Flexionsmorphologie und Natürlichkeit: Ein Beitrag zur morphologischen Theoriebildung [2. Aufl. Reprint 2014] 9783050080130, 9783050036748

Während andere Arbeiten zur natürlichen Morphologie die Bedeutung von Erscheinungen wie Ikonismus, Uniformität und Trans

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German Pages 223 [224] Year 2001

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Table of contents :
Vorwort
0. Natürlichkeit in der Grammatik
0.1. Natürliche Phonologie
0.2. MAYERTHALERS Konzept einer natürlichen Morphologie
0.3. Natürlichkeitskonflikte zwischen den Komponenten
1. Morphologische Grundbegriffe
1.1. Wort und Morphem
1.2. Zur Eingrenzung der Flexion
1.3. Typen von Flexionsregeln, Lexikonrepräsentationen und Flexionsformen
1.4. Marker, Kategorien und Flexionsklassen
2. Problemstellung: Flexionsklassen und Natürlichkeit
2.1. Zum Status der Flexionsklassen
2.2. Morphologische Normalität und morphologische Natürlichkeit
2.3. Systembezogene Natürlichkeit: Flexionsklassenstabilität und Systemangemessenheit
3. Systemangemessenheit
3.1. Systemdefinierende Struktureigenschaften und Systemangemessenheit
3.2. Zur Systemangemessenheit von Markertypen
3.3. Beispiele für den typologischen Aufbau von Flexionssystemen: Die Substantivdeklination im Neuhochdeutschen
3.4. Beispiele für den typologischen Aufbau von Flexionssystemen: Die Substantivdeklination im Althochdeutschen
3.5. Bedingungen des Wechsels von systemdefinierenden Struktureigenschaften
3.6. Systemangemessenheit und systemunabhängige Natürlichkeit
3.7. Gibt es ein ‚Prinzip der stufenweisen Vereinheitlichung‘ von Flexionssystemen?
4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität
4.1. Der implikative Aufbau von Flexionsparadigmen: Implikative Paradigmenstruktur- bedingungen
4.2. Dominierende ParadigmenStrukturbedingungen, stabile und instabile Flexionsklassen
4.3. Grade von Klassenstabilität; überstabile Marker
4.4. Klassenstabilität in historischer Perspektive: Entstehung und Abbau
4.5. Produktivität I
4.6. Produktivität II
4.7. Produktivität und systemunabhängige Natürlichkeit
5. Fazit und Einordnung
5.1. Die generellen Prinzipien der morphologischen Strukturbildung
5.2. Die Einwirkung außermorphologischer Faktoren auf die Flexionsmorphologie
5.3. Natürlichkeit
Summary
Literaturverzeichnis
Register
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Flexionsmorphologie und Natürlichkeit: Ein Beitrag zur morphologischen Theoriebildung [2. Aufl. Reprint 2014]
 9783050080130, 9783050036748

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Wolfgang Ullrich Wurzel Flexionsmorphologie und Natürlichkeit

studia grammatica Herausgegeben von Manfred Bierwisch unter Mitwirkung von Hubert Haider, Stuttgart Paul Kiparsky, Stanford Angelika Kratzer, Amherst Jürgen Kunze, Berlin David Pesetsky, Cambridge (Massachusetts) Dieter Wunderlich, Düsseldorf

studia grammatica 21

Wolfgang Ullrich Wurzel

F l e X I O I l S m O r p h o l O g i e

und Natürlichkeit Ein Beitrag zur morphologischen Theoriebildung Zweite Auflage

Akademie Verlag

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wurzel, Wolfgang Ullrich : Flexionsmorphologie und Natürlichkeit : Ein Beitrag zur morphologischen Theoriebildung / Wolfgang Ullrich Wurzel. 2. Aufl. - Berlin : Akad. Verl., 2001 (Studia grammatica ; 21) ISBN 3-05-003674-5

ISSN 0081-6469 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 1984, 2001 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form - by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Druck und Bindung: GAM Media GmbH, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 0.

Natürlichkeit in der Grammatik

9 13

0.1. Natürliche Phonologie 0.2. MAYEETHALERS Konzept einer natürlichen Morphologie 0.3. Natürlichkeitskonflikte zwischen den Komponenten

13 20 29

1.

Morphologische Grundbegriffe

35

1.1. 1.2. 1.3. 1.4.

Wort und Morphem Zur Eingrenzung der Flexion Typen von Flexionsregeln, Lexikonrepräsentationen und Flexionsformen Marker, Kategorien und Flexionsklassen

35 40 51 60

2.

Problemstellung: Flexionsklassen und Natürlichkeit

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2.1. Zum Status der Flexionsklassen 2.2. Morphologische Normalität und morphologische Natürlichkeit 2.3. Systembezogene Natürlichkeit: Flexionsklassenstabilität und Systemangemessenheit

71 75 78

3.

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Systemangemessenheit

3.1. Systemdefinierende Struktureigenschaften und Systemangemessenheit 3.2. Zur Systemangemessenheit von Markertypen 3.3. Beispiele für den typologischen Aufbau von Flexionssystemen: Die Substantivdeklination im Neuhochdeutschen 3.4. Beispiele für den typologischen Aufbau von Flexionssystemen: Die Substantivdeklination im Althochdeutschen 3.5. Bedingungen des Wechsels von systemdefinierenden Struktureigenschaften 3.6. Systemangemessenheit und systemunabhängige Natürlichkeit 3.7. Gibt es ein ,Prinzip der stufenweisen Vereinheitlichung' von Flexionssystemen?

97 102 110 113

4.

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Flexionsklassenstabilität und Produktivität

81 90 93

4.1. Der implikative Aufbau von Flexionsparadigmen: Implikative Paradigmenstrukturbedingungen 4.2. Dominierende Paradigmenstrukturbedingungen, stabile und instabile Flexionsklassen 4.3. Grade von Klassenstabilität; überstabile Marker 4.4. Klassenstabilität in historischer Perspektive: Entstehung und Abbau 4.5. Produktivität I 4.6. Produktivität I I 4.7. Produktivität und systemunabhängige Natürlichkeit

116 125 136 142 153 162 166

5.

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Fazit und Einordnung

5.1. Die generellen Prinzipien der morphologischen Strukturbildung 5.2. Die Einwirkung außermorphologischer Faktoren auf die Flexionsmorphologie 5.3. Natürlichkeit

173 189 194

6

Inhaltsverzeichnis

Summary

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Literaturverzeichnis

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Register

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Ich erkläre ein für alle Mal, dass ich nur für diejenigen schreibe, die mit mir der Überzeugung sind, dass die Wissenschaft nicht vorwärts gebracht wird durch komplizierte Hypothesen, mögen sie auch mit noch soviel Geist und Scharfsinn ausgeklügelt sein, sondern durch einfache Grundgedanken, die an sich evident sind, die aber erst fruchtbar werden, wenn sie zu klarem Bewußtsein gebracht und mit strenger Konsequenz durchgeführt werden. Hermann PAUL, Prinzipien

Vorwort

Man kann nicht gerade behaupten, daß die morphologische Theorie heute zu den bevorzugten Teilgebieten der Grammatiktheorie gehört. Dabei ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Flexionsformen der Wörter, die ,Formenlehre', bereits sehr alt; sie geht über das Mittelalter bis ins Altertum zurück. Eine ausgesprochene Blütezeit hatte die Morphologie im 19. Jahrhundert: In den umfangreichen Kompendien der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts — genannt seien die Namen B O P P , GRIMM und D I E Z — nimmt die Flexion der Wörter breiten Raum ein. Die sich ebenfalls zu Beginn des vorigen Jahrhunderts entwickelnde Sprachtypologie, begründet von den Brüdern SCHLEGEL und W. VON HUMBOLDT, machte die morphologische Struktur der Sprachen sogar zum alleinigen Kriterium für ihre Typologisierung. Auch in SCHLEICHERS Konzept vom ,Leben der Sprache' spielt bekanntermaßen die Morphologie eine ganz entscheidende Rolle; SCHLEICHER führte übrigens auch den Terminus ,Morphologie' aus der Biologie in die Sprachwissenschaft ein. Schließlich haben sich besonders die Junggrammatiker mit der Morphologie befaßt. In ihrer Praxis ist ,Grammatik' fast immer gleichbedeutend mit ,Laut- und Formenlehre', und ihre theoretischen Auffassungen vom Sprachwandel, wie sie in P A U L S „Prinzipien" ihren Ausdruck finden, sind geprägt durch die Dualität von ,Lautgesetz' und ,Analogie', wobei der Wirkungsbereich der Analogie vor allem die Morphologie ist. P A U L S Analogietheorie ist faktisch eine Theorie des morphologischen Wandels. Mit dem Aufkommen des sprachwissenschaftlichen Strukturalismus in diesem Jahrhundert setzte eine tiefgehende Umorientierung in der Grammatikforschung ein: War für die Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts in erster Linie die Vielfalt der einzelsprachlichen Fakten (speziell in ihrer historischen Entwicklung) interessant gewesen, wie sie sich in der Morphologie besonders exemplarisch zeigt, so forderte das am Systemcharakter der Sprache orientierte strukturalistische Konzept dazu heraus, die Ermittlung der übereinzelsprachlichen Eigenschaften der natürlichen Sprachen zum eigentlichen Anliegen der Grammatik zu machen. Das Interesse der Grammatiker richtete sich nicht länger hauptsächlich auf das jeweils Konkrete und Besondere, sondern auf das Abstrakte und Allgemeine. Auch vor diesem veränderten Hintergrund befaßten sich Linguisten mit der Morphologie, nicht zuletzt führende Wissenschaftler wie SAPIR, BLOOMFIELD, N I D A und JAKOBSON. Die theoretische Neuorientierung kommt dabei am deutlichsten in J A K O B SONS morphologischen Arbeiten zum Ausdruck; bevorzugter Untersuchungsgegenstand sind nicht mehr die einzelnen morphologischen Fakten, sondern die morphologischen Systeme insgesamt. Alles in allem muß man jedoch mit dem Aufkommen des sprachwissenschaftlichen Strukturalismus einen Rückgang des theoretischen Interesses an der Morphologie feststellen. In den Mittelpunkt der grammatischen Forschung rückten stärker solche Gebiete, an denen sich Systemhaftigkeit und Über-

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Vorwort

einzelsprachlichkeit leichter demonstrieren ließ als an der scheinbar weitgehend unsystematischen und kaum allgemeinen Strukturprinzipien folgenden Morphologie. Das war zunächst vor allem die Phonologie, später dann auch die Syntax. Diese Orientierung wird bei der generativen Grammatik CHOMSKYS besonders deutlich, die wegen ihrer universalistischen Ausrichtung mit der in starkem Maße einzelsprachlich geprägten Morphologie und speziell mit der Flexionsmorphologie kaum etwas anzufangen wußte. Das äußerte sich nicht nur in der Vernachlässigung morphologischer Forschungen, sondern fand seinen Niederschlag auch in der Theoriebildung: Im Rahmen der generativen Grammatiktheorie waren wohl eine syntaktische, eine phonologische und eine semantische Theorie sowie eine Theorie des Lexikons vorgesehen, nicht aber eine morphologische Theorie; keines der ÜHOMSKYschen Grammatikmodelle enthält eine morphologische Komponente. Da die generative Grammatik über Jahre hinaus die Weiterentwicklung der Grammatiktheorie überhaupt bestimmte, trat eine Stagnation der morphologischen Theoriebildung ein. Morphologie war nicht ,in' und galt bestenfalls als eine Domäne der ,beschreibenden' Grammatik. Speziell im europäischen Bereich, wo die junggrammatischen Traditionen noch lebendig waren, wurde das Fehlen einer morphologischen Theorie (und einer morphologischen Komponente) innerhalb der generativen Grammatik als Mangel empfunden. Es wurden mehr oder weniger erfolgreiche Versuche zur Etablierung einer generativen Morphologie unternommen (so u. a. auch in WUBZEL (1970)). Die generativ-morphologischen Arbeiten waren dadurch gekennzeichnet, daß sie morphologische Gegebenheiten auf der Basis von Konzepten der generativen Phonologie, teilweise auch der generativen Syntax, zu behandeln und erklären suchten. Es erscheint heute verständlich, daß auf diese Weise die Spezifik morphologischer Strukturbildung, d. h. die (relative) Eigengesetzlichkeit der Morphologie innerhalb des Sprachsystems, nicht hinreichend erfaßt werden konnte. In der Phase der ,postgenerativen Neubesinnung' der Linguistik gibt es dann auch verschiedene neue morphologische Ansätze. Ihnen allen ist gemeinsam, daß sie wieder auf die Auffassungen des Prager und des amerikanischen Strukturalismus und speziell auf Gedanken JAKOBSONS Bezug nehmen. Als besonders fruchtbar hat sich in der letzten Zeit die Übertragung des ursprünglich in der Phonologie entwickelten Natürlichkeitskonzepts auf die Morphologie erwiesen. Die Arbeiten der natürlichen Morphologen' haben dabei vor allem deutlich werden lassen, daß die Morphologie keine mehr oder weniger zufällige Anhäufung von einzelsprachlichen Fakten darstellt, sondern einen grammatischen Bereich konstituiert, der ebenso von universellen Prinzipien determiniert ist wie Phonologie, Syntax usw. Insofern ist sie für den Grammatiker durchaus von theoretischem Interesse; bestimmte allgemeine Charakteristika der natürlichen Sprache kommen — wie sich gezeigt hat — in der Morphologie sogar klarer zum Ausdruck als in anderen grammatischen Bereichen. Die vorliegende Arbeit ordnet sich in den Köntext der natürlichen Morphologie ein. Während die bisherigen Arbeiten dieser Richtung die Bedeutung von Erscheinungen wie Ikonismus, Uniformität und Transparenz für den Aufbau morphologischer Systeme untersuchen, expliziert diese Arbeit Eigenschaften und Entwicklungstendenzen von Flexionssystemen, die sich mit dem Stichwort .systembezogene morphologische Natürlichkeit' umschreiben lassen, d. h. solche flexionsmorphologischen Erscheinungen, die — wiewohl durch universelle Prinzipien determiniert — ihre konkrete Ausprägung auf Grund von einzelsprachlichen Struktureigenschaften erfahren. Diese

Vorwort

11

Eigenschaften und Tendenzen haben deutliche Parallelen auch in anderen grammatischen Bereichen, so daß eine Anwendung des hier entwickelten Konzepts einer systembezogenen Natürlichkeit auch auf andere Komponenten des Sprachsystems sinnvoll scheint. Möge diese Arbeit dazu beitragen, die bei vielen Linguisten noch immer verbreiteten Vorurteile gegenüber der Morphologie abzubauen und ihr wieder den ihr in der Grammatikforschung gebührenden Platz zukommen zu lassen. Ich danke allen Freunden und Kollegen im In- und Ausland, die mit mir Probleme dieser Arbeit diskutiert und mir nützliche Hinweise dazu gegeben haben. Mein besonderer Dank gilt den Berliner Kollegen, speziell Ewald Lang und Wolfgang Mötsch, sowie den österreichischen Kollegen Wolfgang Ulrich Dressier (Wien), Eva und Willi Mayerthaler (Klagenfurt) und Oswald Panagl (Salzburg), ferner Stig Eliasson (Uppsala) und Fred Karlsson (Helsinki). Ich danke ferner Wolfgang Mötsch, Wemer Neumann und Peter Suchsland für die Begutachtung der Arbeit sowie Thea Duckwitz, Barbara Unterbeck und Andreas Bittner für engagierte Mithilfe bei den technischen Arbeiten. W, U. W.

0. Natürlichkeit in der Grammatik

0.1. Natürliche Phonologie Im Jahre 1969 erschien STAMPES Aufsatz „The acquisition of phonetic representation", in dem der Verfasser erstmalig seine Theorie der natürlichen Phonologie einem breiteren Publikum vorstellte. Das Konzept der natürlichen Phonologie war eine Reaktion auf bestimmte, immer deutlicher zu Tage tretende Unzulänglichkeiten und Fehlorientierungen der zu dieser Zeit vorherrschenden generativen Phonologie CHOMSKYS und HALLES. 1 Es wurde in einer Reihe von Arbeiten STAMPES und seiner Kollegin DONEGAN-MILLER weiter ausgearbeitet.2 Die natürliche Phonologie der STAMPEschen Richtung 3 erlangte bald Einfluß auf die phonologische Theoriebildung; es entstand eine Reihe von phonologischen Arbeiten, in denen das Konzept diskutiert und erweitert sowie in kritischer Auseinandersetzung mit bestimmten Thesen STAMPES auch präzisiert und modifiziert wurde.4 Doch die von STAMPE begründete natürliche Phonologie wirkte sich nicht nur auf die phonologische Theoriebildung aus. Bedingt durch ihren methodologisch fruchtbaren Ansatz, der sich über die Phonologie hinaus auf andere grammatische Teildisziplinen verallgemeinern läßt, konnte die natürliche Phonologie auch, in entscheidendem Maße zu einer Neuorientierung anderer Teiltheorien der Grammatiktheorie beitragen. Da es gerade die Morphologie ist, die von der natürlichen Phonologie methodologisch am stärksten profitieren kann5, sollen die Grundgedanken der natürlichen Phonologie im folgenden kurz skizziert werden, wobei Einzelheiten (darunter auch bestimmte kontroverse Detailpunkte) unberücksichtigt bleiben müssen.6 Den Kern der Theorie der natürlichen Phonologie bildet das Konzept des phonologischen Prozesses: (1) Ein phonologischer Prozeß ist eine potentielle Operation, durch die eine Klasse von Lauten/Lautfolgen, die eine spezifische gemeinsame Belastung für die menschliche Sprachkapazität bedingt, in eine Klasse von Lauten/Lautfolgen überführt

1

Die theoretischen Grundlagen der beiden Entwicklungsctappen der generativen Phonologie sind d a r g e l e g t i n H A L L E ( 1 9 6 2 ) b z w . CHOMSKY/HALLE

(1968).

Vgl. dazu vor allem STAMPE (1972a) und (1972b) sowie DONEGAN-MILLER (1972) und (1973). Die neueste vorliegende Arbeit ist DONEOAN/STAMPE (1979). 3 Neben der natürlichen Phonologie der STAMPEschen Richtung gibt es noch einige andere phonologische Richtungen, die unter dem Stichwort .natürliche Phonologie im weiteren Sinne' eingeordnet werden können; vgl. die gute Ubersicht in B A L L E Y ( 1 9 7 6 ) . Für die phonologische Theoriebildung erwies sich (neben STAMPES Richtung) vor allem B A I L E Y S ,Phonetologie' als fruchtbar. 4 Für den europäischen Bereich sind hier u. a. Arbeiten von DRACHMAN, D B E S S L E B und W U R Z E L zu nennen; vgl. ζ. B. DRACHMAN (1973), (1977) und (1978), D R E S S L E R (1974), (1977a) und (1977b), W U R Z E L (1977a), (1980a) und (1980d). 6 Vgl. die Ansätze zu einer Theorie der natürlichen Syntax. 6 Die folgende Darstellung beruht im wesentlichen auf den in W U R Z E L (1977 a) vertretenen Positionen. 2

14

0. Natürlichkeit in der Grammatik

wird, die sich von der Ausgangsklasse (nur) dadurch unterscheidet, daß ihr die belastende Lauteigenschaft fehlt. 7 Was eine Belastung für die Sprachkapazität ist, ergibt sich aus dem Aufbau und der Funktionsweise der menschlichen Sprachorgane im weitesten Sinne, d. h. der Artikulations- und Perzeptionsorgane sowie der entsprechenden Hirnzentren und Nerven 8 , also aus Bedingungen, die bei allen Menschen unabhängig von der Einzelsprache gleich sind. In diesem eindeutigen und durchschaubaren Sinne sind die phonologischen Prozesse angeboren; sie haben den Charakter von universellen phonologischen Tendenzen. Mit etwas anderen Worten lassen sich phonologische Prozesse als ein spezieller Typ von universellen Relationen zwischen phonologischen Merkmalen fassen.® Sie legen fest, welcher Wert von phonologischen Merkmalen, ,Plus ! oder ,Minus', in einem bestimmten Merkmalkontext die Sprachkapazität weniger belastet oder in phonetischer Hinsicht natürlicher bzw. weniger markiert ist ( W U B Z E L (1977a: 21 f.)). Häufig in ihren Auswirkungen zu beobachtende phonologische Prozesse sind ζ. B. die Stimmlosigkeit von Obstruenten, die Vereinheitlichung der Artikulationsstelle in Konsonantenverbindungen, die Palatalisierung von Konsonanten vor vorderen Vokalen, die Nasalisierung von Vokalen vor Nasalkonsonanten, die Entrundung vorderer Vokale, die Reduktion unbetonter Vokale usw. Der phonologische Prozeß der Stimmlosigkeit (genauer: der Stimmlosmachung) von Obstruenten beispielsweise beruht darauf, daß der für Obstruenten charakteristische Aufbau eines Hindernisses im Mundraum (die orale Konstriktion) den für die Schwingung der Stimmbänder notwendigen Luftstrom behindert. Die Obstruenten werden also mit einer Stellung der Artikulationsorgane gebildet, in der Stimmlosigkeit leichter zu realisieren ist als Stimmhaftigkeit. Entsprechend tendieren Obstruenten zur Stimmlosigkeit. Diese Tendenz ist in allen Lautumgebungen vorhanden, wirkt aber in verschiedenen Umgebungen unterschiedlich stark. So ist sie, um nur einige Umgebungen zu nennen, vor einem stimmlosen Segment der gleichen Silbe stärker als vor einer Silbengrenze, vor der Silbengrenze wiederum stärker als im Wortanlaut usw. Am schwächsten wirkt sie verständlicherweise zwischen zwei stimmhaften Segmenten, also etwa intervokalisch. Auf diese Weise ergeben sich für die phonologischen Prozesse H i e r a r c h i e n v o n U m g e b u n g e n , die nach der Intensität ihrer Wirkung geordnet sind. Es gibt jedoch nicht nur einen phonologischen Prozeß der Stimmlosigkeit, sondern auch einen phonologischen Prozeß der Stimmhaftigkeit (Stimmhaftmachung) von Obstruenten in bestimmter Umgebung. Obstruenten in stimmhaftem Kontext tendieren zur Stimmhaftigkeit. Daran ist nichts Überraschendes: Soll beispielsweise eine Segmentfolge , . . . Vokal + Obstruent -f- V o k a l . . .' ausgesprochen werden, dann muß bei dem Obstruenten die Stimmbandschwingung des ersten Vokals unterbrochen und dann beim zweiten Vokal erneut in Gang gesetzt werden, wenn der Obstruent 7

Diese Formulierung folgt im wesentlichen STAMPE (1972a: 1); vgl. dazu auch WURZEL (1977a: 7ff.). Eine etwas andere Formulierung findet sich in STAMPE (1969: 443). 8 STAMPE (1973 a: 3 ff.) hebt hervor, daß die phonologischen Prozesse mentalen Charakter haben und nicht Automatismen der Artikulationsorgane darstellen. Sie sind (im Sinne der Aphasie-Terminologie) nicht peripher, sondern zentral. ® Andere solche universellen Relationen sind die der Implikation und die der Exklusion. Innerhalb eines Segments gilt beispielsweise: — [ + hoch] D [— niedrig] ( , + hoch' impliziert,— niedrig'), — [ + hoch] / [ + niedrig] (,-(- hoch' schließt,+ niedrig' aus) usw.

0.1. Natürliche Phonologie

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stimmlos gebildet wird; bei einem stimmhaften Obstruenten dagegen kann sie in der gesamten Segmentfolge ununterbrochen beibehalten werden. Unter diesem Gesichtspunkt belastet in der erwähnten Umgebung ein stimmhafter Obstruent die Sprachkapazität weniger als ein stimmloser. Für Obstruenten in stimmhafter Umgebung ergibt sich damit eine K o n f l i k t s i t u a t i o n . Einerseits ist innerhalb eines Segments mit dem Merkmal , + obstruent' die Spezifizierung ,— stimmhaft', bezogen auf das einzelne Segment (kontextfrei), natürlicher als , + stimmhaft' (Prozeß der Stimmlosigkeit), andererseits ist in einem Segment mit der Spezifizierung obstruent', dem je ein Segment mit der Spezifizierung , + stimmhaft' vorausgeht und folgt, die Spezifizierung , + stimmhaft', bezogen auf die Segmentfolge (kontextbedingt), natürlicher als ,— stimmhaft' (Prozeß der Stimmhaftigkeit). Doch ein Segment kann nur entweder stimmlos oder stimmhaft sein.10 Solche Konfliktsituationen können nur dadurch gelöst werden, daß entweder einer der beiden widersprüchlichen Prozesse völlig unterdrückt wird oder einer von ihnen bzw. beide so eingeschränkt werden, daß sich ihre Anwendungsbereiche nicht mehr überschneiden. Im Deutschen ist der Konflikt zwischen beiden Prozessen so gelöst, daß der Prozeß der Stimmlosigkeit auf die Umgebungen (a) vor stimmlosem Segment und (b) vor Silbengrenze eingeschränkt wird. Nur in diesen beiden Umgebungen sind stimmhafte Obstruenten ausgeschlossen. So heißt es ζ. B. das Rad und des Rads mit stimmlosem [t] wie der Rat und des Rats. In den übrigen Umgebungen treten sowohl stimmlose als auch stimmhafte Obstruenten auf, vgl. intervokalisch die Räte mit [t] und die Räder mit [d] sowie anlautend Teer mit [t] und der mit [d] usw. Die Beispiele zeigen bereits, daß der phonologische Prozeß der Stimmhaftigkeit im Deutschen völlig unterdrückt ist. Es existiert keine Lautumgebung, in der stimmlose Obstruenten ausgeschlossen sind. Da die phonologischen Prozesse angeboren sind, verfügt jedes Kind, das sich seine Muttersprache anzueignen beginnt, über das uneingeschränkte Gesamtkorpus der phonologischen Prozesse. Diese Annahme ist nicht spekulativ, sondern leicht verifizierbar: Die ersten sprachlichen Äußerungen des Kindes sind gekennzeichnet durch eine extreme, weil noch nicht eingeschränkte Wirkung solcher Prozesse, die sich ganz spontan durchsetzen: Unbetonte Silben werden völlig getilgt, Konsonantenfolgen werden zu Einzelkonsonanten vereinfacht, Obstruenten werden generell zu Verschlußlauten, alle Vokale fallen in einem α-Laut zusammen usw. ( S T A M P E (1969: 444)). Damit sind die Möglichkeiten zur Bildung von Lautfolgen (noch) sehr beschränkt. Hieraus erklärt sich auch, daß Kleinkinder im ersten Stadium der Sprachaneignung unabhängig von der Sprache, in der mit ihnen geredet wird, die gleichen Lautfolgen produzieren. Die Aneignung der phonologischen Struktur der Muttersprache durch das Kind besteht (jedenfalls weitgehend, vgl. weiter unten) in der stufenweisen Unterdrückung und Einschränkung phonologischer Prozesse11 und damit in der stufen10

Diese Aussage betrifft den phonologischen (kategorialen) Status, phonetisch gesehen sind die Verhältnisse nicht immer so klar; vgl. v. ESSEN (1966 : 52ff.). 11 Eine dritte Art der Anpassung des angeborenen Systems der phonologischen Prozesse an die einzelsprachliche phonologische Struktur besteht in der geordneten (d. h. in bestimmter Reihenfolge vorgenommenen) Anwendung nichtUnterdrückter Prozesse als einzelsprachliche Regeln (STAMPE (1969: 444)). Die geordnete Anwendung von Regeln bedeutet nichts anderes, als daß bestimmte Vorkommen von Segmenten, die eigentlich von ihr erfaßt werden müßten, von ihr ausgenommen werden. Wir haben es also hier mit einer spezifischen Art der Einschrän-

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0. Natürlichkeit in der Grammatik

weisen Meisterung der in der jeweiligen Sprache vorkommenden phonologischen Segmente und Oppositionen. Ein Kind, das sich die deutsche Sprache (in ihrer literatursprachlichen Norm) aneignet, muß ζ. B. den phonologischen Prozeß der E n t rundung vorderer Vokale unterdrücken. Auf diese Weise erlernt es die vorderen runden Vokale [ü] und [öj und meistert die phonologisohe Opposition zwischen nichtrunden und runden vorderen Vokalen, vgl. Kissen - küssen, lesen — lösen usw. Von der Unterdrückung ausgenommen bleiben schließlich n u r diejenigen phonologischen Prozesse, die in der jeweiligen Sprache, wie sie von den Erwachsenen gesprochen wird, eine Entsprechung haben, und auch sie werden der Norm der Sprache gemäß eingeschränkt. So müssen ζ. B. englischsprachige Kinder den Prozeß der Stimmlosigkeit von Obstruenten, der auch bei ihnen verhältnismäßig lange wirksam ist (vgl. die kindliche Aussprache von Wörtern wie job ,Beruf', bed ,Bett', und dog , H u n d ' als [d3ap], [bet] und [dak]), vollständig unterdrücken, während deutschsprachige Kinder ihn n u r auf bestimmte Umgebungen einzuschränken brauchen, u m die N o r m der Erwachsenensprache zu erreichen. Die Einschränkung von phonologischen Prozessen im Verlauf der Sprachaneignung folgt dabei der vorgegebenen Hierarchie von Umgebungen. E s wurde bereits gesagt, daß der Prozeß der Stimmlosigkeit vor einem stimmlosen Segment der gleichen Silbe stärker wirkt als vor einer Silbengrenze usw. und er die schwächste Wirkung zwischen zwei stimmhaften Segmenten hat. Deshalb k a n n dieser Prozeß einzelsprachlich zwar ζ. B. auf die Umgebung vor stimmlosem Segment und vor Silbengrenze eingeschränkt sein, aber nicht auf die Umgebung vor Silbengrenze allein oder gar auf die Umgebung zwischen zwei stimmhaften Segmenten allein. Oder andersherum: Die Wirkung des phonologischen Prozesses der Stimmlosigkeit zwischen zwei stimmhaften Segmenten in einer Sprache impliziert seine Wirkung in allen anderen Umgebungen seiner Hierarchie, sein Auftreten vor Silbengrenze impliziert sein Auftreten vor einem stimmlosen Segment usw. Die Unterdrückung und Einschränkung der angeborenen phonologischen Prozesse, d. h. der durch die Beschaffenheit der Sprachorgane bedingten universellen phonologischen Tendenzen, die im frühkindlichen Alter unbegrenzt wirken, erfolgt unter dem normativen Druck der Gesellschaft. Die angeborenen phonologischen Prozesse werden sozial ausgefiltert. Das Ergebnis der Anpassung der phonologischen Prozesse an die phonologische S t r u k t u r der Einzelsprache sind die n a t ü r l i c h e n p h o n o l o g i s c h e n R e g e l n . 1 2 Eine natürliche phonologische Regel ist eine einzelsprachliche Realisierung eines phonologischen Prozesses auf einer bestimmten Stufe seiner Umgebungshierarchie. Entsprechend ist die phonetische Motivation solcher Regeln voll intakt, d. h. nicht durch außerphonetische (morphologische, syntaktische, lexikalische usw.) Faktoren eingeschränkt. I n der Umgebung der Regel treten n u r phonologische Merkmale und Grenzsymbole auf. Die natürlichen phonologischen Regeln einer Sprache determinieren, welche L a u t e und kung phonologischer Prozesse zu tun. Für einen entsprechenden Fall aus dem Deutschen vgl. (1980b: 662f.). Wir gehen hier nicht auf den Unterschied zwischen phonologischen Alternationsregeln (phonologischen Regeln i. e. S.) und phonologischen Strukturbedingungen (Strukturregeln) ein, da er für diesen Zusammenhang nicht relevant ist. Daß STAMPE nicht zwischen beidem unterscheidet, scheint uns ein schwacher Punkt in seinem Konzept. Bei ihm fehlt auch die terminologische Unterscheidung zwischen den universellen Prozessen und den einzelsprachlichen natürlichen phonologischen Regeln, beides heißt bei ihm „phonologischer Prozeß"; vgl. STAMPE (1972a), dazu WURZEL (1977a). WTJBZEL

12

0.1. Natürliche Phonologie

17

Lautkombinationen die Sprecher dieser Sprache ,nicht aussprechen können'. So sind Sprecher des Deutschen normalerweise, d. h. ohne entsprechendes Training, nicht in der Lage, stimmhafte Obstruenten im Silbenauslaut zu bilden, was sich u. a. im Englischunterricht zeigt, wenn Wörter wie job, bed und dog korrekt ausgesprochen werden sollen. Aus allem, waa bisher über phonologische Prozesse und natürliche phonologische Regeln gesagt wurde, ist unschwer auf die F u n k t i o n der natürlichen phonologischen Regeln im Sprachsystem zu schlußfolgern: Die Funktion der natürlichen phonologischen Regeln besteht in der Anpassung der Lautketten an die Gegebenheiten der menschlichen Sprachorgane. Es kann keine natürlichen Sprachen ohne natürliche phonologische Regeln geben. Sie bilden sich selbst in Plansprachen wie Esperanto heraus, wenn diese unter normalen Kommunikationsbedingungen gesprochen werden. Doch um sich die phonologische Struktur seiner Muttersprache anzueignen, muß das Kind nicht nur phonologische Prozesse unterdrücken und einschränken, sondern es muß auch phonologische Regeln eines bestimmten Typs speziell erlernen. So existiert ζ. B. im Englischen eine Alternation zwischen den Konsonanten [k] und [s], unter gewissen Bedingungen, vgl. electric ,elektrisch' — electricity ,Elektrizität' und public ,öffentlich' — publicity Öffentlichkeit'. Die entsprechende phonologische Alternationsregel ist keine natürliche phonologische Regel. Sie stellt keine einzelsprachliche Realisierung eines phonologischen Prozesses, einer universellen phonologischen Tendenz, dar. Sie hat ihre ursprünglich (im Lateinischen!) einmal vorhandene phonetische Motivierung im Laufe der Sprachgeschichte durch Einwirkung anderer phonologischer Regeln sowie nichtphonologischer Faktoren nahezu vollständig eingebüßt, in ihrer Umgebungsspezifizierung erscheinen demzufolge nichtphonetische (morphologische, lexikalische) Gegebenheiten. Das bedeutet gleichzeitig, daß Sprecher des Englischen ohne alle Schwierigkeiten ein [k] vor [i] oder auch zwischen zwei [i] aussprechen können, und Wörter mit solchen Lautfolgen sind im Englischen ganz gewöhnlich, vgl. kid ,Kind', kill ,töten', tricky ,durchtrieben'usw. Solche Regeln haben mit dem Abbau bzw. der Durchlöcherung ihrer phonetischen Motivierung auch ihre Funktion der Anpassung der Lautketten an die Gegebenheiten der Sprachorgane ganz oder weitgehend verloren. Sie verbinden lediglich Wortformen und Wörter gleichen Stammes miteinander; sie haben konventionellen Charakter. Aus den genannten Gründen tendieren sie auf längere Sicht zum Verschwinden. Regeln solcherart werden meist als m o r p h o n o l o g i s c h e R e g e l n bezeichnet.13 Das Konzept der natürlichen Phonologie im Sinne S T A M P E S erlaubt eine recht plausible Erklärung phonologischer Veränderungen. Es war festgestellt worden, daß sich das Kind die phonologische Struktur seiner Muttersprache im wesentlichen dadurch aneignet, daß es die angeborenen phonologischen Prozesse entsprechend den Normen dieser Sprache unterdrückt und einschränkt. Wenn das Kind sein phonologisches System vollständig den geltenden Normen der Erwachsenensprache anpaßt, dann tritt von einer Sprechergeneration zur andern kein phonologischer Wandel ein. Wenn dagegen das Kind einen phonologischen Prozeß nicht unterdrückt, der keine Entsprechung im phonologischen Regelsystem der Erwachsenen hat, dann findet ein phono13

S T A M P E selbst nennt solche Regeln „(erlernte) phonologische Regeln"; vgl. dazu (1972a: 43ff.). Zur Entstehung morphonologischer Regeln, ihren Charakteristika und ihrer Abgrenzung von den natürlichen phonologischen Regeln vgl. D R E S S L E R (1977a) und (1977b) sowie W U R Z E L (1980d) und (1982).

2 stud, gramm. X X I

18

0. Natürlichkeit in der Grammatik

logischer Wandel statt. Hier spielen wieder die erwähnten Hierarchien von Bedingungen für die phonologischen Prozesse eine entscheidende Rolle, denn alle unterbliebenen Einschränkungen von phonologischen Prozessen folgen dem vorgegebenen Rahmen dieser Hierarchien. Kehren wir zum Beispiel zu der Stimmlosigkeit von Obstruenten zurück. Im Althochdeutschen ist der phonologische Prozeß der Stimmlosigkeit nur in seiner am stärksten wirkenden Umgebung realisiert, d. h., stimmhafte Obstruenten sind vor stimmlosen Segmenten ausgeschlossen (vgl. gast ,Gast', gift ,Gabe' und fluht ,Flucht' mit [st], [ft] und [xt]; [zt], [vt] und [yt] sind keine möglichen althochdeutschen Konsonanten Verbindungen). Dagegen erscheinen im Auslaut sowohl stimmlose als auch stimmhafte Obstruenten, vgl. rät ,Rat' und were ,Werk' mit [t] bzw. [k] sowie rad ,Rad' und berg ,Berg' mit [d] bzw. [g], der phonologische Prozeß der Stimmlosigkeit ist also im Silbenauslaut unterdrückt. Der Übergang vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen ist u. a. dadurch charakterisiert, daß die generelle Stimmlosigkeit von Obstruenten auf die in der Hierarchie nächste Umgebung, den Silbenauslaut, ausgedehnt wird. Dieser Wandel kommt dadurch zustande, daß eine Schwierigkeit für die Sprachkapazität, die Aussprache von stimmhaften Obstruenten im Silbenauslaut von einer neuen Sprechergeneration nicht gemeistert wird. In einer bestimmten Lautumgebung wird eine komplizierter zu bildende Klasse von Lauten durch eine einfachere ersetzt, und diese Ersetzung wird durch die Sprachgemeinschaft auch toleriert. Den althochdeutschen Formen rad und berg entsprechen die mittelhochdeutschen rat und here. Seit dieser Zeit gibt es im Deutschen die,Auslautverhärtung', d. h. den Wechsel von stimmhaften Obstruenten im Silbenanlaut und stimmlosen im Silbenauslaut, vgl. Räder und Berge mit Rad und Berg. S T A M P E S Erklärungshintergrund für den Erwerb der Lautstruktur der Einzelsprache durch das Kind erweist sich auch als angemessen, wenn man ihn mit einer weiteren Klasse sprachlicher Fakten konfrontiert, nämlich mit durch Aphatiker produzierte Lautformen von Wörtern (vgl. D K E S S L E R ( 1 9 7 4 ) und W U B Z E L / B Ö T T C H E R ( 1 9 7 9 ) ) . Auch die Sprache von Aphatikern ist wie die von Kleinkindern dadurch charakterisiert, daß in ihr die Wirkung von mehr phonologischen Prozessen feststellbar ist als in der Sprache normaler Erwachsener. Jedes Phonologiekonzept, das wie das C H O M S K Y S davon ausgeht, daß die phonologischen Regeln, die die Sprecher gespeichert haben, durch Erlernung im strengen, eigentlichen Sinne erworben sind, kann dieses Phänomen nicht erklären. Es bliebe nur die völlig unplausible Annahme, daß sich der Aphatiker zum Zeitpunkt seiner Erkrankung zusätzliche Regeln angeeignet hat. Eine krankhafte Schädigung des Gehirns hätte eine Neuerlernung zur Folge, Zerstörung würde als Aufbau interpretiert. Bei Zugrundelegung des Konzepts, daß ein phonologisches System durch Unterdrückung und Einschränkung von phonologischen Prozessen erworben wird, ergeben sich solche Schwierigkeiten nicht. Wenn bei Aphatikern die Wirkung von phonologischen Prozessen, die bei den normalen Sprechern der Sprache unterdrückt sind, wieder zu beobachten ist, so bedeutet das nichts anderes, als daß sich unter den speziellen Bedingungen der Krankheit die im Kleinkindalter unterdrückten phonologischen Prozesse partiell wieder durchsetzen. Die einzelsprachlichen Einschränkungen sind nicht mehr intakt, was u. a. daraus ersichtlich ist, daß bei Aphatikern der verschiedensten Muttersprachen gleichartige Abweichungen von der Sprache der normalen Sprecher auftreten. Wenn man versucht, die Prinzipien des hier kurz skizzierten Konzepts der natürlichen Phonologie herauszuarbeiten, die über die phonologischen Fragestellungen hin-

0.1. Natürliche Phonologie

19

aus von allgemeinerem theoretisch-methodologischem Interesse sind, so ergeben sich vor allem die folgenden Punkte: (I) Die unmittelbar auf phonologischen Prozessen beruhenden natürlichen phonologischen Regeln haben eine klar bestimmbare F u n k t i o n , die in der Vermeidung von Belastungen der Sprachkapazität des Menschen besteht. Sie minimieren artikulatorische Schwierigkeiten und maximieren die perzeptiven Charakteristika der Sprache (STAMPE (1972a: 9)). Sie sind entsprechend uneingeschränkt phonetisch motiviert. In ihnen realisiert sich die Funktion der phonologischen Komponente insgesamt. Die phonologische Komponente hat innerhalb des Sprachsystems die Funktion, die sprachlichen Äußerungen an die Beschaffenheit der menschlichen Sprachorgane anzupassen, d. h. phonologisch (artikulatorischperzeptiv) zweckmäßige, mit anderen Worten: n a t ü r l i c h e sprachliche Formen zu erzeugen. (II) Eine solche funktionale Interpretation der Phonologie bedingt die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Bewertung phonologischer Gegebenheiten danach, wieweit sie ihrer Funktion gerecht werden, eine B e w e r t u n g nach ihrer N a t ü r l i c h k e i t bzw. deren Gegenteil, der Markiertheit. Dabei wird zugleich deutlich, daß das Kriterium für eine Bewertung phonologischer Gegebenheiten nicht (wie von der generativen Grammatik angenommen) die Einfachheit der Regeln sein kann, sondern die Zweckmäßigkeit der Formen sein muß. (III) Natürliche phonologische Regeln ersetzen nicht beliebige Segmente in beliebigen Umgebungen durch beliebige andere Segmente. Ihre Form, also Eingabe, Umgebung und Ausgabe, ergibt sich aus ihrer Funktion, Belastungen der Sprachkapazität zu vermeiden. In diesem Sinne haben die natürlichen phonologischen Regeln keinen zufälligen Charakter, sondern sind in angebbarer Weise durch die Beschaffenheit der Sprachorgane determiniert. (IV) Belastungen der Sprachkapazität können recht unterschiedlicher Art sein, bedingt durch Einzelsegmente oder Segmentfolgen, durch die Artikulation oder die Perzeption von Segmenten/Segmentfolgen. Ihre Vermeidung erfolgt auf Grund unterschiedlicher phonetischer Motivierungen. Wenn die Motivierungen für die Behandlung einer gegebenen Klasse von Fällen nicht nur unterschiedlich, sondern gegensätzlich sind, dann resultieren daraus widersprüchliche phonologische Prozesse.14 Aus dem Vorhandensein von Widersprüchen zwischen phonologischen Prozessen folgt, daß es keine in eine einheitliche Richtung weisende undifferenzierte phonologische Optimierungstendenz geben kann. (V) Die phonologischen Prozesse, die den Charakter von universell angelegten Tendenzen haben, sind die T r i e b k r ä f t e der p h o n o l o g i s c h e n Veränderung. Sie wirken in jeder gesprochenen Sprache zu jedem Zeitpunkt, da sich immer neue Generationen von Sprechern die phonologische Struktur ihrer Muttersprache aneignen. Um die Norm der Erwachsenensprache zu erreichen, müssen die die Sprache erlernenden Kinder diejenigen der angeborenen phonologischen Pro11



Widersprüchliche phonologische Prozesse sind außer den Prozessen der Stimmlosigkeit und der Stimmhaftigkeit für die Klasse der intervokalischen Obstruenten u. a. auch die Prozesse der kontextfreien Denasalierung und der kontextbedingten Nasalierung von Vokalen für Folgen des Typs ,. . . Vokal + Nasalkonsonant' sowie die Prozesse der kontextfreien Entrundung und der kontextbedingten Rundung vorderer Vokale für Folgen von Vokal plus bestimmten Konsonanten usw.

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0. Natürlichkeit in der Grammatik

zesse unterdrücken, die in ihrer Sprache nicht als phonologische Regeln realisiert sind. Unterdrückung von phonologischen Prozessen aber heißt Aufrechterhaltung von Belastungen der Sprachkapazität, Nichtunterdrückung deren Abbau. Das erklärt erstens, weshalb die phonologische Struktur jeder Sprache in einem ständigen Wandel begriffen ist, und zweitens, in welcher Weise sie sich wandelt. Die Veränderung, nicht die Beharrung, ist das Normale. Phonologische Innovationen führen zu besser artikulierbaren und/oder perzipierbaren Lautformen18 und sind in diesem Sinne zweckmäßig. Bereits aus der Existenz von einander widersprechenden phonologischen Prozessen, die in unterschiedliche Entwicklungsrichtungen weisen, ergibt sich jedoch, daß nie eine unter allen Gesichtspunkten optimale phonologische Zielstruktur erreicht werden kann. 1617 (VI) Die natürliche Sprache und damit auch ihre phonologische Struktur existiert in der Veränderung. Wesentliche Züge der phonologischen Komponente des Sprachsystems werden erst sichtbar und/oder erklärbar, wenn die Sprachveränderung in die Betrachtung einbezogen wird. Deshalb kann es bei der phonologischen Theoriebildung k e i n e s t r i k t e T r e n n u n g z w i s c h e n S y n c h r o n i e u n d D i a c h r o n i e geben. Auch psycholinguistische Fakten (so aus dem Spracherwerb und der Aphasie) sind für eine solche Theoriebildung relevant, vgl. ζ. B. den unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Erwerb der phonologischen Struktur und ihrer Veränderung.

