nach Schänke I Sehröder I Es er 2 Fälle und Lösungen, 3. A.
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
§ 248a Anm. 10 derzeit bei etwa 40,- DM), so wird die Tat von der Staatsanwaltschaft nur auf Antrag des Geschäftsinhabers ober bei Bestehen eines besonderen öffentlichen Interesses (z. B. Verhinderung des Strafantrags durch Druck auf den Verletzten) verfolgt. Der Diebstahl geringwertiger Sachen ist jedoch kein Privatklagedelikt (§ 374 I StPO). Nach § 46 wird eine Geldstrafe bei den meisten Ladendiebstählen ausreichen. Bei Wiederholungstätern kommt jedoch auch eine Freiheitsstrafe in Betracht, insbesondere wenn dies für die Einwirkung auf den Täter unerläßlich ist (§ 47 1). Liegen in der Person des Diebes die Rückfallvoraussetzungen vor, so ist die Verhängung einer Freiheitsstrafe nach § 48 obligatorisch. In weniger schweren Fällen kann unter Umständen auf Strafe verzichtet werden. Je nach Sachlage kommt dann die Verwarnung mit Strafvorbehalt (§§ 59ff.), die Einstellung des Strafverfahrens unter Auflagen (§ 153a StPO) oder die Einstellung ohne Auflage (§ 153 StPO) in Betracht. 3. Der Ladendiebstahl kann nicht als Ordnungswidrigkeit geahndet werden, weil es nach geltendem Recht keinen Ordnungswidrigkeitstatbestand des Ladendiebstahls gibt. Geldbußen dürfen keineswegs immer dann verhängt werden, wenn ein "Bagatellunrecht" vorliegt, sondern nur dann, wenn dies gesetzlich ausdrücklich vorgesehen ist. Auch im Ordnungswidrigkeitenrecht gilt das Gesetzlichkeitsprinzip (§ 3 OWiG). 4. Kommen Strafe und Schadensersatz nebeneinander in Betracht? Der Strafanspruch des Staates und der Schadensersat~:mspruch des Geschäftsinhabers stehen grundsätzlich unabhängig nebeneinander. Uber den Strafanspruch entscheidet der Strafrichter, über den Schadensersatzanspruch der Zivilrichter, ohne daß für den einen der Ausspruch des anderen rechtlich bindend wäre. Auf Antrag des geschädigten Geschäftsinhabers kann jedoch der Strafrichter den Dieb zu Schadensersatz verurteilen (§§ 403 ff. StPO). Dieses Verfahren wird in der Praxis selten angewendet. Häufig wird dagegen- bei Strafaussetzung zur Bewährung(§ 56b II Nr. 1), bei Verwarnung mit Strafvorbehalt (§§ 59a II, 56b II Nr. 1) und bei bedingter Einstellung nach § 153a I Nr. 1 StPO- die Auflage erteilt, den Schaden wiedergutzumachen. Eine derartige Auflage bedeutet nichts anderes, als daß der Täter Schadensersatz leisten muß, wenn er nicht Gefahr laufen will, daß die bereits ausgesprochene Freiheitsstrafe vollstreckt, die vorbehaltene Geldstrafe ausgesprochen oder die vorläufig zurückgestellte Anklage erhoben wird. Da insgesamt gesehen in den Fällen des Ladendiebstahls meist Geldstrafen verhängt werden, wird der Geschäftsinhaber in der Regel durch das Strafverfahren keinen Schadensersatz erhalten. Frage 6 Normverletzung und Strafdrohung Die Strafvorschrift über Ehebruch (früher § 172 StGB) ist durch das 1. Strafrechtsreformgesetz vom 25. 6. 1969 aufgehoben worden. Bedeutet dies, daß der Ehebruch damit nach staatlichem Recht erlaubt ist, oder kennt die Rechtsordnung außer dem Strafrecht auch noch andere Normen, aus denen sich die Rechtswidrigkeiteiner Handlung ergeben kann?
Antwort Der Ehebruch ist ein Verstoß gegen die in der Verpflichtung zur ehelichen Lebensgemeinschaft enthaltene Treuepflicht (§ 1353 I BGB) und damit rechtswid-
Il. Das Verbrechen (Lehrbuch§ 7)
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rig. Der Staat läßt den Ehebruch heute straflos, um sich nicht in die Ehe einzumischen und weil die Strafe in diesem Bereich mehr Schaden als Nutzen stiftet. Auch zivilrechtliche Ansprüche gegen den untreuen Ehegatten bestehen regelmäßig nicht (vgl. BGHZ 23, 215ff.). Erst wenn die Ehegatten sich nicht mehr einigen können, greift der Staat ein, nämlich bei der Scheidung der Ehe. Nach dem früheren § 42 EheG war der Ehebruch ein absoluter Ehescheidungsgrund. Nach§ 1565 I 1 BGB neuer Fassung kann eine Ehe geschieden werden, wenn sie gescheitert ist. Der Ehebruch hat damit seinen absoluten Charakter als Ehescheidungsgrund und die Ehescheidung ihren Charakter als Sanktion des Ehebruchs verloren. Eine gewisse Bedeutung kann der Ehebruch im Rahmen des § 1565 II BGB haben. Für den betrogenen Ehegatten kann es eine unzumutbare Härte darstellen, ein Jahr auf die Scheidung warten zu müssen, so daß eine sofortige Scheidung möglich ist. Frage 7 Handlungsunwert, Erfolgsunwert, Gesinnungsunwert In § 315c I Nr. 2 StGB sind bestimmte besonders gefährliche Verkehrsverstöße unter gewissen Voraussetzungen mit Strafe bedroht. Wo liegt in dieser Strafvorschrift der Handlungsunwert der Tat, wo der Erfolgsunwert, wo der Gesinnungsunwert? Antwort
Der Handlungsunwert der Tat liegt in der besonders gefährlichen, weil erfahrungsmäßig häufig zu Unfällen führenden Verkehrszuwiderhandlung, z. B. in der Nichtbeachtung der Vorfahrt (§ 315c I Nr. 2a) und darin, daß ein besonders schwerer Verstoß gegeben sein muß (grob verkehrswidrig). Der Erfolgsunwert besteht in der konkreten Gefahr für Leib oder Leben eines anderen oder für fremde Sachen von bedeutendem Wert (Gefährdungserfolg). Ein besonderer Gesinnungsunwert wird hier durch das Erfordernis der Rücksichtslosigkeit verlangt (Lehrbuch § 7 I 1). Frage 8 Verbrechen und Vergehen Ist bei der Untreue (§ 266), wenn ein besonders schwerer Fall 1m Sinne des Abs. 2 angenommen wird, der Versuch mit Strafe bedroht? Antwort
Nach§ 23 I ist der Versuch strafbar: a) bei Vergehen, wenn das Gesetz dies ausdrücklich bestimmt. Dies ist bei § 266 nicht der Fall (vgl. dagegen § 263 II); b) bei Verbrechen. Nach § 12 I ist eine Tat dann ein Verbrechen, wenn sie im Mindestmaß mit einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht ist. Zwar ist der besonders schwere Fall der Untreue in § 266 II im Mindestmaß mit einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht, maßgebend ist aber der Regelstrafrahmen. Nach § 12 III bleiben Schärfungen oder Milderungen, die nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils (z. B. 2*
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
§ 49) oder für besonders schwere oder minder schwere Fälle vorgesehen sind, bei der Einteilung außer Betracht (abstrakte Betrachtungsweise, Lehrbuch § 7 IV). Auch in einem besonders schweren Fall bleibt die Untreue daher ein Vergehen. Ergebnis: Auch in einem besonders schweren Fall ist der Versuch der Untreue nicht strafbar.
Fall9 Verbrechensbegriff bei besonders schweren Fällen mit Regelbeispielen Dem A wird in der Anklage (§§ 199 I, 200 StPO) zur Last gelegt, er habe seine von ihm getrennt lebende Ehefrau, während sie eine Besuchsreise in früheren deutschen Ostgebieten machte, in einem Brief an den polnischen Polizeipräsidenten von Zabrze wider besseres Wissen der Spionage gegen Polen beschuldigt und sich dadurch einer politischen Verdächtigung nach § 241 a I und IV schuldig gemacht. Muß der Vorsitzende des Gerichts dem A in diesem Verfahren nach § 140 I Nr. 2 StPO einen Verteidiger bestellen, wenn dieser noch keinen Verteidiger gewählt hat (vgl. BGHSt 20, 184)? Lösung
Nach §§ 141, 140 I Nr. 2 StPO müßte ein Verteidiger bestellt werden, wenn dem A ein Verbrechen zur Last gelegt werden würde. Die Mindeststrafe des § 241a IV beträgt ein Jahr Freiheitsstrafe, so daß das in§ 12 I für ein Verbrechen vorausgesetzte Mindeststrafmaß erreicht wird. Nach § 12 111 bleiben allerdings Schärfungen für besonders schwere Fälle bei der Bestimmung des Deliktscharakters außer Betracht. Jedoch hat§ 12 111 dort seine Grenze, wo durch abschließende tatbestandliehe Regelung der Erschwerungsgründe das erhöhte Mindeststrafmaß zwingend ist (z.B. § 224 im Verhältnis zu § 223). Im Unterschied zu § 266 II (Frage 8) enthält § 241 a IV eine tatbestandliehe Ausformung für gewisse Erschwerungsgründe, was für die Anwendung des § 12 I sprechen würde. Indessen ist diese Regelung nicht abschließend ("oder liegt sonst ein besonders schwerer Fall vor"). Daher bleibt § 12 III anwendbar (Lehrbuch § 7 IV 3). Auch in einem besonders schweren Fall ist die politische Verdächtigung nach §§ 241 a I, 12 II "nur" ein Vergehen. Nicht zwingende Regelbeispiele, z.B. § 176 III, ändern den Deliktscharakter erst recht nicht. Ergebnis: Dem A muß nicht nach§§ 141, 140 I Nr. 2 StPO ein Pflichtverteidiger bestellt werden. Der Vorsitzende kann aber nach § 140 II StPO wegen der Schwere der Tat einen Verteidiger bestellen.
FalllO Verbrechensbegriff bei Versuchsmilderung Dem A wird in der Anklageschrift versuchter Raub nach §§ 249, 23 I, 22 StGB zur Last gelegt. Der Vorsitzende des Gerichts rechnet damit, daß eine geringere Freiheitsstrafe als ein Jahr ausgesprochen werden wird, da nur ein Versuch vorliegt. Ist die Verteidigung in diesem Fall notwendig(§ 140 I Nr. 2 StPO)?
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Lösung Da nach § 12 III die in Vorschriften des Allgemeinen Teils vorgesehenen Milderungen für die Einordnung einer Tat als Verbrechen oder Vergehen unerheblich sind, ist der Raubversuch ein Verbrechen (§§ 249, 12 I). Obwohl die Strafe beim Versuch nach §§ 23 II, 49 I Nr. 3 bis auf drei Monate ermäßigt werden kann und somit nach § 47 II sogar eine Geldstrafe in Betracht kommt, liegt nach § 140 I Nr. 2 StPO ein Fall notwendiger Verteidigung vor. Fall11
Straftat und Ordnungswidrigkeit A fuhr mit seinem PKW innerhalb einer geschlossenen Ortschaft mit einer Geschwindigkeit von 70 km/h. Ein 3jähriges Kind lief hinter einem parkenden Kraftwagen hervor auf die Straße, geriet unmittelbar in die Fahrbahn des A und wurde getötet. Der Eröffnungsbeschluß (§ 207 StPO) legte A fahrlässige Tötung zur Last (§ 222). In der Hauptverhandlung wurde festgestellt, daß der Unfall auch bei einer Geschwindigkeit von 50 km/h nicht zu vermeiden gewesen wäre. Muß A freigesprochen werden, oder kommt eine Geldbuße nach§ 24 StVG in Verbindung mit§§ 3 III Nr. 1, 49 I Nr. 3 StVO in Betracht (vgl. OLG Karlsruhe GA 1970, 313)?
Lösung I. Strafbarkeit des A nach § 222: a) Die Fahrt des A innerhalb der geschlossenen Ortschaft mit einer Geschwindigkeit von 70 km/h war nach § 3 III Nr. 1 StVO pflichtwidrig. b) Jedoch kann dem A der Tod des Kindes objektiv nicht zugerechnet werden, weil dieser auch bei pflichtgemäßem Verhalten (50 km/h) nicht hätte vermieden werden können (vgl. unten Fall 29). Der Tatbestand des § 222 ist daher nicht erfüllt. II. Ordnungswidrigkeit nach§ 24 StVG i. V.m. §§ 3 III Nr. 1, 49 I Nr. 3 StVO: a) Der Tatbestand der Ordnungswidrigkeit nach §§ 49 I Nr. 3, 3 III Nr. 1 StVO ist zumindest in der Form fahrlässiger Begehung erfüllt. Die Verweisung auf die Bußgeldvorschrift des § 24 StVG ist gegeben. b) Das materiellrechtliche Verhältnis zwischen Straftat und Ordnungswidrigkeit ist in § 21 OWiG geregelt. Da A sich nicht nach § 222 strafbar gemacht hat, wird die Ordnungswidrigkeit nicht nach § 21 I OWiG durch die Straftat verdrängt, sondern kann selbständig geahndet werden. c) Das verfahrensrechtliche Verhältnis zwischen Straftat und Ordnungswidrigkeit ist in §§ 81 ff. OWiG geregelt. Nach § 82 OWiG gilt der Grundsatz der umfassenden Kognition, d.h. der Strafrichter prüft die Tat auch unter dem Gesichtspunkt der Ordnungswidrigkeit.
Ergebnis: Das Verhalten des A kann nach §§ 24 StVG in Verbindung mit §§ 3 III Nr. 1, 49 I Nr. 3 StVO durch Geldbuße von 5 bis 500 DM(§ 17 I, II OWiG) geahndet werden (beachte aber§ 265 StPO).
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
Frage 12 Bestimmtheitsgrundsatz Könnte zur Vereinfachung des Verkehrsstrafrechts ein Gesetz folgenden Inhalts erlassen werden: "Wer sich im Straßenverkehr ungebührlich verhält, wird nach Gebühr bestraft. Ausnahmen bestimmt der Bundesverkehrsminister nach billigem Ermessen"? Antwort Ein derartiges Gesetz würde gegen Art. 103 II GG verstoßen und daher nichtig sein. Außer dem Rückwirkungsverbot, dem Analogieverbot und dem Verbot von Strafgewohnheitsrecht (jeweils zum Nachteil des Beschuldigten) ergibt sich aus Art. 103 II GG weiter, daß Strafgesetze ein gewisses Maß an Bestimmtheit aufweisen müssen. Allerdings dürfen an die Bestimmtheit nicht zu strenge Anforderungen gestellt werden, denn "ohne die Verwendung flüssiger Begriffe wäre der Gesetzgeber nicht in der Lage, der Vielgestaltigkeit des Lebens Herr zu werden" (BVerfGE 11, 234 [237]; 26, 41 [42]). So wird angenommen, daß die Generalklausel des§ 1 II StVO in Verbindung mit § 49 I Nr. 1 StVO und § 24 StVG mit Art. 103 II GG vereinbar ist, weil eine konkretere Ausgestaltung der Grundregel für den Straßenverkehr nicht möglich ist. Jedoch würde es unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgebots nicht ausreichen, den gesamten Bereich des Verkehrsstrafrechts durch eine einzige Generalklausel ("ungebührliches Verhalten") zu regeln. Auch wenn sich Generalklauseln letztlich nie ganz vermeiden lassen werden, muß sich der Gesetzgeber doch bemühen, möglichst konkrete Tatbestandstypen zu bilden (Lehrbuch § 15 1). Ebensowenig darf der Gesetzgeber die Sanktion dem ausschließlichen Ermessen des Richters überlassen. Er muß die Strafbarkeitsvoraussetzungen um so präziser bestimmen, je schwerer die angedrohte Strafe ist (BVerfGE 14, 245 [251]). Schließlich genügte die Ermächtigung für den Bundesverkehrsminister nicht den Anforderungen des Art. 80 GG (Lehrbuch § 13 II). Ergebnis: Das Gesetz wäre nicht mit § 103 II GG vereinbar und daher nichtig (zum Verfahren der Feststellung der Nichtigkeit vgl. Art. 100 GG und §§ SOff. BVerfGG).
111. Strafen und Maßregeln Lehrbuch§§ 8 und 9 Beispiele mit Erläuterungen 1. "Selbst, wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflösete (z.B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinander zu gehen, und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat; weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann".
III. Strafen und Maßregeln (Lehrbuch §§ 8 und 9)
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Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1. Aufl. 1797 (in: W eischedel, Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, Bd. IV, 1956, S. 455). Das "Inselbeispiel" Kants verdeutlicht die absolute Straftheorie. Es soll vor allem klarstellen, daß kein noch so versteckter generalpräventiver Hintergedanke bei der Begründung der staatlichen Strafe mitspielen dürfe. Die Strafe ist für Kant ein reiner Imperativ der Gerechtigkeit und hat allein den Sinn der Vergeltung von Schuld (Lehrbuch § 8 III 1). 2. "Die formelle Vernünftigkeit, das Wollen des Einzelnen, liegt in der Handlung des Verbrechers. Daß die Strafe darin als sein eigenes Recht enthaltend angesehen wird, darin wird der Verbrecher als Vernünftiges geehrt. Diese Ehre wird ihm nicht zuteil, wenn aus seiner Tat selbst nicht der Begriff und der Maßstab seiner Strafe genommen wird; ebensowenig auch, wenn er nur als schädliches Tier betrachtet wird, das unschädlich zu machen sei, oder in den Zwecken der Abschreckung und Besserung".
Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 100. Hege! erkennt auch dem Handeln des Verbrechers Vernünftigkeit zu, freilich nur "formelle" Vernünftigkeit, weil er sich durch die Tat von dem "Allgemeinen Willen" absondere. Durch die Strafe erfährt er sein Recht, auf das er als vernünftiges Wesen Anspruch hat. Die Strafe kann daher nur auf die Tat als solche bezogen werden, nicht auf andere Zwecke, auch nicht auf die Zwecke der Sicherung, Abschreckung oder Besserung. Auch Hegels Straftheorie ist eine absolute Theorie (Lehrbuch § 8 III 2). 3. "Der Höchste Richter aber wendet im Jüngsten Gericht einzig das Prinzip der Vergeltung an. Dieses muß also gewiß einen Wert besitzen, der nicht zu verachten ist".
Schluß der Ansprache von Papst Pius XII. vor Teilnehmern des VI. Internationalen Strafrechtskongresses in Rom, 1953 (franz. Text in ZStW 66 (1954] S. 14). Auch in dem Schlußsatz der Papstrede klingt eine absolute Straftheorie an, die hier auf die Lehre von der Entsprechung göttlichen und menschlichen Richtens gegründet wird (Lehrbuch § 8 III 3). 4. "Quod ita vertit Seneca: Nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur. Revocari enim praeterita non possunt: futura prohibentur".
Hugo Grotius, De jure belli ac pacis (1625), lib. II § IV. Das berühmte Seneca-Zitat des Hugo Grotius, das auf einer von Plato dem Sophisten Protagoras (481- 411 v. Chr.) in den Mund gelegten klassischen Sentenz beruht, ist die Grundformel der relativen Theorien, die nicht auf die Vergeltung der begangenen Straftat, sondern auf die Verhütung künftiger Verbrechen abstellen (Lehrbuch § 8 IV 1). 5. "Der Zweck der Strafen kann somit kein anderer als der sein, den Schuldigen daran zu hindern, seinen Mitbürgern abermals Schaden zuzufügen, und die anderen davon abzuhalten, das gleiche zu tun. Diejenigen Strafen also und diejenigen Mittel ihres Vollzugs verdienen den Vorzug, die unter Wahrung des rechten Verhältnisses zum jeweiligen Verbrechen den wirksamsten und nachhaltigsten Eindruck in den Seelen der Menschen zurücklassen, für den Leib des Schuldigen hingegen so wenig qualvoll wie möglich sind".
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
Beccaria, Dei delitti e delle pene, 1764 (deutsche Übersetzung von W. Alff, 1966,
s. 74).
Der Italiener Beccaria, der Begründer der Theorie einer modernen Kriminalpolitik, vertritt eine relative Straftheorie. Die Strafzwecke, die er anerkennt, sind General- und Spezialprävention. Zugleich aber betont er die Begrenzung der Strafe durch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und verlangt, daß die Strafe dem Verurteilten möglichst wenig schaden soll. 6. "Sollen daher Rechtsverletzungen überhaupt verhindert werden, so muß neben dem physischen Zwange noch ein anderer bestehen, welcher der Vollendung der Läsion vorhergeht, und, vom Staate ausgehend, in jedem einzelnen Falle wirksam ist, ohne daß dazu die Erkenntnis der jetzt bevorstehenden Läsion vorausgesetzt wird. Ein solcher Zwang kann nur ein psychologischer seyn". Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen, in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 3. Aufl. 1805, § 12. Feuerbach, der größte deutsche Kriminalist der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, entwickelt in seinem berühmten Lehrbuch die mit der Strafandrohung verbundene Generalprävention als Strafzweck und damit ebenfalls eine relative Straftheorie. "Generalprävention durch psychologischen" Zwang sollte die Strafdrohung bewirken, der Vollzug der Strafe sollte nur jedermann klarmachen, daß der Staat es mit der Verwirklichung der Strafdrohung ernst meint (Lehrbuch § 8 IV 2). 7. "Die richtige, d. h. die gerechte Strafe ist die notwendige Strafe. Gerechtigkeit im Strafrecht ist die Einhaltung des durch den Zweckgedanken erforderten Strafmaßes. - Das völlige Gebundensein der Strafgewalt durch den Zweckgedanken ist das Ideal der strafenden Gerechtigkeit. - Besserung, Abschreckung, Unschädlichmachung: Das sind demnach die unmittelbaren Wirkungen der Strafe, die in ihr liegenden Triebkräfte, durch welche sie den Schutz der Rechtsgüter bewirkt" .
v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht ("Marburger Programm"), ZStW 3 (1883) s. 31 u. 34. Franz v. Liszt, der Begründer der modernen deutschen Kriminalpolitik und Führer der soziologischen Strafrechtsschule entwickelt in seiner Marburger Antrittsrede als konsequenter Vertreter des wissenschaftlichen Positivismus eine relative Straftheorie und deren Konsequenzen für die Gestaltung des Sanktionensystems (Lehrbuch § 8 IV 3).
8. "Das Kumulationsprinzip wurde [von der I. K. V.] abgelehnt und für den gemeingefährlichen Gewohnheitsverbrecher nichts als ,Strafe' gefordert, bei deren Bemessung das Sicherungsbedürfnis der Gesellschaft zu berücksichtigen sei; freilich - und das ist entscheidend -: um dem Sicherungsbedürfnis wie dem Erziehungszweck gerecht zu werden, eine nur relativ bestimmte und progressiv ausgestaltete Strafe. Daß es abermals ein Strafanstaltspraktiker war, der bei der Unmöglichkeit, Strafe und Sicherungsnachhaft zu unterscheiden, geradezu von ,Etikettenschwindel' sprach und den Antrag auf Vereinheitlichung der Maßregel als ,Erlösung' begrüßte, sei ausdrücklich hervorgehoben". Kohlrausch, ZStW 44 (1924) S. 33. Eduard Kohlrausch als Anführer der modernen Schule nach Franz v . Liszt entwickelt hier das auf die relativ unbestimmte Sicherungsstrafe gestützte einspurige Programm der deutschen Landesgruppe der Internationalen Kriminalistischen Ver-
III. Strafen und Maßregeln (Lehrbuch §§ 8 und 9)
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einigung. Das bekannte Schlagwort vom "Etikettenschwindel" zur Kennzeichnung der Zweispurigkeit taucht hier zum ersten Mal auf. Der Glaube an die Möglichkeit der Erziehung des Straftäters durch einen progressiv gestalteten Vollzug der Freiheitsstrafe ist noch ungebrochen (Lehrbuch § 8 V 4). 9. "Man darf die Strafrechtstheorie nicht auf Lehrmeinungen metaphysischer Art gründen. Das Strafrecht und seine Anwendung dürfen nicht unter Begriffe gestellt werden wie freier Wille, Schuld und Verantwortlichkeit, soweit sie Begriffe metaphysischer Art darstellen. Aber es ist auch wichtig, nicht eine Lehre anzunehmen, die die moralischen Werte verneint. Es ist entscheidend, daß die Strafrechtspflege mit dem gesellschaftlichen Bewußtsein übereinstimmt und daß sie sich in großem Umfang an das jedem Menschen eingewurzelte Gefühl der moralischen Verantwortlichkeit wendet". Aus dem "Programme minimum" der Internationalen Gesellschaft für Soziale Verteidigung; franz. Text in: Bulletin de Ia Societe Internationale de Defense Sociale, 1955 Nr. 1, deutsche Übersetzung von Theo Vogler in ZStW 66 (1954), s. 646. Das Mindestprogramm der Internationalen Gesellschaft für Soziale Verteidigung repräsentiert die Forderungen der modernen Schule in der Gegenwart. Es handelt sich dabei um eine Vereinigungstheorie mit starker Betonung der spezialpräventiven Komponente, aber gleichzeitiger Anerkennung der Verantwortlichkeit des Menschen. Charakteristisch ist der humanitäre Geist, der die Anhänger der "Defense sociale" beseelt (Lehrbuch § 8 IV 4 und § 70 1). 10. "Dem 1. Strafrechtsreformgesetz liegt der Gedanke zugrunde, daß die Strafe nicht die Aufgabe hat, Schuldausgleich um ihrer selbst willen zu üben, sondern nur gerechtfertigt ist, wenn sie sich zugleich als notwendiges Mittel zur Erfüllung der präventiven Schutzaufgabe des Strafrechts erweist. Einen wesentlichen Akzent hat der Gesetzgeber durch die Aufnahme der spezialpräventiven Klausel als Ziel des Strafzumessungsvorgangs in § 13 Abs. 1 Satz 2 (jetzt § 46 Abs. 1 S. 2) StGB gesetzt". BGHSt 24, 40 (42). Der Bundesgerichtshof vertritt hier eine moderne Vereinigungstheorie mit starker Betonung der spezialpräventiven Komponente und deutlicher Absage an die Idee der Strafe als zweckfreier Vergeltung und Ausdruck absoluter Gerechtigkeit (Lehrbuch § 8 V 3). 11. "Das Erste Strafrechtsreformgesetz hält an dem System der Zweispurigkeit von Strafe und Maßregel fest. Der Schuldgrundsatz, nunmehr ausdrücklich im Gesetz verankert (§ 13 Abs. 1 Satz 1 StGB) (jetzt § 46 Abs. 1 S. 1), gebietet, klar zwischen den Aufgaben der Strafe und der Maßregel zu unterscheiden. Grundlage für die Zumessung der Strafe unter Berücksichtigung ihrer verschiedenen Funktionen ist die Schuld des Täters. Von ihrer Bestimmung als gerechter Schuldausgleich darf sich die Strafe weder nach oben noch nach unten inhaltlich lösen". BGHSt 24, 132 (133 f.). Der Bundesgerichtshof betont an dieser Stelle besonders die Schuldkomponente der Vereinigungstheorie und legt den wichtigen Grundsatz fest, daß die Strafe das nach der Schuld verdiente Maß nicht nur nicht nach oben überschreiten, sondern auch nicht nach unten wesentlich unterschreiten dürfe (Lehrbuch § 4 I 3, § 8 V 3).
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
12. "With respect to prevention programs those with a collective or community focus should be preferred to those that single out and possibly stigmatize particular individuals. Programs that employ ,indigenous' personnel (local community people such as older youths who have been gang members) should be preferred to those that employ only outside professionals. As regards treatment, non-institutional and voluntary programs should be preferred over institutional and compulsory ones, and most likely the ultimate goal should be the abolition of treatment institutions as such". Schur, Radical non-intervention. Rethinking the delinquency problem, 1973,
s. 170.
Das Buch des amerikanischen Soziologen Schur gibt der verbreiteten Kritik an kriminologischen Behandlungsprogrammen, insbesondere an der Anstaltsbehandlung, Ausdruck und hat in den USA zu dem Ruf nach einem radikalen Abbau der staatlichen Eingriffe in die Persönlichkeit des Verurteilten und nach mehr Rechtsstaatlichkeit in der Strafrechtspflege geführt (Lehrbuch § 70 II). Ähnliche Tendenzen machen sich heute auch in Schweden bemerkbar.
IV. Die Garantiefunktion des Strafgesetzes und die Auslegung der Strafgesetze Lehrbuch §§ 15 und 17 Beispiele mit Erläuterungen 1. "La loi ne doit etablir que des peines strictement et evidemment necessaires et nul ne peut etre puni qu'en vertu d'une loi etablie et promulguee anterieurement au delit, et legalement appliquee". Art. 8 der Französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Art. 8 der "Declaration des droits de l'homme et du citoyen" enthält die klassische Formulierung des Gesetzlichkeitsprinzips. Das Rückwirkungs- und das Analogieverbot sind klar ausgesprochen. Geistesgeschichtliche Grundlage war die Staatsvertragslehre der Aufklärung: Da im Gesetz die das Wohl des Ganzen regierende Vernunft ihren maßgeblichen Ausdruck findet, soll mit dem Gesetzlichkeitsprinzip Staatswillkür ausgeschlossen werden. Der Bürger soll außerdem durch das Gesetz erfahren, wo die Grenzen des strafrechtlich sanktionierten Unrechts verlaufen (Magna-Charta-Gedanke) (Lehrbuch § 15 II 2). 2. "Nulle contravention, nul delit, nul crime, ne peuvent etre punis de peines qui n'etaient pas prononcees par la loi avant qu'ils fussent commis". Französischer Code penal von 1810, Art. 4. Die strenge Fassung des Gesetzlichkeitsprinzips im französischen Code penal kehrt in zahlreichen Strafgesetzbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts wieder, so auch in § 2 des Reichsstrafgesetzbuchs von 1871.
IV. Garantiefunktion und Auslegung der Strafgesetze (Lehrbuch§§ 15 und 17)
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3. "Jeder Verstoß gegen revolutionäre Grundsätze wird bestraft. Die An der Strafe steht im freien Ermessen des Richters". Gesetz der Münchner Räterepublik von 1919 (ZStW 40 [1919] S. 511). In der ursprünglichen Lehre des revolutionären Sozialismus wurde das Gesetzlichkeitsprinzip als bürgerlich-liberalistische Fesselung der staatlichen Aktion und des gesellschaftlichen Elans zur Herstellung der Diktatur des Proletariats strikt abgelehnt. Die Sowjetunion ist erst in den Strafrechtsgrundsätzen von 1958 zum Gesetzlichkeitsprinzip zurückgekehrt. Andere sozialistische Staaten wie Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei haben es freilich nie aufgegeben. 4. "Mit Gefängnis, Haft oder Geldstrafe, in schweren Fällen mit Zuchthaus, wird bestraft: 21. wer gegen die öffentliche Ordnung verstößt oder gegen die Interessen der Alli-
ienen Streitkräfte oder eines ihrer Mitglieder handelt".
Bayer. Gesetz Nr. 3 über die Bestrafung von Verfehlungen gegen die Anordnungen der Besatzungsbehörden vom 16.10.1945 (Bayer. GVBl 1945 Nr. 3 S. 2). Dieses "Gesetz" zeigt, daß die amerikanische Besatzung sich in der Methode der strafrechtlichen Durchsetzung ihrer Sicherheit und Machtvollkommenheit zunächst mit der Diktatur des Proletariats auf eine Stufe zu stellen scheint. Ziff. 21 des Bayer. Gesetzes Nr. 3 wurde jedoch wegen Verletzung des Bestimmtheitsgebotes durch Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes vom 13. 10. 1951 (Bayer. GVBl 1952, 6) und vom 9.5.1953 (Bayer. GVBl 1953, 75) für nichtig erklärt. Eine Verfassungsgerichtsbarkeit gibt es im sozialistischen Rechtskreis nicht. 5. "Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde". Weimarer Reichsverfassung von 1919, An. 116. Durch An. 116 der WRV erhielt das Gesetzlichkeilsprinzip zum ersten Mal Verfassungsrang. Die Schwäche der Formulierung - im Unterschied etwa zu An. 4 Code penal (oben Nr. 2) - bestand darin, daß strafschärfende Gesetze mit Rückwirkung nicht ausdrücklich ausgeschlossen waren (Lehrbuch § 15 II 3). 6. "Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach dem gesunden Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft".
§ 2 StGB i. d. F. des Gesetzes vom 28. 6. 1935. Mit dem § 2 StGB von 1935 hat der Nationalsozialismus das Gesetzlichkeitsprinzip in seiner einen Konsequenz beseitigt, indem die analoge Anwendung von Strafgesetzen zugelassen wurde, wobei ein materieller Anknüpfungspunkt (gesundes Volksempfinden) und ein formeller Anknüpfungspunkt (Grundgedanke eines Strafgesetzes) zu berücksichtigen waren. Auch das Rückwirkungsverbot ist in einzelnen Fällen durchbrachen worden (Lehrbuch § 15 II 3). 7. "Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Hand-
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Erster Teil : Fälle und Lösungen
Iungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches. Ausübung demokratischer Rechte im Sinne der Verfassung ist keine Boykotthetze". Verfassung der DDR von 1949, Art. 6 Abs. 2. 8. "Eine Person darf nur in strikter Übereinstimmung mit den Gesetzen strafrechtlich verfolgt und zur Verantwortung gezogen werden. Eine Handlung zieht strafrechtliche Verantwortlichkeit nur nach sich, wenn dies zur Zeit ihrer Begehung durch Gesetz vorgesehen ist, der Täter schuldhaft gehandelt hat und die Schuld zweifelsfrei nachgewiesen ist. Die Rückwirkung und die analoge Anwendung von Strafgesetzen zuungunsten des Betroffenen ist unzulässig". Strafgesetzbuch der DDR von 1968, Art. 4 Abs. 3. Die Verfassungsbestimmung aus dem Jahre 1949 zeigt die DDR noch in der Phase des "revolutionären Sozialismus", in der eine Bindung an fest umrissene Strafgesetze, wenn es sich um den Kampf gegen den "Klassenfeind" handelt, strikt abgelehnt wird. Nach der Generalklausel des Art. 6 sind früher viele politische Gegner des Regimes der SED verurteilt worden (Lehrbuch, 2. Auf!., § 9 III 1). Dagegen enthält das StGB von 1968 entsprechend den durch die Sowjetunion im Jahre 1958 vorgezeichneten neuen Grundsätzen des Strafrechts im "voll entwickelten Sozialismus" das Gesetzlichkeitsprinzip in seiner strengsten Ausprägung, die auch das Schuldprinzip und den Grundsatz "in dubio pro reo" einschließt (Lehrbuch, 2. Auf!., § 9 IV 2). Man muß freilich wissen, daß das Gesetzlichkeitsprinzip für sich allein noch keinen Rechtsstaat ausmacht (Lehrbuch, 2. Auf!., § 9 V). 9. "Niemand kann wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine höhere Strafe als die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden.
Durch diesen Artikel darf die Verurteilung oder Bestrafung einer Person nicht ausgeschlossen werden, die sich einer Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht hat, welche im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den allgemeinen, von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war". Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. 11.1950, Art. 7. Die in Art. 7 enthaltene europäische Formulierung des Gesetzlichkeitsprinzips stellt klar, daß auch rückwirkende Strafschärfungen unzulässig sind. Allerdings wurde Art. 7 I Menschenrechtskonvention durch das Ratifizierungsgesetz nur einfaches Bundes recht. Jedoch ergibt sich das Verbot rückwirkender Strafschärfungen nach ganz h. M. auch aus Art. 103 II GG. Der insbesondere im Hinblick auf die Kriegsverbrecherprozesse nach dem Londoner Abkommen vom 8. 8. 1945 und dem KRG 10 vom 20.12.1945 in die Menschenrechtskonvention aufgenommene Art. 7 II läßt Gewohnheitsrecht als strafbegründende Rechtsquelle zu. Es war daher im Hinblick auf Art. 103 II GG konsequent, daß die Bundesrepublik Art. 7 II Menschenrechtskonvention nicht ratifiziert hat, wiewohl Art. 103 II GG als die im Schutze des Bürgers weitergehende Regelung ohnehin den Vorrang gehabt hätte (Lehrbuch § 15 II 4).
IV. Garantiefunktion und Auslegung der Strafgesetze (Lehrbuch §§ 15 und 17)
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Fall13 Analogieverbot beim Grunddelikt
Der Angeklagte, der kurz vor der Jahrhundertwende beim Bau eines Elektrizitätswerks tätig gewesen war, hatte bei dieser Gelegenheit von seiner Wohnung aus Drähte in den Straßenleitungsschacht geschoben und auf diese Weise kostenlos Strom bezogen. Hätte er nach § 242 StGB wegen Diebstahls bestraft werden können? (RGSt 32, 165). Lösung
Zu dieser Zeit gab es noch nicht den § 248c über die Entziehung elektrischer Energie. Das Reichsgericht hatte daher zu entscheiden, ob der elektrische Strom eine "Sache" im Sinne des § 242 ist. Diese Frage wurde verneint, weil zum Begriff der Sache die Fähigkeit gehörte, "Objekt einer selbständigen unmittelbaren Herrschaft des Menschen zu sein". Die Auslegung des Strafgesetzes dürfe nie dazu führen, "eine bestehende Lücke des Gesetzes auszufüllen, um eine Handlung unter Strafe zu stellen, für welche im Gesetz diese Strafe nicht bestimmt ist" (S. 186). Die Lücke mußte durch den Gesetzgeber ausgefüllt werden, der das Gesetz betr. die Bestrafung der Entziehung elektrischer Arbeit vom 9.4.1900 (RGBI I S. 288) erlassen hat (heute § 248c) (Lehrbuch § 15 III 2c). Fall14 Analogieverbot bei qualifizierenden Merkmalen
Nach § 3 I Nr. 6 des Preuß. Gesetzes betr. den Forstdiebstahl von 1878 wurde die Regelstrafe für den Forstdiebstahl verschärft, "wenn zum Zwecke des Forstdiebstahls ein bespanntes Fuhrwerk, ein Kahn oder ein Lasttier mitgebracht wird". Konnte A, der zum gleichen Zweck im Jahre 1956 ein Kraftfahrzeug mitgebracht hat, nach dieser Vorschrift bestraft werden? (BGHSt 10, 375). Lösung
A könnte nach der genannten Bestimmung bestraft werden, wenn ein Kfz unter das qualifizierende Merkmal "bespanntes Fuhrwerk" subsumiert werden dürfte. Ob dies der Fall ist, ist durch Auslegung zu ermitteln. a) Grammatikalische Auslegung: Nach dem "möglichen Wortsinn" (vgl. oben Fall 2) kann ein Kfz nicht als bespanntes Fuhrwerk betrachtet werden. Vom möglichen Wortsinn des Strafgesetzes zuungunsten des Täters abzuweichen, ist jedoch bei Redaktionsfehlern zulässig. Ein solcher könnte hier darin gesehen werden, daß die Norm ihren ursprünglichen Sinn nicht mehr zeitgemäß zum Ausdruck bringt (sog. sekundärer Redaktionsfehler). Der Bundesgerichtshof läßt eine Abweichung vom Wortlaut in diesem Fall zu. Diese Auffassung ist zwar nicht unbedenklich, da die Magna-Charta-Funktion des Gesetzes für den Bürger preisgegeben wird. Ihr kann aber in diesem Falle deswegen gefolgt werden, weil der Wille des Gesetzgebers klar erkennbar ist und die Änderung der Verhältnisse von ihm zweifelsfrei nicht vorausgesehen wurde (Lehrbuch§ 17 IV 5). b) Teleologische Auslegung: Der Sinn des Gesetzes ist es, denjenigen Täter härter zu bestrafen, der ein Fahrzeug oder andere Transportmittel verwendet, die die Tat erleichtern und den Abtransport größerer Mengen von Holz ermöglichen.
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Erster Teil : Fälle und Lösungen
Der Gesetzgeber hat dies nur deshalb nicht richtig zum Ausdruck gebracht, weil er sich nach der älteren legislativen Technik (Lehrbuch § 15 I) für eine kasuistische Aufzählung der damals bekannten Transportmittel entschieden hat. c) Systematische Auslegung: Das Nebeneinander von bespanntem Fuhrwerk, Kahn und Lasttier (Aufzählung aller bekannten Transportmittel) untermauert die teleologische Auslegung. Der teleologischen Auslegung gebührt der Vorrang, solange sie nicht mit der grammatikalischen Auslegung in Widerspruch steht, was wegen des offensichtlichen Redaktionsfehlers hier nicht der Fall ist.
Ergebnis: A kann nach der strafschärfenden Vorschrift bestraft werden. Fall15 Grenzen der Auslegung innerhalb des "möglichen Wortsinns"
A hat sich in Kenntnis der Sachlage von seiner Ehefrau 5000 DM zur eigenen Verfügung aushändigen lassen, die diese auf einen ihrem Arbeitgeber gestohlenen und von ihm voll ausgefüllten und unterschriebenen Postbarscheck beim Postamt abgehoben hatte. KannA nach§ 259 StGB wegen Hehlerei bestraft werden (BGH NJW 1969, 1260)?
Lösung Die Hehlerei (§ 259) setzt voraus, daß der Täter sich eine Sache verschafft, die ein anderer gestohlen oder sonst durch eine gegen fremdes Vermögen gerichtete rechtswidrige Tat erlangt hat. Was die Ehefrau gestohlen hatte, war der Scheck. Der Geldbetrag war der Ersatz für den gestohlenen Scheck. Gegenstand der Hehlerei kann aber nur die unmittelbar aus der Vortat stammende Sache sein; die Hehlerei an "Ersatzsachen" ist als solche nicht strafbar. Der "mögliche Wortsinn" würde die Anwendung des § 259 zwar zulassen, doch ergibt die Auslegung, daß Gegenstand der Hehlerei nur Sachen sein können, an denen die durch die Vortat geschaffene rechtswidrige Vermögenslage unmittelbar fortbesteht. Im vorliegenden Fall greift jedoch noch eine weitere Überlegung ein. Die Ehefrau hat das Geld nämlich unmittelbar durch einen dem Diebstahl nachfolgenden Betrug (§ 263) erlangt. Dieser Betrug wurde zwar nicht zum Nachteil der Post begangen, da der Barscheck in vollem Umfange echt war und die Post die Verfügungsbefugnis des Inhabers nicht zu prüfen braucht. Die Post kann jedoch über das Vermögen ihrer Postscheckkunden zu deren Nachteil verfügen, indem sie den Scheckbetrag mit befreiender Wirkung an den Inhaber auszahlt; es liegt somit ein Betrug zum Nachteil des Arbeitgebers der Ehefrau durch Täuschung der auszahlenden Poststelle über ihre Verfügungsbefugnis vor (Dreiecksbetrug). Obwohl dieser Betrug im Verhältnis zum Diebstahl eine mitbestrafte Nachtat ist (Lehrbuch § 69 II 3a), genügt diese als taugliche Vorhandlung für die Hehlerei.
Ergebnis: A kann nach § 259 wegen Hehlerei bestraft werden. Fall16 Analogieverbot bei Ordnungswidrigkeiten
A hat während mehrerer Monate bei ihm mißliebigen Personen in jeder Nacht teilweise wiederholt telefonisch angerufen. Er wählte von öffentlichen Telefonzel-
V. Der Geltungsbereich des deutschen Strafrechts (Lehrbuch§§ 18 und 20)
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Jen aus die betreffenden Nummern, ließ ein bis dreimal das Rufzeichen ertönen und hängte alsdann den Hörer wieder auf. Hierdurch gelangte er regelmäßig wieder in den Besitz der eingeworfenen Münzen. Der Angeklagte wurde u. a. wegen groben Unfugs nach§ 360 Nr. 11 a.F. StGB verurteilt. Ist das zu billigen? (LG Harnburg MDR 1954, 630). Könnten nächtliche Störanrufe als Hausfriedensbruch nach§ 123 StGB bestraft werden?