0.2.

MAYERTHALEES

Konzept einer natürlichen Morphologie

Etwa seit der Mitte der siebziger Jahre gibt es Versuche, das im Rahmen der Phonologie entwickelte Natürlichkeitskonzept für die morphologische Theoriebildung fruchtbar zu machen. Ansätze zu einer an den Grundprinzipien der natürlichen Phonologie orientierten Theorie der natürlichen Morphologie finden sich vor allem in einer Reihe von 1 9 7 7 erschienenen Arbeiten von D B E S S L E R , M A Y E R T H A L E B und WUKZEL.18 Im Jahre 1 9 7 9 legte M A Y E R T H A L E B seine Arbeit „Morphologische Natürlichkeit" vor (als Buch M A Y E R T H A L E B ( 1 9 8 1 ) ) , in der zum ersten Mal versucht wird, eine systematisch ausgearbeitete Theorie der natürlichen Morphologie zu entwickeln. 15

Das gilt natürlich nicht für Innovationen auf Grund von Sprach- und Dialektmischungen, Entlehnungen, Normierungen usw. 16 Die Existenz widersprüchlicher phonologischer Prozesse ist nur ein Grund dafür, daß niemals eine .optimale' phonologische Struktur verwirklicht werden kann. Ein weiterer, zumindest ebenso wichtiger Grund besteht in der Einwirkung anderer Komponenten, speziell der Morphologie, auf die Phonologie; vgl. Abschn. 0.3. 17 Die (zur Aufnahme neuer phonologischer Regeln) komplementäre Form des Wandels, der Regelabbau, ergibt sich dadurch, daß phonologische Regeln im Laufe der Zeit ihre phonetische Motivation einbüßen (oft unter morphologischem Einfluß). Sie verlieren damit ihre Funktion und tendieren zum Abbau. Schließlich werden sie von neuen Sprechergenerationen nicht mehr erworben. Dieser letzte Schritt ist aber — streng genommen — nicht mehr phonologisch, sondern bereits morphologisch bedingt. Phonologische Regeln ohne phonetische Motivation haben nicht nur keine phonologische Funktion, sondern wirken sich oft zugleich auch morphologisch störend aus, da sie die Zusammengehörigkeit von Formen verdunkeln. Das gibt schließlich den Ausschlag für ihren Abbau. 18 Vgl. dazu DRESSLEB (1977b) und (1977c), MAYERTHALEB (1977) sowie WIJBZEL (1977a) und (1977b).

0.2. M a y e r t h a l e r s Konzept

21

Mayebthalebs Ausgangspunkt ist der folgende: „Nicht alle morphologischen Strukturen sind in natürlichen Sprachen gleichermaßen verbreitet, nicht alle morphologischen Prozesse und Strukturen werden von Kindern zur selben Zeit erworben, nicht alle morphologischen Strukturen werden vom Sprachwandel gleichermaßen affiziert, nicht alle morphologischen Prozesse und Strukturen werden von Sprachstörungen gleichermaßen in Mitleidenschaft gezogen, nicht alle morphologischen Strukturen sind gleichermaßen leicht dekodierbar . . . " ( M a y e r t h a l e b (1981: 2)). Diese Gegebenheiten erfordern eine Erklärung. Basierend auf ihnen stellt Mayebt h a l e b zunächst die Hypothese auf: „Ein morphologischer Prozeß bzw. eine morphologische Struktur ist n a t ü r l i c h , wenn er/sie a) weit verbreitet ist und/oder b) relativ früh erworben wird und/oder c) gegenüber Sprachwandel relativ resistent ist oder durch Sprachwandel häufig entsteht etc." (2). Solche morphologischen Prozesse und Strukturen werden also entsprechend den phonologischen Prozessen und Strukturen eingeordnet. In Übereinstimmung mit dem von B a i l e y erarbeiteten generellen grammatiktheoretischen Markiertheitskonzept19 wird die Natürlichkeit umgekehrt proportional dem Begriff der Markiertheit zugeordnet: Ein morphologisches Phänomen ist umso weniger markiert, je natürlicher es ist, und um so mehr markiert, je weniger natürlich es ist. Markiertheit/Natürlichkeit bilden eine Skala von maximal markiert/minimal natürlich bis zu minimal markiert/ maximal natürlich. Wenn also morphologische Strukturen und Operationen durch die Theorie entsprechende Markiertheitswerte zugewiesen bekommen, so sollen diese Werte die Komplexität der Strukturen und Operationen ausdrücken. Wichtig ist dabei, daß (anders als in der Markiertheitstheorie der generativen Grammatik, vgl. C h o m s k y / H a l l e ( 1 9 6 8 : 4 0 0 f f . ) ) die Ebene der Markiertheitswerte nicht als innergrammatische Ebene interpretiert wird. Die Markiertheitswerte sind vielmehr Bewertungsprädikate, denen auf der Objektebene bestimmte unbewußte Bewertungsprozeduren der Sprecher entsprechen, die nicht Teil des Sprachsystems selbst sind. Die Bewertung morphologischer Gegebenheiten muß von der Funktion der Morphologie ausgehen. Diese besteht darin, morphologische Kategorien formal zu repräsentieren. Morphologische Operationen bilden Kategorien auf einzelsprachliche Repräsentationen (Symbolisierungen, Kodierungen) ab. Mayebthaleb unterscheidet zwischen drei Typen von für die Morphologie relevanter Markiertheit, der s e m a n t i s c h e n K a t e g o r i e n m a r k i e r t h e i t („sem-Werte"; wobei ,semantisch' im weiteren Sinne als ,inhaltlich' zu verstehen ist), der S y m b o l i s i e r u n g s m a r k i e r t h e i t („sym-Werte") und der a b g e l e i t e t e n M a r k i e r t h e i t f ü r s y m b o l i s i e r t e K a t e g o r i e n („m-Werte"). Jede Markiertheitsfestlegung beginnt mit der Bestimmung von sem-Werten, dann werden die sym-Werte ermittelt. Auf der Basis beider operiert der morphologische Markiertheitskalkül, der Paaren des Typs (Kategorie, Symbolisierung) die m-Werte, d.h. die endgültigen Markiertheitswerte, zuweist. Die s e m a n t i s c h e K a t e g o r i e n m a r k i e r t h e i t ergibt sich daraus, wieweit morphologische Kategorien prototypische Sprechereigenschaften spiegeln. Eine semantisch weniger markierte Kategorie ist eine solche, die prototypische Sprechereigenschaften spiegelt: „Der (prototypische) Sprecher präsupponiert sich mit seinen Eigenschaften . . ., insbesondere versteht er sich als Person; qua Person steht er an der Spitze der Belebt" Vgl. neben anderen Arbeiten vor allem B a i l e y (1974) und (1977).

22

0. Natürlichkeit, in der Grammatik

heitshierarchie und selbstredend ist er ,human'. Der Sprecher koinzidiert mit der ersten Person und da er normalerweise nicht im Chorus spricht, kommt ihm die Kategorie ,Singular' zu. Der Sprecher lebt in der realen Welt ([+ Indikativ]) . . . Der Sprecher macht sich auch ein positives Bild von sich bzw. er ist [-f positiv] und affirmativ! Schließlich sind für die Spreeherwahrnehmung manche Entitäten perzeptiv leichter zugänglich . . . als andere" (13). Die prototypischen Sprechereigenschaften sind biologisch-psychologisch und sozialpragmatisch bedingt, partiell können sie auch kulturkreisspezifisch sein. Aus dem Primat der prototypischen Sprechereigenschaften gegenüber den jeweils komplementären Gegebenheiten lassen sich direkt oder indirekt Markierungsbeziehungen wie die folgenden ableiten (,sem! steht dabei für .semantisch weniger markiert'): (2) — — — — —

sein sein sem sem sem sein

(Subjekt, Objekt) (belebt, nichtbelebt) (1. Person, andere Personen) (Präsens, Nichtpräsens) (Indikativ, Nichtindikativ) (Singular, Plural) usw. usf.

Die letzte Relation ergibt sich nicht nur daraus, daß der Sprecher normalerweise einzeln spricht, sondern läßt sich auch aus ,sem (perzeptiv leichter zugänglich, perzeptiv schwerer zugänglich)' über ,sem (nichtkomplex, komplex)' ableiten. Die jeweils semantisch weniger markierte Kategorie ist die Basiskategorie. Die S y m b o l i s i e r u n g s m a r k i e r t h e i t beruht auf dem Konzept der optimalen Symbolisierung von Kategorien. Eine Symbolisierung ist optimal bzw. maximal natürlich, genau dann, wenn s i e k o n s t r u k t i o n e l l i k o n i s c h , u n i f o r m und t r a n s p a r e n t ist, andernfalls mehr oder weniger unnatürlich (22). K o n s t r u k t i o n e l l e r I k o n i s m u s liegt vor, wenn die Asymmetrie zweier Kategorien hinsichtlich ihrer semantischen Markiertheit sem (K i; Kj) auf eine Asymmetrie der Symbolisierung abgebildet wird. MAYEKTHALEK nennt das Prinzip des konstruktionellen Ikonismus „einen der konstitutiven Züge jeglicher Morphologieorganisation" (23). Der konstruktioneile Ikonismus hat eine starke und eine schwache Ausprägung. Im ersten Fall werden zwei Kategorien K1( K 3 mit sem (K i; Kj) auf die Symbolisierungen (0, —0) abgebildet (wobei ,0' = merkmallos, ,—0' — merkmalhaftj, im zweiten Fall auf die Symbolisierungen (Si; Sj) mit SI5 SJ Φ 0 und S. ist relativ merkmalhafter als S J . 2 0 Für die starke Ausprägung vgl. die Numeruskodierung des Paradigmas dtsch. Junge: Singular: Junge (0) — Plural Junge-n (/n/), für die schwache das entsprechende

20

Zur Nichtarbitrarität sprachlicher Formen und speziell zum Ikonismusprinzip vgl. u. a. JAKOBSON (1971a) und (1971b) sowie ANTTILA (1972: 12ff.); entsprechende Ansätze auch bei GBEENBEBG (1963). In JAKOBSON (1971b: 700) heißt es z . B . : "Any attempt to treat verbal signs as solely conventional, .arbitrary symbols' proves to be a misleading oversimplification. Iconicity plays a vast and necessary, though evidently subordinate part in the different levels of linguistic structure". MAYEBTHALEBS .konstruktioneller Ikonismus' entspricht übrigens JAKOBSONS ,Diagrammatismus'. Vgl. auch PLANK (1979), wo eine interessante Darstellung der Ikonismusproblematik in ihren unterschiedlichen Aspekten speziell bezogen auf ihren sprachhistorischen Stellenwert gegeben wird.

0.2.

MAYERTHALERS

Konzept

23

schwedische Paradigma pojke ,Junge': Singular: pojk-e (/e/, d. h. ein Segment) — Plural pojk-ar (/ar/, d. h. zwei Segmente). Innerhalb der merkmalhaften Kodierung läßt sich unterscheiden zwischen additiven Kodierungen (Schwester-η) und modulatorischen Kodierungen (Mütter). Additive Kodierung kann außer als Hinzufügung von Segmenten (segmental-additiv) auch als Längung von Segmenten (modulatorischadditiv; lat. domus ,Haus' — N.P1. domus) funktionieren. Auf der Grundlage des Konzepts des konstruktionellen Ikonismus und der Symbolisierungstypen läßt sich dann die folgende Hierarchie der Ikonizität annehmen. Eine Kodierung ist (a) m a x i m a l i k o n i s c h , wenn konstruktioneller Ikonismus und segmental-additiv; (b) w e n i g e r als m a x i m a l i k o n i s c h , wenn konstruktioneller Ikonismus und modulatorisch-additiv ; (c) m i n i m a l i k o n i s c h , wenn konstruktioneller Ikonismus und modulatorisch; (d) n i c h t i k o n i s c h , wenn kein konstruktioneller Ikonismus; (e) k o n t r a i k o n i s c h , wenn die Asymmetrie der semantischen Markiertheitswerte auf eine inverse Asymmetrie der Symbolisierung abgebildet wird. Wenn man beispielsweise die Ikonizitätsgrade der engl. Pluralkodierung überprüft, so ergibt sich, daß der Typ boy — boy-s maximal ikonisch, der Typ goose — geese minimal ikonisch und der Typ sheep — sheep nichtikonisch ist. Eine (unsystematische) kontraikonische Pluralkodierung liegt im Fall von dtsch. Eltern-teil — Eltern mit additiver Kodierung des Singulars vor. „Das Prinzip des konstruktioneilen Ikonismus begründet, weshalb in natürlichen Sprachen sem-Kategorien vorzugsweise merkmalhafter kodiert werden als Basiskategorien: Was semantisch ,mehr' ist, sollte auch konstruktioneil ,mehr' sein" (25). So haben natürliche Sprachen ζ. B. eher eine merkmalhafte Plural- als eine merkmalhafte Singularkodierung, eine merkmalhafte Nicht präsens- als eine merkmalhafte Präsenskodierung, eine merkmalhafte Konjunktivais eine merkmalhafte Indikativkodierung usw. Änderungen erfolgen dabei nach M A Y E B T H A L E R immer in der Richtung, daß Symbolisierungsmarkiertheit abgebaut wird. Die Begriffe der Uniformität und der Transparenz werden folgendermaßen gefaßt: „Die Symbolisierung/Enkodierung eines Paradigmas P; ist u n i f o r m , wenn P; gemäß ,one function — one form' organisiert ist, andernfalls mehr oder minder nicht-uniform" (34). Und: „Ein Paradigma Pj ist t r a n s p a r e n t , wenn es sich durch monofunktionale Operationen konstituiert bzw. nur monofunktionale Flexive/Derivative aufweist" (35). Auch die Prinzipien der Uniformität und der Transparenz sind durch die Perzeption zu begründen. „Eine eineindeutige Zuordnung zwischen Form und Funktion ist perzeptiv leichter erfaßbar als eine einmehr- bzw. mehreindeutige Zuordnung" (a. a. Q). Diese beiden Prinzipien beeinflussen ebenfalls die Richtung morphologischen Wandels. Wenn es trotz der Favorisierung von Ikonismus, Uniformität und Transparenz keine Sprachen ohne jegliche Symbolisierungsmarkiertheit gibt, so ist das vor allem durch das ständige Wirken der Phonologie zu erklären. Eine relativ geringe Symbolisierungsmarkiertheit zeigen streng-agglutinierende Sprachen. Aus den allgemeinen Prinzipien der Symbolisierungsmarkiertheit lassen sich nun wieder ganz konkrete Markierungsrelationen ableiten, die die einzelnen sym-Werte konstituieren, ζ. B.:

0. Natürlichkeit in der Grammatik

24

(3) — sym (wenig Allomorphie, viel Allomorphie) — sym (Nichtsuppletion, Suppletion) 21 — sym (Monofunktionalität, Polyfunktionalität) — sym (eineindeutige Symbolisierung, nichteineindeutige Symbolisierung) — sym (Nichtdeponentien, Deponentien) usw. usf. Auf der Grundlage der sem- und sym-Werte werden die m-Werte, also die Werte, der abgeleiteten Markiertheit für symbolisierte Kategorien, bestimmt. Hierfür gilt die Festlegung :22 (4) Wenn eine semantisch unmarkierte Kategorie (sem) unmarkiert symbolisiert wird (sym), dann ist auch die resultierende Form unmarkiert (m); wenn die unmarkierte Kategorie (sem) markiert symbolisiert wird (sym), dann ist auch die resultierende Form markiert (ni). Für die Formen der entsprechenden semantisch markierten Kategorien (seni) gelten die jeweils komplementären Markierungswerte (m-Werte). Im einfachsten Fall (MAYEBTHALEB spricht vom „Normalfall" (40)) stimmen bei Basiskategorien sem- und sym- und damit auch m-Werte überein. Es gibt jedoch relativ häufige Konflikte zwischen sem- und sym-Werten, nämlich dann, wenn die Kodierungen von Kategorien nicht ikonisch sind. Solche Kodierungen kommen durch die Wirkung von dem Prinzip des konstruktionellen Ikonismus völlig oder partiell gegenläufigen Tendenzen im Sprachsystem zustande: Symbolisierungen von Kategorien gehen auf phonologischem Wege verloren (vgl. den häufig zitierten Fall des endungslosen slavischen G.P1. bei Wörtern des Typs knig-a — knig-0, wo das alte Flexiv -ü phonologisch abgebaut worden ist), Einflüsse von Pragmatik, Semantik und Syntax wirken dem konstruktioneilen Ikonismus entgegen. Doch es gibt nicht nur Konflikte zwischen den verschiedenen Komponenten des Sprachsystems, sondern auch — vergleichbar dem Gegeneinanderwirken verschiedener phonologischer Prozesse — innermorphologische Konflikte zwischen verschiedenen Ausprägungen des konstruktionellen Ikonismus, ζ. B. bei Verben konstruktioneller Ikonismus der Numeruskodierung versus konstruktioneller Ikonismus in der Personenkodierung u. ä. Die auf der Basis von sem- und sym-Markiertheit sich konstituierenden m-Werte, die allgemeinen morphologischen Markierungen, sind die Entitäten, zwischen denen die beiden folgenden grundlegenden Relationen der Morphologie gelten, die MAYEBTHALEB im Anschluß an BAILEY als T h e o r e m e der M a r k i e r t h e i t s t h e o r i e (41) faßt: (5) (i) m > w >


m' gehorcht. Das Prinzip (ii) besagt, daß bei allen innermorphologischen Veränderungen, in denen eine stärker und eine schwächer markierte Form miteinander konkurrieren, die wenigei markierte Form obsiegt. Damit ist auch für solche Fälle die Richtung des Wandels festgelegt. 21 22

MAYEBTHALEB weist daraufhin, daß es auch Bereiche gibt, für die Suppletion funktional ist (39). Diese Formulierung faßt verschiedene Festlegungen MAYERTHALERS zusammen (vgl. 40—59).

0.2.

MAYEBTHALERS

Konzept

25

Als Beispiel für die Wirkung von (i) und (ii) führt M A Y E R T H A L E R suppletive Komparationsparadigmen des Typs gut — bess-er — am bes-(s)ten an. Sollte hier ein Ausgleich stattfinden, welcher Stamm würde sich durchsetzen ? Entsprechend sem (Positiv, Nichtpositiv) ist gut sem. Laut konstruktionellem Ikonismus (in starker Ausprägung) sollte gelten,Positiv: 0, Nichtpositiv: —0'. Dem ist so. Der Ikonismus determiniert (trotz Nichtuniformität!) sym. Nach der angeführten Festlegung läßt sich für gut der Wert m, für bess- entsprechend m ermitteln. Wenn also in einem solchen Paradigma ein Ausgleich auftritt, sollte er zu einem Paradigma des Typs *gut — gut-er — am gut-esten führen. Eine solche Entwicklung ist tatsächlich in verschiedenen Fällen zu beobachten; vgl. mhdtsch. übel — wirser — wirsest > nhdtsch. übel — übler — am übelsten, schwed, god — bättre — bäst > god — godare — godast (bei Bewertung von Speisen). Ein Ausgleich zu *bess — besser — am besten wäre dagegen kein möglicher Wandel. Bei der Ermittlung der m-Werte spielt zusätzlich zu den erörternden Faktoren ein weiteres Phänomen eine entscheidende Rolle, die M a r k i e r t h e i t s u m k e h r u n g . Diese bewirkt — grob gesagt —, daß in markierten Kontexten die Markiertheitswerte umgekehrt werden. Ihr intuitiver Hintergrund ,,ist die Kontextsensitivität von Markiertheitswerten, d. h. daß kontextfrei definierte Markiertheitswerte in m-Kontexten zu redefinieren sind" (48).Dazu ein Beispiel: Im Lateinischen ist ein paradigmatischer Ausgleich von lös .Hausgott' — Plural lares zu lär — lares zu beobachten. Dieser morphologische Wandel sollte auf der Basis der m-Werte beider einschlägiger Formen und des Theorems (ii) in seiner Richtung erklärbar sein; doch das ist nicht der Fall. Laut sem (Singular, Plural) bekommt läs die Bewertung sem. Da in las — lar-es der Plural konstruktionell ikonisch symbolisiert ist, gilt für beide Formen der Wert sym. Somit erhält läs die Gesamtbewertung m und lares die Gesamtbewertung m. Entsprechend dem Prinzip ,m :m > m' sollte sich bei einem Ausgleich im Paradigma der Singularstamm durchsetzen, und es ergibt sich läs — *las-es, ein inkorrektes Resultat, da sich hier gerade der Pluralstamm durchsetzt. Die Abweichung von einem ,normalen' Ausgleich resultiert aus dem leicht auszumachenden Faktum, daß läs ein Beinahe-Pluraletantum ist. Dieser Status des Wortes hat nichts mit der Wortsemantik zu tun, sondern beruht allein auf der römischen Mythologie (die Hausgötter traten fast nur in der Mehrzahl auf). Die Eigenschaft ,Beinahe-Pluraletantum' bildet einen markierten Kontext, Markierungsumkehrung tritt ein. Unter dieser Bedingung werden die m-Werte folgendermaßen abgeleitet: Wie gehabt gilt laut sem (Singular, Plural), für läs die Bewertung sem und wegen der ikonischen Pluralkodierung für läs und lares jeweils sym. Die spezifische Gegebenheit ,Beinahe-Pluraletantum' kann hier als markierter Kontext in Erscheinung treten, da sie mit der Singular-Plural-Relation in einem kausalen Zusammenhang steht. 23 Sie ruft Markiertheitsumkehrung hervor: 23

Die etwas vage formulierte Festlegung, daß der markierte Kontext einer Markiertheitsumkehrung in einem kausalen Zusammenhang mit den Kategorien/Formen stehen muß, zwischen denen sich die Markiertheitsumkehrung abspielt, bedarf natürlich der Präzisierung. Bei MAYEBTHALER fehlt eine solche Einschränkung des Konzepts der Markiertheitsumkehrung ganz. Damit ist Markiertheitsumkehrung in jedem Kontext zugelassen, der — gleichgültig, in Hinsicht worauf — markiert ist, was für eine sehr große Anzahl von Kontexten zutrifft. Deshalb ist MAYER THALERS Konzept der Markiertheitsumkehrung zu weit, verliert an intuitiver Plaueibilität und erscheint letztendlich als ein rein technischer Trick zur Beseitigung störender Markiertheit.

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0. Natürlichkeit in der Grammatik

(6) sem (Singular von las) > m/im m-Kontext ^einahe-Pluraletantum' sem (Plural von läs ) > m . Im speziellen Fall des Paradigmas läs ist die Singularform markiert und die Pluralform unmarkiert. Entsprechend dem Prinzip (ii) setzt sich ganz folgerichtig auch hier die weniger markierte Stammvariante durch und es ergibt sich korrekt lär — lares. Zusammenfassend läßt sich zur morphologischen Markiertheit feststellen: „Prototypische Sprecherkategorien (sem (Kj)) sind dann insgesamt perzeptiv ,leicht' (m), wenn sie morphologisch gut,verpackt 'sind (sym (K b Sj)). andernfalls nicht (m)" (62). Morphologische Natürlichkeit wird in diesem Sinne als ausschließlich auf die Perception bezogen gefaßt: „Morphologische Markiertheit/Unnatürlichkeit ist Perzeptionskomplexität". Aus der Sprachproduktion resultierende Gesichtspunkte spielen nach M A Y E R T H A L E B anders als bei der Bestimmung der phonologischen Natürlichkeit „bei der Evaluation morphologischer Strukturen und Operationen kaum eine Rolle" (a.a.O.). 2 4 Der konstruktioneile Ikonismus ist im Prinzip dadurch charakterisiert, daß einem ,Mehr an Semantik' auch ein ,Mehr an phonologischer Substanz' zugeordnet wird. Die phonologische Substanz spielt also eine (im wesentlichen) quantitative Rolle. Für die Morphologie ist noch ein weiterer Typ von Ikonismus von Bedeutung, der phonet i s c h e I k o n i s m u s . Dabei ist die Qualität der phonologischen Substanz relevant. Zwischen einer Kategorie und der Art und Weise ihrer phonologischen Kodierung besteht ein Zusammenhang. Ein Beispiel, bei dem der phonetische Ikonismus besonders deutlich zum Ausdruck kommt, ist die Diminutiv- und Augmentativbildung. Bei der Untersuchung einer beliebig zusammengesetzten, aber hinreichend großen Menge von Sprachen ergibt sich nämlich ganz eindeutig, daß Diminutivsuffixe vorzugsweise nichttiefe oder hohe Vokale und/oder palatale Konsonanten, Augmentativsuffixe hingegen vorzugsweise nicht-hohe oder niedrige Vokale enthalten. Daran ändern auch die häufig zitierten Gegeninstanzen nichts.25 Die Nichtzufälligkeit der Zuordnung ,kleines Objekt — hoher Vokalismus/palataler Konsonantismus' bzw. ,großes Objekt — niedriger Vokalismus' wird auch durch die psycholinguistische Empirie bestätigt. Verletzungen

24 26

Dazu ein Beispiel: MAYEBTHALER konstatiert, daß das deutsche Substantiv Sau die Pluralformen Säue und Sauen hat. „Alle Sprecher, welche die Form Sauen kennen bzw. benützen, kennen bzw. benützen auch Säue, nicht aber das Umgekehrte; d.h., die Existenz der Kodierung Sauen impliziert die Existenz der Kodierung Säue bzw. ergibt im Sinne der markiertheitstheoretischen Heuristik: sym > sym und Säue = sym, Sauen = sym." Die Pluralform Sauen wird nur im speziellen Kontext von Jagd und Viehzucht, d. h. in einem pragmatisch markierten Kontext verwendet. „Da wir normalerweise Schweine weder jagen noch züchten, gilt also: sym (Säue) > m/m-Kontext Jagd etc. Diese Markiertheitsumkehrung begründet, weshalb im Spezialkontext ,Jagd/Zucht' die Kodierung Sauen vorgezogen wird, obwohl wir sonst... immer Säue sagen" (50). Weshalb soll hier gerade der Kontext,Jagd/Zucht' markiert sein und nicht ζ. B. der der Zoologie (,da wir normalerweise keine Zoologen sind') oder der übertragene Gebrauch ? Auf diesen Punkt wird später zurückzukommen sein. MAyEKTHAX.EE zeigt, daß es sich dabei oft nur um scheinbare Gegeninstanzen handelt. In Fällen mit ausreichend langer sprachhistorischer Überlieferung wird zusätzlich oft sichbar, daß Gegeninstanzen sekundär durch phonologische Veränderungen (d. h. auf Grund außermorphonologiecher Einwirkung) entstanden sind, vgl. nhdtech. -lein [-lagn] aus mhdtsoh. -lin.

0 . 2 . MAYEBTHALERS Konzept

27

der phonetisch ikonischen Symbolisierung der Diminution und Augmentation sind morphologisch markiert. Für eine Deutung des phonetischen Ikonismus in diesem Falle bieten sich am ehesten syn- und kinästhetische Faktoren an. Andere Bereiche, in denen der phonetische Ikonismus auftritt, sind die Vokativbildung, die Demonstrativa und die Expressiva. Insgesamt nimmt der phonetische Ikonismus in der Hierarchie der morphologischen Natürlichkeitsbedingungen offensichtlich eine relativ untergeordnete Position ein. Aus den bisher betrachteten morphologischen Gegebenheiten und bestimmten zusätzlichen Faktoren resultiert die N a t ü r l i c h k e i t m o r p h o l o g i s c h e r E i n h e i t e n , d. h. von Formativen (Morphemen) und Wörtern. Entsprechend stellt MAYERTHALER fest, daß die Perception der „Hauptfaktor" ist, „der über die Natürlichkeit morphologischer Einheiten entscheidet" (103). In diesem Sinne ist dann externe Flexion natürlicher als interne Flexion, und Prä- und Suffixe sind natürlicher als Infixe. Hier werden auch die (seit GREENBERG ( 1 9 6 3 ) bekannten) Zusammenhänge zwischen der syntaktischen und der morphologischen Struktur von Sprachen in die Natürlichkeitsbewertung einbezogen: In Sprachen mit der Basisreihenfolge ,Subjekt — Objekt — Verb' sind Suffixe natürlicher als Präfixe, in Sprachen mit der Basisreihenfolge ,Verb — Subjekt — Objekt' sind Präfixe natürlicher als Suffixe. 26 Für bestimmte Bereiche sind ferner phonetisch-ikonische Kodierungen natürlicher als nichtikonische. Entscheidend ist, daß natürlicher Wandel in der Morphologie (m > m) auf natürliche Formen/Wörter hinzielt. Die Ermittlung der N a t ü r l i c h k e i t m o r p h o l o g i s c h e r P r o z e s s e (bzw. Operationen) setzt das Verständnis dessen voraus, was überhaupt ein morphologischer Prozeß ist. Ein morphologischer Prozeß wird gefaßt als „jede Operation, welche eine morphologische Enkodierungsfunktion erfüllt" (102). Der Begriff des morphologischen Prozesses ist damit von seiner Funktion her gefaßt, nicht von seiner Form her: Es ist nicht gefordert, daß ein morphologischer Prozeß über einen explizit erscheinenden morphologischen Kontext verfügt. Was die Gliederung der (wichtigsten27) Prozeßmorphologische Prozesse

syntagmatische Prozesse

[ + additiv]

Affigierung

Reduplikation

[— additiv]

modulatorischadditive Prozesse

paradigmatische Prozesse

analogisehe Prozesse

modulatorische Prozesse

0-Prozesse

substitutive Prozesse

subtraktive Prozesse

Kontamination

Auf Einzelheiten dieser Klassifizierung, darunter auch kritische Punkte, kann hier nicht eingegangen werden. ie

27

Vgl. speziell GREENBERG ( 1 9 6 3 : 62).

Insgesamt gibt MAYERTHALER die folgende Hierarchie von Prozeßtypen an (111):

28

0. Natürlichkeit in der Grammatik

typen betrifft, so unterscheidet M A Y E B T H A L E B zunächst zwischen a d d i t i v e n und n i c h t a d d i t i v e n Prozessen. Zu den additiven Prozessen gehören s e g m e n t a l e und n i c h t s e g m e n t a l e . Erstere sind A f f i g i e r u n g e n und R e d u p l i k a t i o n e n , letztere m o d u l a t o r i s c h - a d d i t i v e Prozesse. Zu den nichtadditiven Prozessen gehören u. a. m o d u l a t o r i s c h e , s u b t r a k t i v e und 0-Prozesse. 2 8 Da nicht alle Prozesse für die Enkodierung aller Kategorien in gleicher Weise geeignet sind, können sich für die einzelnen Prozeßtypen spezifische i k o n i s c h e F u n k t i o n s p o t e n t i a l e ergeben. 0-Prozesse sowie subtraktive Prozesse haben faktisch keine spezifischen Funktionspotentiale; ähnlich verhält es sich nach M A Y E R T H A L E R mit den modulatorischen Prozessen.29 Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Teilklasse der additiven Operationen, die reduplikativen Prozesse. „Reduplikation enkodiert vorzugsweise ,Plural(ität), Abundanz, Iterative, Habituativa, Frequentiva, Kontinuativa, Distributive, Augmentativa, Intensiva und Emphase'" (115). Diese Kategorien bilden eine „relativ natürliche semantische Klasse" (116), die sich ad hoc als ,Intensiv' charakterisieren läßt. Diese ,Intensiv'-Bildungen stellen das ikonische Funktionspotential der Reduplikation dar. Eine Voraussetzung dafür, daß ein Prozeß als natürlich anzusehen ist, besteht darin, daß er innerhalb seines ikonischen Funktionspotentials angewandt wird, ansonsten ist er mehr oder weniger unnatürlich. Die genauere Bestimmung des M a r k i e r t h e i t s g r a d e s eines m o r p h o l o g i s c h e n P r o z e s s e s erfolgt wiederum auf der Basis seiner semantischen Markiertheit und seiner Symbolisierungsmarkiertheit. Die semantische Markiertheit ist folgendermaßen festgelegt (120f.): (7) (i) Ein morphologischer Prozeß, der innerhalb seines ikonischen Funktionspotentials operiert, ist semantisch unmarkiert (sem), andernfalls mehr oder minder markiert (sem). (ii) Ein morphologischer Prozeß, der innerhalb seines ikonischen Funktionspotentials operiert und einen konstruktionell durchsichtigen Output erzeugt, ist semantisch maximal unmarkiert (max sem). (iii) Ein morphologischer Prozeß, der außerhalb seines ikonischen Funktionspotentials operiert und der einen konstruktionell nicht durchsichtigen Output erzeugt, ist semantisch maximal markiert (max sem). Eine morphologische Form ist dann konstruktionell durchsichtig, wenn ihre einzelnen Formative (Morpheme) klar zu identifizieren sind. Für die Symbolisierungsmarkiertheit von morphologischen Prozessen gilt u. a. (121): (8) Ein morphologischer Prozeß, der eine semantisch markierte (sem-)Kategorie enkodiert, ist hinsichtlich seiner Symbolisierung (i) unmarkiert (sym), wenn der Prozeß additiven Charakter hat; 28

29

Vgl. dazu die im Zusammenhang mit der Diskussion des konstruktionellen Ikonismus gegebenen Beispiele. MAYERTHALER schreibt den 0-Prozessen ein ikonisches Funktionspotential der Kodierung von Basiskategorien zu (vgl. 112 und 121). Es ist jedoch offensichtlich wenig sinnvoll, 0-Prozesse anzunehmen, die Basiskategorien (oder Kategorien überhaupt) .kodieren', ohne dabei irgendeine Veränderung gegenüber der Auegangsform zu bewirken. Das muß übrigens nicht heißen, daß es generell keine 0-Prozesse gibt; vgl. dazu Abschn. 1.3. Innerhalb enger Grenzen läßt MAYERTHALER ikonische Funktionspotentiale für modulatorische P r o z e s s e gelten, so ζ. B . die D i m i n u t i o n f ü r d i e H e b u n g / P a l a t a l i s i e r u n g v o n S e g m e n t e n .

0.2. MAYERTHALKRS Konzept

29

(ii) maximal unmarkiert (max sym), wenn der Prozeß segmental-additiven Charakter hat; (iii) markiert (sym), wenn der Prozeß nichtadditiven Charakter hat; (iv) maximal markiert (max sym), wenn der Prozeß subtraktiven Charakter hat. Insgesamt läßt.sich dann sagen: (9) Ein morphologischer Prozeß ist maximal unmarkiert (max m; maximal natürlich), wenn er hinsichtlich seiner Kategorienmarkiertheit und hinsichtlich seiner Symbolisierungsmarkiertheit maximal unmarkiert (max sem und max sym) ist (124). Im Zusammenhang mit diesen Gegebenheiten baut MAYERTHALER seinen Begriff der P r o d u k t i v i t ä t auf. Ob ein morphologischer Prozeß oder eine Form produktiv ist, entscheiden verschiedene Faktoren. Der erste dieser Faktoren ist die Transparenz; ein Prozeß bzw. eine Form gilt dabei als transparent, wenn sie/er konstruktioneil und semantisch durchsichtig ist.30 Zwei weitere relevante Faktoren sind die I k o n i z i t ä t und die U n i f o r m i t ä t des Prozesses bzw. der Form. Je stärker transparent, ikonisch und uniform ein Prozeß ist, umso mehr ist auch seine Produktivität begünstigt. Die Begriffe ,transparent', ,ikonisch' und ,uniform' werden im Einklang mit früheren Bestimmungen zu n a t ü r l i c h zusammengefaßt. Des weiteren kann ein Prozeß nur dann produktiv sein, wenn er über eine hinreichend große I n p u t men ge verfügt. Der letzte die Produktivität mitentscheidende Faktor ist die sprachs p e z i f i s c h e N o r m a l i t ä t . MAYERTHALER faßt die sprachspezifische Normalität als Resultat des Zusammenwirkens der morphologischen Komponente mit den anderen Komponenten des Sprachsystems. (Ohne Einwirkung anderer Komponenten, speziell der Phonologie, gäbe es dementsprechend keine von der Natürlichkeit unterschiedene sprachspezifische Normalität.) Im Sinne der angeführten Faktoren läßt sich dann zusammenfassen: (10) Wenn ein morphologischer Prozeß natürlich und sprachspezifisch normal ist sowie einen hinreichend großen Input hat, dann implizieren diese Faktoren die Produktivität des Prozesses (135). MAYERTHALER setzt mit diesem Produktivitätsbegriff auch den Begriff der Regul a r i t ä t (Regelmäßigkeit) gleich. Die in diesem Zusammenhang oft als begründend angesehene F r e q u e n z (Vorkommenshäufigkeit) sprachlicher Erscheinungen wird als eine Folge der Natürlichkeit ohne explanativen Wert betrachtet.31

0.3. Natürlichkeitskonflikte zwischen den Komponenten Wir haben gesehen, daß eowohl die phonologische Komponente als auch die morphologische Komponente des Sprachsystems zu mehr Natürlichkeit tendieren. Der 30

31

Semantisch durchsichtig ist eine Form, deren Geeamtbedeutung im Rahmen des durch die Kombination der Einzelbedeutungen seiner Formative konstituierten Bedeutungsspielraumes liegt. Diese These wird später zu diskutieren sein.

30

0. Natürlichkeit in der Grammatik

Sprachwandel verläuft jeweils in Richtung auf mehr Natürlichkeit hin. Mit anderen Worten: Durch den Sprachwandel wird Markiertheit abgebaut (m > m). Doch Natürlichkeit bzw. Markiertheit bedeutet für die beiden Komponenten, wie zu zeigen war, durchaus nicht dasselbe. Phonologische Natürlichkeit ist auf eine optimale Artikulation/Perzeption der sprachlichen Formen ausgerichtet, also phonetisch motiviert, während morphologische Natürlichkeit auf eine optimale Symbolisierung grammatischer Kategorien in den sprachlichen Formen ausgerichtet, also semiotisch motiviert ist. In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß die einzelnen grammatischen Komponenten nicht unabhängig voneinander, autonom existieren. Sie sind Teile eines einheitlichen Sprachsystems und produzieren gemeinsam sprachliche Äußerungen, einheitliche sprachliche Formen. Diese Formen können nicht gleichermaßen sowohl ein Maximum an phonologischer Natürlichkeit als auch ein Maximum an morphologischer Natürlichkeit realisieren, denn jeder der beiden Typen von Natürlichkeit kann sieh — von Ausnahmen abgesehen — immer nur auf Kosten des jeweils anderen durchsetzen. Aus dieser Konstellation ergeben sich Natürlichkeitskonflikte, die, wiewohl auf anderer Ebene liegend, den Konflikten zwischen unterschiedlich motivierten phonologischen Prozessen vergleichbar sind. Da die Natürlichkeitskonflikte zwischen den Komponenten für das Verständnis des Konzepts der Natürlichkeit in der Grammatik insgesamt wichtig sind, sollen sie am Beispiel des Verhältnisses von phonologischer und morphologischer Natürlichkeit wenigstens skizzenhaft exemplifiziert werden.32 Es bleibt noch vorauszuschicken, daß die Problematik der Natürlichkeitskonflikte zwischen Phonologie und Morphologie im Rahmen natürlicher Grammatikauffassungen von dem Punkt an eine Rolle spielte, wo man versuchte, das von S T A M P E begründete Natürlichkeitskonzept von der Phonologie auf die Morphologie zu übertragen.33 Die entsprechenden Arbeiten nehmen vor einem neuen theoretischen Hintergrund eine von der generativen Grammatik C H O M S K Y S unterbrochene grammatiktheoretische Traditionslinie wieder auf, die sich ausgehend vom junggrammatischen Dualismus von ,Lautgesetz' und ,Analogie' über S A U S S U R E bis hin zu J A K O B S O K erstreckt.34 Der permanente Natürlichkeitskonflikt zwischen der Phonologie und der Morphologie ergibt sich aus den einander widersprechenden Motivierungen ihrer Veränderungstendenzen. Die Entfaltung phonologischer Natürlichkeit führt dazu, daß erstens funktionale Differenzierungen von Formen abgebaut werden und zweitens nichtfunktionale bzw. gegenfunktionale (störende) Differenzierungen von Formen entstehen. Die Entfaltung morphologischer Natürlichkeit führt dazu, daß in Artikulation und Perzeption Belastungen für die Sprachkapazität entstehen. Das sei anhand von zwei Beispielen illustriert. 32

Neben den Natürlichkeitskonflikten zwischen Phonologie und Morphologie existieren im Sprachsystem auch andere Natürlichkeitskonflikte. In DRESSLER (1977 C) werden u. a. Konflikte zwischen der (Wortbildungs-)Morphologie und dem Lexikon skizziert; vgl. dazu auch NEUMANN/ MÖTSCH/WURZEL (1979: 72 u. 75). Wir kommen auf diese Problematik im Abschn. 1.2. zurück. Natürlichkeitskonflikte innerhalb des Akzentsystems zeigt WURZEL (1980a). 33 Vgl. DRESSLER (1977b) und (1977c), WURZEL (1975), (1980c) und (1980d) sowie NEUMANN/ MÖTSCH/WURZEL (1979). Diskutiert wird die Problematik auch in MAYERTHALER (1981: 43ff.). 34 Für das entsprechende Konzept der Junggrammatiker vgl. besonders P A U L (1909: 49ff., 106ff. u. 189ff.); s. weiter SAUSSURE (1967: 167ff.) sowie JAKOBSON (1949).

0.3. Natürlichkeitskonflikte

31

I m Urgermanischen haben die maskulinen n-Stämme wie *drupen ,Tropfen' im N.P1. die Form *drupan-iR mit der deutlichen Kategorienkodierung /iR/. 35 Auf Grund der strikten Fixierung des Wortakzents auf die erste Silbe im Germanischen wird durch die Wirkung phonologischer Reduktionsprozesse (der sogenannten ,Auslautgesetze'), die artikulatorische Erleichterungen herbeiführen, zunächst das Flexiv /iR/ abgebaut, so daß die entsprechende Form im Urnordischen *drup-an ist, wobei /an/ sekundär als N.Pl.-Marker gewertet wird. Durch einen weiteren Reduktionsprozeß wird schließlich auch das auslautende /n/ getilgt. Die N.PI.-Form zu aschwed. drup-i bildet drup-a. Die Form drupa ist wegen ihrer geringeren Silbenzahl einfacher zu artikulieren als die Ausgangsform *drupaniR, ist entsprechend phonologisch natürlicher als diese. Doch diese Zunahme phonologischer Natürlichkeit hat zur Folge, daß eine funktional wichtige morphologische Distinktion abgebaut wird: Die Form drupa erscheint im Altschwedischen nicht nur im N.P1., sondern auch im G./D./A.Sg. und im G./A.P1. Es gibt keine eineindeutige Zuordnung zwischen dem Kategorienbündel ,Nominativ + Plural' einerseits und der entsprechenden Kodierung im Paradigma mehr. Das Prinzip ,one function — one form' gilt nicht länger; Uniformität und Transparenz (in M A Y E R T H A L E R S Sinne) sind gestört. Die Entfaltung phonologischer Natürlichkeit hat also zu einer Abnahme morphologischer Natürlichkeit geführt: (11) m P > m P =3 m M > m M . Noch im Altschwedischen setzt als Reaktion darauf ein morphologischer Wandel ein. Das innerhalb des Paradigmas vieldeutige Flexiv /a/ wird im N.P1. durch die eindeutige Pluralkodierung /ar/ der maskulinen α-Stämme ersetzt, die N.Pl.-Form zu drup-i lautet jetzt drup-ar. Die morphologische Natürlichkeit hat zugenommen, die Markiertheit abgenommen. Ein postvokalisches [r] ist jedoch verhältnismäßig schwer zu artikulieren. Die Lautfolge [-Vr-] ist (wenn zwischen beiden Segmenten keine Silbengrenze liegt) phonologisch entsprechend unnatürlich, markiert. 36 Die Zunahme morphologischer Natürlichkeit bedingt eine Reduzierung phonologischer Natürlichkeit: (12) m M > m M r> m P > m P . Die Folge davon ist, daß das [r] durch die Wirkung eines phonologischen Prozesses der r-Reduzierung in einem großen Teil des Sprachgebietes wieder beseitigt wird; [ar] und [a] im Auslaut werden zu [a] neutralisiert. Es tritt die schon einmal dagewesene Situation ein, daß im Paradigma des diskutierten Typs das undeutliche /a/ als Pluralkodierung fungiert. Dieses /a/ wird im Sinne der morphologischen Natürlichkeit noch einmal durch /ar/ ersetzt. Das ist der Stand der Dinge in der heutigen schwedischen Standardsprache, wo Singular und Plural dropp-e bzw. dropp-ar heißen. I n der gesprochenen Sprache ist aber die Tendenz zum Abbau des [r] noch immer zu beobachten. Insgesamt gesehen stellt sich also dieses Gegeneinanderwirken von phonologischer und morphologischer Natürlichkeit auf mehreren Stufen der Sprachentwicklung folgendermaßen dar: 3 7 36 36 37

Zu den Fakten vgl. WESSEN (1969: 48ff. u. 94ff.) sowie KBAUSE (1948: 65f.). Vgl. dazu die Reduktion und Tilgung des [r] in dieser Position im Deutschen und Englischen; für die deutschen Dialekte s. SCHIRMUNSKI (1962: 372ff.). Für den gegebenen Zusammenhang irrelevante Sprachveränderungen phonologischer (der Wandel von [u] zu [o] und die Geminierung des [p] bei drup- > dropp-) und morphologischer Art (der Abbau der Kasusflexion) sind in der Darstellung vernachlässigt.

32

0. Natürlichkeit in der Grammatik

(13)

urgerm. N.P1. *drupan-iR I

/ zum N.Sg. *drupen

PHONOLOGISCHER Wandel: Abbau der Auslautsilbe 4 urnord. N.P1. *drup-an / zum N.Sg. *drup-ce

i (spät-)aschwed. N.P1. drup-ar j zum N.Sg. drup-i 4 PHONOLOGISCHER Wandel: Abbau des auslautenden [r] i (früh-)nschwed. N.P1. drup-a / zum N.Sg. drup-i \ MORPHOLOGISCHER Wandel: Erneuerung der .phonologisch verschlissenen' N.P1.-Kodierung I modern schwed. PI. dropp-ar / zum Sg. dropp-e Solche Natürlichkeitskonflikte äußern sich nicht nur dergestalt, daß auf sprachhistorisch aufeinanderfolgenden Entwicklungsstufen sich der eine Typ der Natürlichkeit auf Kosten des jeweils anderen durchsetzt, während auf der nächsten Stufe das Verhältnis umgekehrt ist usw. Sie können auch dadurch zum Ausdruck kommen, daß in einem Sprachzustand Varianten von Formen nebeneinanderstehen, die sich hinsichtlich ihres phonologischen und morphologischen Natürlichkeits- bzw. Markiertheitsgrades unterscheiden. Eine solche Konstellation tritt im Deutschen bei den ew-Formen bestimmter Verben, so auch solcher des Typs leben und legen, auf. Nach der von den Aussprachewörterbüchern favorisierten Norm werden leben und legen als [le:ben] bzw. [le :gan] ausgesprochen. Doch der völlig unbetonte Vokal [a] tendiert zum Abbau. Dadurch ergeben sich die Formen [le:bn] bzw. [le:gn] mit einem silbischen η in der Endsilbe. Diese Formen sind — wie selbstredend auch die ,vollen' Formen — morphologisch

0.3. Xatürlichkeitskonflikte

33

natürlich. Sie sind konstruktionell durchsichtig, denn Basismorphem und Flexiv folgen aufeinander, und die Grenze zwischen den Morphemen ist ohne Schwierigkeiten auszumachen. Beide Morpheme bleiben voll intakt. Doch [le:bn] und [le:gn] sind nahezu unaussprechbar durch die in ihnen auftretende Kombination von labialem bzw. velarem Yerschlußlaut und dentalem Nasal. So hat die Tilgung des [θ] die fast automatische Konsequenz, daß der Nasal in der Artikulationsstelle an den vorangehenden Verschlußlaut assimiliert wird. Es resultieren die Ausspracheformen [le:bm] und [le:g^], die phonologisch wesentlich natürlicher sind als die Varianten mit dem dentalen Nasal. Auch in ihnen sind Basismorphem und Flexiv noch deutlich voneinander abgehoben, die konstruktionelle Durchsichtigkeit bleibt. Die morphologische Natürlichkeit wird aber dadurch eingeschränkt, daß die Uniformität dew Flexivs /n/ in der Verbalflexion beseitig! ist. Es erscheint lautlich nicht mehr nur als |n], sondern auch als [m] und [η]. Auch die Formen [le:bm] und [le:gi/] sind der Wirkung eines weiteren artikulatorisch bedingten phonologischen Prozesses unterworfen, durch den die orale Verschlußbildung in den Lautfolgen fbm] bzw. [gn] und damit der orale Verschlußlaut [b] bzw. [g] beseitigt wird. Infolgedessen entstehen die im Vergleich zu den ,Vollformen' [leibon] und [le:ganj maximal natürlichen Lautformen [le:m] und [le:^] mit [9]-Tilgung, Nasalassimilation und Verschlußlauttilgung. Doch die Formen [le:m] und [le:^] zeigen zugleich ein Maximum an morphologischer Markiertheit, d. h. Unnatürlichkeit. Es gibt keine konstruktionelle Durchsichtigkeit mehr; Basismorphem und Flexiv erscheinen gleichsam ineinandergeschoben. Des weiteren ist die Uniformität des Flexivs beseitigt. Es kommt dazu, daß1 auch die formale Einheitlichkeit des Basismorphems im Paradigma nicht mehr gegeben ist. Neben den Formen [le:b-] und [le:g-] (vor stimmlosen Konsonanten auch modifiziert zu [le:p-] und [le:k-]) erscheinen auch [le:(m)j und [le:(?/)], vgl. ich [le:ba] — er [le:pt] —wir [le:m]. Den Sprechern des Deutschen stehen also jeweils vier verschiedene Varianten der Verbformen zur Verfügung, die sie in Abhängigkeit davon, ob die kommunikative Situation phonologisch natürlichere Formen erlaubt oder morphologisch natürlichere Formen erfordert, verwenden können. Ein Optimum an phonologischer und morphologischer Natürlichkeit zugleich ist jedoch nicht zu realisieren. Die Zunahme an phonologischer Natürlichkeit ist mit der Abnahme an morphologischer Natürlichkeit verbunden; vgl. die folgende (etwas vereinfachte38) Übersicht: (14) Phonologie:

m [le:ben] [le:bn] [le:bm]

Morphologie:

m

>

m

[le:m]

m.

Wie bereits das Beispiel aus dem Schwedischen so zeigt auch dieser Fall, daß der latente Natürlichkeitskonflikt zwischen der Phonologie und der Morphologie prinzipiell nicht im Sinne einer einheitlichen Optimierung im Sprachsystem gelöst werden kann. Das gilt auch für nahezu alle Einzelfälle, in denen die Tendenz zur phonologischen Natürlichkeit und die Tendenz zur morphologischen Natürlichkeit aufeinandertreffen. Auch .Kompromißformen' wie die Form [le:bm] im letzten Beispiel, die ein gewisses Maß 38

3

Der Übergang von [leban] zu [le:bn] ist zwar ein notwendiger Schritt zum Abbau phonologischer Markiertheit, aber die Form [le:bn] selbst ist kaum natürlicher als [le:ban]. In der morphologischen Natürlichkeit der Formen [le:bon] und [le:bn] besteht wohl kein Unterschied. stud, gramm. XXI

34

0. Natürlichkeit in der Grammatik

an phonologischer Natürlichkeit mit einem gewissen Maß an morphologischer Natürlichkeit miteinander verbinden, sind nicht stabiler als andere Formen. Da die beiden widersprüchlichen Tendenzen jeweils auf ein Maximum an phonologischer bzw. morphologischer Natürlichkeit hinzielen, ist ein wirklicher Kompromiß zwischen ihnen nicht möglich, und die ,Kompromißformen' sind dem Druck in beiden Richtungen ausgesetzt. Die Natürlichkeitskonflikte bewirken eine ständige gegenseitige Beeinflussung der einzelnen Komponenten des Sprachsystems. Sie stellen damit eine ständig wirkende Triebkraft der Sprachveränderung dar.

1. Morphologische Grundbegriffe

1.1. Wort und Morphem Die Morphologie einer Sprache wird durch die Fakten und Zusammenhänge des Sprachsystems konstituiert, die die Struktur der Wörter und Wortformen betreffen. Die Domäne der Morphologie ist das W o r t ; grammatische Erscheinungen, die die Grenzen des Wortes überschreiten, gehören in den Bereich der Syntax. Die Morphologie bildet eine Komponente des Sprachsystems. Eine morphologische Theorie ist eine Theorie der Prinzipien der Wortstruktur. Was Morphologie ist, kann also nur bestimmt werden, indem auf diese oder jene Weise auf den Begriff des Wortes Bezug genommen wird.1 Darin zeigt sich bereits die zentrale Stellung des Wortes im Rahmen der Morphologie. Genauer gesagt kommt diese zentrale Stellung nicht dem Wort schlechthin zu, sondern dem morphologischen W o r t . Der Begriff des morphologischen Wortes ist von anderen Wortbegriffen, so beispielsweise dem phonologischen, zu unterscheiden. Er kommt dem sehr nahe, was auch intuitiv unter einem Wort verstanden wird. Was in einer Sprache ein morphologisches Wort ist, wird durch die einzelsprachlichen morphologischen Regularitäten bestimmt 2 : Die Grundformen (synchron) nichtderivierter Wörter werden durch die morphologischen Strukturbedingungen des Lexikons (morphologische Wohlgeformtheitsbedingungen), die transformationeil derivierten Wörter werden durch die Wortbildungsregeln und die Flexionsformen der Wörter werden durch die Flexionsregeln der jeweiligen Sprache definiert.3 Ein anderes, universell zu handhabendes Kriterium für das morphologische Wort existiert· nicht.4 Es gibt jedoch zwei heuristische ,Faustregeln', mit deren Hilfe sich der morphologische Wortbegriff unabhängig von der Einzelsprache so umschreiben läßt, daß die in den verschiedenen Sprachen vorkommenden Typen von Wörtern davon im wesentlichen abgedeckt sind: Das zeigt auch die in BLOOMFIELD (1933: 207) vorgenommene Bestimmung des Begriffs Morphologie, die zwar ohne direkte Bezugnahme auf das Wort auskommt (vgl. " B y the morphology of a language we mean the constructions in which bound forms appear among the constituents"), aber indirekt den Wortbegriff ebenfalls voraussetzt, denn was "bound forms" sind, läßt sich nur unter direktem Rückgriff auf das Wort fassen. 2 In vergleichbarer Weise sind auch die phonologischen Wörter durch die einzelsprachlichen phonologischen Hegeln bestimmt: Phonologische Wörter sind diejenigen Einheiten, auf die sich ein Haupttyp der phonologischen Regeln, die Wortebenenregeln, beziehen. Auf Grund der unterschiedlichen Bestimmungen stimmen morphologische und phonologische Wörter nicht immer überein. Ein Beispiel für phonologische Wörter, die aus zwei morphologischen Wörtern bestehen, sind die deutschen Phrasen des Typs hat er mit unbetontem Personalpronomen, vgl. die lautliche Realisierung als ['hater]. 3 Die Unterscheidung von vorhandenen und potentiellen Wörtern einer Sprache ist durch das Lexikon gegeben. 4 So läßt sich auch die Gleichsetzung .morphologisches Wort ist gleich Lexikoneinheit' nicht durchhalten, denn erstens enthält das Lexikon nicht nur Wörter, sondern auch Phrasen {auf die lange Bank schieben u. ä.), und zweitens gibt es neben den im Lexikon gespeicherten auch durch Wortbildungsregeln erzeugte Wörter. 1



36

1. Morphologische Grundbegriffe

(1) (i) Ein morphologisches Wort ist eine grammatische Einheit, die nicht von Lexikoneinheiten unterbrochen werden kann. 5 (ii) Ein morphologisches Wort ist eine grammatische Einheit, deren Konstituenten nicht einzeln flektiert werden. Ein Wort liegt dementsprechend immer dann vor, wenn beide Bedingungen erfüllt sind; bei nichtflektierbaren Einheiten genügt natürlich die Erfüllung der Bedingung (i).e Nach diesen ,Faustregeln' stellen ζ. B. die analytischen Verbformen des Deutschen wie etwa ich habe geschlafen keine einheitlichen Wörter dar, denn erstens können sie durch Lexikoneinheiten unterbrochen werden (ich habe lange geschlafen) und zweitens werden die Teilketten hob- und schlaf- einzeln flektiert (auf sie werden unterschiedliche Flexionsregeln angewandt: ich hab-e / ge-schlaf-en). Dagegen sind Komposita wie Gastprofessor einheitliche morphologische Wörter, denn sie können nicht durch Lexikoneinheiten unterbrochen werden und haben eine einheitliche Flexion (der Plural des Beispiels heißt Gastprofessor-en und nicht *Gäst-e-professor-en). I n einzelnen Sprachen kommen jedoch auch Wörter vor, die einer der beiden Bedingungen nicht genügeil. Das gilt ζ. B. für die bestimmten Formen der isländischen Substantive, die zwar nicht von Lexikoneinheiten unterbrochen werden können, aber bei denen das eigentliche Substantiv und der Schlußartikel getrennt dekliniert werden, vgl. hund-ur — in-n ,der Hund', skip-id ,das Schiff' — G. Sg. hund-s — in-s, skip-s — in-s. Weiterhin trifft das auch für die portugiesischen Futurformen des Typs cantarei ,ich werde singen' zu, die zwar einheitlich flektiert werden (1. Ps. Sg. cantar-ei, 2. Ps. cantar-as, 3. Ps. cantar-a usw.), aber durch Objektpronomen wie me, te usw. unterbrochen werden können, vgl. cantar-te-ei ,ich werde dir singen'. Neben diesen Futurformen gibt es auch entsprechende Formen des Konditionals, vgl. cantar-te-ia ,ich würde dir singen'. Vom universalistischen Gesichtspunkt der ,Faustregeln' her betrachtet, bilden diese Fälle faktisch eine Art von ,Semiwörtern'.' Solche Wörter, die nicht im Einklang mit den ,Faustregeln' stehen, sind insgesamt gesehen, ausgesprochen selten. Bezogen auf die erste Bedingung stellt BLOOMFIELD (1933: 180) fest: Das Prinzip, „that a word cannot be interrupted by other forms, holds good almost universally . .. The exceptions to this principle are so rare as to seem almost pathological". Es läßt sich außerdem leicht ausmachen, daß solche Typen von Wörtern im Laufe der Sprachgeschichte zum Abbau tendieren. So wurden früher die Substantive mit Schlußartikel nicht nur im Isländischen, sondern auch in allen anderen neugermanischen Sprachen doppelt flektiert, vgl. aschwed. hund-r — in, skip — it — G. Sg. hund-s — in-s, skip-s — in-s. Heute werden in allen skandinavischen Sprachen die bestimmten Formen der Substantive genau wie die unbestimmten Formen nur am Wortende flektiert, vgl. nschwed. hund-en, skepp-et — G. Sg hund-en-s, skepp-et-s. 5

6

7

Von nichtlexikalischen Einheiten können Wörter unterbrochen werden, vgl. die Flexion durch Infixe. Vgl. die in zwei orthographischen Wörtern geschriebene Einheit zu Hause. Sie kann nicht durch lexikalische Einheiten unterbrochen werden: ich bin zu Hause — *ich bin zu meinem Hause, *ich bin zu schönem Hause. Man beachte, daß hier morphologisches und orthographisches Wort nicht übereinstimmen. Zu diesen ,Semiwörtern' würden allerdings auch Fügungen wie engl, the man of yesterday gehören, die e i n h e i t l i c h f l e k t i e r t w e r d e n : the man

of yesterday's

mother,

vgl. dazu auch A n m . 24.

1.1. Wort und Morphem

37

Ähnlich liegen die Verhältnisse bei den Verbformen mit inkorporierten Objektspronomen. Solche Bildungen waren nämlich auf früheren Sprachstufen auch in anderen romanischen Sprachen und Dialekten, so u. a. im Altspanischen, verbreitet. Heute kommen sie außer im Portugiesischen nur noch resthaft in italienischen Dialekten vor, mit stark rückläufiger Tendenz. Auch im Portugiesischen selbst ist das Verschwinden dieser Formen bereits programmiert. Neben den Bildungen des Typs cantar-te-ei stehen bereits jüngere Bildungen des Typs cantarei te, entsprechend auch im Konditional. Mit anderen Worten: Die portugiesischen Futur- und Konditionalformen verlieren die Eigenschaft, von Objektpronomen unterbrochen werden zu können. Wörter, die gegen die Bedingungen (i) oder (ii) verstoßen, sind also nicht nur sehr rar in den natürlichen Sprachen, sondern zugleich auch sprachhistorisch instabil und tendieren zum Abbau. Das sind typische Äußerungsformen morphologischer Markiertheit. In diesem Zusammenhang ist es auch nicht uninteressant, daß die ,Semiwörter' beider diskutierter Typen auf phonologischem Wege durch die Wirkung bestimmter Reduktionsprozesse aus zwei bzw. drei selbständigen Wörtern entstanden sind. Die nordgermanischen bestimmten Substantivformen gehen sprachhistorisch auf den Typ hundr hinn ,dieser Hund', die romanischen Verbformen mit inkorporiertem Pronomen auf den Typ cantare (te) habeo ,ich habe (dir) zu singen' zurück.8 Morphologische Wörter, die einer der beiden ,Faustregeln' wiedersprechen, sind ganz offensichtlich keine ,guten' Wörter. Ein ,gutes' morphologisches Wort ist dadurch charakterisiert, daß es nicht von Lexikoneinheiten unterbrochen werden kann und einheitlich flektiert wird. Worttypen wie isld. hundurinn und port, cantarei sind also markiert gegenüber nichtunterbrechbaren und einheitlich flektierenden Wörtern. Wenn es also auch nicht möglich ist, den Begriff des morphologischen Wortes schlechthin unabhängig von der Einzelsprache zu definieren, so kann man aber das natürliche m o r p h o l o g i s c h e Wort ohne Bezugnahme auf einzelsprachliche Gegebenheiten sehr wohl definieren: (2) Ein natürliches morphologisches Wort ist eine grammatische Einheit, die nicht von Lexikoneinheiten unterbrochen werden kann und deren Konstituenten nicht einzeln flektiert werden. Die durch die jeweiligen einzelsprachlichen Regularitäten definierten morphologischen Wörter, die dem nicht entsprechen, sind — mehr oder weniger — morphologisch unnatürlich mit allen Konsequenzen dieser Tatsache. Die morphologischen Wörter sind per definitionem die Einheiten, innerhalb deren ,sich Morphologie abspielt'; sie sind aber nicht die kleinsten Einheiten der Morphologie. Die kleinsten morphologischen Einheiten sind die Morpheme. So einig man sich unter Linguisten über diesen Tatbestand ist, so wenig Übereinstimmung herrscht darüber, wie das Morphem am angemessensten definiert werden kann. Hier ist nicht der Ort, auf die umfangreiche Literatur zur Morphemproblematik mit ihren zahlreichen unterschiedlichen Morphemdefinitionen einzugehen. Es soll vielmehr eine praktikabel erscheinende Bestimmung des Morphem begriffs vorgeschlagen werden, die den Versuch macht, die Substanz früherer Morphemdefinitionen zu nutzen und gleichzeitig bestimmte Unangemessenheiten zu vermeiden: 8

Hier zeigt sich an einem neuen Beispiel, daß durch die Wirkung phonologischer Prozesse, d. h. den Abbau phonologischer Markiertheit, morphologische Markiertheit entsteht.

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1. Morphologische Grundbegriffe

(3) Ein Morphem ist die kleinste vom Sprecher in ihren verschiedenen Vorkommen als formal einheitlich identifizierbare Folge von Segmenten, der (wenigstens) eine als einheitlich identifizierbare außerphonologische Eigenschaft zugeordnet ist. Hierzu sind einige Erläuterungen notwendig. Erstens: Das Morphem ist als eine Folge von Segmenten gefaßt. Damit sind morphologische Alternationen wie Vokalwechsel (Ablaut, Umlaut), Konsonantenwechsel und suprasegmentaler Wechsel (Akzent-, Tonhöhen- und Ton verlaufswechsel), die grammatische Kategorien symbolisieren, keine Morpheme. Zwischen Morphemen und morphologischen Alternationen besteht ein wesentlicher Unterschied hinsichtlich ihres semiotischen Status. Ein Morphem, d. h. eine entsprechende Segmentfolge, funktioniert direkt, für sich als Symbol einer außerphonologischen Gegebenheit. Morphologische Alternationen oder genauer gesagt: die Ausgabeformen morphologischer Alternationsregeln symbolisieren außerphonologische Gegebenheiten immer nur relational im Vergleich mit anderen Formen, vgl. die deutschen Präteritalformen sie rieten und sie lagen, deren grammatische Identität erst in Relation zu den Präsensformen sie raten und sie liegen ermittelt werden kann. Weiterhin ist evident, daß im Rahmen einer Morphemkonzeption, die vom formalen Korrelat einer Segmentfolge ausgeht, kein Platz für die Fiktion des sogenannten ,Null-Morphems' sein kann. Zweitens: Die Morphembestimmung fordert nicht, daß der Segmentfolge eine einheitliche Bedeutung zugeordnet ist, sondern bezieht sich statt dessen auf eine außerphonologische Eigenschaft. Es ist leicht zu zeigen, daß das Vorhandensein einer einheitlichen Bedeutung, d. h. einer einheitlichen semantischen Eigenschaft, nur einen der möglichen Fälle darstellt.® Welche einheitliche Bedeutung hat beispielsweise das Morphem /e/ bei den femininen Substantiven des Deutschen ? Es steht für keine grammatische Kategorie, denn es tritt nicht nur im Singular auf, sondern auch im Plural, vgl. Tante /tant + e/ — Tanten jtant + e + η/. Andererseits gehört /e/ auch nicht zum Basismorphem, was die Form Tant-chen erweist. Gemeinsame wortsemantische Eigenschaften werden durch dieses /e/ auch nicht symbolisiert. Die feminine e-Klasse enthält Personenbezeichnungen {Tante), Tiernamen (Katze), Pflanzennamen (Rose), unbelebte Konkreta (Hose) und Abstrakta (Wonne). Doch etwas Einheitliches haben die femininen e-Substantive, nämlich die Zugehörigkeit zur gleichen Flexionsklasse, also eine morphologische Eigenschaft, vgl. diejder)der/die Tante, Katze, Rose — die/ derjdenjdie Tanten, Katzen, Rosen usw. Ähnliches läßt sich auch für bestimmte Basismorpheme feststellen. Als Beispiel bieten sich hier etwa die englischen ,mit-Verben' an. Auch bei ihnen ist selbst bei großzügigster Interpretation keine einheitliche Semantik von /mit/ feststellbar, vgl. permit ,erlauben', remit ,zurückschicken', submit ,unterbreiten' usw. Daß hier ebenfalls wirklich ein einheitliches Morphem vorliegt, erweisen die bei den ,mit-Verben' möglichen Wortbildungsmuster einschließlich der dabei auftretenden morphophonemischen Alternation, vgl. permission, remission, submission — permissive, remissive, submissive usw. Fälle solcherart sind häufiger, als es im ersten Moment den Anschein haben mag. Drittens: Die vorgetragene Morphemkonzeption nimmt in zweifacher Hinsicht Bezug auf das intuitive Urteil der Sprecher, ob eine grammatische Einheit ,dasselbe' repräsentiert, nämlich hinsichtlich der Form und der außerphonologischen Eigenschaften. Nur wenn beides gegeben ist, existiert ein einheitliches Morphem. Wenn 9

Auf diesen Tatbestand macht besonders ARONOFF (1976: 10 ff.) aufmerksam. Von ARONOFF stammt auch das Beispiel der ,mit-Verben'.

1.1. Wort und Morphem

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bei formaler Gleichheit gemeinsame außerphonologische Eigenschaften fehlen wie bei dtsch. Arm — arm, dann kann ebensowenig ein einheitliches Morphem vorliegen wie wenn wie bei weitgehend identischer Semantik keinerlei Übereinstimmung in der Form existiert wie bei Eber — Sau (vgl. dagegen Hund — Hündin). Auch bei etymologisch verwandten Wörtern kann die Identifizierbarkeit auf einer der beiden Ebenen oder auf beiden für den normalen (d. h. philologisch nicht gebildeten!) Sprecher gefährdet bzw. unmöglich sein. Die formale Identifizierbarkeit ist gefährdet in Fällen wie hauen — Hieb oder leuchten — Licht, die semantische in Fällen wie schlafenjer schläft — Schläfe oder Schweiß — schweißen. Beides trifft zusammen in Fällen wie biegen — Bucht, triefen — Traufe, sprießen — spritzen oder Erde — irden. Konstellationen solcherart bilden eine Art von ,Grauzone', in der die Entscheidung ,ein und dasselbe Morphem oder zwei verschiedene Morpheme' mit Sicherheit nicht für alle Sprecher der Sprachgemeinschaft gleich ist. Andererseits gibt es auch Fälle, wo bei großer formaler Ungleichheit die Einheitlichkeit des Morphems völlig unbestritten ist, vgl. sehen — Sicht und gehen — ging, wo bei jeweils unterschiedlicher Anzahl von Segmenten nur je eines in beiden Varianten vorkommt: [ze:-] — [zi§-], fge:-] — [gig]. Es ist also unmöglich, die Zugehörigkeit einer Lautform zu einem Morphem in der Zahl der übereinstimmenden oder abweichenden phonologischen Merkmale zu fassen. Obwohl hier nicht ausführlicher auf die Natürlichkeit von Morphemen eingegangen werden kann, läßt sich doch sagen, daß ein im Sinne der morphologischen Natürlichkeit ,gutes' Morphem die Bedingung erfüllen muß, daß seine Instanzen für die Sprecher ohne Schwierigkeiten als zusammengehörig identifizierbar sind. Das bedeutet, daß das Morphem auf eine möglichst eindeutige außerphonologische Gegebenheit referieren und in seiner Form möglichst wenig variieren soll: J e größer die Variabilität, um so geringer die morphologische Natürlichkeit. 10 Wenn zwischen den Vorkommen eines Morphems innerhalb eines Paradigmas formale Unterschiede angehäuft werden (ohne daß die Einheitlichkeit des Morphems verloren geht), dann sprechen wir von schwacher Suppletion. Treten hingegen innerhalb des Paradigmas Lautformen des .Stammes' auf, die nicht oder nicht mehr als formal einheitlich identifiziert werden können, dann liegt hier starke Suppletion (Suppletion im strengeren Sinne) vor. Ein ,gutes' Morphem in diesem Sinne ist ζ. B. das deutsche Morphem /zin/, daß in allen seinen Vorkommen — vgl. Sinn, Sinn(e)s, Sinne, sinnen, sinnlich usw. — in der gleichen Lautform [zin] erscheint. Schwache Suppletion tritt im erwähnten Fall von gehen — ging und starke Suppletion im englischen Pendant go — went auf. Die Morpheme lassen sich klassifizieren in Basismorpheme, grammatische Morpheme und Derivationsmorpheme. Grammatische und Derivationsmorpheme werden als Affixe zusammengefaßt. I n den Wörtern Hund, Hund-(e)s, Hund-e, Hünd-in und hünd-isch ist /hund/, das in zwei Varianten auftritt, das Basismorphem, /es/ und /e/ sind grammatische Morpheme und /in/ und /i// Derivationsmorpheme. Der Terminus ,grammatisches Morphem' ist zweckmäßiger als der oft gebrauchte Terminus ,Flexionsmorphem1, denn er schließt auch Fälle wie das Morphem /e/ in Hase und Tante oder das Morphem /en/ des deutschen Infinitivs mit ein, bei denen es sich nach üb10

Vgl. dazu den oben erwähnten Begriff der Uniformität in MAYEBTHALEB (1981: 34f.). — Dagegen hängt die phonologische Natürlichkeit eines Morphems davon ab, wie gut es (auf der Basis der entsprechenden phonologischen Prozesse) an seine lautliche Umgebung angepaßt ist. Für ein in vielen lautlich unterschiedlichen Umgebungen vorkommendes Morphem ließe sich also sagen daß es phonologisch um so natürlicher ist, je größer seine Variabilität ist.

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1. Morphologische Grundbegriffe

lichem Verständnis nicht um Flexionsmorpheme, sondern um Bestandteile der Lexikonrepräsentation handelt. Hinsichtlich ihrer Position zum jeweiligen Basismorphem in den morphologischen Formen unterscheidet man unter den grammatischen und Derivationsmorphemen Suffixe, Präfixe und Infixe. Suffixe sind etwa dtsch. /es/, /e/, /in/ und /i// in den angeführten Beispielen. Präfixe liegen ζ. B. in den Fällen von dtsch. /ge/ und /u:r/ in ge-sagt und Ur-mensch oder russ. /s/ in s-delat' ,tun, machen (perf.)' vor. Ein Infix ist das sogenannte Präsens-/n/ im Lateinischen und Litauischen, vgl. lat. fi-n-dö ,ich spalte' (Perf. fidl) oder lit. klu-m-pu ,ich stolpere' mit Nasalassimilation (Prät. klupau, Inf. klupti). Eine spezielle Klasse der grammatischen und Derivationsmorpheme bilden die Reduplikationsmorpheme. Sie sind der Form nach vollständige bzw. partielle Kopierungen der entsprechenden Basismorpheme, vgl. chin, jew' ,Mensch' — Plural ^en'-^en' und lat. pertdö ,ich hänge auf' — Perfekt pependi.

1.2. Zur Eingrenzung der Flexion Wenn grundlegende Charakteristika eines grammatischen Teilgebietes diskutiert werden sollen, so setzt das zunächst einmal eine möglichst genaue Bestimmung der Phänomene voraus, die überhaupt in dieses Teilgebiet gehören. Das gilt natürlich auch für die Flexionsmorphologie, die gegenüber ihren Nachbargebieten abzugrenzen ist. Die Abgrenzung der Flexion gegenüber der Syntax wurde von uns bereits auf der Basis des Wortbegriffs vdllzogen: Grammatische Phänomene, die die Wortgrenzen überschreiten, gehören nicht mehr in den Bereich der Morphologie und damit auch nicht mehr in den Bereich der Flexion, sondern in die Syntax. Die Flexionsmorphologie muß weiterhin gegen die Wortbildungsmorphologie eingegrenzt werden. Hinsichtlich der Kompositionsmorphologie (.Zusammensetzung') ist das verhältnismäßig einfach. Von Komposition sprechen wir immer dann, wenn eine morphologische Konstruktion, also ein Wort, mehrere Basismorphenie (nicht unbedingt mehrere Wörter) enthält, wie es ζ. B. im Deutschen bei den Wörtern Bot-ivein-punsch, gelb-grün, aufstellen, bös-ioülig und Eß-zimmer der Fall ist. Ungleich schwieriger stellt sich die Abgrenzung der Flexionsmorphologie von der Derivationsmorphologie dar, obwohl bei der Sichtung einzelsprachlicher Fakten intuitiv meist relativ klar zu sein scheint, was als Flexion und was als Derivation zu bewerten ist. Das eigentliche Problem besteht (abgesehen von bestimmten kritischen Grenzfällen) in einer vom jeweiligen Einzelfall unabhängigen Begründung der Unterscheidung der beiden morphologischen Teilgebiete. I n den vergangenen Jahrzehnten wurde eine ganze Anzahl von Kriterien für eine solche Unterscheidung geltend gemacht. Diese Kriterien sind sehr unterschiedlicher Art. Die Skala reicht dabei vom Versuch, Bedingungen für einen strengen Entscheidungsalgorithmus über die Zugehörigkeit zur Flexion bzw. Derivation zu fixieren, bis zur bloßen Formulierung charakteristischer Eigenschaften eines der beiden Gebiete, die aber auch im jeweils anderen Gebiet auftreten können. Die wichtigsten von ihnen sollen im folgenden kurz erörtert werden:

1.2. Eingrenzung der Flexion

(I)

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Grammatische Morpheme nehmen innerhalb des Wortes die äußere Position ein, Derivationsmorpheme die innere. I n diesem Sinne schließen grammatische M o r p h e m e m o r p h o l o g i s c h e K o n s t r u k t i o n e n a b (BLOOMFIELD ( 1 9 3 3 : 2 2 3 ) ) .

Diese Festlegung kann nicht bedeuten, daß jedes Morphem in äußerer Position ein grammatisches und jedes Morphem in innerer Position ein Derivationsmorphem ist, denn Gegeninstanzen treten in sehr vielen Sprachen auf, vgl. dazu beispielsweise Fälle wie dtsch. frei-est-er mit zwei grammatischen Morphemen oder frei-heit-lich mit zwei Derivationsmorphemen. Auch die schwächere Interpretation, daß alle Morpheme, die n u r in äußerer Position stehen können, grammatische Morpheme und alle Morpheme, die n u r in innerer Position stehen können, Derivationsmorpheme sind, läßt sich nicht halten, was im Deutschen ζ. B. das Präteritalmorphem /et/ (Präteritum: er arbeit-et-e) erweist, das nur in innerer Position auftreten kann. Bleibt als schwächste Variante die Deutung: Wenn in einer morphologischen Konstruktion außer dem Basismorphem zwei weitere Morpheme vorkommen und verschiedenen Klassen angehören, dann ist das Morphem in der äußeren Position ein grammatisches Morphem und das Morphem in der inneren Position ein Derivationsmorphem. Wieder brauchen wir das Deutsche nicht zu verlassen, um zu zeigen, daß auch diese Variante nicht durchgängig funktioniert. Hier gibt es nicht nur das (häufig als vermeintlich einziges Gegenbeispiel zitierte) Diminutivum Kind-er-chen, sondern eine ganze Reihe von Bildungsmustern mit jeweils vielen Fällen, vgl. löch-er-ig, weib-er-haft, dame-n-haft, Fürst-en-tum usw., die mit dieser Deutung des Kriteriums nicht vereinbar sind. Dabei darf natürlich nicht unerwähnt bleiben, daß im Deutschen wie auch in anderen Sprachen mit Suffigierung die Reihenfolge .Derivationsmorphem — grammatisches Morphem' wesentlich häufiger vorkommt als die umgekehrte. Da überdies die Herausbildung der aufgeführten Gegeninstanzen nachweislich nicht durch morphologische, sondern durch phonologisch-syntaktische Faktoren bedingt ist 11 , spricht also einiges für die Annahme, daß in ,Suffixsprachen' die Reihenfolge ,Basismorphem — Derivationsmorphem — grammatisches Morphem' natürlicher ist als ,Basismorphem — grammatisches Morphem — Derivationsmorphem'. Für unser eigentliches Anliegen, eine exakte Abgrenzung von Flexions- und Derivationsmorphologie, ist mit dieser Einsicht allerdings noch nicht viel gewonnen. (II) Flexionsmorphologische Operationen sind wortartkonstant, derivationsmorphologische können wortartverändernd sein (u.a. MAYBETHALER (1981: 108 f.)). Auch dieses Kriterium fixiert keine klare Grenze zwischen Flexion und Derivation, sondern gibt lediglich eine Bedingung an, die die Flexion erfüllen soll, immer vorausgesetzt, daß es auch zutrifft. Für Substantive und Adjektive scheinen sich hinsichtlich dieses Kriteriums auch kaum Probleme zu ergeben: Alle Numerus- und Kasusformen behalten ihren substantivischen Charakter, auch wenn sie im Satz adverbial funktionieren. Selbst die mit Personalflexiven versehenen ungarischen Substantivformen vom Typ hajö-m ,mein Schiff' usw. bleiben ohne Zweifel Substantive. Ebenso wortartkonstant sind die Genus-, Numerus-, Kasus- und Komparationsformen der Adjektive. Anders sieht es bei den Verben aus. I n Sprachen mit einer ausgeprägten Verbalflexion sind unter den Formen, die traditionellerweise zum Flexionsparadigma gerechnet 11

Besondere deutlich wird das dort, wo aus syntaktischen Konstruktionen durch Einwirkung der Phonologie einheitliche Wörter entstehen, wobei ein Basismorphem zum Derivativ degeneriert; vgl. den T y p Fürstentum aus der Konstruktion des fürsten twom ,der Stand, die Würde des Fürsten*.

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1. Morphologische Grundbegriffe

werden, oft verschiedene adjektivische und manchmal auch substantivische Formen. Als Beispiel dafür kann das Lateinische genannt werden, vgl. die infiniten Formen des Verbs legere ,lesen' — leg-ö: leg-ens ,lesend/einer, der liest' (Part.Präs.Akt.), leg-endus ,etwas (mask.) zu lesendes' (Gerundivum), leg-end-ij-öj-um ,des Lesens usw.' (Gerundium, flekt. Inf.); lect-ttsl-aj-um ,gelesen' (Part.Fut.Akt.) und lect-um ,um zu lesen' (Supinum), zu denen man auch noch den Infinitiv selbst stellen kann: leg-ere ,lesen, das Lesen'. Diese morphologischen Bildungen werden nicht ohne Grund zum Verbparadigma gezählt, denn sie sind im Lateinischen fest in das Konjugationssystem eingegliedert ( S A F A R E W I C Z (1969: 250)). Das betrifft sowohl ihre Form als auch ihre Semantik. Formal-morphologisch gesehen liegen ihnen — ganz wie den finiten Verbformen — die Tempusstämme des Paradigmas zugrunde, vgl. den Präsensstamm leg- und den Perf. Pass.-Stamm lect-. Ihre Bedeutung ergibt sich — wie die der finiten Verbformen — in eindeutiger Weise aus der lexikalischen Semantik des verbalen Basismorphems und der entsprechenden ,grammatischen Bedeutung'. Die verbale Rektion bleibt voll erhalten (librös legö — librös legens . „). 12 Der enge Zusammenhang zwischen den infiniten und den finiten Verbformen wird besonders deutlich beim Part.Präs.Akt. Es hat präsentische Bedeutung und wird vom Präsensstamm gebildet. Seine lexikalische Bedeutung entspricht der des Verbs. Bei den echten deverbalen Substantiven, so ζ. B. den Nomina agentis auf -or, existiert hingegen keine so enge formale und semantische Beziehung zu den finiten Verbformen. Sie werden — synchron betrachtet — trotz ihrer aktivischen und präsentischen (bzw. zeitlich unbestimmten) Bedeutung vom Stamm des Perf.Pass. gebildet und enthalten, verglichen mit dem Verb, in der Regel zusätzliche Bedeutungskomponenten, vgl. lect-or, das nicht nur den ,Lesenden, Leser', sondern u. a. auch die Einrichtung des ,Vorlesers' bezeichnet. Bei anderen Verben sind die semantischen Abweichungen noch wesentlich größer. So hat ζ. B. das Substantiv quaesltor, das von quaerere ,suchen, fragen' abgeleitet ist, ausschließlich die Bedeutung .Untersuchungsrichter', der schlichte ,Frager' heißt quaerens. Diese Gegebenheiten lassen sich u. E. in Übereinstimmung mit der traditionellen Auffassung am besten dahingehend erklären, daß das lateinische Part.Präs.Akt. vom Typ legens trotz seines adjektivisch-substantivischen Charakters eine verbale Flexionsform ist, das Nomen agentis des Typs lector dagegen eine deverbale Derivation. In ähnlicher Weise ließe sich für den Flexionscharakter der anderen infiniten Verbalformen des Lateinischen argumentieren. Wenn man das anerkennt (und es spricht nichts dagegen), dann erweist sich die postulierte These, daß flexionsmorphologische Operationen immer wortartkonsistent sind, als wenig sinnvoll. (III)

Eine mit einem Derivationsmorphem gebildete morphologische Konstruktion kann im Satz durch eine Form ohne dieses ersetzt werden, eine mit einem Flexionsmorphem gebildete dagegen nicht ( N I D A ( 1 9 4 9 ) , nach A B O N O E T ( 1 9 7 6 : 2))· A B O N O F F weist bereits darauf hin, daß die Existenz von Suppletivformen wie went zu go, durch die man Präteritalformen mit Flexiv wie want-ed, walk-ed usw. ersetzen kann, auf der Basis dieses Kriteriums zu der Annahme zwingt, daß die Prä,2

Das gleiche gilt auch für die russischen Partizipien, bei denen zusätzlich auch der Aspekt des Verbs erhalten bleibt; vgl. die überzeugende Argumentation für die Zugehörigkeit der russischen Partizipien zum verbalen Flexionsparadigma in ISAÖENKO (1962: 324ff. und 334ff.).

1.2. E i n g r e n z u n g d e r F l e x i o n

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teritalbildungen in die Derivation gehören. Doch das gilt nicht nur für Suppletivformen, sondern auch für normale starke Verben, denn ζ. B. zweimorphemiges deal-t kann durch einmorphemiges gave ersetzt werden, dito im Deutschen, im Schwedischen usw. Weitere ähnlich gelagerte Beispiele ließen sich anführen, so aus der Modusbildung und der Komparation verschiedener Sprachen. Dieses Kriterium führt also zumindest partiell zu unerwünschten, weil ganz offensichtlich inkorrekten Ergebnissen. (IV) Die unterschiedlichen Flexionsformen eines Wortes wirken sich (durch Kongruenz usw.) über die Wortgrenzen hinaus im Satz aus, die unterschiedlichen Derivationsformen nicht (vgl. BLOOMFIELD ( 1 9 3 3 : 2 2 4 ) ) . BLOOMFIELD selbst relativiert diese Bestimmung mit dem Verweis darauf, daß zwar Numerus und Kasus beim Nomen sowie Person und Numerus beim Verb im Satz über das Wort hinaus wirken (the boy goes — the boys go), aber ζ. Β. nicht Tempus und Modus beim Verb. Letzteres trifft u. a. weiterhin zu auf die Komparation der Adjektive. Andererseits hat natürlich auch ζ. B. die Nominalisierung eines Verbs syntaktische Konsequenzen (daß er langsam geht — sein langsam-er Gang usw.). Auch dieses Kriterium ist zur Abgrenzung von Flexion und Derivation wenig geeignet. (V)

Es gibt eine Reihe von Kategorien, die auf Grund ihrer Semantik typische Kandidaten für Flexionskategorien darstellen. Sie bilden gleichsam den ,Kern' der Flexion und spielen in der Flexion vieler unterschiedlicher Sprachen eine Rolle. Dazu gehören u. a. die Numeruskategorien bei Substantiven, Adjektiven, Pronomen und Verben, die Kasuskategorien bei Substantiven, Adjektiven und Pronomen sowie die Personal-, Tempus-, Modus- und Genus-verbiKategorien bei den Verben (WUBZEL ( 1 9 7 7 b: 1 3 1 ff.), BEBGENHOLZ/MUGDAN (1979: 144 ff.)).

Das ist in dieser allgemeinen Form sicher richtig. Es muß jedoch hinzugefügt werden, daß bei der Ermittlung der Zugehörigkeit morphologischer Konstruktionen zur Flexion bzw. Derivation immer auch formale Kriterien zu Rate gezogen werden müssen. Geschieht das nicht, können ja nicht einmal morphologische Konstruktionen von syntaktischen unterschieden werden. Doch nicht nur das. So zeigt SAPIR ( 1 9 6 1 : 97ff.) anhand von Beispielen aus Indianersprachen, daß ein morphologisch ausgedrückter Plural durchaus auch Derivationscharakter haben kann. 13 Nicht immer gehören also morphologisch kodierte ,Kern'-Kategorien in den Bereich der Flexion. Es ist für eine gegebene Sprache nur wahrscheinlicher, daß sie flexivisch, als daß sie derivativisch ausgedrückt werden. (VI)

In der Flexion herrscht anders als in der Derivation ein strikter Parallelismus zwischen Grundformen (Ausgangsformen) und abgeleiteten Formen: Zu im Prinzip jedem Singular eines englischen Substantivs läßt sich eine abgeleitete Pluralform bilden und im Prinzip jeder Pluralform liegt eine Singularform zugrunde usw. (BLOOMFIELD ( 1 9 3 3 : 2 2 3 ) ) . Auch dieses Charakteristikum der Flexion gegenüber der Wortbildung gilt eben nur prinzipiell. BLOOMFIELD führt an, daß ζ. B . englische Modalverben wie can, may, must und will keine Infinitivform haben, daß zu must keine Präteritalform existiert usw. Hier zeigen sich Lücken im ,Parallelismus'; die entsprechenden Bildungen sind blockiert. Solche Blockierungen können einen sehr unterschiedlichen 13

Vgl. d a z u a u c h die F u ß n o t e p . 100 u n d ISACENKO (1962: 151 f.).

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1. Morphologische Grundbegriffe

Charakter haben. 14 Es empfiehlt sich daher, einige Haupttypen der Blockierung danach zu überprüfen, ob sich hinsichtlich ihres Vorkommens Unterschiede zwischen Derivation und Flexion ergeben. In den genannten Beispielfällen ist die Blockierung rein zufällig: Es gibt keinen systematischen Grund, der gegen ein Präteritum *musted spräche. Solche zufälligen Blockierungen, die in der Flexion verhältnismäßig selten sind, kommen in der Wortbildung häufig vor. Auch durch die Wortsemantik bedingte Blockierungen treten in beiden morphologischen Teilgebieten auf. So gibt es beispielsweise einerseits keine Diminutiva zu Wörtern wie Held, Gigant und Riese (*Heldchen) sowie keine ig-Adjektive zu Substantiven wie Arm, Bein und Kopf (* armig: aber: dreiarmig) und andererseits keine Pluralformen zu nichtzählbaren echten Abstrakta wie Armut und Güte (*die Armuten) und keine l./2.Ps.Pass. von intransitiven lateinischen Verben wie pugnäre — pugnö ,kämpfen' und surgere — surgö ,sich erheben' (*pugnor). Etwas anders sieht es bei den Blockierungen aus, die sich dadurch ergeben, daß der ,Platz' einer morphologischen Konstruktion bereits durch eine andere, lexikalisierte Bildung ,besetzt' ist. Es können ζ. B. keine deverbalen Nomina agentis auf -er zu lieben, reisen, stehlen und wachen gebildet werden, weil ihre ,Plätze' von den lexikalisierten Substantiven Liebhaber (*Lieber), Reisender (*Reiser), Dieb (*8tehler) und WächterIPosten (*Wacher) eingenommen werden. Diese Art der Blockierung könnte man für die Flexion ausschließen, wenn es keine (starke) Suppletion gäbe. Doch man kann eben auch keine formal-morphologisch von go abgeleitete Präteritalform bilden, da an seiner Stelle went steht usw. Ziemlich klar zeigen sich Unterschiede zwischen Derivation und Flexion bei den Blockierungen auf Grund des Vorhandenseins formal entsprechender lexikalisierter Bildungen mit eigener, von der Ausgangsform abweichender Semantik. So können für Jemand, der fehlt, schneidet, wartet' keine deverbalen Nomina agentis zu fehlen, schneiden und warten abgeleitet werden, weil die Substantive Fehler, Schneider und Wärter mit von den Verben abweichender Semantik existieren. Zu Brot und Frau kann man nicht die Diminutiva Brötchen und Fräulein bilden, weil diese morphologischen Konstruktionen als ,Semmel' bzw. ,unverheiratete Frau' lexikalisiert sind. Entgegen dem generellen Muster ist ,etwas, das sich ziemt' heute nicht mehr ziemlich und ,etwas, was wie eine Fabel klingt' nicht fabelhaft usw. usf. Dieser für die Wortbildung geradezu charakteristische Blockierungstyp hat offenbar keine Entsprechung in der Flexion, so daß hier ein durchaus wichtiger Unterschied zwischen Derivation und Flexion sichtbar wird. Auch Flexionsformen werden vereinzelt lexikalisiert, vgl. ζ. B. das russische Adverb begöm ,im Laufschritt', das genetisch ein I.Sg. zu beg ,Lauf' ist. Das Vorhandensein dieses Adverbs blockiert aber nicht die Bildung des I.Sg. big-om ,mit dem/durch den Lauf'; ähnlich dtsch. flugs zu Flug. Wenn bei der Bildung morphologischer Konstruktionen eines bestimmten Typs also solche Blockierungen auftreten, dann ist das ein Zeichen dafür, daß es sich um derivativische Konstruktionen handelt. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, daß auch dieses Kriterium nicht in jedem zur Entscheidung stehenden Fall eine eindeutige Abgrenzung gestattet, denn Blockierungen solcherart müssen natürlich nicht bei jedem Wortbildungsmuster auftreten.