Lösung Die Strafvorschrift über den groben Unfug (§ 360 Nr. 11 a. F. StGB) ist in eine Ordnungswidrigkeit (§ 118 OWiG) umgewandelt worden. Ordnungswidrig handelt danach, wer eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen. Eine Ahndung der nächtlichen Störanrufe nach dieser Vorschrift wäre nicht möglich. Das Gesetzlichkeitsprinzip gilt nach § 3 OWiG auch im Ordnungswidrigkeitenrecht (vgl. oben Frage 5). Die Eignung zur Belästigung oder Gefährdung der Allgemeinheit und zur Störung der öffentlichen Ordnung geht der Handlung ab, da die Allgemeinheit nicht davon Kenntnis nehmen kann und auch das äußere Zusammenleben der Menschen dadurch nicht berührt wird. Diese Auslegung galt schon für das frühere Recht. Eine Bestrafung wegen Hausfriedensbruch scheidet aus, da § 123 voraussetzt, daß der Täter wenigstens mit einem Teil seines Körpers in die geschützte Räumlichkeit eindringt.
Ergebnis: A konnte und kann wegen der nächtlichen Störanrufe nicht bestraft und auch nicht mit einer Geldbuße belegt werden.
V. Der Geltungsbereich des deutschen Strafrechts Lehrbuch §§ 18 und 20 Fall 17 Stellvertretende Strafrechtspflege. Schutz ausländischer Rechtsgüter A fuhr mit einem ihm nicht gehörenden Fahrrad in einen Österreichischen Grenzort und besuchte dort eine T anzdiele. Als er gegen vier Uhr morgens zurückfahren wollte, wurde er von dem Österreichischen Polizeibeamten P wegen Verdachts des unbefugten Gebrauchs eines Fahrrads (nach deutschem Strafrecht § 248b StGB; nach neuem österreichischem Strafrecht nicht mehr strafbar) angehalten und aufgefordert, sich auszuweisen. Der stark angetrunkene A verweigerte die Angabe seiner Personalien. In drohender Haltung, die Hand zur Faust geballt, als ob er zuschlagen wolle, schrie er P wiederholt an: "Ich schlage Dich zusammen." Nachdem weitere Polizeibeamte hinzugekommen waren, wurde A, ohne daß es zu Tätlichkeiten gekommen war, festgenommen (vgl. OLG Hamm JZ 1960, 576). Ist die Tat nach deutschem Recht gemäߧ 113 strafbar?
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
Lösung I. Strafbarkeit des A nach § 113:
Bei Fällen mit internationalem Einschlag sind zwei Fragen zu prüfen: 1. Unterliegt die Handlung der deutschen Strafgewalt? Diese Frage ist in den §§ 3 ff. geregelt. Nach § 3 gilt grundsätzlich das Territorialitätsprinzip. Diese Regelung wird für Auslandstaten von Deutschen in § 7 II Nr. 1 durch das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege ergänzt (Lehrbuch § 18 Ill 5).
Nach dieser Vorschrift unterliegt A der deutschen Strafgewalt, da Widerstand gegen die Staatsgewalt nach §§ 269, 74 Nr. 5 österr. StGB strafbar ist. 2. Schützt der deutsche Straftatbestand auch ausländische Rechtsgüter (Lehrbuch
§ 18 III 8)? Im vorliegenden Fall ist demgemäß zu fragen, ob § 113 auch die Öster-
reichische Staatsgewalt schützt. Die Antwort auf diese Frage ergibt sich durch Auslegung der anzuwendenden Strafvorschrift. Da P nicht nach deutschem Recht Beamter ist, ist er nicht Amtsträger im Sinne des § 113 (§ 11 I Nr. 2). § 113 schützt also nicht die ausländische Staatsgewalt. II. Strafbarkeit des A nach §§ 240, 23, 22: 1. Nach § 7 II Nr. 1 erstreckt sich die deutsche Strafgewalt auch auf den Vorwurf der versuchten Nötigung, da versuchte Nötigung nach §§ 105, 15 österr. StGB mit Strafe bedroht ist.
2. § 240 StGB schützt das Individualrechtsgut der Willensfreiheit ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit des Verletzten (Lehrbuch § 18 Ill 8). 3. Der Tatbestand der versuchten Nötigung ist erfüllt, da die Androhung des Übels zum angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Ergebnis: A kann nicht nach § 113, wohl aber nach §§ 240, 23, 22, 49 I bestraft werden. Fall18 Weltrechtsprinzip
Der niederländische Staatsangehörige A wurde beim Grenzübertritt nach Deutschland festgenommen. Ihm wurde zur Last gelegt, daß er auf niederländischem Gebiet 10 kg Haschisch an deutsche Rauschgifthändler veräußert habe; das Haschisch sei für die Einfuhr in die Bundesrepublik Deutschland bestimmt gewesen. Ist die Tat nach deutschem Recht strafbar (§ 11 I Nr. 6a BtMG) (BGHSt 27, 30)? Lösung 1. Die deutsche Strafgewalt ist nach § 6 Nr. 5 StGB gegeben. Die Tatsache, daß der Handel mit Haschisch in den Niederlanden mit geringerer Strafe bedroht ist als in der Bundesrepublik, spielt keine Rolle, da es bei Geltung des Weltrechtsprinzips nicht einmal auf die Strafbarkeit am Tatort ankommt (Lehrbuch § 18 Ill 4). Auch bei der Strafzumessung wird die geringere Strafdrohung in den Niederlanden nicht zu berücksichtigen sein, da das Haschisch, wie A wußte, zur Einfuhr in die Bundesrepublik Deutschland bestimmt war.
V. Der Geltungsbereich des deutschen Strafrechts (Lehrbuch §§ 18 und 20)
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2. A hat ein Betäubungsmittel, das in § 9 BtMG genannt ist, veräußert, so daß der Tatbestand des § 11 I Nr. 6a BtMG erfüllt ist. Diese Vorschrift erfaßt auch die Veräußerung von Rauschgift im Ausland. 3. Die Tat des A könnte auch unter dem Gesichtspunkt der Beihilfe zu der von den deutschen Rauschgifthändlern begangenen Einfuhr des Haschisch in die Bundesrepublik gewertet werden (§§ 11 I Nr. 6a BtMG, 27 StGB). Insoweit wäre die Tat nach § 9 II StGB in der Bundesrepublik begangen worden, weil dort die unterstützte Haupttat begangen wurde. Es würde also das Territorialitätsprinzip eingreifen (§ 3). 4. Die Teilnahme geht jedoch in der Täterschaft auf, so daß die Beihilfe zurücktritt.
Ergebnis: A ist nach deutschem Recht nach § 11 I Nr. 6a BtMG strafbar. Fall19 Bedeutung der Normidentität
Der Deutsche A hat in einem Land, welches das Fahren ohne Fahrerlaubnis nur als Ordnungswidrigkeit ahndet, ein Kfz geführt, ohne eine Fahrerlaubnis zu besitzen. Kann er in Deutschland nach § 21 I Nr. 1 StVG bestraft werden (vgl. BGHSt 8, 349)?
Lösung Strafbarkeit des A nach § 21 I Nr. 1 StVG: 1. Greift die deutsche Strafgewalt ein? Nach§ 7 II Nr. 1 (Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege) hängt dies davon ab, ob die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist. Mit der Berücksichtigung des Tatortrechts soll verhindert werden, daß sich das deutsche Strafrecht in Gebieten Geltung anmaßt, in denen der primär zuständige Auslandsstaat strafrechtlichen Schutz nicht für geboten hält. Daß der Auslandsstaat die Tat als Ordnungswidrigkeit ansieht, zeigt, daß er eine Kriminalstrafe nicht für geboten erachtet. Diese Entscheidung ist nach § 7 II Nr. 1 zu respektieren, so daß die deutsche Strafgewalt nicht eingreift.
2. Somit stellt sich die Frage, ob das StVG auch den ausländischen Straßenverkehr schützt, nicht (anders unter der Geltung des alten Rechts; vgl. dazu BGHSt 8, 349 [355ff.], wo die Frage mit Recht bejaht wurde).
Ergebnis: A ist nicht nach § 21 I Nr. 1 StVG strafbar. Fall20 Territorialitätsprinzip
Der Türke T hat in Deutschland seine Ehefrau erstochen, als er sie im Ehebruch mit einem anderen Türken überraschte. Kann er in Deutschland bestraft werden? Hat seine Einlassung Bedeutung, nach islamischer Rechtsauffassung, die in seinem Lande noch lebendig sei, dürfe die beim Ehebruch angetroffene Ehefrau von dem Mann auf der Stelle getötet werden? 3 Fälle und Lösungen, 3. A.
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
Lösung Strafbarkeit des T nach § 212: 1. Nach § 3 (Territorialitätsprinzip) greift die deutsche Strafgewalt ein.
2. § 212 schützt das Leben jedes Menschen ohne Rücksicht auf seine Staatsangehörigkeit. Ausländische Rechtsauffassungen sind bei Inlandstaten für den deutschen Strafrichter grundsätzlich unbeachtlich; anderenfalls könnte das Ausland indirekt auf die deutsche Rechtsordnung Einfluß nehmen. 3. Unter Umständen kann es den gegen T zu erhebenden Schuldvorwurf mindern, daß er nach islamischer Rechtsauffassung gehandelt hat (falls die Einlassung überhaupt zutrifft); dies wäre bei der Strafzumessung zu berücksichtigen (§ 46 II). Ein Verbotsirrtum(§ 17) kommt allerdings nicht in Betracht, weilT sich klar darüber war, daß er seine Tat in Deutschland beging und daß sie von der deutschen Rechtsordnung nicht gebilligt wird.
Ergebnis: T ist in Deutschland nach § 212 strafbar. Fall 21
Begehungsort Der Ausländer A verschaffte sich in Luxemburg 300 kg Kaffee und beabsichtigte, diese Ware unverzollt über die Mosel, die dort die Grenze bildet, in die Bundesrepublik Deutschland zu verbringen. Kurz bevor er den Grenzfluß erreichte, wurde er von Iuxemburgischen Zollbeamten gestört. Er ließ deshalb die Ware noch auf luxemburgischem Gebiet im Stich und begab sich mit einem Boot über den Fluß auf deutsches Gebiet. Dort erwartete ihn verabredungsgemäß ein weiterer Ausländer B mit einem Kraftwagen, um ihn samt dem erhofften Schmuggelgut in Sicherheit zu bringen (vgl. BGHSt 4, 333). Können A und B in Deutschland bestraft werden?"
Lösung I. Strafbarkeit des A nach § 370 I, II AO: 1. A unterliegt der deutschen Strafgewalt, wenn die Tat im Inland begangen wurde (§ 3). Welches der Tatort ist, ergibt sich aus § 9:
a) Nach § 9 I 1. Variante ist der Tatort dort, wo A gehandelt hat. Dies war auf luxemburgischem Gebiet. b) Nach § 9 I 4. Variante ist der Tatort auch dort, wo der zum Tatbestand gehörende Erfolg nach der Vorstellung des Täters eintreten sollte. Der zum Tatbestand gehörende Erfolg ist bei § 370 AO die Verkürzung der Steuereinnahmen. Dieser Erfolg sollte nach der Vorstellung des A beim deutschen Steuerfiskus, also im Inland, eintreten. * § 370 I und II Abgabenordnung 1977 lautet (BGBl 1976 I S. 613): § 370 Steuerhinterziehung. (I) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer ... die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis läßt und dadurch Steuern verkürzt ... (Il) Der Versuch ist strafbar. § 373 I Abgabenordnung 1977 lautet: § 373 Gewerbsmäßiger, gewaltsamer und bandenmäßiger Schmuggel. (I) Wer gewerbsmäßig Eingangsabgaben hinterzieht . .. wird mit Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis zu 5 Jahren bestraft.
V. Der Geltungsbereich des deutschen Strafrechts (Lehrbuch§§ 18 und 20)
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Mithin ist der Tatort im Inland. A unterliegt also nach§ 3 der deutschen Strafgewalt. 2. A hatte den Vorsatz, ein Vergehen nach § 370 AO zu begehen und setzte unmittelbar zur Tat an(§ 22). Ein nach §§ 23 I, 370 II AO strafbarer Versuch liegt also vor. 3. A ist nicht strafbefreiend zurückgetreten (§ 24), weil er nicht freiwillig von der Tat Abstand nahm.
Ergebnis: A ist wegen versuchter Steuerhinterziehung nach §§ 370 I, II AO, 23, 49 I strafbar. Möglicherweise kommt auch gewerbsmäßiger Schmuggel nach § 373 AO in Betracht. II. Strafbarkeit des B nach §§ 370 I, II AO, 27: 1. Auch bei B ist zunächst zu prüfen, ob er nach § 3 der deutschen Strafgewalt unterliegt. Für die Bestimmung des Tatorts bei Teilnahme enthält § 9 II eine Regelung: a) Nach § 9 II 1. Variante ist die Teilnahme am Ort der Haupttat begangen. Nach den Ausführungen unter I war dieser in Luxemburg und Deutschland. b) Außerdem ist der Tatort der Teilnahme nach § 9 II 2. Variante auch dort, wo der Teilnehmer gehandelt hat. B hat in Deutschland gehandelt, so daß der Tatort auch unter diesem Gesichtspunkt in Deutschland ist. Also unterliegt B der deutschen Strafgewalt (§ 3). 2. B hat die Tat des A vorsätzlich gefördert(§§ 27, 392 I, 393 I AO).
Ergebnis: B ist nach §§ 392 I, 393 I AO, 27 strafbar. Möglicherweise kommt auch bei B gewerbsmäßige Beihilfe in Betracht (§ 28 II). Fall22 Strafrechtsanwendung im Verhältnis zur DDR
Ein deutscher Staatsangehöriger, der in der Bundesrepublik wohnt, ist auf dem Gebiet der DDR von einem anderen, ebenfalls in der Bundesrepublik wohnhaften deutschen Staatsangehörigen A bei einem Überholvorgang in grob verkehrswidriger und rücksichtsloser Weise geschnitten worden. Kann A in der Bundesrepublik wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs nach§ 315c I Nr. 2b, III Nr. 2 StGB bestraft oder wegen falschen ÜberhoJens nach §§ 5 IV 4, 49 I Nr. 5 StVO in Verbindung mit§ 24 StVG mit einer Geldbuße belegt werden? In der DDR wird das falsche Überholen nur als Ordnungswidrigkeit geahndet.
Lösung 1. Wendet man im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur DDR internationales Strafrecht analog an (Lehrbuch § 20 III 2), so ist die deutsche Strafgewalt für die Tat nach§ 315c Abs. 1 Nr. 2b nicht gegeben, da sie in der DDR nicht strafbar ist, sondern nur als Ordnungswidrigkeit geahndet wird (§ 7 II Nr. 1 StGB, vgl. auch oben Fall 19). Der Umstand, daß ein Deutscher gefährdet wurde, ändert daran nichts (§ 7 1). In der Bundesrepublik scheidet die Ahndung als Ordnungswidrigkeit ebenfalls aus, weil für Ordnungswidrigkeiten nach § 5 OWiG allein das Territorialitätsprinzip gilt. 3*
Erster Teil: Fälle und Lösungen
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2. Wendet man dagegen im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur DDR nach der älteren Auffassung interlokales Strafrecht an, so wäre die Tat zwar nach dem Tatortprinzip straflos. Man müßte aber wohl das Wohnsitzrecht als das strengere anwenden (Lehrbuch § 20 111 1, I 3). Ergebnis: Nach der heute herrschenden Auffassung ist die Tat des A nicht in der Bundesrepublik strafbar.
VI. Allgemeine Grundlagen des Verbrechensbegriffs Lehrbuch§§ 21 und 23 Fall23 Rechtfertigender und entschuldigender Notstand Die schiffbrüchigen englischen Seeleute Dudley (D) und Stephens (St) hatten in einem Rettungsboot eine Woche in glühender Sonne ohne Speise und Trank auf dem Ozean ausgehalten. In ihrer Not beschlossen sie schließlich, den bereits sterbenden dritten Leidensgefährten, einen Schiffsjungen 0), zu töten. Sie nährten sich mehrere Tage von seinem Fleisch und Blut, ehe sie von einem Schiff entdeckt und gerettet wurden. Sie wurden wegen Mordes zum Tode verurteilt, aber zu Freiheitsstrafe von je sechs Monaten begnadigt ("Mignonette-Fall" nach The Queen v. Dudley and Stephens, Queen's Bench Division, Bd. 14, 1884- 85, S. 273). Wären die Seeleute nach deutschem Recht strafbar? Lösung
Strafbarkeit von D und St nach §§ 212 I, 25 II: A. Tatbestandsmäßigkeit: Der Tatbestand des § 212 I wäre erfüllt, wenn D und St einen anderen gemeinschaftlich (§ 25 II) getötet hätten. Fraglich ist allein, ob D und St den Tod des bereits dem Tode geweihten J vorsätzlich verursacht haben. Da D und St jedenfalls die konkrete Todesursache setzten und das Leben des J, wenn auch möglicherweise nur um kurze Zeit, verkürzten, muß die Ursächlichkeit bejaht werden (vgl. näher Lehrbuch § 28 II 5 und unten Fall 27). Auch Vorsatz ist trotz der außergewöhnlichen Notlage gegeben. Der Tatbestand des § 212 I ist also erfüllt. B. Rechtswidrigkeit: Die tatbestandsmäßige Handlung wäre rechtswidrig, wenn nicht ein Rechtfertigungsgrund eingreifen würde. Als solcher kommt hier nur der rechtfertigende Notstand (§ 34; im einzelnen Lehrbuch § 33 IV) in Betracht. a) D und St wendeten mit ihrer Tat eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr für ihr Leben ab. b) Weiter setzt § 34 voraus, daß bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen das geschützte Interesse (Leben von D und St) das beeinträchtigte (Leben
VI. Allgemeine Grundlagen des Verbrechensbegriffs (Lehrbuch§§ 21 und 23)
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des J) wesentlich überwiegt. Da Menschenleben gegeneinander nicht aufrechenbar sind (Lehrbuch § 33 IV 3c), ist eine Abwägung in dieser Weise nicht angängig. Von diesem Grundsatz wird in der Literatur (Eb. Schmidt, SJZ 49, 559ff.) eine Ausnahme gemacht, wenn das zu opfernde Rechtsgut - wie hier - ohnehin nicht mehr . gerettet werden kann. Diese Ansicht hätte zur Konsequenz, daß J gegen D und St nicht Notwehr hätte ausüben dürfen, da diese gerechtfertigt wären (vgl. § 32). Vorzuziehen ist daher die Auffassung, daß auch das nicht mehr zu rettende Leben ein gleichwertiges Rechtsgut ist (Maurach/Zipf § 27 III 5 S. 400). Demnach sind D und St nicht durch § 34 gerechtfertigt. C. Schuld: D und St haben die Tat jedoch begangen, um die gegenwarttge, nicht anders abwendbare Lebensgefahr von sich abzuwenden. Da somit die Voraussetzungen des entschuldigenden Notstandes (§ 35) erfüllt sind, kann D und St kein Schuldvorwurf im strafrechtlichen Sinn gemacht werden. Ergebnis: D und St sind nach deutschem Recht nicht strafbar (zur Lösung des Falles durch ein englisches Gericht Lehrbuch § 21 I 2). Fall24 Handeln und 'Unterlassen
Im Schwimmbad vergnügen sich ein paar Schüler damit, am Beckenrand stehende andere Buben von hinten ins Wasser zu stoßen. Der kräftig gebaute Junge J fällt dabei dem langsam daherschwimmenden Greis G auf den Kopf, der eine Gehirnerschütterung erleidet. I. Kann J wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 230) bestraft werden?
II. Wie steht es mit dem Schüler S, der gestoßen hat? Ill. Wie steht es mit dem Bademeister B, der inzwischen in seinem Büro frühstückte? I. Strafbarkeit des J nach § 230:
Lösung
Die erste Voraussetzung einer Straftat ist, daß eine Handlung vorliegt (Lehrbuch
§ 21 II 2). Der Handlungsbegriff ist umstritten (Lehrbuch § 23):
a) Kausaler Handlungsbegriff: Handlung ist ein willensgetragenes menschliches Verhalten, das eine Folge in der Außenwelt herbeiführt. b) Finaler Handlungsbegriff: Handlung ist die Ausübung von Zwecktätigkeit (anders formuliert: ein final überdeterminiertes Kausalgeschehen). c) Sozialer Handlungsbegriff: Handlung ist sozialerhebliches menschliches ·Verhalten. Einigkeit herrscht unter den verschiedenen Auffassungen darüber, daß bei Körperreflexen, bei Bewegungen im Zustand der Bewußtlosigkeit und bei Bewegungen aufgrund unwiderstehlicher Gewalt keine Handlung vorliegt (Lehrbuch § 23 IV 2). Da J infolge von unwiderstehlicher Gewalt auf G fiel, hat er nicht "gehandelt". Somit liegt keine Straftat vor (beachte: Dieses Beispiel zeigt, daß es für die Lösung eines Falles in der Regel ohne Bedeutung ist, welchem Handlungsbegriff man folgt.
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
Die wesentliche Bedeutung des Handlungsbegriffes liegt in seinen negativen Konsequenzen). II. Strafbarkeit des S nach § 230: A. S hat unter Verletzung seiner Sorgfaltspflicht (Badeordnung) mit seinem Stoß eine Ursache für die Verletzung des G gesetzt. Der Erfolg war auch voraussehbar. Somit ist der Tatbestand des § 230 erfüllt. B. Bei der Schuld ist die Schuldfähigkeit nach Alter und Reife des S zu bestimmen(§§ 10, 19 StGB; §§ 1, 3, 105 JGG). III. Strafbarkeit des B nach § 230: B könnte wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen strafbar sein (§§ 230, 13). a) B konnte, als S den J ins Wasser stieß, nicht gegen S einschreiten, da er in seinem Büro frühstückte; er war insoweit handlungsunfähig. Nach dem sozialen Handlungsbegriff fehlt es somit an einer Handlung (Lehrbuch § 23 IV 2b). b) Unter Umständen kann dem B aber das Sich-Entfernen vom Schwimmbecken zum Vorwurf gemacht werden. Dies hängt von den Umständen des Einzelfalles ab (Ausgestaltung des Arbeitsvertrages, Anwesenheit einer anderen Aufsichtsperson usw.). Fall25 Handeln für einen anderen Eine Motorradbau-AG hatte gegen eine GmbH, die Teile für Motorräder herstellte, einen Anspruch auf Lieferung von 50 Lenkern. Alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer der GmbH war A. Dieser schaffte mit Hilfe seines Sohnes S sämtliche im Betrieb der GmbH vorhandenen Lenker beiseite, so daß die am nächsten Tag durch einen Gerichtsvollzieher versuchte Zwangsvollstreckung fruchtlos verlief (vgl. RGSt 60, 234). Kann die GmbH oder kann A wegen Vereitelns der Zwangsvollstreckung (§ 288) bestraft werden? Kann S wegen Beihilfe dazu bestraft werden? Lösung
I. Strafbarkeit der GmbH nach § 288 1: Die GmbH ist als juristische Person nicht handlungsfähig und daher nicht strafbar (Lehrbuch § 23 V 1). II. Strafbarkeit des A nach § 288 I: 1. A hat in der Absicht, die Befriedigung des Gläubigers zu vereiteln, Bestandteile des Vermögens der GmbH beiseite geschafft. Allerdings drohte die Zwangsvollstreckung nicht ihm selbst - wie § 288 I voraussetzt -, sondern der GmbH. Schuldner ist, obwohl es sich um eine Einmann-GmbH handelt, nicht A, sondern die GmbH. A könnte aber über § 14 verantwortlich gemacht werden. Die Vorschrift enthält eine Ausdehnung der Straftatbestände mit bestimmten persönlichen Merkmalen für den Fall, daß ein nicht qualifizierter Täter für einen anderen handelt, der das betreffende Merkmal besitzt (Lehrbuch § 23 VI).
VII. Kausalität und objektive Zurechnung (Lehrbuch § 28)
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a) A hat in seiner Eigenschaft als Organ der GmbH gehandelt. b) Die Schuldnereigenschaft ("ihm" drohende Zwangsvollstreckung) ist ein strafbegründendes persönliches Merkmal (zur Problematik dieses Begriffs vgl. Lehrbuch § 23 VI 2). Die Voraussetzungen des § 14 liegen somit vor. A ist nach § 288 I strafbar, falls die Motorradbau-AG Strafantrag stellt (§ 288 II). 111. Strafbarkeit des S nach §§ 288 I, 27: 1. Zu Handlungen, die unter Anwendung des § 14 strafbar sind, ist Beihilfe nach allgemeinen Regeln möglich, sofern der Gehilfe weiß, daß der Täter Organ und die GmbH Schuldnerin ist.
2. S hat die Vollstreckungsvereitelung des A vorsätzlich gefördert(§ 27). 3. Da dem S die Schuldnereigenschaft fehlt, fragt sich, ob seine Strafe nach § 28 I zu mildern ist. Diese Vorschrift bezieht sich jedoch nur auf solche persönlichen Merkmale, die den Täter in seiner Person charakterisieren (z. B. die Eigenschaft als Beamter) und aus denen sich daher der besondere Unwert der Tat ergibt. § 288 grenzt dagegen durch die Beschränkung auf den "Schuldner" nur den typischerweise in Betracht kommenden Täterkreis ab. Der Begriff der "besonderen persönlichen Merkmale" ist deswegen in § 14 und in § 28 unterschiedlich auszulegen (Relativität der Rechtsbegriffe) (Lehrbuch § 61 VII 4a). Da sich der besondere Unwert der Tat bei § 288 nicht aus der Schuldnereigenschaft ergibt, ist dem S nicht die Vergünstigung des § 28 I zu gewähren. 4. Prozeßvoraussetzung ist nach § 288 II, daß Strafantrag auch gegen S gestellt wird. Ergebnis: A ist nach § 288, S nach §§ 288, 27 ohne Strafmilderung nach § 28 I zu bestrafen.
VII. Kausalität und objektive Zurechnung Lehrbuch§ 28 Fall26 Äquivalenz- und Adäquanztheorie
A versetzte B im Laufe eines Streits mit der flachen Hand eine kräftige Ohrfeige. B erlitt dadurch eine Gehirnerschütterung, die zum Einriß von Blutadern der weichen Hirnhäute und damit zum alsbaldigen Tod des B führte (BGHSt 1, 332). KannA wegen Körperverletzung mit Todesfolge(§ 226) bestraft werden?
I. Strafbarkeit des A nach § 223:
Lösung
A hat B vorsätzlich körperlich mißhandelt. Somit ist der Tatbestand des § 223 erfüllt.
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Erster Teil: Fälle und Lösungen II. Strafbarkeit des A nach § 226:
Die Strafbarkeit des A wegen Körperverletzung mit Todesfolge nach § 226 würde voraussetzen, daß durch die Körperverletzung der Tod des B verursacht worden ist. 1. Nach der herrschenden Äquivalenztheorie ist jede Handlung kausal für einen Erfolg, wenn sie den Erfolg mitverursacht hat. Alle Erfolgsbedingungen werden als gleichwertig angesehen. Zum Nachweis der Ursächlichkeit wird besonders in der Rechtsprechung die Formel von der "conditio sine qua non" verwendet. Gefragt wird dabei danach, ob die Handlung hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele. Die Ohrfeige kann nicht hinwegged~cht werden, ohne daß der Tod des B entfiele. Somit ist die Kausalität im Sinne der Aquivalenztheorie nach der herkömmlichen Formel zu bejahen. Das hypothetische Eliminationsverfahren ist jedoch nicht immer schlüssig {vgl. z. B. unten Fall 27). Richtig ist es deswegen, nach dem "gesetzmäßigen Bedingungszusammenhang" zu fragen (Lehrbuch § 28 II 4). Auch dieser ist hier gegeben, da die Ohrfeige die Gehirnerschütterung und diese die Gehirnblutung zur Folge gehabt und diese den Tod des B herbeigeführt hat. 2. Die Äquivalenztheorie gibt jedoch nur den äußersten Rahmen der strafrechtlichen Zurechnung an. In manchen Fällen führen andere Kriterien zu einer engeren Begrenzung der objektiven Zurechnung im Rahmen der Kausalität. Dies gilt vor allem für völlig unwahrscheinliche Kausalverläufe wie im vorliegenden Fall. a) Zur Begrenzung der objektiven Zurechnung in derartigen Fällen dient einmal die Adäquanztheorie. Nach der Adäquanztheorie ist eine Handlung nicht ursächlich, wenn es schlechthin unwahrscheinlich ist, daß diese den Erfolg nach sich zieht (im Zivilrecht h. M., im Strafrecht nur in Ausnahmefällen für Vorsatztaten erforderlich, weil dort das Fahrlässigkeitsregulativ der Rechtsprechung nicht eingreift, Lehrbuch § 28 111 2) (vgl. auch BGHSt 1, 332). Nach der Relevanztheorie ist die objektive Zurechnung der an sich ursächlichen Handlung nur dann anzunehmen, wenn die Bedingung nach dem Sinn des betreffenden Straftatbestandes für den Erfolg relevant ist (Lehrbuch § 28 111 3). Beide Theorien sind wegen ihrer Unbestimmtheit für die Abgrenzung wenig geeignet. b) Im vorliegenden Falle genügt jedoch schon das Erfordernis der Fahrlässigkeit hinsichtlich des eingetretenen Erfolges zur Begrenzung der objektiven Zurechnung (Lehrbuch § 28 111 1). § 226 ist ein erfolgsqualifiziertes Delikt. Daher muß der Tod des Verletzten wenigstens durch Fahrlässigkeit des Täters herbeigeführt worden sein (§ 18) (zur Zeit der Entscheidung BGHSt 1, 332 galt dieses Erfordernis noch nicht). Die Fahrlässigkeit verlangt objektive Voraussehbarkeit des Erfolges (Lehrbuch § 55 II 3). Da völlig unwahrscheinliche Kausalverläufe nicht voraussehbar sind, verneint die Rechtsprechung in derartigen Fällen schon die objektiven Voraussetzungen der Fahrlässigkeit. Daß eine Ohrfeige zum Tode des Verletzten führt, ist in aller Regel nicht voraussehbar. A hat deswegen den Tod des B nicht durch Fahrlässigkeit herbeigeführt. Ergebnis: A ist nach § 223, nicht nach § 226 zu bestrafen. Fall27 Kausalität und hypothetische Ersatzursachen
Rechtsreferendar A erzählte im Dienstzimmer eines Richters dem Kaufmann K, er brauche dringend 2000 DM für eine Wohnung. In drei Monaten werde er einen
VII. Kausalität und objektive Zurechnung (Lehrbuch § 28)
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namhaften Betrag aus Wertpapieren erhalten. Dann könne und werde er das Darlehen zurückbezahlen. K vertraute diesen Angaben und stellte A 2000 DM zur Verfügung. A, der keine Einkünfte aus Wertpapieren zu erwarten gehabt hatte, zahlte das Darlehen nicht zurück. K hätte ihm aber auch ohne die falsche Angabe das Geld geliehen (vgl. BGHSt 13, 13). Hat sich A wegen Betrugs nach § 263 strafbar gemacht? Strafbarkeit des A nach § 263:
Lösung
a) A hat K über seine Rückzahlungsfähigkeit vorsätzlich getäuscht. b) Dadurch hat er bei K einen Irrtum erregt. c) K nahm eine vermögensschädigende Verfügung (Auszahlung des Geldes) vor. Fraglich ist, ob der Irrtum dafür kausal war. Da K das Darlehen auch dann gegeben hätte, wenn A nicht die falsche Angabe gemacht hätte, kann man hier nicht sagen, die Täuschung lasse sich nicht hinwegdenken, ohne daß die vermögensschädigende Verfügung entfiele (Lehrbuch § 28 II 4). Die Tatsache, daß eine andere hypothetische Motivation bei K, etwa die Hoffnung auf Begründung einer günstigen Beziehung zu dem Richter, zum gleichen Ergebnis geführt hätte, kann A jedoch nicht entlasten. A hat sich selbst äls kreditwürdig hingestellt. Es entspricht einer "psychologischen" Gesetzmäßigkeit, daß ein Kreditgeber vorzugsweise den Kredit einräumt, der ihm kreditwürdig erscheint. K hat dem A Kredit eingeräumt, weil er ihn wegen der Vorspiegelung zu erwartender Einkünfte aus Wertpapieren für kreditwürdig hielt. Daher war die Täuschung für die vermögensschädigende Verfügung kausal (Formel von der gesetzmäßigen Bedingung, Lehrbuch § 28 II 4). Die Tatsache, daß K auch einem nicht kreditwürdigen Darlehensschuldner Kredit gewährt hätte, ändert nichts daran, daß die Täuschung einen gesetzmäßigen Kausalverlauf in Gang gesetzt hat (beachte: Häufig reicht es zur Ausscheidung unbeachtlicher hypothetischer Kausalverläufe aus, wenn auf den konkreten Erfolg abgestellt wird, vgl. oben Fall 23; ferner BGHSt 2, 20). d) Durch die Vermögensverfügung ist K ein Schaden entstanden, da A das Darlehen nicht zurückzahlen kann. e) A hatte die Absicht, sich einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, der dem Schaden des K stoffgleich ist. Somit liegen die Tatbestandsmerkmale des § 263 vor. Ergebnis: A ist nach § 263 wegen Betrugs strafbar.
Fall28 Kausalität und dolus generalis A faßte den Plan, seine Frau F durch Leuchtgas zu töten, um seine Geliebte heiraten zu können. Er löste in der Nacht, als F schlief, die Verschraubung zwischen der Zuleitung und dem Rohr des Gaskochers und setzte F eine Stunde lang der Einwirkung des ausströmenden Leuchtgases aus. Dann schloß er in der Meinung, daß die F genügend Gas eingeatmet habe und daran sterben werde, die Verschraubung und ließ das Gas abziehen. Als er am nächsten Morgen aufstand, hielt
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
er F für tot und ließ, ehe er die Wohnung verließ, nochmals Gas ausströmen, um einen Unfall vorzutäuschen. Es wurde festgestellt, daß F, als er sie zum zweiten Mal - weil er sie bereits für tot hielt, ohne Tötungsvorsatz - der Einwirkung des Gases aussetzte, noch gelebt hat und ihr Tod erst infolge der zweiten Gaseinwirkung eingetreten ist (OGHSt 2, 285). Hat sich A wegen versuchten oder wegen vollendeten Mordes (§ 211) strafbar gemacht?
Lösung Strafbarkeit des A nach§ 211 : a) Da A aus niederen Beweggründen handelte, wäre ein Mord dann gegeben, wenn er die F vorsätzlich getötet hätte. Fraglich ist zunächst, ob die mit Tötungsvorsatz ausgeführte erste Gaseinwirkung kausal für den Tod war. Darauf kommt es an, weil der Täter im Zeitpunkt der zweiten Gaseinwirkung nicht vorsätzlich gehandelt hat. Mit Sicherheit war die zweite Gaseinwirkung kausal. Entscheidend ist, ob die mit der zweiten Gaseinwirkung beginnende Kausalkette jene Kausalkette unterbrochen hat, die mit der ersten Einwirkung begonnen hatte (abgebrochene Kausalität, Lehrbuch § 28 II 5). Eine Unterbrechung wäre nur dann zu bejahen, wenn die zweite Kausalkette völlig unabhängig von der ersten gewirkt hätte. Selbst wenn physiologisch allein die zweite Einwirkung zum Tod geführt hat, besteht hier dennoch eine Abhängigkeit, weil A die zweite Einwirkung nicht ohne die durch die erste Einwirkung geschaffene Lage durchgeführt hätte. Kausalität zwischen der ersten Einwirkung und dem Tod ist mithin gegeben. b) Allerdings stimmen der wirkliche und der vorgestellte Kausalverlauf nicht überein. Es handelt sich dabei jedoch um eine unwesentliche Abweichung (Fall des dolus generalis, Lehrbuch § 29 V 6d).
Ergebnis: A ist wegen vollendeten Mordes (§ 211) strafbar. Fall29 Kausalität und rechtmäßiges Alternativverhalten
A lenkte einen Lastzug auf einer übersichtlichen Straße von 6 m Breite. Rechts vor ihm fuhr ein Radfahrer R in der gleichen Richtung. A überholte diesen mit einer Geschwindigkeit von 25 km/h. Der Seitenabstand vom Anhänger zum linken Ellenbogen des R betrug 75 cm. Während des Überholvorganges stürzte R, weil er durch das nahe Vorbeifahren des Lastzugs erschreckt wurde. Er geriet unter das rechte Hinterrad des Anhängers und war auf der Stelle tot. Eine der Leiche entnommene Blutprobe ergab einen Blutalkoholgehalt von 2 %o für den Unfallzeitpunkt. A verteidigte sich unwiderlegbar damit, daß R wahrscheinlich auch bei Einhaltung eines Seitenabstandes von 1 bis 1,5 m infolge seiner Trunkenheit erschrokken wäre und das Fahrrad unvernünftig nach links gezogen hätte (BGHSt 11, 1). Ist A wegen fahrlässiger Tötung (§ 222) oder nur wegen falschen ÜberhoJens (§§ 5 IV 2, 49 I Nr. 5 i. V.m. § 24 StVG) zu verurteilen?
Lösung Strafbarkeit des A nach § 222: 1. A hat den Tod des R verursacht, indem er ihn überfuhr.
2. Seine Fahrweise war sorgfaltspflichtwidrig, da er beim Überholen nicht den erforderlichen Seitenabstand eingehalten hat (§ 5 IV 4 StVO).
VII. Kausalität und objektive Zurechnung (Lehrbuch § 28)
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3. a) Fraglich ist, welche Auswirkungen der Umstand hat, daß der Tod möglicherweise auch bei pflichtgemäßem Verhalten des A (Einhalten eines ausreichenden Sicherheitsabstandes) nicht hätte vermieden werden können. Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, daß die objektive Zurechnung des Erfolgs zu verneinen ist, wenn der Täter zwar den tatbestandsmäßigen Erfolg durch ein sorgfaltswidriges Verhalten verursacht hat, der Erfolg aber auch bei sorgfältigem Verhalten eingetreten wäre (Lehrbuch § 28 IV 5, § 55 II 2 b aa). Da der Erfolg dem Täter in einem solchen Fall objektiv nicht zugerechnet werden kann, fehlt schon die Tatbestandsmäßigkeit der Handlung (ebenso im Ergebnis BGHSt 11, 1 [7], wo jedoch die Ursächlichkeit "im strafrechtlichen Sinne" verneint wird). b) Daß bei pflichtgemäßem Verhalten des A derselbe Erfolg eingetreten wäre, läßt sich allerdings oft nicht mit Sicherheit sagen. Die Rechtsprechung und h. L. meint, daß diese Zweifel nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" zugunsten des Angeklagten zu lösen seien (Lehrbuch §55 II 2b aa). Nach dieser Auffassung liegt keine fahrlässige Tötung vor; es kann nur die Ordnungswidrigkeit geahndet werden(§§ 5 IV 4, 49 I Nr. 5 i. V.m. § 24 StVG). Dieser Auffassung ist entgegenzuhalten, daß es sich hier nicht primär um die Frage des Beweises der Vermeidbarkeie des Erfolges handelt, sondern um die Berechtigung der objektiven Zurechenbarkeit eines Erfolges bei ursächlichem und pflichtwidrigem Fehlverhalten. Die richtige Fragestellung lautet, wann ein kausal verursachter Erfolg der pflichtwidrigen Handlung zugerechnet werden kann. Diese Frage ist zu bejahen, wenn die verletzte Norm gerade dazu dient, den eingetretenen Erfolg zu verhindern, wenn also durch die Verletzung der Norm das Risiko für das geschützte Rechtsgut erhöht wird (Lehre von der Risikoerhöhung). Da das Nichteinhalten des Sicherheitsabstandes das Risiko für das Leben des R erhöht hat, kann dem A der Tod des R zugerechnet werden. Die Frage des "in dubio pro reo" tritt erst auf, wenn zweifelhaft bleibt, ob eine Erhöhung des Risikos eingetreten ist.
Ergebnis: A ist nach § 222 strafbar (die Ordnungswidrigkeit tritt nach § 21 I OWiG zurück).
Fall 30 Objektive Zurechnung gemeinsam verursachter Lebensgefahr A ließ sich beim Bier vom Zechgenossen B zu einer Motorradwettfahrt überreden, bei der B infolge eigenen Verschuldens tödlich verunglückte. Eine Blutprobe ergab für B einen Blutalkoholgehalt von 1,5 %o (vgl. BGHSt 7, 112). Ist A wegen fahrlässiger Tötung (§ 222) strafbar?
Lösung Strafbarkeit des A nach § 222: 1. Fraglich ist zunächst, ob der Tod des B dem A objektiv zugerechnet werden kann.
a) Die Teilnahme des A an der Wettfahrt war eine Ursache für den Tod des B. b) Seit BGHSt 24, 342 ist allgemein anerkannt, daß bei fahrlässiger Förderung des Selbstmordes eines anderen die objektive Zurechnung eingeschränkt werden muß, weil selbst die vorsätzliche Förderung des Selbstmordes nicht strafbar wäre. Zum Teil wird die Ansicht vertreten, daß dieselbe Erwägung auch für die Teilnahme an unvorsätzlicher fremder Selbstgefährdung gelten müsse. Demnach wäre der Tod des B dem A nicht zurechenbar. Diese Argumentation überzeugt jedoch
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
nicht. Sie wird dem vorliegenden Fall deshalb nicht gerecht, weil A mehr tat als eine fremde Selbstgefährdung zu fördern. Er machte wie ein "Mittäter" die gefährliche Handlung durch seine Mitwirkung überhaupt erst möglich und war danach Mitbeherrscher des gesamten Geschehensablaufs. Es liegt keine Teilnahme an fremder Selbstgefährdung, sondern eine gemeinsame gefährliche Tätigkeit vor. Bei gemeinsamer gefährlicher Tätigkeit ist die objektive Zurechnung nicht einzuschränken. c) Die Handlung des A war objektiv pflichtwidrig. Er hatte die Pflicht, die Teilnahme an der riskanten Unternehmung, die keinen vernünftigen Sinn hatte, zu verweigern. Der Tod des B war auch objektiv voraussehbar. 2. Die Tötung des B könnte gerechtfertigt sein.
a) B könnte eine rechtfertigende Einwilligung erteilt haben. Zweifelhaft ist jedoch schon, ob ihm nicht infolge des Alkoholkonsums die Einwilligungsfähigkeit gefehlt hat. Jedenfalls ist aber die Einwilligung in eine lebensgefährliche Handlung unwirksam (Lehrbuch § 56 II 3). b) Die Wettfahrt war auch kein "erlaubtes Risiko" . Ein erlaubtes Risiko kann nur dann angenommen werden, wenn die riskante Handlung einen vernünftigen Sinn hat (Lehrbuch §56 III 1). Dafür reicht z.B. der sportliche Wert bei einer gemeinsam durchgeführten gefährlichen Bergtour aus. Der Wettfahrt im Zustand der Trunkenheit kann dagegen nicht irgendein objektiver Wert zugesprochen werden. 3. A hat auch subjektiv pflichtwidrig gehandelt. Anhaltspunkte, daß ihm seine Pflicht nicht erkennbar oder der Erfolg nicht voraussehbar war, liegen nicht vor. Ergebnis: A ist wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 strafbar. Fall 31
Objektive Zurechnung und Schutzbereich der Norm Zahnarzt A zog der an Fettsucht leidenden B unter Vollnarkose zwei Backenzähne. Die Narkose führte infolge eines unerkennbaren Herzfehlers der B zum Tod. Aus zahnärztlicher Sicht war die Vollnarkose angezeigt, jedoch hätte zuvor ein Internist eingeschaltet werden müssen, wozu wegen der Fettsucht der B Anlaß bestand. Allerdings hätte ein Internist den verborgenen Herzfehler aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls nicht erkannt und deshalb der tödlichen Narkose zugestimmt. Mit Sicherheit wäre die tödliche Narkose bei Einschaltung eines Internisten jedoch einige Tage später durchgeführt worden, weil erst die internistische Untersuchung hätte stattfinden müssen (vgl. BGHSt 21, 59).
Strafbarkeit des A nach § 222:
Lösung
a) A hat durch die Vollnarkose den Tod derB verursacht. b) Die Nichteinschaltung eines Internisten war objektiv pflichtwidrig. c) Fraglich ist, ob der Tod der B dem A objektiv zugerechnet werden kann. Grundsätzlich wäre dies dann der Fall, wenn der Tod bei pflichtgemäßem Verhalten des A mit Sicherheit ausgeblieben oder wenigstens erst später eingetreten wäre.
VII. Kausalität und objektive Zurechnung (Lehrbuch § 28)
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Hätte A einen Internisten eingeschaltet, so wäre der Tod der B zwar nicht vermieden worden, er wäre aber mit Sicherheit später eingetreten. Auf den ersten Blick erscheint daher der Tod der B dem A zurechenbar zu sein. Jedoch ist zu bedenken, daß die Pflicht zur Einschaltung eines Internisten nicht den Sinn hat, eine möglicherweise tödliche Narkose um einige Tage zu verzögern. Der Sinn dieser Pflicht ist vielmehr, tödliche Narkosen überhaupt zu vermeiden. Dies wäre aber nach Sachlage auch bei Einschaltung eines Internisten nicht zu erreichen gewesen. Da die von A verletzte Pflicht nicht zur Verzögerung tödlicher Narkosen dient, kann der Tod der B nicht dem pflichtwidrigen Verhalten des A zugerechnet werden (Lehrbuch § 55 II 2b bb). BGHSt 21, 59 (61) kommt zum gleichen Ergebnis, indem gefragt wird, ob der Zeitraum zwischen Narkose und Tod verkürzt worden wäre, wenn zuvor ein Internist eingeschaltet worden wäre. Diese Frage war zu verneinen, sie ist aber im Grunde nicht maßgeblich. Auch die Lehre von der Risikoerhöhung kommt hier zu keinem anderen Ergebnis. Zwar ist durch die Nichteinschaltung des Internisten eine Risikoerhöhung geschaffen worden. Aber das erhöhte Risiko hat sich aller Wahrscheinlichkeit nach in dem Erfolg nicht realisiert (vgl. dagegen oben Fall 29).
Ergebnis: A ist nicht wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 strafbar. Fall 32 Trunkenheit und rechtmäßiges Alternativverhalten
A fuhr nachts mit einer Geschwindigkeit von 120 km/h auf einer autobahnähnlich ausgebauten Bundesstraße. Sein Blutalkoholgehalt betrug 1,9 o/oo. Wegen Gegenverkehrs hatte er über eine längere Strecke abgeblendet. Als er wieder aufblendete, bemerkte er 30 m vor sich einen Mopedfahrer, der sich vom linken Rand der Überholspur nach rechts zur Fahrbahnmitte hin bewegte. Trotz scharfen Bremsens erfaßte der Wagen des A das Moped und schob es noch 40 m vor sich her, ehe er zum Stehen kam. Der Mopedfahrer F wurde getötet. Der Unfall hätte vermieden werden können, wenn A nur mit 40 km/h gefahren wäre. Ein gerichtsmedizinischer Gutachter meint, daß der alkoholbedingten Beeinträchtigung der Reaktionsfähigkeit des A eine Geschwindigkeit von nur 30 km/h entsprochen hätte (vgl. BGHSt 24, 31). Hat sich A strafbar gemacht?
Lösung I. Strafbarkeit des A nach§ 222:
a) A hat den Tod des F verursacht, indem er ihn überfahren hat. b) Die Fahrweise des A war objektiv pflichtwidrig, da er wegen des Alkoholgenusses als Kraftfahrer am Straßenverkehr nicht hätte teilnehmen dürfen (§ 316 ). c) Fraglich ist, ob der Tod des F dem A zugerechnet werden kann. Das wäre dann nicht der Fall, wenn F auch bei pflichtgemäßem Verhalten des A tödlich verunglückt wäre. Dabei kommt es darauf an, wie sich pflichtgemäßes Verhalten vom Eintritt der konkreten kritischen Verkehrslage an ausgewirkt hätte. Im vorliegenden Fall kommen zwei Pflichtwidrigkeiten als Unfallursache in Betracht, einmal die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit (§ 316 ), zum anderen die überhöhte Geschwindigkeit (§ 3 I StVO). Daher kann man die Frage der Vermeidbarkeit auf unterschiedliche Weise stellen:
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Erster Teil : Fälle und Lösungen
aa) Wäre A nüchtern gewesen und wäre er mit einer Geschwindigkeit von 120 km/h in die kritische Verkehrslage, die mit dem Aufblenden begann, geraten, so wäre der Unfall aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vermeidbar gewesen. bb) Wäre A mit einem Blutalkoholgehalt von 1,9 %o und mit der augepaßten Geschwindigkeit von 30 km/h gefahren, so wäre der Unfall vermeidbar gewesen. Der Bundesgerichtshof (BGHSt 24, 31 [34 ff.]) hat sich für die zweite Betrachtungsweise entschieden, weil die letzte unmittelbare Ursache für den Unfall die überhöhte Geschwindigkeit gewesen sei. Demnach wäre A nach § 222 strafbar. Grundsätzlich ist dem BGH zuzustimmen, daß ein hypothetisches rechtmäßiges Verhalten (nüchterne Fahrt), das schon vor der kritischen Verkehrslage seinen Anfang hätte nehmen müssen, den Täter nicht entlasten kann. Jedoch besteht im vorliegenden Fall die Besonderheit, daß A, nachdem er Alkohol getrunken hatte, gar nicht mehr rechtmäßig fahren konnte. Zu fragen, wie sich ein fahruntüchtiger Fahrer verkehrsrichtig verhält, ist nicht sinnvoll. Die Frage würde praktisch dazu zwingen, eine "Straßenverkehrsordnung für Betrunkene" aufzustellen. Regeln für betrunkene Fahrer sind sinnlos, weil sich die Folgen alkoholbedingter Ausfallerscheinungen zwar mildern, nicht aber ausschließen lassen. Einziger Vergleichsmaßstab für die Frage der Vermeidbarkeit bleibt daher der nüchterne Fahrer. Da der Unfall in der kritischen Verkehrslage auch für einen nüchternen Fahrer nicht vermeidbar gewesen wäre, ist der Tod des F dem A nicht zuzurechnen. A ist daher entgegen der Ansicht des BGH nicht nach § 222 strafbar.
li. Strafbarkeit des A nach§§ 315c I Nr. 1a, 316: 1. Der Tatbestand des § 315 c I Nr. 1 a ist nicht erfüllt, weil nach den vorstehenden Ausführungen die Gefährdung des F dem A nicht zurechenbar ist.
2. Dagegen ist der Tatbestand des § 316 I erfüllt, wobei wegen des hohen Blutalkoholwertes des A angenommen werden kann, daß er vorsätzlich handelte.
Ergebnis: A ist "nur" nach§ 316 strafbar.
VIII. Vorsatz und Tatbestandsirrtum Lehrbuch § 29
Fall 33 Vorsatz und Irrtum über den Kausalverlauf A schlug seinen Feind F mit Tötungsvorsatz durch mehrere gegen den Kopf geführte Schläge mit einem Holzscheit bewußtlos und ließ ihn hilflos im Wald liegen. Er rechnete damit, daß F an der Wucht dieser Schläge sterben werde. Tatsächlich starb F an einer Wundinfektion und an Entkräftung und wurde einige Tage später tot aufgefunden (vgl. RGSt 70, 257). Ist A wegen vollendeten Totschlags (§ 212) zu bestrafen?
VIII. Vorsatz und Tatbestandsirrtum (Lehrbuch§ 29)
Strafbarkeit des A nach § 212:
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Lösung
1. A hat den Tod des F verursacht und der Erfolg ist ihm auch objektiv zuzurechnen. Somit ist der objektive Tatbestand des § 212 erfüllt. 2. Fraglich ist, ob A bezüglich des durch Wundinfektion und Entkräftung verursachten Todes vorsätzlich gehandelt hat. Der Vorsatz muß den gesamten objektiven Tatbestand umfassen (Lehrbuch § 29 li 3), also auch den Kausalverlauf (vgl. § 16 I). Hier ist eine Abweichung von vorgestelltem (Tod durch Schläge) und wirklichem Kausalverlauf (Tod durch Wundinfektion und Entkräftung) gegeben. Jedoch schließt nur eine wesentliche Abweichung im Kausalverlauf den Vorsatz aus, denn bei unwesentlicher Abweichung ist der Erfolg noch immer die Verwirklichung der in der Handlung vorsätzlich angelegten Gefahr (Lehrbuch § 29 V 6b). Die Abweichung ist unwesentlich, wenn sie sich in den Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren hält und keine andere Bewertung der Tat rechtfertigt. Bei F hat sich die in den Schlägen liegende Gefahr verwirklicht; welche medizinische Ursache letztlich wirksam wurde, spielt für die rechtliche Beurteilung der Tat keine Rolle. Daher liegt nur eine unwesentliche Abweichung im Kausalverlauf vor, die den Vorsatz nicht nach § 16 I ausschließt. Ergebnis: A ist wegen vollendeten Totschlags nach § 212 strafbar (vgl. auch BGHSt 14, 193 und oben Fall 28 zum sog. dolus generalis). Fall 34 Irrtum über ein normatives Tatbestandsmerkmal
Nach einer Höchstpreisverordnung für Schuhe ist der jeweils in dem Schuh vom Hersteller eingeprägte Preis für den Einzelverkaufspreis maßgebend. Der Schuhwarenverkäufer A ändert den Höchstpreis durch geschickte Verwendung eines Prägestempels zu seinen Gunsten um. Unter der Beschuldigung der Urkundenfälschung vernommen, erklärt er wahrheitsgemäß, er habe den Aufdruck nicht für eine "Urkunde" gehalten (vgl. RGSt 53, 237). Ist A wegen Urkundenfälschung (§ 267) strafbar? I. Strafbarkeit des A nach § 267:
Lösung
1. Der eingeprägte Preis ist eine nach der Höchstpreisverordnung rechtserhebliche und zum Beweis bestimmte verkörperte Erklärung des Schuhherstellers und somit eine Urkunde. Mit der Abänderung des eingeprägten Preises hat A eine echte Urkunde verfälscht. Der objektive Tatbestand des § 267 ist damit erfüllt.
2. Fraglich ist, ob der Vorsatz des A das Tatbestandsmerkmal "Urkunde" umfaßte. Ob eine Urkunde vorliegt oder nicht, kann nicht durch bloße Wahrnehmung festgestellt werden; vielmehr ist eine rechtliche Wertung erforderlich. Es handelt sich um ein sog. normatives T atbestandsmerkmal. Bei einem normativen Tatbestandsmerkmal gehört zum Vorsatz, daß der Täter die Bedeutung des Tatstandsmerkmals im Wege der "Parallelwertung in der Laiensphäre" richtig versteht (Lehrbuch § 29 li 3a). Eine "juristische Meinung", die sich der Täter abweichend von seiner zutreffenden laienhaften Vorstellung vom Sinn des betreffenden T atbestandsmerkmals bildet, läßt den Vorsatz unberührt. A kannte als Schuhverkäufer die Bedeutung des eingeprägten Preises. Er wußte, daß dieser vom Schuhhersteller
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
stammte und rechtliche Bedeutung für den Verkaufspreis hatte. Somit entspricht die Parallelwertung in der Laiensphäre durch A hinsichtlich des eingeprägten Preises dem strafrechtlichen Begriff der Urkunde. Damit ist auch das Vorsatzerfordernis erfüllt. 3. Zum subjektiven Tatbestand des § 267 gehört noch als subjektives Tatbestandsmerkmal die Absicht der Täuschung im Rechtsverkehr. Man versteht darunter den Willen, einen anderen über die Echtheit der Urkunde zu täuschen und damit zu einem rechtlich erheblichen Verhalten zu veranlassen. Auch dies ist gegeben, da A die Veränderung vornimmt, um Kunden gegebenenfalls durch den Aufdruck zur Zahlung des überhöhten Preises zu veranlassen. 4. Falls A aufgrund seiner "juristischen Meinung" seine Tat für erlaubt hielt, so würde dies ein Subsumtionsirrtum sein, der das Unrechtsbewußtsein ausschließen kann (Lehrbuch § 29 V 7a). In diesem Fall läge ein Verbotsirrtum vor, der aber vermeidbar gewesen wäre (§§ 17 S. 2, 49 1). Die zu verhängende Strafe kann in diesem Fall gemildert werden.
II. Strafbarkeit des A nach § 263: Soweit A die verfälscht ausgezeichneten Schuhe zu teuer an Kunden verkauft hat, ist auch der Tatbestand des Betrugs (§ 263) erfüllt. Im Verhältnis zur Urkundenfälschung besteht Idealkonkurrenz, wenn A auf den verfälschten Prägestempel verweist und damit von der falschen Urkunde Gebrauch macht (§ 52) (Lehrbuch § 67 II 2). Ergebnis: A ist wegen Urkundenfälschung (§ 267) in Tateinheit mit Betrug (§ 263) strafbar (§ 52).
Fall 35 Arten des Vorsatzes: Absicht Der Finanzanwärter A wollte mit der Bundesbahn von X nach Y fahren, um dort an einem einmal wöchentlich stattfindenden Kurs für Anwärter des gehobenen Finanzdienstes teilzunehmen. Als er drei Minuten vor Abfahrt des Zuges die Bahnsperre passieren wollte, konnte er seine Sechser-Karte, die er am Anfang des Monats gelöst hatte, nicht finden. Da er den Kurs nicht versäumen wollte, andererseits aber nicht genügend Geld für eine Einzelfahrkarte bei sich hatte, entschloß er sich, aus der Not eine Tugend zu machen. Er löste eine Bahnsteigkarte, zeigte diese an der Sperre vor und begab sich in den Zug. Als er in Y gestellt wurde, verteidigte er sich damit, daß es ihm ausschließlich darauf angekommen sei, den für seine Berufslaufbahn wichtigen Kurs nicht zu versäumen (vgl. BGHSt 16, 1). Hat sich A wegen Betrugs (§ 263) strafbar gemacht? Lösung
Strafbarkeit des A nach§ 263: 1. A hat durch Vorzeigen der Bahnsteigkarte den Bahnbeamten getäuscht und dadurch bei diesem den Irrtum erregt, er wolle nur den Bahnsteig betreten. Infolgedessen stellte die Bundesbahn dem A einen Platz im Zug von X nach Y zur Verfügung (Vermögensverfügung), wobei sie Gefahr lief, von A kein Geld zu erhalten (Vermögensschaden).
VIII. Vorsatz und Tatbestandsirrtum (Lehrbuch§ 29)
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2. Fraglich ist, ob A die Absicht hatte, sich einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen. Der Begriff "Absicht" (bzw. "um zu .. .") wird im Gesetz nicht einheitlich verwendet. Er kann bedeuten (Lehrbuch § 29 III 1): a) Dem Täter kommt es auf den Erfolg an, und er hält ihn mindestens für möglich (Absicht im techn. Sinn); so z. B. in §§ 242, 252. b) Der Täter findet sich mindestens mit dem Erfolg ab und sieht ihn als sicher (bzw. höchstwahrscheinlich) voraus (direkter Vorsatz); so z.B. in§§ 164, 274, 288. Die h. L. versteht in § 263 die Bereicherungsabsicht im technischen Sinn. Dagegen läßt es der Bundesgerichtshof (BGHSt 16, 1 (7]) ausreichen, daß dem Täter der Erfolg nicht unerwünscht ist und er ihn als sicher voraussieht (vgl. dazu die zutreffende Kritik von Welzel NJW 1962, 20; beachte, daß sich die Definition des BGH mit keiner der oben genannten Definitionen deckt). Die Ansicht des BGH ist abzulehnen. Die Feststellung, daß ein Vermögensvorteil unerwünscht ist, wird sich selten treffen lassen. Daher ist mit der h. L. die Bereicherungsabsicht im technischen Sinn zu verstehen. Da der Beweggrund des A zu der Eisenbahnfahrt ohne gültige Fahrkarte nicht das Erlangen eines rechtswidrigen Vermögensvorteils ist, ist er nicht nach § 263 strafbar. Aus demselben Grund greift auch § 265a nicht ein. Ergebnis: A ist entgegen der Auffassung des BGH nicht nach § 263 strafbar. Fall 36
"Aberratio ictus" Obwohl ihn seine Frau F zurückzuhalten versuchte, drang M um Mitternacht in stark betrunkenem Zustand nach Aufsprengung der Tür in das eheliche Schlafzimmer seines Untermieters A ein und stürzte sich in rasender Wut auf diesen und dessen Ehefrau, um beide zu treten und zu würgen. A konnte gerade noch seinen mit einer Eisenspitze versehenen Wanderstock ergreifen. Da von dem körperlich überlegenen M das Schlimmste zu befürchten war, schlug A mit dem Stock auf ihn ein, traf aber mit dem ersten Streich die F, deren Anwesenheit er wegen der schlechten Beleuchtung nicht bemerkt hatte, im Gesicht (vgl. RGSt 58, 27). Ist A wegen Körperverletzung(§§ 223, 223a) zu bestrafen? Lösung
I. Strafbarkeit des A nach § 223a wegen Verletzung der F: 1. A verursachte mit einem gefährlichen Werkzeug die Körperverletzung der F. Somit ist der objektive Tatbestand des § 223 a erfüllt.
2. Da A nicht die F, sondern den M treffen wollte, ist zweifelhaft, ob er die F vorsätzlich verletzte. Das Verfehlen des Angriffszieles kann beruhen: a) auf Objektsverwechslung ("error in persona vel in obiecto"). Der Täter irrt hier über Eigenschaften, insbesondere über die Identität des Angriffszieles, während aber der Angriff selbst nach seiner Vorstellung verläuft (Lehrbuch § 29 V 6a); b) auf dem Fehlgehen der Tat ("aberratio ictus"). Der Täter nimmt das richtige Ziel ins Visier, der Angriff verläuft aber nicht nach seiner Vorstellung, sondern trifft ein anderes als das vom Täter ins Auge gefaßte Handlungsobjekt. 4 Fälle und Lösungen, 3. A.
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
A schlug mit dem Stock nach M; also hat er das Angriffsziel richtig ausgesucht. Er trifft aber die F. Es liegt kein error in persona, sondern eine aberratio ictus vor. Die rechtliche Behandlung der "aberratio ictus" ist, wenn anvisiertes und getroffenes Ziel rechtlich gleichwertig sind, umstritten (Lehrbuch § 29 V 6c). Nach herrschender Meinung gehört zum Vorsatz ein konkretes AngriffszieL Es genügt nicht, daß der Vorsatz abstrakt auf eine bestimmte Objektsart bezogen ist. Da das konkrete Angriffsziel des A allein M war, wurde die F demnach nicht vorsätzlich verletzt. Nach einer anderen Meinung gehört zum Vorsatz nicht ein bestimmtes Ziel, sondern es reicht aus, daß sich der Vorsatz auf die im Straftatbestand beschriebene Objektsart (hier: Mensch) bezieht. Die Identität des Angriffsobjektes sei unerheblich, was sich daran zeige, daß nach ganz h. M. der error in persona unerheblich sei. Nach dieser Auffassung könnte man zum Ergebnis gelangen, daß A die F vorsätzlich verletzte und nach § 223 a strafbar sei. Richtig ist jedoch die herrschende Auffassung, da der Vorsatz ein nach objektiven Merkmalen individualisiertes Geschehen umfassen muß. Gerade der vorliegende Fall zeigt ferner wegen der für A gegenüber M bestehenden Notwehrlage, daß das Handlungsunrecht in den beiden Varianten der Tat ganz verschieden sein kann. II. Strafbarkeit des A nach §§ 223a, 22, 23 I wegen versuchter Verletzung des M: 1. A hatte den Vorsatz, den M mit einem gefährlichen Werkzeug zu verletzen. 2. Er setzte unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestandes an (§ 22), doch ist der gegen M geführte Schlag fehlgegangen (fehlgeschlagener Versuch). 3. Der Versuch der gefährlichen Körperverletzung ist aber durch Notwehr gerechtfertigt (vgl. § 32). III. Strafbarkeit des A nach § 230 wegen Verletzung der F: 1. Zumindest für den Fall, daß es eine für die F ungefährlichere Art der Verteidigung gab, handelte A objektiv pflichtwidrig. Die Verletzung der F war möglicherweise auch objektiv voraussehbar.
2. Auf einen Rechtfertigungsgrund kann sich A gegenüber der F nicht berufen. 3. Jedoch wird man unter den besonderen Umständen der Tat (nächtlicher Überfall, Aufsprengen der Tür, körperliche Überlegenheit des trunkenen und rasenden M) sagen müssen, daß A wegen verständlicher Erregung persönlich nicht in der Lage war, eine größere Sorgfalt walten zu lassen. Daher kann man ihm nicht den Vorwurf der Fahrlässigkeit machen. Ergebnis: A ist nicht strafbar.
Fall37 "Error in persona" bei Täter und Anstifter Der Knecht Rose legte sich auf Betreiben seines Dienstherrn Rosahl mit einem Gewehr an einem Waldweg auf die Lauer, auf dem ein Gläubiger seines Dienstherrn abends heimzukehren pflegte, um ihn zu erschießen. In der Dämmerung erschoß er einen 14jährigen Schüler, den er mit dem Gläubiger verwechselt hatte (Preuß. Obertribunal GA 1859, 332). Wie ist die Strafbarkeit von Rose und Rosahl zu beurteilen?
VIII. Vorsatz und Tatbestandsirrtum (Lehrbuch§ 29)
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Lösung
I. Strafbarkeit des Rose wegen Mordes nach § 211 : 1. Rose hat den Tod des Schülers verursacht.
2. Da er die Tat infolge einer Personenverwechslung beging, ist fraglich, ob er den Schüler vorsätzlich getötet hat. Rose irrte beim Aussuchen des Zieles über die Identität des Opfers; der Angriff gegen das Ziel, das er ausgesucht hatte, verlief aber dann entsprechend der Vorstellung Roses. Somit liegt ein Fall des "error in persona" vor. Da Rose die Person traf, die er mit seinem Schuß treffen wollte, decken sich Vorsatz und Kausalverlauf. Der Irrtum über die Identität der angegriffenen Person ist unbeachtlicher Motivirrtum. Also hat Rose den Schüler vorsätzlich getötet. 3. Rose nutzte die Arg- und Wehrlosigkeit des Schülers aus und handelte mithin heimtückisch. Ergebnis: Rose ist wegen vollendeten Mordes zu bestrafen(§ 211).
II. Strafbarkeit des Rosahl wegen Anstiftung zum Mord nach §§ 211, 26: 1. Rosahl hat Rose vorsätzlich zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat bestimmt(§ 26).
2. Allerdings beging Rose nicht die Tat, die Rosahl von ihm erwartete. Es fragt sich, wie sich der "error in persona" des Täters Rose für den Anstifter Rosahl auswirkt (Lehrbuch § 64 III 4). Nach überwiegender Meinung kann der Anstifter beim "error in persona" des Täters ebensowenig entlastet werden wie dieser selbst, weil er den Vorsatz des Täters hervorgerufen hat. Dabei wird aber verkannt, daß beim Anstifter in diesem Fall kein "error in persona" vorliegt. Rosahl hat das Angriffsziel richtig ausgesucht; nur der durch seine Anstiftungshandlung ausgelöste Kausalverlauf entwickelte sich anders als geplant. Nach allgemeinen Grundsätzen liegt daher eine "aberratio ictus" vor. Rosahl ist daher wegen versuchter Anstiftung zum Mord an dem Gläubiger zu bestrafen(§§ 211, 30 1). III. Strafbarkeit des Rosahl wegen fahrlässiger Tötung nach § 222: 1. Rosahl hat durch die Anstiftung des Rose den Tod des Schülers mitverursacht.
2. Es war für ihn voraussehbar, daß Rose in der Dämmerung möglicherweise einen anderen Menschen als den Gläubiger erschießen könnte. 3. Daß er bei seiner pflichtwidrigen Handlung "nur" Anstifterwillen hatte, schließt nicht aus, daß er Täter einer Fahrlässigkeitstat ist (Einheitstäterprinzip bei Fahrlässigkeitstaten) (Lehrbuch § 61 VI). Auch besteht- jedenfalls im vorliegenden Fall - kein Verbot, in der Ursachenkette hinter die vorsätzliche Tat des Rose zurückzugreifen (Lehrbuch § 54 IV 2). 4. Die fahrlässige Tötung steht mit der versuchten Anstiftung zum Mord in Idealkonkurrenz (§ 52).
Ergebnis: Rosahl ist wegen versuchter Anstiftung zum Mord in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung zu bestrafen(§§ 211, 30 I, 222, 52). 4*
Erster Teil: Fälle und Lösungen
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Fall38 Arten des Vorsatzes: direkter Vorsatz
Im Jahre 1875 ließ ein Mann, der sich Thomas nannte (T), ein mit Sprengstoff gefülltes und mit einem Zeitzünder versehenes Faß in Bremen auf einen Überseedampfer verladen, damit es auf der Seefahrt explodieren und das Schiff zum Sinken bringen sollte. Dem T kam es dabei auf einen Versicherungsbetrug an, er wußte jedoch genau, daß durch die Explosion auch die Besatzung des Schiffes zu Tode kommen würde. Das Faß explodierte indessen schon beim Verladen auf dem Kai, weil es ein Arbeiter fallen ließ. Zahlreiche Personen wurden getötet. Wie hat sich T strafbar gemacht? Lösung
Strafbarkeit des T nach § 211 : 1.
T hat den Tod der Menschen auf dem Kai verursacht.
2. Fraglich ist, ob T diese Menschen vorsätzlich getötet hat. T hat den Tod der Schiffsbesatzung als höchstwahrscheinlich vorausgesehen und sich damit abgefunden. Insoweit lag ein direkter Vorsatz vor (daß es ihm auf den Tod dieser Menschen nicht ankam, schließt den direkten Vorsatz nicht aus) (Lehrbuch § 29 III 2). Jedoch wurden in Wirklichkeit nicht die Mitglieder der Schiffsbesatzung, sondern die Menschen auf dem Kai getötet. T verfehlte das Angriffsziel, weil seine Tat nach Abschluß der Angriffshandlung anders verlief als geplant. Somit liegt eine "aberratio ictus" vor. Nach allgemeinen Regeln muß T daher wegen versuchten Mordes an der Schiffsbesatzung (Mordmerkmal u. a. Habgier) in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung der Personen auf dem Kai bestraft werden (vgl. oben Fall 37).
Dieses Ergebnis wird in einem Teil der Literatur nicht für befriedigend gehalten: a) So meint Baumann (Allg. Teil § 26 II 4b ß), bei dieser Art der Tötung müsse die aberratio ictus als unwesentliche Abweichung im Kausalverlauf angesehen werden, weil es sich um ein Massenvernichtungsmittel handelte. b) Bocke/mann (Allg. Teil § 14 II 1b) will die Regeln über die "aberratio ictus" nicht abgewendet wissen, weil T ohne Frage die Möglichkeit vor Augen gestanden habe, ein anderes als das gemeinte Ziel zu treffen und er insofern also mit bedingtem Vorsatz gehandelt habe. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Vorstellung des T und der wirkliche Kausalverlauf hier bezüglich Ort, Zeit und Opfern nicht übereinstimmten. Unter diesen Umständen wäre es zu weitgehend, dem T den verursachten Erfolg als vorsätzlichen zuzurechnen, es sei denn, daß T nachzuweisen ist, daß er sich wirklich die Möglichkeit einer vorzeitigen Explosion vorgestellt hat (Lehrbuch § 29 III 2). Ergebnis: T ist wegen versuchten mehrfachen Mordes in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung von zahlreichen Menschen nach §§ 211 , 23 I, 22; 222; 52 strafbar. (Die Fälle fahrlässiger Tötung mehrerer Menschen durch eine Handlung stehen untereinander in gleichartiger Idealkonkurrenz, § 52 I zweite Alternative, ebenso die Mordversuche an den verschiedenen Mitgliedern der Schiffsbesatzung.)
VIII. Vorsatz und Tatbestandsirrtum (Lehrbuch§ 29)
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Fall39 Arten des Vorsatzes: bedingter Vorsatz
A und B wollten gemeinschaftlich den X berauben. Zu diesem Zweck beschlossen sie, ihn mit einem ledernen Hosenriemen zu würgen, um ihn widerstandsunfähig zu machen und dann in Ruhe aus seiner Wohnung diejenigen Sachen wegnehmen zu können, die sie gebrauchen konnten. Beide erkannten, daß eine solche Drosselung über die Bewußtlosigkeit hinaus auch den Tod des Opfers herbeiführen könnte, sie wollten diesen Erfolg jedoch vermeiden. Bei der Ausführung der Tat zogen A und B den Lederriemen um den Hals des X so eng zusammen, daß dieser das Bewußtsein verlor. Dann lockerten sie den Riemen. Sobald X sich wieder rührte, zogen sie den Riemen enger zusammen. X starb an der Drosselung, von A und B unbemerkt, während diese die Wohnung durchsuchten (vgl. BGHSt 7, 363). Haben sich A und B wegen Mordes in Mittäterschaft (§§ 211, 25 II) strafbar gemacht? Lösung I. Strafbarkeit von A und B wegen Mordes in Mittäterschaft:
1. A und B haben gemeinsam den Tod des X durch die Drosselung verursacht. 2. Als Mordmerkmale sind Habgier und die Absicht, eine Straftat (§ 249) zu ermöglichen, gegeben (§ 211 Il). 3. Die Strafbarkeit wegen Mordes hängt davon ab, ob A und B vorsätzlich gehandelt haben. Zur Abgrenzung des bedingten Vorsatzes von der bewußten Fahrlässigkeit sind verschiedene Theorien entwickelt worden: a) Nach der Wahrscheinlichkeitstheorie handelt vorsätzlich, wer den Erfolg nicht nur für möglich, sondern auch für wahrscheinlich hält. Gegen die Wahrscheinlichkeitstheorie spricht die Unschärfe der Abgrenzung und die Tatsache, daß der Täter auch bei relativ hoher Wahrscheinlichkeit des Eintritts des tatbestandsmäßigen Erfolges auf dessen Ausbleiben vertraut haben kann (Lehrbuch § 29 III 3d aa). b) Nach der Einwilligungstheorie handelt vorsätzlich, wer den tatbestandsmäßigen Erfolg für möglich hält und ihn für den Fall seines Eintritts "billigt" oder wenigstens "billigend in Kauf nimmt". Gegen die Einwilligungstheorie spricht gerade der vorliegende Fall, der deutlich zeigt, daß es auf die "Billigung" des Erfolges für den bedingten Vorsatz nicht ankommen kann (Lehrbuch§ 29 III 3d bb). c) Zu folgen ist einer neueren Lehre, die bedingten Vorsatz dann annimmt, wenn der Täter die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands ernstlich für möglich hält und sich mit dieser Möglichkeit abfindet, weil diese Theorie eine relativ hohe Einschätzung der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts verlangt, aber es im übrigen ausreichen läßt, daß der Täter den Zustand der Ungewißheit bei der Ausführung der Tat aushält und die Möglichkeit des Erfolgseintritts hinnimmt (Abfindungstheorie) (Lehrbuch § 29 IIl 3a). Nach dieser Lehre haben A und B vorsätzlich gehandelt. Der Bundesgerichtshof spricht zwar auch im vorliegenden Fall von der "Billigung des Erfolges", aber von einer Billigung "im Rechtssinne", die dann vorliege, wenn der Täter "sich damit abfindet, daß seine Handlung den an sich unerwünschten Erfolg herbeiführt" (BGHSt 7, 363 [369]). Ergebnis: A und B sind also wegen Mordes in Mittäterschaft nach §§ 211, 25 II strafbar.
Erster Teil : Fälle und Lösungen
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II. Strafbarkeit von A und B wegen schweren Raubes in Mittäterschaft: 1. A und B haben mit Gewalt gegen die Person dem X sein Eigentum in der Absicht weggenommen, sich dasselbe rechtswidrig zuzueignen (§ 249). Sie handelten als Mittäter (§ 25 II).
2. Als Qualifikationsgründe des schweren Raubes sind die Mitführung eines Werkzeugs zur gewaltsamen Überwindung des Widerstandes (§ 250 I Nr. 2) und die vorsätzliche Herbeiführung der Todesgefahr(§ 250 I Nr. 3) gegeben. 3. Raub mit Todesfolge (§ 251) scheidet dagegen aus, weil die Täter nicht "leichtfertig", sondern vorsätzlich gehandelt haben (Lehrbuch § 54 III 2). 4. Im Verhältnis von Mord und schwerem Raub ist Idealkonkurrenz (§ 52) anzunehmen, weil die Tötungshandlung sich zugleich als Anwendung von Gewalt bei der tatbestandsmäßigen Ausführung des Raubes darstellt (Lehrbuch § 67 II 2).
Ergebnis: A und B sind wegen gemeinschaftlichen Mordes in Tateinheit mit gemeinschaftlichem schweren Raub nach §§ 211, 250 I Nr. 2 und 3, 25 II, 52 zu bestrafen. Fall 40
"Error in persona" bei Mittäterschaft A und B versuchten gemeinschaftlich, nachts in das Lebensmittelgeschäft des L einzudringen, um zu stehlen; beide waren mit Pistolen bewaffnet. Als B die Fensterscheibe des Schlafzimmers der Eheleute L, das er für einen Büroraum hielt, eingedrückt hatte, kam L zum Fenster und fing an, um Hilfe zu schreien. B glaubte, daß die Tat entdeckt sei und eilte in der Finsternis davon. Nach einer Weile blickte er zurück und bemerkte, daß ihm in einer Entfernung von 2 bis 3 m eine Person folgte. Es war A, der sich ebenfalls auf der Flucht befand. B hielt ihn für einen Verfolger und schoß auf ihn, um der vermeintlich drohenden Festnahme zu entgehen. Den Tod des Verfolgers nahm er in Kauf. A wurde jedoch nur am Arm verletzt. Vor der Tat hatten A und B verabredet, daß auf Personen, die die Ausführung der Tat störten, gezielt geschossen werden sollte (vgl. BGHSt 11, 268). Wie haben sich B und A strafbar gemacht?
I. Strafbarkeit des B:
Lösung
1. nach§§ 211, 23 I, 22 :
a) B schoß mit Tötungsvorsatz auf A; der "error in persona" ist dabei unbeachtlich (vgl. oben Fall 37). b) B handelte zur Verdeckung einer Straftat (versuchter Diebstahl mit Waffen) (§ 211 II). Somit liegt ein Mordversuch vor. 2. nach § 223 a: a) A wurde durch den Schuß des B verletzt. B handelte mit Körperverletzungsvorsatz, der im Tötungsvorsatz enthalten ist, da B naturgemäß damit rechnete, die Person, auf die er schoß, möglicherweise auch nur zu verletzen. b) Die vollendete Körperverletzung tritt hinter dem versuchten Mord als subsidiär zurück (vgl. BGHSt 16, 122).
VIII. Vorsatz und Tatbestandsirrtum (Lehrbuch§ 29)
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Ergebnis: B ist wegen versuchten Mordes strafbar (§§ 211, 23 I, 22). Außerdem liegt noch versuchter Diebstahl mit Waffen vor, der zu dem versuchten Mord in Tatmehrheit steht (§§ 242, 244 I Nr. 1, 23 I, 22, 53). II. Strafbarkeit des A: A könnte Mittäter des Mordversuchs sein(§§ 211, 23 I, 22, 25 II). a) B gab den Schuß entsprechend dem gemeinsamen Tatentschluß ab, wonach auf "Störer" gezielt geschossen werden sollte. A wollte mit B gemeinschaftlich in das Lebensmittelgeschäft des L eindringen und dort stehlen. Auch er war bewaffnet und sollte gegebenenfalls schießen. Auch A wollte also in eigenhändiger und voll verantwortlicher Weise an der Ausführung der geplanten Tat mitwirken (Lehrbuch § 63 III 1). A und B sind daher Mittäter (§ 25 II). Als Mittäter muß sich A den Schuß des B unmittelbar zurechnen lassen, auch wenn er im Augenblick der Schußabgabe keine Möglichkeit hatte, in das Geschehen einzugreifen. Denn der Schuß erfolgte aufgrund des gemeinsamen Tatentschlusses und war Teilstück der T atausführung. b) Grundsätzlich kommt der "error in persona" eines Mittäters dem anderen nicht zugute. Im vorliegenden Fall ist aber eine Ausnahme zu machen, weil aus der Sicht des A das ausgesuchte und das getroffene Ziel rechtlich nicht gleichwertig sind; für A ist die Tötung seiner selbst nicht strafbar. Es liegt also aus zwei Gründen kein vollendeter Mord vor: weil A nicht tot ist und weil er nicht "ein anderer" i. S. der §§ 211, 212 ist. A ist für sich selbst untaugliches Tatobjekt; jedoch ist der untaugliche Versuch strafbar (zur Kritik dieses Ergebnisses vgl. Spende/ JuS 1969, 314).
Ergebnis: Auch A ist wegen Mordversuches und wegen versuchten Diebstahls mit Waffen strafbar. Fall41 Irrtum über den Eintritt der Schuldunfähigkeit
Frau A, die sich an Frau B rächen wollte, schlug dieser mit einem Hammer in Körperverletzungsvorsatz mehrmals auf den Kopf, so daß sie zu Boden stürzte. Aus Furcht, Frau B werde sie anzeigen, faßte die A den Entschluß, die B zu töten. In Ausführung des Entschlusses versetzte sie der B erneut Hammerschläge auf den Kopf. Hierdurch geriet sie in einen Blutrausch, in dem sie, ohne sich dessen bewußt zu werden, ein zufällig dastehendes Bergmannsbeil ergriff und damit auf den Kopf der B einschlug. Durch die Schläge mit dem Beil wurde die B so schwer getroffen, daß sie alsbald starb (BGHSt 7, 325). Ist Frau A wegen versuchten oder wegen vollendeten Tötungsverbrechens strafbar?
Strafbarkeit der A nach § 211:
Lösung
1. Die A hat im Blutrausch tödliche Schläge auf die B ausgeführt. Jedoch war sie zu diesem Zeitpunkt wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung nicht mehr schuldfähig (§ 20). Daher ist sie wegen dieser Schläge nicht strafbar.
2. Die A hat aber bereits zu dem Zeitpunkt vorsätzlich eine Ursache für den Tod der B gesetzt, als sie in Ausführung ihres Tötungsentschlusses auf die B mit dem Hammer einschlug (alle Bedingungen sind äquivalent!). Allerdings stimmt der
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
damalige Tötungsvorsatz mit dem nachfolgenden wirklichen Kausalverlauf insofern nicht überein, als die A im Zustand der Schuldunfähigkeit weiterhandelte und dabei zu dem Bergmannsbeil griff. Es liegt mithin ein Irrtum über den Kausalverlauf vor. Der Vorsatz ist nur dann nach § 16 I ausgeschlossen, wenn die Abweichung im Kausalverlauf wesentlich ist. Dies ist zu verneinen, wenn die Abweichung sich in den Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren hält und keine andere Bewertung der Tat rechtfertigt (vgl. oben Fall 33). Nach Auffassung von BGHSt 7, 325 (329) und 23, 356 (358) liegt nur eine unwesentliche Abweichung vor, wenn der Täter im schuldfähigen Zustand wenigstens das Stadium des Versuchs erreicht. Dies war bei der A der Fall. Die A ist daher eines vollendeten Mordes (Mordmerkmal: Verdecken einer Straftat, nämlich der zuvor begangenen Körperverletzung; dazu jetzt einschränkend BGH JZ 1978, 321) schuldig. Ergebnis: Die A ist wegen vollendeten Mordes nach § 211 strafbar.
IX. Rechtfertigungsgründe Lehrbuch §§ 31 bis 36 Fall42 Notwehr, vorläufige Festnahme, Selbsthilfe A hielt nachts mit einem geladenen Gewehr bei seinen Obstbäumen Wache. Am Morgen bemerkte er einen Mann M, der Obst entwendete. Auf Anruf des A ergriff M die Flucht; dabei nahm er das gepflückte Obst mit. Obwohl A rief: "Stehenbleiben oder ich schieße!", hielt M nicht an. A gab auf den Fliehenden einen Schrotschuß ab und verletzte ihn erheblich (vgl. RGSt 55, 82). Hat sich A wegen Körperverletzung(§§ 223, 223a) und Nötigung(§ 240) strafbar gemacht? Lösung
I. Strafbarkeit des A nach § 223 a:
A. A hat den M vorsätzlich mittels einer Waffe an der Gesundheit beschädigt (§ 223a I 1. Handlungsform). B. 1. A könnte aber durch Notwehr gerechtfertigt sein (§ 32; vgl. auch §§ 227, 859 II BGB, § 15 OWiG). a) M verübte einen rechtswidrigen Angriff auf A's Gewahrsam und Eigentum an dem Obst (§§ 242, 248a). b) Fraglich ist, ob der Angriff zur Zeit des Schusses noch gegenwärtig war. Gegenwärtig ist ein Angriff, der unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder noch fortdauert (Lehrbuch § 32 II 1 d). Die Wegnahme des Obstes und somit der Diebstahl waren zur Zeit des Schusses vollendet. Jedoch hatte M noch keinen gesicherten Gewahrsam. Solange das Obst noch in "Reichweite" des A war, war es für diesen noch nicht endgültig verloren. Der Angriff des M dauerte daher noch fort (anders wäre es gewesen, wenn M das Obst hätte stehenlassen).
IX. Rechtfertigungsgründe (Lehrbuch§§ 31 bis 36)
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c) Da A das Obst nicht auf andere Weise wiedererlangen konnte, war der Schuß als Verteidigungsmittel erforderlich. Demnach scheint A gerechtfertigt zu sein (so RGSt 55, 83 [85 ff.]) . d) Bedenken gegen das Ergebnis des Reichsgerichts könnten sich daraus ergeben, daß das von A eingesetzte Abwehrmittel unverhältnismäßig erscheint. Die Notwehr beruht auf dem Gedanken, daß das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht. Eine Güterahwägung zwischen dem angegriffenen und dem durch die Verteidigung verletzten Rechtsgut ist daher bei § 32 grundsätzlich nicht vorzunehmen. Aus dem Sinn des Notwehrrechts ergeben sich aber sozialethische Beschränkungen (Lehrbuch § 32 III): aa) bei fehlendem Rechtsbewährungsinteresse, insbesondere bei Angriffen von Kindern, Geisteskranken sowie bei schuldhafter Herbeiführung der Notwehrlage durch den Angegriffenen (vgl. unten Fall 44); bb) unter dem Gesichtspunkt der extremen Minderung des Selbstschutzinteresses, insbesondere bei einem unerträglichen Mißverhältnis zwischen dem angegriffenen Rechtsgut und der durch die Verteidigung heraufbeschworenen Gefahr für die Rechtsgüter des Angreifers; cc) bei der Abwehr von Unfug. Im vorliegenden Fall liegt nach heutiger Auffassung ein unerträgliches Mißverhältnis zwischen dem angegriffenen Rechtsgut und der heraufbeschworenen Gefahr vor. Ein Schuß aus der Schrotflinte kann schwerwiegende Verletzungen herbeiführen; dagegen hat A, wenn der Diebstahl gelingt, nur einen Schaden von ein paar Mark. Die Berufung auf Notwehr ist somit abzulehnen. A ist nicht nach § 32 gerechtfertigt. ~· A könnte durch das private Festnahmerecht (§ 127 I StPO) gerechtfertigt
sem.
a) Er hat den flüchtigen M auf frischer Tat betroffen. b) Fraglich ist, ob § 127 StPO den Gebrauch von Schußwaffen als Mittel zur Festnahme gestattet. Die Polizeigesetze (vgl. z. B. Polizeigesetz von Baden-Württemberg § 40) zeigen, daß man sogar bei den zur Verfolgung von Straftaten berufenen Vollzugsbeamten Bedenken trägt, uneingeschränkt die Befugnis zum Schußwaffengebrauch gegen fliehende Straftäter zu geben. Dann kann nicht "jedermann" für befugt erachtet werden, zur Erzwingung einer privaten Festnahme zu schießen (vgl. RGSt 65, 392 [396]). Deswegen ist A nicht durch § 127 I StPO gerechtfertigt (Lehrbuch § 35 IV 2). 3. Schließlich könnte das Selbsthilferecht des § 229 BGB zugunsten des A eingreifen. Zwar hat A gegen M einen privatrechtliehen Anspruch auf Herausgabe des Obstes (§§ 985, 953 BGB; § 861 BGB); auch droht eine Erschwerung der Anspruchsverwirklichung, und obrigkeitliche Hilfe ist nicht rechtzeitig erreichbar. Aber auch § 229 BGB gestattet nicht den Schußwaffengebrauch (Lehrbuch § 35 IV 1).
C. Zur Frage, ob A einem Verbotsirrtum erlegen ist (§ 17), kann aufgrund der Angaben des Sachverhalts nicht Stellung genommen werden. Zur Zeit der Entscheidung (1920) war der Verbotsirrtum noch nicht anerkannt. Ergebnis: A ist nach § 223 a I 1. Handlungsform strafbar.