14

Zur Problematik von Blockierungen vgl.

MAYERTHALER

(1981: 132f.).

1.2. Eingrenzung der Flexion

45

(VII)

I n der Flexion ist der Bedeutungsunterschied zwischen Grundformen und abgeleiteten Formen voll prädiktabel, in der Derivation dagegen nur teilweise prädiktabel ( K U B K J A K O V A (1972: 178ff.), ähnlich auch I S A C E N K O (1962: 4ff.)). Diese in ihrer Substanz wichtige Feststellung läßt sich noch etwas präzisieren. Wir gehen (mit M A Y E B T H A L E B (1981: 126ff.)) davon aus, daß die Gesamtbedeutung einer morphologischen Konstruktion eine Funktion der Bedeutung ihrer Konstituenten darstellt. Bei den Flexionsformen ergibt sieh aus den Bedeutungen der Konstituenten eine eindeutige Gesamtbedeutung. Bei den Derivationsformen ergibt sich hingegen aus den Bedeutungen der Konstituenten keine eindeutig fixierte Gesamtbedeutung, sondern lediglich ein semantischer Interpretationspielraum, innerhalb dessen die Gesamtbedeutung liegt. Damit sind verschiedene Möglichkeiten für die Gesamtbedeutung gegeben. Welche davon im konkreten Einzelfall realisiert wird, hängt vom einzelnen Ausgangswort, d. h. von seinen idiosynkratischen Eigenschaften, ab. So umfaßt ζ. B. die Klasse der produktiven deverbalen er-Substantive 15 des Deutschen etwa den Bedeutungsspielraum ,etwas, das X-t'. Innerhalb dieses Spielraums können für Verben, die unpersönliche Subjekte nicht ausschließen, (mindestens) die folgenden fünf Bedeutungen unterschieden werden: (a) ,Person, die gerade X-t/einmal ge-X-t h a t ' : Pfeifer, Gräber, Finder·, (b) .Person, die immer/gewohnheitsmäßig X - t ' : Baffer, Durchreißer·, (c) ,Person, die berufsmäßig X - t ' : Dreher, Stanzer, Weber-, (d) ,Gerät, das/mit dem man X - t ' : Leuchter, Schalter, Kühler·, (e) ,Mittel, das man zum X-en verwendet': Dünger, Entfärber. Verschiedene der er-Bildungen können auch mit zwei oder gar drei verschiedenen Bedeutungen auftreten, vgl. ζ. B. Bohrer, Empfänger, Schäler, Schläger, Starter mit je zwei, Rechner und Träger mit je drei Bedeutungen. Daß es hier keine Systematik gibt, zeigen auch Färber — Entfärber, Sucher — Finder, Sauger — Säufer bzw. Pfeifer — Pfeife vs. Koch — Kocher usw. Dagegen bezeichnet ζ. B. das Präteritum bei allen Verben, die diesen er-Nomina zugrunde liegen, völlig unabhängig vom Einzelwort das Vergangensein von Handlungen und Vorgängen; er p f i f f , er raffte, er drehte, er leuchtete, er düngte. Vgl. dazu übrigens auch die jeweils eindeutige Gesamtsemantik der (nicht-lexikalisierten) Partizipien pfeifend, gepfiffen usw. Der sich hier zeigende Unterschied in der Bedeutung morphologischer Konstruktionen flexivischen und derivativischen Charakters ist allem Anschein nach durchgängig, zumal Nichteindeutigkeit der Gesamtbedeutung auch bei relativ jungen Wortbildungstypen wie ζ. B. den denominalen Adjektiven auf -mäßig im Deutschen auftritt (vgl. F L E I S C H E S (1969: 250ff.)). Zusätzlich zu den in der Literatur aufgeführten Kriterien sind für eine Abgrenzung zwischen Flexionsmorphologie und Derivationsmorphologie die beiden folgenden Punkte von Bedeutung: (VIII) Morphologische Ausgleichserscheinungen, durch die nichtfunktionale bzw. störende Alternationen zwischen ,verwandten" Formen abgebaut werden, vollziehen sich im Bereich der Flexionsformen eines Wortes und erstrecken sich nicht auf die von ihm abgeleiteten Derivationsformen. Dazu einige Beispiele: Noch im Frühneuhochdeutschen gibt es im Präs.Ind. von Verben des Typs sehen, fliehen und ziehen eine Alternation zwischen Formen mit [9] und Formen ohne einen entsprechenden Konsonanten, vgl. ich sehe, du siehst, er sieht, 16

An lexikalisierten, nichtproduktiven er-Bildungen treten zusätzlich Tier- und Pflanzennamen, Bezeichnungen für Kleidungsstücke, Nomina actionis und Resultativa auf, vgl. PAUL ( 1 9 2 0 : 58ff.) und FLEISCHEB (1969: 127ff.).

46

1. Morphologische Grundbegriffe

wir sehen, ihr sehet, sie sehen. Daneben stehen deverbale Substantive wie sieht, flucht und zucht, in denen ebenfalls der Spirant [9] bzw. [x] erscheint. Die Formen der 2./3.Ps.Präs.Ind. werden im Interesse der Einheitlichkeit an die 0-Formen angeglichen, vgl. die heutige Flexion ich sehe, du siehst, er sieht usw. Dagegen behalten die Substantive trotz ihrer engen formalen und semantischen Verbindung zum Verb den ursprünglichen Konsonantismus, vgl. nhdtsch. Sicht, Flucht, Zucht. In vergleichbarer Weise werden im Lateinischen die Kasus-Numerus-Formen von Substantiven des Typs honös ,Ehre' — G.Sg. honoris zugunsten der r-Formen zu honor — honoris vereinheitlicht. Die dazugehörigen Derivationen wie hones-tus ,angesehen, anständig' und honestäs ,Ehre' bleiben außerhalb des Ausgleichs. Ebenfalls im Lateinischen wird innerhalb der Verbflexion der alte Wechsel von Formen mit und ohne ,Präsens-w' des Musters frangere ,brechen' — frangö — fregl — fräetus in zwei Stufen abgebaut. In Verben wie iungere ,verbinden' ist das /n/ durch alle Verbformen einschließlich der Partizipien geführt: iungö — iünxi — iünetus. Die w-lose Form des Basismorphems bleibt aber im zugehörigen Substantiv iugurn ,Joch' erhalten. Die Anzahl solcher Beispiele, wo zwischen Flexionsformen ausgeglichen wird, die entsprechenden Derivationsformen vom Ausgleich aber nicht erfaßt werden, ließe sich nahezu beliebig vergrößern. Es bleibt allerdings anzumerken, daß in Einzelfällen bei produktiven Wortbildungsmustern auch Derivationsformen ausgeglichen werden.16 (IX)

Grammatische Morpheme und Derivationsmorpheme tendieren zur formalen Differenzierung. Grammatische Morpheme unterliegen im allgemeinen in ihrer phonologischen Struktur (hinsichtlich des Vorkommens und der Kombinierbarkeit von Segmenten) wesentlich strengeren Einschränkungen als Derivationsmorpheme (JAKOBSON (1971a: 352)). So kommen in den grammatischen Morphemen des Deutschen nur ein Vokal, das als fa] gesprochene /e/, sechs Einzelkonsonanten, nämlich /n/, /m/, /r/, /s/, /t/ und /g/ (im Präfix /ge/) sowie die beiden Konsonantenverbindungen /st/ und /nd/ (beide dental!) vor. Die Derivationsmorpheme folgen weit weniger strengen Bedingungen. Bei ihnen sind eine Reihe weiterer Vokale, darunter auch lange Vokale und sogar der Diphthong /ae/, sowie weitere Konsonanten und Konsonantenverbindungen zugelassen, vgl. ζ. B. -lieh, -sam, -tun, -heit, -schaft, -ling und -ern. Solche Einschränkungen in der phonologischen Struktur der grammatischen Morpheme, die andere Morphemklassen nicht betreffen, sind keine Eigenheit des Deutschen. So erscheinen beispielsweise von den vierundzwanzig Obstruenten des Russischen in den grammatischen Morphemen ganze vier (JAKOBSON (1971a: 352)). Ähnliche Gegebenheiten liegen auch im Lateinischen, im Ungarischen usw. vor. Wenn die phonologische Struktur der Derivationsmorpheme auch komplizierter sein kann als die der grammatischen Morpheme, so heißt das freilich nicht, daß jedes einzelne Derivativ auch eine solche kompliziertere Struktur haben müsse. Daß das nicht so ist, zeigt etwa das Derivativ /er/ der bereits mehrfach erwähnten de verbalen Substantive des Deut18

Hierher gehört der frühneuhochdeutsche Ausgleich zwischen Adjektiven mit Umlautvokal und den entsprechenden Aeii-Substantiven mit unumgelautetem Vokal des Typs mhdtsch. küene — kuonheit, sekoene — Schönheit, trmge — trächeit > nhdtsch. kühn — Kühnheit, schön — Schönheit, träge — Trägheit. Der Ausgleich erfaßt nur die Fälle, in denen Adjektiv und Substantiv eine völlig identische Semantik haben: Das Substantiv bösheit, das schon früh eine vom Adjektiv boese abweichende Bedeutung (,auf den Schaden anderer gerichtete Haltung') entwickelt hatte, wird nicht an dieses angeglichen, vgl. böse — Bosheit.

1.2. Eingrenzung der Flexion

47

sehen, das die gleiche Form hat wie verschiedene grammatische Morpheme, vgl. Kind-er, groß-er, größ-er. Dieses Morphem tendiert auch nicht zum Abbau wegen seiner Form, obwohl im Deutschen insgesamt bereits seit dem Mittelhochdeutschen die Tendenz beobachtbar ist, daß Derivative, die die Form von grammatischen Morphemen habe, durch Derivative mit ausgeprägterer phonologischer Struktur ersetzt werden: mhdtsch. schcen-e, zier-e und stein-en, aber nhdtsch. Schön-heit, zier-lich und stein-ern (EBBEN ( 1 9 7 5 : 138)). Auch dieses Kriterium reflektiert keinen durchgängigen Unterschied der Flexion von der Derivation, sondern nur unterschiedliche Tendenzen in beiden morphologischen Teilgebieten. Soweit die wichtigsten Kriterien, die man für eine Abgrenzung zwischen Flexionsund Derivationsmorphologie geltend machen kann.17 Bei allen Unterschieden haben sie eine wesentliche Gemeinsamkeit. Keines von ihnen erlaubt für jede beliebige morphologische Konstruktion eine Entscheidung darüber, ob eine Flexionsform oder eine Derivationsform vorliegt. Je strenger die einzelnen Kriterien gefaßt sind, umso eher kollidieren sie mit den sprachlichen Fakten. Die weniger streng formulierten Kriterien widersprechen zwar nicht den Fakten, aber sie beziehen sich bei weitem nicht auf alle auftretenden morphologischen Konstruktionen. Auch wenn wir alle genannten Kriterien zusammenfassen, ist auf dieser Basis keine exakte Definition von Flexion und/oder Derivation möglich. Sie geben allerdings in ihrer Substanz zusammen eine recht brauchbare Umschreibung dessen, was die Charakteristika der Flexion sind: In den Bereich der Flexion gehören solche morphologische Konstruktionen, (a) die in den strikten Parallelismus von Grundformen (Ausgangsformen) und abgeleiteten Formen eingepaßt sind; dieser Parallelismus ist nur selten durch Blockierungen überhaupt und niemals durch Blockierungen auf Grund des Vorhandenseins entsprechender lexikalisierter Bildungen mit abweichender Semantik (Typ Fräulein) gestört; (b) deren Gesamtbedeutung sich eindeutig auf Grund der Einzelbedeutungen ihrer Konstituenten ergibt; (c) die beim Abbau von Alternationen, die die formale Zusammengehörigkeit der Formen stören, vom Ausgleich mit erfaßt werden; (d) deren Nicht-Basismorpheme in ihrer phonologischen Struktur den strengsten Einschränkungen unterliegen; (e) in denen normalerweise an das an der Wortgrenze stehende Nicht-Basismorphem überhaupt keine weiteren Morpheme oder nur noch grammatische Morpheme angefügt werden können;18 (f) die normalerweise der gleichen Wortart angehören wie ihre Ausgangsformen. An dieser Stelle ergibt sich die Frage, wieweit sich diese offenbar typischen Eigenschaften der Flexion begründen lassen. Wenden wir uns zu diesem Zwecke zunächst den Bestimmungen (a) bis (c) zu. In ihnen drückt sich übereinstimmend ein Phänomen aus, das man zusammengefaßt als ,strengere Systematizität der Flexion gegenüber der Derivation' bezeichnen kann. Im Rahmen einer Arbeit, die auf dem Natürlichkeitskonzept beruht, bietet es sich an, danach zu fragen, ob sich das unterschiedliche Ver17

18

Vgl. dazu die inzwischen vorliegende ausführliche und gründliche Diskussion zur Problematik .Derivationsmorphologie und Flexionsmorphologie' in PLANK (1981: 8—89), auf die wir hier leider nicht mehr eingehen können. Komposita sind hierbei natürlich vernachlässigt.

48

1. Morphologische Grundbegriffe

halten von Flexions- und Derivationsformen in bezug auf die Systematizität auf unterschiedliche Prinzipien einer flexionsmorphologischen und einer derivationsmorphologischen Natürlichkeit zurückführen läßt. Es ist nicht schwer einzusehen, daß diese Frage verneint werden muß. Zwar ist es völlig plausibel, anzunehmen, daß eine im Sinne der morphologischen Natürlichkeit ,gute' Flexionsform in einen strikten Parallelismus von Ausgangs- und abgeleiteten Formen eingeordnet sein soll, in dem Blockierungen keine Rolle spielen, daß ihre Gesamtbedeutung eindeutig determiniert sein soll und daß sie sich lautlich-formal nicht zu weit von ihrer Ausgangsform entfernen soll. Es macht jedoch keinen Sinn, von der Annahme auszugehen, daß eine ,gute' Derivationsform diese Kriterien gerade nicht erfüllen dürfe. Das hieße, daß eine ,gute' Derivationsform nicht in einen strikten Parallelismus von Ausgangs- und abgeleiteten Formen eingeordnet, also möglichst isoliert sein sollte, daß ihre Gesamtbedeutung aus den Einzelbedeutungen möglichst nur schwer erschließbar sein sollte und daß sie sich lautlich-formal möglichst weit von ihrer Ausgangsform entfernen sollte. I m Gegenteil: ,Gute', d. h. für den Sprecher in Sprachproduktion und -perzeption optimal handhabbare Derivationsformen müssen die gleichen Bedingungen erfüllen wie ,gute' Flexionsformen. Sie sollen möglichst systematisch sein. Die morphologische Natürlichkeit ist nicht zerlegbar in jeweils unterschiedliche Prinzipien einer ,Flexionsnatürlichkeit' und einer ,Derivationsnatürlichkeit'. Doch worauf beruht es dann, daß die Bestimmungen (a) bis (c) für die Flexion durchgängig gelten, für die Derivation dagegen nur sehr eingeschränkt 1 Wenn man die Punkte (a) bis (c) etwas eingehender betrachtet und zu ermitteln versucht, weshalb sie von Derivationsformen meist nicht erfüllt werden, so stößt man von unterschiedlichen Richtungen auf die Problematik der Lexikalisierung und der Lexikalisierungstendenzen. Wörter, sind sie erst einmal gebildet, tendieren zur ,Autonomie', d. h. zu einer gegenüber der Ausgangsform selbständigen und einheitlichen Semantik, zur Idiomatisierung (vgl. ABONOFF ( 1 9 7 6 : 1 8 ) , DRESSLEE ( 1 9 7 7 C: 17)). Ihre Bedeutung ergibt sich folglich nicht mehr eindeutig aus den Einzelbedeutungen ihrer Konstituenten, während sie formal auf Grund der morphologischen Wortbildungsregeln analysierbar bleiben. Die entsprechenden Bildungen werden zu selbständigen semiotischen Einheiten und damit zu Lerneinheiten der Sprache, d. h., sie werden lexikalisiert. Ansätze zu einer semantisch bedingten Lexikalisierung finden sich bereits bei relativ jungen Wortbildungsmustern. Sie sind allem Anschein nach durch den Status des Wortes als semiotische Basiseinheit der natürlichen Sprachen gleichsam vorprogrammiert. Das ständige und gehäufte Auftreten von Lexikalisierungen derivierter Wörter ist der Hauptgrund dafür, daß der für die Flexion charakteristische Parallelismus von Ausgangsformen und abgeleiteten Formen in der Derivation durch Blockierungen massiv gestört und durchbrochen wird. Dagegen können die einzelnen Fälle von lexikalisierten Flexionsformen (wie russ. begom und dtsch. flugs) wegen ihrer großen Seltenheit keine Durchlöcherung des Parallelitätsprinzips und damit keine Blockierungen der jeweils ,echten' Flexionsformen bewirken. Die Paradigmen bleiben intakt genug, sie zu verkraften. 19 Die Tendenz zur Autonomie des Wortes wirkt sich nicht nur in semantischer, sondern auch in formaler Hinsicht aus, weshalb sich im Laufe der Sprachgeschichte lautliche Unterschiede zwischen Ausgangsform und derivierter Form 19

Solche lexikalisierten Flexionsformen werden dann im Laufe der Zeit formal isoliert, vgl. begom vs. beg, beg-a, beg-u, big, beg-om, beg-e bzw. flugs [fl-wks] vs. Flug [flu:k], Fluges [flu:gas], Flüge

[fly:ge]·

1.2. Eingrenzung der Flexion

49

anlagern und der Abbau störender Alternationen normalerweise im Rahmen des Flexionsparadigmas, also des Wortes, und nicht im Rahmen des etymologisch einheitlichen Stammes erfolgt. Bei der in den natürlichen Sprachen immer wieder beobachtbaren Tendenz zur Autonomie des Wortes, auf die wir die Unterschiede von Flexions- und Derivationsfornien hinsichtlich der Punkte (a) bis (c) zurückgeführt haben, handelt es sich, wie auch DBESSLEB (1977c: 17) annimmt, um eine universelle Tendenz, in der sich ein wesentliches Natürlichkeitsprinzip des Lexikons ausdrückt. Ein im Sinne des Lexikons natürliches Wort (genauer: ein Substantiv, Verb oder Adjektiv) ist nicht nur eine syntaktische Grundeinheit, sondern zugleich auch ein einheitliches Zeichen, d. h. keine Zeichenkombination und nicht Teil eines Zeichens. Es hat eine spezifische, einheitliche und selbständige Benennungsfunktion. In derivierten Wörtern muß die lexikalische Natürlichkeit zwangsläufig in Widerspruch zur morphologischen Natürlichkeit geraten, die in diesem Zusammenhang am einfachsten als morphologische Systematik und Analysierbarkeit gefaßt werden kann. Die bei weitem geringere Systematizität der Wortbildungsmorphologie gegenüber der Flexionsniorphologie, die ein wesentliches Unterscheidungskriterium zwischen beiden darstellt, ist also offenbar bedingt durch die Einwirkung des Lexikons auf die Derivationsmorphologie, wodurch die Prinzipien der morphologischen Natürlichkeit zumindest partiell überwuchert und außer Kraft gesetzt werden. So gesehen ist nur die Flexion ,reine Morphologie', Morphologie par excellence, während die Wortbildung durch die Einwirkung des Lexikons denaturiert erscheint.20 Das erklärt auch die Tatsache, daß sich neu entstandene Wortbildungstypen hinsichtlich ihrer Systematizität oft (noch) wie Flexionsformen verhalten. Anders als bei den eben diskutierten Punkten (a) bis (c) läßt sich die Spezifik der Flexion gegenüber der Wortbildung hinsichtlich des Punktes (d) auf einen bestimmten Typ des Ikonisnius zwischen ,Inhalt' und ,Form' zurückführen. JAKOBSON (1971 A: 352) stellt fest, daß sich der semantisch grundsätzlich verschiedene Status der Morphemklassen gewöhnlich in der Form der entsprechenden Morpheme niederschlägt. In den grammatischen Morphemen der flektierenden und agglutinierenden Sprachen kommt verglichen mit den Basismorphemen nur eine kleine Anzahl der Phoneme vor und ihre Kombinationsmöglichkeiten sind stark beschränkt. Zwischen beiden Klassen sind die Derivationsmorphenie einzuordnen, deren phonologische Struktur freier als die der grammatischen Morpheme, aber eingeschränkter als die der Basismorpheme ist. Insofern spiegelt die phonologische Form der Morpheme den Abstraktheitsgrad der drei verschiedenen Morphemklassen. Relationen zwischen den Formen der Zeichen drücken Relationen zwischen den Bedeutungen aus.21 Der Punkt (e) umschreibt das oben diskutierte Faktum, daß grammatische Morpheme innerhalb der Wörter dazu tendieren, die äußeren Positionen einzunehmen. Auch in dieser Gegebenheit äußern sich bestimmte ikonische Zusammenhänge zwischen der Semantik und der Form sprachlicher Einheiten. Die Serialisierung in der Reihenfolge ,Basisniorpheni — Derivationsmorphem (e) — grammatische(s) Morpheuse)' bzw. in Präfixsprachen ihre Spiegelung reflektiert ausschnitthaft die satzsemantische Klammerung, d. h. die hierarchischen Verhältnisse zwischen den einzel20

21

Das betrifft übrigens nicht nur die Derivation, sondern gleichermaßen die Komposition, vgl. Fälle wie Fahrstuhl, Handtuch usw. Das heißt, hier liegt (im Sinne von PEIRCE und JAKOBSON) Diagrammatismus als spezieller Typ von Ikonismus vor; zur Problematik vgl. ANTTILA (1972: 12ff.).

4 stud, grauiiu. XXI

50

1. Morphologische Grundbegriffe

nen Bedeutungselementen des Satzes. Die durch die Flexive repräsentierten Bedeutungskomponenten beziehen sich jeweils auf die Semantik ganzer Wörter bzw. oft sogar ganzer syntaktischer Phrasen bis hin zum Satz (vgl. den nächsten Punkt). Demgegenüber beziehen sich die durch Derivative repräsentierten Bedeutungskomponenten lediglich auf die Semantik des entsprechenden Basismorphems (oder bei Vorhandensein von mehreren Derivativen auf die Semantik von Gruppierungen wie ((Basismorphem) Derivativ) usw.). Die Festlegung des Punktes (f), daß die Flexionsformen eines Wortes normalerweise einer einheitlichen Wortart angehören, läßt sich in erster Linie syntaktisch begründen. Die Wortarten Substantiv, Verb und Adjektiv sind syntaktisch dadurch bestimmt, daß sie im Satz als Nukleus (,head') entsprechender Phrasen, also von Nominalphrasen, Verbalphrasen und Adjektivphrasen, fungieren. Eine wichtige Eigenschaft der als ,Flexion' zusammengefaßten morphologischen Prozesse besteht nun darin, daß sie sich im durch die syntaktische Funktion der Wortart vorgegebenen Rahmen abspielen. Das heißt, durch die betreffenden Prozesse werden die lexikalisch determinierten syntaktischen Potenzen der Wörter nicht verändert. Folglich bleibt ihre Wortart konstant. Hingegen besteht eine wesentliche Motivation der Wortbildung gerade in der Anpassung von lexikalischen Einheiten an neue syntaktische Funktionen. 2 2 Da aber die Wahrnehmung syntaktischer Funktionen an spezifische Wortarten gebunden ist, stellt die Veränderung der Wortart, die ,Umkategorisierung', bei vielen Wortbildungsmustern gerade den entscheidenden P u n k t dar. Für die Wortartkonstanz vieler Flexionsformen gibt es zusätzlich noch eine semantische Erklärung. Wie eben festgestellt, beziehen sich die Flexionskategorien semantisch oft gar nicht auf Einzelwörter, sondern auf ganze Phrasen. So ist ζ. B. der semantische Skopus der traditionell als Verbkategorien gefaßten Tempus- und Moduskategorien der gesamte Satz 23 , die formal als Substantivkategorien auftretenden Kasus beziehen sich auf die ganze Nominalphrase usw. Die grammatischen Kategorien werden in solchen Fällen also gleichsam nur an ,Stützwörtern' repräsentiert, in der Regel am Nukleus der jeweiligen Phrase. 2 4 Es ist kein Grund vorstellbar, weshalb Flexive, die sich semantisch überhaupt nicht auf das Wort beziehen, mit dem sie morphologisch verbunden sind, dessen Wortartzugehörigkeit verändern sollten. Das gleiche Argument gilt übrigens auch für alle Fälle von Kongruenzflexion. Zum Abschluß dieser Problematik soll noch einmal zusammenfassend darauf verwiesen werden, daß die Begründungen für die einzelnen typischen Eigenschaften von Flexionsmorphologie, wie sie sich in den Punkten (a) —(c), (d), (e) und (f) ausdrücken, weitgehend unabhängig voneinander sind. Die entsprechenden Charakteristika müssen also keinesfalls entweder alle zusammen auftreten oder aber zusammen nicht auftreten; sie können auch partiell auftreten. Zwischen ,typischer Flexion' und ,typischer Derivation' gibt es Übergänge. Als Beispiel dafür sei nochmal die Partizipienbildung 22

MÖTSCH (1979; 17ff.) unterscheidet nach der Funktion (mindestens) zwei Typen von Wortbildungen: „Wortbildungen dienen entweder der syntaktischen Umkategorisierung sprachlicher Ausdrücke oder der Benennung von Begriffen". 23 Das heißt, sie haben faktisch den gleichen semantischen Status wie Satzadverbien. 24 Sie werden aber nicht notwendigerweise am Nukleus der Phrase repräsentiert; vgl. die deutschen Artikel- und Adjektivflexion (die Frau — der Frau, der Spiegel — die Spiegel, groß-e Männer — groß-er Männer usw.), die serbokroatische Adjektivflexion hinsichtlich der Bestimmtheit (mlad iovek ,ein junger Mensch' — tnlad-i £ovek ,der junge Mensch') oder die bereits in anderem Zusammenhang erwähnte englische ,ΝΡ-Flexion' (the man of yesterday's mother).

1.3. Flexionsregeln und -formen

51

in Sprachen wie dem Lateinischen und dem Russischen angeführt. Die Partizipien zeigen alle typischen Eigenschaften von Flexionsformen mit der Ausnahme, daß sie einer anderen Wortart angehören als ihre Ausgangsformen. In diesem Punkt weisen sie Züge von Derivationsformen auf. Im folgenden werden wir uns gemäß dem Zweck der vorliegenden Arbeit auf die Problematik der Flexionsmorphologie beschränken. Bei der Behandlung dieses morphologischen Teilgebietes werden sich jedoch Prinzipien und Charakteristika ergeben, die durchaus für die gesamte Morphologie und damit auch für die Derivationsmorphologie von Bedeutung sind.

1.3. Typen von Flexionsregeln, Lexikonrepräsentationen und Flexionsformen Wie jede Komponente des Sprachsystenis hat die Morphologie nicht nur spezifische Einheiten, sondern auch spezifische Regeln. Die Flexionsregeln bilden eine Teilklasse der morphologischen Regeln. F l e x i o n s r e g e l n sind Operationen, durch die morphologische Kategorien formal am Wort symbolisiert werden. Sie erzeugen Flexionsformen, die sich in der phonologischen Substanz quantitativ oder/und qualitativ von den Grundformen der Wörter unterscheiden. Die Flexionsregeln produzieren grammatische Distinktivität bei Erhaltung der lexikalischen Identität der Flexionsformen. Die Flexionsregeln haben die folgende allgemeine Form: (4) Die morphologische Kategorie Kj (das Bündel morphologischer Kategorien K i t ... Kln) wird im Kategorienkontext K j (K j t ... K jp ) durch den Marker Mk symbolisiert, wenn das zu flektierende Wort der Flexionsklasse F K m der Wortart W] angehört. Flexionsregeln symbolisieren also Einzelkategorien oder ganze Kategorienbündel. Die Symbolisierung eines Kategorienbündels liegt ζ. B. beim deutschen Adjektivflexiv /er/ vor, das für die Kombination ,Nominativ plus Singular plus Maskulinum' steht. Der Kategorienkontext kann leer sein; die Regel funktioniert dann in dieser Hinsicht kontextfrei. Der Kontext der Flexionsklasse ist leer, wenn es (wie in streng agglutinierenden Sprachen) nur eine Flexionsklasse in der betreffenden Wortart gibt. Die Wortart selbst braucht nicht angegeben zu werden, wenn die zu symbolisierende Kategorie nur in einer Wortart auftritt (etwa bei Tempuskategorien, die nur bei Verben vorkommen) oder wenn die Regel für alle Wortarten gilt, in denen die jeweilige Kategorie erscheint. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Unterschied zwischen der kombinierten Flexion von Kategorienbündeln und der kontextabhängigen Flexion einer Einzelkategorie. Dieser Unterschied wird beispielsweise klar bei der Bildung des D.P1. der Substantive im Russischen und im Deutschen. Im Russischen wird das Kategorienbündel ,Plural plus Dativ' durch den von einer Flexionsregel eingeführten Marker /am/ kombiniert symbolisiert, vgl. stol ,Tisch' — D.P1. stol-am. Dagegen wird im Deutschen (in bestimmten Flexionsklassen) der Dativ im Kontext der Kategorie Plural durch den Marker /η/ symbolisiert und zwar nur der Dativ selbst, denn die Symbolisierung des Plurals erfolgt in diesem Falle durch die Marker /e/ oder /er/, vgl. Kind — P l u r a l Kind-er Tisch-e-n. 4·

— D.P1. Kind-er-n

u n d Tisch -

P l u r a l Tisch-e

— D.P1.

52

1. Morphologische Grundbegriffe

Hinsichtlich des semiotischen Verhältnisses zwischen der Eingabeform und der Ausgabeform einer Regel lassen sich drei Grundtypen von Flexionsregeln unterscheiden: additive, modifikatorische und subtraktive Regeln, vgl. dazu die Formenpaare dtsch. Hund — Plural Hund-e, südfrk. hunt — Plural hint and ohess. hond — Plural hon (Schirmunski (1962: 417ff.)).

A d d i t i v e Regeln (Einführungsregeln) vermehren die phonologische Substanz der Ausgabeform gegenüber der Eingabeform um ein oder mehrere Segmente. Sie haben (wenn sie Suffixe einführen) die Form 25 : (5)

[+ KJ

Mk /

+ FKn + K,

Jw,·

Die morphologische Kategorie wird dabei auf direkte Weise durch einen Marker mit Morphemstatus repräsentiert. Die additive Regel für die Pluralbildung der deutschen Substantivklasse, zu der das Wort Hund gehört, läßt sich entsprechend formulieren als (6)

[ + Plur] - e / [ + e-Pl]

]s .

Sie besagt, daß die Kategorie Plural bei einem Substantiv der e-Pluralklasse durch den Marker /e/ symbolisiert wird. Diese Regel hat keinen Kategorienkontext. M o d i f i k a t o r i s c h e Regeln (morphologische Alternationsregeln) verändern die phonologische Substanz der Ausgabeform gegenüber der Eingabeform qualitativ. Ihre allgemeine Form ist: (7)

S

S'/

+ FK U

L+ κ,

+ i. Die Symbolisierung der Kategorie erfolgt, indem ein Segment (eine Segmentfolge) durch ein anderes Segment (eine andere Segmentfolge) ersetzt wird (,X l bezeichnet die Segmentfolge zwischen dem alternierenden Segment und der Wortgrenze). Bei Regeln solcherart tritt der Marker nicht direkt als ein Morphem in Erscheinung, sondern ergibt sich nur indirekt aus der Relation der Ausgabeform zur Eingabeform. Modifikatorische Marker haben also einen relationalen Charakter; vgl. dazu die deutsche Präteritalbildung in Fällen wie raten — sie rieten und liegen — sie lagen Es ist evident, daß hier nicht die Vokale /i:/ bzw. /a:/ an sich die Präteritalmarker sein können. Sie symbolisieren das Präteritum nur unter Bezug auf die entsprechenden Präsensvokale /a:/ und /i:/. Die modifikatorische Regel, nach der die Pluralbildung des Typs hund — hint im Südfränkischen erfolgt, kann folgendermaßen formuliert werden: (8)

K

" + silb — vorn + Plur

+ vorn / [ + Uml-Pl] X ] s . — rund

Die Kategorie Plural wird also bei einem Substantiv der Umlautpluralklasse dadurch repräsentiert, daß ein nicht vorderer Vokal in den entsprechenden vorderen, nichtrunden Vokal verändert wird. S u b t r a k t i v e Regeln (Tilgungsregeln) vermindern die phonologische Substanz der Ausgabeform gegenüber der Eingabeform um ein oder mehrere Segmente. Sie haben 26

Präfixregeln unterscheiden sich davon lediglich durch die Spiegelbildlichkeit des Kontextes.

1.3. Flexionsregeln und -formen

53

die Form: (9)

S + Ki

(10)

-f- kons + Plur

0/

+ FK n

+ KJ Die morphologische Kategorie wird durch die Tilgung eines oder mehrerer Segmente symbolisiert, d. h., sie wird negativ gekennzeichnet durch das Fehlen von Segmenten, die in der Eingabeform vorhanden sind. Auch hier ergibt sich der Marker nur indirekt und relational durch das Verhältnis der Ausgabeform zur Eingabeform.26 Die subtraktive Regel für den Plural der oberhessischen Flexionsklasse, der u. a. auch das Substantiv hond angehört, wäre wie folgt zu fassen: 0 / [ + Sub-Pl] ] s .

Diese Regel symbolisiert die Kategorie des Plurals bei einem Substantiv der subtraktiven Pluralklasse, indem sie den unmittelbar vor der Wortgrenze stehenden Konsonanten tilgt, d. h. ζ. B. hond in hon umwandelt. Es soll nur erwähnt werden, daß bei der Bildung von Flexionsformen additive und subtraktive Regeln kombiniert mit modifikatorischen Regeln operieren können. Vgl. dazu etwa die deutsche maskuline e-Pluralklasse mit Umlaut: Wolf — Plural Wölf-e. Die Ausgabeformen der Flexionsregeln sind die jeweiligen flektierten Formen der Wörter. Schwieriger zu ermitteln ist jedoch, was ihre E i n g a b e f o r m e n sind. Die Problematik der Eingabeformen der Flexionsregeln ist eng verbunden mit der Beschaffenheit der morphologischen Seite der L e x i k o n r e p r ä s e n t a t i o n e n , der wir uns somit im folgenden zuwenden wollen. Im Fall des deutschen Substantivs Hund und in vielen vergleichbaren Fällen wie lat. vir ,Mann', russ. stol, dtsch. gut und engl. look ,schauen' stellt die Ermittlung der morphologischen Seite der Lexikonrepräsentation kein Problem dar. Vgl. dazu zunächst die folgenden Formen: (11) Hund — Hund-(e)s, Hund-e . . . vir — vir-i, vir-δ . . . stol — stol-a, stol-u . .. gut — gut-er, gut-e, gut-es . . . look — (he) look-s, (he) look-ed . .. Alle diese Wörter aus verschiedenen Sprachen sind in der Form, die man am angemessensten als ihre l e x i k a l i s c h e G r u n d f o r m bezeichnet (also im N.Sg., in der unflektierten Adjektivform bzw. im Infinitiv), einmorphemig, d. h. sie haben keine interne morphologische Struktur. Entsprechend einfach sind ihre Lexikonrepräsentationen, die sich zunächst einmal als [hund]s, [vir]s, [stol]s, [gu:t] A und [luk] v skizzieren lassen (wobei die Großbuchstaben die Wortart spezifizieren). Wenn an Wörter solcherart im Rahmen der Flexion Suffixe angefügt werden, so treten sie rechts an die Lexikonrepräsentationen. Die Grundform der Wörter bildet die Eingabe für die Flexionsregeln.27 26

27

In Sprachen wie dem Deutschen, deren Morphemstrukturbedingungen nicht sehr streng sind, können u. U. übrigens auch additive Marker nur relational erschließbar sein, vgl. wir reih-t-en (zu reihen) und wir reit-en. Das gilt für das System der Flexionsregeln insgesamt, aber nicht notwendigerweise für jede einzelne Flexionsregel. Beispielsweise operiert im Deutschen die Eegel, die das /n/ des D.P1. einführt, auf der Pluralform, vgl. /kind + er + η/.

54

1. Morphologische Grundbegriffe

In vielen anderen Fällen liegen jedoch die Verhältnisse komplizierter, vgl. ζ. B. Wörter wie dtsch. Konto, lat. equus ,Pferd', russ. mesto ,Platz, Stelle', russ. xoroSij ,gut' und dtsch. sagen: (12) Kont-o — Kont-en equ-us — equ-i, equ-δ . . . mest-o — mest-a, mest-u . . . xoroS-ij — xoroS-aja, xoroS-ee . . . sag-en — (ich) sag-e, (du) sag-st . . . Hier ist die Grundform der Wörter, wie der Vergleich mit den zugehörigen Flexionsformen zeigt, jeweils zweimorphemig. Zwischen dem Basismorphem und dem grammatischen Morphem liegt eine Morphemgrenze; die Grundform ist morphologisch gegliedert. Die Flexionsformen unterscheiden sich nicht wie beim vorher diskutierten Typ dadurch von der Grundform, daß ein zusätzliches Morphem an das Basismorphem tritt, sondern dadurch, daß jeweils ein anderes grammatisches Morphem erscheint als in der Grundform. Diese Konstellation könnte zu der Annahme verleiten, daß in Fällen, wo bereits die Grundform der Wörter ein grammatisches Morphem enthält, im Lexikon nicht das Wort, sondern nur das Basismorphem repräsentiert sei, und dieses Morphem dann flektiert werde.28 Diese Annahme kollidiert jedoch aus (mindestens) zwei voneinander unabhängigen Gründen mit den sprachlichen Fakten. Erstens ist, wie bereits in anderem Zusammenhang vermerkt, das Wort und nicht das Morphem die semantische Basiseinheit der natürlichen Sprachen (vgl. Abschn. 1.2). Die Wörter tendieren sprachhistorisch zur semantischen Autonomie, wodurch sich Bedeutungsdifferenzierungen zwischen Wörtern mit gleichem Basismorphem herausbilden können, auch wenn sie keine Derivationsmorpheme, sondern nur grammatische Morpheme enthalten, vgl. dtsch. fall -ent Fall und JFall-e. Zweitens sind solche Wörter, deren Flexionsklasse sich auf Grund der ,Endung' der Grundform ergibt, in bezug auf die Flexionsklassenzugehörigkeit, wesentlich stabiler als solche, bei denen das nicht der Fall ist. Mehr noch: Wenn innerhalb eines Flexionssystems die Flexionsklassenzugehörigkeit von Wörtern durch die ,Endung' der Grundform strikt determiniert ist und diese ,Endung' ändert sich, dann tritt ein entsprechender Wechsel der Flexionsklasse ein.29 Dazu nur wenige Beispiele: I n der lateinischen Substantivdeklination gibt es Schwankungen und Übertritte zwischen den Flexionsklassen nur dort, wo die Flexionsklassenzugehörigkeit nicht durch die ,Endung 'des N.Sg. eindeutig bestimmt ist, also bei den Maskulina der o- und der uDeklination (Typen equ-us und dom-us ,Haus') und bei den Substantiven der konsonantischen und der i-Deklination (Typen op-s ,Kraft' und par-s ,Teil'). Dagegen treten keine Schwankungen bei Klassen wie den α-Femina (Typ vitt-a) und den oNeutra (Typ iug-um ,Joch') auf, deren Klassenzugehörigkeit durch die Morpheme /a/ bzw. /um/ eindeutig festgelegt ist. Die Vermischung der Flexionsklassen der deutschen Verben (und damit der gehäufte Übergang von starken Verben zu den schwachen) beginnt genau zu dem Zeitpunkt, wo die Infinitiv,endungen' der unterschiedlichen Flexionsklassen phonologisch zu /en/ neutralisiert werden, d. h. beim Übergang vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen; vgl. ahdtsch. suoch-en, hab-en, salb-ön, *8 Dieses Konzept ist u. a. zugrunde gelegt in WURZEL (1970). 29 Diese Problematik wird uns weiter unten ausführlich beschäftigen.