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
II. Strafbarkeit des A nach § 240: A. A hat zunächst versucht, den M durch Drohung mit einem Schuß dazu zu nötigen, daß er die Fortsetzung der Flucht unterläßt (§§ 240 III, 23, 22; fehlgeschlagener Versuch). Darauf hat er mit Gewalt (vis absoluta) den M zum Anhalten genötigt. B. Die Berufung des A auf Notwehr könnte auch bei § 240 rechtsmißbräuchlich sein. A hat die Willensfreiheit des M durch die Nötigung beeinträchtigt. Vergleicht man die Beeinträchtigung der Willensfreiheit mit dem Angriff auf Gewahrsam und Eigentum des A, so läßt sich ein krasses Mißverhältnis jedoch nicht feststellen. Die Nötigung als solche ist daher nicht rechtswidrig.
Ergebnis: A ist nicht nach § 240 strafbar. Fall43
Grenzen der Notwehr A wollte mit seinem PKW in eine Parklücke einfahren. Diese wurde jedoch von einer Frau F versperrt, die den Parkplatz für ihren Ehemann, der mit seinem Kraftwagen noch ein gutes Stück entfernt war, freihalten wollte. Als die F nach einem Wortwechsel den Platz nicht freigab, fuhr A langsam in die Parklücke ein, um die F wegzudrängen. Diese stemmte sich mit ihren Händen gegen den einfahrenden Wagen, mußte aber schließlich, weil der Wagen des A stärker war, ausweichen (vgl. BayObLG NJW 1963, 824; OLG Stuttgart NJW 1966, 745). Hat sich A wegen Nötigung strafbar gemacht?
Strafbarkeit des A nach § 240:
Lösung
A. A hat die F mit Gewalt (vis absoluta) dazu genötigt, den Parkplatz zu verlassen (§ 240 I). B. 1. Er könnte durch Notwehr gerechtfertigt sein (§ 32). a) Voraussetzung dafür wäre zunächst, daß von der F ein rechtswidriger Angriff ausging. Unter einem Angriff versteht man jede Verletzung oder Gefährdung rechtlich geschützter Interessen durch einen Menschen; es braucht sich dabei nicht um strafbares Verhalten zu handeln (deshalb kann die schwierige Frage, ob die F gegen A eine Nötigung begeht, dahingestellt bleiben; vgl. dazu BGHSt 23, 46 zur Kölner Straßenbahnschienenbesetzung). Jeder Bürger hat ein subjektiv-öffentliches Recht auf gleiche Teilhabe am Gemeingebrauch; daher gilt für im Gemeingebrauch stehende Parkflächen das Prioritätsprinzip ("Wer zuerst kommt .. ."). Dieses rechtlich geschützte Interesse des A wurde von F verletzt, indem sie sich gegen den einfahrenden Wagen stemmte (aktives Tun; da die F nach § 1 StVO zum Verlassen des Platzes verpflichtet war, ist aber bereits das Unterlassen des Weggehens ein Angriff; Lehrbuch § 32 II 1 a). Dabei ist zu beachten, daß nicht jeder belästigende Regelverstoß eines Verkehrsteilnehmers den anderen zur Notwehr berechtigt, denn die Notwehrbefugnis ist kein allgemeines Unrechtsverhinderungsrecht (vgl. auch unten Fall 45). Bedenkt man aber, wieviel sich ein Kraftfahrer einen Parkplatz oft kosten läßt, so wird man das "Recht auf einen Parkplatz" als schutzwürdig anerkennen müssen. Die F hat also auf A einen rechtswidrigen Angriff verübt (§ 1 II StVO).
IX. Rechtfertigungsgründe (Lehrbuch§§ 31 bis 36)
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b) Die von A ergriffene Maßnahme war zur Verteidigung auch erforderlich. A hätte zwar die F möglicherweise auch ohne die Hilfe seines Wagens abdrängen können. Aber dies wäre nicht erfolgversprechend gewesen, weil die F, sobald sich A wieder in seinen Wagen setzte, den Platz erneut besetzen konnte. c) Die Ausübung der Notwehr könnte jedoch unter dem Gesichtspunkt der Geringfügigkeit des Selbstschutzinteresses (vgl. oben Fall 42) rechtsmißbräuchlich sein. Die F verletzte ein verhältnismäßig geringwertiges Recht des A, und sie glaubte sich dabei möglicherweise selber im Recht. Als sie sich gegen den Wagen stemmte, bestand - etwa wenn ihre Kräfte plötzlich erlahmt wären die Gefahr, daß sie von A überfahren wurde. Unter diesen Umständen war dem A ein Ausweichen zurnutbar (vgl. Bocke/mann NJW 1966, 745 [747): "Man prügelt sich nicht um Parkplätze!"). Mithin ist A nicht durch § 32 gerechtfertigt. 2. Aus den vorstehenden Erwägungen zum Rechtsmißbrauch ergibt sich auch, daß die Anwendung der Gewalt zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist (§ 240 li). C. Dazu, ob bei A ein Verbotsirrtum vorlag, können aufgrund des Sachverhaltes keine Ausführungen gemacht werden (§ 17). Ein Verbotsirrtum ist unter diesen Umständen zwar naheliegend, würde dann aber vermeidbar gewesen sein (§§ 17
s. 2, 49 1).
Ergebnis: A hat sich nach § 240 wegen Nötigung strafbar gemacht.
Fall44 Notwehrprovokation
A wollte mit seinem Wagen von einem Parkplatz wegfahren. Dabei stieß er mit dem vorbeifahrenden Pkw des R zusammen. Obwohl AdenUnfall bemerkte, fuhr er davon. R verfolgte ihn. Er setzte die Verfolgung auch noch fort, als A infolge der Verkehrslage anhalten mußte und zu Fuß weiterflüchtete. R erreichte A und schlug auf diesen ein. Nachdem sich die körperlich gleich starken Gegner längere Zeit mit Fäusten auseinandergesetzt hatten, zog A einen Finnendolch, den er bei sich führte. Zunächst hatte er vor, einen Schritt zurückzuweichen und R mit dem Dolche zu bedrohen. Da er aber befürchtete, daß die Drohung dem wütenden R keinen Eindruck machen würde und daß R durch das Zurückweichen vorübergehend einen Vorteil im Kampf erlangen würde, entschloß er sich, sofort dem R in die Brust zu stechen. R. erlitt eine tödliche Verletzung; mit dieser Möglichkeit hatte A auch gerechnet (vgl. BGHSt 24, 356}. Ist A wegen Totschlags strafbar (§212}?
Strafbarkeit des A nach § 212:
Lösung
A. A hat vorsätzlich (dolus eventualis) den R getötet (§ 212 I). Ein Mordmerkmal im Sinne des § 211 li liegt nicht vor, insbesondere kam es dem A nicht darauf an, eine Straftat (§ 142} zu verdecken, sondern darauf, sich zu verteidigen (§ 211 li letzte Handlungsform).
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
B. A könnte durch Notwehr gerechtfertigt sein (§ 32). a) R hat A tätlich angegriffen. Nach § 127 I StPO und § 229 BGB war R allenfalls zur Festnahme des A befugt, nicht aber dazu, ihn zu verprügeln. Der Angriff des R war also rechtswidrig. b) Fraglich ist, ob der Dolchstoß zur Verteidigung erforderlich war. Erforderlich ist das Verteidigungsmittel, das unter möglichster Schonung des Gegners eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten läßt. Der Verteidiger ist daher grundsätzlich nicht genötigt, auf die Anwendung weniger gefährlicher Verteidigungsmittel zurückzugreifen, wenn deren Wirkung für die Abwehr zweifelhaft ist. A hätte die Möglichkeit gehabt, mit dem Dolchstoß zu drohen oder aber einen weniger gefährlichen Dolchstoß durchzuführen. Beide Maßnahmen hätten aber nicht mit Sicherheit zum Erfolg geführt. Das Vorverhalten des R zeigt, daß dieser auf eine Drohung möglicherweise nicht reagiert hätte. Hätte A seinen Stoß auf die Arme des R gerichtet, so wäre die Gefahr erheblich gewesen, daß er das Ziel verfehlt und daß R noch mehr gereizt worden wäre. Daher wird man den Dolchstoß auf die Brust als erforderlich ansehen müssen. c) Allerdings hat A die Notwehrlage durch sein Vorverhalten (§ 142 StGB; § 10 StVO) schuldhaft verursacht. Deshalb könnte seine Notwehrbefugnis eingeschränkt sein. aa) Teilweise wird die abzulehnende Auffassung vertreten, Schuldhaftes Vorverhalten des Angegriffenen schränke das Notwehrrecht nicht ein. Wegen der Äquivalenz aller Ursachen könne aber das schuldhafte Vorverhalten mit dem in Notwehr herbeigeführten Erfolg verknüpft werden. Demnach wäre A, wenn er bei dem unerlaubten Sich-Entfernen vom Unfallort den tödlichen Dolchstoß voraussehen konnte, nach § 222 strafbar ("actio illicita in causa") (Baumann, Allg. Teil § 21 I 3b). bb) Die herrschende Meinung schränkt das Notwehrrecht unter dem Gesichtspunkt des fehlenden Rechtsbewährungsinteresses ein (Lehrbuch § 32 III 3a). Wer selbst das Recht verletzt hat, darf sich nicht skrupellos zum Bewahrer der Rechtsordnung aufschwingen. Das heißt zunächst, daß der Angegriffene, der die Notwehdage verschuldet hat, eine gegebene Ausweichmöglichkeit nutzen muß. Indessen bestand für A keine Ausweichmöglichkeit. Darüber hinaus wird dem Angegriffenen zugemutet, sich mit Abwehrhandlungen zu begnügen, bei denen nicht unbedingt sicher ist, ob sie den Gegner von der Fortsetzung des Angriffs abhalten. Solange Schutzwehr Aussicht auf Erfolg bietet, darf er nicht zur Trutzwehr (d. h. Unschädlichmachung des Angreifers) übergehen. Nach dieser Ansicht hätte A wenigstens versuchen müssen, ob die Drohung mit dem Dolchstoß R beeindruckt hätte, bevor er den tödlichen Stoß führte. Diese eingeschränkte Notwehrbefugnis hat A überschritten. Er ist mithin nicht gerechtfertigt. Ergebnis: A ist nach § 212 wegen Totschlags strafbar, doch greift der Rechtsgedanke der Strafmilderung bei nur teilweise gegebener Rechtfertigung ein, so daß § 213 anzuwenden ist (Lehrbuch § 31 VII). Fall45 Voraussetzungen der Nothilfe
A störte mit einer Gruppe Gleichgesinnter die Vorführung eines Films mit pornographischem Inhalt im Sinne des § 184 I Nr. 7. Er ließ Stinkbomben werfen, so
IX. Rechtfertigungsgründe (Lehrbuch§§ 31 bis 36)
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daß das Filmtheater für 15 Minuten geschlossen werden mußte. A macht geltend, er habe die Kinobesucher in ihrem bedrohten sittlichen Wohl schützen wollen. Außerdem habe er zur Verteidigung des in Art. 6 GG festgelegten Grundrechts des Schutzes von Ehe und Familie gehandelt (vgl. BGHSt 5, 245). Kann A wegen Nötigung(§ 240) bestraft werden? Lösung I. Strafbarkeit des A nach § 240:
A. A hat die Kinobesucher genötigt, den Raum zu verlassen. Der üble Geruch ist als körperliche Zwangseinwirkung und somit als Gewalt anzusehen ("Gewalt" setzt nicht Kraftentfaltung durch den Täter voraus; vgl. Schönke/Schröder/ Eser §§ 234ff. Vorbem. 7). Somit ist der Tatbestand des§ 240 erfüllt. B. A könnte jedoch durch Notwehr(§ 32) gerechtfertigt sein. 1. Voraussetzung dafür wäre, daß die Vorführung ein "rechtswidriger Angriff" war. a) Es könnte ein Angriff auf die öffentliche Ordnung vorliegen. Jedoch ist die öffentliche Ordnung kein notwehrfähiges Rechtsgut, solange nicht ein einzelner durch die Verletzung unmittelbar betroffen ist. Der Schutz der öffentlichen Ordnung obliegt den Staatsorganen; dem Bürger kann nicht das Recht zugebilligt werden, sich zum Hüter der öffentlichen Ordnung aufzuschwingen. A durfte daher nicht die öffentliche Ordnung verteidigen (Lehrbuch § 32 II 1 b). b) A könnte Nothilfe für die möglicherweise in ihrem sittlichen Empfinden "angegriffenen" Kinobesucher geleistet haben. Ein Angriff ist eine Verletzung oder Gefährdung rechtlich geschützter Interessen durch einen Menschen. Soweit die Kinobesucher den Film sehen wollen, verdient ihr sittliches Empfinden keinen Schutz, so daß ein "Angriff" nicht vorliegt. Dagegen liegt ein "Angriff" vor, soweit die Kinobesucher den pornographischen Film nicht sehen wollen, weil sie sich etwa über den Inhalt der Vorführung nicht im klaren gewesen sind. Dieser Angriff ist rechtswidrig, und betroffen ist dadurch auch unmittelbar der einzelne Besucher (§ 184 Nr. 7). 2. Nothilfe darf jedoch nicht aufgedrängt werden, wenn der Inhaber des bedrohten Rechtsgutes dieses nicht verteidigen will. Nur wenn Zuschauer im Kino waren, die sich sittlich beeinträchtigt fühlten und die sich wehren wollten, bestand überhaupt eine Nothilfelage. 3. Soweit Zuschauer sich gegen den Film wehren wollten, muß indessen berücksichtigt werden, daß sie sich selbst in die Notwehrlage begeben hatten. Filme pornographischen Inhalts werden in der Regel als solche angekündigt; der Zuschauer kann sich ohne weiteres darüber informieren, was ihn erwartet. Geht er dann dennoch, ohne sich vorher zu informieren, ins Kino, so ist es ihm, wenn er sich angegriffen fühlt, zumutbar, den Raum zu verlassen. Da die Zuschauer dies ohne weiteres konnten, war die Ausübung von Notwehr und somit auch von Nothilfe nicht zulässig. 4. Außerdem gestattet § 32 nur Eingriffe in Rechtsgüter des Angreifers, nicht auch solche in Rechtsgüter von Dritten (Ausnahme: benutzt der Angreifer ein Werkzeug, das im Eigentum eines Dritten steht, so darf dieses nach § 904 BGB beschädigt werden, vgl. RGSt 23, 116). Da der Angriff vom Kinobesitzer ausging,
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
durfte A nicht die schaulustigen Zuschauer durch Stinkbomben belästigen. Auch aus diesem Grund ist A nicht nach § 32 gerechtfertigt. C. Schließlich ist es als verwerflich anzusehen, wenn Stinkbomben geworfen werden, um eine Kinoaufführung zu verhindern (§ 240 II). A ist also nach § 240 strafbar. II. Strafbarkeit des A nach § 223: Es fragt sich, ob der üble Geruch eine körperliche Mißhandlung ist (§ 223 1). Darunter ist eine "unangemessene üble Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden nicht unerheblich beeinträchtigt wird", zu verstehen (BGHSt 25, 277). Ob der Stinkbombengeruch die Erheblichkeitsschwelle des § 223 überschritten hat, kann aufgrund des Sachverhaltes nicht abschließend beurteilt werden.
Ergebnis: A ist wegen Nötigung nach § 240 strafbar. Fall 46 Notwehr und fahrlässiges Handeln
A wollte einen Streit zwischen B, C und D schlichten. Diese honorierten seine Bemühung jedoch nicht und wandten sich gemeinsam gegen A. B sagte zu A, daß jetzt Blut fließen werde; C hielt einen Schraubenzieher in der erhobenen Hand. A sah die Gefahr, von mehreren Seiten angegriffen zu werden. Er zog eine geladene Pistole, die er bei sich trug, und drohte zu schießen. Danach feuerte er einen Warnschuß in die Luft ab. B, C und D nahmen die Warnung nicht ernst und gingen auf A zu. Dieser senkte die Pistole, um zwischen sich und seinen Gegnern auf den Boden zu schießen. Aus Unachtsamkeit kam er vorzeitig an den Abzugsbügel der Pistole; entgegen der Absicht des A löste sich beim Senken der Pistole ein Schuß und traf B tödlich (vgl. BGHSt 25, 229). Ist A wegen fahrlässiger Tötung(§ 222) zu bestrafen?
Lösung I. Strafbarkeit des A nach § 222: A. A hat unter Verletzung der Pflicht, mit Waffen sorgsam umzugehen, den Tod des B verursacht (§ 222). B. Er könnte jedoch durch Notwehr gerechtfertigt sein (§ 32). Auch bei Fahrlässigkeitsdelikten kann die Rechtswidrigkeit durch einen Rechtfertigungsgrund ausgeschlossen sein (Lehrbuch § 56). a) B, C und D bedrohten den A und waren im Begriff, ihn rechtswidrig tätlich anzugreifen. b) Da Tätlichkeiten gegen A unmittelbar bevorstanden, war der Angriff gegenwärtig. A befand sich also in einer Notwehrlage. c) Fraglich ist, ob die Tötung des B erforderlich war. A war berechtigt, dasjenige für ihn erreichbare Abwehrmittel anzuwenden, das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten ließ. Als schonenderes Verteidigungsmittel wäre für A ein gezielter Schuß auf die Beine des Angreifers in Betracht gekommen. Angesichts der Entschlossenheit der Angreifer, die sich durch einen Warnschuß nicht abschrecken ließen, mußte sich A aber nicht mit einem Schuß auf die Beine begnügen. Er durfte auf eine andere Körperpartie schießen, um dadurch den
IX. Rechtfertigungsgründe (Lehrbuch§§ 31 bis 36)
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weiteren Angriff endgültig zu unterbinden. Die Tötung des B war daher als Verteidigung erforderlich. Allerdings wollte A den B nicht töten. A wollte sich freiwillig mit einem schonenderen Abwehrmittel begnügen, als ihm rechtmäßigerweise zur Verfügung stand. Wenn aber ein vorsätzlicher Schuß in Körperhöhe gerechtfertigt gewesen wäre, kann das fahrlässige Auslösen der Waffe nicht rechtswidrig sein. War demnach die unachtsame Abwehrhandlung rechtmäßig, so ist es auch der dadurch verursachte Erfolg (Lehrbuch § 56 II 1). d) Die Notwehrbefugnis des A war nicht aus sozialethischen Gesichtspunkten eingeschränkt. Der Versuch, einen Streit zu schlichten, ist keine schuldhafte Herbeiführung der Notwehrlage. e) § 32 setzt weiter voraus, daß der Angegriffene mit Verteidigungswillen handelt (subjektives Rechtfertigungselement) (Lehrbuch § 32 II 2a). Inwieweit dies auch für die Rechtfertigung von Fahrlässigkeitstaten gilt, ist umstritten. Jedenfalls reicht es aus, daß die Handlung des Angegriffenen, wenn auch nicht der herbeigeführte Erfolg, vom Verteidigungswillen umfaßt wird (Lehrbuch§ 56 I 3). Ergebnis: A ist nicht wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 strafbar. Fall47 Grenzen des Angriffsnotstandes
Bei einer Filmaufnahme im Freien und weitab von schützendem Obdach setzte plötzlich ein wolkenbruchartiger Regen ein. Um kostbare Aufnahme- und Beleuchtungsgeräte nicht verderben zu lassen, nahm L, der Leiter der Aufnahme, dem Statisten S, der mit einem Gummimantel ausgestattet war, diesen gegen seinen Willen mit Gewalt weg. Mit dem Mantel deckte er die Geräte zu. Ist L wegen Nötigung (§ 240) zu bestrafen? Lösung
Strafbarkeit des L nach§ 240: A. L hat S mit Gewalt dazu genötigt, ihm den Mantel zu überlassen (§ 240 1). B. 1. Als Rechtfertigungsgrund kommt § 904 BGB in Betracht. a) Für die Geräte bestand, ehe sie zugedeckt wurden, eine gegenwärtige Gefahr, durch den Regen unbrauchbar zu werden. b) Die von L ergriffene Maßnahme war zur Beseitigung der Gefahr geeignet und erforderlich. c) L wollte die Geräte vor Schaden bewahren (subjektives Rechtfertigungselement). d) Außerdem setzt § 904 voraus, daß der drohende Schaden gegenüber dem durch den Eingriff entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß war. Betrachtet man die Schadensdifferenz rein "wirtschaftlich", so wäre diese Voraussetzung zu bejahen. Da aber § 904 BGB (anders als die Notwehr) Ausdruck des allgemeinen Güterabwägungsgedankens ist, sind bei der Abwägung auch die Wertbegriffe der Gemeinschaft im konkreten Fall zu berücksichtigen. Die Tat muß nach diesem Maßstab "angemessen" sein (Lehrbuch § 33 III 3). Zur Rettung von Sachgütern erscheint ein derart schwerer Eingriff in die persönliche Autonomie, wie L ihn vorgenommen hat, unangemessen. Als Statist hatte S auch nicht eine besondere
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
Gefahrtragungspflicht bezüglich der Geräte. L hätte für deren Schutz gegen Regen vorher durch Mitnahme von Planen Sorge tragen müssen. Nach einer diese Gesichtspunkte einbeziehenden Wertabwägung ist daher der drohende Schaden nicht unverhältnismäßig groß. L ist nicht nach§ 904 BGB gerechtfertigt. 2. Die Sachwehr (§ 228 BGB) gestattet nur Eingriffe gegen die gefahrbringende Sache selbst (Lehrbuch § 33 II 1). Da die Gefahr für die Geräte vom Regen und nicht von dem Gummimantel ausging, greift diese Vorschrift nicht ein. 3. Schließlich könnte L in rechtfertigendem Notstand (§ 34; vgl. auch § 16 OWiG) gehandelt haben. Da aber die Frage, inwieweit Gefahr für eigenes Eigentum Eingriffe in fremdes Eigentum gestattet, in § 904 BGB besonders geregelt ist, geht diese Bestimmung der allgemeinen Vorschrift des § 34 als Iex specialis vor (Lehrbuch § 31 VI 2 Fußnote 40). 4. Die Anwendung des von L gebrauchten Mittels zum angestrebten Zweck ist auch als verwerflich anzusehen (§ 240 II). Ergebnis: L ist wegen Nötigung nach § 240 strafbar.
Fall48 Notstand und Kollisionsbeziehung der Rechtsgüter A ist bei der Staatlichen Musikakademie als Verwaltungsleiter tätig und führt dort die Kasse. Er ist außerdem am gleichen Ort Vorsitzender eines privaten Chors; dieser plant eine Konzertreise ins Ausland, für die das Auswärtige Amt eine Ausfallgarantie übernommen hat. Die Kreissparkasse will den für die Reise benötigten Betrag von 10000,- DM nicht vorschießen, weil sie die Ausfallgarantie nicht als Kreditunterlage anerkennt. Wenn die Reise unterbleiben muß, droht ein Schaden von 80 000,- DM. Da keine andere Möglichkeit besteht, die Reise zu "retten", entnimmt A aus der Kasse der Musikakademie den Betrag von 10000,DM und führt damit die Konzertreise durch. Aus den Erträgnissen der Reise läßt er den Betrag von 10000,- DM wieder in die Kasse der Musikakademie fließen (vgl. BGHSt 12, 299). Hat sich A wegen Unterschlagung anvertrauten Geldes (§ 246) und wegen Untreue (§ 266) strafbar gemacht? Lösung Strafbarkeit des A nach § 246 2. Handlungsform und § 266 (Mißbrauchstatbestand): A. 1. Tatbestand des § 246: A hat dem Privatchor fremdes Geld, das sich in seinem Alleingewahrsam befand und ihm anvertraut war, zugeeignet (der Wille, den Schaden wiedergutzumachen, schließt eine Zueignung nicht aus). Da A persönlich an der Durchführung der Konzertreise interessiert war, ist die Zueignung an den Privatchor einer Selbstzueignung gleichzusetzen (dafür reicht nach h. M. aus, daß der Täter einen "Vorteil im weitesten Sinn" erlangt, vgl. Schönke/Schröderl Eser § 242 Anm. 62). Die Zueignung war rechtswidrig (Tatbestandsmerkmal), da A keinen Anspruch auf das Geld hatte. Da es sich um anvertrautes Geld handelte, liegt der qualifizierte Fall der Veruntreuung(§ 246 zweite Handlungsform) vor. 2. Tatbestand des § 266: A hat wirksam über das staatliche Geld verfügt, obwohl er dazu im Verhältnis zur Musikakademie nicht befugt war. Er hat somit die ihm durch behördlichen Auftrag eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermö-
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gen zu verfügen, mißbraucht (§ 266 I erste Handlungsform; Mißbrauchstatbestand). B. 1. A könnte durch die mutmaßliche Einwilligung des Staates gerechtfertigt sein. Jedoch besteht eine mutmaßliche Einwilligung des Staates nur bei einfachem Umwechseln von Geld (vgl. Schönke/Schröder/Eser § 246 Anm. 17a). Dagegen darf der Beamte nicht finanzielle Engpässe, in die er geraten ist, mit staatlichem Geld überbrücken. 2. Als Rechtfertigungsgrund könnte zivilrechtlicher Notstand (§ 904 BGB) eingreifen. a) Ein Schaden von 80 000,- DM stand unmittelbar bevor. Es drohte also die "gegenwärtige Gefahr" eines finanziellen Verlustes in dieser Größenordnung. b) Die Maßnahme des A war zur Gefahrabwendung erforderlich und geeignet. c) A wollte den drohenden Schaden verhüten (subjektives Rechtfertigungselement). d) Fraglich ist, ob der verhinderte Schaden im Verhältnis zum angerichteten Schaden unverhältnismäßig groß gewesen wäre. Eine Notstandslage ist nicht deshalb zu verneinen, weil die kollidierenden Rechtsgüter hier gleichartig sind (Geld; Ausnahme: Menschenleben sind nicht gegeneinander abwägbar). Finanziell betrachtet ist der drohende Schaden unverhältnismäßig groß. Hinzu kommt, daß die Durchführung der Reise - wie die Ausfallgarantie des Staates zeigt - im kulturpolitischen Interesse der Allgemeinheit liegt. BGHSt 12, 299 (304) hat in diesem Falle zugunsten des A einen "übergesetzlichen Notstand" angenommen (einschränkend BGH NJW 1976, 680 aufgrund der "Angemessenheitsklausel" des § 34). Nach einem Teil der Lehre (Lehrbuch § 33 IV 3b) verlangt dagegen § 34 StGB (und dementsprechend auch § 904 BGB) über die Abwägung der Güter hinaus, daß eine spezifische Kollisionsbeziehung zwischen den beteiligten Rechtsgütern bestehen muß, d. h. daß das geopferte Rechtsgut von vornherein als Rettungsmittel für das bedrohte Gut erscheint. Weil A in Personalunion die Akademie und den Chor leitet und weil die Akademie kulturpolitische Interessen zu wahren hat, liegt eine solche Kollisionsbeziehung an sich nahe, doch hätte A ohne weiteres die Genehmigung des Direktors der Musikakademie einholen können (vgl. Bocketmann JZ 1959, 495 [498]). Öffentliche Gelder stehen nicht ohne weiteres zur Verfügung, um privaten Schaden unter der Hand abzuwenden. A ist daher nicht nach § 904 BGB gerechtfertigt. 3. Als Rechtfertigungsgrund kommt auch § 34 in Betracht. Jedoch geht § 904 BGB als lex specialis vor (dagegen hat BGHSt 12, 299 den Fall über den dem heutigen § 34 entsprechenden "übergesetzlichen Notstand" gelöst). Ergebnis: A ist wegen Untreue nach § 266 strafbar. Die Veruntreuung (§ 246 zweite Handlungsform) tritt gegenüber § 266 zurück, da A schon bei der Entnahme des Geldes den Zueignungswillen hatte (Konsumtion). Fall49 Einwilligung und mutmaßliche Einwilligung
Das 8jährige Mädchen M wird nach einem Verkehrsunfall bewußtlos in die Klinik eingeliefert. Eine Bluttransfusion ist dringend erforderlich, um das Leben des Kindes zu retten. Die mitgekommenen Eltern verweigern die Zustimmung, da 5 Fälle und Lösungen, 3. A.
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
Bluttransfusionen nach den Vorschriften ihrer Sekte verboten sind. Der Arzt A nimmt die Transfusion trotzdem vor. KannA nach§ 223 wegen Körperverletzung bestraft werden? Lösung
Strafbarkeit des A nach § 223: A. A könnte die M körperlich mißhandelt haben (§ 223 1). Allerdings ist nach herrschender Meinung (Lehrbuch § 34 III 3a) der "lege artis" und erfolgreich durchgeführte ärztliche Heileingriff mangels Körperinteressenverletzung schon tatbestandsmäßig gar nicht als Körperverletzung anzusehen. Demgegenüber hält jedoch die Rechtsprechung (BGHSt 11, 111) daran fest, daß der Heileingriff als eine die Integrität des Körpers berührende Maßnahme tatbestandsmäßig eine Körperverletzung darstellt, die in der Regel nur durch Einwilligung oder mutmaßliche Einwilligung des Patienten gerechtfertigt werden kann (mit Recht, solange es keine Strafvorschrift gegen eigenmächtige Heileingriffe gibt, vgl. § 162 E 1962). B. Nach der von der Rechtsprechung vertretenen Auffassung ist zu prüfen, ob A gerechtfertigt war. 1. Einwilligung: Wer für die Erteilung der Einwilligung bei der Verletzung eines Minderjährigen zuständig ist, hängt davon ab, ob der Minderjährige Bedeutung und Tragweite des Eingriffs zu erfassen vermag ("Einsichtsfähigkeit"; Lehrbuch § 34 IV 3). Zwar setzt die Einsichtsfähigkeit weder Geschäfts- (§§ 104ff. BGB) noch Schuldfähigkeit (§ 20 StGB) voraus. Aber bei einem Sjährigen Mädchen wird in der Regel die Einsicht in die Bedeutung eines Heileingriffes fehlen. Daher waren die Eltern der M als gesetzliche Vertreter (§ 1626 BGB) für die Erteilung der Einwilligung zuständig. Sie haben jedoch die Einwilligung verweigert.
2. Mutmaßliche Einwilligung: Die mutmaßliche Einwilligung ist Ersatz für die nicht einholbare Einwilligung des Rechtsgutsinhabers (Lehrbuch § 34 VII 1). Daher greift sie nie ein, wenn der Rechtsgutsinhaber die Einwilligung für den Täter erkennbar verweigert hat, mag diese Weigerung auch unvernünftig sein. Man braucht sich nicht "durch ungebetene Nothelfer" bevormunden zu lassen. Auch § 679 BGB ist aus diesem Grund nicht analog anwendbar. Der Heileingriff des A ist also nicht durch die mutmaßliche Einwilligung der Eltern gerechtfertigt. Man wird allerdings annehmen können, daß die Verweigerung der Einwilligung durch die Eltern einen Mißbrauch der elterlichen Gewalt darstellt (§ 1666 BGB; vgl. RGSt 74, 350). Im vorliegenden Fall mußte die Einwilligung der Eltern durch die des Vormundschaftsgerichts ersetzt werden, und man könnte daran denken, daß sich A deswegen auf die mutmaßliche Einwilligung des Vormundschaftsgerichts berufen durfte, da keine Zeit mehr war, die Entscheidung nach § 1666 BGB einzuholen. Jedoch kann man dem A als einer Privatperson nicht die Befugnis einräumen, die rechtsgestaltende Entscheidung des Vormundschaftsgerichts vorwegzunehmen. A kann sich mithin nicht auf die mutmaßliche Einwilligung des Vormundschaftsgerichts stützen. 3. Nothilfe (§ 32): Die Verweigerung der Einwilligung ist ein rechtswidriger Angriff gegen das Kind, da für die Eltern eine - sogar strafrechtlich sanktionierte Pflicht bestand, die Einwilligung zu erteilen (RGSt 74, 350 [353]; vgl. aber auch BVerfGE 32, 98 [106ff.]). Indessen gestattet § 32 nur Verteidigungshandlungen gegen den Angreifer, nicht auch solche gegen den Angegriffenen. A durfte sich daher nach § 32 nur über die fehlende Einwilligung der Eltern hinwegsetzen; dagegen war die Körperverletzung der M nicht durch § 32 gedeckt.
IX. Rechtfertigungsgründe (Lehrbuch§§ 31 bis 36)
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4. Rechtfertigender Notstand (§ 34): a) Für das Leben der M bestand eine gegenwärtige Gefahr. b) Diese Gefahr konnte A nur dadurch abwehren, daß er die Bluttransfusion ohne Einwilligung der Eltern vornahm und dadurch in die körperliche Integrität der M eingriff. c) Weiter setzt § 34 eine erhebliche Wertdifferenz zwischen gerettetem und geopfertem Rechtsgut voraus. Die mit der Transfusion verbundene Körperverletzung wiegt angesichts der bestehenden Lebensgefahr nicht schwer. Das Leben der M hat auch den Vorrang vor der Entscheidungsfreiheit der uneinsichtigen Eltern. Diese dürfen ihren Glauben der religionsunmündigen M• nicht in der Weise aufdrängen, daß M körperlichen Schaden erleidet. Die in § 34 vorausgesetzte Wertdifferenz ist daher gegeben. Der Heileingriff erscheint zur Abwendung der Gefahr auch angemessen (§ 34 S. 2) (Lehrbuch § 33 IV 3d). d) A wollte das Leben der M retten (subjektives Rechtfertigungselement). Daß A die Notstandslage gewissenhaft geprüft und die kollidierenden Rechtsgüter pflichtgemäß abgewogen hat, ist - entgegen der bisherigen Rechtsprechung (grundlegend RGSt 62, 137 [138]) - nach § 34 nicht mehr erforderlich (Lehrbuch § 33 IV 4). A ist somit nach § 34 gerechtfertigt. Ergebnis: A ist nicht nach § 223 strafbar.
Fall 50
Züchtigungsrecht Der Spaziergänger S beobachtet einige Buben im Alter von etwa sechs Jahren, wie sie Wegeschilder des Schwarzwaldvereins zur Zielscheibe für Steinwürfe nehmen. Erzürnt versetzt er dem Jungen J eine Tracht Prügel. Die Eltern des J stellen Strafantrag nach §§ 223, 232, 77 III. Ist S wegen Körperverletzung (§ 223) strafbar? Strafbarkeit des S nach § 223:
Lösung
A. S hat den J körperlich mißhandelt (§ 223 1). B. 1. Er wäre gerechtfertigt, wenn ihm ein Züchtigungsrecht gegenüber J zugestanden hätte. Den Eltern steht gegenüber den Kindern aufgrund der elterlichen Gewalt (§ 1626 BGB) ein Züchtigungsrecht zu. Nach der noch immer herrschenden Meinung hat kraft Gewohnheitsrechts auch der Lehrer gegenüber den Schülern seiner Schule ein Züchtigungsrecht, was aber abzulehnen ist (Lehrbuch § 35 111). Ansonsten gibt es mangels Erziehungsauftrages kein Züchtigungsrecht gegenüber fremden Kindern. S hatte daher kein Züchtigungsrecht. 2. S könnte durch die mutmaßliche Einwilligung der Eltern gerechtfertigt sein. Die mutmaßliche Einwilligung wäre der Ersatz für die im Augenblick der Tat für S nicht einholbare Einwilligung. S mußte sich daher fragen, ob die Eltern des J die Züchtigung gebilligt hätten, wenn sie davon gewußt hätten. Für den wirklichen Willen der Eltern hatte S keine Anhaltspunkte. Er durfte deshalb davon ausgehen, daß diese eine nach objektiven Gesichtspunkten vernünftige Entscheidung treffen * Vgl. § 5 Gesetz über die religiöse Kindererziehung vom 15.7.1921 (RGBI S. 939). 5*
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
würden. Ob Prügel ein taugliches Erziehungsmittel sind, wird nicht von allen Eltern einheitlich beurteilt. Auf jeden Fall aber verlangt die Wahrnehmung von Erziehungsaufgaben eine Vertrauensposition, die ein Fremder nicht hat. Daher war es von den Eltern nicht zu erwarten, daß sie mit der Züchtigung des J durch S einverstanden sein würden. Die Züchtigung stimmte mithin nicht mit dem mutmaßlichen Willen der Eltern überein. 3. S könnte Nothilfe für den Schwarzwaldverein geübt haben (§ 32). a) Ein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff auf dessen Eigentum lag vor. b) Die Tracht Prügel war aber als Abwehrmittel nicht erforderlich. Selbst wenn Worte nicht ausgereicht hätten, so hätte S nur die zur Vertreibung der Kinder notwendigen Schläge austeilen, nicht aber den J züchtigen dürfen. c) Außerdem mußte S, da der Angriff von Kindern ausging und das Rechtsbewährungsinteresse deshalb nicht hoch zu veranschlagen war, zunächst mit Worten auf die Kinder einwirken, auch wenn dadurch der Angriff nicht mit Sicherheit abgewehrt werden konnte (Lehrbuch § 32 III 3a). 4. Die Annahme eines rechtfertigenden Notstands nach § 34 scheitert daran, daß die Gefahr auf andere Weise abwendbar war.
Ergebnis: S ist nach § 223 strafbar. Fall 51
Einwilligung und Einverständnis Die Polizei stellt einem vermuteten Taschendieb T, der auf dem Markt sein Unwesen treibt, eine Falle. Eine als Hausfrau verkleidete Kriminalbeamtin legt ihre Geldbörse oben auf die gefüllte Einkaufstasche und begibt sich, beobachtet von anderen Kriminalbeamten, in das Gedränge des Marktes. T nimmt die Geldbörse an sich und wird gestellt (vgl. BGHSt 4, 199). Ist T wegen Diebstahls strafbar?
I. Strafbarkeit des T nach§ 242:
Lösung
A. Voraussetzung für eine Strafbarkeit nach § 242 wäre, daß T die Geldbörse "weggenommen" hat. Wegnahme ist der Bruch fremden und die Begründung neuen Gewahrsams. Ein Gewahrsamsbruch setzt begrifflich voraus, daß der Gewahrsamsinhaber nicht mit dem Verlust des Gewahrsams einverstanden ist. Bei einer Einwilligung des Gewahrsamsinhabers entfällt daher bereits der Tatbestand (sog. Einverständnis), während bei anderen Tatbeständen die Einwilligung "nur" rechtfertigt (weitere Beispiele für tatbestandsausschließendes Einverständnis sind §§ 123, 177, 178, 237, 240, 248b; Lehrbuch § 34 I 1 b). Demnach ist der Tatbestand des § 242 nicht erfüllt. II. Strafbarkeit des T nach §§ 242, 23, 22: A. Da T das Einverständnis der Kriminalbeamtin nicht kannte, wollte er fremden Gewahrsam brechen. Er hatte also den für§ 242 erforderlichen Vorsatz. T hat unmittelbar zur Ausführung der Wegnahme angesetzt (§ 22). Somit liegt ein (untauglicher) Diebstahlsversuch vor.
X. Die Schuldlehre (Lehrbuch§§ 40- 44)
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Ergebnis: T ist nach §§ 242, 23, 22 strafbar. (Beachte: Bei Unkenntnis der rechtfertigenden Einwilligung nimmt ein Teil der Lehre Strafbarkeit wegen vollendeten Deliktes an, vgl. zu dieser Streitfrage Lehrbuch § 34 V).
X. Die Schuldlehre Lehrbuch§§ 40-44 Fall 52 Verminderte Schuldfähigkeit A ist von der Strafkammer wegen Betrugs (§ 263) in mehreren Fällen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Das Gericht hat die Strafe wegen verminderter Schuldfähigkeit (Schwachsinn) nach §§ 21, 49 I gemildert, hat aber neben der Strafe nach § 63 I die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, weil von A infolge seines Zustandes weitere erhebliche Betrugstaten zu erwarten seien und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei. Aus dem Urteil ergibt sich nicht, ob die Verminderung der Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, in den vorliegenden Fällen tatsächlich das Fehlen der Unrechtseinsicht bewirkt hat. Ist der Straf- und Maßregelausspruch rechtlich einwandfrei begründet (vgl. BGHSt 21, 27)?
Lösung Die Verminderung der Einsichtsfähigkeit infolge von Schwachsinn kann nach § 21 mit Rücksicht auf die verminderte Schuld zu einer Herabsetzung der Strafe nach § 49 I führen (fakultativer Strafmilderungsgrund). Doch setzt dies voraus, daß dem Täter infolge der verminderten Einsichtsfähigkeit tatsächlich das Unrechtsbewußtsein gefehlt hat (Lehrbuch § 40 IV 1). Nur dann besteht ein Grund, die Strafe nach § 21 erste Alternative zu mildern. Darüber, ob bei A die Fähigkeit, nach der Einsicht in das Unrecht der Tat zu handeln (§ 21 zweite Alternative), gefehlt hat, gibt das Urteil ebenfalls keinen Aufschluß. Auch § 63 I erfordert nicht nur das Vorliegen verminderter Einsichtsfähigkeit, sondern die Feststellung der Tatsache, daß der Täter die Einsicht tatsächlich nicht gehabt hat oder daß ihm die Fähigkeit gefehlt hat, nach dieser Einsicht zu handeln. Nach beiden Richtungen läßt das Urteil die erforderlichen Feststellungen vermissen.
Ergebnis: Das Urteil ist im Straf- und Maßregelausspruch rechtlich nicht einwandfrei begründet. Durch den Strafausspruch ist der Angeklagte jedoch nicht beschwert, da § 21 zu seinen Gunsten angenommen wurde. Dagegen muß die Anordnung der Unterbringung aufgehoben werden, da die Voraussetzung des tatsächlichen FehJens der Unrechtseinsicht im Urteil nicht dargetan ist. Fall 53 Vollrausch und Tatbestandsirrtum A hat in einer Gastwirtschaft innerhalb kurzer Zeit über einen Liter Schnaps getrunken. Er wird dabei überrascht, wie er mit einem fremden Mantel das Lokal
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
verlassen will (vgl. RGSt 73, 177). Wie ist der Fall zu beurteilen, wenn sich nicht klären läßt, ob er den Mantel für seinen eigenen oder für einen fremden gehalten hat? Lösung
I. Strafbarkeit des A nach § 242:
Ahateine fremde Sache weggenommen. Jedoch war er zum Zeitpunkt der Wegnahme infolge des übermäßigen Alkoholgenusses (krankhafte seelische Störung) nach § 20 nicht schuldfähig. Für eine "actio libera in causa" (vgl. unten Fall 54) besteht kein Anhaltspunkt. A ist daher nicht nach§ 242 strafbar. Il. Strafbarkeit des A nach § 330a: 1. A hat sich vorsätzlich in einen Vollrausch versetzt. Somit ist der Tatbestand des § 330a erfüllt. 2. Objektive Bedingung für die Strafbarkeit des Vollrausches ist, daß der Täter im Rausch eine rechtswidrige Tat (§ 11 I Nr. 5) begeht. In Betracht kommt Diebstahl (§ 242). Falls A sich im Irrtum über das Eigentum an dem Mantel befand, was im Zweifel zu seinen Gunsten anzunehmen ist ("in dubio pro reo"), fehlten der Vorsatz in bezug auf die Fremdheit der Sache und die Zueignungsabsicht. Auch der rauschbedingte Tatbestandsirrtum ist ein Irrtum im Sinne des § 16 und schließt den Vorsatz aus. Die früher vertretene Auffassung, nach der rauschbedingte Irrtümer weitgehend unbeachtlich sein sollten, dehnte § 330a in unvertretbarer Weise aus und ist mit dem geltenden Recht nicht mehr vereinbar (vgl. Schönke/Schröder/Cramer, § 330a Anm. 18). Ergebnis: A ist nicht strafbar. Fall 54
"Actio libera in causa" A beschloß, in einer benachbarten Stadt einen Wagen zu stehlen. Er fuhr dorthin und prüfte auf einem großen Parkplatz die Lage, ohne aber vorerst ein bestimmtes Fahrzeugs ins Auge zu fassen. Da es noch zu hell und der Platz noch zu belebt war, begann er in einer nahegelegenen Wirtschaft zu zechen und war schließlich, als er den Autodiebstahl nach Mitternacht durchführte, völlig betrunken (vgl. BGHSt 21, 381). Ist A wegen Diebstahls(§ 242) zu bestrafen?
Strafbarkeit des A nach § 242:
Lösung
1. A hat eine fremde bewegliche Sache in Zueignungsahsicht weggenommen. Jedoch war er zum Zeitpunkt der Wegnahme nicht schuldfähig(§ 20). 2. Wenn A die Tat im Zustand der Schuldfähigkeit bis ins Versuchsstadium getrieben hätte, so könnte man unter Umständen den Eintritt der Schuldunfähigkeit als unwesentliche Abweichung im Kausalverlauf ansehen (vgl. oben Fall 41). Jedoch hat A nüchtern nur eine Vorbereitungshandlung begangen (Prüfung der Lage auf dem Parkplatz). Als er unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestandes ansetzte (§ 22), war er bereits schuldunfähig.
X. Die Schuldlehre (Lehrbuch§§ 40- 44)
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3. Auf die Schuldfähigkeit im Zeitpunkt der Tat kommt es ausnahmsweise nicht an, wenn die Voraussetzungen einer "actio libera in causa" vorliegen (Lehrbuch § 40 VI). a) A faßte nüchtern (d.h. im schuldfähigen Zustand) den Diebstahlsvorsatz, wobei "eine weitgehende Übereinstimmung zwischen der Vorstellung des Täters und der späteren Tatausführung" ausreicht (BGHSt 21, 381 [382}). Da der Kreis der in Betracht kommenden Kraftfahrzeuge vorher festgelegt war und der Diebstahl in der geplanten Weise ausgeführt wurde, ist diese Voraussetzung einer "actio libera in causa" zu bejahen. b) Fraglich ist, ob eine vorsätzliche "actio libera in causa" außerdem voraussetzt, daß der Täter die Schuldfähigkeit bewußt ausschaltet, sich selbst also gleichsam wit: ein schuldlos handelndes Werkzeug verwendet. Dies ist anzunehmen, weil anderenfalls praktisch der bloße böse Vorsatz bestraft werden würde (Lehrbuch § 40 VI 2). Da A den im nüchternen Zustand gefaßten Diebstahlsvorsatz während des Zechgelages aufrechterhalten und anschließend planmäßig verwirklicht hat, wird man sagen müssen, daß er zumindest bedingt vorsätzlich seine Schuldunfähigkeit herbeiführte und sich auch mit der Möglichkeit abfand, in diesem Zustand die Tat zu begehen. Mithin ist auch die zweite Voraussetzung einer vorsätzlichen actio libera in causa erfüllt. Ergebnis: A ist wegen Diebstahls (§ 242) zu bestrafen. § 330a ist demgegenüber subsidiär (Lehrbuch § 69 II 2}.
Fall 55 Irrtum über die Grenzen des Selbsthilferechts Der Gast G schuldete dem Gastwirt A noch mindestens 20,- DM für eine Zeche. Eines Tages traf dieser den G auf der Straße. Er forderte ihn mit den Worten "Moos raus" zur Bezahlung seiner Zechschuld auf. G wandte sich jedoch zum Weitergehen. Da hielt A den G mit Gewalt fest, durchsuchte dessen Taschen und fand darin einen 10-DM- und einen 5-DM-Schein. Beide nahm er ihm weg (vgl. BGHSt 17, 87). Hat sich A wegen Raubes(§ 249) strafbar gemacht? Lösung
Strafbarkeit des A nach § 249: 1. a) A hat das Geld mit Gewalt in Zueignungsahsicht weggenommen.
b) Fraglich ist, ob die Zueignung rechtswidrig war. Die Rechtswidrigkeit ist hier ausnahmsweise Tatbestandsmerkmal (vgl. Schönke/Schröder/ Eser § 242 Anm. 57) und bedeutet, daß die Zueignung im Widerspruch zur Eigentumsordnung stehen muß. Daran fehlt es, wenn ein fälliger, einredefreier Anspruch auf Übereignung der weggenommenen Sache besteht. In BGHSt 17, 89 wurde dies im Hinblick auf § 243 BGB, der bei Gattungsschulden dem Schuldner das Recht der Bestimmung des Leistungsgegenstandes zuweist und auch für Geldschulden gilt, wohl mit Recht verneint. G durfte als Schuldner darüber entscheiden, welche Scheine er dem A geben wollte. Auch dadurch, daß G nicht genügend Geld bei sich hatte, ist keine Konkretisierung des Zahlungsanspruches auf bestimmte Geldscheine eingetreten (daher kann in der Regel nur bei Stückschulden die Rechtswidrigkeit der Zueignung durch einen fälligen einredefreien Anspruch ausgeschlossen sein). Die beabsichtigte Zueignung war also rechtswidrig.
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
c) Bezüglich der Rechtswidrigkeit der Zueignung könnte bei A der Vorsatz gefehlt haben. Dies wäre der Fall, wenn A - was naheliegt - angenommen hätte, daß er einen Anspruch gerade auf die weggenommenen Scheine hatte. Nach § 16 wäre er dann nicht wegen Raubes strafbar (es bliebe die Strafbarkeit nach § 240 zu prüfen). War dem A hingegen klar, daß sich sein Anspruch nicht auf einen bestimmten Geldschein bezog, so ist der objektive und subjektive Tatbestand des § 249 erfüllt. 2. A ist nicht durch § 229 BGB gerechtfertigt; denn nach § 230 II BGB hätte er sich nicht eigenmächtig befriedigen dürfen, sondern er hätte lediglich seinen Anspruch sichern dürfen (so BGHSt 17, 87 [89f.]). 3. Glaubte A, daß ihm die Rechtsordnung unter den gegebenen Umständen ein Selbsthilferecht, das ihm die eigenmächtige Befriedigung gestatten würde, zur Verfügung stelle, so fehlte ihm das Unrechtsbewußtsein. Er befand sich dann in einem Verbotsirrtum (sog. Grenzirrtum; Lehrbuch § 41 III 1). Angesichts der strengen Anforderungen, die die Rechtsprechung an das Rechtsbewußtsein des Bürgers stellt (Lehrbuch § 41 II 2b), ist anzunehmen, daß der Verbotsirrtum für A vermeidbar war, so daß § 17 S. 1 nicht zum Zuge kommt. Jedoch kann die Strafe nach §§ 17 S. 2, 49 I gemildert werden (über weitere Grenzfälle von Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum Lehrbuch§ 41 II 2d).
Ergebnis: Nahm A an, daß er einen Anspruch gerade auf die weggenommenen Scheine habe, so ist er nicht nach § 249, sondern nur nach § 240 strafbar. Wußte er dagegen, daß sich sein Anspruch nicht auf bestimmte Geldscheine richtete, so ist er nach § 249 zu bestrafen, wobei jedoch die Strafe nach §§ 17 S. 2, 49 I gemildert werden kann. Fall 56 Entschuldigender Notstand und "besonderes Rechtsverhältnis"
In einem Steinkohlenbergwerk sind durch eine Schlagwetterexplosion mehrere Bergleute getötet worden. Der diensthabende Wettermann A hatte vorher eine beginnende Gasentwicklung festgestellt, diese Gefahr aber nicht, wie es seine Pflicht gewesen wäre, dem Steiger gemeldet. Als er später in dem Stollen, den er zu kontrollieren hatte, eine äußerst bedrohliche Weiterentwicklung der Schlagwetter feststellte, ist er aus Angst um sein Leben umgekehrt und, ohne die Belegschaft an dieser Stelle zu warnen, ausgefahren. Eine Viertelstunde später trat an der betreffenden Stelle die Explosion ein (vgl. RGSt 72, 246). Ist A wegen fahrlässiger Tötung(§ 222) strafbar?
Lösung Strafbarkeit des A nach§ 222 : A könnte sich wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen strafbar gemacht haben (§§ 222, 13 ). 1. A hat es pflichtwidrig unterlassen, die Belegschaft zu warnen. Dies hatte den Tod der Bergleute zur Folge. A hatte kraft freiwilliger Übernahme einer Schutzposition (Lehrbuch § 59 IV Je) rechtlich dafür einzustehen, daß dieser Erfolg nicht eintrat. Somit ist der Tatbestand des § 222 erfüllt.
X. Die Schuldlehre (Lehrbuch§§ 40- 44)
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2. A könnte aber wegen entschuldigenden Notstands nach § 35 I straflos sein. a) Als A es unterließ, die Bergleute zu warnen, und ausfuhr, konnte die Explosion in jedem Augenblick eintreten. Daher bestand eine gegenwärtige Gefahr für sein Leben. b) Die Gefahr war zu diesem Zeitpunkt nicht anders als durch das Ausfahren abwendbar. c) A handelte auch "zur Rettung" seines Lebens (Lehrbuch § 44 II 2). d) Jedoch ist A aus zwei Gründen zuzumuten, die Gefahr hinzunehmen (§ 35 I 2). Zum einen hat er die Konfliktslage, in die er geraten ist, dadurch pflichtwidrig herbeigeführt (Lehrbuch § 44 III 2a), daß er dem Steiger die beginnende Gasentwicklung nicht gemeldet hat. Daß A nicht selbst die Gefahr der Schlagwetterexplosion herbeigeführt hat, ist demgegenüber belanglos. Zum anderen stand A als Wettermann in einem "besonderen Rechtsverhältnis", das ihn bei Eintritt einer berufsspezifischen Gefahr zum Einsatz seines Lebens verpflichtete. Aus diesem Grund muß auch die Strafmilderung nach §§ 35 I 2 zweiter Halbsatz, 49 I außer Betracht bleiben. Ergebnis: A ist wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 strafbar. Es liegt gleichartige Idealkonkurrenz vor (§ 52 I zweite Alternative).
Fall 57 Erlaubnistatbestandsirrtum Als der Mieter M gegen Mitternacht leicht angetrunken von einer Party in das Etagenhaus zurückkehrt, in dem er wohnt, hört er aus einer Wohnung grauenhafte Schreie und flehentliche Hilferufe, die immer wieder von einem markerschütternden Wimmern unterbrochen werden. In der Annahme, daß die dort wohnende Studentin S offenbar gerade Opfer eines Überfalls geworden sei, wirft er sich, da Zurufe ungehört verhallen, mit aller Kraft gegen die leichte W ohnungstür, die dabei zu Bruch geht, und stürzt in das Zimmer der S, um ihr zu helfen. Die S ist über den unerwarteten Besuch nicht wenig erschrocken, da sie nur im Fernsehen einen allerdings sehr realistischen Kriminal-Thriller ansieht, in dem mehrere Mädchen grausam getötet werden. Der Hauseigentümer stellt Strafantrag nach § 303 wegen der beschädigten Tür. Ist M wegen Sachbeschädigung (§ 303) strafbar?
Strafbarkeit des M nach § 303:
Lösung
1. M hat vorsätzlich die Tür beschädigt. Somit ist der Tatbestand des § 303 erfüllt.
2. M ist weder durch Nothilfe (§ 32) noch durch Angriffsnotstand (§ 904 BGB) gerechtfertigt, da objektiv weder ein Angriff vorlag noch ein Schaden drohte. 3. Für die Beurteilung der Schuld des M ist bedeutsam, ob er das Unrechtsbewußtsein hatte (Lehrbuch § 41 I 1). Daher ist zu prüfen, ob M nach seiner Vorstellung rechtmäßig handelte. a) Auch unter Berücksichtigung der Vorstellung des M liegen die Voraussetzungen des § 32 nicht vor, weil diese Vorschrift Nothilfehandlungen nur gegen den Angreifer, nicht auch gegen Rechtsgüter unbeteiligter Dritter gestattet.
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
b) Wohl aber sind nach der Vorstellung des M die Voraussetzungen des § 904 BGB erfüllt, da die Beschädigung der Tür zur Abwendung einer Gefahr notwendig erscheint und der drohende Schaden (Tötung oder schwere Verletzung der S) gegenüber der Beschädigung der Tür unverhältnismäßig groß sein würde. M nimmt also irrig an, daß die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes vorliegen (Erlaubnistatbestandsirrtum). Die rechtliche Behandlung dieses Irrtums ist umstritten (Lehrbuch § 41 III 2): aa) Nach der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen sind die Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe wie negativ gefaßte Tatbestandsmerkmale zu behandeln, so daß § 16 auf den Irrtum unmittelbar anwendbar ist. Danach entfällt der Vorsatz des M. Da fahrlässige Sachbeschädigung(§ 16 I 2) nicht strafbar ist, ist M nach dieser Auffassung straffrei. bb) Nach der strengen Schuldtheorie ist der Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes ein gewöhnlicher Verbotsirrtum (§ 17). Da wohl angenommen werden muß, daß der Irrtum des M vermeidbar war, ist dieser nach §§ 303, 17 S. 2, 49 I mit Milderungsmöglichkeit wegen Sachbeschädigung strafbar. cc) Nach der herrschenden eingeschränkten Schuldtheorie ist der vermeidbare Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes zwar nicht als Tatbestandsirrturn anzusehen, wohl aber wird § 16 auf diesen Fall entsprechend angewandt, so daß eine Strafbarkeit des M ebenfalls ausscheidet. dd) Nach der rechtsfolgenverweisenden Schuldtheorie, der zu folgen ist, bleibt der Tatbestandsvorsatz durch den Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes unberührt. § 16 wird weder unmittelbar noch entsprechend angewendet. Weil der Täter aber im Hinblick auf einen anerkannten Rechtfertigungsgrund "an sich rechtstreu" handelt, richtet sich der ihm zu machende Vorwurf gegen seine Unaufmerksamkeit. Daher erscheint es gerechtfertigt, die Rechtsfolge des Erlaubnistatbestandsirrtums aus den Fahrlässigkeitstatbeständen zu entnehmen (Rechtsfolgeverweisung). Auch nach dieser Lehre kann M nicht wegen Sachbeschädigung bestraft werden. ee) Die bisherige Rechtsprechung modifizierte allerdings die eingeschränkte Schuldtheorie bei Rechtfertigungsgründen, die auf dem Güterabwägungsprinzip beruhen (Lehrbuch § 41 III 3). Hier soll der Täter, der eine zurnutbare Prüfungspflicht verletzt und deswegen nicht erkennt, daß er rechtswidrig handelt, wegen vorsätzlicher Tat bestraft werden (im Ergebnis wie die strenge Schuldtheorie). Da § 904 BGB auf dem Güterabwägungsgedanken beruht und M wohl die zurnutbare Prüfungspflicht verletzte (sonst hätte er kaum die "Fernsehstimmen" mit natürlichen Stimmen verwechselt), ist M nach dieser Auffassung nach § 303 zu bestrafen. Es ist jedoch zweifelhaft, ob diese Rechtsprechung aufrechterhalten bleiben wird, nachdem § 34 beim rechtfertigenden Notstand keine besonderen Anforderungen hinsichtlich der Prüfung der Sach- und Rechtslage an den Täter stellt. Da die besondere Irrtumsregelung des Entwurfs 1962 (§ 39 II) nicht in § 34 übernommen worden ist, muß die Prüfungspflicht nunmehr entfallen. Ergebnis: M ist nicht strafbar.
XI. Versuch und Rücktritt (Lehrbuch§§ 49- 51)
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XI. Versuch und Rücktritt Lehrbuch §§ 49 - 51 Fall 58 Unmittelbares Ansetzen zur Tat A wollte eine Spazierfahrt mit einem fremden Kraftwagen unternehmen. Er rüttelte bei mehreren auf einem Parkplatz abgestellten Automobilen an den Vorderrädern, um festzustellen, ob das Lenkrad durch ein Schloß versperrt sei. Beim Fehlen eines solchen Hindernisses wollte er sich unmittelbar anschließend des Fahrzeuges bemächtigen und es nach der Fahrt wieder auf dem Parkplatz abstellen. Als er ein geeignetes Objekt gefunden hatte, wurde sein Verhalten bemerkt. Zur Rede gestellt, mußte er sein Vorhaben aufgeben (vgl. BGHSt 22, 80). Ist A wegen Versuchs des unbefugten Gebrauchs eines Kraftfahrzeugs (§§ 248b, 23 I, 22) zu bestrafen? Lösung
I. Strafbarkeit des A nach§ 248b: A hat das Kfz nicht gebraucht. Daher ist der objektive Tatbestand des § 248b nicht erfüllt. II. Strafbarkeit des A nach §§ 248b, 23 I, 22: A. 1. Der versuchte unbefugte Gebrauch eines Kfz ist strafbar (§§ 23 I, 248b II). 2. A wollte ein geeignetes Kfz unbefugt in Gebrauch nehmen. Somit lag der Tatvorsatz vor. 3. Fraglich ist, ob A nach seiner Vorstellung "unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestandes ansetzte" (§ 22). Während früher zur Frage der Abgrenzung von Versuch und strafloser Vorbereitungshandlung teils eine formell-objektive Theorie (der Täter muß bereits einen Teil des Tatbestandes verwirklicht haben), teils eine rein subjektive Theorie (Versuch ist alles, was nach der Vorstellung des Täters zur Verwirklichung der Tat dient) vertreten wurde, hat sich der Gesetzgeber der Strafrechtsreform dafür entschieden, daß es sowohl auf objektive als auch auf subjektive Kriterien ankommt (vgl. Wortlaut des § 22; sog. individuell-objektive Theorie; Lehrbuch § 49 IV 1). Nachdem A ein geeignetes Fahrzeug gefunden hatte, bedurfte es zur Vollendung der Tat keiner "neuen Willensregung" mehr. Zwischen dem "Rütteln" und dem Gebrauch des Wagens bestand ein enger zeitlicher Zusammenhang. Daher muß das "Rütteln" als unmittelbares Ansetzen zur Tat angesehen werden. B. Zugunsten des A könnte der Strafausschließungsgrund des Rücktritts eingreifen(§ 24 1). 1. Der Versuch des A war noch nicht beendet (§ 24 I 1 erste Alternative).
2. A gab sein Vorhaben endgültig auf. 3. Die geplante Tat war aber, nachdem A entdeckt worden war, nicht mehr durchführbar. Von einem erkanntermaßen fehlgeschlagenen Versuch ist ein Rück-
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
tritt nicht möglich (vgl. unten Fall 68 und Lehrbuch §51 II 4). § 24 I greift daher nicht ein. C. Gemäß § 248b III wird die Tat nur auf Antrag verfolgt. Ergebnis: A ist gemäß §§ 248b, 23 I, 22 strafbar.
Fall 59 Doppelt untauglicher Versuch und grober Unverstand A hat seiner Freundin B in der Meinung, sie sei im 4. Monat schwanger, und in der Absicht, ihre Leibesfrucht abzutreiben, ein Mittel eingegeben, das hierzu absolut untauglich war (RGSt 34, 217). Ist A wegen versuchten Abbruchs einer Schwangerschaft(§§ 218 I, IV 1, 23 I) strafbar? Lösung
Strafbarkeit des A nach §§ 218, 23 I, 22: 1. Der Tatbestand des § 218 I ist objektiv nicht erfüllt, so daß eine Strafbarkeit des A wegen vollendeten Schwangerschaftsabbruchs nicht in Betracht kommt.
2. A könnte den Versuch eines Schwangerschaftsabbruchs begangen haben. a) Der Versuch eines Schwangerschaftsabbruchs ist strafbar(§§ 218 IV 1, 23 1). b) A wollte die Leibesfrucht abtöten und hatte somit den dem § 218 I entsprechenden T atvorsatz. c) A hat nach seiner Vorstellung zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar angesetzt. Allerdings war die Vollendung des Tatbestandes des § 218 I von vornherein ausgeschlossen, weil der Versuch mit untauglichem Mittel am untauglichen Objekt durchgeführt wurde. Jedoch ist der Grund der Versuchsstrafbarkeit nicht die Gefährdung des geschützten Rechtsguts (so die nicht mehr vertretbare objektive Theorie), sondern der betätigte Wille des Täters zur Auflehnung gegen die Rechtsordnung (vgl. § 22; Eindruckstheorie) (Lehrbuch § 49 II 3). Auch das "untaugliche Ansetzen" zur Tat fällt unter§ 22 (Lehrbuch § 50 I 4). d) Da ein absolut untauglicher Versuch vorliegt, muß geprüft werden, ob nach § 23 111 von Strafe abgesehen bzw. die Strafe gemildert werden kann. Geht man davon aus, daß A ein bekanntermaßen harmloses Mittel verwendete, so hatte er eine völlig abwegige Vorstellung von gemeinhin bekannten naturgesetzliehen Ursachenzusammenhängen. Daher ist ein Handeln "aus grobem Unverstand" nach § 23 III anzunehmen. Ergebnis: A ist einer versuchten Abtreibung schuldig. Das Gericht kann und wird aber nach § 23 III von Strafe absehen.
Fall60 "Untauglichkeit des Tatorts" A plante in allen Einzelheiten, einen Boten B, der regelmäßig Geld transportierte, zu überfallen, ihm die Geldtasche zu entreißen und mit einem bereitgestellten Kraftwagen zu fliehen. Er fuhr mit dem Kraftwagen zu dem geplanten Tatort, der unweit von einer Straßenbahnhaltestelle lag, an der B auszusteigen pflegte.
XI. Versuch und Rücktritt (Lehrbuch§§ 49- 51)
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Dort wartete A; nach seiner Berechnung mußte B alsbald mit der Straßenbahn eintreffen. A hielt Pfeffer, den er B in die Augen streuen wollte, bereit und ließ bei Ankunft einer jeden Straßenbahn den Motor des Wagens anlaufen, um sofort nach der Tat das Weite suchen zu können. Nachdem er vier Straßenbahnen abgewartet hatte, erkannte er, daß B an diesem Tage ausbleiben werde. Einige Zeit später entfernte er sich vom "Tatort" (vgl. BGH NJW 1952, 514). Ist A wegen versuchten schweren Raubes (§§ 250 I Nr. 2, 23 I, 22) zu bestrafen? Lösung
Strafbarkeit des A nach § 250 I Nr. 2, 23 I, 22: A. Der objektive Tatbestand des § 250 I Nr. 2 ist nicht erfüllt. In Betracht kommt jedoch ein Versuch des schweren Raubes (§§ 250 I Nr. 2, 23 I, 22). 1. Der Versuch des schweren Raubes ist strafbar(§ 23 I, 12 1).
2. A wollte dem B mit Gewalt das Geld wegnehmen. Dabei führte er ein Mittel (Pfeffer) bei sich, um den Widerstand des B mit Gewalt zu überwinden. Somit liegt der Tatvorsatz im Sinne des § 250 I Nr. 2 vor. 3. Fraglich ist, ob A nach seiner Vorstellung zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzte (§ 22). A hatte die Angriffsmittel nach seiner Vorstellung in tätige Beziehung zum Angriffsziel gesetzt; zur Vollendung der Tat war seitens des A keine "neue Willensregung" erforderlich. Daß das Opfer B nicht kam, ändert nichts daran, daß der Angriff nach Vorstellung des A unmittelbar bevorstand (kritisch dazu Mezger NJW 1952, 515). Es liegt ein untauglicher Versuch vor (Lehrbuch § 50 I 4) (Fall der Untauglichkeit des Mittels im weiteren Sinne; man könnte auch von "Untauglichkeit des Tatorts" sprechen). B. A kann sich nicht auf strafbefreienden Rücktritt berufen (§ 24 1). Da die Durchführung der Tat aus der Sicht des A unmöglich geworden war, war der Versuch fehlgeschlagen (vgl. oben Fall 58) (Lehrbuch § 51 li 4).
C. Auch ein Absehen von Strafe bzw. eine Strafmilderung nach § 23 III scheidet aus, da A nicht naturgesetzliche Zusammenhänge verkannt hat und somit kein Fall des "groben Unverstandes" vorliegt. Ergebnis: A ist wegen versuchten schweren Raubes nach §§ 250 I Nr. 2, 23 I, 22 strafbar. Fall 61 Untauglicher Versuch und Wahndelikt
A hat in Basel eine Uhr erworben, die er für ein kostbares Erzeugnis der Schweizer Uhrenindustrie hält, die aber in Wirklichkeit nur eine billige Fälschung ist. Er verbirgt sie vor dem deutschen Zollbeamten, da er weiß, daß echte Schweizer Uhren zu verzollen sind, und bringt die Uhr nach Deutschland. a) Versuchte Zollhinterziehung oder Wahndelikt? b) Wie ist der Fall zu beurteilen, wenn die Uhr echt ist, aber diese Art von Uhren ohne Wissen des A soeben von der Liste der zollpflichtigen Waren gestrichen worden wäre?
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
Lösung Fallvariante a): I. Der objektive Tatbestand der Zollhinterziehung ist nicht erfüllt (vgl. §§ 370, 3 I 2 AO).* II. Es könnte eine versuchte Zollhinterziehung vorliegen. 1. Der Versuch der Zollhinterziehung ist strafbar(§ 370 II AO).
2. A will eine Zollhinterziehung begehen. Bei Richtigkeit seiner Vorstellung wäre der objektive Tatbestand der Zollhinterziehung erfüllt; A weitet also in seiner Vorstellung nicht die rechtliche Tragweite des § 370 I AO aus. Es liegt ein umgekehrter Tatbestandsirrtum vor (Kontrollüberlegung: Wäre die Uhr echt und wäre Ader Ansicht, sie sei unecht, so wäre dies ein Tatbestandsirrtum). 3. Da A unmittelbar zur Verwirklichung der Zollhinterziehung angesetzt hat (§ 22), liegt ein Versuch vor. 4. Der Versuch des A war untauglich; da er aber nicht aus grobem Unverstand gehandelt hat, ist § 23 111 nicht anzuwenden. III. Eventuell greift das Verfahrenshindernis des§ 80 ZollG (BGBl 1961 I S. 737) ein (Zollvergehen im Reiseverkehr).
Ergebnis: A ist nach §§ 370 I, II AO, 23 I, 22 StGB strafbar. Fallvariante b):
1., II. 1. (wie bei Fallvariante a). 2. A will eine Zollhinterziehung begehen. Dabei ist aber seine Vorstellung über die Echtheit der Uhr richtig. Nur dehnt A in seiner Vorstellung die rechtliche Reichweite des § 370 AO aus, denn echte Schweizer Uhren sind von der Liste der zollpflichtigen Waren gestrichen worden. Es liegt ein umgekehrter Verbotsirrtum vor (Kontrollüberlegung: Wären echte Uhren in der Liste genannt und meinte A, sie seien gestrichen, so wäre dies ein Verbotsirrtum). A hat also ein strafloses Wahndelikt begangen (Lehrbuch § 50 II 1).
Ergebnis: A ist straffrei. Fall62 Tatbestandsirrtum und Wahndelikt
Zur Sicherung eines Darlehens wollte A seinen Pkw an eine Bank übereignen und schloß mit der Bank den entsprechenden Vertrag. Da kein konkretes Besitzkonstitut vereinbart wurde (§§ 930, 868 BGB), war die Übereignung jedoch unwirksam. Kurze Zeit später veräußerte A den Wagen noch einmal an X, obwohl er das Darlehen noch nicht zurückbezahlt hatte. Dabei ging A von der Vorstellung aus, die erste Übereignung sei wirksam gewesen (vgl. OLG Stuttgart NJW 1962, 65). Ist A wegen versuchter Unterschlagung (§§ 246 II, 23 I, 22) zu bestrafen? • Vgl. den Text von§ 370 AO oben in der Fußnote zu Fall21.
XI. Versuch und Rücktritt (Lehrbuch§§ 49- 51)
79
Lösung I. Strafbarkeit des A nach § 246, 23 I, 22: 1. Da der Pkw bei der Veräußerung an X für A keine fremde Sache war, ist der objektive Tatbestand des § 246 nicht erfüllt. Es könnte aber eine nach § 246 II strafbare versuchte Unterschlagung vorliegen. 2. Voraussetzung dafür wäre zunächst, daß A einen Unterschlagungsvorsatz hatte. Zweifelhaft ist der Vorsatz bezüglich des Tatbestandsmerkmales "fremd". Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man meinen, daß A infolge eines Rechtsirrtums die Reichweite des§ 246 ausgedehnt habe und daß somit ein Wahndelikt vorliege. Jedoch erfaßte A in laienhafter Parallelwertung das Tatbestandsmerkmal "fremd" richtig. A wußte, was "fremd" bedeutet. Lediglich die Vorfrage, ob die Sicherungsübereignung wirksam sei, hat er falsch beurteilt. Obwohl der Irrtum des A ein rechtlicher ist, handelt es sich um einen umgekehrten Tatbestandsirrtum, nicht um einen umgekehrten Verbotsirrtum (Kontrollüberlegung: Wäre die Übereignung wirksam gewesen und hätte A angenommen, sie sei mangels Besitzkonstituts unwirksam, so läge ein Tatbestandsirrtum vor). Mithin hatte A einen Unterschlagungsvorsatz. 3. A hat unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestandes angesetzt (§ 22). Der Versuch des A war untauglich; jedoch hat A dies nicht aus grobem Unverstand verkannt (§ 23 III). 4. Da A den Pkw für anvertraut hielt, liegt ein qualifizierter Unterschlagungsversuch vor (§ 246 I zweite Handlungsform).
II. Strafbarkeit des A wegen versuchten Betruges (§§ 263, 23 I, 22): A könnte außerdem wegen versuchten Betrugs (§§ 263, 23 I, 22) strafbar sein. A wollte dem X vorspiegeln, er sei Eigentümer des Pkw. Er wollte aber dem X keinen Schaden zufügen, denn er ging davon aus, daß er dem X gutgläubig Eigentum werde verschaffen können (§ 932 BGB); zur umstrittenen Frage, ob die "Bemakelung" des gutgläubig erworbenen Eigentums einen Vermögensschaden im Sinne des § 263 darstellt, vgl. zu Recht ablehnend Schönke!Schröder/Cramer § 263 Anm. 111.
Ergebnis: A ist wegen versuchter Veruntreuung(§§ 246 I zweite Handlungsform, 23 I, 22) strafbar. Fall63 Abergläubischer Versuch Die Ehefrau A forderte die Kartenlegerin B, um schneller an das Geld ihres Ehemannes E zu kommen, dazu auf, zusammen mit ihr den E zu töten, und versprach ihr dafür eine Belohnung. Die B hatte die A davon überzeugt, daß sie den Teufel erscheinen lassen könne, der den E holen würde. Zu diesem Zweck gab die A ihr Geld zur Anschaffung des "7. Buches Moses" . Danach trafen sich die Frauen zum "Besieht", d. h. zum Ansichtigwerden des Teufels. Die B sollte dann dem Teufel gegenüber den Wunsch aussprechen, den E zu holen. Der Teufel erschien jedoch nicht. (vgl. RGSt 33, 321). Haben sich A und B strafbar gemacht?
80
Erster Teil: Fälle und Lösungen
Lösung
I. Strafbarkeit von A und B nach §§ 211, 23, 22, 25 II: 1. Der Mordversuch ist strafbar(§§ 211, 23 I, 12 I).
2. A und B wollten gemeinschaftlich (§ 25 II) den E töten. Beide handelten aus Habgier (§ 211). Somit liegt der Vorsatz zum Mord in Mittäterschaft vor. (Dabei wird davon ausgegangen, daß die beiden Frauen ihr Vorhaben ernst nahmen.) 3. Fraglich ist, ob A und B unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestandes ansetzten (§ 22). Daß die Verwirklichung des Tatbestandes von vornherein ausgeschlossen war, schließt ein unmittelbares "Ansetzen" nicht aus (vgl. oben Fall 59). Zwar bestand nach der Vorstellung der Frauen ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen dem "Besieht" und dem Tod des E (vgl. oben Fall 60). Aber trotzdem wird man sagen müssen, daß das Aussprechen des Tötungsverlangens dem Teufel gegenüber eine derartige psychologische Schwelle war, daß es einer neuen Willensregung der Frauen zur Tat bedurft hätte. Das Treffen zum "Besieht" ist daher als Vorbereitungshandlung anzusehen. Ein Mordversuch liegt somit nicht vor. II. Strafbarkeit von A und B nach §§ 211, 30 II: A und B könnten aber wegen Verabredung eines Mordes strafbar sein (§§ 211, 30 II). 1. A und B haben sich dazu verabredet, ein Verbrechen (Mord) in Mittäterschaft zu begehen. Die Verabredung zum untauglichen Versuch eines Verbrechens reicht für § 30 II aus. 2. Der Grund der Versuchsstrafbarkeit liegt darin, daß das Vertrauen der Gemeinschaft auf die Geltung der Rechtsordnung durch die Betätigung des verbrecherischen Willens erschüttert wird. Daher ist auch der untaugliche Versuch strafbar. Der Versuch der A und B wurde aber mit derart lächerlichen Mitteln unternommen, daß eine Beunruhigung der Rechtsgemeinschaft dadurch nicht zu befürchten ist. Man könnte dem dadurch Rechnung tragen, daß man nach § 23 111 von Strafe absieht. Jedoch war bereits vor der Einführung dieser Vorschrift anerkannt, daß der abergläubische Versuch gar nicht strafbar ist. Da durch das Zweite Strafrechtsreformgesetz eine Verschärfung der Rechtslage in dieser Frage nicht beabsichtigt war, muß angenommen werden, daß der abergläubische Versuch weiterhin straffrei bleiben sollte und daß § 23 III, der nur ein Absehen von Strafe ermöglicht, auf diesen Fall nicht anzuwenden ist. Da der abergläubische Versuch der beiden Frauen nicht strafbar wäre, kann auch die Verabredung zum abergläubischen Versuch nicht strafbar sein. Ergebnis: A und B können nicht bestraft werden. Fal164
Rücktritt bei natürlicher Handlungseinheit A beschloß, seine Stieftochter S zu töten. Als er allein mit ihr in der gemeinsamen Wohnung war, versetzte er ihr mit einer Rohrzange von hinten einen heftigen Schlag auf den Kopf. Er nahm an, der Schlag werde die S sofort töten. Sie war jedoch nur benommen. A erkannte dies zwar sofort, sah aber von weiteren Schlägen ab (vgl. BGHSt 22, 176). Wie hat sich A strafbar gemacht?
XI. Versuch und Rücktritt (Lehrbuch§§ 49- 51)
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Lösung
I. Strafbarkeit des A nach §§ 211, 23 I, 22:
Da der objektive Tatbestand des § 211 nicht erfüllt ist, kommt eine Strafbarkeit des A nur wegen versuchten Mordes in Betracht(§§ 211, 23 I, 12 1). A. A wollte die S heimtückisch töten (Mordvorsatz). B. Mit dem Schlag auf den Kopf hat er unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestandes angesetzt (§ 22). Ein Mordversuch liegt daher vor.
C. Die Strafbarkeit des A wegen Mordversuchs könnte aber nach § 24 I wegen Rücktritts ausgeschlossen sein. Entscheidend hierfür ist, ob der Versuch des A beendet oder unbeendet war. Denn läge ein beendeter Versuch vor, so wäre dieser fehlgeschlagen, und eine Abwendung des Erfolges im Sinne des § 24 I 1 zweite Alternative wäre nicht mehr möglich (vgl. oben Fall 60). Wie der beendete vom unbeendeten Versuch abzugrenzen ist, ist umstritten: a) Nach der Rechtsprechung kommt es darauf an, ob der Täter alles nach seiner Vorstellung zur Verwirklichung der Tat Erforderliche getan hat. Entscheidend ist danach, ob A von vornherein einkalkuliert hat, daß ein Schlag nicht ausreichen würde, oder ob er davon überzeugt war, daß ein Schlag ausreichen würde. Gegen diese Auffassung ist einzuwenden, daß sie den umsichtigen Täter, der alle Möglichkeiten des Tatverlaufs mitberechnet, günstiger stellt als den unbedachten Täter, der nur die erste Tathandlung ins Auge faßt (Lehrbuch § 51 II 3a). b) Nach anderer Auffassung ist der Versuch unbeendet, wenn der Täter den Versuch fortsetzen könnte und die den ersten Angriff fortsetzenden Handlungen mit dem bereits verwirklichten Geschehen eine natürliche Handlungseinheit (Lehrbuch § 66 III 2) bilden würden (Lehrbuch §51 II 3c). Hätte A weitere Schläge ausgeführt, so wäre eine einheitliche Tötungshandlung auch dann gegeben, wenn A zunächst mit einem Schlag töten wollte. Der Versuch des A war somit unbeendet. Da A nicht durch äußere Einflüsse an der Vollendung der Tat gehindert wurde, ist anzunehmen, daß er freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgab. A kann daher nicht wegen versuchten Mordes bestraft werden. II. Strafbarkeit des A nach § 223 a: A. A hat die B mit einem gefährlichen Werkzeug körperlich mißhandelt(§ 223a I erste Handlungsform). Auch eine das Leben gefährdende Behandlung (§ 223 a vierte Handlungsform) liegt vor. Der Tötungsvorsatz enthält in sich den Körperverletzungsvorsatz (sog. "Einheitstheorie", vgl. BGHSt 16, 122). B. § 24 I greift nicht ein, weil nach dieser Vorschrift nur "wegen Versuchs" nicht bestraft wird. Ist in dem Versuch eine vollendete Straftat enthalten, so bleibt diese trotz des freiwilligen Rücktritts strafbar (qualifizierter Versuch) (Lehrbuch § 51 VI 2). Die Strafbarkeit kann jedoch nicht auf den Gesichtspunkt der das Leben gefährdenden Behandlung gestützt werden, da der Rücktritt vom Mordversuch auch die im Sondertatbestand des § 223 a erfaßte Lebensgefährdung einschließt (Lehrbuch§ 51 VI 2 a.E.). Ergebnis: A kann nicht wegen versuchten Mordes, wohl aber wegen vollendeter gefährlicher Körperverletzung nach § 223a bestraft werden. 6 Fälle und Lösungen, 3. A.
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
Fall65 Freiwilligkeit des Rücktritts bei Überlistung
A traf beim Spazierengehen im Wald die ihm bis dahin unbekannte B. Nach einigen Worten umfaßte er sie und warf sie zu Boden, um gewaltsam mit ihr geschlechtlich zu verkehren. Er versuchte, sie zu küssen, und faßte ihr an die Brust. Die körperlich unterlegene B setzte sich nicht zur Wehr, sondern forderte den A auf, es doch nicht mit Gewalt zu versuchen. Sie sollten sich erst etwas ausruhen, und wenn er dann noch mit ihr verkehren wolle, könne er das ohne Gewalt haben. Die B hoffte, hierdurch Zeit zu gewinnen. A ließ auf diese Worte von ihr ab, und beide standen auf. Als die B in einiger Entfernung Spaziergänger erblickte, rief sie um Hilfe. A entfloh (vgl. BGHSt 7, 296). Hat sich A wegen versuchter Vergewaltigung(§§ 177, 23 I, 22) strafbar gemacht? Lösung I. Strafbarkeit des A nach §§ 177, 23 I, 22:
A. A hat versucht, die B zu vergewaltigen (§§ 177 I, 23 I, 12 I, 22). B. Er könnte sich jedoch durch Rücktritt Straffreiheit verdient haben (§ 24 I). a) Der Versuch des A war unbeendet (§ 24 I 1 erste Alternative). b) A hat die weitere Ausführung der Tat endgültig aufgegeben. Zu seinen Gunsten ist davon auszugehen, daß er nach dem Zureden der B nur noch gewaltlos zum Ziel gelangen wollte. c) Zweifelhaft ist, ob A den Tatvorsatz freiwillig aufgegeben hat. Freiwillig ist der durch autonome Motive veranlaßte Entschluß, nicht weiterzuhandeln. Das Motiv des Rücktritts braucht nicht "sittlich wertvoll" zu sein (Lehrbuch § 51 III 2). Insbesondere ist nicht erforderlich, daß der Täter von Reue getrieben wird. Die Aufgabe des Tatentschlusses war im vorliegenden Fall nicht durch äußeren Zwang veranlaßt. Es lag auch kein innerer psychischer Zwang vor, denn A hätte die Vergewaltigung auch nach dem Zureden der B noch durchführen können, bevor die Spaziergänger auftauchten. A ist daher strafbefreiend vom Versuch der Vergewaltigung zurückgetreten (§ 24 I 1 erste Alternative). II. Strafbarkeit des A nach § 178: A. A hat mit Gewalt die B zu Boden geworfen, sich auf sie gelegt und ihr an die Brust gefaßt. Darin liegt eine Nötigung zur Duldung einer sexuellen Handlung (vgl. § 184c Nr. 1). B. Nach § 24 I bleibt nur der Versuch selbst straffrei. A ist also nach § 178 zu bestrafen. Ergebnis: A kann nach § 178 wegen sexueller Nötigung, nicht aber wegen versuchter Vergewaltigung bestraft werden.
Fall66 Rücktritt vom beendeten Versuch
Nach einem Streit wurde A gegen B handgreiflich. Da B sich überraschend stark wehrte, griff A zu einem herumliegenden Vierkantholz und schlug mit diesem den
XI. Versuch und Rücktritt (Lehrbuch§§ 49- 51)
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B kampfunfähig. Bei diesen Schlägen erkannte A die Möglichkeit, daß B tödliche Verletzungen erleiden könnte. Nachdem A sich vom Tatort entfernt hatte, kamen ihm Bedenken, den B möglicherweise sterben zu lassen. Er beschloß, von einer Gaststätte in der Nähe des Tatorts den Krankenwagen herbeizurufen. Als er dorthin ging, sah er, daß sich andere Personen um B bemühten. Daher rief er den Krankenwagen nicht herbei. B überlebte. Es wurde festgestellt, daß seine Verletzungen auch ohne ärztliche Hilfe nicht tödlich gewesen wären (vgl. BGH NJW 1973, 632). Ist A vom Totschlagsversuch strafbefreiend zurückgetreten?
Lösung Strafbarkeit des A nach §§ 212, 23 I, 22: A. A hat mit Eventualvorsatz versucht, den B zu töten(§§ 212, 23 I, 12 I, 22). B. Er könnte strafbefreiend vom Totschlagsversuch zurückgetreten sein (§ 24 1). a) Fraglich ist zunächst, ob der Versuch des A beendet oder unbeendet war. A hatte objektiv nicht alles Erforderliche getan, um B zu töten. Auch nach seiner Vorstellung hatte A noch nicht alles Erforderliche getan, damit der Tod des B mit Sicherheit eintrat. Aber schon der Umstand, daß A den Tod des B für möglich hielt, machte den Versuch zum beendeten (vgl. BGHSt 14, 75 [80]); andererseits oben Fall 64). b) Nach § 24 I 1 zweite Alternative hätte A die Vollendung der Tat verhindern müssen, um sich Straffreiheit zu verdienen. Da die Verletzungen des B nicht tödlich waren, reicht es nach § 24 I 2 aus, daß A sich ernsthaft und freiwillig darum bemüht hat, den Tod zu verhindern. Welche Anforderungen an die Erfolgsabwendungsbemühungen zu richten sind, ist im Einzelfall schwierig zu sagen. Sicherlich reicht ein bloßer Gesinnungswandel beim Täter nicht aus; umgekehrt wird man nicht verlangen können, daß der Täter alle denkbaren Möglichkeiten ausschöpft. Nach Auffassung des BGH (NJW 1973, 632 [633)) muß "der Täter die Handlungsreihe, die den Erfolg abwenden soll, bereits in einer Weise in Gang gesetzt haben, die sein Vorhaben nach außen eindeutig erkennen läßt, andernfalls könnte er sich immer auf eine solche Absicht herausreden". Diese Voraussetzungen liegen bei A nicht vor. Daher kommt ihm § 24 I 2 nicht zugute.
Ergebnis: A ist nach§§ 212, 23 I, 22 zu bestrafen. Fall 67 Freiwilligkeit des Rücktritts beim Erkanntwerden durch das Opfer A wartete in seinem Volkswagen auf einer Landstraße auf seine frühere Freundin F. F näherte sich auf ihrem Fahrrad. Im Vorbeifahren rief sie A zu, daß es zwischen ihnen aus sei. A wartete etwa 2 Minuten, folgte ihr und fuhr sie dann von hinten mit seinem Wagen an, so daß sie gegen die Vorderhaube geschleudert wurde und von dort auf die Straße fiel. A handelte mit bedingtem Tötungsvorsatz. F erlitt schwere Verletzungen. A wußte nicht, ob F sich selbst werde helfen können. Da er nun Mitleid mit F bekam, holte er einen Arzt, mit dessen Hilfe die F gerettet wurde (vgl. BGHSt 24, 48). Wie hat sich A strafbar gemacht? 6*
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
Lösung
I. Strafbarkeit des A nach §§ 212, 23 I, 22:
A. A wollte die F bedingt vorsätzlich töten. Zur Verwirklichung des Tatbestandes des § 212 hat er unmittelbar angesetzt(§ 22). Somit liegt ein Totschlagsversuch vor. B. A könnte jedoch strafbefreiend zurückgetreten sein. a) Der Versuch des A war beendet (vgl. oben Fall 66). b) A hat die Vollendung der Tat verhindert. Er hat zwar nicht selbst der F geholfen; aber § 24 I verlangt nicht die eigenhändige Verhinderung des Erfolges. c) Fraglich ist, ob A die F freiwillig rettete. Dem A wäre die Fortführung der Tat objektiv möglich gewesen. Die Freiwilligkeit fehlt aber auch dann, wenn sich der Täter einer für ihn nachteiligen wesentlich anderen Sachlage gegenübersieht und deshalb von der Tat Abstand nimmt. Hier könnte sich für A nachträglich das Risiko erhöht haben, weil die F den A kannte und sich möglicherweise selbst hätte helfen können. Bei der Frage, ob die Entdeckung der Tat die Freiwilligkeit ausschließt, sind folgende Fallgruppen zu unterscheiden: 1. Nimmt der Täter von der Tat Abstand, weil er meint, ein Dritter habe seine Tat als kriminelle erkannt, so handelt er nicht freiwillig. Denn vernünftigerweise setzt ein Täter in diesem Fall seine Tat nicht fort.