1.3. Flexionsregeln und -formen

55

nem-an > mhdtsch. suoch-en, hab-en, salb-en, nem-en. In der Entwicklung des Schwedischen wurde bei den unbelebten schwachen Maskulina des Typs N.Sg. kärn-e ,Kern' — Obl.Sg. kärn-a — Plural kärn-ar die Kasusdistinktion im Singular zugunsten der Obliquusform abgebaut, wodurch sich die ,Endung' der Grundform von /e/ zu /a/ wandelte. Schon vor diesem Wandel gab es im Schwedischen eine Substantivklasse auf /a/, deren Pluralform auf /ur/ ( = -or) endete, vgl. gat-a ,Straße' — Plural gat-or. Die Substantive des Typs kärna ändern entsprechend ganz konsequent mit der Grundform zugleich auch die Flexionsklasse und bilden entsprechend fortan ihre Pluralformen mit /ur/: kärna — kärnor. Die ,Endung' der Grundform determiniert den morphologischen Klassenwechsel dieser Wörter. Alle diese Beispielfälle, die sich nahezu beliebig durch Fakten aus vielen Sprachen vermehren ließen, zeigen eindeutig, daß die grammatischen Morpheme der Grundform Teil der Lexikonrepräsentation sind. Im Lexikon sind also ganze Wörter und nicht Basismorpheme repräsentiert. Wollte man nun unter dieser Voraussetzung annehmen, daß auch für die Wörter unter (12) die lexikalische Grundform und die Eingabe für die Flexionsregeln identisch sind, so müßte das heißen, daß in solchen Fällen modifikatorische Regeln operieren, die ζ. B. bei der Genitivbildung von lat. equus und russ. mesto die grammatischen Morpheme der Grundform, /us/ bzw. joj durch die entsprechenden Genitivmorpheme /ϊ/ bzw. I&j ersetzen. Doch daraus ergäben sich verschiedene Probleme. Eine wesentliche Eigenschaft modifikatorischer Regeln besteht gerade darin, daß sie Phoneme oder Phonemfolgen ohne Morphemstatus miteinander alternieren lassen (vgl. Mutter — Mütter, raten — rieten usw.), daß sie also grammatische Kategorien indirekt (relational) durch den Wechsel von Segmenten symbolisieren. Im Fall von equ-ι oder mest-α werden jedoch die Kategorien direkt durch sequentiell abgrenzbare Morpheme ausgedrückt, wie es für additive Bildungen charakteristisch ist. Der Ubergang von /us/ zu /!/ bzw. /o/ zu /a/ kann semiotisch und typologisch nicht morpho logischen Alternationen wie dem Umlaut oder dem Ablaut im Deutschen gleichgesetzt werden. Weiterhin können Wörter des Typs (12) durchaus mit Wörtern des Typs (11) einheitliche Flexionsformen bilden und sogar einheitliche Flexionsklassen mit ihnen konstituieren. So bilden die durch mesto und stol repräsentierten Deklinationsklassen in sieben von zwölf Numerus-Kasus-Kombinationen übereinstimmende Flexionsformen, und lat. equus und vir gehören trotz ihrer unterschiedlichen Grundformen einer gemeinsamen Flexionsklasse an, der maskulinen o-Deklination. Solche Zusammenhänge würden einfach vernachlässigt, wenn wir annehmen wollten, daß die abgeleiteten Flexionsformen von equus und mesto durch modifikatorische Regeln, die von vir und stol aber durch additive Flexionsregeln erzeugt werden. Für den Sprecher einheitliche Flexionsprozesse der Art ,der G.Sg. der o-Deklination wird durch Anfügen von /!/ symbolisiert' usw. können auf diese Weise nicht als einheitlich erfaßt werden. Diese Konsequenzen zeigen, daß die Gleichsetzung von lexikalischer Grundform und Eingabeform für die Flexionsregeln nicht durchgängig haltbar ist. Eingabe für die Flexionsregeln kann hier nur der Teil der Grundform sein, der in den abgeleiteten Flexionsformen erhalten bleibt. Im Falle der Beispiele vir und stol ist das die gesamte Grundform, bei equus und mesto hingegen nur jeweils eine echte Teilkette, nämlich die Grundform ohne das grammatische Morphem. Hier werden die Ketten equ- und mest- flektiert. Wir wollen diese Ketten jeweils als den S t a m m der Wörter bezeich-

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1. Morphologische Grundbegriffe

nen. 30 In den relevanten Fällen muß also die Lexikonrepräsentation auch den Stamm der Wörter ausweisen. Weiter ist zu berücksichtigen, daß streng genommen auch Wort und Grundform nicht gleichgesetzt werden können, wie wir es oben zunächst getan haben. Wenn Flexive angefügt werden, so treten sie ζ. B. bei dem von dtsch. Hund und engl, look repräsentierten Flexionstyp hinter die Grundform und gehören selbstverständlich nicht zu dieser. Sie werden aber natürlich ins Wort (Substantiv bzw. Verb) integriert, vgl. Hund-e und (he) look-s. Damit ergeben sich g e g l i e d e r t e L e x i k o n r e p r ä s e n t a t i o n e n der folgenden Form für die diskutierten Beispiele. (13) (a) [//ekv/ st us/ Gf ] s [//mest/ st o/ Gf ] s (b) [/vir/st=c,f]s f/ st ol/st=Gf]s (c) [/hund/ Gf ] s [/luk/ Gf ] v Die Lexikonrepräsentationen unter (a) verstehen sich nach dem bisher Gesagten von selbst : Der Stamm wird als solcher ausgewiesen, da auf ihn die Flexionsregeln angewandt werden. Die Repräsentationen unter (b) mit expliziter Gleichsetzung von Stamm und Grundform sind dadurch gerechtfertigt, daß für die entsprechenden Wörter (ausschließlich oder partiell) die gleichen Flexionsregeln gelten wie für die Wörter unter (a). Die Wörter vir und stol bilden zwar selbst keinen von der Grundform unterschiedenen Stamm, doch tvpologisch gesehen sind sie in (mehr oder weniger intakte) Stammflexionssysteme eingepaßt. 31 Da die entsprechenden Flexionsregeln auf den Stamm der Wörter Bezug nehmen, muß die Lexikonrepräsentation die Information enthalten, daß der Stamm hier mit der Grundform identisch ist. Abweichend davon beziehen sich alle Flexionsregeln, die den Wörtern unter (c), also Hund und look, ihre Flexive zuweisen, ausschließlich auf die Grundformen der Wörter. Hier liegt eindeutig Grundformflexion vor. Eine Angabe darüber, daß die Grundform mit dem Stamm identisch ist, wäre gegenstandslos. Der Unterschied zwischen der Stammflexion von (a) und (b) und der Grundformflexion von (c), der sich in der Form der Lexikonrepräsentationen und der Flexionsregeln ausdrückt, ist nicht nebensächlich. Er hat im Gegenteil wichtige typologische Bedeutung für die Klassifizierung von Deklinations- und Konjugationssystemen. So unterscheiden sich ζ. B. die deutsche und die englische Konjugation typologisch vor allem auch darin, daß im Deutschen generell Verbstämme, im Englischen aber generell Grundformen der Verben flektiert werden (wie im Englischen heute überhaupt nur noch Grundformflexion vorkommt), vgl. die Lexikonrepräsentationen [//za:g/ st en/ Gf ] v und [/luk/ Gf ] v . Es ist im übrigen nicht uninteressant, daß bisweilen Stamm- und Grundformflexion innerhalb ein und desselben Paradigmas auftreten können: (14) Konto Lexikonrepräsentation: [//kont/ s t o/ G f ] g des Kontos G.Sg. mit Grundformflexion: [//kont/ s t o/ Gf s]9 die Kont-en N.P1. mit Stammflexion: [//kont/ s t en/] s . 30

31

In den genannten Beispielfällen stimmt der Stamm der Wörter immer mit dem Basismorphem überein. Das ist jedoch keine Notwendigkeit, was u. a. die althochdeutschen Verben zeigen, vgl. salbön [//salb o : / s t n/ G f] v . Hier stimmt unser Begriff des Stammes mit dem entsprechenden sprachhistorischen Begriff überein. Entstanden ist die Identität von Grundform und Stamm in beiden Fällen charakteristischerweise auf phonologischem Wege, nämlich durch den Abbau der grammatischen Morpheme der Grundform, vgl. [//vir/ st us/ Gf ] s > [//vir/st = G(]s und [// 8 t o l /st ö /af]s > [//stol/st=Gf]s-

1.3. Flexionsregeln und ^formen

57

Die gleiche Erscheinung liegt beispielsweise auch beim russischen Typ grazdan-in ,Bürger' — G.Sg. grazdanin-a — N.P1. grazdan-e und beim schwedischen Typ pojk-e , Junge' — G.Sg. pojke-s — Plural pojk-ar vor. Die Unterscheidung von Grundform- und Stammflexion, zu der wir auf Grund der betrachteten morphologischen Fakten gekommen sind, hat nicht zuletzt wichtige Konsequenzen für die Beziehung der verschiedenen Typen von Flexionsregeln zu den jeweils durch sie erzeugten Formen. In den zu Beginn dieses Abschnitts gegebenen Beispielen für die einzelnen Regeltypen hatten wir es stets mit Grundformflexion zu tun, so daß sich die Charakterisierungen ,additiv', ,modifikatorisch' und ,subtraktiv' nicht nur auf den jeweiligen Regeltyp, sondern zugleich auch auf das formale Verhältnis der entsprechenden Flexionsform zur Grundform beziehen, vgl. Hunde vs. Hund, hint vs. hunt und hon vs. honA. Anders sieht das bei solchen Wörtern aus, wo nur ein Teil der Grundform, nämlich der von ihr verschiedene Stamm, die Eingabe für die Flexionsregeln bildet. Hier ist der Regeltyp bestimmt durch das Verhältnis der Flexionsform zum Stamm. So werden, um bei unseren Beispielen zu bleiben, die Pluralformen der Substantive equus und mesto durch additive Flexionsregeln erzeugt, was die Relationen equi — equ- und mesta — mest- zeigen. Der für die Ermittlung der morphologischen Natürlichkeit bedeutsame Ikonizitätsgrad einer Flexionsform (vgl. Abschn. 0.2) ergibt sich jedoch nicht aus dem Typ der angewandten morphologischen Operation, sondern auf Grund des semiotischen Verhältnisses der Flexionsform zur Grundform, und in diesem Sinne stehen sich also equi und equus bzw. mest& und mesto gegenüber. Trotz der Wirkung von additiven Regeln haben die Flexionsformen nicht mehr Segmente als die dazugehörigen Grundformen; zwischen den Formen liegt kein additives Verhältnis vor. Bei mesta — mesto erscheint in beiden Formen die gleiche Anzahl von Segmenten, die Differenzierung erfolgt durch das unterschiedliche letzte Segment. Bei equi — equus enthält die Grundform sogar ein Segment mehr als die Flexionsform (und beide Formen unterscheiden sich zusätzlich in einem Segment).32 Der Typ der Flexionsregel und der T y p der durch sie erzeugten F l e x i o n s f o r m stimmen demnach durchaus nicht immer überein. Vgl. dazu die Übersicht (15) Seite 58 oben. (In den Fällen, wo der Typ der resultierenden Form vom Typ der entsprechenden Regel abweicht, ist der Formtyp durch Großbuchstaben hervorgehoben). Für die Wörter unter (a) stimmen Regeltyp und Formtyp grundsätzlich überein. So erzeugen additive Regeln auch immer additive Formen, d. h. Formen mit mehr phonologischer Substanz als die Grundformen. Bei den Wörtern unter (b) können additive Regeln nicht nur additive, sondern auch modifikatorische und selbst subtraktive Flexionsformen herleiten. Welcher Fall eintritt, hängt davon ab, ob das Flexiv, verglichen mit dem grammatischen Morphem der Grundform, länger, gleichlang oder kürzer ist. Ist das Flexiv länger, wird die phonologische Substanz der Flexionsform gegenüber der Grundform vermehrt; die Form hat additiven Charakter. Sind beide Morpheme gleichlang, ist auch die phonologische Substanz beider Formen in quantitativer Hinsicht gleich. Da sich die beiden grammatischen Morpheme qualitativ unterscheiden, hat die Flexionsform hier modifikatorischen Charakter. Ist das Flexiv kürzer, wird die phonologische Substanz der Flexionsform gegenüber der Grundform vermindert; die Flexionsform ist subtraktiv. 32 wir vernachlässigen hier, daß das /I/ in equi lang ist. Bei Berücksichtigung dessen würden sich die Verhältnisse noch weiter komplizieren.

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1. Morphologische Grundbegriffe

(15)

Grundform

(a) Hund, vir Flexion der hunt, Vater Grundform hond Spiegel, sheep

Regeltyp (Verhältnis Eingabeform — Ausgabeform)

Flexionsform

Formtyp (Verhältnis Grundform — Flexionsform)

additiv modifikatorisch subtraktiv (keine Regel)

Hund-e, vir-1 hint, Väter hon Spiegel, sheep (PL)

additiv modifikatorisch subtraktiv unverändert

mest-om (I.Sg.) mest-a equ-i ßt-r (N.Pl.)

additiv MODIFIKATORISCH SUBTRAKTIV modifikatorisch

mest (G.P1.) mest-o (A.Sg.)

SUBTRAKTIV unverändert

additiv (b) mest-ο Flexion mest-ο additiv eines Teils der egw-us additiv Grundform ßt-r modifikatorisch (aisld. ,Fuß')33 mest-ο ,Nullregel' mest-o (keine Regel)

Eine spezielle Kommentierung verlangt die ,endungslose' G.Pl.-Form niest des Substantivs mesto. Diese Flexionsform ist dadurch formal von der Grundform unterschieden, daß ihr das grammatische Morphem der Grundform fehlt. Es tritt kein Flexiv an seine Stelle. Die Flexionsform verfügt über weniger phonologische Substanz als die Grundform und hat deshalb eindeutig subtraktiven Charakter. Schwieriger ist die Klärung der Frage, auf welche Weise diese Form zustande kommt. Als eine mögliche Variante böte sich die Annahme an, daß hier im G.P1. der entsprechenden Flexionsklasse überhaupt keine Flexionsregel angewandt wird. Doch alle einschlägigen sprachhistorischen Fakten sprechen dafür, daß bei Nichtvorhandensein einer Flexionsregel für eine Kategorie (zumindest im nominalen Bereich) die entsprechende Form gleich der Grundform ist. Nur unter Voraussetzung der Annahme, daß für Kategorien, in denen Formengleichheit mit der Grundform herrscht, keine Flexionsregeln existieren, kann man den häufig (ζ. B. in nahezu allen indoeuropäischen Sprachen) zu beobachtenden Abbau von morphologischen Distinktionen in einem Flexionssystem zu Gunsten der Grundform als das erfassen, was er ohne jeden Zweifel darstellt, nämlich eine Vereinfachung des Flexionssystems mit entsprechenden typologischen Konsequenzen. Das heißt für den vorliegenden Fall des Wortes mesto, daß nicht der G.P1. mest, sondern der mit der Grundform (dem N.Sg.) übereinstimmenden A.Sg. mesto unflektiert bleibt. Damit bleibt nur die zweite mögliche Variante übrig: Für den G.P1. der Flexionsklasse von mesto gibt es eine Flexionsregel, obwohl die Flexionsform dieser Kategorie ,endungslos', d. h. gleich dem Stamm ist. Diese Regel fügt — im Unterschied zu allen anderen für das Paradigma geltenden Regeln — kein Flexiv an den Stamm an, sondern markiert statt dessen das Nichtauftreten eines Flexivs. Sie drückt auf diese Weise aus, daß im G.P1. der bloße Stamm erscheint, kein Flexiv und 33

Daß hier nur der Stamm und nicht die gesamte Grundform flektiert wird, zeigen die Kasus-

formen wie fet-ar, fet-i usw.

59

1.3. Flexionsregeln und -formen

auch nicht die Grundform. Mit anderen Worten: Die Flexionsregel ersetzt faktisch das grammatische Morphem /o/ der Grundform durch 0 und symbolisiert so distinktiv gegenüber allen anderen Formen des Paradigmas das Kategorienbündel ,Plural plus Genitiv'.34 Diese Lösung ,sieht vielleicht nicht schön aus', aber sie ist nicht unplausibel: Sie impliziert, daß genau dort Flexionsregeln existieren, wo sich die Flexionsformen in ihrer phonologischen Struktur quantitativ oder qualitativ von der Grundform unterscheiden. Damit ist indirekt zugleich der Bereich umschrieben, innerhalb dessen die Annahme von morphologischen ,Nullregeln', also Regeln mit gleicher Eingabe und Ausgabe, sinnvoll erscheint.35 Man beachte, daß solche ,Nullregeln' Leerstellen markieren, aber keine ,Nullmorpheme' einführen (vgl. Abschn. 1.1). Betrachten wir abschließend noch die Ikonizitätsgrade der unter (15) zusammengestellten Flexionsformen. Nach M A Y E R T H A L E R (1981: 23ff.) liegt konstruktioneller Ikonismus dann vor, wenn die Asymmetrie zweier Kategorien hinsichtlich ihrer semantischen Markiertheit auf eine Asymmetrie ihrer Symbolisierung abgebildet wird. Eine Kodierung ist maximal ikonisch, wenn die Asymmetrie additiv realisiert wird, und minimal ikonisch, wenn die Asymmetrie modifikatorisch realisiert wird. Wird die Asymmetrie der semantischen Markiertheitswerte nicht auf eine Asymmetrie der Symbolisierung abgebildet, dann ist die Kodierung nichtikonisch, wird sie auf eine inverse Asymmetrie der Symbolisierung abgebildet, ist die Kodierung kontraikonisch (vgl. auch Abschn. 0.2). Da sich der konstruktioneile Ikonismus nicht auf die Regeln, sondern auf die Formen bezieht, läßt sich sagen, daß additive Flexionsformen maximal ikonisch, modifikatorische Flexionsformen minimal ikonisch und subtraktive Flexionsformen kontraikonisch sind. Gegenüber der Grundform unveränderte Flexionsformen sind nichtikonisch. Damit kann man den Formen, die in der Übersicht (15) erscheinen, die folgenden Ikonizitätsgrade zuweisen: (16) Formen

Ikonizität

Hund — Hund-e, vir — vir Λ mest-ο — mesf-om

maximal ikonisch

hunt — hint, Vater — Väter mest-ο — mest-a f6t-r - fet-r

minimal ikonisch

Spiegel — Spiegel, sheep — sheep mest-o — mest-o

nichtikonisch

hond — hon equ-us — equ-ϊ mest-o — mest

kontraikonisch

Wenn hier auch noch eine genauere Differenzierung der Ikonizitätsgrade möglich wäre, so realisieren die in den vier Gruppen zusammengefaßten Fälle doch jeweils einen Haupttyp der Ikonizität, so sehr sie sich unter anderen Aspekten betrachtet 34

34

Diese Regel hat die folgende Form:

[X PT]

01 [ FK ]

+ > I st

]s ·

In MAYEBTHALER (1981) fehlt eine klare Eingrenzung von .Nullregeln' (Nullprozessen), vgl. 112 und 121 sowie unsere Anmerkung 29 zum Abschn. 0.

60

1. Morphologische Grundbegriffe

unterscheiden. Andererseits wird deutlich, wie stark Flexionsformen, die durch die gleiche Regel erzeugt werden, hinsichtlich ihrer Ikonizitätsgrade differieren können. Beispielsweise ist die Pluralform vir-i, da sie einer ,endungslosen' Grundform gegenübersteht, maximal ikonisch, während die Form equ-ι kontraikonisch ist, da sie einer längeren Grundform gegenübersteht. Wir sind uns darüber im klaren, daß die in diesem Abschnitt diskutierte Problematik eine weit ausführlichere Behandlung erfordern würde, als sie in diesem Rahmen möglich war. Sie konnte hier nur soweit ausgeleuchtet werden, wie es für das Verständnis der in der vorliegenden Arbeit behandelten Fragestellungen notwendig ist.

1.4. Marker, Kategorien und Flexionsklassen Bei der Bestimmung des Begriffs Flexionsregel im vorangehenden Abschnitt wurden u. a. drei andere morphologische Begriffe vorausgesetzt: Marker, Kategorie und Flexionsklasse. Sie scheinen zwar, bezogen auf konkrete Fälle, intuitiv recht klar, doch da auf ihnen faktisch die gesamte Flexionsmorphologie aufbaut, ist es notwendig, sie möglichst präzise zu fassen. Der Begriff des (grammatischen) M a r k e r s soll in folgender Weise bestimmt werden: (17) Ein Marker ist eine formale, d. h. morphologische oder syntaktische Symbolisierung (Enkodierung) wenigstens einer grammatischen Kategorie. Die Formulierung, daß ein Marker eine und nicht die formale Symbolisierung für eine grammatische Kategorie ist, bezieht sich darauf, daß oft in ein und derselben Form einer Kategorie mehrere Symbolisierungen entsprechen, vgl. ζ. B. die Substantivform die Wölfe, wo der Plural durch das.Flexiv /e/, den Umlaut und die Artikelflexion repräsentiert ist, oder die Verbform du singst, wo die 2.Ps.Sg. durch das Flexiv /st/ und das Personalpronomen symbolisiert wird. Entsprechend der Bestimmung (17) haben wir es hier also in die Wölfe und du singst nicht mit jeweils einem einheitlichen Marker, sondern mit jeweils drei bzw. zwei kombiniert auftretenden Markern zu tun. 36 Des weiteren steht ein Marker nicht immer für genau eine Kategorie, sondern für w e n i g s t e n s eine, vgl. das schon früher angeführte Beispiel russ. stolam, wo der Marker /am/ Plural und Dativ zugleich repräsentiert. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch Fälle wie du singst, wo zwei Marker gemeinsam zwei Kategorien (hier eine Personalkategorie und eine Numeruskategorie) enkodieren. Grammatische Marker können morphologisch oder syntaktisch sein. Da die Abgrenzung von Morphologie und Syntax auf dem Wortbegriff beruht, sprechen wir demzufolge von m o r p h o l o g i s c h e n M a r k e r n , wenn grammatische Kategorien am Wort (durch Einführung, Veränderung oder Tilgung phonologischer Substanz) repräsentiert werden. S y n t a k t i s c h e M a r k e r sind demgegenüber solche Marker, die grammatische Kategorien nicht am Wort, sondern durch die Wortfolge oder durch besondere .grammatische Wörter' repräsentieren, vgl. engl. The father loves the son mit Subjekt-Objekt-Symbolisierung durch die Reihenfolge und dtsch. Ich werde singen mit Person-Numerus- sowie Tempussymbolisierung durch ,grammatische Wörter'. 36

Diese Marker funktionieren «auch sprachhistorisch, d. h. bei Übertragung, Abbau usw. selbständig.

1.4. Marker, Kategorien, Flexionsklaesen

61

Unter grammatischen K a t e g o r i e n sollen hier jeweils die einzelnen Kasus, Numeri, Tempora, Modi, Komparationsstufen usw. verstanden werden wie ζ. B. Nominativ, Genitiv, Singular, Plural, Präsens, Perfekt, Indikativ, Konjunktiv, Positiv, Komparativ usw. usf. Die Gesamtheit der Kategorien einer ,Dimension', d. h. von Kasus, Numerus, Tempus, Modus, Komparation, sollen K a t e g o r i e n g e f ü g e genannt werden. So wird beispielsweise das Kasusgefüge im Neuhochdeutschen von den vier Kategorien Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ gebildet. Davon zu unterscheiden ist das Kategorienbündel (vgl. Abschn. 1.3): Ein K a t e g o r i e n b ü n d e l ist die jeweilige Gesamtheit der Kategorien, die zusammen in einer Wortform repräsentiert werden. Die Kategorien eines Kategorienbündels gehören also notwendigerweise unterschiedlichen Kategoriengefügen an, ζ. B. kann ein Wort nicht zugleich im Nominativ und im Genitiv stehen usw. Ein Kategorienbündel kann, aber muß nicht durch einen kombinierten (einheitlichen) Marker symbolisiert werden, vgl. die bereits in anderem Zusammenhang zitierten Beispiele des Typs russ. stol-am — dtsch. Tisch-e-n mit kombinierter bzw. separater Symbolisierung der Kategorien des Bündels ,Plural plus Dativ'. Das englische Pronomen we, ein syntaktischer Marker, symbolisiert in Formen wie loe sing das Kategorienbündel ,1.Person plus Plural' kombiniert. In streng flektierend aufgebauten morphologischen Systemen werden Kategorienbündel immer kombiniert symbolisiert, so in der russischen Numerus-Kasus-Flexion der Substantive, in streng agglutinierend aufgebauten Systemen dagegen immer separat, so in der ungarischen Numerus-Kasus-Flexion, vgl. asztal-ok-nak ,den Tischen' (,,,Tisch' plus Plural plus Dativ"). Die Formen eines Wortes für die vorhandenen Kategorienbündel bzw. Einzelkategorien wollen wir seine F l e x i o n s f o r m e n nennen. Da auch die lexikalische Grundform (vgl. Abschn. 1.3) immer einem bestimmten Kategorienbündel oder einer bestimmten Kategorie zugeordnet ist, ζ. B. bei Substantiven dem Kategorienbündel ,Singular plus Nominativ' und bei Verben der Kategorie ,Infinitiv', bildet auch sie eine Flexionsform. Die Gesamtheit der Flexionsformen eines Wortes konstituiert sein F l e x i o n s p a r a d i g m a . Das Flexionsparadigma besteht aus der paradigmenkonstituierenden Grundform und den abgeleiteten Flexionsformen. Die Grundformen realisieren lexikalisierte, die abgeleiteten Flexionsformen abgeleitete Kategorien bzw. Kategorienbündel. Die Anzahl der Flexionsformen eines Wortes ist durch das Flexionssystem der Sprache (und nicht durch das einzelne Wort selbst) bestimmt. So verfügen etwa die Substantive im Lateinischen über zehn verschiedene NumerusKasus-Kombinationen und damit über zehn Flexionsformen vom N.Sg. bis zum Abi.PL, unabhängig davon, wie diese bei den einzelnen Substantiven formal realisiert werden. Auch beispielsweise die Substantive des Typs catsa ,Hütte' haben zehn Flexionsformen, obwohl sie nur sieben formal verschiedene Wortformen (cas-a, can-ae, cas-am, cas-ä, cas-ärum, cas-is, ccui-äs) besitzen. Will man ermitteln, welche morphologischen Kategorien in einer gegebenen Sprache existieren, so ist nur der Zugang über die in dieser Sprache vorkommenden Flexionsformen möglich, kurz: Eine morphologische Kategorie liegt immer dann vor, wenn sie im einzelsprachlichen System formal als solche in Erscheinung tritt. Diese Bestimmung ist allerdings zu ungenau, als daß man mit ihr arbeiten könnte. Neben der formalen Seite muß auch die ,inhaltliche' Seite der morphologischen Kategorien in angemessener Weise in eine solche Bestimmung eingehen, doch hier ergibt sich sofort ein Problem: Zwar repräsentieren grammatische, d. h. morphologische und syntak-

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1. Morphologische Grundbegriffe

tische Kategorien immer bestimmte ,inhaltliche' Gegebenheiten, aber diese sind nicht im strengen Sinne semantisch, weil es zwischen semantischen Termen und Prädikaten einerseits und den grammatischen Kategorien in den natürlichen Sprachen keine Einszu-Eins-Beziehungen gibt. So entspricht der semantischen Mehrzahligkeit in wohl allen Sprachen durchaus nicht immer ein grammatischer Plural, man denke nur an den generellen Gebrauch des Singulars (Der Wolf ist ein Raubtier) oder an die Kollektiva (das Volle, die Akademie). Andererseits realisiert der grammatische Plural etwa im Deutschen nicht ausschließlich die Mehrzahligkeit von abzählbaren Objekten (die Männer, die Wölfe), sondern auch den ,Sortenplural' bei nichtabzählbaren Objekten (die Tabake, die Weine), den sogenannten ,Emheitsplural' (die Gezeiten) und anderes mehr. Weiterhin gibt es Fälle wie die Passivsätze, wo ein semantisches (,logisches') Objekt als grammatisches Subjekt erscheint usw. Daher kann bei der Bestimmung von morphologischen Kategorien nicht unmittelbar auf semantische Gegebenheiten Bezug genommen werden; es ist nur eine vermittelte Bezugnahme möglich. Wir wollen zunächst davon ausgehen, daß es eine Klasse von s e m a n t i s c h e n B a s i s k o n z e p t e n gibt, die sich beziehen: — auf bestimmte allgemeine Eigenschaften und Sachverhalte der in den Äußerungen widergespiegelten objektiven Realität, die in der Perzeption des Menschen eine ausgezeichnete Rolle spielen und darüber hinaus für die gesamte praktische und kognitive Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt von Bedeutung sind; — auf die allgemeinsten Faktoren der sprachlichen Kommunikation (Kommunikationssituation, Kommunikationsintention usw.). Solche semantischen Basiskonzepte sind die Glieder von semantischen Dimensionen wie ,Zahligkeit von Objekten', ,Aktantenrolle', ,zeitliche Fixierung von Handlungen', ,Personen der Rede' usw., d. h. also ζ. B. Ein-, Mehr- und Zweizahligkeit von Objekten, semantische Kasus (,Tiefenkasus'), Gleich-, Vor- und Nachzeitigkeit der Äußerung in Relation zur Handlung, sprechende, angesprochene und besprochene Person usw. usf. Da sich die semantischen Basiskonzepte in den grammatischen Kategorien nicht unmittelbar, sondern nur sehr vermittelt ausdrücken, führen wir den Begriff des g r a m m a t i s c h e n B a s i s k o n z e p t s ein, der beides aufeinander bezieht.37 Die grammatischen Basiskonzepte lassen sich am angemessensten als Verfahren der sprachlichen Realisierung semantischer Basiskonzepte charakterisieren. So ist es ζ. B. sinnvoll, ein grammatisches Basiskonzept Pluralität als Verfahren zur Versprachlichung des semantischen Basiskonzepts der Mehrzahligkeit anzunehmen, ohne daß freilich zwischen ihnen eine eineindeutige Zuordnung herrscht. Die grammatischen Basiskonzepte bilden damit faktisch Bündel von Umordnungsrelationen, Schaltstellen zwischen Semantik und Morphosyntax. Weitere Beispiele für grammatische Basiskonzepte sind etwa Singularität, Dualität, (grammatisches) Subjekt, direktes und indirektes Objekt, Anrede usw. Die grammatischen Basiskonzepte sind (analog mit den semantischen) zu grammatischen Dimensionen geordnet. Damit wird klar, daß die grammatischen Basiskonzepte, sofern sie in einer Sprache grammatikalisiert werden, die eigentliche Grundlage für die Bildung grammatischer Kategorien sind. Werden sie nicht grammatikalisiert, dann können sie lexikalisch oder derivativisch (durch 37

Zur Abgrenzung von Flexion und Derivation vgl. Abschn. 1.2. Zur ebenfalls intrikaten Problematik der Abgrenzung von syntaktischer und lexikalischer Realisierung von grammatischen Basiskonzepten vgl. W U R Z E L (1977b: 135f.).

1.4. Marker, Kategorien, Flexionsklaseen

63

Wortbildungsmittel) ausgedrückt werden, vgl. ζ. B. den altslavischen Dual roga zu rogu ,Horn', dem im Deutschen zwei/beide/eiw Paar Hörner oder aber Hörnerpaar bzw. Gehörn entsprechen würde. 37 Grammatische Basiskonzepte bilden — um zu unserem Ausgangspunkt zurückzukehren — in einer gegebenen Sprache grammatische Kategorien, wenn sie über entsprechende formale, also morphologische oder syntaktische Korrelate verfügen. Wir verabreden entsprechend: (18) Eine Sprache L, hat bezogen auf eine Wortart WAS eine m o r p h o l o g i s c h e K a t e g o r i e Kj, wenn (a) ein grammatisches Basiskonzept GBj bzw. (b) eine Gruppe von semantisch kompatiblen grammatischen Basiskonzepten GBj^ ... , GBJb einheitlich im Flexionssystem von WA„ mit morphologischen Mitteln f o r m a l d i s t i n k t s y m b o l i s i e r t wird. Eine formal distinkte Symbolisierung liegt vor, genau dann wenn (i) in wenigstens einer Flexionsklasse FK k das grammatische Basiskonzept GBj (die Gruppe grammatischer Basiskonzepte GB^,... , GB)n) so symbolisiert wird, daß sich seine Symbolisierung von allen anderen Symbolisierungen in FK k phonologisch unterscheidet; (ii) Fall (i) nicht gilt, doch das grammatische Basiskonzept GBj (die Gruppe grammatischer Basiskonzepte GB^, ... , GBJn) in einer Flexionsklasse FK k phonologisch übereinstimmend mit dem grammatischen Basiskonzept GB 0 und abweichend vom grammatischen Basiskonzept GB r sowie in einer Flexionsklasse FK P phonologisch übereinstimmend mit dem grammatischen Basiskonzept GB r und abweichend vom grammatischen Basiskonzept GB0 symbolisiert wird. 38 Die distinkte Symbolisierung eines grammatischen Basiskonzepts ergibt sich nicht aus der Distinktheit der betreffenden Marker allein, sondern beruht auf der Distinktheit der Flexionsformen insgesamt. Eine distinkte Symbolisierung ist auch dann gewährleistet, wenn (genau) eine Kategorie eines Kategoriengefüges keinen Marker besitzt; vgl. dazu ζ. B. die merkmallose Enkodierung des Singulars der englischen Substantive in Relation zu dem durch einen Marker gekennzeichneten Plural: boy-0 — boy-s. Konstellationen solcher Art sind in natürlichen Sprachen nicht zufällig, in ihnen drücken sich vielmehr Markiertheitsverhältnisse aus. 39 Daß morphologische Kategorien in einer Sprache nicht für das gesamte Flexionssystem gelten, sondern im Prinzip auf einzelne Wortarten bezogen sind, zeigt wiederum das Beispiel des Plurals im Englischen: Eine Kategorie des Plurals existiert zwar beim Substantiv, nicht aber beim Adjektiv, vgl. the young boy — the young boy-s mit dtsch. der klein-e Junge — die klein-en Junge-n. Der Fall (a) erfaßt die selbständige (verschiedene) Symbolisierung einzelner grammatischer Basiskonzepte, Fall (b) ihre einheitliche Symbolisierung: Oft werden zwei 38

Wie leicht zu sehen ist, stellt sich die Bestimmung von morphologischen Kategorien in Sprachen ohne Flexionsklassen (streng agglutinierenden Sprachen) wesentlich einfacher dar. Parallel zu den morphologischen könnten auch die syntaktischen Kategorien für eine Sprache gefaßt werden. Wir verzichten auf ihre Bestimmung, da sie für den Zweck der vorliegenden Arbeit unwesentlich ist. » Vgl. die Abschn. 0.2. und 1.3.

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1. Morphologische Grundbegriffe

(oder sogar mehrere) grammatische Basiskonzepte in einer Sprache einheitlich, in einer anderen dagegen selbständig symbolisiert. So symbolisiert beispielsweise ein Teil der Sprachen mit morphologischen Kasuskategorien das direkte und das indirekte Objekt verschieden, d. h. als Akkusativ bzw. Dativ, der andere Teil einheitlich als Obliquus. Damit charakterisiert (a) sogenannte ,einfache', ,primäre' Kategorien, (b) dagegen ,synkretistische' Kategorien. Die Existenz und damit auch die Entstehung ,synkretistischer' Kategorien setzt nicht nur formale Gleichheit voraus, sondern zugleich auch die Kompatibilität der ihnen zugrunde liegenden grammatischen Basiskonzepte. Welche grammatischen Basiskonzepte im einzelnen miteinander kompatibel sind, kann hier nicht näher erörtert werden.40 Es seien lediglich einige Beispiele zur Illustration angeführt. Semantisch kompatibel sind außer direktem und indirektem Objekt, die gemeinsam als Kategorie des Obliquus auftreten können, ζ. B. auch noch Subjekt und Anrede, die gemeinsam als Kategorie des Nominativs erscheinen können, sowie Pluralität und Dualität, die gemeinsam als Kategorie des Plurals realisiert werden können. Hier handelt es sich jeweils um grammatische Basiskonzepte einer Dimension, also um Entsprechungen von Kategorien eines Gefüges. Doch das ist für Kompatibilität und damit für eine einheitliche Kategorienbildung bei formaler Übereinstimmung weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung. So sind zum einen Singularität und Dualität nicht kompatibel und können keine gemeinsame Kategorie bilden, wenn Pluralität als eigene Kategorie realisiert wird. Zum andern können beispielsweise Präteritalität, ein Kandidat für eine Tempuskategorie, und Perfektivität, ein Kandidat für eine Aspektkategorie, durchaus in einer einheitlichen Kategorie zusammenfallen. In vielen Fällen allerdings sind die morphologischen Kategorien syntaktisch gestützt, so daß beim formalen Zusanimenfall nur morphologische, aber damit nicht zugleich grammatische Kategorien verschwinden; vgl. die weiter unten diskutierten Verbformen. 41 Im folgenden soll noch gezeigt werden, wie sich anhand der Bestimmung (18) ermitteln läßt, ob in einer gegebenen Sprache eine morphologische Kategorie existiert oder nicht. Wir wollen überprüfen, ob es in drei verschiedenen Sprachen, dem Altslavischen, dem Gotischen und dem Althochdeutschen, eine Kategorie des Vokativs gibt. Im Altslavischen wird das grammatische Basiskonzept der Anrede, das dem Vokativ zugrunde liegt, häufig mit den gleichen Formen realisiert wie das Subjekt. Das gilt für alle drei Numeri (Singular, Plural und Dual) der neutralen o-Deklination, vgl. die Formen sel-o ,Dorf', sel-a und sel-e, und weiterhin für Plural und Dual der maskulinen o-Deklination, der α-Deklination und der i-Deklination, vgl. zu grad-ü ,Stadt' die Formen grad-i, grad-a, zu gor-a ,Berg' die Formen gor-y, gor-e und zu mys-ϊ ,Maus' die Formen mys-i, mys-i; ähnlich in verschiedenen kleineren Flexionsklassen. Dagegen erscheinen für die Anrede im Singular der maskulinen o-Stämme und der a-Stänune Flexionsfarmen, die sich von allen anderen Flexionsformen der jeweiligen Flexions110

11

F ü r d i e K u s u s p r o b l c m a t i k v g l . d a z u HJELMSLEV ( 1 9 3 5 ) u n d JAKOBSON ( 1 9 3 6 ) .

Wenn, wie von vielen Linguisten vermutet, die ,G.Sg'-Formen nach dva ,zwei' (sowie tri ,drei' und öetyre ,vier') des Typs dva stola im Russischen tatsächlich alte Dualformen sind, wären hier sprachhietorisch gesehen Dual und G.Sg. zu einer morphologischen Kategorie zusammengefallen. Es läge dann ein geradezu ,exotischer' Fall von Synkretismus vor, dessen spezifische Bedingungen genau untersucht werden müßten. Doch solange selbst die Fakten noch nicht klar sind, läßt sich nur spekulieren.

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1.4. Marker, Kategorien, Flexionsklassen

klassen phonologisch unterscheiden, vgl. grad-e zu -grad-ü und gor-o zu gor-a. Damit sind nach Fall (a/i) die Bedingungen für die Existenz der Kategorie des Vokativs erfüllt. Der Vokativ ist im Altslavischen eine selbständige Kasuskategorie, obwohl er in vielen Instanzen formal mit dem Nominativ übereinstimmt. Andersartig sind die Verhältnisse im Gotischen. In dieser Sprache wird die Anrede in keiner Flexionsklasse durch eine spezifische Flexionsform realisiert, die von allen anderen Flexionsformen der Klasse phonologisch unterschieden ist. Damit wäre die Annahme einer gotischen Vokativkategorie nach (a) nicht gerechtfertigt. Andererseits ist die Anrede im Gotischen auch nicht immer durch die gleichen Formen wie das grammatische Subjekt symbolisiert; einmal entsprechen ihr die gleichen Formen wie dem Subjekt und einmal die gleichen Formen wie dem direkten Objekt. 42 Das zeigen ζ. B. Singular und Plural der maskulinen α-Deklination; vgl. die entsprechenden Flexionsformen des Wortes dags ,Tag': maskuline α-Deklination Subjekt direktes Objekt Anrede

Sg.

PI.

dag-s dag-& dag-Q

dag-os dag-ans dag-os

Die Anrede wird im Singular der α-Stämme durch eine Form symbolisiert, die auch für das direkte Objekt steht, und im Plural durch eine Form, die auch für das Subjekt steht. 43 Obwohl der Vokativ im Gotischen keine einzige nur ihm zugehörige Flexionsform und entsprechend keinen spezifischen Marker besitzt, ist sein Vorhandensein als eine eigene morphologische Kategorie neben Nominativ und Akkusativ gemäß (a/ii) erwiesen. Auch im Althochdeutschen können wie wohl in jeder Sprache Personen und Tiere sowie unter bestimmten Umständen auch andere Konkreta und Abstrakta angesprochen oder angerufen werden. Das geschieht jedoch in sämtlichen Flexionsklassen in beiden vorhandenen Numeri mit jeweils derselben Form wie sie das Subjekt hat, vgl. ζ. B. tag ,Tag' — Plural taga, jeweils als Anrede und Subjekt. Für das Althochdeutsche ist also weder die Bedingung (a/i) noch die Bedingung (a/ii) erfüllt. Es gibt, anders als im Altslavischen und im Gotischen, keine eigene morphologische Kategorie des Vokativs. Die grammatischen Basiskonzepte des Subjekts und der Anrede sind entsprechend (b) einheitlich in einer Kasuskategorie realisiert, die als Nominativ bezeichnet wird. Sprachhistorisch gesehen ist im Althochdeutschen ,der Vokativ völlig mit dem Nominativ zusammengefallen'. Der von uns erarbeitete Begriff der morphologischen Kategorie beruht auf der distinkten morphologischen Symbolisierung im Sinne von (18). Das hat bestimmte Konsequenzen, auf die noch kurz einzugehen ist. Sie ergeben sich daraus, daß grammatische Systeme (Symbolisierungssysteme) in vielen Sprachen keine rein morphologischen Systeme sind, sondern,analytische' Züge aufweisen: Grammatische Kategorien werden neben morphologischen Markern auch durch syntaktische Marker, hauptsächlich ,grammatische Wörter', symbolisiert. Besonders deutlich wird das in der Konjugation a

Hierbei ist der Einfachheit halber die in der «-Deklination auftretende Nebenform sun-au vernachlässigt, die der Form des indirekten Objekts entspricht. 43 Die Numeri Singular und Plural funktionieren in dieser Hinsicht wie Flexionsklassen.

5

stud, gramm. X X I

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1. Morphologische Grundbegriffe

einer Reihe von modernen indoeuropäischen Sprachen, wo Person und Numerus nicht nur durch Flexive, sondern immer auch durch (obligatorische!) Personalpronomen repräsentiert werden, vgl. wir sing-en. Marker beider Typen wirken bei der Kategoriensymbolisierung eng zusammen.44 Wie sollen hier die morphologischen Kategorien bestimmt werden ? Unproblematisch ist ζ. B. der Fall des Russischen, wo zwar das Pronomen obligatorisch ist, aber alle drei Personen in Singular und Plural morphologisch distinkt symbolisiert sind: (ja) poju ,(ich) singe', (ty)poeS', (on) poet usw. Die grammatischen Personen sind eindeutig morphologische Kategorien. Ähnlich ist es auch im Deutschen, wo zwar die l.Ps.Pl. und die 3.Ps.Pl. immer formal gleich repräsentiert werden (wir) singen — (sie) singen, aber die Annahme morphologischer Personenkategorien wegen der distinkten Singularformen gerechtfertigt ist: (ich) singe — (er) singt. Im Englischen sind dagegen die Verbformen der 1. und 2. Person (abgesehen vom suppletiven Fall am vs. are) nicht distinkt; es heißt (I) sing, (we) sing und (you) sing. Nach (18) gibt es damit im Englischen wohl eine morphologische Kategorie der 3. Person, aber keine der 1. und der 2. Person. Die 1. und die 2. Person bilden syntaktische Kategorien. Diese Wertung mag zwar traditionellen Auffassungen widersprechen, doch ist sie keineswegs unplausibel, zeigt sie doch das Personen-Kategoriengefüge des gegenwärtigen Englischen auf einer Zwischenstufe der Entwicklung von einem Gefüge ausschließlich morphologischer Kategorien zu einem solchen ausschließlich syntaktischer Kategorien.45 Den Endpunkt einer solchen Entwicklung hat das moderne Schwedische erreicht, wo im Präsens in allen Personen des Singulars und des Plurals ein und dasselbe Flexiv erscheint (im Präteritum erscheint einheitlich kein Flexiv) und die Distinktivität der Personen ausschließlich durch die Personalpronomen realisiert wird, vgl. jagj äu\ han[ vij nij de sjunger. Im modernen Schwedischen gibt es keine morphologischen Personenkategorien mehr, die Personen werden rein syntaktisch realisiert.46 Verglichen mit dem Begriff der morphologischen Kategorie läßt sich der Begriff der F l e x i o n s k l a s s e wesentlich leichter fassen. Das erklärt sich vor allem daraus, daß bei der Bestimmung der Flexionsklasse nicht auf außermorphologische, ,inhaltliche' Kriterien Bezug genommen werden muß: (20) Eine Sprache L, hat eine F l e x i o n s k l a s s e F K j ; wenn für eine Gruppe von Wörtern WGj jede abgeleitete morphologische Kategorie K k (jedes abgeleitete Kategorienbündel K k > . . . K km ) in f o r m a l e i n h e i t l i c h e r Weise s y m b o l i s i e r t wird und die Gesamtheit der abgeleiteten Flexionsformen von der Gesamtheit der abgeleiteten Flexionsformen aller anderen Wortgruppen f o r m a l d i s t i n k t ist. Formale Distinktivität liegt vor, genau dann wenn (i) wenigstens eine Kategorie K t (ein Kategorienbündel K l t ... Ki m ) so symbolisiert wird, daß sich ihre Symbolisierung von den Symbolisierungen aller anderen Gruppen von Wörtern in K t (Kj ... K lm ) phonologisch unterscheidet; 44

45

46

Als wie ,natürlich' (in Anführungsstrichen!) das empfunden wird, zeigen selbst Plansprachen wie das Esperanto, wo bei der Kasusflexion morphologische und syntaktische Marker zusammenwirken, vgl. hundo ,Hund', Genitiv de hundo, Dativ al hundo, Akkusativ hundo-n. Vgl. dazu die verschiedenen Varianten des Cockney, wo entweder die s-Form ( / / you\ he/ wej they sings) oder die s-lose Form (Ij you/ he/ wej they sing) verallgemeinert wird. Der historisch auf den Personen-Numerus-Marker der 2./3.Ps.Sg. zurückgehende Marker -(e)r ist zum Präsensmarker, d. h. einem Tempusmarker, geworden: han sjung-er — Präteritum han sjöng. Besonders interessant sind die Fälle, wo er alleiniges Tempuszeichen ist: han sov-er ,er schläft' — Präteritum han sov.

1.4. Marker, Kategorien, Flexionsklassen

67

(ii) Fall (i) nicht gilt, doch eine Kategorie K t (ein Kategorienbündel K ^ ... K l m ) phonologisch übereinstimmend mit der Wortgruppe WG p und abweichend von der Wortgruppe WG q sowie eine Kategorie K r (ein Kategorienbündel Κ Γ ι . . . K r J phonologisch übereinstimmend mit der Wortgruppe WG q und abweichend von der Wortgruppe WG p symbolisiert wird. Bei der Bestimmung der Flexionsklasse wird besonders wichtig, daß die formale Distinktheit der Flexionsformen bezogen auf die phonologische, nicht auf die phonetische Repräsentation, gefaßt ist. Dadurch wird ζ. B. vermieden, daß sich für die Substantive Rede, Farbe und Lage wegen der gebräuchlichen Pluralformen [re:dn], ffarbm] und [la :gij] drei selbständige Flexionsklassen ergeben, denn bei allen dreien liegt der phonologisch einheitliche Marker /n/ vor, der phonetisch abhängig vom Kontext als [n], [m] und [η] erscheint. Als Basis für die Flexionsklassen sind hier bestimmte Gruppen von Wörtern vorausgesetzt. Dabei ergibt sich natürlich die Frage nach der qualitativen und quantitativen Beschaffenheit solcher Wortgruppen. Zunächst ist festzustellen, daß die Wörter solcher Gruppen oft einer Wortart angehören, aber das durchaus nicht müssen. Wenn Wörter verschiedener Wortarten in allen Kategorien/Kategorienbündeln gleiche Flexionsformen bilden, gehören sie auch der gleichen Flexionsklasse an, was u. a. häufig bei Substantiven und Adjektiven der Fall ist, vgl. die lateinische o- und die ä-Deklination, die jeweils beides enthalten: Indus ,Spiel' — parvus ,arm(er) c , pratum ,Wiese' — parvum ,arm(es)', casa ,Hütte'— parva ,arm(e)'. Dagegen sind im Deutschen die für das Substantiv geltenden Flexionsklassen wortartkohärent. Was die notwendige Größe solcher Wortgruppen betrifft, so kann (will man nicht einfach willkürlich verfahren) wohl keine Zahl genannt werden, die die unterste Begrenzung für Flexionsklassen gegenüber ,Einzelfällen' bildet. Deshalb scheint hier eine funktionale Begrenzung am sinnvollsten. So kann man etwa sagen, daß die Grenze dort liegen müßte, wo der Sprecher statt der Flexionsregeln die entsprechenden Flexionsformen direkt erlernt und in seinem Lexikon speichert. Doch gerade für die kritischen Fälle läßt sich die Strategie des Sprechers kaum mit Sicherheit ermitteln. Klar ist dagegen, daß wirkliche idiosynkratische Einzelfälle, wie etwa die deutsche Kopula sein, keine Flexionsklassen konstituieren, da ja jeweils Gruppen von Wörtern vorausgesetzt sind. Aber auch viele kleine Gruppen von Wörtern können schon deshalb keine Flexionsklassen bilden, da (20) verlangt, daß in einer Flexionsklasse alle Kategorien bzw. Kategorienbündel in formal einheitlicher Weise symbolisiert sein müssen. Wenn man ζ. B. Fälle wie die Personalpronomen im Deutschen oder Englischen überprüft, so zeigt sich, daß nicht einmal zwei von ihnen ihre abgeleiteten Flexionsformen in formal einheitlicher Weise (systematisch) bilden. Das gilt auch für das scheinbare Gegenbeispiel ich — du: In der l.Ps.Sg. wechselt der Stamm ich mit einem m-Stamm, an den die Flexive -ir und -ich treten, in der 2.Ps.Sg. bleibt dagegen der ί-Stamm der Grundform du erhalten. Das Vorkommen sehr kleiner Flexionsklassen ist real stark eingeschränkt: Wörter zahlenmäßig gering belegter Wortarten, wie es auch die Personalpronomen sind, tendieren zur Suppletion, sonstige kleine Flexionsklassen tendieren im allgemeinen zum Abbau durch Übertritt in entsprechende andere Klassen.47

47



Vgl. dazu Kap. 4.

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1. Morphologische Grundbegriffe

In (20) ist als Bedingung für eine selbständige Flexionsklasse nicht die formale Einheitlichkeit aller Flexionsformen und die formale Distinktivität aller Flexionsformen von allen Flexionsformen der anderen Wortgruppen, sondern nur die formale Einheitlichkeit bzw. Distinktivität der abgeleiteten Flexionsformen postuliert. Das bedeutet, daß auch Wörter zu einer einheitlichen Flexionsklasse gehören, die alle abgeleiteten Flexionsformen gleich bilden, sich aber in ihrer Grundform unterscheiden. Das ist beispielsweise der Fall, wenn eine Gruppe von Wörtern in der Grundform ein grammatisches Morphem aufweist, eine andere dagegen nicht wie bei den beiden Typen equ-us und vir im Lateinischen oder den beiden Typen Has-e und Bär im Deutschen, die jeweils ohne Zweifel einheitliche Flexionsklassen bilden. Einheitliche Flexionsklasse heißt nichts anderes als einheitliche Bildung der abgeleiteten Flexionsformen. Die Art und Weise, wie wir hier die Flexionsklasse gefaßt haben, wirkt zurück auf die obige Bestimmung der morphologischen Kategorie, denn der Begriff der morphologischen Kategorie baut u. a. auch auf dem Begriff der Flexionsklasse auf. Wir nehmen — etwas vereinfacht gesprochen — eine morphologische Kategorie genau dann an, wenn sie in wenigstens einer Flexionsklasse formal in Erscheinung tritt. Wie die Flexionsklasse bestimmt ist, kann also darüber entscheiden, ob für eine gegebene Sprache eine morphologische Kategorie anzuwenden ist oder nicht. Vgl. dazu den Fall im Englischen, wo bisweilen mit dem Hinweis auf Formen wie he — him, she — her und we — us die Existenz eines ,Objektskasus' (Obliquus) für die nominalen Wortarten postuliert wird. Bei den englischen Personalpronomen werden jedoch keine Kategorien formal einheitlich repräsentiert, vgl. me, you, him, her, it, us, you, them. Obwohl diese Objektformen historisch auf Akkusativ- und Dativformen zurückgehen, müssen sie heute als lexikalisierte unsystematische Reste bewertet werden. Sie bilden keine Flexionsklasse und können demzufolge auch nicht als Legitimation für eine nominale Kategorie des,Objektskasus' dienen, ganz zu schweigen davon, daß das Vorhandensein einer morphologischen Kategorie bei einer Wortart nicht automatisch ihr Vorhandensein bei einer anderen impliziert. Im folgenden soll wiederum jeweils ein Beispiel für (20/i) und (20/ii) gegeben werden. Im ältesten Altschwedischen werden zwei verschiedene Gruppen von maskulinen Substantiven so dekliniert, wie es die beiden Wörter vin ,Freund' und sun ,Sohn' zeigen: (21) N.Sg. G. D. A. N.P1. G. D. A.

(a) vin vin-ar vin-i, vin vin vin-ir vin-a vin-um vin-i

(b) sun sun-ar syn-i, sun sun syn-ir sun-a sun-um sun-u

In sieben von acht vorkommenden Numerus-Kasus-Kombinationen stimmen die Formen der von (a) und (b) repräsentierten Wortgruppen überein. Es treten sogar jeweils die gleichen Nebenformen auf.48 Lediglich das Kategorienbündel ,Plural plus 48

Der Umlaut ist nicht distinktiv; er erscheint vor i-haltigen Endungen bei hinterem Stammvokal.

69

1.4. Marker, Kategorien, Flexionsklassen

Akkusativ' ist unterschiedlich durch /i/ vs. /u/ symbolisiert. Da sich die Formen des A.P1. von (a) und (b) nicht nur voneinander, sondern zugleich auch von allen anderen Wortgruppen (Flexionsklassen) unterscheiden, sind damit für das älteste Altschwedische die ,itt'w-Klasse' und die ,siiw-Klasse' nach (20/i) als selbständige Flexionsklassen etabliert; sie werden traditionell als maskuline ΐ-und «-Deklination bezeichnet. Im Neuhochdeutschen gibt es (u. a.) drei maskuline Wortgruppen, die ihre NumerusKasus-Formen in folgender Weise bilden: (22) N.Sg. G. D. A.

(a) Tag Tag-es Tag(-e) Tag

(b) Staat Staat-es Staat(-e) Staat

(c) Bär Bär-en Bär-en Bär-en

N.P1. G. D. A.

Tag-e Tag-e Tag-e-n Tag-e

Staat-en Staat-en Staat-en Staat-en

Bär-en Bär-en Bär-en Bär-en

Wenn wir uns den Flexionstyp (b) ansehen, so zeigt sich, daß er für keines der acht Kategorienbündel über eine spezifische, nur ihm zugehörige formale Symbolisierung verfügt. Er kann also nach (20/i) keine eigene Flexionsklasse bilden. Doch er erfüllt genau die Kriterien für den Fall (20/ii): Im Singular stimmt er mit (a) überein und unterscheidet sieh von (c), im Plural stimmt er mit (c) überein und unterscheidet sich von (a). Damit konstituieren auch die deutschen Substantive des Typs Staat eine eigene Flexionsklasse. Während die Klasse (a) als die der ,starken' und (c) als die der schwachen' Maskulina bezeichnet wird, hat sich für (b) die Klassifizierung ,gemischte' Maskulina eingebürgert, ein, wie die Fakten zeigen, durchaus gerechtfertigter Terminus. Die beiden Bestimmungen (18) und (20) bringen gemeinsam gut zum Ausdruck, daß in Sprachen, in denen sowohl morphologische Kategorien als auch Flexionskiasses existieren, beide in bestimmter Weise aufeinander bezogen sind: Das Vorhandensein einer morphologischen Kategorie ist von ihrer distinkten Symbolisierung in wenigstens einer Flexionsklasse und das Vorhandensein einer Flexionsklasse von ihrer distinkten Symbolisierung in wenigstens einer morphologischen Kategorie abhängig. Es soll noch darauf verwiesen werden, daß das Vorkommen einer morphologischen Kategorie bzw. einer Flexionsklasse in einer gegebenen Sprache auch auf völlig andere Weise bestimmt werden kann, als wir es getan haben, nämlich unter Zugrundelegung des Begriffs der Flexionsregel; vgl. (23) Eine Sprache Lj hat bezogen auf eine Wortart WA9 eine m o r p h o l o g i s c h e K a t e g o r i e Kj, wenn es für WAS wenigstens eine Flexionsregel R k gibt, die auf Kj Bezug nimmt. (24) Eine Sprache Lj hat eine F l e x i o n s k l a s s e FKj, wenn für eine Gruppe von Wörtern WGj und nur für sie eine einheitliche Regelgruppe R k i ... R kn gilt. Obgleich (23) und (24) den Charakter von Definitionen haben und sich im Unterschied zu (18) und (20) nicht wechselweise voraussetzen, ist ihr faktischer Erklärungswert gering, wie man unschwer feststellen wird. Die Gesamtheit der Flexionsparadigmen einer Sprache, d. h. die Zusammenfassung der Flexionsformen aller Flexionsklassen, bildet das F l e x i o n s s y s t e m der Sprache. Ein Flexionssystem besteht in der Regel aus nach verschiedenen Gesichtspunkten ge-

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1. Morphologische Grundbegriffe

gliederten Teilsystemen. Unter dem Gesichtspunkt der jeweils in Erscheinung tretenden Kategoriengefüge ergeben sich ζ. B. für alle älteren und viele neueren indoeuropäischen Sprachen ein Deklinationssystem mit den Kategoriengefügen Numerus und Kasus (für Adjektive und einen Teil der Pronomen auch Genus), ein Konjugationssystem mit den Kategoriengefügen Person, Numerus, Tempus, Modus und Genus verbi und ein Komparationssystem mit dem Kategoriengefüge der Komparationsstufen. Manchmal sind hier auch noch spezifische Untersysteme zu unterscheiden. Das russische Konjugationssystem flektiert im Präsens/Futur nach Person und Numerus, im Präteritum jedoch nach Genus und Numerus. Unter dem Gesichtspunkt der Wortarten ergeben sich die Flexionssysteme des Substantivs, des Adjektivs, des Verbs usw.

2. Problemstellung: Flexionsklassen und Natürlichkeit 2.1. Zum Status der Flexionsklassen Zu den im vorangegangenen Kapitel diskutierten morphologischen Grundbegriffen gehörte auch der der Flexionsklasse. Wir hatten angenommen, daß in einer Sprache eine einheitliche und selbständige Flexionsklasse existiert, wenn für eine entsprechende Gruppe von Wörtern jede abgeleitete Kategorie bzw. jedes abgeleitete Kategorienbündel formal einheitlich symbolisiert wird und die Gesamtheit der abgeleiteten Flexionsformen aller anderen Wortgruppen formal distinkt ist. Die Konstituierung von Flexionsklassen beruht auf der Einheitlichkeit und Distinktivität der Paradigmen, so wie jede Klassifizierung auf den gemeinsamen und unterschiedlichen Eigenschaften der jeweils zu klassifizierenden Elemente beruht. Die gemeinsamen bzw. unterschiedlichen Eigenschaften der Paradigmen sind die in den relevanten Kategorien auftretenden Marker und Markerkombinationen. Die in einer gegebenen Sprache vorkommenden Marker gehören keinem universellen vorgegebenen Inventar von Markern an, morphologische Marker sind strikt einzelsprachlich.1 In diesem Sinne haben die Flexionsklassen anders als beispielsweise phonologische Klassen keine universelle Basis. Phonologische Klassen fassen bekanntermaßen Lautsegmente mit gemeinsamen phonologischen Merkmalen zusammen, und phonologische Merkmale beruhen auf den allen Menschen eigenen Möglichkeiten der Artikulation und Perzeption. Phonologische Klassen besitzen eine universelle Basis. So ist es ζ. B. durchaus sinnvoll, wenn man bei der Untersuchung typologischer Gemeinsamkeiten danach fragt, ob es im Russischen, im Ostjakischen, im Suaheli wie im Deutschen Segmente mit den Merkmalen ,-)- konsonantisch, + frikativ, + stimmhaft', also stimmhafte Spiranten, gibt. Dagegen hat es offenbar keinen Sinn, danach zu fragen, ob es in diesen Sprachen wie im Deutschen eine substantivische Flexionsklasse gibt, deren G.Sg. mit /s/, deren Plural mit /e/ und deren D.P1. mit /n/ gebildet wird. Typologiech interessant ist, ob es in einer Sprache Flexionsklassen gibt, nicht dagegen, mit welchen Suffixen sie realisiert werden. Auch hinsichtlich des Status von in einer Einzelsprache vorhandenen Flexionsklassen und phonologischen Klassen existieren entsprechende Unterschiede. Wenn ζ. B. in einer Sprache eine Klasse von stimmhaften und eine Klasse von stimmlosen Nasalkonsonanten (Segmente mit den Merkmalen , + konsonantisch, + nasal, -f- stimmhaft' und konsonantisch, -f- nasal, — stimmhaft') vorhanden sind, dann ergibt sich bereits aus den Merkmalkombinationen, daß beide Klassen nicht einfach gleichwertig' sind. Ohne weitere Kenntnis der betreffenden Einzelsprache läßt sich vorhersagen, daß beim Eintreten einer Neutralisation beider 1

Das bedeutet freilich nicht, daß die Klasse der morphologischen Marker bzw. ihre Teilklassen keine universellen Eigenschaften hätten, die sie von anderen sprachlichen Einheiten (Basismorphemen, Derivationsmorphemen) unterscheiden. So unterliegen ζ. B. additive Marker (grammatische Morpheme) in der Regel strengeren phonologischen Strukturbedingungen als andere Morpheme (sie sind kürzer, enthalten nur bestimmte Phoneme und Phonemkombinationen; vgl. Abschn. 1.3.), bilden immer sehr kleine, nur stark begrenzt erweiterbare Klassen usw.

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2. Flexionsklassen und Natürlichkeit

Klassen die stimmlosen Nasale stimmhaft werden und nicht umgekehrt. Wenn dagegen in einer Sprache zwei substantivische Flexionsklassen existieren, von denen eine den G.Sg. mit /s/, den N.P1. mit /ar/ und den A.P1. mit /a/ und die andere den G.Sg. mit /ar/, den N.P1. mit /ir/ und den A.P1. mit /i/ bildet, so kann man aus dieser Kombination der Marker nicht ersehen, in welcher Relation diese beiden Flexionsklassen zueinander stehen und demzufolge auch keine Vorhersagen über künftige Entwicklungen machen. Das alles erweckt den Anschein, als seien die Flexionsklassen einfach zufällige Zuordnungen von Markern zu Kategorien, eine so gut wie die andere, und als sei entsprechend die Problematik der Flexionsklassen ohne jedes theoretische Interesse und bilde bestenfalls eine Domäne für die beschreibende' Grammatik. Dieser Anschein wird noch dadurch verstärkt, daß die Flexionsklassenproblematik auch kaum einer theoretisch orientierten Behandlung für wert befunden wurde. 2 Es gibt jedoch eine ganze Reihe von linguistischen Bereichen, deren Fakten klar erweisen, daß die anscheinende Zufälligkeit von Flexionsklassen nur eine scheinbare ist, daß die Flexionsklassen innerhalb der Einzelsprache für den Sprecher durchaus nicht den gleichen Status haben. Wir stellen im folgenden die wohl wichtigsten dieser Faktenbereiche zusammen und exemplifizieren an ihnen den Status der schwachen und starken Verben im Neuhochdeutschen: 3 S p r a c h v e r ä n d e r u n g : In neuhochdeutscher Zeit sind eine ganze Anzahl von ursprünglich starken Verben wie bellen, mahlen, kreischen, schmiegen und spalten zu den schwachen übergetreten. Weitere Verben wie ζ. B. gären, gleiten, glimmen, melken, saugen, triefen usw. befinden sich gegenwärtig im Übergang von der starken zur schwachen Flexion. Neben den alten Flexionsformen des Typs gor/gegoren gibt es jetzt in zunehmendem Maße solche des Typs gärte/gegärt. Es treten hingegen (gegenwärtig) keine Verben von den schwachen zu den starken über. B e h a n d l u n g v o n Neu W ö r t e r n : Alle Neuwörter (Entlehnungen und Neubildungen), wiez. B. filmen, funken, kraulen, morsen, streiken, turnen und röntgen, aber auch fetzen, poppen usw. flektieren schwach.4 Die starken Verben erhalten keine Neuzugänge. B e h a n d l u n g v o n N o n s e n s w ö r t e r n : . Wenn man Nonsensverben wie *hinnen, *tiegen oder *schnelfen erfindet und sie von einer Testperson konjugieren läßt, bildet diese auf Anhieb die schwachen Formen, vgl. *hinnte/gehinnt usw. F e h l e r l i n g u i s t i k : In der Kommunikation kommen eher Versprecher des Typs *ratetej geratet anstatt riet/geraten und *greiftejgegreift anstatt griff/gegriffen vor als Versprecher des Typs *wiet/gewaten anstatt wateteIgewatet und *riff/geriffen anstatt reifte/gereift. 2 3

4

Als Ausnahmen dazu aus jüngster Zeit sind CARSTAIRS (1979) und (1980) zu nennen. Streng genommen stellen die starken Verben keine Einzelklasse, sondern eine ganze Gruppe nach ähnlichen Prinzipien funktionierender Flexionsklaesen dar; vgl. den Begriff der Flexionsklasse in Abschn. 1.4. Vgl. dazu den charakteristischen Fall des vom Substantiv Zwinge gebildeten Verbs zwingen ,in eine (Schraub-)Zwinge einspannen', das trotz des Vorhandenseins des starken Verbs zwingen ,cogere' nicht .analog' zu diesem stark, sondern schwach konjugiert wird. Ähnlich auch das auf das englische (starke!) Verb swing zurückgehende Wort swingen, das trotz schwingen (schwang, geschwungen) sclrwach flektiert; ich ewingte, geewingt.

2.1. Status der Flexionsklassen

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A p h a s i s c h e S t ö r u n g e n : Bei Aphatikern mit einschlägigen Störungen ist die Bildung der Flexionsformen starker Verben im allgemeinen in stärkerem Maße beeinträchtigt als die Bildung der Flexionsformen schwacher Verben. 5 S p r a c h e r w e r b u n d K i n d e r s p r a c h e : Die Kleinkinder beherrschen die Regeln zur Bildung schwacher Flexionsformen vor den Regeln zur Bildung starker Flexionsformen. Es ist im Deutschen ein wesentliches Charakteristikum der sogenannten Kindersprache, daß die starken Verben schwach konjugiert werden: ich gebtejich hab gegebt usw.® F r e m d s p r a c h e n e r l e r n u n g in d e r K o m m u n i k a t i o n : Die Regeln zur Bildung schwacher Konjugationsformen werden eher beherrscht als die Regeln zur Bildung der starken Formen. A k z e p t a b i l i t ä t u n g r a m m a t i s c h e r F o r m e n : Ungrammatische, d. h. von den geltenden morphologischen Normen abweichende, Flexionsformen nebeneinanderstehender Flexionsklassen sind für die nativen Sprecher durchaus nicht immer in gleichem Maße unakzeptabel (,falsch'); sie können sich in ihrer Akzeptabilität unterscheiden. So werden auch abweichende Flexionsformen im verbalen Bereich von den Sprechern eher akzeptiert, wenn es sich um schwach gebildete Formen starker Verben handelt, als wenn es sich um stark gebildete Formen schwacher Verben handelt. Präteritalformen wie ζ. B. *er fechtete zu fechten, *er schwimmte zu schwimmen, *er Schlagte zu schlagen und *er bietete zu bieten werden von nativen Sprechern des Deutschen spontan als ,besser' bewertet als etwa die Formen *er knocht zu knechten, *er tramm zu trimmen, *er sug zu sagen und *er mot zu mieten Alle acht genannten Kriterien weisen klar in eine einheitliche Richtung, was mit Sicherheit kein Zufall ist: Die Klasse der schwachen Verben ist im Neuhochdeutschen in einem noch näher zu explizierenden Sinne ,normaler' als die Klasse(n) der starken Verben. Zwar kommen die u n t e r s c h i e d l i c h e n N o r m a l i t ä t s g r a d e von in einem Flexionssystem miteinander konkurrierenden Flexionsklassen bei diesem Beispiel besonders deutlich zum Ausdruck (alle acht Faktenbereiche liefern hier in eindeutiger Weise einschlägige Fakten), doch stellt die deutsche Verbalflexion in dieser Hinsicht keineswegs einen Ausnahmefall dar, sondern einen für die Relationen der Flexionsklassen in einem Flexionssystem zueinander typischen Fall. Miteinander konkurrierende Flexionsklassen unterscheiden sich in der Regel in ihrem Normalitätsgrad. 8 Zur Stützung dieser Annahme seien noch einige weitere Beispiele konkurrierender Flexionsklassen mit unterschiedlichen Normalitätsgraden angeführt, wobei wir es allerdings der Kürze halber beim Vergleich der Akzeptabilität der entsprechenden ungrammatischen Flexionsformen belassen wollen: Bei den starken maskulinen Substantiven (d. h. denjenigen mit e/0-Pluralbildung) sind ungrammatische Pluralformen mit Umlaut akzeptabler als ungrammatische Pluralformen ohne Umlaut, vgl. ζ. B. *die Hunde, *die Punkte (statt der korrekten Formen die Hunde, die Punkte) mit *die Flusse, *die Wolfe (statt die Flüsse, die Wölfe). Bei den entsprechenden Neutra 5

Dieser Feststellung liegen eigene (leider nicht systematische) Beobachtungen von Aphatikern in der damaligen Arbeitsgruppe von E . WEIGL in Berlin zugrunde. 6 Vgl. dazu die überzeugenden Fakten in ATJGST (1975: 261). — Was für die Kindersprache gilt, trifft übrigens auch auf die sogenannte Ammensprache (baby talk) zu. 7 Man beachte, daß es sich bei der Überprüfung solcher Formen um .Experimente in der Sprachwissenschaft' im Sinne von SCHTSCHERBA (1976: 11 ff.) handelt. 8 Das muß jedoch nicht in jedem Fall so sein; vgl. Abschn. 4.2.

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2. Flexionsklassen und Natürlichkeit

sind die Verhältnisse gerade umgekehrt. Ungrammatische Pluralformen ohne Umlaut wie *die Floße, *die Kloster (statt die Flöße, die Klöster) sind hier akzeptabler als ungrammatische Pluralformen mit Umlaut wie *die Böte, *die Wunder (statt die Boote, die Wunder). Im Einklang damit können wir den Klassenübertritt nichtumlautender Maskulina zu den umlautenden und umlautender Neutra zu den nichtumlautenden in der jüngsten Vergangenheit beobachten, vgl. die Mopse, die Strande, die Zwange9 > die Möpse, die Strände, die Zwänge einerseits und die Böte, die Röhre (zu das Rohr) > die Boote, die Rohre andererseits.10 Die auf einen phonologisch kurzen (phonetisch halblangen) Vokal außer /e/ endenden deutschen Substantive verteilen sich auf zwei Flexionsklassen: Sie bilden ihren Plural entweder mit dem Flexiv /s/ wie Kino — Kinos oder mit /en/ und ,Auslassung' des Auslautvokals wie Fresko — Fresken.n Dabei sind ganz eindeutig ungrammatische Pluralformen auf /s/ akzeptabler als ungrammatische Pluralformen auf /en/, vgl. *die Freskos, *die Firmas (statt die Fresken, die Firmen) mit *die Kinen, *die Polken (statt die Kinos, die Polkas). Substantive wie das Konto, das Aroma schwanken in ihrer Pluralbildung mit Tendenz zum s-Plural. Schließlich sind bei den Modalverben ungrammatische Formen der 3. Ps. Sg. Präs. ohne das Flexiv /t/ akzeptabler als die entsprechenden ungrammatischen Formen mit /t/, vgl. *er brauch (statt er braucht) mit *er kannt, *er darft (statt er kann, er darf). In bestimmten umgangssprachlichen Varianten des Deutschen hat sich die ί-lose Form von brauchen bereits durchgesetzt. In den erwähnten Beispielfällen, die leicht durch viele weitere ergänzt werden könnten, stehen sich also jeweils Flexionsklassen mit unterschiedlichen Normalitätsgraden gegenüber. Obwohl die Flexionsklassen, wie wir festgestellt haben, strikt einzelsprachlich sind, Waben sie — bezogen auf die Einzelsprache — durchaus nicht immer einen gleichhertigen Status. Es ist offenbar typisch, daß im Rahmen eines gegebenen Flexionswstems eine Flexionsklasse FKi gegenüber einer Flexionsklasse F K j in ähnlicher syeise vom Sprecher bevorzugt wird wie ζ. B. in allen phonologischen Systemen die phonologische Klasse der stimmhaften Nasalkonsonanten gegenüber der Klasse der stimmlosen. Die Bevorzugung der stimmhaften gegenüber den stimmlosen Nasalen läßt sich leicht durch die unterschiedliche phonologische Natürlichkeit beider Segmentklassen erklären, die wiederum in angebbarer Weise auf die Funktionsprinzipien der menschlichen Artikulations- und Perzeptionsorgane zurückgeführt werden kann. Wenn wir dagegen den in den linguistischen Fakten verschiedener Bereiche zum Ausdruck kommenden unterschiedlichen Status von konkurrierenden Flexionsklassen mit dem Begriff der einzelsprachlichen Normalität kennzeichnen, so ist damit noch nichts erklärt. Es gilt also zu ermitteln, welche allgemeineren Eigenschaften des einzelsprachlichen Flexionssystems der Normalität von Flexionsklassen zugrunde liegen oder, anders ausgedrückt, durch welche Faktoren die Normalität von Flexionsklassen innerhalb eines gegebenen Systems determiniert ist. Damit ist die Problemstellung für den Hauptteil der vorliegenden Arbeit formuliert. Wir werden im folgenden versuchen, die sich aus dieser Problemstellung ergebenden Teilfragen sukzessive zu beantworten. Da der Großteil der in diesem Abschnitt ange9

Nach P A U L (1917: 11) gibt es nur die unumgelauteten Pluralformen. Die Formen mit Umlaut werden in P A U L ( 1 9 1 7 : 1 8 ) als „nicht selten" charakterisiert, heute sind sie ausgeschlossen. 11 Beim Typ Fresko — Freshen liegt eine Pluralbildung mit Stammflexion vor, vgl. Abschn. 1.3 sowie 3.1 und 3.3. 10

2.2. Normalität und Natürlichkeit

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führten linguistischen Faktenbereiche nicht für ausreichend viele Sprachen und Sprachzustände zur Verfügung steht, werden wir im wesentlichen Fakten aus der Sprachveränderung zu Rate ziehen.

2.2. Morphologische Normalität und morphologische Natürlichkeit Wir haben oben MAYERTHALERS Konzept der morphologischen Natürlichkeit relativ ausführlich diskutiert. Jetzt soll überprüft werden, ob dieses Konzept auch diejenigen morphologischen Erscheinungen mit abdeckt, die wir unter dem Begriff der morphologischen Normalität zusammengefaßt haben. MAYERTHALERS Natürlichkeitskonzept, dem umgekehrt proportional der Begriff der Markiertheit zugeordnet ist (,je mehr Natürlichkeit, umso weniger Markiertheit' und umgekehrt), geht von einer universell gefaßten semantischen Markiertheit der grammatischen Kategorien aus und setzt diese in Relation zur Art ihrer formalen Kodierung. Die Kernfrage innerhalb dieses Konzepts ist, ob die Asymmetrie zweier Kategorien hinsichtlich ihrer semantischen Markiertheit auf eine entsprechende Asymmetrie der Symbolisierung abgebildet wird. Morphologische Natürlichkeit liegt immer dann vor, wenn in diesem Sinne einem semantischen ,Mehr' auch ein konstruktionelles ,Mehr' entspricht. Für ein solches Konzept sind in allererster Linie die Symbolisierungsverhältnisse innerhalb der Paradigmen interessant. Die Flexionsklassenproblematik kommt erst dadurch ins Spiel, daß sich die verschiedenen Flexionsklassen eines Flexionssystems in bezug auf die Prinzipien der Symbolisierung von Kategorien recht unterschiedlich verhalten können. So gibt es etwa den Fall, daß eine markierte Kategorie wie ζ. B. der Plural in einer Flexionsklasse FKi merkmalhaft (also durch einen Marker), in der Flexionsklasse F K j dagegen merkmallos (ohne Marker) repräsentiert ist. Weiterhin kann der Fall auftreten, daß in zwei nebeneinanderstehenden Flexionsklassen F K | und F K j eine Kategorie durch morphologische Marker mit unterschiedlichen Ikonismusgraden, also beispielsweise in FKi durch einen additiven Marker und in F K j durch einen modifikatorischen Marker, symbolisiert wird. Führen wir für beide Konstellationen je ein Beispiel an: Im modernen Englischen gibt es außer der s-Pluralklasse, zu der Fälle wie dog — dogs, cat — cats und horse — horses gehören, noch eine kleine Klasse von 0-Pluralen, vgl. sheep — sheep, fish — fish, deer — deer und buffalo — buffalo (neben buffalo(e)s). Da in dieser 0-Pluralklasse kein Pluralmarker erscheint, ist sie weniger natürlich als die Klasse mit dem Pluralmarker s (/z/). Wenn wir der durchaus plausiblen Annahme folgen, daß für die Sprecher des Englischen die 0-Pluralklasse weniger normal ist als die dominierende «-Klasse, dann zeigt sich hier, daß die Normalität in die gleiche Richtung weist wie die morphologische Natürlichkeit. Ebenso ist es im bereits etwas ausführlicher erörterten Fall der schwachen und starken Verben im Neuhochdeutschen. Hier konkurrieren Flexionsklassen mit additiver bzw. modifikatorischer Tempusbildung, vgl. reif-en — reif-t-en einerseits und greif-en — griff-en andererseits. Die Flexionsklasse mit den natürlicheren additiven Formen ist bei diesen Beispielen zugleich die normalere Klasse. Es sieht also so aus, als sei die einzelsprachliche morphologische Normalität nichts anderes als eine Erscheinungsform der universell gefaßten morphologischen Natürlichkeit. Doch man muß nicht lange suchen, um Beispielfälle zu finden, die erweisen, daß dem nicht so ist. Man braucht hier zunächst nur einmal an solche Fälle zu denken, wo

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2. Flexioneklassen und Natürlichkeit

sich zwei konkurrierende Flexionsklassen ganz eindeutig in ihrer Normalität unterscheiden, obwohl die Flexionsformen beider hinsichtlich ihrer Natürlichkeit völlig gleichwertig sind. Wir können hier beispielsweise auf den bereits in anderem Zusammenhang zitierten Fall der maskulinen i- und «-Stämme im Altschwedischen verweisen. Substantive wie vin ,Freund' und sun ,Sohn' flektieren in allen NumerusKasus-Formen außer dem A.P1. gleich, wo es in der »-Deklination vin-i, aber in der «-Deklination sun-u heißt. Obwohl diese Formen in ihrer Natürlichkeit völlig gleichwertig sind (in beiden Fällen symbolisiert ein additiver Marker gleichen Ikonizitätsgrades den A.P1.), haben beide Klassen durchaus nicht den gleichen Normalitätsgrad, wie der Verlauf der Sprachgeschichte zeigt: Die «-Formen des A.P1. werden im Altschwedischen immer seltener und verschwinden schließlich ganz zugunsten der iFormen, im späten Altschwedischen heißt es dann konsequent syni wie vini. Die weniger normale Klasse ist in die normalere überführt. Fälle solcherart werden von der Natürlichkeit nicht abgedeckt. E s gibt aber nicht nur morphologische Sprachveränderungen im Sinne dessen, was wir einzelsprachliche Normalität genannt haben, die sich nicht in das universell orientierte Natürlichkeitskonzept einordnen lassen; es gibt auch morphologische Veränderungen, die sich direkt gegen die Prinzipien dieses Konzepts durchsetzen: I m Voralthochdeutschen verloren die langsilbigen unter den neutralen α-Stämmen durch die sogenannten ,Auslautgesetze', d. h. durch phonologische Reduktion, den Marker /u/ des N./A.P1. Aus ivort — Plural *wort-u wurde wort — Plural wort. Dadurch erhielten diese Wörter im N./A.P1. die gleiche Form wie im N./A.Sg., während die kurzsilbigen α-Neutra ihren Pluralmarker behielten, vgl. fa3 ,Faß' — Plural *fayu. Auf phonologischem Wege ist morphologische Markiertheit entstanden. MAYERTHALEKS morphologische Natürlichkeit sagt für eine solche Konstellation voraus, daß beim Eintreten eines Ausgleichs zwischen den langsilbigen und den kurzsilbigen Neutra sich die natürlichen, weniger markierten Pluralformen durchsetzen, also die des T y p s */a3«, denn bei ihnen ist ja in natürlicher Weise die maskierte Kategorie Plural merkmalhaft gekennzeichnet. Doch die Entwicklung verläuft hier nicht so, sondern gerade in der entgegengesetzten Richtung. I m Rahmen einer eindeutig morphologisch bedingten Veränderung verlieren die kurzsilbigen Substantive ,analog' zu den langsilbigen ihren Pluralmarker /u/, so daß jetzt auch der Plural von fa3 endungslos fa$ lautet. Obwohl die markerlosen Pluralformen universell gesehen stärker markiert sind als die «-Formen, werden sie innerhalb des gegebenen Flexionssystems offensichtlich als normaler bewertet als die «-Formen und entsprechend generalisiert. Sollen und können nun morphologische Veränderungen solcherart, die relativ häufig vorkommen, einfach als ,unnatürlich' charakterisiert werden ? Will man diese Frage sinnvoll beantworten, so empfiehlt es sich, dabei von den allgemeinsten Prinzipien des Natürlichkeitskonzepts auszugehen. Die oben zitierten, auf BAILEY beruhenden grundlegenden Theoreme der Markiertheitstheorie (1) (i) m > in und r-\ > . < ^ < (11) m : m > m besagen, daß Sprachwandel (sofern er nicht auf Sprach- und Dialektmischung, Entlehnung, Normierung usw. beruht) immer in Richtung von mehr Markiertheit/weniger Natürlichkeit zu weniger Markiertheit/mehr Natürlichkeit verläuft, und daß bei allen sprachhistorischen Neutralisierungsprozessen, in denen eine stärker und eine

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2.2. Normalität und Natürlichkeit

schwächer markierte Form miteinander konkurrieren, sich die weniger markierte Form durchsetzt. Oder zusammengefaßt: „Natural changes are those which nativespeakers impose on language — changes not due to inter-system contact" ( B A I L E Y (1980: 45)). Die genannten Fälle aus dem Altschwedischen und dem Althochdeutschen stellen eindeutig innermorphologische Veränderungen dar, die nicht durch Sprachkontakt, Normierung usw. bedingt sind, Veränderungen, die die Sprecher ,ihrer Sprache auferlegen'. Der von uns eingeführte Begriff der Normalität bezieht sich gerade auf solche morphologischen Erscheinungen, die von den Sprechern als ,normaler' als andere empfunden werden und nach deren (in der Regel unbewußt wirkendem) Muster die ,weniger normalen' morphologischen Erscheinungen verändert werden. In diesem allgemeinen Sinn muß die einzelsprachliche morphologische Normalität als eine Erscheinungsform der morphologischen N a t ü r l i c h k e i t betrachtet werden, wenn dieser Begriff nicht seine theoretische und empirische Rechtfertigung verlieren soll. Damit, erweist sich das von MAYEBTHALEK praktizierte Konzept der morphologischen Natürlichkeit als zu eng und einseitig, da es ganz offensichtlich verschiedene Erscheinungsformen der morphologischen Normalität nicht zu erfassen gestattet. Das Konzept der morphologischen Natürlichkeit muß entsprechend erweitert werden. Doch eine solche Erweiterung des Konzepts der morphologischen Natürlichkeit ist leichter postuliert als vollzogen. Es ergibt sich nämlich zunächst die Frage, wie die einzelsprachlich gefaßte Normalität und die universell gefaßte Natürlichkeit auf theoretisch angemessene Weise aufeinander bezogen werden können. Die universelle, d. h. vom einzelnen Sprachsystem unabhängige morphologische Natürlichkeit favorisiert (wie wir oben gesehen haben) die Herausbildung und Erhaltung von Flexionssystemen, die — grob gesagt — nach den Prinzipien des Ikonismus aufgebaut sind. Damit verglichen scheint die morphologische Normalität immer nur einzelsprachlich bestimmbare Züge von Flexionssystemen ohne jeden Bezug auf universell faßbare Eigenschaften solcher Systeme zu favorisieren. Dafür spricht u. a. das erwähnte Verhalten des Pluralumlauts im gegenwärtigen Deutschen. Es scheint keinerlei auf Grund genereller Kriterien zu fassende Gründe dafür zu geben, weshalb bei den nativen starken Maskulina mit e/0-Pluralbildung und umlautbarem Vokal das Eintreten des Pluralumlauts normaler ist als ein Nichteintreten und der Pluralumlaut sich entsprechend ausbreitet, während bei den parallelen Neutra das Nichteintreten des Pluralumlauts normaler ist als sein Eintreten und der Pluralumlaut entsprechend zurückgeht (vgl. nochmals der Mops

— die Mopse

> der Mops

— die Möpse vs. das

Boot — die Böte > das Boot — die Boote). Für Fakten, die sich schon innerhalb des einzelsprachlichen Flexionssystems als offenbar unsystematisch darstellen, scheint eine Erklärung durch universelle Eigenschaften von Flexionssystemen abwegig. Hier waltet allem Anschein nach einfach der Zufall. Wenn man sich jedoch vergegenwärtigt, daß es unter den Substantiven mit e/0Pluralbildung einerseits überhaupt nur eine Hand voll Neutra mit Pluralumlaut gibt und andererseits bei den betreffenden Maskulina mit umlautbarem Vokal die Fälle mit Umlaut überwiegen ( P A U L (1917: 9ff.), MOSKALSKAJA (1965: 229)), so ergibt sich, daß der Begriff der Normalität trotz der scheinbar einander zuwiderlaufenden Entwicklungen hier bestimmte allgemeinere Trends im neuhochdeutschen Substantivdeklinationssystem reflektiert: Es zeigt sich die Tendenz, von den hinsichtlich des Auftretens des Umlauts konkurrierenden Flexionsklassen die jeweils größere auf

78

2. Flexionsklassen und Natürlichkeit

Kosten der kleineren auszudehnen und damit jeweils eine der im System miteinander konkurrierenden Bildungen zu verallgemeinern.12 Ebenso liegen die Verhältnisse in den übrigen von uns aufgeführten Beispielfällen. Damit nähern wir uns offenbar dem Wesen dessen, was wir als einzelsprachliche Normalität bezeichnet haben: Die Normalität favorisiert die Herausbildung und Erhaltung von Flexionssystemen, die einheitlich und systematisch aufgebaut sind. Unter bestimmten, noch näher zu explizierenden Bedingungen tendiert ein Flexionssystem zum Abbau nichtfunktionaler formaler Distinktionen, zu Vereinheitlichung und Systematisierung, ähnlich wie es zu ikonisch aufgebauten Paradigmen tendiert. Der Unterschied zwischen beiden Erscheinungen besteht dabei darin, daß ohne Bezug auf das einzelsprachliche System festgestellt werden kann, ob eine Flexionsform stark, schwach oder kontraikonisch ist, daß aber die Normalität einer Flexionsform immer nur bezogen auf das jeweilige Flexionssystem bestimmt werden kann. Aus diesem Grunde wollen wir im Rahmen eines umfassenden Konzepts der morphologischen Natürlichkeit, das mit den allgemeinen Prinzipien der Markiertheitstheorie voll vereinbar ist, zwischen s y s t e m u n a b h ä n g i g e r und s y s t e m b e z o g e n e r Natürlichkeit unterscheiden. Die systemunabhängige Natürlichkeit entspricht der morphologischen Natürlichkeit im Sinne M A Y E E T H A L E E S , die systembezogene Natürlichkeit umfaßt den Bereich, den wir bisher mit ,einzelsprachlicher Normalität' umschrieben haben. 13

2.3. Systembezogene Natürlichkeit: Flexionsklassenstabilität und Systemangemessenheit Wir haben den Begriff der Normalität anhand der Gegenüberstellung von miteinander in einem System konkurrierenden Flexionsklassen eingeführt. In diesem Sinne meinte Normalität bisher immer ,Normalität von konkreten einzelnen Flexionsklassen'. So unterscheiden sich im Grad ihrer Normalität ζ. B. die nichtumlautenden und die umlautenden Neutra mit e/0-Pluralbildung im Neuhochdeutschen, die maskulinen i- und «-Substantive im Altschwedischen oder die Substantive der englischen «-Pluralklasse und die 0-Pluralklasse in der Weise, daß die jeweils erstgenannten Klassen normaler als die letztgenannten Klassen sind. Natürlicher morphologischer Wandel ist in diesem Bereich dadurch gekennzeichnet, daß die Wörter von der weniger normalen zur normaleren Flexionsklasse übertreten; systembezogene Markiertheit wird durch Klassenwechsel abgebaut. Im idealen Fall verschwindet im Laufe der Zeit die weniger normale Flexionsklasse völlig, so ζ. B. die Klasse der altschwedischen «-Stämme. Doch innerhalb eines Flexionssystenis können sich nicht nur konkrete Flexionsklassen, sondern auch allgemeinere, übergreifende Strukturzüge nach ihrer Normalität unterscheiden, was ebenfalls ein Ausgangspunkt für natürlichen morphologischen Wandel ist. Um das an einem leicht nachvollziehbaren Beispiel zu belegen, kehren wir noch einmal zum Fall der voralthochdeutschen Neutra zurück, in dem die /a3-Klasse 12 13

Vgl. dazu, daß es heute im Deutschen auch keine starken Feminina mit umlautbarem Stammvokal gibt, die keinen Pluralumlaut aufweisen. Den wohl ersten, wenn auch theoretisch nicht genügend reflektierten Versuch, solche Zusammenhänge auf der Basis des Markiertheitsprinzips zu erfassen, stellt W U R Z E L ( 1 9 7 0 ) dar, darauf basierend dann u. a. auch K I E F E R ( 1 9 7 0 ) und ( 1 9 7 3 ) sowie L I N E L L ( 1 9 7 2 ) .

2.3. Syetembezogene Natürlichkeit

79

und die wori-Klasse auf folgende Weise vereinheitlicht werden: fa% — N./A.P1. *fa^-u und wort — N./A.P1. wort > /«3 — N./A.P1. fa$ und wort — N./A.P1. wort. Dieser Wandel sieht ebenfalls nach einem einfachen, morphologisch bedingten Ausgleich zwischen zwei Flexionsklassen aus, wobei die normalere Klasse alle Substantive der weniger normalen Klasse aufnimmt. Doch dieser Wandel ist zugleich mehr als ein bloßer Ausgleich zwischen den beiden Flexionsklassen, was ein von uns bisher vernachlässigter Aspekt der Entwicklung der Neutra in voralthochdeutscher und althochdeutscher Zeit zeigt: Durch den Abbau des Flexivs /u/ im N./A.P1. der Substantive des Typs fa$ werden bei diesen Substantiven die Formen des N./A.Sg. sowie des N./A.P1. vereinheitlicht. Aber eine solche Vereinheitlichung tritt nicht nur bei den neutralen α-Stämmen, sondern zugleich auch bei den schwachen Neutra des Typs herza ,Herz' auf, wo im Althochdeutschen neben der ,lautgesetzlichen' N./A.Pl.-Form herzun die Form herza für dieses Kategorienbündel erscheint, also eine ebenfalls mit dem N./A.Sg. übereinstimmende Form. Hier liegt kein Ausgleich zwischen zwei Flexionsklassen mit unterschiedlichem Normalitätsgrad vor. Der Ausgleich im Fall herza erfolgt vielmehr zwischen den Formen eines Paradigmas, d. h. mit dem morphologischen Material der Klasse selbst. Dennoch ist dieser morphologische Wandel nicht ohne Bezug zu den Neutra der worf-Klasse. Ausgehend von dieser Flexionsklasse ist der übergreifende Strukturzug auf die schwachen Neutra übertragen worden, daß der N./A.P1. formal identisch mit dem N./A.Sg. ist (BBAUNE (1955: 226)). Das Flexionssystem ist auf diese Weise vereinheitlicht worden. Für die Sprecher gibt es also offenbar nicht nur Unterschiede in der Normalität miteinander konkurrierender Flexionsklassen, sondern auch Unterschiede in der Normalität allgemeinerer Struktureigenschaften, die in einem Flexionssystem miteinander konkurrieren. Im Fall der voralthochdeutschen und althochdeutschen Neutra konkurrieren die formale Ubereinstimmung und die formale Nichtübereinstimmung zwischen dem N./A.Sg. und dem N./A.P1. Der Abbau systembezogener Markiertheit realisiert sich hier also nicht durch die Ausbreitung einer konkreten Flexionsklasse, sondern durch die Ausbreitung allgemeinerer Strukturprinzipien im Flexionssystem. Zwischen den beiden kurz skizzierten Phänomenen der systembezogenen Natürlichkeit gibt es also signifikante Unterschiede in bezug auf ihren Geltungsbereich. Das zeigt sich u. a., wenn sie in einem gegebenen Fall hinterfragt werden. Im ersten Fall lautet die entscheidende Frage: Wie natürlich (normal) ist eine Flexionsklasse F K j für das Flexionssystem der Sprache Lj?, im zweiten Fall dagegen: Wie natürlich (normal) ist ein übergreifender Strukturzug für das Flexionssystem der Sprache Lj ? Wir wollen diese beiden unterschiedlichen Erscheinungsformen von systembezogener Natürlichkeit als F l e x i o n s k l a s s e n s t a b i l i t ä t und als S y s t e m a n g e m e s s e n h e i t bezeichnen. Mit der Flexionsklassenstabilität und dejv Systemangemessenheit ist der Bereich der Erscheinungen der systembezogenen Natürlichkeit oder einzelsprachlichen Normalität offenbar im Prinzip abgedeckt. Es muß jedoch noch ein Aspekt der systembezogenen Natürlichkeit erwähnt werden, der mit der Klassenstabilität in enger Verbindung steht. Flexionsklassen sind Klassen von Wörtern, die morphologische Kategorien und Kategorienbündel in formal einheitlicher Weise symbolisieren, d. h. bezogen auf die einschlägigen Kategorien/Kategorienbündel über einheitliche Markerreihen verfügen. Der Begriff der Klassenstabilität bezieht sich auf den Status der Markerreihe einer Flexionsklasse als Ganzes. Ein unterschiedlicher Grad an Klassen-

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2. Flexionsklassen und Natürlichkeit

Stabilität bedingt den Übergang von einer Flexionsklasse zu einer anderen. In der Sprachentwicklung gibt es aber auch häufig Fälle, in denen Wörter nicht ihre Flexionsklasse insgesamt wechseln, sondern sich nur der Symbolisierung einzelner Kategorien/Kategorienbündel einer anderen Flexionsklasse anschließen. Ein Beispiel dafür ist etwa die Ausbreitung des Genitivs auf /s/ im Schwedischen, der im Altschwedischen (ähnlich wie im heutigen Deutschen) nur für bestimmte Flexionsklassen galt, aber im Neuschwedischen auf Singular und Plural sämtlicher Flexionsklassen verallgemeinert ist, obwohl sich diese Flexionsklassen weiterhin in ihrer Pluralbildung unterscheiden. Hier bezieht sich die Stabilität nicht auf alle Marker der Flexionsklasse, sondern nur auf einen Marker. Parallel zur Klassenstabilität wollen wir in solchen Fällen von M a r k e r s t a b i l i t ä t sprechen.