2. Erkennt der Verletzte die Tat in ihrem kriminellen Gehalt, so ist ein freiwilliger Rücktritt nicht schlechthin ausgeschlossen. Entscheidend ist, ob das Opfer nach der Vorstellung des Täters den Erfolg verhindern oder eine Strafverfolgung gegen den Täter einleiten kann. Als sich A zur Rettung der F entschloß, war er sich nicht sicher, ob die F auch ohne sein Eingreifen überleben und eine Strafverfolgung einleiten würde. Das Risiko für A hatte sich somit erhöht, aber man wird nicht sagen können, daß die Fortführung der Tat sinnlos gewesen wäre. Denn A hatte noch eine reelle Chance, ungestraft davonzukommen. Daher hat er freiwillig von der Tat Abstand genommen (vgl. dagegen BGHSt 24, 40 zu § 46 Nr. 2 a.F.) (Lehrbuch § 51 IV 2). A ist nicht nach §§ 212, 23 I, 22, 12 I strafbar. II. Strafbarkeit des A nach § 223 a: A. A hat mit einem gefährlichen Werkzeug die F körperlich mißhandelt und an der Gesundheit beschädigt (§ 223a I erste Handlungsform). Der Tötungsvorsatz enthält den Körperverletzungsvorsatz (vgl. oben Fall 64). B. § 24 I wirkt nur für den Versuch selbst strafbefreiend. Die "lebensgefährdende Behandlung" der F wird durch den strafbefreienden Rücktritt vom Totschlagsversuch mitumfaßt (vgl. oben Fall 64). Ergebnis: A ist nicht nach §§ 212, 23 I, wohl aber nach § 223a wegen gefährlicher Körperverletzung zu bestrafen. Fall 68
Freiwilligkeit des Rücktritts bei enttäuschender Beute A und B gingen spazieren. In einem Garten sahen sie hinter dem Lattenzaun einen roten Gegenstand, den sie für einen Gummiball hielten, der aber in Wirklich-
XL Versuch und Rücktritt (Lehrbuch§§ 49- 51)
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keit eine Holzkugel war. A wollte den "Ball" seinen Kindern schenken und forderte B auf, durch den Zaun zu greifen, um ihn zu holen. B tat dies, ließ aber, nachdem er den Irrtum bemerkte, die Holzkugelliegen (vgl. RGSt 39, 37). Wie ist die Strafbarkeit von A und B zu beurteilen? Lösung
I. Strafbarkeit des B nach §§ 242, 248a, 23 I, 22:
A. Der Diebstahlsversuch ist strafbar (§§ 242 II, 23 I). B. B wollte eine fremde bewegliche Sache wegnehmen. Er wollte aber den Gummiball nicht sich, sondern dem A zueignen. B wollte auch nicht für sich durch die Tat einen "Vorteil wirtschaftlicher Art" {vgl. Schönke/Schröder/ Eser § 242 Anm. 62) erlangen. Da B den Ball nicht sich selbst zueignen wollte, fehlt die für eigene Täterschaft erforderliche Zueignungsabsicht. Zur Beihilfe vgl. unten III. II. Strafbarkeit des A nach §§ 242, 23 I, 22: A. A wollte, daß der Ball weggenommen wird, damit er sich diesen zueignen könne. Allerdings überließ er die Wegnahme dem B, so daß man daran zweifeln könnte, ob A Täter sein wollte. A hatte - rein tatsächlich betrachtet - nicht die T atherrschaft. Da dem eigentlich tatbeherrschenden B die Zueignungsahsicht fehlt, verlagert sich die - normativ verstandene - Tatherrschaft auf A (Lehrbuch § 62 II 7). A wollte den Diebstahl "durch einen anderen" begehen (vgl. § 25 I zweite Alternative). B sollte sein "Werkzeug" sein.
B. A hat mit Hilfe seines Werkzeuges unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestandes angesetzt (§ 22). Er selbst hatte auch die Zueignungsabsicht. Ein Diebstahlsversuch liegt also vor. C. A könnte jedoch strafbefreiend vom Versuch zurückgetreten sein (§ 24 1).
a) Zweifelhaft ist indessen schon, ob A und nicht vielmehr nur B die Vollendung der Tat verhindert hat (§ 24 II). Da B das Tatmotiv und die Absicht des A kannte, wird man aber sagen müssen, daß er in "bewußter Willensvertretung" des A handelte. In diesem Fall kommt über den Wortlaut des § 24 II hinaus der Rücktritt des Werkzeuges auch dem mittelbaren Täter zugute (Lehrbuch §51 VI 3). b) Fraglich ist weiter, ob der Versuch des A unbeendet oder beendet war. Er wäre beendet gewesen, wenn A alles nach seiner Vorstellung zur Vollendung der Tat Erforderliche getan hätte. Dabei sind zwei Betrachtungsweisen denkbar: Man könnte sagen, A hat für die Wegnahme des "roten Gegenstandes" noch nicht alles Erforderliche getan. Oder man sagt, A habe erkannt, daß der Diebstahl "eines Gummiballs" gar nicht möglich und der Versuch deswegen fehlgeschlagen sei. Läge ein fehlgeschlagener Versuch vor, so wäre es müßig zu fragen, ob er beendet oder unbeendet ist, denn auf jeden Fall ist beim - vom Täter erkannt - fehlgeschlagenen Versuch ein strafbefreiender Rücktritt nicht mehr möglich (Lehrbuch § 51 II 4). Welche der beiden Betrachtungsweisen den Vorzug verdient, hängt davon ab, welche Vorstellung der Täter vor Beginn der Tat hinsichtlich der erwarteten Beute hat. Ist er auf einen bestimmten Gegenstand festgelegt, den er nicht vorfindet, oder ist der vorgefundene Gegenstand nicht für seine Zwecke geeignet, so liegt ein fehlgeschlagener Versuch vor. Die Frage des Rücktritts braucht dann nicht mehr erörtert zu werden. Im vorliegenden Fall hätte A zwar seinen Kindern auch eine rote
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
Holzkugel schenken können. Aber ein Gummiball ist für Kinder ein wesentlich willkommeneres Geschenk. Während eine Holzkugel nur für Kleinkinder interessant ist, ist ein Gummiball für Kinder jeden Alters ein beliebtes Spielzeug. Daher muß angenommen werden, daß es dem A gerade darauf ankam, einen Gummiball zu stehlen. Sein Versuch ist mithin fehlgeschlagen (vgl. dagegen RGSt 39, 37 [41]). Ein Rücktritt kommt deswegen nicht in Betracht. c) Gegenüber dem unter b) Gesagten unterstellt die Rechtsprechung die Möglichkeit des Rücktritts vom fehlgeschlagenen Versuch (z.B. BGHSt 4, 56 [59f.]), kommt aber, weil nicht freiwillig von der Tat Abstand genommen wurde, zum gleichen Ergebnis. D. Die Tat wird nur unter den Voraussetzungen des § 248a verfolgt.
Ergebnis: A ist wegen versuchten Diebstahls nach §§ 242, 23 I, 22 strafbar. III. Strafbarkeit des B nach §§ 242, 23 I, 22, 27:
A. B hat dem A beim Diebstahlsversuch geholfen. Somit liegt eine Beihilfe zum versuchten Diebstahl vor (§ 27). B. Auch für den Gehilfen gibt es keinen Rücktritt vom fehlgeschlagenen Versuch nach§ 24 II.
C. Die Tat wird nur unter den Voraussetzungen des § 248a verfolgt.
Ergebnis: B ist wegen Beihilfe zum versuchten Diebstahl (§§ 242, 22, 27) strafbar.
XII. Das fahrlässige Begehungsverbrechen und das Unterlassungsverbrechen Lehrbuch §§ 54 - 60 Fall69 Fahrlässigkeit und Schutzzweck der Norm A und B fuhren nachts mit unbeleuchteten Fahrrädern auf einer Landstraße. B fuhr in der Straßenmitte, A folgte ihm in wenigen Metern Abstand auf der rechten Straßenseite. An einer Wegegabelung stieß das Rad des B, der wegen Wind und Regen mit gesenktem Kopf fuhr, mit dem entgegenkommenden Fahrrad des X zusammen, das gleichfalls nicht beleuchtet war. X stürzte vom Rad und verletzte sich tödlich. Wäre das Fahrrad des A beleuchtet gewesen, so hätte X aller Wahrscheinlichkeit nach das Fahrrad des B erkannt und hätte ausweichen können (vgl. RGSt 63, 392). Ist A wegen fahrlässiger Tötung (§ 222) strafbar?
Lösung Strafbarkeit des A nach § 222: a) A verhielt sich sorgfaltspflichtwidrig, indem er mit emem unbeleuchteten Fahrrad fuhr(§ 17 I StVO).
XII. Begehungsverbrechen und Unterlassungsverbrechen (Lehrbuch§§ 54 - 60)
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b) Fraglich ist, ob die Sorgfaltspflichtwidrigkeit in einem Tun (Fahren ohne Licht) oder in einem Unterlassen (Nichteinschalten des Lichts) liegt. Der Unterschied ist bedeutsam, weil das Unterlassen einer Erfolgsahwendung nur unter besonderen Voraussetzungen (§ 13 I) strafbar ist. Rechtsprechung und überwiegende Lehre stellen bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen darauf ab, wo nach dem "sozialen Sinngehalt" der Tat der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt. Dies aber ist im Einzelfall - wie gerade der vorliegende Sachverhalt zeigt - schwer zu entscheiden. Richtiger erscheint es deswegen, immer dann auf das positive Tun abzustellen, wenn dieses objektiv tatbestandsmäßig war und den Erfolg verursacht hat (Kausalitätskriterium) (Lehrbuch § 58 II 2). c) Das Fahren ohne Licht (positives Tun) hat den Tod des X zur Folge gehabt (gesetzmäßiger Zusammenhang) (Lehrbuch § 28 II 4). d) Weiter muß geprüft werden, ob der Tod des X dem A objektiv zugerechnet werden kann. Die von A verletzte Pflicht aus § 17 I StVO hat den Sinn, das zu beleuchtende Fahrzeug selbst kenntlich zu machen und dem Fahrer des zu beleuchtenden Fahrzeugs Sicht zu verschaffen. Dagegen hat die dem A obliegende Beleuchtungspflicht nicht den Sinn, das Fahrrad des B so zu beleuchten, daß es X sehen kann. Der Tod des X ist also nicht ein Erfolg, zu dessen Vermeidung die Beleuchtungspflicht des A dient; der Erfolg liegt vielmehr außerhalb des Schutzbereiches der verletzten Norm (Lehrbuch §55 II 2b bb). Daher kann der Tod des X nicht der Pflichtverletzung durch A zugerechnet werden (vgl. oben Fall 31). Der objektive Tatbestand des § 222 ist nicht erfüllt. Ergebnis: A ist nicht wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 strafbar. Es liegt jedoch eine Ordnungswidrigkeit nach§§ 24 StVG, 49 I Nr. 17, 17 I StVO vor (vgl. oben Fall 11).
Fall 70 Garantenstellung aus natürlicher Verbundenheit Der 18jährige im Elternhaus lebende Sohn S wußte, ohne in den Mordplan einbezogen zu sein, daß seine Mutter M und der ältere Bruder B beschlossen hatten, den Ehemann und Vater V gemeinschaftlich umzubringen. Er unternahm jedoch nichts, sondern verhielt sich abwartend. V wurde von den beiden anderen getötet (vgl. BGHSt 19, 167). Ist S strafbar? Lösung
I. Strafbarkeit wegen eines echten Unterlassungsdelikts: a) § 330c greift nicht ein, weil ein nur geplantes Verbrechen kein Unglücksfall ist. b) Dagegen erfüllt das Verhalten des S den Tatbestand des § 138 I Nr. 6, ohne daß S der Entschuldigungsgrund des § 139 III zugute käme, da es sich bei der geplanten Tötung entweder nach § 211 um einen Mord (Heimtücke) oder nach § 212 um einen Totschlag handelt. II. Strafbarkeit wegen eines unechten Unterlassungsdeliktes (§ 13 I): S könnte einen Totschlag durch Unterlassen begangen haben(§§ 212, 13). a) Allerdings hat S das Geschehen, das zum Tod des V führte, weder beherrscht, noch hatte er den Willen, V selbst zu töten. Er ist daher nicht Täter eines Tot-
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
schlags (§ 25 I), sondern allenfalls Gehilfe(§ 27) (Lehrbuch § 64 IV 5). DaßMund B nichts von der Unterstützung durch S wußten, schließt nicht aus, daß S Gehilfe war ("heimliche Beihilfe"; Lehrbuch § 64 IV 1). b) S hat nichts unternommen, um die Tötung des V zu verhindern. c) Dieses Unterlassen war nach der von der Rechtsprechung verwendeten Formel dann ursächlich für den Tod des V, wenn die zu erwartende Handlung den tatbestandsmäßigen Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte (Lehrbuch § 59 111 4). Hätte S den V gewarnt, hätte er Anzeige erstattet oder hätte er M und B dies angedroht, so wäre V mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht getötet worden. d) Fraglich ist, ob S rechtlich dafür einzustehen hatte (vgl. § 13 1), daß der Tod des V nicht eintrat, d. h. ob er eine Garantenstellung hatte. Auch der Gehilfe durch Unterlassen ist nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 13 I strafbar. Im Sinne des § 13 hat für das Nichteintreten des tatbestandsmäßigen Erfolges "rechtlich einzustehen", wer Schutzpflichten in bezug auf bestimmte Rechtsgüter hat (wegen natürlicher Verbundenheit, enger Gemeinschaftsbeziehungen oder freiwilliger Übernahme) oder wer für bestimmte Gefahrenquellen verantwortlich ist (vorausgegangenes gefährdendes Tun, "Verkehrssicherungspflicht", Garantenstellung für das Handeln dritter Personen) (Lehrbuch § 59 IV 3 und 4). aa) Echte Unterlassungstatbestände (hier: § 138) begründen keine Garantenpflicht im Sinne des § 13 (Lehrbuch § 59 IV 2). bb) S haftet auch nicht als Garant für das Handeln seiner Mutter und seines Bruders. Eine derartige Pflicht zur Verhinderung von Straftaten von Familienangehörigen würde zu einer Art "Sippenhaft" führen und ist daher abzulehnen (Lehrbuch § 59 IV 4c). cc) S könnte aber V gegenüber verpflichtet gewesen sein, dessen Leben vor dem Mordanschlag von M und B zu schützen. Ob eine Garantenstellung kraft natürlicher Verbundenheit besteht, hängt vom Grad der Verwandtschaft, von der Intensität des häuslichen Zusammenlebens, vom Wert des bedrohten Rechtsgutes und von anderen Umständen ab. Formelle Regeln lassen sich hier nicht aufstellen: während bei Verwandten in gerader Linie meist auch ohne häusliche Gemeinschaft eine Garantenstellung aus natürlicher Verbundenheit anzunehmen ist, kann bei intensiver häuslicher Gemeinschaft auch ohne familienrechtliche Beziehung eine Garantenstellung aus diesem Rechtsgrund zu bejahen sein. S, der als Achtzehnjähriger zur Hilfe fähig war, war mit V in gerader Linie und im ersten Grade verwandt (§ 1589 BGB) und lebte in häuslicher Gemeinschaft mit seinem Vater. Daher hatte er eine Garantenstellung (Lehrbuch § 59 IV 3a). e) S hatte den doppelten Gehilfenvorsatz. Er fand sich damit ab, daß M und B den V töteten und daß sie durch seine eigene Untätigkeit nicht daran gehindert wurden. Außerdem kannte er die Umstände, aus denen sich seine Garantenstellung ergab. Falls er seine Pflicht zum Handeln nicht erkannte, so lag darin ein (vermeidbarer) Verbotsirrtum (§ 17), der seinen Vorsatz unberührt läßt (Lehrbuch § 60 I 2).
f) Schließlich war es dem S auch zumutbar, zur Rettung des Lebens des V einzugreifen. Zwar mußte er hierfür unter Umständen M und B der Strafjustiz ausliefern, aber nach der abwägenden Regelung des Gesetzes in § 139 111, gegen deren entsprechende Anwendung auf den vorliegenden Sachverhalt keine Bedenken bestehen, ist S nicht entschuldigt (Lehrbuch § 59 VIII 2).
XII. Begehungsverbrechen und Unterlassungsverbrechen (Lehrbuch§§ 54 - 60)
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g) Das zweite Gleichstellungskriterium, wonach das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entsprechen muß (§ 13 I zweiter Halbsatz), kommt im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung, da für die Beihilfe in § 27 keine besonderen Handlungsmerkmale aufgestellt sind (Lehrbuch § 59 V 1). 111. Konkurrenzen: Die Nichtanzeige einer geplanten Straftat (§ 138) tritt neben dem durch die Nichtanzeige begangenen Unterlassungsdelikt als subsidiäre Strafvorschrift zurück (Lehrbuch § 69 II 2b). Ergebnis: S ist wegen Beihilfe zum Totschlag oder (je nach den Modalitäten der Haupttat) zum Mord (§§ 211 bzw. 212, 27, 13 I) strafbar; die Strafe kann nach § 13 II gemildert werden (doppelte Milderung; Lehrbuch § 49 V 2). Die altersmäßige Verantwortlichkeit des S ergibt sich aus §§ 1, 105 JGG.
Fall 71 Garantenstellung aus vorangegangenem gefährdenden Tun A überfuhr infolge Alkoholgenusses mit seinem Pkw einen quer auf der Landstraße liegenden Betrunkenen B, der infolgedessen etwa zwei Stunden später starb und mit größer Wahrscheinlichkeit auch bei sofortiger ärztlicher Behandlung nicht mehr hätte gerettet werden können. A hielt sein Fahrzeug an und betrachtete mit seinen Begleitern den Verunglückten, der noch Lebenszeichen von sich gab. Nachdem das Herbeiholen von Hilfe erörtert worden war, überredete A, weil er Alkohol getrunken hatte, seine Begleiter zum Weiterfahren, verpflichtete sie zum Schweigen und fuhr nach Hause, ohne sich weiter um B zu kümmern (vgl. BGHSt 7, 287). Wie ist die Strafbarkeit des A zu beurteilen? Lösung I. Strafbarkeit des A bis zum Unfall:
A ist wegen fahrlässiger Tötung (§ 222) und in Tateinheit damit begangener fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs (§§ 315c I Nr. 1 a, III, 52) verantwortlich. Die Trunkenheit im Verkehr(§ 316) tritt als subsidiäre Strafvorschrift zurück (formelle Subsidiarität; Lehrbuch § 69 II 2). li. Strafbarkeit des A nach dem Unfall: A. A könnte einen Totschlag durch Unterlassen begangen haben (§§ 212, 13 1). Die Verwirklichung des Tatbestandes der fahrlässigen Tötung nach § 222 schließt nicht aus, daß A den Tod auch noch durch vorsätzliches Unterlassen herbeigeführt hat. Zugunsten des A muß jedoch davon ausgegangen werden, daß der Tod des B trotz der von A zu erwartenden Hilfe eingetreten wäre. Da demnach die unterlassene Hilfe nicht ursächlich für den Tod des B war, ist der objektive Tatbestand des § 212 nicht erfüllt. B. Es könnte aber ein Totschlagsversuch vorliegen(§§ 212, 23 I, 12 I, 22). a) Als A mit seinen Begleitern sich vom Unfallort entfernte, fand er sich mit der von ihm erkannten Möglichkeit ab, daß er den Tod des B verursachen würde (zum Vorsatz beim Unterlassungsdelikt Lehrbuch § 59 VI).
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
b) Da A die Notlage des B durch pflichtwidriges gefährdendes Tun herbeigeführt hatte, war er Garant für das Leben des B (§ 13 I) (Lehrbuch § 59 IV 4a). Die Umstände, welche die Garantenstellung begründeten, waren ihm bekannt. c) Nach § 22 ist weiter erforderlich, daß A unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestandes ansetzte. Während Einigkeit darüber herrscht, daß der Versuch eines unechten Unterlassungsdeliktes nach allgemeinen Grundsätzen strafbar ist, ist umstritten, wie der auf Begehungsdelikte zugeschnittene § 22 beim Unterlassungsdelikt zu interpretieren ist. Entgegen der h. L., nach der das "Ansetzen" schon im Verstreichenlassen der ersten Rettungsmöglichkeit liegt, ist auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem durch die Verzögerung der rechtlich gebotenen Handlung eine unmittelbare Gefahr für das geschützte Rechtsgut entsteht (Lehrbuch § 60 II 2). Nach der hier vertretenen engeren Auffassung setzte A, als er die Unfallstelle verließ, zur Tatbestandsverwirklichung an, da der Verletzte B von diesem Zeitpunkt an ohne jede Hilfe und völlig schutzlos war. Also liegt ein Totschlagsversuch vor. d) Da B nicht mehr zu retten war, war der Versuch untauglich. Jedoch greift § 23 III nicht ein. e) Das zweite Gleichstellungskriterium, wonach das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entsprechen muß (§ 13 I zweiter Halbsatz), greift nicht ein, da § 212 besondere Handlungsmerkmale nicht enthält (vgl. oben Fall 70) (Lehrbuch § 59 V 1). C. A könnte auch einen Mordversuch begangen haben. Als Mordmerkmal kommt "Verdecken einer Straftat" in Betracht, da A dem B nicht geholfen hat, um seine Teilnahme am Straßenverkehr im Zustand der Trunkenheit zu verbergen. Jedoch war die Tötung nicht- wie § 211 voraussetzt- das Mittel des Verdeckens, sondern nur notwendige Folge der Flucht (anders wäre es, wenn A den B als Belastungszeugen hätte aus dem Weg räumen wollen, was jedoch nicht angenommen werden kann, weil B den A bei der Tat nicht erkannt hatte). Außerdem ist das bloße Sichentfernen vom Tatort noch kein "Verdecken". Mithin liegt kein Mordversuch vor. D. Mit der Weiterfahrt hat A außerdem die Tatbestände des unerlaubten Sichentfernens vom Unfallort (§ 142) und der tateinheitlich damit begangenen Trunkenheit im Verkehr(§ 316) verwirklicht. 111. Konkurrenzen: Nach der Rechtsprechung besteht zwischen der Fahrt vor und nach einem Unfall grundsätzlich Tatmehrheit (vgl. insbes. BGHSt 21, 263). Hier muß jedoch etwas anderes gelten, weil die fahrlässige Tötung mit dem versuchten Totschlag in dem übereinstimmenden Tatumstand des Todes des B zusammentrifft (anders BGHSt 7, 287). Es besteht daher Tateinheit. Auch die unerlaubte Entfernung steht mit dem versuchten Totschlag in Tateinheit, da die Unterlassung der Rettungshandlung in dem Wegfahren vom Unfallort liegt. § 316 tritt zurück (formelle Subsidiarität). Ergebnis: A ist wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung, versuchtem Totschlag und unerlaubtem Sichentfernen vom Unfallort strafbar(§§ 315c I Nr. 1 a, III; 222; 212, 22, 13; 142; 52).
XII. Begehungsverbrechen und Unterlassungsverbrechen (Lehrbuch§§ 54 - 60)
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Fall 72 Keine Garantenpflicht bei sozialadäquatem Vorverhalten A betreibt eine Gastwirtschaft. Gegen Mitternacht kehrten bei ihm zwei Gäste ein, die schon vorher Alkohol getrunken hatten. In der Gastwirtschaft knobelten sie zusammen mit A zwölf Runden Whisky aus. Gegen 3.00 Uhr wollten sie mit einem Pkw wegfahren. A erkannte, daß keiner von ihnen mehr sicher fahren konnte, und riet, eine Taxe zu nehmen. Der Ratschlag wurde nicht befolgt. Der Blutalkoholgehalt betrug bei dem, der den Wagen führte, und bei dem mitfahrenden Halter je 2,00 %o. Auf der Fahrt kam der Wagen infolge der Fahruntüchtigkeit des Fahrers von der Straße ab und überschlug sich. Beide Insassen wurden verletzt (vgl. BGHSt 19, 152). Hat sich A strafbar gemacht?
Lösung
I. Strafbarkeit des A nach § 230: A. Das Ausschenken des Alkohols (positives Unfall. Jedoch ist der Ausschank von Alkohol die von Gastwirten, soweit es sich nicht um erkennbar GaststättenG), und daher nicht tatbestandsmäßig § 25 IV 1).
Tun) war ursächlich für den normale und erlaubte Tätigkeit Betrunkene handelt (§ 20 Nr. 2 (soziale Adäquanz) (Lehrbuch
B. Dem A könnte jedoch der Vorwurf gemacht werden, daß er es unterließ, den Gästen den Zündschlüssel wegzunehmen oder die Polizei zu rufen. a) Die Unterlassung der Wegnahme des Zündschlüssels oder des Herbeirufens der Polizei hat den Unfall und die daraus entstandene Körperverletzung verursacht, da der Erfolg bei entsprechendem Handeln mit Sicherheit vermieden worden wäre. b) Fraglich ist, ob A rechtlich dafür einstehen muß, daß es zu den Körperverletzungen kam (§ 13 1). aa) A übernahm mit der Bewirtung der Gäste nicht die Pflicht, für deren körperliche Unversehrtheit auch nach Verlassen des Lokals zu sorgen. bb) Eine Garantenstellung des A könnte sich aber aus vorausgegangenem gefährdenden Tun ergeben (sog. Ingerenz). Als sozialadäquates Verhalten begründet jedoch der Ausschank von Alkohol keine Garantenpflicht. Sonst würde man den Gastwirt gleichsam zum Vormund des Gastes machen. Solange der Gast noch für sich selbst verantwortlich handeln kann - dies muß bei einem Blutalkoholgehalt von 2 %o noch angenommen werden -, ist der Wirt nicht zum Einschreiten verpflichtet (Lehrbuch § 59 IV 4a). cc) Daß A mit den Gästen geknobelt hat, ließ auch keine "enge Gemeinschaftsbeziehung" entstehen (Lehrbuch § 59 IV 3 b). A hatte also keine Garantenstellung.
Ergebnis: A ist nicht nach § 230 strafbar. II. Strafbarkeit wegen Beihilfe zur Trunkenheitsfahrt (§§ 316 I, 27): A. Der Gast des A, der das Fahrzeug führte, hat den objektiven Tatbestand des
§ 316 I erfüllt. Angesichts des hohen Blutalkoholgehalts kann man annehmen, daß er wenigstens bedingt vorsätzlich handelte.
B. Soweit der Tatbeitrag des A in einem Unterlassen gesehen werden könnte, fehlt es, wie oben festgestellt wurde, an einer Garantenpflicht. Soweit der Tatbei-
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
trag im Alkoholausschank liegen könnte, kann man nicht unterstellen, daß A - sei es auch nur mit bedingtem Vorsatz - eine Trunkenheitsfahrt unterstützen wollte. Der Gastwirt darf davon ausgehen, daß die Gäste nötigenfalls ein Taxi nehmen werden. Ergebnis: A ist auch nicht wegen Beihilfe zur Trunkenheitsfahrt strafbar. Fall 73
Gebotsirrtum über die Garantenpflicht A fuhr mit seinem Taxi zwei junge Männer B und C und ein 16jähriges Mädchen M, das Opfer der späteren Vergewaltigung, von einer Gastwirtschaft zu einem einsamen Feldweg. Dort wollten B und C mit der M geschlechtlich verkehren. Das wußte A. Er rechnete aber nicht damit, daß der Geschlechtsverkehr, falls die M sich wehrte, gewaltsam erzwungen werden sollte. Nachdem A seinen Wagen auf dem Feldweg angehalten hatte und zunächst er, später auch B ausgestiegen waren, vollzog C im Wagen mit der sich heftig wehrenden M den Geschlechtsverkehr. A erkannte, nachdem er ausgestiegen war, daß im Wagen Gewalt angewendet wurde. Er wurde von B, der geholfen hatte, die M zu überwältigen, darüber unterrichtet, was sich im Wagen abspielte. A unterließ es aber einzugreifen, obwohl er die Tat hätte verhindern können (vgl. BGHSt 16, 155). Hat sich A strafbar gemacht? Lösung I. Strafbarkeit von Bund C nach § 177:
B und C haben eine Vergewaltigung in Mittäterschaft begangen (§§ 177, 25 II). Daß B selbst nicht mit M verkehrte, schließt Mittäterschaft nicht aus, wie sich bei § 177 unmittelbar aus dem Tatbestand ergibt. Es genügt, daß er im Zusammenwirken mit B Gewalt anwendete, um den Widerstand der M zu überwinden. (Ob daneben der Tatbestand der Entführung nach § 237 erfüllt ist, hängt davon ab, ob B und C schon bei Antritt der Fahrt damit rechneten, daß sie nur unter Ausnutzung der hilflosen Lage der M ihr Ziel erreichen würden.) II. Strafbarkeit des A nach§ 177: 1. Da A- wie aus den Umständen des Sachverhaltes geschlossen werden kannkeine Tatherrschaft hatte, könnte er nur wegen Beihilfe (§ 27) zur Vergewaltigung strafbar sein.
2. Als A zu dem einsamen Feldweg fuhr, rechnete er nicht damit, daß M vergewaltigt werden sollte. Insoweit fehlt der Vorsatz; der nachträgliche Vorsatz (dolus subsequens) schadet ihm nicht.
3. A könnte aber Beihilfe zur Vergewaltigung durch Unterlassen begangen haben (zur Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe beim Unterlassungsdelikt Lehrbuch § 64 IV 5 und oben Fall 70). Beihilfe durch Unterlassen ist strafbar, wenn der Gehilfe Garant ist (§ 13 I). a) Eine Garantenstellung des A kann sich hier einmal aus vorangegangenem gefährdenden Tun ergeben (Lehrbuch § 59 IV 4a). Voraussetzung dafür wäre, daß A objektiv pflichtwidrig handelte, daß er mit dem objektiv pflichtwidrigen Verhalten die nahe Gefahr der Vergewaltigung herbeiführte und daß es nach der Rechtsüberzeugung der Gesamtheit vertretbar erscheint, ihn für die Nichtabwen-
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dung des Schadens strafrechtlich verantwortlich zu machen. Die Fahrt zum Feldweg war für A subjektiv möglicherweise nicht pflichtwidrig, da er nicht wußte, daß Gewalt angewendet werden würde. Jedoch hat A mit der Fahrt objektiv die Gefahr einer Vergewaltigung heraufbeschworen; er hatte sich offenbar weder über das Einverständnis der M noch über die wahren Absichten von B und C vergewissert, obwohl der Auftrag zu einer Fahrt nach einem einsamen Feldweg dazu Anlaß gab. Daher wird man die Fahrt zum Feldweg als objektiv pflichtwidrig ansehen müssen, weil er die M damit in eine hilflose Lage brachte. Auch erscheint es nicht ungerecht, A für die Nichtabwendung der Vergewaltigung unter diesen Umständen strafrechtlich verantwortlich zu machen. A hatte daher eine Garantenpflicht aus vorangegangenem gefährdenden Tun. b) Die Garantenstellung des A kann ferner auf freiwillige Übernahme gegründet werden (Lehrbuch § 59 IV 3c). Der Taxifahrer übernimmt mit der Ausführung der Fahrt die Pflicht zu verhindern, daß gegen Insassen von anderen Fahrgästen Gewalttaten begangen werden. Jedenfalls ist dies dann anzunehmen, wenn es sich bei dem Opfer um ein 16jähriges Mädchen handelt, das gegenüber den Angreifern wehrlos ist. c) Da bei der Beihilfe die vorsätzliche Haupttat als der zum Tatbestand gehörende Erfolg (§ 13 I) gilt, ist A nur dann Unterlassungsgehilfe, wenn das pflichtgemäße Verhalten die Tat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte. Wenn A eingegriffen hätte, so wäre die Tat wohl versucht, aber nicht vollendet worden. d) Fraglich ist, ob A den doppelten Gehilfenvorsatz hatte. A wußte, daß er durch sein Eingreifen die Tat verhindern konnte. Er kannte auch die Umstände, aus denen sich seine Garantenstellung ergab (Fahrt zum Feldweg). Allerdings glaubte sich A offenbar nicht zum Eingreifen verpflichtet. Jedoch gehört zum Unterlassungsvorsatz nicht die Kenntnis der Garantenpflicht, sondern nur die Kenntnis der Umstände, aus denen sich die Garantenpflicht ergibt. Daher handelte A vorsätzlich. e) Dem A fehlte, da er seine Garantenpflicht nicht erkannte, das Unrechtsbewußtsein. Er befand sich in einem Verbotsirrtum, der beim Unterlassungsdelikt als Gebotsirrtum bezeichnet wird (Lehrbuch § 60 I 2). Dieser Irrtum wäre aber bei der erforderlichen Anspannung des Gewissens vermeidbar gewesen (§ 17 s. 2). Ergebnis: A ist wegen Beihilfe zur gemeinschaftlich begangenen Vergewaltigung nach§§ 177,25 II, 27, 13 I, 17 S. 2, 49 I strafbar. Fall 74 Keine Garantenpflicht aus Notwehrhandlung
Auf dem Heimweg von einer Zechtour geriet A mit B in Streit. Als B sich auf A stürzte und mit einer Bierflasche, die er bei sich trug, auf ihn einschlug, zog A sein Messer und stach B in die Brust. A ließ den schwer verletzten B liegen und entfernte sich vom Ort des Geschehens. B starb. Er hätte gerettet werden können, wenn A sofort nach dem Messerstich für Hilfe gesorgt hätte. Dessen war sich A auch bewußt, als er B liegen ließ (vgl. BGHSt 23, 327; zu ähnlicher Problematik BGH NJW 1973, 1706). Hat sich A strafbar gemacht?
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
Lösung
I. Strafbarkeit des A nach § 212 I: 1. A hat durch einen Messerstich vorsätzlich den Tod des B verursacht und damit den Tatbestand des Totschlags erfüllt (§ 212). Jedoch war die Verteidigung mit dem Messer durch Notwehr gerechtfertigt (§ 32).
2. Die Tötungshandlung des A könnte weiter darin liegen, daß er den Ort des Geschehens verließ (positives Tun). Das Sichentfernen hatte aber für den Eintritt des Todes keine Bedeutung, denn der Erfolg wäre durch das bloße Verbleiben am Tatort nicht verhindert worden. Wäre A am Ort des Geschehens geblieben und hätte nicht für Hilfe gesorgt, so wäre B auf gleiche Weise verstorben (vgl. oben Fall 71). Das Sichentfernen war mithin nicht ursächlich für den Tod des B. 3. A könnte jedoch einen Totschlag durch Unterlassen begangen haben (§§ 212, 13). a) Hätte A es nicht unterlassen, für Hilfe zu sorgen, so würde B mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch leben. Das Unterlassen der Hilfeleistung war also für den Tod des B kausal. b) Fraglich ist, ob A eine Garantenstellung für das Leben des B hatte. Der Messerstich war gewiß ein "vorangegangenes gefährdendes Tun", er war jedoch nicht rechtswidrig (§ 32). aa) Dennoch sieht ein Teil der Lehre den A als Garanten für das Leben des B an (vgl. etwa Baumann, Allg. Teil § 18 II 3c). Der AngreiferB dürfe nicht "friedlos" gestellt werden. bb) Diese Auffassung wird von der Rechtsprechung und überwiegenden Meinung mit Recht abgelehnt (Lehrbuch § 59 IV 4a). Es ist nicht einzusehen, weshalb gerade der Angegriffene schärfer haften soll als ein unbeteiligter Dritter. Der Angreifer kann mit seinem Angriff nicht seinen Gegner zu seinem Beschützer machen. Vielmehr verdient er keinen größeren Schutz als ein schuldlos Verunglückter. Also hatte A keine Garantenstellung. Er hat keinen Totschlag durch Unterlassen begangen (§§ 212, 13 1). II. Strafbarkeit des A nach § 330c: a) Die schwere Verletzung des B war ein "Unglücksfall". b) A hat die erforderliche Hilfe nicht geleistet. c) Die Hilfeleistung war A auch zumutbar, denn er hatte keine Gefahr mehr von B zu befürchten. Ebensowenig ist ein anderes legitimes Interesse des A erkennbar, das er im Falle der Hilfeleistung hätte aufgeben müssen. Ergebnis: A ist nach § 330c, nicht aber nach § 212 I strafbar.
Fall 75 Zumutbarkeit beim Unterlassungsdelikt A bewohnte zusammen mit seinem 2jährigen KindKeine Wohnung im Dachgeschoß. Eines Tages brach in der Wohnung ein Brand aus; A und K konnten nicht mehr über die Treppe entkommen. A eilte mit K zu einem Fenster, das 5 m über der Straße lag. Unterhalb des Fensters standen einige Männer, die A zuriefen, er
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solle das Kind hinabwerfen; man werde es auffangen. A erkannte, daß K in der Wohnung mit Sicherheit nicht werde überleben können. Trotzdem konnte er sich nicht entschließen, das Kind aus dem Fenster zu werfen, weil er es - in Fehleinschätzung der Lage - für möglich hielt, daß dieses in den Tod stürzen werde. Als sich das Feuer dem Fenster genähert hatte, sprang A allein aus dem Fenster, K starb in den Flammen (vgl. BGH JZ 1973, 173; Sachverhalt bei Spende/, JZ 1973, 137). Hat sich A strafbar gemacht? Lösung
Strafbarkeit des A nach § 212 I: A. A könnte dadurch einen Totschlag begangen haben, daß er es unterließ, K aus dem Fenster zu werfen (§§ 212, 13). a) Voraussetzung dafür wäre zunächst, daß es dem A in der kritischen Situation möglich gewesen wäre, K aus dem Fenster zu werfen. Dies wäre zu verneinen, wenn bei A infolge der verzweifelten Lage eine psychische Sperre eingetreten wäre, die ihn zum Handeln unfähig gemacht hätte. Dafür gibt aber der Sachverhalt keine Anhaltspunkte (Fehlen der individuellen Handlungsfähigkeit) (Lehrbuch § 59 II 2). b) Durch das Hinabwerfen des K wäre der konkrete Todeserfolg (Flammentod) mit Sicherheit vermieden worden. Das Unterlassen war also ursächlich für den Tod des K. c) A hatte kraft natürlicher Verbundenheit auch eine Garantenstellung für das Leben des K. d) Die Entsprechungsklausel des § 13 I zweiter Halbsatz kommt nicht zum Zuge, da § 212 keine besonderen Handlungsmerkmale enthält (vgl. oben Fall 70) (Lehrbuch § 59 V 1). e) A wußte, daß das Hinabwerfen die letzte Chance für die Rettung des K war. Allerdings war sich A nicht gewiß, daß das Hinabwerfen des Kindes dessen Tod verhindern werde. Jedoch genügt für den Vorsatz - nicht anders als beim Begehungsdelikt -, daß der Täter es für möglich hält, daß er mit der zu erwartenden Handlung den tatbestandsmäßigen Erfolg abwenden würde und sich damit, die Rettungschance nicht wahrzunehmen, abfindet (vgl. Spende/, JZ 1973, 143 gegen BG H JZ 1973, 173, der für den Unterlassungsvorsatz verlangt, daß der Täter Gewißheit bezüglich des Erfolgs der zu erwartenden Rettungshandlung hat). A hatte somit den dem § 212 entsprechenden Eventualvorsatz. B. Auch beim unechten Unterlassungsdelikt indiziert die Tatbestandsmäßigkeit die Rechtswidrigkeit. In Ausnahmefällen kann aber trotz des Bestehens einer Garantenstellung die Garantenpflicht fehlen. Bei riskanten Rettungshandlungen (Lehrbuch § 36 II 1) muß "das Ausmaß des unmittelbar drohenden mit Sicherheit eintretenden Schadens gegen das kleinere Übel und die geringe Wahrscheinlichkeit einer gleichwertigen Rechtsgutsverletzung" abgewogen werden. "Droht dem Schutzbedürftigen der sichere Tod, so müssen auch Rettungsmaßnahmen ergriffen werden, die Verletzungen des Schützlings zur Folge haben. Auch eine fernliegende Möglichkeit der Vernichtung des Lebens gerade durch die Rettungshandlung muß hingenommen werden" (BGH JZ 1973, 173). Das Unterlassen war daher rechtswidrig.
C. Schließlich könnte die Schuld des A ausgeschlossen sein. a) Ob bei A eine tiefgreifende Bewußtseinsstörung infolge der außergewöhnlichen Lage eintrat (§ 20), kann nach dem Sachverhalt nicht beurteilt werden.
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
b) Falls sich A nicht zum Hinabwerfen des K verpflichtet fühlte, so liegt darin ein Verbotsirrtum (§ 17; vgl. dazu auch oben Fall 73). Man wird aber annehmen müssen, daß der Irrtum bei Anspannung aller Gewissenskräfte vermeidbar war (§ 17 s. 2). c) Man wird endlich auch sagen müssen, daß es dem A als Vater zuzumuten war, das Menschenmögliche für die Rettung seines Kindes zu tun. (Zur Frage, ob die Unzumutbarkeit überhaupt als Entschuldigungsgrund anzuerkennen ist, Lehrbuch § 59 VIII 3.) D. Die Strafe kann nach § 213 gemildert werden. Auch ein Absehen von Strafe nach § 60 kommt in Betracht. Das letztere wird die richtige Lösung sein.
Ergebnis: A ist eines Totschlags durch Unterlassen schuldig (§§ 212, 13), doch kann von Strafe abgesehen werden (§ 60).
XIII. Täterschaft und Teilnahme Lehrbuch §§ 61 - 65 Fall 76 Subjektive Teilnahmetheorie und Tatherrschaftslehre
Die A hat in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken mit ihrer Schwester S und auf Verlangen der S deren neugeborenes nichteheliches Kind in der Weise getötet, daß sie es in eine Badewanne legte, in der das Kind ertrank. Sie handelte vorsätzlich und aus dem Motiv, der S die öffentliche Mißachtung zu ersparen (vgl. RGSt 74, 84). Wie ist die Strafbarkeit von S und A zu beurteilen?