3. Systemangemessenheit 3.1. Systemdefinierende Struktureigenschaften und Systemangemessenheit Jedes einzelsprachliche Flexionssystem hat spezifische Struktureigenschaften, die es typologisch charakterisieren und es damit zugleich von den Flexionssystemen anderer Sprachen unterscheiden. Wir wollen uns anhand eines Beispiels vergegenwärtigen, welche Parameter dabei von Bedeutung sind. Im Türkischen werden — abgesehen von der phonologisch funktionierenden Vokalharmonie sowie bestimmten anderen phonologischen Alternationen in den Formen der Endungen — alle Substantive in übereinstimmender Weise flektiert. Vgl. dazu die Deklination des Substantivs yil ,Jahr', wobei wir der Einfachheit halber die Possessivfonnen vernachlässigen wollen:1 (1) N.Sg. G. D. A. Abi. Lok.

ytl ytl-m ytl-a yil-t y%l-dan yil-da

PI.

yil-lar ytl-lar-tn ytl-lar-a yil-lar yil-lar-dan yil-lar-da.

Uber die türkische Substantivflexion lassen sich also etwa Aussagen der folgenden Art machen: — Es treten die Kategoriengefüge des Numerus mit den Kategorien Singular und Plural sowie des Kasus mit den Kategorien Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Ablativ und Lokativ auf. — Es herrscht Grundformflexion (und keine Stammflexion). — Die Kategorien werden jeweils einzeln (und nicht kombiniert in Kategorienbündeln) symbolisiert. — Alle im Paradigma auftretenden Kategorien sind voneinander distinkt symbolisiert; es gibt keinen Synkretismus. — Alle Marker sind Suffixe. — Es existieren keine Flexionsklassen. Mit diesen Aussagen ist die Substantivflexion des Türkischen in ihren wesentlichen Strukturzügen charakterisiert. Doch diese Aussagen erfassen nicht nur spezifische Struktureigenschaften des Türkischen, sondern demonstrieren auch, daß das Türkische jeweils eine von mehreren prinzipiell ,zur Auswahl stehenden' Möglichkeiten realisiert. Sie beziehen also die speziellen Struktureigenschaften der türkischen Substantivdeklination auf grundlegende Parameter des Aufbaus von Flexionssystemen über1

Zur Vokalharmonie vgl. die Formen ytl — G.Sg. yil-m, lcardef .Bruder' — G.Sg. hardef-in, gün ,Tag' — G.Sg. gün-ün und okul .Schule' — G.Sg. okul-un. Weitere phonologische Alternationen treten z.B. im G.Sg. und D.Sg. auf, vgl. ytl-m und ytl-λ mit den entsprechenden Formen baba-mn und baba-ya zu baba ,Vater'. Zu den Possessivformen vgl. ζ. B. yil-im ,mein Jahr', yil-lar-im ,meine Jahre', yil-lar-im-m ,meiner Jahre' usw.

β stud, gramm. XXI

82

3. Systemangemessenheit

haupt. Wir können dementsprechend verallgemeinernd sagen, daß das Flexionssystem einer Wortart in einer gegebenen Sprache durch die folgenden Hauptparameter bestimmt ist: (a) ein Inventar an Kategoriengefügen und ihnen zugeordnete Kategorien; (b) das Auftreten von Grundformflexion bzw. Stammflexion; (c) die separate vs. kombinierte Symbolisierung von Kategorien unterschiedlicher Kategoriengefüge; (d) die Anzahl und Ausprägung der formalen Distinktionen unter den Flexionsformen eines Paradigmas; (e) die auftretenden Markertypen bezogen auf die beteiligten Kategoriengefüge; (f) das Vorhandensein vs. Nichtvorhandensein von Flexionsklassen. Diese Parameter bilden die Kriterien für eine typologische Charakterisierung und Klassifizierung von Flexionssystemen und Teilflexionssystemen. Jedes einzelsprachliche System trifft bezogen auf jeden der sechs Punkte eine ,Auswahl' unter den gegebenen Möglichkeiten. Da die genannten Parameter die wichtigsten Charakteristika des Aufbaus von Flexionssystemen darstellen, wollen wir die in einer Sprache hinsichtlich der Punkte (a) bis (f) realisierten Eigenschaften des Flexionssystems seine s y s t e m d e f i n i e r e n d e n S t r u k t u r e i g e n s c h a f t e n nennen. Die von uns gemachten Aussagen über die türkische Substantivflexion fixieren also die systemdefinierenden Struktureigenschaften dieses Bereichs des türkischen Flexionssystems. Die türkische Substantivflexion ist dadurch gekennzeichnet, daß sie hinsichtlich aller sechs Parameter einheitlich aufgebaut ist: In allen substantivischen Paradigmen treten die gleichen Kategorien auf, es wird durchgängig die Grundform flektiert, die Kategorien werden immer einzeln symbolisiert usw. usf. Die systemdefinierenden Struktureigenschaften der türkischen Substantivflexion sind damit gleichzusetzen mit den in der türkischen Substantivflexion überhaupt vorkommenden Struktureigenschaften. In dieser Hinsicht ist das Türkische jedoch für die Sprachen mit Flexion insgesamt gesehen wenig typisch, denn die meisten Flexionssysteme und Teilsysteme sind weit weniger einheitlich aufgebaut. Dazu je ein Beispiel aus verschiedenen Sprachstufen des Deutschen: Zu (a): Im Althochdeutschen existiert neben Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ im Kasusgefüge auch ein Instrumental. Dieser Instrumental kommt aber nur noch im Singular der α-Deklination (tag-u zu tag, wort-u zu wort), der ja-Deklination (hirti-u zu hirti ,Hirt', kunni-u zu kunni ,Geschlecht') und der ΐ-Deklination (gest-iu zu gast, enst-iu zu anst ,Gunst') vor. Im Plural dieser und in beiden Numeri aller übrigen Deklinationsklassen gibt es keinen Instrumental; an seiner Stelle erscheint eine Konstruktion des Typs mit bot-en ,mit dem Boten' (zu boto), d. h. ein präpositionaler Dativ. In der althochdeutschen Substantivdeklination gibt es also verteilt nach Flexionsklassen und Numeri eine Fünf-Kasus-Flexion und eine Vier-KasusFlexion nebeneinander. Zu (b): Für das neuhochdeutsche Substantivsystem ist Grundformflexion charakteristisch, vgl. ζ. B. Hund — Hund-e, Zirkus — Zirkuss-e (/t s irkus -f e/) usw. Daneben gibt es aber einige periphere Teilklassen der n-Flexion, deren Pluralbildung durch Stammflexion erfolgt, vgl. Badi-iis — Radi-en und Zykl-us — Zykl-en. Zu (c): Im Mittelhochdeutschen unterscheiden sich die schwachen und die starken Verben u. a. hinsichtlich der Rolle, die die verschiedenen Symbolisierungstypen spielen.

83

3.1. Systemdefinierende Struktureigenschaften

So werden bei den schwachen Verben Person/Numerus und Tempus vorwiegend separat symbolisiert, bei den starken Verben vorwiegend kombiniert.2 Als Marker (bzw. Hauptmarker3) des Präteritums fungiert bei den schwachen Verben das Dentalsuffix, bei den starken Verben der Ablaut, vgl. wir leben — wir leb-t-en und wir geben — wir gäben. Doch da im Präsens und Präteritum zumindest teilweise (noch) unterschiedliche ,Personalflexive' auftreten, bilden diese dann zugleich zusätzliche Tempusmarker. Vgl. die Verhältnisse bei den schwachen und den starken Verben: starke Verben

schwache Verben Präteritum

Präsens l.Ps.Sg. 2. 3.

-et

LPs.Pl. 2. 3.

0

-e

-e

-est

-est

-e

|

-et

0

-e

-en

-en

-et

-et -ent

Präteritum

Präsens

-en

-ent

|

-en

So ist ζ. B. das Flexiv /e/ im Präteritum der starken Verben ein Marker, der das Kategoriengefüge ,2. Person plus Singular plus Präteritum' symbolisiert; das entsprechende Flexiv /est/ der schwachen Verben steht hingegen nur für ,2. Person plus Singular'. Im Mittelhochdeutschen konkurrieren bei den Verben eine separate und eine kombinierte Symbolisierung von Person/Numerus einerseits und Tempus andererseits durch die Flexive miteinander. Zu (d): In der althochdeutschen Substantivdeklination gibt es eine Reihe von nach Anzahl und Ausprägung der Distinktionen unterschiedene Distinktionstypen. Während im Plural nur der Distinktionstyp ,N. = Α. Φ Gr. φ D.' existiert, vgl. N./A.P1. ensti, zungün (zu zunga ,Zunge'), gebä (zu geba ,Gabe') — G. PI. enst(i)o, zungöno, geböno — D.P1. enstim, zungöm, geböm, kommen im Singular sechs verschiedene Typen vor, allein bei den Feminina (unter Vernachlässigung von Einzelfällen) drei, nämlich ,N. = Α. φ G. = D.' wie bei N./A.Sg. anst - G./D.Sg. ensti, ,N. G. = D. = A.' wie bei N.Sg. zunga — G./D./A.Sg. zungün und ,N. = G. = Α. Φ D.' wie bei N./G./ A.Sg. geba — D.Sg. gebu. Hinsichtlich dieses Parameters ist die althochdeutsche Substantivflexion sehr uneinheitlich aufgebaut. Zu (e): Die Substantivdeklination des Mittelhochdeutschen verfügt an Markertypen nicht nur über Suffixe, sondern wie das Neuhochdeutsche auch über den Umlaut. Beide Markertypen treten aber im Mittelhochdeutschen sowohl in der Kasusflexion als auch in der Numerusflexion auf, vgl. die Suffixe bei tac — G.Sg. tag-es — N.P1. tag-e und den Umlaut bei kraft — G.Sg. kreft-e — N.P1. kreit-e. Keiner der beiden Markertypen ist eindeutig dem Numerus- oder dem Kasuskategoriengefüge zugeordnet. Lediglich bezogen auf den Punkt (f) kann das Flexionssystem einer Wortart offenbar nicht uneinheitlich im hier zugrunde gelegten Sinne aufgebaut sein: Entweder gibt es in einer Sprache Flexionsklassen oder es gibt keine. 2

3

Hierbei sind die Personalpronomen als Personal-Numerus-Marker vernachlässigt, in denen sich die schwachen und starken Verben nicht unterscheiden. Zum Begriff des Hauptmarkers vgl. Abschn. 3.2.

β·

84

3. Systemangemessenheit

Die Uneinheitlichkeit im Aufbau von Flexionssystemen gilt nicht nur für die im engeren Sinne flektierenden Sprachen, sondern — zumindest hinsichtlich einiger der Parameter (a) bis (e) — auch für viele Sprachen, die für gewöhnlich als agglutinierend klassifiziert werden. Beispielsweise kommt bei der Pluralbildung der Nomina im Ungarischen außer dem Markertyp Suffix auch der Markertyp Vokalwechsel vor, vgl. fa ,Baum' — Plural fd-k oder ür ,Herr' — Plural ur-ak usw. Weiterhin werden in der ungarischen Konjugation Numerus und Person kombiniert durch einheitliche Marker symbolisiert usw. usf. Wir können zusammenfassend feststellen, daß innerhalb von einzelsprachlichen Flexionssystemen und entsprechenden Teilsystemen in den Punkten (a) bis (e) unterschiedliche Strukturzüge miteinander konkurrieren, teils als Alternativen, teils als ganze Gruppen von Möglichkeiten. Dabei ist jedoch charakteristisch, daß gewöhnlich die miteinander konkurrierenden Strukturzüge im System nicht in ausbalancierter Weise verteilt sind, sondern im System und für das System ein ganz unterschiedliches Gewicht haben. In der Regel ist es so, daß jeweils eine der möglichen Varianten in den Punkten (a) bis (e) innerhalb des Systems bzw. seiner Teilbereiche stark dominiert und das Flexionssystem auf diese Weise prägt. Diese Prägung des Systems zeigt sich nicht nur in der Verteilung der miteinander konkurrierenden Varianten innerhalb des synchron betrachteten Systems. Sie kommt vor allem auch in den Entwicklungen des Systems zum Ausdruck und wird dort besonders deutlich. Um das zu demonstrieren, können wir zu den eben angeführten Beispielen zurückkehren und die sprachhistorische Entwicklung der jeweils angeführten Fakten weiter verfolgen: Zu (a): Die Kasuskategorie des Instrumental verschwindet noch in der althochdeutschen Periode; im Mittelhochdeutschen gibt es dann überhaupt keine"Vorkommen dieses Kasus mehr. Die Fünf-Kasus-Flexion ist zugunsten der Vier-Kasus-Flexion beseitigt. Das Deklinationssystem des Mittelhochdeutschen ist dadurch charakterisiert, daß es über ein für alle Flexionsklassen geltendes einheitliches Kasusgefüge mit Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ verfügt. Zu (b): Im Neuhochdeutschen gibt es eine starke Tendenz, die Grundforniflexion der Substantive auf Kosten der Stammflexion auszudehnen und letztere zu beseitigen. Neben den Pluralformen Radi-en und Zykl-en treten Radiuss-e und Zykluss-e auf, bei denen (wie beim Typ Zirkus) nicht mehr die Stämme /ra:di/ und /t s y:kl/, sondern die vollen lexikalischen Grundformen mit dem Pluralmarker versehen werden. Vgl. dazu auch die in anderem Zusammenhang erwähnten Pluralformen wie die Konto-s, die Tuba-s neben Kont-en und Tub-en. Zu (c): Während der Entwicklung zum Frühneuhochdeutschen hin und im Frühneuhochdeutschen selbst wird die Distinktion zwischen Präsens- und Präteritalflexiven in der 2.Ps.Sg. der starken /est/ vs. /e/ und der 3.Ps.Pl. /ent/ vs. /en/ aller Verben beseitigt, vgl. mhdtsch. du gib-est — du gceb-e > nhdtsch. du gib-st — du gabst und mhdtsch. sie leb-ent — sie lebt-en bzw. sie geb-ent — sie gäb-en > nhdtsch. sie leb-en — sie lebt-en bzw. sie geb-en — sie gab-en. Damit ist die kombinierte Symbolisierung von Person/Numerus einerseits und Tempus andererseits im deutschen Konjugationssystem weitgehend beseitigt und existiert nur noch resthaft in der l./3.Ps.Sg. 4

4

Für weitergehende Ausgleichstendenzen vgl. PAUL (1917: 198).

3.1. Systemdefinierende Struktureigenschaften

85

Zu (d): Noch innerhalb des Althochdeutschen werden die ersten Distinktionstypen in der Substantivflexion abgebaut. Bei den Feminina gilt das für den einzigen Distinktionstyp ohne formale Unterscheidung zwischen Nominativ und Genitiv, den Typ ,N. = G. = Α. Φ D.' wie bei N./G./A.Sg. geba — D.Sg. gebu. An seine Stelle tritt der Distinktionstyp ,N. = Α. Φ G. = D.' wie bei anst. Das geschieht, indem das Dativflexiv der ^eöa-Klasse auf den G.Sg. übertragen wird; N./A.Sg. geba — G./D.Sg. gebu. Dabei ist zu beachten, daß hier keine konkreten Marker von einer Flexionsklasse in die andere übernommen werden, es findet kein Klassenübertritt statt. Es werden vielmehr die Paradigmen einer Flexionsklasse mit internen Mitteln nach den Prinzipien anderer Distinktionstypen rekonstruiert. Zu (e): I n der weiteren Entwicklung des Mittelhochdeutschen treten in den Paradigmen des Typs kraft im G./D.Sg. neben den alten Umlautformen wie krefte unumgelautete Formen wie kraft auf, die sich immer stärker durchsetzen und die ursprünglichen Formen verdrängen. I m Frühneuhochdeutschen sind dann die umgelauteten Flexionsformen des Singular bereits völlig verschwunden. Damit ist der im frühen Mittelhochdeutschen sowohl der Numerus- als auch der Kasussymbolisierung dienende Markertyp Umlaut in der Substantivdeklination jetzt eindeutig dem Numeruskategoriengefüge zugeordnet, wo er den Plural bezeichnet. Abweichend von den Verhältnissen im Türkischen sind in den diskutierten Beispielen jeweils mehrere miteinander konkurrierende Strukturzüge realisiert. Doch die sprachlichen Fakten zeigen, daß es auch in solchen Fällen sinnvoll ist, systemdefinierende Struktureigenschaften anzunehmen. Nur sind sie nicht wie beim türkischen Beispiel einfach mit den a u s s c h l i e ß l i c h v o r k o m m e n d e n Struktureigenschaften gleichzusetzen, sondern bilden diejenigen der miteinander konkurrierenden Strukturzüge, die im System d o m i n i e r e n und seine weitere Entwicklung bestimmen, d. h. die das Flexionssystem als Ganzes typologisch charakterisieren. Die systemdefinierenden Struktureigenschaften in Fällen wie der türkischen Deklination zu bestimmen, ist — wie wir gesehen haben — ziemlich trivial. Es ergibt sich jedoch die Frage, wie diese zu fassen sind, wenn in einem gegebenen System verschiedene Strukturzüge miteinander konkurrieren. Miteinander konkurrierende Strukturzüge innerhalb eines Systems können sich auf unterschiedliche Weise äußern, nämlich — im Verhältnis verschiedener Paradigmen (bzw. Flexionsklassen) zueinander; vgl. ζ. B. im Deutschen die Paradigmen Hund und Zirkus mit Grundformflexion und Radius mit Stammflexion; Hund-e, Zirkuss-e vs. Radi-en; — im Verhältnis von Teilparadigmen innerhalb des gleichen Paradigmas, also etwa im Verhältnis von Singular und Plural oder von Präsens und Präteritum eines Paradigmas, zueinander; vgl. das Paradigma von ahdtsch. tag mit fünf Kasus im Singular vs. vier Kasus im Plural; — im Verhältnis verschiedener Flexionsformen zueinander; erstens von Paradigma zu Paradigma; vgl. noch einmal die Pluralformen Zirkuss-e vs. Radi-en; zweitens innerhalb eines Paradigmas; vgl. die mittelhochdeutschen Formen der l.Ps.Pl. Präs./Prät. leb-enßebt-en, wo die Suffixe nur Person und Numerus symbolisieren vs. 3.Ps.Pl.-Präs./Prät. leb-ent/lebt-en, wo die Suffixe kombiniert Person/Numerus und Tempus symbolisieren; — im Verhältnis verschiedener Marker zueinander, wenn in einer Flexionsform eine Kategorie durch zwei (mehrere) Marker symbolisiert ist; vgl. nhdtsch. den Bär-en,

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3. Systemangemessenheit

wo der Akkusativ sowohl durch die Artikelflexion als auch durch das Suffix repräsentiert wird. Hierbei gilt es dann jeweils zu ermitteln, welche der miteinander konkurrierenden Strukturvarianten die systemdefinierenden Struktureigenschaften realisieren. Während die Prinzipien der systemunabhängigen morphologischen Natürlichkeit, also beispielsweise die des konstruktioneilen Ikonismus, universell vorgegeben und damit unabhängig vom einzelsprachlichen System sind, existieren die systemdefinierenden Struktureigenschaften immer nur durch das einzelsprachliche System und mit dem einzelsprachlichen System. Sie müssen demzufolge für jedes einzelne Flexionssystem speziell ermittelt werden. Die systemdefinierenden Struktureigenschaften sind — wie bereits gesagt — diejenigen morphologischen Struktureigenschaften, die das Flexionssystem als Ganzes typologisch charakterisieren, die Strukturzüge, die sein Wesen, seine Qualität, bestimmen. Doch beim Vorkommen konkurrierender Strukturzüge im System ist diese Qualität zunächst nur quantitativ zugänglich. Qualitatives Bestimmtsein eines Systems durch eine Struktureigenschaft heißt, daß diese Struktureigenschaft gegenüber der/den mit ihr konkurrierenden Struktureigenschaft(en) im System quantitativ überwiegt. Quantität erscheint als Ausdruck von Qualität. 6 Hier ergibt sich die Frage, auf Grund welcher Parameter sich die miteinander im System konkurrierenden Strukturzüge in angemessener Weise quantitativ erfassen lassen. Sprachhistorische Fakten (wie sie oben unter ,Zu (a)' bis ,Zu (e)' zusammengestellt sind) zeigen, daß für die Ermittlung der systemdefinierenden Struktureigenschaften entscheidend ist: (I) die Anzahl und relative Größe der Flexionsklassen, in denen eine Struktureigenschaft realisiert ist (d. h. also die Zahl der Paradigmen, in denen die Struktureigenschaft überhaupt auftritt); (II) das Ausmaß, in dem in diesen Fällen eine Struktureigenschaft realisiert ist (d. h. also die Zahl der Formen, in denen die Struktureigenschaft auftritt). E s sind sicher noch viele Detailuntersuchungen notwendig, ehe man generell sagen kann, ob und wie sich diese beiden Parameter exakt auf eine einheitliche Skala beziehen lassen und — gesetzt den Fall, wir hätten dieses Problem gelöst — wie sich das prozentuale Verhältnis zweier konkurrierender Strukturzüge genau gestalten muß, damit einer von ihnen zur systemdefinierenden Struktureigenschaft werden kann. Dagegen ist es in einem konkret gegebenen Fall meist ohne Schwierigkeiten möglich festzustellen, welcher von zwei oder mehreren konkurrierenden Strukturzügen im System dominiert und entsprechend die systemdefinierende Struktureigenschaft bildet, wozu eine nur verhältnismäßig grob quantifizierende, mehr intuitive Verfahrensweise ausreicht, derer sich sprachtypologische Untersuchungen im allgemeinen bedienen, vgl. noch einmal die Beispiele. Es muß betont werden, daß man damit zu Erkenntnissen über den Aufbau von Flexionssystemen und Vorhersagen über ihre künftige Entwicklung gelangen kann, die sich bisher einer wissenschaftlichen Erklärung weitgehend entzogen. Wenn die systemdefinierenden Struktureigenschaften einer Sprache festgestellt sind, kann leicht überprüft werden, wieweit die einzelnen morphologischen Erscheinungen dieser Sprache ihnen entsprechen, d. h. wie systemangemessen sie sind. Die S y s t e m a n g e m e s s e n h e i t ist der Übereinstimmungsgrad eines Paradigmas (und da6

Zum hier wichtigen Verhältnis von Quantität und Qualität siehe Hökz/Lötheb/Wolloast (1978: 772ff.).

3.1. Systemdefinierende Struktureigenschaften

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mit einer Flexionsklasse), eines Teilparadigmas, einer Flexionsform oder eines morphologischen Markers mit den systemdefinierenden Struktureigenschaften einer Sprache®. Die systemdefinierenden Struktureigenschaften bilden also das Klassifikationsraster, die Systemangemessenheit stellt den Meßwert dar. Die Systemangemessenheit unterscheidet sich vom konstruktioneilen Ikonismus nicht nur durch ihre einzelsprachliche Bedingtheit, sondern auch noch in einer anderen wesentlichen Hinsicht: Während der konstruktionelle Ikonismus die Bewertung einer Semantik-Form-Relation ist, stellt die Systemangemessenheit die Bewertung einer Form-Form-Relation dar, d. h. sie ist rein innermorphologisch zu fassen. Die Systemangemessenheit ist einer der wichtigsten Begriffe zur Explikation der systembezogenen Natürlichkeit in der Morphologie. Wie die angeführten Beispiele aus den verschiedenen Entwicklungsstufen des Deutschen zeigen, wird im Sinne der Systemangemessenheit die Herausbildung und Erhaltung von Flexionssystemen favorisiert, die einheitlich und systematisch aufgebaut sind. Miteinander konkurrierende morphologische Strukturzüge, also nichtfunktionale Uneinheitlichkeiten des Systems hinsichtlich seiner typologischen Hauptparameter, die das System komplizieren und belasten, unterliegen der Tendenz zum Abbau. Durch die Weiterverbreitung der innerhalb des Systems dominierenden Struktureigenschaften wird dieses systematisiert und vereinheitlicht. Auf diese Weise wirkt die Tendenz zur Beseitigung nichtsystemangemessener (sporadischer) Struktureigenschaften einer typologischen Zersplitterung der jeweiligen Sprache, einer zu großen morphologischen Komplexität, entgegen, wie sie sich sonst durch die Einwirkung phonologischer und syntaktischer Faktoren auf die Morphologie zwangsläufig schnell ergeben würde. Das Flexionssystem bleibt handhabbar für die Sprecher.7 An dieser Stelle stellt sich die Frage, welchen Status die systemdefinierenden Struktureigenschaften einer Sprache für den Sprecher haben: Sie sind in ihrer konkreten einzelsprachlichen Ausprägung keine grammatischen Uni Versalien (wenn sie auch als Erscheinung universell sind). Andererseits sind sie auch keine grammatischen Regeln, die vom Kind im Prozeß der Sprachaneignung auf Grund der ihm zur Verfügung stehenden sprachlichen Fakten erworben werden. Mit der Aneignung der morphologischen Regularitäten seiner Sprache erwirbt das Kind zugleich auch die Kenntnis darüber, nach welchen übergeordneten Prinzipien das morphologische System dieser Sprache aufgebaut ist. So gehört es ζ. B. zur Kenntnis eines Sprechers des Türkischen von seiner Sprache, daß in der Substantivflexion i m m e r Grundformflexion auftritt, daß die Kategorien i m m e r separat symbolisiert werden, daß alle Kategorien i m m e r voneinander formal distinkt symbolisiert werden usw. usf. Doch ebenso gehört es zur Kenntnis des Sprechers einer morphologisch uneinheitlich aufgebauten Sprache wie etwa des Althochdeutschen, daß in der Substantivdeklination n o r m a l e r w e i s e Stammflexion auftritt, daß die β 7

Bestimmte Aspekte der Systemangemessenheit werden diskutiert in SUCHSLAHD (1969). In diesem Zusammenhang bietet es sich an, auf den junggrammatischen Begriff des ,Systemzwangs' einzugehen, der in seiner Intention etwa der Tendenz zur Beseitigung nichtsystemangemessener Struktureigenschaften bzw. der Tendenz zur Generalisierung der systemangemessenen Struktureigenschaften entspricht. Vgl. dazu etwa P A U L (1879: 128ff.), wo sich u.a. die Aussage findet, daß der Systemzwang lautlich entwickelte Verhältnisse störe. Allerdings wird der Terminus ,Systemzwang' von den Junggrammatikern nicht nur in bezug auf übergeordnete Struktureigenschaften des Systems, sondern auch im Sinne von Detailanalogien gebraucht.

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3. Syatemangemessenheit

Kategorien im Paradigma normalerweise kombiniert symbolisiert werden, daß normalerweise bestimmte formale Distinktionen und Übereinstimmungen auftreten usw. Zu diesen Bewertungen der Normalität morphologischer Erscheinungen gelangt der Sprecher auf der Basis der ihm zugänglichen sprachlichen Fakten und der auf ihnen beruhenden Regeln. So gesehen sind die systemdefinierenden Struktureigenschaften für den Sprecher Generalisierungen zweiter Stufe. Während in Sprachen ohne miteinander konkurrierende Strukturzüge die vom Sprecher interiorisierten systemdefinierenden Struktureigenschaften einen für die Sprache normativen Charakter haben, bilden sie in Fällen mit konkurrierenden Struktureigenschaften einen Maßstab für die Normalität, d. h. für die systembezogene morphologische Natürlichkeit. Sie repräsentieren die jeweils unmarkierten Varianten miteinander konkurrierender Strukturzüge im Gegensatz zu den verbleibenden markierten Varianten. Das bedeutet zugleich, daß es in Sprachen ohne konkurrierende Strukturzüge keine morphologische Markiertheit hinsichtlich der systembezogenen Natürlichkeit gibt (wohingegen es aber natürlich Markiertheit hinsichtlich der systemunabhängigen Natürlichkeit geben kann). Psycholinguistisch gesehen sind die systemdefinierenden Struktureigenschaften in morphologisch uneinheitlich aufgebauten Sprachen wohl am angemessensten als eingeschliffene Muster zu interpretieren, nach denen im Normalfall Flexionsformen gebildet werden. Sie schließen die Bildung ihnen nicht entsprechender Flexionsformen nicht aus, wirken aber stark prägend auf das gesamte Flexionssystem. Daraus ergibt sich die generelle Tendenz, (noch) nicht bzw. wenig systemangemessene morphologische Erscheinungen durch systemangemessene bzw. mehr systemangemessene zu ersetzen. Speziell die Kindersprache ist voll von nicht normgerechten Flexionsformen, die das zeigen. Vgl. dazu ζ. B. die im Deutschen zu beobachtende Tendenz, den Plural der Substantive gemäß den systemdefinierenden Struktureigenschaften des Neuhochdeutschen durch ein grammatisches Morphem am Wort zu symbolisieren, obwohl die Kategorie durch die Artikelflexion bereits hinreichend gekennzeichnet ist: die Daclcel-s, die Tiger-s, die Fohlens usw. Wie bei allen sprachlichen Innovationen durch das Kind werden auch die durch die systemdefinierenden Struktureigenschaften bedingten unter dem normativen Druck der Sprachgemeinschaft später stark eingeschränkt.8. Wir haben die Systemangemessenheit als den Übereinstimmungsgrad von Paradigmen (Flexionsklassen), Teilparadigmen, Flexionsformen und Markern mit den systemdefinierenden Struktureigenschaften einer Sprache bestimmt. Die Bezugnahme auf den Grad der Übereinstimmung (und nicht einfach auf Übereinstimmung vs. Nichtübereinstimmung) ist zweifach gerechtfertigt: Erstens muß die Systemangemessenheit hinsichtlich fünf verschiedener, voneinander weitgehend unabhängiger systemdefinierender Struktureigenschaften ermittelt werden, und zweitens beruhen auch diese nicht alle auf binären Entscheidungen, vgl. die Punkte (d), Anzahl und Ausprägung der formalen Distinktionen unter den Flexionsformen eines Paradigmas, und (e), auftretende Markertypen bezogen auf die beteiligten Kategoriengefüge. Beispiele sind die erwähnten mehreren Distinktionstypen in der althochdeutschen Substantivflexion für (d) und das Auftreten der drei Markertypen Suffix, Umlaut und Artikelflexion in der Pluralbildung der neuhochdeutschen Substantive. Deshalb wollen wir insgesamt 8

Solche Formen haben sich allerdings in der norddeutschen Umgangssprache durchgesetzt; vgl. dazu weiter unten.

3.1. Systemdefinierende Struktureigenschaften

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gesehen keine binäre Distinktion ,systemangemessen vs. nichtsystemangemessen', sondern eine S k a l a d e r S y s t e m a n g e m e s s e n h e i t von ,maximal systemangemessen' bis,minimal systemangemessen' annehmen. Dagegen kann man bezogen auf diejenigen Punkte, bei denen nur eine Alternative von zwei Möglichkeiten gegeben ist, wie bei(b), Auftreten von Grundformflexion vs. Stammflexion, und (c), separate vs. kombinierte Symbolisierung von Kategorien, durchaus sinnvoll von systemangemessenen bzw. nichtsystemangemessenen morphologischen Erscheinungen sprechen. So ist ζ. B. im Neuhochdeutschen Grundformflexion systemangemessen und Stammflexion nichtsystemangemessen, im Mittelhochdeutschen ist die separate Symbolisierung von Person/Numerus einerseits und Tempus andererseits systemangemessen und die kombinierte Symbolisierung dieser Kategorien nichtsystemangemessen usw. Zusammenfassend können wir hinsichtlich der systemdefinierenden Struktureigenschaften feststellen: Die systemdefinierenden Struktureigenschaften — bilden die typologischen Hauptparameter von Flexionssystemen und Teilflexionssystemen ; — realisieren die Strukturzüge einheitlich aufgebauter bzw. die dominierenden Strukturzüge uneinheitlich aufgebauter Flexionssysteme; — bilden den Maßstab für die Ermittlung des Systemangemessenheitsgrades morphologischer Erscheinungen (Paradigmen, Teilparadigmen, Flexionsformen und Marker); — prägen das Flexionssystem; — bedingen morphologischen Wandel und werden durch diesen Wandel gestärkt; — sind selbst gegen morphologischen Wandel resistent. Damit bestimmen die systemdefinierenden Struktureigenschaften das Wesen eines morphologischen Systems, seine Identität. Sie wirken systemerhaltend. Ein Flexionssystem bleibt trotz bestimmter Veränderungen mit sich selbst solange typologisch identisch, wie seine systemdefinierenden Struktureigenschaften erhalten bleiben; es geht in ein neues System über, wenn sich seine systemdefinierenden Struktureigenschaften verändern. All diese Zusammenhänge zeigen recht gut, daß die systemdefinierenden Struktureigenschaften nicht einfach ein linguistisches Konstrukt darstellen, sondern grammatische Phänomene reflektieren, die im gleichen Sinne objektiv-real auf der Objektebene existieren wie grammatische Regeln und Universalien.9 Morphologische Untersuchungen, die einerseits über reine Faktenpräsentationen und andererseits über die übliche Grobtypologie hinausgehen wollen, können nicht auf die Einbeziehung der systemdefinierenden Struktureigenschaften verzichten, sollen sie ein angemessenes Bild von der Morphologie liefern.10 Die systemdefinierenden Struktureigenschaften einer Sprache insgesamt spezifizieren — bezogen auf die Flexionsmorphologie — etwa das, was COSEBIU (1975: 141ff.) den .Sprachtyp' nennt: „Der Sprachtyp schließlich enthält die funktionellen Prinzipien, d. h. die Verfahrenstypen und die Kategorien von Oppositionen des Systems, und stellt somit die zwischen den einzelnen Teilen des Systems feststellbare funktionelle Kohärenz dar. So verstanden ist der Typ eine objektiv vorhandene sprachliche Struktur . . . Als kategorielle Ebene enthält der Typ virtuell auch Verfahren, die im System noch nicht existieren, aber möglich wären, in Übereinstimmung mit schon als solchen vorhandenen Kategorien der Sprachtechnik." — Vgl. auch Anm. 18 zum Kap. 4. 10 Auch in der Syntax ist das Vorhandensein von systemdefinierenden Struktureigenschaften leicht auszumachen, die sich u. a. in den Stellungsregeln äußern. Ein besonders markantes Beispiel aus dem Deutschen ist der sogenannte ,Satzrahmen'.

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3. Systemangemessenheit

3.2. Zur Systemangemessenheit von Markertypen Wir haben festgestellt, daß für die Ermittlung der systemdefinierenden Struktureigenschaften generell die Anzahl und Größe der Flexionsklassen, in denen eine Struktureigenschaft vorkommt, und das Ausmaß des Auftretens der Struktureigenschaft in diesen Fällen entscheidend sind. Für die Mehrzahl der von uns betrachteten typologischen Parameter lassen sich die entsprechenden Relationen verhältnismäßig gut bestimmen. So kann man ζ. B. ohne Schwierigkeiten konstatieren, daß bei den neuhochdeutschen Substantiven Stammflexion nur in einigen kleinen Teilklassen der w-Flexion vorliegt (vg. u. a. das FresTc-o — die Fresk-en) und daß dabei Stammflexion nur in der Numerusflexion, nicht aber in der Kasusflexion (vgl. des Fresko-s usw.) auftritt. Etwas komplizierter sieht es hinsichtlich der M a r k e r t y p e n aus. Für diese müssen die beiden Kriterien genauer spezifiziert werden, weil erstens in ein und derselben Flexionsform mehrere Marker unterschiedlicher Typen zugleich vorkommen können und zweitens das Verhältnis zwischen Markertyp und Kategoriegefüge in die Betrachtung einbezogen werden muß. Aus diesem Grunde sehen wir für die Ermittlung der Systemangemessenheit von Markertypen die folgenden genauer gefaßten Kriterien vor: (I) das Vorkommen der Markertypen insgesamt, bezogen auf Paradigmen und Teilparadigmen der Flexionsklassen; (II) das Vorkommen der Markertypen als Einzelmarker, bezogen auf Paradigmen und Teilparadigmen der Flexionsklassen; (III) die Anzahl der von den einzelnen Markertypen im Paradigma/Teilparadigma distinguierten Flexionsformen; (IV) die Disambiguierung von Flexionsformen durch einen Markertyp, die durch andere Markertypen nicht disambiguiert werden; (V) das Vorkommen der einzelnen Markertypen zur Symbolisierung von Kategorien des betreffenden Kategoriengefüges. Wir wollen das Funktionieren dieser Kriterien am Beispiel der Kasus- und der Numerusflexion der Substantive im Neuhochdeutschen kurz demonstrieren. Bei der Kasussymbolisierung der neuhochdeutschen Substantive wirken zwei Markertypen, Flexive (genauer: Suffixe) am Wort selbst und Artikelflexion, zusammen. Was das Vorkommen von Markern beider Typen betrifft, so erscheinen Suffixe eigentlich nur noch sporadisch: — /s/ im G.Sg. aller starken Maskulina und Neutra: des Hund-es, des Vati-s, des Wort-es, des Auto-s; — In/ im G./D./A.Sg. aller schwachen Maskulina: des/dem/den Bär-en; — /n/ im D.P1. aller starken Substantive außer denen, die (wie Wagen) auf /-en/ enden: den Hunde-n, den Mäuse-η, den Worte-η, den Wörter-n.11 Die Artikelflexion erscheint dagegen in allen Flexionsklassen, dabei wird sie allerdings im A.Sg.Fem./Neutr. und A.P1. nicht distinktiv wirksam, vgl. die — die bzw. das — das, ebenso im G./D.Sg.Fem.: der — der. Nur Artikelflexion tritt auf: — bei allen Feminina im Singular: diejderjderjdie Frau, Maus, Mutti; — bei allen schwachen Substantiven und s-Pluralen im Plural: diel der/denjdie Bären, Augen, Frauen, Vatis, Muttis, Autos. 11

Das Flexiv /e/ im D.Sg. existiert nur noch resthaft in .gehobener' Sprache: dem Mann-e, dem

Staat-e usw.

3.2. Markertypen

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Dagegen kommen Suffixe allein nur in seltenen Fällen vor, nämlich im G.Sg. bei Namen (Peters Vater) und im unbestimmten D.P1. (er gab Kinder-n immer etwas). In allen Paradigmen des Neuhochdeutschen gibt es mehr durch die Artikelflexion als durch Suffixe distinkte Flexionsformen. So treten ζ. B. bei Substantiven des Typs Hund im Singular vier Artikelformen, aber nur zwei durch Suffix unterschiedene Formen auf, vgl. der — des — dem — den vs. Hund — Hund-es. Im Plural erscheinen drei Artikelformen, aber wiederum nur zwei durch Suffix unterschiedene Formen, vgl. die — der — den vs. Hunde — Hunde-n usw. usf. Entsprechend ist es auch für das Deutsche typisch, daß hinsichtlich der Suffixflexion übereinstimmende Formen durch die Artikelflexion disambiguiert werden, vgl. ζ. B. — N./D./A.Sg. Hund: N. der — D. dem — A. den·, — G./D./A.Sg. Bären·. G. des — D. dem — A. den-, - N./G./D./A.Sg. Frau: N./A. die - G./D. der-, - N./G./D./A.P1. Bären, Frauen, Autos: N./A. die - G. der - D. den.12 Nirgends, d. h. in keinem einzigen Fall, werden jedoch (innerhalb der gleichen Numeruskategorie) mit gleicher Artikelform gebildete Flexionsformen durch unterschiedliche Suffixe disambiguiert. 13 Schließlich bleibt noch festzuhalten, daß keiner der beiden Markertypen innerhalb des Paradigmas ausschließlich Kategorien des Kasusgefüges voneinander differenziert; beide werden auch zur Numerusdifferenzierung genutzt. Wenn man all diese Fakten noch einmal zusammenfassend betrachtet, so zeigt sich ganz eindeutig, daß die Artikelflexion (nach vier von fünf Kriterien) über die Suffixflexion dominiert. Mit anderen Worten: Hinsichtlich des Parameters (e) ist es die systemdefinierende Struktureigenschaft des Neuhochdeutschen, daß die Kasuskategorien durch den flektierten Artikel symbolisiert werden. Diese Annahmen befinden sich in völliger Übereinstimmung mit sich gegenwärtig vollziehenden Sprach Veränderungen im Bereich der deutschen Substantivdeklination: Das /e/ des D.Sg. wie in dem Hund-e statt dem Hund ist heute bereits fast vollständig verschwunden (weshalb wir es auch vernachlässigt haben). Oft weggelassen wird auch das Flexiv /n/ im D./A.Sg., vgl. dem/den Bär anstelle von demjden Bär-en. I n bestimmten Kontexten zeigt sich ebenso schon die Tendenz, das Flexiv /n/ des D.P1. abzubauen, vgl. ζ. B. außer Anlieger, ab 12 Jahre, Eis mit Früchte usw. Der Numerus wird im Neuhochdeutschen bekanntermaßen sogar durch Marker dreier Typen symbolisiert, nämlich Suffixe am Wort, die Artikelflexion und Vokalwechsel (Umlaut). Beginnen wir wieder mit dem Vorkommen der Markertypen. Flexive zur Pluralkennzeichnung erscheinen in allen Flexionsklassen außer bei den Maskulina und Neutra auf /-e1/, /-er/ und /-en/ wie der Spiegel — die Spiegel, das Zimmer — die Zimmer und der Garten — die Gärten und den beiden Feminina die Mutter — die Mütter und die Tochter — die Töchter. Die Artikelflexion kommt bei allen Maskulina und Neutra, nicht bei den Feminina vor, vgl. der — die, das — die, aber die — die.1* Umlaut u

Man beachte, daß dennoch bestimmte Ambiguitäten bleiben: die Hunde (N./A.P1.), die Frau (N./A.Sg.). die Frauen (N./A.P1.). 13 Nicht hierher gehören die Fälle den Hund — den Hund-e-n und der Frau — der Frau-e-n, da hier die Suffixe den Plural symbolisieren. 14 Wir fassen also die Artikelflexion als formale Veränderung des Artikels gegenüber der jeweiligen Grundform.

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3. Systemangemessenheit

tritt bei den er-Pluralen, bei allen starken Feminina und bei der Mehrzahl der starken Maskulina auf: das Lamm — die Lämmer, die Maus — die Mäuse und der Vater — die Väter. Dabei ist nicht unwichtig, daß modifikatorische Marker vom Typ des Umlauts in ihrem Vorkommen notwendigerweise dadurch eingeschränkt sind, daß sie nur bei Wörtern einer bestimmten phonologischen Struktur wirksam werden können. Der Umlaut erfaßt nur Wörter mit hinteren Vokalen und dem hinteren Diphthong au /ao/, vgl. die Lämmer vs. die Rinder oder die Väter vs. die Meister. Ein Suffix allein ist charakteristisch für alle Feminina ohne Umlaut (den bei weitem überwiegenden Teil der Feminina überhaupt): die Frau — die Frau-en, die Mutti — die Mutti-s. Ausschließlich Artikelflexion symbolisiert den Plural bei allen Maskulina und Neutra auf /-el/, /-er/ und /-en/ ohne Umlaut: der Spiegel — die Spiegel, das Zimmer — die Zimmer, der Karpfen — die Karpfen. Umlaut allein schließlich erscheint bei die Mutter — die Mütter und die Tochter — die Tochter. Da das Numerusgefüge im Deutschen nur zwei Kategorien enthält, distinguieren die drei Markertypen beim gemeinsamen Vorkommen im Paradigma immer genau zwei Formen voneinander, so daß sich hier zwischen den Markertypen keine Unterschiede ergeben: der Hund — die Hund-e, der Vater — die V&ter, die J/aus — die Λ/äus-e, der Wolf - die Wölf-o.. Zur Disambiguierung von Formen, die durch zwei Markertypen nicht disambiguiert werden, mittels eines dritten Markers: — Hinsichtlich Artikelflexion und Umlaut nicht voneinander unterschieden sind die Numerusformen aller Feminina ohne Umlaut; sie werden durch Suffixe disambiguiert: die Frau — die Frau-en, die Mutti — die Mutti-». — Hinsichtlich Suffix und Umlaut nicht voneinander unterschieden sind alle Maskulina/Neutra auf /-el/, /-er/ und /-en/ ohne Umlaut; sie werden durch Artikelflexion disambiguiert; der Spiegel — die Spiegel, das Zimmer — die Zimmer usw. — Hinsichtlich Artikelflexion und Suffix nicht unterschieden sind die beiden Feminina Mutter und Tochter; sie werden durch Umlaut disambiguiert: die Mutter — die Mütter. Alle drei Markertypen disambiguieren sich hier also gegenseitig, aber in sehr unterschiedlicher Quantität: Suffixe disambiguieren die Numerusformen einer sehr großen Gruppe von Wörtern, die Artikelflexion immerhin noch die Formen einer beachtlichen Gruppe und der Umlaut lediglich die Formen zweier Wörter. Was die Relation zwischen Markertypen und Kategoriengefügen betrifft, so kennzeichnet der Umlaut ausschließlich den Numerus, während die Artikelflexion gleichermaßen Numerus und Kasus symbolisiert. Suffixe kennzeichnen im Flexionssystem des deutschen Substantivs in erster Linie den Numerus und erst in zweiter Linie den Kasus. Will man auch aus diesen Fakten ein Fazit ziehen, dann zeigt sich hier ebenfalls die Dominanz eines Markertyps. Es dominieren die Suffixe über Artikelflexion und Umlaut, allerdings ist — wie man sehen kann — der Unterschied in der Systemangemessenheit von Suffixen einerseits und Artikelflexion und Umlaut andererseits bei der Numerussymbolisierung nicht so stark wie der Unterschied in der Systemangemessenheit von Artikelflexion einerseits und Suffixen andererseits bei der Kasussymbolisierung. Beispielsweise hat der Umlaut den Vorzug, daß er im Deklinationssystem nur die Kategorie des Plurals symbolisiert. Artikelflexion und Umlaut als Mittel der Pluralkodierung tendieren demzufolge nicht zum Abbau. Man kann jedoch beobachten, daß in verschiedenen umgangssprachlichen Varianten des Deutschen bei solchen Wörtern,

3.3. Beispiele: Substantivdeklination im Nhdtsch.

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wo der Plural eigentlich durch Artikelflexion schon hinreichend gekennzeichnet ist, also speziell den Maskulina und Neutra auf /-el/, /-er/ und /-en/, Pluralformen mit übertragenen Suffixen erscheinen. In der norddeutschen Umgangssprache tritt hier (wie schon für die Kindersprache vermerkt) das Flexiv /s/ auf: die Spiegels, die Zimmer-8, die Dackels.16 Hier zeigt sich die deutliche Tendenz, die entsprechende systemdefinierende Struktureigenschaft weiter auszudehnen. Das Flexionssystem des deutschen Substantivs tendiert also offenbar im Sinne seiner systemdefinierenden Struktureigenschaften zur Kasussymbolisierung ausschließlich durch Artikelflexion, während die Numerussymbolisierung komplex bleibt, aber dazu tendiert, daß der Plural u. a. auch durch ein Suffix symbolisiert wird. Bezogen auf die Kasusflexion der deutschen Substantive sollte man demnach von einem systemangemessenen und einem nichtsystemangemessenen Markertyp sprechen, bezogen auf ihre Numerusflexion besser von mehr bzw. weniger systemangemessenen Markertypen. Wenn in einer Flexionsform eine Kategorie durch mehrere Marker symbolisiert ist, unterscheiden wir zwischen dem H a u p t m a r k e r und dem N e b e n m a r k e r bzw. den Nebenmarkern. In einer Form wie dem Plural die Wölf-e zu der Wolf ist demzufolge das Suffix /e/ der Hauptmarker, und der Umlaut sowie die Artikelflexion bilden die Nebenmarker.16

3.3. Beispiele für den typologischen Aufbau von Flexionssystemen: die Substantivdeklination im Neuhochdeutschen Wir haben bereits eine ganze Reihe von Beispielen für das Funktionieren der systemdefinierenden Struktureigenschaften im einzelnen gegeben, aber abgesehen von der einführenden Betrachtung der türkischen Substantivdeklination noch nicht gezeigt, wie ein Flexionssystem oder Teilflexionssystem insgesamt durch seine systemdefinierenden Struktureigenschaften typologisch charakterisiert ist. In der neuhochdeutschen Substantivflexion gibt es ein NumeruSgefüge mit den Kategorien Singular und Plural sowie ein Kasusgefüge mit den Kategorien Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ. Das gilt durchgängig für alle Flexionsklassen; hinsichtlich des Inventars an Kategoriengefügen und Kategorien existieren keine konkurrierenden Struktureigenschaften.17 15

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Vgl. dazu entsprechende süddeutsche Formen auf /n/ wie die Spiegel-η, die Dackel-η, ausführlicher dazu in Abschn. 4.5. Daß der Artikel nicht universell für die Kasussymbolisierung prädestiniert ist, zeigt sein Vorkommen als Hauptmarker für den Numerus ζ. B. im Französischen und im Maori. Im Französischen ist die Artikelflexion obligatorisch, vgl. bestimmt Singular lejla - Plural les, unbestimmt Singular un/une — Plural des. Das Plural-ä darf heute nur noch in gehobenen Stilschichten vor vokalisch anlautendem Folgewort phonetisch realisiert werden. Über eine wirkliche Pluralsymbolisierung am Wort verfügen nur noch Wörter der Typen cheval ,Pferd' — chevaux und oeil ,Auge' — yeux. Auch im Maori wird der Plural bei allen Substantiven durch den Artikel ausgedrückt, vgl. te taane ,der Mann' — Plural ngaa taane, te kootiro ,das Mädchen' — Plural ngaa kootiro. Nur bei wenigen Wörtern (bestimmten Verwandtschaftsbeziehungen) kommt ein Marker am Wort selbst, nämlich Vokaldehnung, dazu: te matua ,der Elternteil' — Plural ngaa maatuna, die Eltern' und te tuahine ,die Schwester' — Plural ngaa tuaahine (Bioos (1969: 20, 107 f.)). Das interessante Problem des umgangssprachlichen Abbaus des Genitivs kann hier nicht behandelt werden, doch sei es wenigstens an dieser Stelle erwähnt.