Lösung I. Strafbarkeit der S:
Da die S das Geschehen steuerte und somit die Tatherrschaft innehatte, ist sie Täterio einer Kindestötung (§ 217). II. Strafbarkeit der A: 1. Die A könnte Mittäterio (§ 25 II) oder Gehilfin (§ 27) bei dem Tötungsverbrechen sein.
a) Zur Frage der Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe hat das Reichsgericht folgenden Standpunkt vertreten: Die A hat vorsätzlich eine Ursache für den Tod des Kindes gesetzt. Sie ist somit im weiteren Sinn Täterio (extensiver Täterbegriff). Die Täterschaft im weiteren Sinn wird vom Gesetz aufgeteilt in Täterschaft im engeren Sinn (§ 25) und Teilnahme (§§ 26, 27). Die Teilnahmevorschriften sind Strafeinschränkungsgründe; wenn es sie nicht gäbe, so wäre der Teilnehmer als Täter zu bestrafen. Da demnach jeder Verursacher des gesetzlichen Tatbestandes Täter sein kann, muß man Täterschaft und Teilnahme nach der inneren Einstellung der Beteiligten zur Tat unterscheiden (subjektive Theorie). Maßgebend ist mithin, ob die A die Tat als eigene wollte ("animus auctoris"). Ein wesentliches Indiz
XIII. Täterschaft und Teilnahme (Lehrbuch§§ 61 - 65)
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dafür ist das Interesse an der Tat {lnteressentheorie). Da die A nach dem Sachverhalt kein eigenes Interesse an der Tat hatte, hat das Reichsgericht ihre Verurteilung als Täterio nicht gebilligt. In der Entscheidung wurde die subjektive Theorie derart konsequent durchgeführt, daß sogar der, der den vollständigen Tatbestand eigenhändig und voll verantwortlich verwirklichte, unter Umständen nur als Gehilfe verantwortlich sein konnte (Lehrbuch § 61 IV 2). b) Nach der (neuen) gesetzlichen Definition ist Täter, wer die tatbestandsmäßige Handlung selbst begeht(§ 25 I). Bei der Abgrenzung zur Teilnahme müssen objektive und subjektive Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Täter ist demnach, wer unter Berücksichtigung seines objektiven Tatbeitrages und seiner inneren Einstellung den Ablauf der Tat (mit-)beherrscht (Tatherrschaftslehre) (Lehrbuch § 61 V). Bei eigenhändiger, voll verantwortlicher Tatbestandsverwirklichung ist Täterschaft stets zu bejahen (anders noch BGHSt 18, 87 [90]). Die A ist daher ebenfalls Täterio des Tötungsverbrechens. 2. Weiter ist zu prüfen, welcher Tötungstatbestand für die A eingreift. a) Nach der Rechtsprechung (vgl. BGHSt 1, 368 [371]; BGH NJW 1953, 1440) enthalten die §§ 217, 212, 211 jeweils selbständige Tatbestände, stehen also nicht im Verhältnis von Grundtatbestand und (qualifizierender oder privilegierender) Abwandlung. Mittäterschaft kommt daher bei Verwirklichung verschiedener Tatbestände durch die Täter nicht in Betracht (vgl. BGHSt 6, 329 [330]). Danach wäre die A, da sie nicht unter den Voraussetzungen des § 217 handelte, Alleintäterio eines Totschlags (§§ 212, 25 I), die S dementsprechend Alleintäterio einer Kindestötung(§§ 217, 25 I). b) Die Sondertatbestandstheorie des Bundesgerichtshofes überzeugt jedoch nicht. Die §§ 211 und 217 enthalten gegenüber § 212 nur zusätzliche Tatbestandsmerkmale. Richtig ist daher, Mord als qualifizierte, Kindestötung als privilegierte Tötung anzusehen, wobei § 212 der Grundtatbestand ist. Aus dieser Sicht hat die A unter Anwendung der §§ 29, 28 II (Wegfall der Privilegierung) einen Totschlag begangen (§§ 212, 25 II). III. Art der Beteiligung von S und A: S und A sind Mittäterinnen bei der Tötung des Kindes (§ 25 II). Sie handelten aufgrund eines gemeinsamen Tatentschlusses und wurden auch bei der Tatausführung gemeinschaftlich tätig, wobei die jeweiligen Tatbeiträge sich aus den Umständen ergaben: die S behielt als Mutter des neugeborenen Kindes die geistige Initiative, die A führte die Tat aus (Lehrbuch § 63 II und III). A und S sind jede nach dem von ihnen verwirklichten Tatbestand strafbar (Lehrbuch § 63 I 2).
Ergebnis: Die A ist entgegen der Auffassung des Reichsgerichts wegen Totschlags (§ 212), die S wegen Kindestötung (§ 217), beides begangen in Mittäterschaft (§ 25 II), zu bestrafen. Fall 77 Tatherrschaft beim Doppelselbstmord A und die 16jährige G empfanden tiefe Zuneigung füreinander. Da die Eltern des Mädchens die intime Freundschaft energisch mißbilligten, faßte die G den festen Entschluß, aus dem Leben zu scheiden. Als sie wieder mit A zusammentraf, versuchte dieser vergeblich, das über sein Alter hinaus gereifte Mädchen 7 Fälle und Lösungen, 3. A.
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
umzustimmen. Nunmehr beschloß A, mit der G gemeinsam in den Tod zu gehen. Beide fuhren im Wagen des A zu einem abgelegenen Parkplatz. Dort schloß A im Einverständnis mit G einen Schlauch an das Auspuffrohr seines Wagens und führte ihn durch das linke Wagenfenster ins Wageninnere. A setzte sich auf den Fahrersitz, die G daneben. Beide Türen wurden von innen verriegelt, die Fenster, soweit möglich, geschlossen. A ließ nun den Motor an und trat das Gaspedal durch, bis das einströmende Gas ihm die Besinnung raubte. Als die beiden einige Stunden später gefunden wurden, konnte nur noch A gerettet werden (vgl. BGHSt 19, 135). Hat sich A strafbar gemacht?
Lösung Strafbarkeit des A nach§ 216: A könnte nach § 216 wegen Tötung auf Verlangen strafbar sein. Er hat vorsätzlich den Tod der G verursacht und wurde dazu durch ihr ausdrückliches und ernstliches Verlangen bestimmt. Fraglich ist aber, ob er Täter einer Tötung auf Verlangen oder (strafloser) Gehilfe eines Selbstmordes ist. a) Der Bundesgerichtshof hält, jedenfalls bei der Tötung auf Verlangen, eine subjektive Abgrenzung zwischen Täterschaft und Beihilfe für ausgeschlossen, weil der auf Verlangen Tötende schon begrifflich keinen "animus auctoris" haben könne (BGHSt 19, 135 [138]). Es komme vielmehr darauf an, ob das Opfer die Tötung duldend hingenommen oder ob es bis zuletzt die freie Entscheidung über sein Schicksal in der Hand gehabt habe. Kriterium hierfür sei aber nicht, wer zuerst bewußtlos geworden sei. A hatte nach Ansicht des Bundesgerichtshofes das Geschehen in der Hand, weil er das Gaspedal betätigte. Die G nahm dies duldend hin. Demnach wäre A nach § 216 strafbar. b) Es erscheint jedoch zweifelhaft, ob der Bundesgerichtshof die Kriterien der Tatherrschaft beim "einseitig fehlgeschlagenen Doppelselbstmord" richtig bestimmt hat. Zwar war A mit der technischen Durchführung des Doppelselbstmordes betraut. Aber die Umstände der Tat sprechen für einen echten Freitod der G. Sie hätte, bis sie besinnungslos wurde, jederzeit von dem Plan Abstand nehmen können, wollte das aber gerade nicht. A übte keinerlei psychischen Druck auf sie aus. Er stellte gleichsam nur die für den eigenen Selbstmord bestimmte Anlage zur Einleitung der Abgase auch derB für ihren eigenen Freitod zur Verfügung. Entgegen der Ansicht des Bundesgerichtshofes dürfte A daher nur als Selbstmordgehilfe anzusehen sein.
Ergebnis: A ist nicht strafbar. Fall 78 Mittelbare Täterschaft durch rechtmäßig handelndes Werkzeug Die A schrieb im Jahre 1943 an die Luftwaffeneinheit, bei der ihr Schwiegersohn S als Unteroffizier diente, S treibe Sabotage, er nehme Handgriffe an Flugzeugen vor, damit sie abstürzten, er gehöre an die Wand gestellt. B wurde daraufhin von der Geheimen Feldpolizei festgenommen und befand sich 20 Tage in Haft. Vom Kriegsgericht wurde er dann freigesprochen. Die A wußte, daß ihre Anzeige unbegründet war. Sie rechnete aber damit, daß S längere Zeit in Haft genommen werden würde, und das war ihr durchaus recht (BGHSt 3, 4). Wie hat sich die A strafbar gemacht?
XIII. Täterschaft und Teilnahme (Lehrbuch§§ 61 - 65)
Strafbarkeit der A:
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Lösung
1. Die A hat den Tatbestand des § 164 I verwirklicht. Der an sich ebenfalls erfüllte Tatbestand des § 145d Nr. 1 ist gegenüber § 164 formell subsidiär (Lehrbuch § 69 II 2).
2. Die A könnte ferner tateinheitlich in mittelbarer Täterschaft eine Freiheitsberaubung in der qualifizierten Form des § 239 II erste Alternative begangen haben. a) Die A hat die 20tägige Haft des S vorsätzlich verursacht. Damit ist sie aber nach der Tatherrschaftslehre noch nicht Täterio des § 239 II (anders BGHSt 3, 4 [5]). Da die A den S nicht eigenhändig eingesperrt hat, hat sie im formellen Sinne keine tatbestandsmäßige Handlung begangen. Im Unrechtsgehalt ist ihr Verhalten aber der eigenhändigen Begehung gleichzusetzen, denn die Feldpolizei mußte den S aufgrund einer so schwerwiegenden Anzeige festnehmen. Die A hat sich gewissermaßen einen behördlichen Automatismus zunutze gemacht. Sie hat die Tat "durch einen anderen" (§ 25 I zweite Alternative) begangen und ist daher mittelbare Täterio (zu den Fallgruppen der mittelbaren Täterschaft Lehrbuch § 62 II; zum "rechtmäßig handelnden Werkzeug" Lehrbuch § 62 II 3; zum "absichtslosen Werkzeug" oben Fall 68). b) Zu prüfen bleibt, ob die tatbestandsmäßige Handlung der A rechtswidrig war. Zwar handelte das Werkzeug der A, die Geheime Feldpolizei, rechtmäßig. Bei der mittelbaren Täterschaft sind jedoch alle Voraussetzungen der Strafbarkeit auf den Täter zu beziehen. Die A wußte, daß S unschuldig war und daß deswegen ein in seinem Verhalten begründeter Anlaß zur Festnahme nicht bestand (Fall des rechtmäßig handelnden Werkzeugs).
Ergebnis: Die A ist wegen schwerer Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft in Tateinheit mit falscher Verdächtigung nach §§ 239 II, 25 I zweite Alternative, 164 I, 52 zu bestrafen. Fall 79 Eigenhändiges Delikt. Vorsatz des Haupttäters A war zusammen mit seiner Schwester S in deren Pkw unterwegs. Die S saß am Steuer und streifte beim Überholen einen Lkw. An beiden Fahrzeugen entstand erheblicher Sachschaden. Die S hielt sofort an, dasselbe tat der Fahrer des Lkw. A begab sich zu diesem, um über die Unfallursache und die Schadensregelung zu verhandeln. Die S blieb bei ihrem Fahrzeug stehen. A kehrte nach kurzer Zeit zurück, setzte sich, nachdem auch die S wieder eingestiegen war, selbst ans Steuer und fuhr davon. Zu der S sagte er, es sei alles erledigt, was jedoch nicht zutraf (vgl. OLG Stuttgart JZ 1959, 579). Sind S und A wegen unerlaubten Sichentfernens vom Unfallort (§ 142) strafbar?
Lösung I. Strafbarkeit der S nach § 142:
Die S hat den Tatbestand des unerlaubten Sichentfernens vom Unfallort (§ 142) objektiv erfüllt. Jedoch handelte sie nicht vorsätzlich, weil sie nach ihrer Vorstellung dem anderen Unfallbeteiligten die gewünschten Feststellungen ermöglicht hatte (schon zum früheren Recht unzutreffend OLG Stuttgart JZ 1959, 579). Die S ist daher nicht nach§ 142 strafbar, da sie sich im Tatbestandsirrtum befand(§ 16). 7*
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
II. Strafbarkeit des A nach § 142: a) A könnte unmittelbarer Täter der unerlaubten Entfernung vom Unfallort sein, wenn er selbst "Unfallbeteiligter" (§ 142 IV) wäre. Dafür, daß A als Beifahrer irgendwie zur Verursachung des Unfalls beigetragen haben könnte, ergibt aber der Sachverhalt keine Anhaltspunkte (vgl. aber- zu weitgehend- BGHSt 15, 1 [5]). b) A könnte mittelbarer Täter der unerlaubten Entfernung vom Unfallort sein. Er hat bei S einen Tatbestandsirrtum hervorgerufen und dadurch bewirkt, daß S objektiv den Tatbestand des § 142 verwirklichte (vorsatzlos handelndes Werkzeug). Normadressat des § 142 ist aber nur der Unfallbeteiligte. Insofern ist § 142 ein eigenhändiges Delikt. Mittelbare Täterschaft durch einen Nichtunfallbeteiligten ist nicht möglich (Lehrbuch § 26 II 6). c) Schließlich könnte A zur unerlaubten Entfernung vom Unfallort angestiftet oder geholfen haben (§§ 26, 27). Daß § 142 ein eigenhändiges Delikt ist, schließt nicht aus, daß jemand ohne die Täterqualifikation als "Unfallbeteiligter" wegen Teilnahme bestraft werden kann (vgl. § 28 1). Indessen setzen Anstiftung und Beihilfe, wie jetzt in § 26 und § 27 I ausdrücklich klargestellt ist, eine vorsätzliche Haupttat voraus. Da die S nicht vorsätzlich handelte, kann A nicht an einer vorsätzlichen Haupttat teilgenommen haben. Ergebnis: Sund A sind beide nicht wegen unerlaubter Entfernung vom Unfallort nach § 142 strafbar. Für die S kommen Ordnungswidrigkeiten nach § 24 StVG in Verbindung mit §§ 49 I Nr. 5, 5 IV 2 StVO und mit §§ 49 I Nr. 29, 34 I StVO in Betracht, sofern ihr der Vorwurf der Fahrlässigkeit gemacht werden kann.
Fall SO Notwendige Teilnahme A und B verbüßten im Gerichtsgefängnis eine Strafe. Während der Haft mußten sie Wäsche von der nicht zum verschlossenen Teil des Gefängnisses gehörenden Waschküche auf den Trockenboden tragen. A war entschlossen, auf diesem Weg zu fliehen, und gewann B für seinen Plan. Während der Aufsichtsbeamte noch die Waschküche verschloß, stellten A und B im Treppenhaus die mit Wäsche gefüllte massige Wanne quer ab, um die Verfolgung zu erschweren. Sie gelangten über den Gerichtsflur ins Freie. Bereits nach einer Stunde wurde A wieder ergriffen (vgl. BGHSt 17, 369). Hat sich A strafbar gemacht? Lösung I. Strafbarkeit des A nach § 120:
a) A könnte sich nach§ 120 I erste Handlungsform strafbar gemacht haben, weil er B befreit hat. Er hat in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken mit B sich selbst und zugleich B befreit. Die Situation ist ähnlich wie bei der Mittäterschaft (§ 25 II) mit dem Unterschied, daß für B die Befreiung seiner selbst nicht strafbar ist (ähnlich oben Fall 77). Bedenken gegen die Strafbarkeit des A ergeben sich daraus, daß es A allein auf die (straflose) eigene Selbstbefreiung ankam. A hat nicht mehr getan als das, was nach dem gemeinsamen Fluchtplan für die eigene Befreiung notwendig war. In einem solchen Fall hieße es den Gesetzeszweck - Privilegierung des verständlichen Freiheitsdranges der Gefangenen - verkennen, wollte man dem A das mit der Selbstbefreiung notwendig verbundene Mitwirken an der Befreiung des B anlasten (Lehrbuch § 64 VI 2b).
XIII. Täterschaft und Teilnahme (Lehrbuch§§ 61 - 65)
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b) A könnte den B zum Entweichen verleitet haben (§ 120 I zweite Handlungsform). Strenggenommen könnte man sagen, daß A seine Selbstbefreiung möglicherweise hätte durchführen können, ohne den B zum Mitmachen zu verleiten; es hätte wohl ausgereicht, wenn er B nur in seinen Plan eingeweiht hätte. Trotzdem hat BGHSt 17, 369 (375) auch insoweit den unter a) dargestellten Grundgedanken der Privilegierung der Selbstbefreiung zu Recht durchgreifen lassen. II. Strafbarkeit des A nach § 258: Zwar hat A mit der Befreiung des B den Tatbestand der Strafvereitelung nach § 258 II erfüllt. Er ist jedoch nach § 258 V nicht strafbar, da er durch die Tat zugleich die Vollstreckung der gegen ihn selbst verhängten Strafe vereiteln wollte. Ergebnis: A ist straffrei. Fall 81
Anstiftung zur Übersteigerung des Tatvorsatzes A und B wollten aus der Wohnung einer Frau F Geld entwenden. Der bereits einschlägig vorbestrafte A wollte sich an der Ausführung der Tat selbst nicht beteiligen, sollte jedoch an der Beute teilhaben. B rechnete damit, daß er bei der Durchsuchung der Wohnung von der F bemerkt werde, und wollte sie in diesem Falle mit den Fäusten niederschlagen. A schlug vor, B solle zu diesem Zweck besser einen Knüppel mitnehmen und die F auf den Hinterkopf schlagen, damit sie bewußtlos werde. B ließ sich dazu bestimmen und führte die Tat in dieser Weise aus. F ist infolge der ihr mit einem Stuhlbein zugefügten Hiebe auf den Schädel verstorben (vgl. BGHSt 19, 339). Wie haben sich A und B strafbar gemacht, falls ihre Einlassung, sie hätten keinesfalls mit dem Tod der F gerechnet, sich nicht widerlegen läßt? Lösung I. Strafbarkeit des B: 1. B hat den Tatbestand des schweren Raubes (§ 250 I Nr. 2 und 3) erfüllt.
2. Auch der Tatbestand des Raubes mit Todesfolge (§ 251) ist gegeben. Im Hinblick auf die gefährliche Tatausführung ist Leichtfertigkeit hinsichtlich der Todesfolge zu bejahen (Lehrbuch § 54 II 2). 3. § 251 soll § 250 I im Wege der Konsumtion vorgehen (vgl. BGHSt 21, 183; and. Schönke/Schröder/ Eser § 251 Anm. 10) (Lehrbuch § 69 II 3). 4. Außerdem sind die Tatbestände der§§ 223a, 226 erfüllt. § 223a steht zu§ 251 in Idealkonkurrenz, § 226 tritt im Wege der Gesetzeskonkurrenz (Spezialität) zurück (Schönke!Schröder/ Eser § 251 Anm. 9). II. Strafbarkeit des A: 1. A könnte wegen Anstiftung zum schweren Raub strafbar sein (§§ 250 I Nr. 2, 26). Anstifter ist, wer einen anderen vorsätzlich zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat bestimmt(§ 26). Daraus folgt, daß derjenige, der bereits zur Tat entschlossen ist ("omnimodo facturus"), nicht mehr angestiftet werden kann. B war allerdings zunächst nur zur Verwirklichung des Tatbestandes des einfachen Raubes nach § 249 (ohne Waffe) entschlossen. Dem Strafgrund der Anstiftung (Verursachung der Haupttat, nicht Schuldteilnahme) (Lehrbuch § 64 I 2) widerspräche es, würde man den A als Anstifter eines schweren Raubes ansehen, obwohl
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
er nur ein "Mehr" (die Mitführung einer Waffe) verursacht hat. A hat nicht den Raub verursacht, sondern lediglich die Tatmodalitäten beeinflußt. A ist mithin -entgegen BGHSt 19, 339 {341)- nicht Anstifter zum schweren Raub (Lehrbuch § 64 III 2c). 2. A könnte ferner wegen Beihilfe zum schweren Raub strafbar sein (§§ 250 I Nr. 2, 27 I). Er hat die Tat des B durch Rat psychisch gefördert, so daß die Voraussetzungen einer Beihilfe zum schweren Raub vorliegen. 3. A könnte endlich wegen Beihilfe zum Raub mit Todesfolge strafbar sein (§§ 251, 27). Zwar kann zu der von B leichtfertig verursachten Todesfolge keine Beihilfe geleistet werden, weil auch die Beihilfe eine vorsätzlich begangene rechtswidrige Tat voraussetzt (§ 27). Da aber A selbst leichtfertig die Todesfolge verursacht hat, kann die Erfolgsqualifikation mit der Beihilfehandlung verknüpft werden (vorsätzliche Beihilfe zum Grunddelikt und leichtfertige Täterschaft hinsichtlich der Qualifikation). A ist somit Gehilfe zum Raub mit Todesfolge. Über Fahrlässigkeit und Leichtfertigkeit bei den erfolgsqualifizierten Delikten Lehrbuch § 54 III 2. 4. Auch Beihilfe zu den von A begangenen Körperverletzungsdelikten ist gegeben. 5. Das Konkurrenzverhältnis ist entsprechend den Ausführungen unter I. zu beurteilen. Ergebnis: B ist wegen Raubes mit Todesfolge (§ 251) in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung(§ 223a), A wegen Beihilfe hierzu (§§ 251, 223a, 52, 27) zu bestrafen. Fall 82 Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe
Die A und ihre Tochter T, die in einem gemeinschaftlichen Haushalt lebten, machten bei größeren Einkäufen in einem Kaufhaus die Erfahrung, daß sie Waren auch ohne sofortige Bezahlung in die Wohnung geliefert bekamen und daß das Kaufhaus auch nichts unternahm, um die Bezahlung der Rechnungen zu erreichen. Sie entschlossen sich daher, die günstige Gelegenheit zu nutzen und ihnen brauchbar erscheinende Waren ohne Bezahlung zu erlangen. Aufgrund dieses Entschlusses tätigte jede von ihnen, ohne Zahlung leisten zu wollen, für sich Käufe im Wert von 20000,- DM, wobei sie einzeln auftraten (vgl. BGHSt 24, 286). Wie haben sich A und T strafbar gemacht? Lösung
Strafbarkeit von A und T nach § 263: 1. A und T haben jeweils fortgesetzt handelnd zum Nachteil des Kaufhauses einen Betrug mit einem Vermögensschaden in Höhe von 20000,- DM begangen, indem sie unter Vortäuschung ihrer Zahlungswilligkeit Waren erlangten.
2. Fraglich ist, ob sie als Mittäter einen Betrug mit einem Gesamtvermögensschaden von 40000,- DM begangen haben (§§ 263, 25 li), wobei sich jede von ihnen die Betrugshandlungen der anderen zurechnen lassen muß (diese Frage ist wichtig für die Strafzumessung). a) Gegen die Annahme von Mittäterschaft könnte sprechen, daß A und T jeweils einzeln im Kaufhaus auftraten. Jedoch wird man auch vom Standpunkt der Tatherrschaftslehre - ähnlich wie bei der mittelbaren Täterschaft - nicht den
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Grundsatz aufstellen können, daß Mittäter nur jemand sein könne, der am Tatort anwesend ist (vgl. auch BGHSt 16, 12) (Lehrbuch § 63 III 1). b) Für die Annahme von Mittäterschaft läßt sich anführen, daß A und T aufgrund eines gemeinsamen Entschlusses handelten. Aber dies begründet noch keine Mittäterschaft. Mittäterschaft läge nur dann vor, wenn A und T auch die Ausführung ihres Entschlusses durch einander entsprechende, einem gemeinsamen Ziel dienende Tatbeiträge geplant und die Tat dementsprechend ausgeführt hätten, d. h. wenn sie arbeitsteilig vorgegangen wären (funktionale Mitbeherrschung der Tat) (Lehrbuch § 63 I 1a). Daß jede der Täterinnen von den Taten der anderen wußte und sie billigte, reicht nicht aus. Da A und T bei den Betrugshandlungen sich nicht im Sinne einer Arbeitsteilung unterstützten, handelten sie nicht als Mittäter. 3. Schließlich ist zu erwägen, ob nicht A und T jeweils die Betrugshandlungen der anderen Beteiligten unterstützt haben (§§ 263, 27). Die Beihilfehandlung könnte in dem gemeinsamen Entschluß, die günstige Gelegenheit zu nutzen, und in der dadurch herbeigeführten Verstärkung, Festigung und Dauerhaftigkeit des Tatvorsatzes der jeweils anderen Beteiligten liegen. Beihilfe kann zeitlich vor der Tat geleistet werden. Der gemeinsame Entschluß hat zumindest jede der Beteiligten psychisch bestärkt und war deshalb mit ursächlich für die Ausführung der einzelnen Betrugshandlungen. Auch am doppelten Gehilfenvorsatz der beiden Beteiligten ist nicht zu zweifeln. Daher machten sich A und T jeweils auch der Beihilfe zum fortgesetzten Betrug schuldig.
Ergebnis: A und T haben zu Lasten des Kaufhauses jeweils einen fortgesetzten Betrug mit einem Vermögensschaden von 20000,- DM und Beihilfe zu einem fortgesetzten Betrug der anderen Beteiligten mit einem Vermögensschaden von 20000,- DM begangen. Zwischen dem Betrug und der Beihilfe zum Betrug besteht kein Fortsetzungszusammenhang, da sich Gehilfen- und Tätervorsatz ausschließen (BGHSt 23, 203 [206]), sondern Tatmehrheit(§ 53). Fall83 Eingebildete Tatherrschaft und Anstiftung Der wegen einer Straftat angeklagte und deswegen um ein Alibi bemühte A versuchte, seinem Freund F einzureden, dieser habe ihn zur Tatzeit in seiner Wohnung besucht, und bat ihn, im Prozeß eidlich in diesem Sinne auszusagen. F wußte, daß er zur Tatzeit nicht bei A gewesen war, ließ diesen aber in dem Glauben, er durchschaue dessen Manöver nicht. In der Hauptverhandlung beschwor er das Alibi des A (vgl. BGHSt 21, 116). Wie haben sich A und F strafbar gemacht?
Lösung I. Strafbarkeit des F: Fist wegen Meineides in Tateinheit mit Strafvereitelung strafbar(§§ 154, 258, 52). II. Strafbarkeit des A: A. A wollte, daß F als "gutgläubiges Werkzeug" einen falschen Eid schwört. F schwor jedoch "bösgläubig" (d. h. vorsätzlich) einen Meineid. 1. Darin könnte ein Meineid des A in mittelbarer Täterschaft ("durch einen anderen") liegen (§§ 154, 25 1). Indessen kann einen Meineid nur der begehen, der schwört; Meineid ist ein eigenhändiges Delikt (vgl. oben Fall 79). Meineid in mittelbarer Täterschaft ist daher nicht möglich (Lehrbuch § 62 I 2).
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
2. Es bestünde jedoch eine unerträgliche Strafbarkeitslücke, wenn derjenige, der mit Tatherrschaft einen anderen einen falschen Eid schwören läßt, straffrei wäre. Diese "Lücke" schließt § 160 (ähnlich § 271 für die Falschbeurkundung im Amt). § 160 setzt an sich voraus, daß der Schwörende gutgläubig handelt. Da F aber den A durchschaute und vorsätzlich falsch schwor, hatte objektiv nicht A, sondern F die T atherrschaft. A bildete sich lediglich ein, die Tatherrschaft zu haben. Ob Fälle dieser Art der Anstiftung oder der mittelbaren Täterschaft (bzw. im Spezialfall der Eidesdelikte dem § 160) zuzuordnen sind, ist zweifelhaft. a) Da der Hintermann A objektiv nicht die Tatherrschaft hatte, hat das Reichsgericht- konstruktiv konsequent- nur einen nach § 160 II strafbaren Versuch des Verleitens zum Falscheid angenommen (RGSt 11, 418). b) Demgegenüber vertritt BGHSt 21, 116 (118) den Standpunkt, der Hintermann dürfe nicht besser wegkommen, nur weil der Vordermann über das hinausgeht, was der Hintermann will (Meineid statt unvorsätzlichem Falscheid). c) Gegen die Auffassung des Bundesgerichtshofes spricht, daß der Hintermann als Täter behandelt wird, obwohl er nicht die Tatherrschaft hat. Richtiger erscheint es daher auf den ersten Blick, den A seinem objektiven Tatbeitrag entsprechend als Anstifter zu bestrafen. Zwar hat er den Vorsatz eines Täters; über diese Schwierigkeit kann man sich aber hinwegsetzen, indem man den Anstiftervorsatz als "minus" im Tätervorsatz enthalten sieht (Lehrbuch § 62 111 1). Dieser Lösungsweg ist aber im vorliegenden Fall nicht gangbar, da A auf diese Weise mit der vollen strafrechtlichen Verantwortung für ein Verbrechen der Anstiftung zum Meineid (§§ 154, 26) belastet würde, während er nach der Auffassung des Bundesgerichtshofes zwar Täterschaft zu verantworten hätte, aber nur in bezug auf das wesentlich milder bestrafte Vergehen der Verleitung zur Falschaussage (§ 160). A ist aus diesem Grunde wegen (vollendeter) Verleitung zur Falschaussage strafbar. B. A hat den F zur Strafvereitelung angestiftet (§§ 258, 26). Die Irrtumsproblematik kann hier in dem Sinne gelöst werden, daß er als Anstifter verantwortlich gemacht wird, obwohl er die Tatherrschaft zu haben glaubt und F irrig als vorsatzlos handelndes Werkzeug ansieht. Er ist aber insoweit nach § 258 V, der auch dem Anstifter zugute kommt (Lehrbuch § 64 VI 2b), straffrei. Ergebnis: A ist wegen Verleitung zum Falscheid nach § 160 zu bestrafen.
XIV. Einheit und Mehrheit von Straftaten Lehrbuch §§ 66- 69 Fall84 Tateinheit und Tatmehrheit A bestimmte den in einer Staatsgemäldesammlung beschäftigten B, dort Bilder zu stehlen; er sagte ihm zu, daß er für den Verkauf der Bilder sorgen werde. B gelang es, zwei Bilder zu entwenden. A setzte sie im Kunsthandel ab (vgl. BGHSt 22, 206 ). Wie hat sich A strafbar gemacht?
XIV. Einheit und Mehrheit von Straftaten (Lehrbuch §§ 66 - 69)
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Lösung
I. Strafbarkeit des A wegen Anstiftung zum Diebstahl in emem besonders schweren Fall nach §§ 242, 243 I Nr. 5, 26: A hat den B dazu angestiftet, einen Diebstahl in einem besonders schweren Fall (Kunstwerk in einer allgemein zugänglichen Sammlung) zu begehen. II. Strafbarkeit des A nach § 259:
A hat die Bilder abgesetzt und damit den Tatbestand des § 259 erfüllt. Daß er bezüglich der Vortat Anstifter ist, schließt nicht aus, daß er außerdem Täter einer Hehlerei sein kann (vgl. Schönke!Schröder/Stree § 259 Rdn. 55).
111. Konkurrenz: Die Anstiftung zum Diebstahl und die Hehlerei könnten zueinander im Verhältnis der Tateinheit stehen (§ 52), denn beide Delikte beruhen auf einem einheitlichen Willensemschluß und einer einheitlichen Motivation. Aber dies reicht für die Annahme von Tateinheit nicht aus. Erforderlich ist vielmehr, daß sich die Ausführungshandlungen beider Straftaten wenigstens teilweise decken (Lehrbuch § 67 II 2). Dies ist hier nicht der Fall, weil die Hehlerei einen vollendeten Diebstahl voraussetzt. Also besteht Tatmehrheit zwischen der Anstiftung zum Diebstahl und der Hehlerei (§ 53). Ergebnis: A ist wegen Anstiftung zum Diebstahl in einem besonders schweren Fall und wegen Hehlerei nach §§ 242, 243 I Nr. 5, 26, 53 zu bestrafen. Nach § 54 ist eine Gesamtstrafe zu bilden (Lehrbuch § 68 III). Fall 85 Voraussetzungen der fortgesetzten Handlung
A brach in eine Villa ein. Er entdeckte einen Wandtresor, den er vergeblich aufzubrechen versuchte. Anschließend packte er Bekleidungsstücke ein und verließ das Haus durch die Waschküchentür. Deren Schlüssel nahm er mit, weil er beschlossen hatte, sich später noch einmal um den Tresor zu "kümmern". Am nächsten Morgen drang er erneut durch die Waschküche in das Haus ein, um den Wandtresor mit eigens dazu mitgebrachten Werkzeugen aufzubrechen, was jedoch nicht gelang (vgl. BGHSt 19, 323). Strafbarkeit des A? Lösung
I. Strafbarkeit des A am ersten Tag: A hat den Tatbestand des Diebstahls in einem besonders schweren Fall (Einbruch und Versuch des Diebstahls aus einem verschlossenen Behältnis) nach §§ 242, 243 I Nr. 1 und Nr. 2 erfüllt. Dabei bilden die beiden Teilakte, die A aufgrund des schon beim Einbrechen vorhandenen allgemeinen Entwendungsvorsatzes durchgeführt hat (versuchte Wegnahme von Sachen aus dem Wandtresor und Wegnahme von Bekleidungsstücken) eine natürliche Handlungseinheit (Lehrbuch § 66 III 1). II. Strafbarkeit des A am zweiten Tag: Es liegt ein Diebstahlsversuch in einem besonders schweren Fall vor (§§ 242, 243 I Nr. 2, 23 I, 22).
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
111. Konkurrenz: Da sich die Ausführungshandlungen auch nicht teilweise decken (vgl. oben Fall 84), kann eine einheitliche Tat nur unter dem Gesichtspunkt der fortgesetzten Handlung vorliegen. Die Voraussetzungen dafür sind zu prüfen (Lehrbuch § 66 V): a) Die Gleichartigkeit der Begehungsweise der Teilakte ist zu bejahen. b) Die Einzelakte richten sich gegen dasselbe Rechtsgut (Eigentum und Gewahrsam). Daß der zweite Einbruch im Versuchsstadium endete, hindert die Annahme einer fortgesetzten Handlung nicht. c) Nach Rechtsprechung und überwiegender Lehre ist ein Gesamtvorsatz erforderlich, d. h. der Täter muß den Gesamterfolg der Tat bereits beim ersten Teilakt gewollt haben. Jedoch ist nicht erforderlich, daß sich der Gesamtvorsatz schon vor Beginn des ersten Teilaktes gebildet hat; es genügt vielmehr, daß er während der Ausführung des ersten Teilaktes gefaßt worden ist. Da A vor Beendigung des ersten Einbruchsdiebstahls den Vorsatz zum zweiten Diebstahl faßte, liegt der für eine fortgesetzte Handlung erforderliche Gesamtvorsatz vor. Somit sind die Voraussetzungen für die Annahme einer fortgesetzten Handlung erfüllt. Maßgebend für die Bestrafung als vollendetes Delikt ist der in vollendeter Form ausgeführte Einzelakt (Wegnahme der Bekleidungsstücke). Die in Versuchsform durchgeführten Teilakte sind bei der Strafzumessung erschwerend zu berücksichtigen.
Ergebnis: A hat sich nur wegen eines Diebstahls in einem besonders schweren Fall schuldig gemacht (§§ 242, 243 I Nr. 1 und Nr. 2). Fall86 Handlungseinheit durch "Kiammerwirkung" A und B luden die Mädchen C und D in ihr Wochenendhaus ein. Diese folgten der Einladung. A und B zwangen dort die Mädchen, die nicht entrinnen konnten, weil sämtliche Fenster vergittert und die Türen verschlossen waren, mit Gewalt mehrmals zur Vollziehung des Geschlechtsverkehrs (vgl. BGHSt 18, 26). Wie haben sich A und B strafbar gemacht?
Lösung
I. Strafbarkeit von A und B wegen gemeinschaftlicher Freiheitsberaubung in zwei Fällen nach §§ 239 I, 25 II: 1. A und B sperrten gemeinschaftlich sowohl die C als auch die D ein, so daß der Tatbestand des § 239 I zweimal erfüllt ist. 2. Gegenüber beiden Mädchen wurde die Freiheitsberaubung durch die gleiche Handlung, nämlich durch das Abschließen der Türen, begangen. Daher besteht zwischen beiden Freiheitsberaubungen (gleichartige) Idealkonkurrenz (§ 52 I zweite Alternative). Daß in § 239 ein höchstpersönliches Rechtsgut (Freiheit) geschützt wird, schließt, wenn mehrere Personen der Freiheit beraubt werden, die Annahme von Tateinheit nicht aus. II. Strafbarkeit von A und B nach §§ 177, 25 II: A. A und B haben in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken die C und die D vergewaltigt. Da die Vergewaltigung kein eigenhändiges Delikt ist, muß sich jeder die Handlungen des anderen als Mittäter zurechnen lassen.
XIV. Einheit und Mehrheit von Straftaten (Lehrbuch §§ 66- 69)
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B. Fraglich bleibt, in welchem Konkurrenzverhältnis die einzelnen Vergewaltigungshandlungen zueinander stehen. 1. Natürliche Handlungseinheit: Die wiederholte Verwirklichung des gleichen Tatbestandes in kurzer zeitlicher Abfolge kann eine natürliche Handlungseinheit darstellen (Lehrbuch § 66 III 1 und oben Fall 85). Jedoch wird man hier die einzelnen Gewaltakte unter den gegebenen Umständen nicht als Einheit ansehen können.
2. Fortgesetzte Handlung: Die einzelnen Vergewaltigungshandlungen könnten in Fortsetzungszusammenhang stehen. a) A und B hatten den erforderlichen Gesamtvorsatz (zur Frage, wie bestimmt der Gesamtvorsatz sein muß, Lehrbuch § 66 V 2c). b) Die Vergewaltigungen wurde auf gleichartige Weise begangen. c) Eine fortgesetzte Handlung setzt weiter voraus, daß sich die Einzelakte gegen das gleiche Rechtsgut richten. Verletzt wurde die sexuelle Freiheit der C und der D. Man könnte meinen, daß es sich dabei um das gleiche Rechtsgut "sexuelle Freiheit" handelt. Jedoch ist bei Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter verschiedener Rechtsgutsinhaber eine fortgesetzte Handlung ausgeschlossen (anders etwa bei Eigentums- und Vermögensverletzungen), weil es angesichtsder Bedeutung höchstpersönlicher Rechtsgüter unvertretbar erscheint, auf gesonderte Wertungen zu verzichten (Lehrbuch § 66 V 2b). Daher können nur jeweils die Vergewaltigungshandlungen, die gegenüber derselben Person begangen wurden, in Fortsetzungszusammenhang stehen. Mithin liegt eine fortgesetzte Vergewaltigung gegenüber C und eine weitere fortgesetzte Vergewaltigung gegenüber D vor (zwei Handlungen).
C. Ferner muß geprüft werden, in welchem Verhältnis die beiden fortgesetzten Vergewaltigungen zueinander stehen. Da sie nach den vorstehenden Ausführungen weder eine natürliche Handlungseinheit noch eine fortgesetzte Handlung bilden, ist anzunehmen, daß sie in Tatmehrheit (§ 53) stehen. Tateinheit (§ 52) scheidet aus, obwohl das Verschließen der Türen einen Teil der Gewalt zu beiden Verbrechen darstellte, denn jedes der Mädchen wurde außerdem noch durch besondere Gewaltakte zum Geschlechtsverkehr gezwungen. III. Konkurrenzverhältnis zwischen§§ 239 und 177: 1. Die Freiheitsberaubung, die in dem Verschließen der Türen des Wochenendhauses liegt, stellt ein Dauerdelikt dar (Lehrbuch § 26 II 1a), das mit den beiden Verbrechen der fortgesetzten Vergewaltigung in Tateinheit steht, da die Freiheitsberaubung ein Teil der Gewalt ist, die gegen die beiden Mädchen angewendet wurde (Lehrbuch § 67 III 2).
2. Die Freiheitsberaubung wird, wenn sie mit einer Vergewaltigung eine Tateinheit bildet, nicht im Wege der Gesetzeskonkurrenz verdrängt; vielmehr besteht Idealkonkurrenz (nur dann, wenn die Freiheitsberaubung nicht über das mit der Vergewaltigung notwendigerweise verbundene Maß an Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit hinausgeht, besteht Gesetzeskonkurrenz im Sinne der Konsumtion mit Vorrang des§ 177) (Lehrbuch§ 69 II 3b). 3. Nach dem bisherigen Ergebnis liegen zwei fortgesetzte gemeinschaftlich begangene Verbrechen der Vergewaltigung vor, von denen jedes mit derselben Freiheitsberaubung in Tateinheit steht. Für diese Problematik sind zwei Lösungsmöglichkeiten denkbar (Lehrbuch § 67 II 3):
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
a) Die einheitliche Freiheitsberaubung gegenüber beiden Opfern "verklammert" die Vergewaltigungen zu einer Handlungseinheit. b) Die in Tatmehrheit stehenden Vergewaltigungen "spalten" die einheitliche Freiheitsberaubung auf. Die erste Lösung ist nur dann sachgerecht, wenn die Straftat, die als Bindeglied in Betracht kommt, im Unrechtsgehalt an die zu verbindenden Straftaten herankommt; denn es wäre sinnwidrig, zwei selbständige Taten allein deswegen der strengeren Strafzumessungsregel des § 54 zu entziehen, weil sie mit einem leichteren Delikt zusammentreffen. Da die Freiheitsberaubung im Unrechtsgehalt nicht an die Vergewaltigung heranreicht (vgl. die Strafdrohungen}, ist im vorliegenden Fall der zweiten Lösung der Vorzug zu geben. Der in BGHSt 6, 81 aufgestellte Grundsatz, daß zwei fortgesetzte Handlungen schon dann ideell konkurrieren, wenn sich die Ausführungshandlungen auch nur in einem Teilakt überschneiden (hier: in dem Abschließen der Türen), muß in dem genannten Sinn eingeschränkt werden. Ergebnis: A und B sind wegen zweier Verbrechen der fortgesetzten gemeinschaftlichen Vergewaltigung jeweils in Tateinheit mit Freiheitsberaubung nach §§ 177 I, 239 I, 25 II, 52, 53 zu bestrafen.
Fall 87 Auflösung der Dauerstraftat A fuhr mit seinem Kraftwagen infolge alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit an einem Fußgängerüberweg einen Menschen an und verletzte ihn tödlich. Als er, noch im Fahren, die schweren Unfallfolgen erkannte, faßte er den Entschluß, sich den Feststellungen zu entziehen, und fuhr weiter (vgl. BGHSt 21, 203}. Wie hat sich A strafbar gemacht? Lösung
I. Strafbarkeit des A bis zum Unfall: 1. A hat die Tatbestände der fahrlässigen Trunkenheitsfahrt (§ 316 II}, der fahrlässigen Gefährdung des Straßenverkehrs(§ 315c I Nr. 1a und III Nr. 2} und der fahrlässigen Tötung (§ 222} verwirklicht. 2. Konkurrenzen: Wegen teilweiser Identität der Ausführungshandlungen liegt eine Handlungseinheit vor. Zwischen§ 316 II und§ 315c I Nr. 1a besteht Gesetzeskonkurrenz im Sinne der formellen Subsidiarität (Lehrbuch § 69 II 2} mit Vorrang des § 315c I Nr. 1a. Zwischen diesem und § 222 besteht Idealkonkurrenz (§ 52}. II. Strafbarkeit des A nach dem Unfall: 1. A hat die Tatbestände der unerlaubten Entfernung vom Unfallort (§ 142) und der fahrlässigen Trunkenheitsfahrt (§ 316 II) erfüllt. 2. Zwischen§ 316 II und§ 142 besteht Idealkonkurrenz(§ 52), da sich die AusführungshandJungen decken. Ill. Konkurrenz der Straftaten vor und nach dem Unfall: Es könnte insoweit Tateinheit bestehen.
XV. Die Rechtsfolgen der Straftat (Lehrbuch§§ 72- 84)
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a) Natürliche Handlungseinheit: Die Ausführungshandlungen zu §§ 315c I Nr. 1a, 222 einerseits und§§ 142, 316 andererseits sind durch den Entschluß zur Weiterfahrt getrennt, so daß eine natürliche Handlungseinheit ausscheidet. b) Tateinheit durch Klammerwirkung: Da der Tatbestand des § 316 II vor und nach dem Unfall erfüllt ist, stellt sich die Frage, ob dadurch beide Abschnitte zu einer Tat verbunden werden. Tateinheit durch Klammerwirkung setzt voraus, daß die verklammernde Straftat (§ 316) den zu verklammernden Delikten (§§ 315c I Nr. 1 a/ 222 und § 142) im Unrechtsgehalt wenigstens annähernd gleichkommt (vgl. die ähnliche Problematik oben in Fall 86). Dies wird man hier verneinen müssen. Außerdem führt BGHSt 21, 203 zu Recht aus, daß gar keine einheitliche Trunkenheitsfahrt (§ 316) vorliegt. Vielmehr bilde der Unfall eine Zäsur, weil der Täter einen neuen Tatentschluß fassen müsse; dies gelte auch dann, wenn die Fahrt ohne Anhalten fortgesetzt werde.
Ergebnis: A ist wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c I Nr. 1 a, III Nr. 2) in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung (§ 222) und wegen Trunkenheitsfahrt (§ 316 II) in Tateinheit mit unerlaubter Entfernung vom Unfallort (§ 142) strafbar. Die beiden Handlungen stehen in Tatmehrheit (§ 53). Beachte: Obwohl materiellrechtlich zwei Taten vorliegen, ist nur eine Tat im prozessualen Sinn (§ 264 StPO) gegeben (vgl. BGHSt 24, 185 [186]).
XV. Die Rechtsfolgen der Straftat Lehrbuch §§ 72 - 84 Fall88 Bemessung des Tagessatzes bei der Geldstrafe Das Gericht sieht es als erwiesen an, daß A eine vorsätzliche Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB) begangen hat. Es hält eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen für schuldangemessen. Zu den Vermögensverhältnissen des A werden folgende Feststellungen getroffen: A verdient 1900,- DM brutto. Davon gehen etwa 500,- DM Steuern und Sozialabgaben ab. Die Wohnungsmiete beträgt 500,- DM. Seine nicht berufstätige Ehefrau braucht zur Führung des Haushalts und für die Versorgung des gemeinsamen schulpflichtigen Kindes 700,- DM. Außerdem hat A ein nichteheliches Kind, für das er monatlich 150,- DM Unterhalt bezahlen muß. Ansonsten hat A keine Schulden, aber auch kein besonderes Vermögen. Für das in seinem Haushalt lebende Kind erhält er 50,- DM Kindergeld. In welcher Größenordnung wird das Gericht den Tagessatz festsetzen (vgl. OLG Celle NJW 1975, 2029)?
Lösung Die Höhe des Tagessatzes ist nach § 40 II zu bestimmen. Es ist vom Nettoeinkommen auszugehen, das bei A monatlich 1400,- DM beträgt (Bruttoeinkommen abzüglich Steuern und Sozialabgaben). Fraglich ist, ob die weiteren Verpflichtungen des A berücksichtigt werden müssen.
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
Ausgangspunkt der Überlegungen dazu ist, daß der Gesetzgeber mit § 40 II 2 das sog. Einbußesystem abgelehnt hat; nach diesem System käme es darauf an, welche finanzielle Einbuße dem A unter Berücksichtigung aller Umstände täglich zurnutbar wäre; die Miet- und Lebenshaltungskosten des A wären zu berücksichtigen, weil insoweit kaum eine Einschränkung seines Lebensstandards zurnutbar erscheint. Die Hinwendung zum Nettoeinkommensprinzip hat zur Folge, daß Verpflichtungen, die in der Regel jeder Täter hat, nicht zu berücksichtigen sind. Aus diesen Gründen sind die Mietkosten bei der Bemessung des Tagessatzes nicht zu berücksichtigen. Dagegen erscheint es gerechtfertigt, die Lebenshaltungskosten der Ehefrau und des schulpflichtigen Kindes als Unterhaltsverpflichtung des A in Rechnung zu stellen (Lehrbuch § 73 111 2a). Denn wenn das Ziel des Tagessatzsystems darin liegt, daß alle Täter bei gleicher Schuld ein möglichst gleichmäßig spürbares finanzielles Opfer erbringen sollen, so kann man nicht unbeachtet lassen, daß viele Täter kinderlose Junggesellen sind oder mitverdienende Ehegatten haben. Unter Berücksichtigung des Kindergeldes erscheint es angemessen, für den Lebensunterhalt der Ehefrau und des Kindes 500,- DM in Abzug zu bringen. Aus dem gleichen Grund ist auch der an das nichteheliche Kind zu zahlende Unterhalt abzuziehen. Für die Festlegung der Höhe des Tagessatzes ist daher von einem "bereinigten" Monatsnettoeinkommen von 750,- DM auszugehen. Auf den Tag umgerechnet kommt man auf einen Betrag von 25,- DM. Ergebnis: Das Gericht wird den Tagessatz auf etwa 25,- DM festsetzen.
Fall89 Geldstrafe statt kurzfristiger Freiheitsstrafe und vorläufige Einstellung des Strafverfahrens Der nicht vorbestrafte A wurde nach § 170b StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat verurteilt, weil er trotz eines Nettoeinkommens von 700,- DM seit der drei Monate zurückliegenden Ehescheidung keinerlei Unterhalt an sein bei der Mutter lebendes Kind bezahlt hat. Die Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Dem A wurde nach § 56c II Nr. 5 die Weisung erteilt, seiner Unterhaltspflicht nachzukommen. Bei der Strafzumessung führte das Gericht aus, daß eine Geldstrafe deshalb nicht in Betracht gekommen sei, weil zweifelhaft sei, ob A sie neben seiner Unterhaltspflicht bezahlen könnte. Die Verhängung einer Geldstrafe würde daher dem Strafzweck geradezu zuwiderlaufen. Sind diese Erwägungen zutreffend? Lösung
Nach § 47 I darf eine Freiheitsstrafe unter sechs Monaten nur ausgesprochen werden, wenn besondere Umstände, die in der Tat oder in der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerläßlich machen. Dies gilt auch für Freiheitsstrafen, die nach § 56 I zur Bewährung ausgesetzt werden (Lehrbuch § 84 I 2). 1. Zur Verteidigung der Rechtsordnung (Lehrbuch § 79 I 4 b) ist die Verhängung einer Freiheitsstrafe im vorliegenden Fall nicht unerläßlich. Insoweit fehlen schon die "besonderen Umstände", die den Fall vom Durchschnittsfall negativ abheben
XV. Die Rechtsfolgen der Straftat (Lehrbuch§§ 72- 84)
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würden. Keinesfalls sind pauschale Wertungen in der Art statthaft, daß "zur Ermunterung der Unterhaltsschuldner" bei Vergehen nach§ 170b grundsätzlich Freiheitsstrafen zu verhängen seien. 2. Maßgebend ist allein, ob zur Einwirkung auf den Täter eine Freiheitsstrafe unerläßlich ist, d. h. ob spezialpräventive Gründe zur Verhängung einer Freiheitsstrafe zwingen. Grundsätzlich ist es für die Anwendung des § 47 I ohne Bedeutung, ob der zu Verurteilende die Geldstrafe bezahlen kann, denn in der Geldstrafe als Sanktionsmittel liegt das Risiko mangelnder finanzieller Leistungsfähigkeit des Verurteilten eingeschlossen. In den Fällen der Unterhaltspflichtverletzung kommt allerdings hinzu, daß die Verhängung und Vollstreckung einer Geldstrafe künftige Unterhaltspflichtverletzungen nach sich ziehen könnte. Doch ist dies kein ausreichender Gesichtspunkt, der die Verhängung einer Freiheitsstrafe rechtfertigte. Es erschiene wenig gerecht, dem A nur deswegen eine kurzfristige Freiheitsstrafe mit ihren nachteiligen Wirkungen aufzuerlegen, weil nach seinen finanziellen Verhältnissen eine Geldstrafe untunlich erscheint. Vielmehr meint das Gesetz mit der Wendung "zur Einwirkung auf den Täter" die Fälle, in denen dieser aus Uneinsichtigkeit oder aus anderen Gründen durch eine Geldstrafe nicht belehrbar ist (Lehrbuch § 84 I 3b). Da nach diesen Ausführungen die Voraussetzungen für die Verhängung einer kurzfristigen Freiheitsstrafe nicht gegeben sind, kommt allein eine Geldstrafe in Betracht, wobei die Höhe des Tagessatzes nach den wirtschaftlichen Verhältnissen des A unter Umständen bis auf 2,- DM ermäßigt werden kann (§ 40 II 3). Sollte A auch eine niedrige Geldstrafe nicht aufbringen können, so kann unter Umständen von der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe nach § 459f StPO abgesehen werden, wenn die Vollstreckung für den Verurteilten eine "unbillige Härte" wäre. Die überzeugendste Lösung des vorliegenden Falles liegt jedoch darin, das Verfahren nach § 153a StPO vorläufig einzustellen mit der Weisung an A, der Unterhaltspflicht in Zukunft nachzukommen (Lehrbuch § 81 I 4). Kommt A dann schuldhaft seiner Unterhaltspflicht nicht nach, so kann in dem weitergeführten Verfahren die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter nach § 47 I unerläßlich sein. Ergebnis: Die Verhängung einer Freiheitsstrafe gegen A kommt nicht in Betracht. Vielmehr sollte das Verfahren nach § 153a StPO entweder durch die Staatsanwaltschaft nach Abs. 1 oder nach Erhebung der Klage durch das Gericht nach Abs. 2 mit der Weisung an A, seiner Unterhaltspflicht nachzukommen, vorläufig eingestellt werden.
Fall90 Die "Verteidigung der Rechtsordnung"
Der 20jährige nicht vorbestrafte A hat mit einem 13jährigen Kind über einen längeren Zeitraum hinweg sexuelle Beziehungen unterhalten, jedoch ohne daß es zum Geschlechtsverkehr kam. Das Gericht hält wegen fortgesetzten sexuellen Mißbrauchs eines Kindes nach§ 176 I eine Freiheitsstrafe von einem Jahr für angemessen. Trotz günstiger Sozialprognose wird die Strafe nicht nach § 56 I zur Bewährung ausgesetzt, weil die Vollstreckung "zur Verteidigung der Rechtsordnung" erforderlich sei. Zur Begründung führt das Gericht aus, daß A schwere Schuld auf sich geladen habe und daß die Bevölkerung kein Verständnis dafür haben würde, wenn man bei derartigen Taten Milde zeigen würde. Sind diese Erwägungen rechtlich zutreffend? (Vgl. BGHSt 24, 40.)
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
Lösung Nach § 56 I sind Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr bei günstiger Sozialprognose im Regelfall zur Bewährung auszusetzen. Nach §56 III wird die Vollstreckung einer solchen Strafe ausnahmsweise nicht ausgesetzt, wenn die Verteidigung der Rechtsordnung sie gebietet. Der Begriff der Verteidigung der Rechtsordnung ist im Sinne der kriminalpolitischen Gesamtkonzeption des Reformgesetzgebers, die Vollstreckung von Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr möglichst zu vermeiden, restriktiv auszulegen (Lehrbuch § 79 I 4b). Maßgebend ist auf der einen Seite die Aufgabe der Strafe, "die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung vor der Rechtsgemeinschaft zu erweisen und zugleich künftigen ähnlichen Rechtsverletzungen potentieller Täter vorzubeugen", auf der anderen Seite der "Gesichtspunkt der Erhaltung der Rechtstreue der Bevölkerung" (BGHSt 24, 40 [44f.]). Daraus folgt, daß die Schwere der Schuld für sich allein die Versagung der Aussetzung nicht rechtfertigen kann. Ebensowenig sind bestimmte Tatbestände oder Tatbestandsgruppen - wie etwa Sittlichkeitsdelikte mit Kindern - von der Strafaussetzung ausgeschlossen. Vielmehr ist die Vollstreckung der Strafe zur Verteidigung der Rechtsordnung nur dann geboten, "wenn eine Aussetzung der Strafe im Hinblick auf die schwerwiegende Besonderheit des Einzelfalles für das allgemeine Rechtsempfinden schlechthin unverständlich erscheinen müßte und das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts und in den Schutz der Rechtsordnung vor kriminellen Angriffen dadurch erschüttert werden könnte" (BGHSt 24, 40 [46]).
Ergebnis: Die Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung ist nicht zutreffend begründet. Fall 91
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Sicherungsverfahren Der bereits einmal wegen Zechbetrugs vorbestrafte A beging innerhalb von drei Tagen zwei weitere Zechbetrügereien, wobei er jeweils Speisen und Getränke im Wert von etwa 10,- DM zu sich nahm. Da er bereits mehrfach in Nervenheilanstalten behandelt worden war, ordnete das Amtsgericht nach § 81 StPO für die Dauer von sechs Wochen die Unterbringung des A zum Zwecke der Begutachtung seines psychischen Zustandes in einem öffentlichen psychiatrischen Krankenhaus an. Der Gutachter kam zum Ergebnis, daß A infolge einer paranoiden Schizophrenie nicht schuldfähig sei; er sei infolge der Schizophrenie unberechenbar und werde wahrscheinlich auch künftig rechtswidrige Taten, hierbei auch Gewalttätigkeiten, verüben. Die Staatsanwaltschaft stellt nach §§ 413 ff. StPO beim Landgericht den Antrag, die Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 selbständig anzuordnen. Mit Recht? (Vgl. BGHSt 20, 232.)
Lösung Es sind die Voraussetzungen des § 63 zu prüfen: 1. A hat rechtswidrige Taten (§ 11 I Nr. 5) begangen, die sich als Fälle von Bagatellbetrug nach §§ 263 IV, 248a darstellen. Zur Strafverfolgung ist nach § 248a an sich ein Strafantrag erforderlich, doch kann die Strafverfolgung auch ohne einen solchen Antrag stattfinden, wenn die Staatsanwaltschaft wegen des besonderen öffentlichen Interesses ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält (Lehr-
XV. Die Rechtsfolgen der Straftat (Lehrbuch§§ 72 - 84)
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buch § 85 I 2). Die Verfolgbarkeit ist hier gegeben, da die Staatsanwaltschaft mit ihrem Antrag das Bestehen eines besonderen öffentlichen Interesses bejaht hat. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft ist für das Gericht bindend. 2. A war bei diesen Taten, sofern das Gericht der Auffassung des Gutachters folgt, schuldunfähig (§ 20). 3. Von A sind in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten (Gewalttaten) zu erwarten. Er ist infolgedessen für die Allgemeinheit gefährlich. 4. Die von A begangenen Taten stehen in Zusammenhang mit der geistigen Erkrankung, die die Begehung künftiger erheblicher Rechtsverletzungen befürchten läßt. Darüber hinaus wird nicht wie bei der Sicherungsverwahrung verlangt, daß sich die Allgemeingefährlichkeit in der die Maßregel auslösenden Tat (hier: den Zechbetrügereien) gezeigt hat.
5. Bis hierhin sind die Voraussetzungen der Unterbringung nach § 63 zu bejahen. Jedoch ist bei Anordnung einer Maßregel der Grundsatz .der Verhältnismäßigkeit zu beachten (§ 62). Insbesondere darf die Anordnung der Maßregel zur Bedeutung der vom Täter begangenen Tat nicht außer Verhältnis stehen. Wegen zweier Bagatellbetrügereien käme auch unter Berücksichtigung der Vorstrafe bei einem Schuldfähigen nur eine Geldstrafe in Betracht. Es erscheint unverhältnismäßig, deswegen gegen den schuldunfähigen A eine freiheitsentziehende Maßregel anzuordnen.
Ergebnis: Die Anordnung der Unterbringung des A in einem psychiatrischen Krankenhaus ist abzulehnen (zur Registrierung derartiger Fälle vgl. § 12 BZRG). Eine andere Frage ist, ob die untere Verwaltungsbehörde nach § 3 des Gesetzes über die Unterbringung von Geisteskranken und Suchtkranken von Baden-Württemberg vom 16.5. 1955 (Dürig, Gesetze des Landes Baden-Württemberg Nr. 109) die Unterbringung anordnen kann.
Fall 92 Entziehung der Fahrerlaubnis bei Zusammenhangstaten Der arbeits- und mittellose A mietete unter Vortäuschung seiner Zahlungsfähigkeit einen Pkw für drei Tage, wobei er sich mit seinem Führerschein auswies. Nachdem er mit dem Wagen einen Monat lang gefahren war und eine Strecke von 4000 km zurückgelegt hatte, wurde er gestellt. In der Hauptverhandlung beantragt der Staatsanwalt, dem A die Fahrerlaubnis zu entziehen. Mit Recht? (Vgl. BGHSt 17, 218.)
Lösung Die Entziehung der Fahrerlaubnis als Maßregel nach § 69 ist von dem Fahrverbot als Nebenstrafe nach § 44 zu unterscheiden (Lehrbuch § 78 II 1). Das Fahrverbot setzt eine. Straftat voraus, die aber ebenso wie die rechtswidrige Tat nach § 69 beschaffen sein muß. Nach § 69 hat die Entziehung der Fahrerlaubnis zwei Voraussetzungen: 1. Es muß eine Tat vorliegen, die der Täter bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen hat. Dabei braucht es sich keineswegs um ein Straßenverkehrsdelikt zu handeln. Vielmehr reicht es aus, daß das Kraftfahrzeug als wesentli8 Fälle und Lösungen, 3. A.
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Erster Teil: Fälle und Lösungen
ches Mittel zur Planung, Vorbereitung, Begehung oder Deckung der Straftat benutzt worden ist (z. B. Abtransport der Diebesbeute, die Fahrt mit dem Opfer einer Vergewaltigung an eine einsame Stelle). Im vorliegenden Fall könnte der "Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs" deshalb zweifelhaft sein, weil der Betrug mit der Erlangung des Fahrzeugs durch A bereits beendet war. Jedoch setzt das Gesetz nicht voraus, daß die Tat "beim Führen" des Kraftfahrzeugs begangen wurde. Eine Straftat, die wie die Tat des A die Teilnahme am Straßenverkehr erst ermöglicht, reicht für§ 69 aus (Lehrbuch § 74 I 2). 2. Aus der Tat muß sich ergeben, daß der Täter zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. Die mangelnde Eignung ist dabei nicht allein im Sinne des FehJens von körperlichen und geistigen Voraussetzungen sowie technischer Fertigkeiten zu verstehen, sie kann vielmehr auch auf Charaktermängeln beruhen. Bei einer so erheblichen Straftat wie der des A wird man - vorbehaltlich der Abwägung aller Umstände des Einzelfalles - einen derartigen Charaktermangel annehmen können (Lehrbuch § 78 II 3a). Ergebnis: Die Entziehung der Fahrerlaubnis des A kommt nach § 69 in Betracht.
Zweiter Teil : Anleitungen zur Bearbeitung strafrechtlicher Fälle* A. Das vollendete vorsätzliche Begehungsdelikt Negative Vorprüfung des Sachverhalts nach dem Handlungsbegriff (Ausscheidung der Fälle von Reflexbewegung, Bewußtlosigkeit und absoluter Gewalt), aber nur, wenn der Sachverhalt ausnahmsweise dazu Anlaß gibt (Lehrbuch § 23 IV 2ad). Prüfung der Vortrage, ob positives Tun oder Unterlassen oder beides in Betracht kommt (Lehrbuch § 58 II). I. Die Tatbestandsmäßigkeit (Unrechtstatbestand). 1. Objektiver Tatbestand (Lehrbuch § 27):
a) Die tatbestandsmäßige Handlung mit den diese näher kennzeichnenden objektiven Merkmalen. b) Das Handlungsobjekt mit den dieses näher bestimmenden Merkmalen. c) Der Verletzungs- bzw. Gefährdungserfolg nebst der Kausalität zwischen Handlung und Erfolg und der objektiven Zurechnung des Erfolges (bei den Erfolgsdelikten) (Lehrbuch § 28). d) Die objektiv-täterschaftliehen Merkmale (z.B. die Eigenschaft als Verheirateter, Zeuge oder Amtsträger). e) Bei Strafvorschriften mit Regelbeispielen, z.B. dem besonders schweren Fall des Diebstahls (§ 243 StGB), Prüfung der Merkmale des Regelbeispiels (Lehrbuch § 26 V 2). 2. Subjektiver Tatbestand: a) Der Vorsatz in bezug auf alle Merkmale des objektiven Tatbestandes (bzw. der Tatbestandsirrtum) (Lehrbuch § 29). b) Die nach dem Tatbestand erforderlichen besonderen subjektiven Tatbestandsmerkmale (Absichten, Tendenzen), z. B. die Zueignungsahsicht oder die Gewerbsmäßigkeit (Lehrbuch § 30). II. Die Rechtswidrigkeit. Prüfung der Frage, ob die unrechtsindizierende Wirkung der Tatbestandsmäßigkeit der Handlung durch Rechtfertigungsgründe ausgeschlossen ist, z. B. durch Notwehr oder durch rechtfertigenden Notstand (Lehrbuch § 31 1). 1. Die objektiven Merkmale des betreffenden Rechtfertigungsgrundes. 2. Die subjektiven Merkmale des betreffenden Rechtfertigungsgrundes (Lehrbuch § 31 IV). • Die Anleitungen geben nur formale Hinweise für den Aufbau einer Fallbearbeitung bei einfachem Sachverhalt. Die Ausgestaltung der Lösung bei komplizierteren Fällen kann Abweichungen von dem Schema erforderlich machen. g•
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Zweiter Teil: Anleitungen zur Bearbeitung strafrechtlicher Fälle
III. Die Schuld. 1. Die Schuldfähigkeit (Lehrbuch § 40). Nur zu erörtern, wenn der Sachverhalt dazu Anlaß gibt (z. B. bei Jugendlichkeit, Trunkenheit, Anzeichen einer seelischen Störung nach § 20 StGB). Hier auch das Problem der "actio libera in causa" (Lehrbuch § 40 VI).
2. Die nach dem Tatbestand etwa erforderlichen objektiven oder subjektiven Schuldmerkmale (Schuldtatbestand), z. B. die nichteheliche Geburt bei der Kindestötung (§ 217 StGB), der niedrige Beweggrund beim Mord (§ 211 II StB) (Lehrbuch§ 42). 3. Das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit (bzw. der Verbotsirrtum) (Lehrbuch
§ 41).
4. Die Entschuldigungsgründe, z. B. der entschuldigende Notstand (§ 35 StGB und Lehrbuch § 44) oder die Notwehrüberschreitung (§ 33 StGB und Lehrbuch § 45). IV. Persönliche Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgründe (Lehrbuch § 52), z. B. die Indemnität der Abgeordneten (§ 36 StGB), der strafbefreiende Rücktritt vom vollendeten Delikt, z.B. bei der Brandstiftung(§ 310 StGB). V. Objektive Bedingungen der Strafbarkeit (Lehrbuch §53), z.B. die Ausführung der Rauschtat (§ 330a StGB). VI. Strafantrag und andere Prozeßvoraussetzungen (Lehrbuch §§ 85, 86), z. B. Strafverfolgungsverjährung (§§ 78- 78c StGB und Lehrbuch § 86 1).
B. Das versuchte vorsätzliche Begehungsdelikt Negative Vorprüfung des Sachverhalts nach dem Handlungsbegriff und Prüfung der Vorfrage, ob positives Tun oder Unterlassen anzunehmen ist (wie Anleitung A). Vorprüfung, welche Strafvorschrift nach der Willensrichtung des Täters in Betracht kommt. Vorläufige Feststellung, daß nicht alle objektiven Tatbestandsmerkmale erfüllt sind. Vorprüfung der Strafbarkeit des Versuchs nach der in Betracht kommenden Strafvorschrift (§ 23 I StGB) (z. B. nicht bei § 223 StGB). I. Die Tatbestandsmäßigkeit (Unrechtstatbestand). 1. Subjektiver Tatbestand:
a) Der Vorsatz (Vorstellung i. S. von § 22 StGB) in bezug auf sämtliche Merkmale des objektiven Tatbestandes der betreffenden Strafvorschrift (Lehrbuch § 49 III 1). b) Die nach dem Tatbestand erforderlichen besonderen subjektiven Tatbestandsmerkmale (Absichten, Tendenzen) (Lehrbuch § 49 III 1 b). 2. Objektiver Tatbestand: a) Betätigung des Vorsatzes durch unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung des Tatbestandes nach § 22 StGB (Abgrenzung von Vorbereitungs- und Versuchshandlung) (Lehrbuch § 49 IV).
C. Das fahrlässige Begehungsdelikt
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b) Das Fehlen der Vollendung des objektiven Tatbestandes (mangels Erfolgseintritts oder infolge Fehlens eines anderen objektiven Tatbestandsmerkmals) (Lehrbuch § 49 III 3). Hier auch Erörterung des untauglichen Versuchs, falls ein solcher vorliegt (Lehrbuch § 50), sowie Prüfung der Voraussetzungen des § 23 III (Lehrbuch§ 50 I Sb). c) Die objektiv-täterschaftliehen Merkmale (beim Versuch des untauglichen Täters nur in dessen Vorstellung; hierzu Lehrbuch § 50 III). d) Erfolgseintritt nebst Kausalität von Handlung und Erfolg, wenn bei einem untauglichen Versuch Nichtvollendung wegen Fehlens eines anderen objektiven Tatbestandsmerkmals als des Erfolges anzunehmen ist; der Täter hält z. B. die Hütte, die er anzündet, irrig für bewohnt(§ 306 Nr. 2 StGB).
li. Die Rechtswidrigkeit. Wie Anleitung A II.
111. Die Schuld. Wie Anleitung A III. IV. Persönliche Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, insbesondere Prüfung der Frage des strafbefreienden Rücktritts vom Versuch (§ 24 StGB) (Lehrbuch § 51).
1. Rücktritt vom unbeendigten Versuch nach § 24 (Lehrbuch § 51 III).
1 erste Alternative StGB
2. Rücktritt vom beendigten Versuch nach § 24 I 1 zweite Alternative StGB
(Lehrbuch§ 51 IV).
V. Objektive Bedingungen der Strafbarkeit. Wie Anleitung A V. VI. Feststellung der Strafbarkeit des Versuchs (bei Vergehen nach § 23 I StGB) (Lehrbuch § 49 V 1).
VII. Strafantrag und andere Prozeßvoraussetzungen. Wie Anleitung A VI.
C. Das fahrlässige Begehungsdelikt Negative Vorprüfung des Sachverhalts nach dem Handlungsbegriff (wie Anleitung A). Dabei ist daran zu denken, daß der Eintritt der Reflexbewegung oder Bewußtlosigkeit bzw. die Anwendung absoluter Gewalt voraussehbar und vermeidbar gewesen sein kann. Prüfung der Vorfrage, ob positives Tun oder Unterlassen in Betracht kommt, was bei fahrlässigem Verhalten häufig zweifelhaft sein kann (wie Anleitung A). I. Die Tatbestandsmäßigkeit (Unrechtstatbestand).
1. Verletzung der objektiv gebotenen Sorgfalt zur Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung (die Sorgfaltspflicht ist nach Ursprung, Inhalt und Grenzen anband des Tatbestandes und aller Umstände des Falles, einschließlich der Zwecke, die der Täter verfolgt hat, konkret zu ermitteln) (Lehrbuch § 55 1).
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Zweiter Teil: Anleitungen zur Bearbeitung strafrechtlicher Fälle
2. Gesteigerter Grad der Fahrlässigkeit in Form von Leichtfertigkeit (z. B. § 97 II StGB) (Lehrbuch § 54 II 2) oder grober Verkehrswidrigkeit (§ 315c I Nr. 2 StGB). Nur, wenn der Tatbestand ein solches Merkmal enthält. 3. Eintritt des Verletzungs- oder Gefährdungserfolges, soweit der Tatbestand einen solchen voraussetzt, nebst Kausalität zwischen Handlung und Erfolg (bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten) (Lehrbuch § 55 II). Hier auch Problem des besonderen Rechtswidrigkeitszusammenhangs (Lehrbuch §55 II 2b). 4. Objektive Voraussehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung, einschließlich des Erfolgs und des Kausalverlaufs (bei unbewußter Fahrlässigkeit) (Lehrbuch § 55 II 3) oder Voraussicht der Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung, einschließlich des Erfolgs und des Kausalverlaufs, durch den Täter unter pflichtwidrigem Vertrauen darauf, daß der Tatbestand sich nicht verwirklichen werde (bei bewußter Fahrlässigkeit) (Lehrbuch § 54 II 1). II. Die Rechtswidrigkeit.
Wie Anleitung A II. Daran denken, daß auch bei Fahrlässigkeitstaten Rechtfertigungsgründe in Betracht kommen (z. B. Notwehr, rechtfertigender Notstand, Einwilligung des Verletzten) (Lehrbuch § 56). III. Die Schuld. 1. Die Schuldfähigkeit (wie Anleitung A III 1) (Lehrbuch § 57 I 1).
2. Die nach dem Tatbestand ausnahmsweise erforderlichen Schuldmerkmale (Schuldtatbestand), z.B. Rücksichtslosigkeit nach § 315c I Nr. 2 StGB (wie Anleitung A III 2). 3. Das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit (bzw. der Verbotsirrtum) (Lehrbuch
§ 57 I 2).
4. Die Vorwerfbarkeit der objektiv fahrlässigen Handlung: a) Nichterfüllung der nach dem Tatbestand und nach den Umständen objektiv gebotenen Sorgfaltspflicht trotz ausreichender persönlicher Fähigkeiten zu sorgfältigem Handeln (persönliche Pflichtwidrigkeit des Handelns) (Lehrbuch § 57 II). b) Fehlende Voraussicht der Tatbestandsverwirklichung, einschließlich des Erfolgs und des Kausalverlaufs, trotz ausreichender persönlicher Fähigkeiten zur Voraussicht (bei unbewußter Fahrlässigkeit) (Lehrbuch § 57 III) oder pflichtwidrige Fehleinschätzung der erkannten Gefahr für das geschützte Handlungsobjekt trotz ausreichender persönlicher Fähigkeiten zur richtigen Einschätzung (bei bewußter Fahrlässigkeit). 5. Unzumutbarkeit der Vermeidung des Risikos der Tatbestandsverwirklichung in besonderen Konfliktslagen (hauptsächlich bei bewußter Fahrlässigkeit) (Lehrbuch § 57 IV). IV. Persönliche Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, z. B. die rechtzeitige Berichtigung beim fahrlässigen Falscheid (§ 163 II StGB). V. Objektive Bedingungen der Strafbarkeit, z. B. die Ausführung der Rauschtat bei der Volltrunkenheit in Verbindung mit einer Fahrlässigkeitstat (§ 330a StGB). VI. Strafantrag und andere Prozeßvoraussetzungen. Wie Anleitung A VI.
D . Das Unterlassungsdelikt (vier Fallgestaltungen)
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D. Das Unterlassungsdelikt (vier Fallgestaltungen) Vorprüfung der Frage, ob sich der strafrechtlich relevante Ausschnitt aus dem Gesamtverhalten des Täters als positives Tun oder als Unterlassen darstellt. Vorprüfung der Frage, ob das Untätigbleiben auf Reflex, Bewußtlosigkeit oder absolute Gewalt zurückzuführen ist. Vorprüfung der Frage, ob ein echtes oder unechtes Unterlassungsdelikt anzunehmen ist (Lehrbuch § 58 III). (1) Das vorsätzliche echte Unterlassungsdelikt I. Die Tatbestandsmäßigkeit (Unrechtstatbestand). 1. Die objektiven Merkmale, die die Entstehung der Handlungspflicht begründen (das Vorliegen der tatbestandsmäßigen Situation), z.B. bei § 330c StGB der Unglücksfall und die Erforderlichkeit und Zumutbarkeit der Hilfeleistung (Lehrbuch§ 59 I).
2. Das Fehlen eines Versuchs, die nach Sachlage gebotene Handlung vorzunehmen (Fehlen einer Handlung mit Gebotserfüllungstendenz), z. B. das Fehlen des Versuchs, nach § 138 StGB rechtzeitig Anzeige zu erstatten (Lehrbuch § 59 II 1). 3. Das Bestehen der individuellen Handlungsfähigkeit (Lehrbuch § 59 li 2). a) Der Vorsatz hinsichtlich der tatbestandsmäßigen Situation. b) Die objektive Möglichkeit der Vornahme der nach Sachlage gebotenen Handlung, z. B. die Möglichkeit für den Kraftfahrer, bei einem Unglücksfall die erforderliche Hilfe zu leisten(§ 330c StGB). c) Das Bewußtsein der eigenen Handlungsfähigkeit beim Unterlassenden.
li. Die Rechtswidrigkeit. Wie Anleitung A li. III. Die Schuld. 1. Die Schuldfähigkeit (wie Anleitung A III 1).
2. Die nach dem Tatbestand ausnahmsweise erforderlichen Schuldmerkmale (Schuldtatbestand), z. B. das Beharren auf der Nichtbefolgung eines Befehls (§ 20 I Nr. 2 WStG). 3. Das Bewußtsein der Handlungspflicht (bzw. der Gebotsirrtum) (Lehrbuch
§ 60 1).
4. Die Entschuldigungsgründe, z. B. die Unterlassung. der nach § 138 StGB gebotenen Anzeige wegen Todesdrohung (§ 35 StGB). (2) Das fahrlässige echte Unterlassungsdelikt Vorprüfungen wie oben vor (1) I. Die Tatbestandsmäßigkeit (Unrechtstatbestand).
1. Die objektiven Merkmale, die die Entstehung der Handlungspflicht begründen (Vorliegen der tatbestandsmäßigen Situation), z. B. bei § 401 AktG die Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung der AG.
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Zweiter Teil: Anleitungen zur Bearbeitung strafrechtlicher Fälle
2. Das Fehlen des Versuchs, die gebotene Handlung vorzunehmen bzw. das Mißlingen dieser Handlung infolge einer Sorgfaltspflichtverletzung, z. B. bei § 138 III StGB die Verspätung der Anzeige infolge leichtfertig verzögerter Absendung. 3. Das Bestehen der individuellen Handlungsfähigkeit: a) Pflichtwidrige Unkenntnis von der tatbestandsmäßigen Situation, z.B. bei
§ 401 AktG die Unkenntnis vom Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschul-
dung der AG.
b) Objektive Möglichkeit der Vornahme der Handlung, z.B. Vorhandensein eines Telefons zur Erstattung der Anzeige (§ 138 III StGB). c) Pflichtwidrige Unkenntnis von dieser Möglichkeit, z. B. bei § 138 III StGB Unkenntnis von der Möglichkeit, die Anzeige noch telefonisch rechtzeitig zu erstatten (Lehrbuch § 59 VII 2). II. Die Rechtswidrigkeit. Wie Anleitung C II. III. Die Schuld. 1. Die Schuldfähigkeit (wie Anleitung A III 1).
2. Bewußtsein der Rechtswidrigkeit (bzw. vorwerfbarer Gebotsirrtum hinsichtlich der Handlungspflicht). 3. Vorwerfbarkeit der Sorgfaltspflichtverletzung in den Fällen oben (2) I 2 zweite Alternative, oben (2) I 3 a und oben (2) I 3 c nach den persönlichen Fähigkeiten des Täters. 4. Schuldausschluß wegen Unzumutbarkeit der Vornahme der gebotenen Handlung (hauptsächlich bei bewußter Fahrlässigkeit), z. B. Todesdrohung für den Fall der Benutzung des Telefons (§ 138 III StGB). (3) Das vorsätzliche unechte Unterlassungsdelikt Vorprüfungen wie oben vor (1) I. Die Tatbestandsmäßigkeit (Unrechtstatbestand). 1. Der Eintritt des im Tatbestand vorausgesetzten Verletzungs- oder Gefährdungserfolgs, z. B. der Tod eines Menschen (§ 212 StGB) oder die Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen durch Unterlassung des Kenntlichmachens eines liegengebliebenen Fahrzeugs(§ 315c I Nr. 2g StGB). 2. Das Fehlen eines Versuchs, die zur Erfolgsahwendung erforderliche Handlung vorzunehmen (Fehlen einer Handlung mit Erfolgsabwendungstendenz), z. B. das Nichtlöschen eines durch Blitzschlag entstandenen Brandes (§ 306 StGB). 3. Die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, daß die zur Erfolgsahwendung erforderliche Handlung den Erfolg abgewendet hätte (hypothetische Kausalitätsprüfung) (Lehrbuch § 59 III). 4. Die Fähigkeit des Täters zur Erfolgsabwendung: a) Die Voraussicht des Eintritts des tatbestandsmäßigen Erfolges.
D. Das Unterlassungsdelikt (vier Fallgesta!tungen)
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b) Die objektive Möglichkeit der Vornahme der zur Erfolgsahwendung erforderlichen Handlung. c) Das Bewußtsein der eigenen Handlungsfähigkeit. 5. Die Garantenstellung im Hinblick auf die Abwendung des tatbestandsmäßigen Erfolges (Lehrbuch § 59 IV): a) Die objektiven Merkmale der Garantenstellung. b) Die Kenntnis der objektiven Merkmale der Garantenstellung. 6. Das Vorliegen der außer dem Erfolgseintritt erforderlichen Tatbestandsmerkmale : a) Die objektiven Tatbestandsmerkmale, einschließlich der objektiv-täterschaftliehen Merkmale. b) Der Vorsatz hinsichtlich dieser objektiven Tatbestandsmerkmale. c) Die nach dem Tatbestand erforderlichen subjektiven Tatbestandsmerkmale (Absichten, Tendenzen). 7. Gleichwertigkeit des Unterlassens mit dem positiven Tun bei den positiv gefaßten Handlungsmerkmalen, z.B. Täuschung beim Betrug(§ 263 StGB), Benutzung eines gefährlichen Werkzeugs bei der Körperverletzung nach§ 223a StGB: a) Herbeiführung des Erfolges in einer den positiven Handlungsmerkmalen entsprechenden Weise. b) Vorsatz hinsichtlich der Art und Weise der Verwirklichung des tatbestandsmäßigen Erfolges. II. Die Rechtswidrigkeit. Wie Anleitung A II. III. Die Schuld. 1. Die Schuldfähigkeit (wie Anleitung A III 1).
2. Die nach dem Tatbestand erforderlichen Schuldmerkmale (Schuldtatbestand), z. B. die Nichtehelichkeit des Kindes und die Begehung der Tat während oder gleich nach der Geburt(§ 217 StGB). 3. Das Bewußtsein der Garantenpflicht (bzw. der Gebotsirrtum). 4. Die Entschuldigungsgründe, z.B. die Unterlassung der Rettung des Kindes wegen eigener Lebensgefahr(§ 35 StGB). (4) Das fahrlässige unechte Unterlassungsdelikt Vorprüfungen wie oben vor (1) I. Tatbestandsmäßigkeit. 1. Der Eintritt des im Tatbestand vorausgesetzten Verletzungs- oder Gefährdungserfolges, z.B. der Tod eines Menschen (§ 222 StGB) oder die Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen durch fahrlässiges Verursachen der Gefahr (§ 315c III Nr. 1 i.V.m. Abs. 1 Nr. 2g StGB). 2. Das Fehlen eines Versuchs, die zur Erfolgsahwendung erforderliche Handlung vorzunehmen, bzw. das Mißlingen dieser Handlung infolge einer Sorgfaltspflicht-
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Zweiter Teil: Anleitungen zur Bearbeitung strafrechtlicher Fälle
verletzung, z. B. das Mißlingen des Löschens eines Brandes durch falsche Verwendung der Löschgerätschaften. 3. Die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, daß die zur Erfolgsahwendung erforderliche Handlung den Erfolg abgewendet hätte (hypothetische Kausalitätsprüfung). 4. Die Fähigkeit zur Erfolgsabwendung:
a) Pflichtwidrige Unkenntnis von dem Bevorstehen des Eintritts des tatbestandsmäßigen Erfolges, z. B. der Hauseigentümer achtet nicht darauf, daß sein bissiger Hund einen Passanten anfallen kann. b) Objektive Möglichkeit der Vornahme der zur Erfolgsahwendung erforderlichen Handlung, z. B. der Hund könnte in einem Zwinger gehalten werden. c) Pflichtwidrige Unkenntnis von dieser Möglichkeit, z. B. der Hauseigentümer macht sich nicht klar, daß der bissige Hund in einem Zwinger gehalten werden muß. 5. Die Garantenstellung im Hinblick auf die Abwendung des tatbestandsmäßigen Erfolges: a) Die objektiven Merkmale der Garantenstellung. b) Pflichtwidrige Unkenntnis von den objektiven Merkmalen der Garantenstellung. 6. Vorliegen der außer dem Erfolgseintritt erforderlichen objektiven Merkmale des Begehungstatbestandes und pflichtwidrige Unkenntnis hinsichtlich dieser Merkmale, z.B. pflichtwidriges Verkennen der Explosionsgefahr (§ 311 V StGB). II. Rechtswidrigkeit. Wie Anleitung C II. III. Schuld. 1. Die Schuldfähigkeit (wie Anleitung A III 1). 2. Das Bewußtsein der Garantenpflicht bzw. der vorwertbare Gebotsirrtum.
3. Die Vorwerfbarkeit der Sorgfaltspflichtverletzung in den Fällen oben (4) I 2 zweite Alternative, oben (4) I 4 a und oben (4) I 4 c. 4. Unzumutbarkeit der Vornahme der gebotenen Handlung (hauptsächlich bei bewußter Fahrlässigkeit). 5. Die Entschuldigungsgründe, z. B. Nichtverhinderung einer drohenden Explosion wegen eigener Lebensgefahr(§ 35 StGB).
E. Verschiedene Formen der Beteiligung (jeweils nur der Tatbestand) I. Mittäterschaft (§ 25 II StGB). 1. Objektiver Tatbestand: a) Vornahme einer tatbestandsmäßigen Ausführungshandlung oder Leistung eines anderen Tatbeitrags, der sich als wesentliches Teilstück der Gesamttat darstellt (funktionelle Tatherrschaft) (Lehrbuch § 63 III).
E. Verschiedene Formen der Beteiligung (jeweils nur den Tatbestand)
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b) Der im Tatbestand vorausgesetzte besondere Verletzungs- oder Gefährdungserfolg nebst Kausalität zwischen Handlung und Erfolg. c) Die objektiv-täterschaftliehen Merkmale. 2. Subjektiver Tatbestand: a) Der gemeinschaftliche Tatentschluß, durch den jedem Mittäter eine für die Gesamtheit wesentliche Rolle bei der Tatausführung zugewiesen wird (Lehrbuch § 63 II). b) Vorsatz bei der Ausführung des eigenen Tatbeitrags. c) Die nach dem Tatbestand erforderlichen besonderen subjektiven Tatbestandsmerkmale (Absichten, Tendenzen). II. Mittelbare Täterschaft(§ 25 I zweite Alternative). 1. Objektiver Tatbestand: a) Ausführung der tatbestandsmäßigen Handlung durch ein nicht als Täter voll verantwortlich handelndes Werkzeug. b) Unterlegene Stellung des Werkzeugs gegenüber dem Täter infolge von Umständen, die die Tatherrschaft des mittelbaren Täters begründen (z. B. Zwang, Irrtum, Schuldunfähigkeit, mangelnde Qualifikation) (Lehrbuch § 62 II). c) Vorliegen der objektiv-täterschaftliehen Merkmale beim mittelbaren Täter. 2. Subjektiver Tatbestand: a) Vorsatz des mittelbaren Täters hinsichtlich aller objektiven Tatbestandsmerkmale, einschließlich der Voraussetzungen der eigenen T atherrschaft. b) Vorliegen der nach dem Tatbestand erforderlichen subjektiven Tatbestandsmerkmale beim mittelbaren Täter.
III. Anstiftung (§ 26 StGB). 1. Objektiver Tatbestand: a) Eine vorsätzlich begangene rechtswidrige Tat, die nicht schuldhaft begangen zu sein braucht (§§ 11 I Nr. 5, 29 StGB), aber mindestens das Stadium eines mit Strafe bedrohten Versuchs erreicht haben muß (sog. Haupttat) (Lehrbuch § 64
III 3).
b) Herbeiführung des Tatentschlusses beim Haupttäter (Anstifterhandlung) (Lehrbuch§ 64 III 2c). 2. Subjektiver Tatbestand: a) Vorsatz hinsichtlich aller (auch der subjektiven) Tatbestandsmerkmale der Haupttat (doppelter Anstiftervorsatz) (Lehrbuch § 64 III 2b). b) Vorsatz hinsichtlich der Herbeiführung des Tatentschlusses beim Haupttäter (doppelter Anstiftervorsatz) (Lehrbuch § 64 III 2b).
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Zweiter Teil: Anleitungen zur Bearbeitung strafrechtlicher Fälle
IV. Beihilfe (§ 27 StGB). 1. Objektiver Tatbestand:
a) Eine vorsätzlich begangene rechtswidrige Tat, die nicht schuldhaft begangen zu sein braucht (§§ 11 I Nr. 5, 29 StGB), aber mindestens das Stadium eines mit Strafe bedrohten Versuchs erreicht haben muß (sog. Haupttat) (Lehrbuch § 64 IV 3). b) Förderung der Haupttat durch Rat oder Tat (Gehilfenhandlung) (Lehrbuch
§ 64 IV 2).
2. Subjektiver Tatbestand: a) Vorsatz hinsichtlich aller (auch der subjektiven) Tatbestandsmerkmale der Haupttat (doppelter Gehilfenvorsatz) (Lehrbuch § 64 IV 2d). b) Vorsatz hinsichtlich der Förderung der Haupttat (doppelter Gehilfenvorsatz) (Lehrbuch § 64 IV 2d). Für alle Arten der Beteiligung ist daran zu denken, daß besondere persönliche Merkmale strafbegründender Art den Teilnehmer, bei dem sie fehlen, zwar belasten, aber nach§ 28 I StGB nur zur Versuchsstrafe führen (z.B. die Eigenschaft als Amtsträger bei echten Amtsdelikten, etwa§ 348 StGB), und daß besondere persönliche Merkmale, die die Strafe schärfen, mildern oder ausschließen, nach § 28 II StGB nur für den Beteiligten gelten, bei dem sie vorliegen (z. B. der Rückfall nach § 48 StGB oder das Bestimmtsein durch das Verlangen des Getöteten nach § 216 StGB) (Lehrbuch § 61 VII 4).