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3. Systemangemessenheit

Nach dem Flexionstyp Grundformflexion vs. Stammflexion dominiert im Neuhochdeutschen — wie bereits vermerkt — die Grundformflexion stark. Bei der Kasusbildung tritt überhaupt nur Grundformflexion auf, bei der Pluralbildung überwiegend. Stammflexion existiert nur bei einigen relativ kleinen Teilklassen der «-Flexion, vgl. die Typen Arom-a — Arom-en, Fresk-o — Fresk-en, Radi-us, — Radi-en, Zentr-um — Zentr-en, Ep-os — Ep-en und Stadi-on — Stadi-en. Es sind alles nichtnative Wörter, die mehr oder weniger zum Übergang zur Grundformflexion tendieren, vgl. die Aroma-s usw. Was die separate bzw. kombinierte Symbolisierung von Kategorien unterschiedlicher Kategoriengefüge betrifft, so kann man im Deutschen zwischen der Symbolisierung von Numerus und Kasus am Wort selbst und in der Gesamtform einschließlich des Artikels unterscheiden. Am Wort selbst werden dort, wo ein Pluralkasus überhaupt noch am Wort symbolisiert wird, nämlich im Dativ, Numerus und Kasus separat gekennzeichnet, vgl. Formen wie Hund-e-n, Wölf-e-n, Kind-er-n, Männ-er-n und Μ Utter-n, wo der Plural durch die Suffixe /e/ bzw. /er/ und/oder Umlaut, der Dativ aber durch das Suffix /n/ symbolisiert wird. Formen solcherart haben einen eindeutig agglutinativen Charakter, vgl. die parallele ungarische Flexionsform ember-ek-nek ,Mensch plus Plural plus Dativ', d. h. ,den Menschen'. In der Gesamtform einschließlich des Artikels werden Numerus und Kasus vorwiegend separat gekennzeichnet, der Plural durch Suffix und/oder Umlaut und der Kasus durch Artikelflexion, vgl. dazu Formen des G.P1. wie der Hund-e, der Frau-en, der Mütter und der Wölf-e. Eine kombinierte Numerus-Kasus-Symbolisierung liegt nur bei bestimmten obliquen Pluralformen der Maskulina und Neutra auf /-el/, /-er/ und /-en/ ohne Umlaut vor: der Spiegel (Plural!), der Zimmer. Hier symbolisiert die Artikelflexion Kategorien beider Gefüge zugleich. Vgl. aber auch Fälle wie den Spiegel-η und den Zimmer-n. Auch hinsichtlich der Anzahl und Ausprägung der formalen Distinktionen unter den Flexionsformen der Paradigmen ist zu unterscheiden zwischen der Symbolisierung am Wort selbst und in der Gesamtform mit Artikel. Betrachten wir zunächst die Kasusflexion. Am Wort selbst dominiert das Nichtauftreten formaler Distinktionen, d. h. der , Distinktionstyp' ,N. = G. = D. = ΑΛ Hierher gehören im Singular alle Feminina: (die)der/der/die) Frau, Mutter, Mutti, im Plural alle schwachen Substantive: (diejderj den/die) Affen, Frauen, Augen, alle starken auf /-en/: (die/der/den)die) Gärten und alle s-Plurale: (die/derjdenjdie) Vatis, Muttis, Autos. Daneben erscheint im Singular bei starken Maskulina und Neutra der Distinktionstyp ,N. = D. = Α. Φ G.' (Hund — Hund-es, Kind — Kind-es) und bei schwachen Maskulina ,Ν. φ G. = D. = A.' (Bär — Bär-en, Hase — Hase-η). Im Plural tritt weiterhin der Distinktionstyp ,N. = G. = Α. Φ D.' bei den starken Substantiven außer denen auf /-en/ auf (Hunde — Hunde-n, Mäuse — Mäuse-η, Kinder — Kinder-n). Bei Betrachtung der Gesamtform einschließlich des Artikels ergeben sich drei starke, an Genus und Numerus gebundene Distinktionstypen, vgl. — Mask.Sg.: ,Ν. φ G. Φ D. Φ Α.' mit der — des — dem — den; — Fem.Sg.: ,Ν. = Α. φ G. = D.' mit die - der; — Neutr.Sg. und Plural: ,Ν. = Α. Φ G. Φ D.' mit das — des — dem bzw. die '— der — den.

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3.3. Beispiele: Substantivdeklination im Nhdtsch.

Diese Distinktionstypen sind in ihrer Systemangemessenheit offenbar gleichberechtigt, da sie mit dem unabhängigen syntaktischen Kriterium des Genus verknüpft sind. Bei der Numerusflexion dominiert am Wort selbst der Distinktionstyp ,Sg. # PI.'. Ein Nichtauftreten formaler Distinktion gibt es nur in der Flexion der Maskulina und Neutra auf /-el/, /-er/ und /-en/ ohne Umlaut sowie des Einzelfalls Käse, vgl. (der/die) Spiegel, Käse und (das/die) Zimmer. Bei der Gesamtform einschließlich Artikel existiert nur der Distinktionstyp ,Sg. φ PI.', d. h. mindestens ein Pluralmarker ist immer vorhanden. Wie im vorangehenden Abschnitt eingehend diskutiert, dominiert im Neuhochdeutschen bei der Kasusflexion die Artikelflexion, Suffixe treten nur noch resthaft auf. In der Numerusflexion dominiert der Markertyp Suffix über Artikelflexion und Umlaut, wobei allerdings auch die beiden letzteren Markertypen eine relativ wichtige Rolle spielen. Das Neuhochdeutsche verfügt bekanntermaßen über Flexionsklassen. Damit läßt sich feststellen, daß die neuhochdeutsche Substantivdeklination durch die folgenden systemdefinierenden Struktureigenschaften bestimmt ist: (a) das Vorhandensein eines Numerusgefüges mit den Kategorien Singular und Plural sowie eines Kasusgefüges mit den Kategorien Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ; (b) das Auftreten von Grundformflexion; (c) die separate Symbolisierung von Numerus und Kasus in der Gesamtform und bei Vorhandensein entsprechender Flexive auch am Wort; (d) das Auftreten dreier gleichberechtigter genus-numerus-determinierter Distinktionstypen (Mask.Sg., Fem.Sg. und Neutr.Sg./Plural generell) in der Gesamtform bei der Kasusflexion und dem Nichtauftreten formaler Kasusdistinktionen am Wort selbst (vgl. weiter oben) sowie das Auftreten des Distinktionstyps ,Sg. φ- PL' bei der Numerusflexion in der Gesamtform und am Wort; (e) den Markertyp Artikelflexion in der Kasusbildung sowie den Markertyp Suffix (teilweise kombiniert mit den Markertypen Artikelflexion und/oder Umlaut) in der Numerusbildung; (f) die Existenz von mehr als einer Flexionsklasse. Auf der Basis der eben gewonnenen systemdefinierenden Struktureigenschaften der Substantivflexion des Neuhochdeutschen kann nun der Grad der Systemangemessenheit der einzelnen Deklinationsklassen bestimmt werden. Maximal systemangemessen sind solche Flexionsklassen, die die systemdefinierenden Struktureigenschaften ohne Einschränkung realisieren (wobei es Alternativen nur hinsichtlich der Parameter (b) bis (e) geben kann). Das ist der Fall bei den schwachen Feminina (Typ Frau) und den Feminina mit β-Pluralbildung (Typ Mutti): (3) N.Sg. (a) die Frau (b) die Mutti der Frau der Mutti G. D. der Frau der Mutti A. die Frau die Mutti N.P1. G. D. A.

die der den die

Frau-en Frau-en Frau-en Frau-en

die der den die

Mutti-s Mutti-s Mutti-s Mutti-s

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3. Systemangemessenheit

Hier erscheint Grundformflexion; der Numerus ist durch ein Suffix, der Kasus durch Artikelflexion symbolisiert; am Wort selbst gibt es keine Kasussymbolisierung, der Plural ist dagegen am Wort gekennzeichnet; in der Numerusbildung tritt nur der Markertyp Suffix, in der Kasusbildung der Markertyp Artikelflexion auf. Bei den schwachen Maskulina (Typ Bär) sind im Unterschied dazu die systemdefinierenden Struktureigenschaften nur mit Einschränkungen realisiert: Am Wort erscheint im Singular der Distinktionstyp ,Ν. Φ G. = D. = A.' anstelle von ,N. = = G. = D. = A.' und gleichzeitig tritt dabei das Kasusflexiv /n/ auf. Diese nichtsystemangemessenen Struktureigenschaften sind in der schon erwähnten, sich immer stärker ausbreitenden umgangssprachlichen Flexion von Wörtern dieses Typs beseitigt, so daß auch diese Flexionsklasse dann maximale Systemangemessenheit besitzt, vorausgesetzt, daß auch der G.Sg. durch eine wm-Konstruktion ersetzt wird. Vgl. die beiden Varianten: (b) der Bär (4) N.Sg. (a) der Bär (von dem Bär) des Bär-en G. dem Bär-en dem Bär D. de,η Bär-en den Bär A. N.P1. G. D. A.

die der den die

Bär-en Bär-en Bär-en Bär-en

die Bär-en der Bär-en den Bär-en die Bär-en .

Etwas schwieriger ist die Frage zu beantworten, welche deutschen Substantive minimal systemangemessen sind. Zunächst seien einige Kandidaten dafür zusammengestellt: (5) N.Sg. (a) der Radi-us (b) das Fresk-o (e) das Zimmer (d) der Hund des Badi-us des Fresk-o-s des Zimmer-s des Hund-es G. dem Radi-us dem Fresk-o dem Zimmer dem Hund D. den Radi-us das Fresk-o das Zimmer den Hund A. N.P1. G. D. A.

(a) die die den die

Radi-en Radi-en Radi-en Radi-en

(b) die der den die

Fresk-en (c) die Zimmer (d) die Hund-e Fresk-en der Zimmer der Hund-e Fresk-en den Zimmer-n den Hund-e-n Fresk-en die Zimmer die Hund-e .

Der Typ Radius weicht dadurch von den systemdefinierenden Struktureigenschaften ab, daß er Stanimflexion zeigt. Beim Typ Fresko kommt noch hinzu, daß ein Kasussuffix (im G.Sg.) auftritt, wodurch sich eine formale Kasusdistinktion am Wort ergibt. Der Typ Zimmer weist partiell eine kombinierte Numerus-Kasus-Symbolisierung auf (der Zimmer)·, es erscheinen zwei Kasussuffixe (im G.Sg. und D.P1.) am Wort, dafür aber kein Numerussuffix, so daß daraus formale Kasusdifferenzierungen, aber keine formalen Numerusdifferenzierungen am Wort resultieren. Der Typ Hund verfügt zwar ebenfalls über zwei Kasussuffixe am Wort, hat aber eine entsprechende Numeruskennzeichnung durch ein Suffix. Zunächst einmal ist ohne weiteres klar, daß die Flexionsklasse Zimmer weniger systemangemessen ist als die Flexionsklasse Hund, weil in ihr neben den gleichen noch zusätzliche Abweichungen von den systemdefinierenden Struktureigenschaften auftreten. Aus dem gleichen Grund ist Fresko weniger systemangemessen als Radius.

3.4. Beispiele: Substantivdeklination im Ahdtsch.

97

Wie soll aber nun das Verhältnis zwischen den beiden Gruppen (a/b) und (e/d) ermittelt werden ? Es scheint wenig sinnvoll, hier die nichtsystem angemessenen Züge einfach abzuzählen, zumal sie, wie wir gesehen haben, nicht völlig unabhängig voneinander sind. Es gäbe noch zwei weitere Möglichkeiten. Die eine besteht darin, eine universelle, d. h. für alle Sprachen geltende Hierarchie der Gewichtung zwischen den einzelnen systemdefinierenden Struktureigenschaften anzunehmen. Ob das sinnvoll wäre, darüber ließe sich gegenwärtig wohl nur spekulieren. Wenn man sich jedoch vergegenwärtigt, daß die systemdefinierenden Struktureigenschaften sich aus der quantitativen Verteilung der Strukturzüge innerhalb des Flexionssystems der jeweiligen Sprache ergeben, dann erscheint die Annahme plausibel, daß die relative Gewichtung der einzelnen Parameter (a) bis (e) darauf beruht, wie häufig Abweichungen von den systemdefinierenden Strukturzügen hinsichtlich der einzelnen Parameter sind. So unterscheiden sich — auf die wesentlichen Punkte gebracht — die Typen Fresko und Zimmer darin, daß bei Fresko die nichtsystemangemessene Struktureigenschaft der Stammflexion auftritt, während bei Zimmer im Gegensatz zur entsprechenden systemdefinierenden Struktureigenschaft kein Pluralsuffix am Wort erscheint. Stammflexion gibt es im Neuhochdeutschen nur bei einer sehr beschränkten Anzahl von Substantiven, die sämtlich nichtnativ sind und dazu noch relativ selten vorkommen. (Sie haben also sowohl eine niedrige Type- als eine niedrige Tokenfrequenz.) Damit verglichen sind die Substantive der Zimmer-Spiegel-K.la.aae wesentlich häufiger und werden auch wesentlich mehr gebraucht. Man denke nur an die zahlreichen Nomina agentis des Typs der Fahrer — die Fahrer. Entsprechend diesen Fakten müßten die Substantive des Typs Fresko weniger angemessen sein als die des Typs ZimmerISpiegel, eine Annahme, die offenbar der Intuition des normalen Sprechers des Deutschen voll entspricht. Damit wären die Substantive des Typs Fresko, zu denen u. a. auch Aroma, Zentrum und Stadium gehören, innerhalb des substantivischen Flexionssystems des Neuhochdeutschen relativ am wenigsten systemangemessen.

3.4. Beispiele für den typologischen Aufbau von Flexionssystemen: Die Substantivdeklination im Althochdeutschen Das zweite Beispiel für den typologischen Aufbau eines Flexionsteilsystems soll die Substantivdeklination des Althochdeutschen sein. Dieser Fall empfiehlt sich nicht zuletzt auch deshalb, weil dadurch die bedeutenden typologischen Veränderungen sichtbar werden, die die deutsche Substantivflexion seit althochdeutscher Zeit durchgemacht hat. Das Gefüge der Numeruskategorien besteht im Althochdeutschen wie im Neuhochdeutschen aus Singular und Plural. Im Kasusgefüge konkurrieren ein Vier-KasusSystem und ein Fünf-Kasus-System miteinander, das außer Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ noch einen Instrumental enthält. Dabei dominiert eindeutig das Vier-Kasus-System, denn der Instrumental kommt nur im Singular der α-Deklination, der ja-Deklination und der ΐ-Deklination vor, vgl. tag — I.Sg. tagu, hirti — I.Sg. hirtiu usw. In allen anderen Flexionsklassen und auch im Plural der genannten existiert kein Instrumental mehr. 7 stud, gramm. XXI

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3. Systemangemessenheit

Im Althochdeutschen dominiert hinsichtlich des Flexionstyps noch eindeutig die Stammflexion gegenüber der Grundformflexion: Von den elf größeren Flexionsklassen funktionieren sieben nach der Stammflexion, und zwar die Typen hirt-i, lcunn-i, geb-a ,Gabe', sunt-a ,Sünde', bot-o, will-eo ,Wille' und zung-a ,Zunge', während nur die restlichen vier, die Typen tag, wort, gast und anst, Grundformflexion aufweisen. Abgesehen von einer kleinen Deklinationsklasse, den Neutra mit ir-Pluralbildung wie rind ,Rind' und lamb ,Lanmi', tritt bei den althochdeutschen Substantiven durchgängig eine kombinierte Symbolisierung von Numerus und Kasus auf, vgl. tag — Ν .PI. tag-a — G.P1. tag-o. Dabei steht das Flexiv /o/ für das Kategorienbündel,Plural plus Genitiv'. Vgl. dazu den Fall von rind — N.P1. rind-ir — G.P1. rind-ir-o, wo /ir/ Pluralmarker ist und das Flexiv /o/ somit faktisch einen separaten Kasusmarker darstellt. In Fällen wie lamb — N.P1. lemb-ir — G.P1. lemb-ir-o tritt im Plural zusätzlich noch Umlaut auf. Während des Althochdeutschen bildet sich dann in einer weiteren, größeren Flexionsklasse ein separater Pluralmarker heraus, nämlich bei den Maskulina der i-Deklination vom Typ gast. Indem hier der ursprünglich umgelautete I.Sg. gestiu durch g&stiujgs^tu ersetzt wird, ergibt sich ebenfalls die Distribution ,kein Umlaut im Singular — Umlaut im Plural', vgl. gast — N.P1. gest-i — G.P1. gest-(e)o. Im Althochdeutschen gibt es keine einheitlichen dominierenden Distinktionstypen in der Kasus- und Numerusflexion. In beiden Fällen sind die Distinktionstypen genusbezogen. Bei den Maskulina und Neutra im Singular dominiert (wenn wir den Instrumental vernachlässigen) der Distinktionstyp ,N. = Α. Φ G. Φ D.', vgl. N./A.Sg. tag — G.Sg. tag-es — D.Sg. tag-e. Daneben kommen hier die Typen ,Ν. φ G. = D. Φ Α.' (N.Sg. bot-o - G./D.Sg. bot-en - A.Sg. bot-on), ,N. = A. ^ G. = D.' (N./A.Sg. herz-a - G./D.Sg. herz-en) und ,N. = G. = D. = A.' (N./G./D./A.Sg. fater ,Vater') vor. Der bei den Maskulina und Neutra im Singular dominierende Distinktionstyp ,Ν. = Α. Φ G. Φ D.' ist zugleich der einzige im Plural vorkommende Distinktionstyp überhaupt, vgl. N./A.P1. tag-a, bot-on, geb-a, wort — G.P1. tag-o, bot-öno, geb-δηο, wort-o — D.P1. tag-um, bot-öm, geb-öm, wort-um. Unter solchen Bedingungen könnte man annehmen, daß dieser starke Distinktionstyp auch die femininen Substantive im Singular dominiert, doch das ist nicht der Fall. Der bei den Feminina dominierende Distinktionstyp ist ,Ν. = Α. Φ G. = D.', vgl. N./A.Sg. anst — G./D.Sg. enst-i. Dieser Distinktionstyp dominiert, obwohl er konsequent nur in einer der drei großen femininen Flexionsklassen, der i-Deklination, realisiert ist. Doch die Bestandteile' dieses Distinktionstyps treten in den beiden anderen Flexionsklassen auf, nämlich die Übereinstimmung von Genitiv und Dativ bei den schwachen Feminina (Distinktionstyp ,Ν. Φ G. = D. = A.', vgl. N.Sg. zung-a — G./D./A.Sg. zung-ün) und die Übereinstimmung von Nominativ und Akkusativ in der ö-Deklination (Distinktionstyp ,N. = A. = G. Φ D.', vgl. N./A./G.Sg. geb-a — D.Sg. geb-u). Die aus den synchronen Verhältnissen des frühen Althochdeutschen gewonnene Erkenntnis, daß der Distinktionstyp ,Ν. = Α. Φ Ο . — D.' bei den Feminina eine systemdefinierende Struktureigenschaft des Althochdeutschen darstellt, wird bestätigt durch Sprachveränderungen während der althochdeutschen und mittelhochdeutschen Zeit. Die Feminina der öDeklination gehen vom Distinktionstyp ,N. = A. = G. φ D.' zum dominierenden Distinktionstyp ,Ν. = Α. Φ G. = D.' über, d. h. zu N./A. geb-a — G./D. geb-u. Desweiteren schließen sich später die femininen Verwandtschaftsnamen des Typs muoter durch Übertritt zur (revidierten) ö-Deklination ebenfalls diesem D i s t i n k t i o n s t y p an.

3.4. Beispiele: Substantivdeklination im Ahdtsch.

99

Auch die Distinktionstypen in der Numerusflexion sind wie gesagt genusbezogen. Wenn wir uns der Einfachheit halber jeweils auf das Verhältnis von N.Sg. und N.P1. beziehen, so ergibt sich, daß bei den Maskulina und Feminina der Distinktionstyp ,Sg. Φ PI.' bei weitem dominiert, während bei den Neutra ebenso deutlich die formale Übereinstimmung von Singular und Plural vorherrscht. Für die Maskulina/Feminina, vgl. ζ. B. N.Sg. tag, bot-o, gast·, anst, geb-a, zung-a — N.P1. tag-a, gest-i, bot-on; enst-i geb-ä, zung-ün, für die Neutra dagegen N.Sg./Pl. wort, kunni, (partiell) herza. Übereinstimmung zwischen Singular- und Pluralformen bei den Maskulina und Feminina sowie Nichtübereinstimmung bei den Neutra treten nur in jeweils ganz niedrig belegten Flexionsklassen, d. h. in wenigen Fällen auf, vgl. einerseits N.Sg./Pl. muoter, hohl ,Höhe', man ,Mann' und friunt ,Freund' und andererseits N.Sg. rind, herz-a — N.P1. rind-ir und (partiell) herz-un. Hinsichtlich der Markertypen dominiert in der althochdeutschen Substantivdeklination sowohl in der Kasus- als in der Numerussymbolisierung der Markertyp Suffix. Daneben kommt, im frühen Althochdeutschen noch konsequent bedingt durch Suffixe mit dem Vokal /i/, auch Umlaut vor. I n der Kasusflexion tritt der Umlaut im I.Sg. der maskulinen i-Substantive auf, vgl. gast — I.Sg. gestiu, ebenso im G./D.Sg. der femininen i-Substantive, vgl. anst — G./D.Sg. ensti und im G./D.Sg. der schwachen Maskulina, vgl. hano,Hahn' — G./D.Sg. hmin (älteste Form). In der Numerusflexion, also im Plural, erscheint der Umlaut bei den Substantiven mit ir-Pluralbildung sowie bei Maskulina und Feminina der i-Deklination, vgl. N.Sg. lamb, gast, anst — N.P1. lemb-ir, gest-i, mst-i. Wegen seiner phonologischen Bedingtheit ist der Umlaut im frühen Althochdeutschen noch kein selbständiger Kategorienmarker, sondern bildet eine Art von ,Quasimarker'.18 Seine Entwicklung zum echten Marker ergibt sich dadurch, daß die umgelauteten Singularformen noch in althochdeutscher bzw. in mittelhochdeutscher Zeit durch die entsprechenden unumgelauteten ersetzt werden und gleichzeitig das ursprünglich umlautbedingende /i/ auf phonologischem Wege abgebaut wird. Damit kann dann der Umlaut als wirkliches Numerusmarker fungieren. Wie das Neuhochdeutsche so hat auch das Althochdeutsche, wie wir an vielen Beispielen gesehen haben, substantivische Flexionsklassen. Wenn wir jetzt wieder zusammenfassen, so können wir festhalten, daß die althochdeutsche Substantivflexion durch die folgenden systemdefinierenden Struktureigenschaften charakterisiert ist: (a) das Vorhandensein eines Numerusgefüges mit den Kategorien Singular und Plural sowie eines Kasusgefüges mit den Kategorien Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ; (b) das Auftreten von Stammflexion; (c) die kombinierte Symbolisierung von Numerus und Kasus; (d) das Auftreten zweier gleichberechtigter genus-numerus-determinierter Distinktionstypen (Mask.Sg./Neutr.Sg./Plural generell und Fem.Sg.) bei der Kasusflexion sowie das Auftreten zweier gleichberechtigter genusdeterminierter Distinktionstypen (Maskulinum/Femininum und Neutrum) bei der Numerusflexion; (e) den Markertyp Suffix; (f) die Existenz von Flexionsklassen. 18



Zum Begriff des Quasimarkers vgl.

WURZEL

(1980d).

100

3. Systemangemessenheit

Wiederum läßt sich auf der Basis dieser Kriterien der Systemangeniessenheitsgrad der einzelnen Flexionsklassen ermitteln. Am stärksten systemangemessen sind die durch die folgenden Paradigmen repräsentierten Flexionsklassen des Althochdeutschen: (6) N.Sg. G. D. A. N.P1. G. D. A.

(a) geb-a geb-a geb-u geb-a geb-ä geb-öno geb-öm geb-ä

(c) zung-a zung-ün zung-ün zung-ün

(b) bot-o bot-en bot-en bot-on bot-on bot-öno bot-öm bot-on

zung-ün zung-öno zung-öm zung-ün .

Der Typ geba erfüllt mit einer Ausnahme alle Kriterien der Systemangemessenheit: Er verfügt über keine Instrumental-Bildung, funktioniert nach der Stammflexion und gehört als Nichtneutrum hinsichtlich der Numerusflexion zum Distinktionstyp ,Sg. φ PI.'. Die Ausnahme besteht darin, daß die Kasusflexion dieses Typs nicht nach dem für Feminina systemangemessenen Distinktionstyp ,N. = Α. Φ G. = D.', sondern nach dem (nur partiell systemangemessenen) Distinktionstyp ,N. = A. = G. Φ D.' funktioniert. Maximale Systemangemessenheit gewinnen diese Substantive durch den während des Althochdeutschen vollzogenen Ubergang zum Distinktionstyp ,N. = Α. φ G. = D.', vgl. N./A./G.Sg. geba - D.Sg. gebu > N./A.Sg. geba - G./D.Sg. gebu. Auch die Typen boto und zunga zeigen bis auf einen Punkt Übereinstimmung mit den systemdefinierenden Struktureigenschaften. Wiederum besteht die Abweichung im Distinktionstyp der Kasusflexion im Singular. Das Maskulinum boto hat statt ,N. = Α. Φ G. Φ D.' den Distinktionstyp ,Ν. Φ G. = D. Φ Α.', das Femininum zunga statt ,Ν. = Α. Φ G. = D.' den Distinktionstyp ,Ν. Φ G. = D. = ΑΛ Am wenigsten reflektieren die beiden folgenden Paradigmen die systemdefinierenden Struktureigenschaften der althochdeutschen Substantivdeklination. N.Sg. G. D. A. I. N.P1. G. D. A.

(a) lamb lamb-es lamb-e lamb lamb-u lemb-ir lemb-ir-o lemb-ir-um lemb-ir

(b) man man man man —

man mannmann· man .

Der Typ lamb weicht von den systemdefinierenden Struktureigenschaften dadurch ab, daß er einen I.Sg. bildet, Grundformflexion hat, Numerus und Kasus separat symbolisiert und als neutrale Flexionsklasse dem Distinktionstyp ,Sg. φ PI.' folgt. Von den systemdefinierenden Struktureigenschaften, in deren Auftreten sich die althochdeutschen Flexionsklassen unterscheiden, den Kriterien (a) bis (d), realisiert er nur die singularische Kasusdistinktion ,Ν. = Α. Φ G. Φ D.'. Das Substantiv man (ein sogenanntes ,Wurzelnomen') hat Grundformflexion und folgt sowohl in der K a s u s f l e x i o n des Singular als a u c h in der N u m e r u s f l e x i o n abweichenden Distinktions-

3.4. Beispiele: Substantivdeklination im Ahdtsch.

101

typen. Es folgt den systemdefinierenden Struktureigenschaften (a) und (c), d. h. hat keinen I.Sg. und symbolisiert Numerus und Kasus kombiniert. Die übrigen Flexionsklassen des althochdeutschen Substantivs liegen hinsichtlich ihrer Systemangemessenheit etwa in der Mitte zwischen den durch die Typen geba einerseits und lamb andererseits markierten Extremen. So haben die Typen tag, wort und anst eine kombinierte Numerus-Kasus-Kennzeichnung und entsprechen in ihren formalen Kasus- und Numerusdistinktionen den systemdefinierenden Struktureigenschaften (tag/wort: ,N. = Α. φ G. φ D.', anst: ,N. = Α. Φ G. = D.' im Singular; tag/anst: ,Sg. φ PI.', wort: ,Sg. = PI.'), bilden aber alle einen I.Sg. und funktionieren nach der Grundformflexion usw. Wenn wir die systemdefinierenden Struktureigenschaften der Substantivdeklination im Althochdeutschen und im Neuhochdeutschen miteinander vergleichen, so zeigen sich sowohl bedeutende Unterschiede, aber auch unerwartete Übereinstimmungen. Ubereinstimmung herrscht hinsichtlich des Kriteriums (a). Es dominieren die gleichen Kategoriengefüge und Kategorien. Während aber im Althochdeutschen mit dem VierKasus-System ein Fünf-Kasus-System im Singular konkurriert, kommt im Neuhochdeutschen ausschließlich ein "Vier-Kasus-System vor. Im Althochdeutschen dominiert die Stammflexion, im Neuhochdeutschen die Grundformflexion. Dabei ist aber zu beachten, daß im Althochdeutschen die Grundformflexion bereits relativ stark ist (vgl. die Typen tag, wort, gast und anst), die Stammflexion im Neuhochdeutschen aber nur in einigen kleinen nichtnativen Teilklassen und auch dort nur bei der Pluralbildung erscheint. In diesem Zusammenhang ist es nicht uninteressant, daß im Mittelhochdeutschen überhaupt keine Stammformflexion vorkommt und diese nach ihrem völligen Verschwinden durch die Entlehnung von Wörtern aus anderen Sprachen und deren nur unvollkommene Anpassung an das deutsche Deklinationssystem erst wieder neu etabliert wird. Im Althochdeutschen dominiert die kombinierte Symbolisierung von Numerus und Kasus, im Neuhochdeutschen die separate, wobei in beiden Systemen (aus unterschiedlichen Gründen) Abweichungen vorkommen. Wirklich überraschend ist die große Übereinstimmung zwischen den Distinktionstypen des Althochdeutschen und des Neuhochdeutschen. In den formalen Kasusdistinktionen gibt es (bei Vernachlässigung des althochdeutschen I.Sg.) nur Unterschiede bei den Maskulina. Während im Althochdeutschen der Distinktionstyp ,N. = Α. Φ G. Φ D.' (tag — tag-es — tag-e) dominiert, gibt es im Neuhochdeutschen (bezogen auf die Gesamtform) nur den Distinktionstyp ,Ν. φ G. φ D. # A.' (der Tag — des Tag-es — dem Tag — den Tag). Bei den Feminina und Neutra im Singular sowie im Plural generell haben sich hingegen die im Althochdeutschen dominierenden Distinktionstypen im Neuhochdeutschen voll durchgesetzt, bei den Feminina ,Ν. = A. Φ G. = D.' (ahdtsch. geb-a — geb-u > nhdtsch. die Gabe — der Gabe), bei den Neutra und im Plural ,Ν. = Α. φ G. φ D.' (ahdtsch. wort — wort-es — wort-e > nhdtsch. das Wort — des Wort-es — dem Wort; ahdtsch. tag-a — tag-o — tag-um > nhdtsch. die Tage — der Tage — den Tage-η). Auch der im Althochdeutschen bei den Maskulina und Feminina dominierende Distinktionstyp der Numerusflexion ,Sg. φ PI.' ist der im Neuhochdeutschen einzig vorkommende, und zwar nicht nur bei Feminina und Maskulina, sondern auch bei den Neutra (ahdtsch. tag — tag-a und geb-a — geb-ä; ahdtsch. wort — wort > nhdtsch. der Tag — die Tag-e, die Gabe — die Gabe-η, das Wort — die Wort-e).

102

3. Systemangemessenheit

Wenn wir überprüfen, welche Unterschiede zwischen beiden Flexionssystemen bestehen, dann zeigt sich zunächst, daß es im Althochdeutschen nur zwei (Mask./ Neutr.Sg.; Plural generell vs. Fem.Sg.), im Neuhochdeutschen jedoch drei (Mask.Sg. vs. Fem.Sg. vs. Neutr.Sg./Plural generell) dominierende genus-numerus-bestimmte Distinktionstypen gibt. Während aber im Althochdeutschen jeweils noch konkurrierende Distinktionstypen vorhanden sind, ist das im Neuhochdeutschen nicht mehr der Fall. Entgegen landläufigen Auffassungen müssen wir ferner konstatieren, daß nicht nur in der Numerusbildung, sondern auch in der Kasusbildung im Neuhochdeutschen, verglichen mit dem Althochdeutschen, ein Mehr an formaler Differenzierung vorliegt, vgl. nochmals ahdtsch. N./A.Sg. tag — G.Sg. tag-es — D.Sg. tag-e mit nhdtsch. N.Sg. der Tag — G.Sg. des Tag-es — D.Sg. dem Tag — A.Sg. den Tag. Letzteres ergibt sich aus der Verlagerung der Kasussymbolisierung vom Substantiv selbst auf den Artikel. Während im Althochdeutschen der Markertyp Suffix in der Kasus- und der Numerusbildung dominiert, ist im Neuhochdeutschen eine Funktionsteilung dergestalt eingetreten, daß in der Kasusflexion der Markertyp Artikelflexion und in der Numerusflexion der Markertyp Suffix dominiert, wobei er in der Numerusbildung ζ. T. kombiniert mit Artikelflexion und/oder Umlaut auftritt. Durch diesen kurzen Vergleich der systemdefinierenden Struktureigenschaften des Althochdeutschen und des Neuhochdeutschen im Bereich der Substantivflexion wird zugleich der unterschiedliche sprachhistorische Stellenwert deutlich, den nichtsystemangemessene Struktureigenschaften innerhalb eines Flexionssystems haben können. Sie repräsentieren entweder alte, im Abbau begriffene oder neue, sich ausbreitende Struktureigenschaften. Alte nichtsystemangemessene Struktureigenschaften sind im Althochdeutschen beispielsweise das im Singular partiell auftretende Fünf-KasusSystem und nicht- bzw. nur teilweise systemangemessene Distinktionstypen wie ,N. = G. = D. = A.' oder ,Ν. Φ G. = D. = ΑΛ Struktureigenschaften, die noch nichtsystemangemessen sind, stellen ζ. B. die Grundformflexion und die separate Symbolisierung von Numerus und Kasus dar, die beide später systemdefinierende Struktureigenschaften des Neuhochdeutschen und auch bereits schon des Mittelhochdeutschen bilden.

3.5. Bedingungen des Wechsels von systemdefinierenden Struktureigenschaften Alle von uns in diesem Kapitel in die Betrachtung einbezogenen sprachhistorischen Entwicklungen waren dadurch charakterisiert, daß im Rahmen von Sprachveränderungsprozessen nicht- oder wenig systemangemessene morphologische Erscheinungen abgebaut wurden: Die systemdefinierenden Struktureigenschaften bedingten die Zurückdrängung bzw. den völligen Abbau entsprechender konkurrierender Struktureigenschaften. Die systemdefinierenden Struktureigenschaften selbst wurden durch diese Sprachveränderungen nicht betroffen. Daraus zogen wir die Schlußfolgerung, daß die systemdefinierenden Struktureigenschaften morphologischen Wandel determinieren und durch einen solchen Wandel gestärkt werden, selbst aber gegen morphologischen Wandel resistent sind. Andererseits haben wir gesehen, daß die systemdefi-

3.5. Wechsel von Struktureigenschaften

103

nierenden Struktureigenschaften in ihrer konkreten Ausprägung nicht universell sind; verschiedene Sprachen verfügen über unterschiedliche systemdefinierende Struktureigenschaften und auch verschiedene Entwicklungsstufen ein und derselben Sprache können sich darin unterscheiden. Das setzt natürlich voraus, daß auch die systemdefinierenden Struktureigenschaften durchaus der Veränderung in der Zeit unterworfen sind. Doch unter welchen Bedingungen tritt nun ein solcher Wandel der systemdefinierenden Struktureigenschaften ein ? Wir wollen im folgenden versuchen, diese Frage zu beantworten. Zu diesem Zweck werden wir eine Reihe von Fällen diskutieren, in denen ein Wandel von systemdefinierenden Struktureigenschaften eintritt. Wir folgen dabei den oben vorgegebenen Parametern (a) bis (f). Betrachten wir zunächst zwei Beispiele, wo sich systemdefinierende Struktureigenschaften hinsichtlich des Kategorieninventars verändern: Es ist eine systemdefinierende Struktureigenschaft des Altschwedischen, daß in dieser Sprache ein Kasusgefüge mit einem einheitlichen Vier-Kasus-System existiert, zu demNominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ gehören. Dagegen gibt es im Neuschwedischen ein durchgängiges Zwei-Kasus-System mit den Kategorien ,Einheitskasus' (in schwedischsprachigen Grammatiken meist als, grundform' bezeichnet) und Genitiv. Einen Abschnitt in der dazwischenliegenden Reduktion des Vier-Kasus-Systems bildet die Neutralisierung von Nominativ und Akkusativ, die hier kurz dargestellt werden soll.19 Im Kasusgefüge des Altschwedischen existieren also u. a. die beiden unabhängigen Kasuskategorien Nominativ und Akkusativ. I n einer Reihe von Paradigmen und Teilparadigmen haben diese beiden Kasus bereits die gleichen Formen, nämlich bei allen starken Feminina, bei allen Neutra und im Plural der maskulinen r-Stämme, wJ-Stämme und Wurzelnomina sowie der schwachen Feminina, vgl. (8) (a) N./A.Sg. graf für ρ bok mopir skip ögha (b)

(fapir (bondi (,foter (gata

,Graben, Grab' - N./A.P1. gravar ,Fahrt' färpir ,Buch' böker ,Mutter' möper ,Schiff' skip öghun ,Auge' ,Vater':) ,Bauer':) ,Fuß':) ,Straße':)

N./A.P1.

fäper bonder föter gatur.

Noch innerhalb des Altschwedischen findet dann ein Lautwandel statt, durch den ein /r/ zwischen einem Vokal und der Wortgrenze abgebaut wird, vgl. ζ. B. N.Sg. skor ,Schuh' - A.Sg. sko — N.P1. skoar - A.P1. skoar > N./A.Sg. sko — N./A.P1. skoa.20 Durch diesen Wandel wird die formale Distinktion zwischen Nominativ und Akkusativ nicht nur bei den starken Maskulina des Typs bror, sondern zusätzlich auch 19 10

Wir berücksichtigen der Einfachheit der Darstellung halber hier nur die unbestimmten Formen, d. h. die Formen ohne Schlußartikel. Dieser Abbau des /r/ erfolgt nicht in solchen Fällen, wo zwischen einem Konsonanten und /r/ vor Wortgrenze sekundär ein Epenthesevokal je/ eingeschoben wurde wie in fiskr > fisker und

rättr > rätter.

104

3. Systemangemessenheit

im Plural sämtlicher Maskulina beseitigt, die bislang unterschiedliche Formen hatten, vgl. N.Sg. fisker , F i s c h ' : N.P1. fiskar - A.P1. fiska > N./A.P1. fiska, N.Sg. rätter , R e c h t ' : rättir — A.P1. rätti > N./A.P1. rätti u n d N.Sg. loghi , F l a m m e ' : N.P1. loghar

— A.P1. logha > N./A.P1. logha. Der phonologische Wandel bedingt die Entstehung einer neuen systemdefinierenden Struktureigenschaft des Schwedischen, nämlich der formalen Gleichheit von Nominativ und Akkusativ beim Substantiv (Distinktionstyp ,N. = A.'); das Vorhandensein einer formalen Distinktion zwischen Nominativ und Akkusativ ist nicht mehr systemangemessen. Das kommt zunächst darin zum Ausdruck, daß bei der Wiederherstellung des /r/ als deutliches Pluralzeichen dieses undifferenziert an den N.P1. und den A.P1. angefügt wird und somit N.P1. und A.P1. ihre einheitliche Form behalten: fisker — N./A.P1. fiskar, loghi — N./A.P1. loghar. Die durch eine phonologische Veränderung entstandene starke Dominanz der formalen Gleichheit von Nominativ und Akkusativ hat zur Folge, daß diese sich auf morphologischem Wege weiter im System verbreitet. Seit dem 14. Jahrhundert tritt entsprechend der Ausgleich zwischen Nominativ und Akkusativ im Singular der starken Maskulina der Typen fisker —fisk und rätter — rätt zugunsten der kürzeren Akkusativformen ein. Es folgen die schwachen Maskulina wie läge — l&ga (< loghi — logha) und gösse ,Junge' — gossa, bei denen sich ζ. T. die Nominativ- und ζ. T. die Akkusativformen durchsetzen, vgl. modern schwed. gösse und läga.21 Bei den schwachen Feminina wie gata — gato werden die Nominativformen verallgemeinert. Mit dem Abbau der letzten voneinander formal unterschiedlichen Nominativ- und Akkusativformen verschwindet in der Substantivdeklination die Kasusdistinktion ,Nominativ vs. Akkusativ' überhaupt, die übrigens auch durch Artikel- und Adjektivflexion nicht mehr gestützt wurde.22 An die Stelle von Nominativ und Akkusativ ist der ,Einheitskasus' getreten, das Kasusgefüge ist um eine Kategorie reduziert worden. Hinsichtlich des Kasusgefüges haben sich die systemdefinierenden Struktureigenschaften des Schwedischen verändert. Im Laufe der Sprachgeschichte können nicht nur morphologische Kategorien verschwinden, sondern auch entstehen. So bildeten sich beispielsweise in der Entwicklung vom Altungarischen zum modernen Ungarischen die Kasuskategorien Inessiv, Elativ und Illativ aus syntaktischen Konstruktionen mit deklinierten Formen des Substantivs bele ,das Innere' heraus. Auf Grund der Akzentverhältnisse, also von phonologischen Faktoren, wurden die Formen von bele lautlich stark reduziert und verschmolzen mit dem vorangehenden Substantiv, so daß sie schließlich zu Kasusflexiven wurden. Ihr Vokalismus wurde entsprechend der Vokalharmonie angepaßt. Vgl. den Bildungstyp (9) (a) hdz belen ,im Inneren des Hauses > häzban ,im Haus' (a) hdz belel ,aus dem Inneren des Hauses > häzböl ,aus dem Haus' (a) hdz bele ,in das Innere des Hauses' > häzba ,in das Haus'. 21 22

Im allgemeinen setzen sich bei belebten Substantiven die Nominativformen, bei unbelebten die Akkusativformen durch, vgl. W E S S E N (1969: 138f. und 189ff.). Reste der früheren systematischen Nominativ-Akkusativ-Distinktion gibt es im modernen Schwedischen wie im Englischen bei den Personalpronomen, vgl. jag ,ich' — mig, han ,er' — honorn (alte Dativform!) und vi ,wir' — oss. Sie stellen jedoch unsystematische, lexikalisierte Fälle dar, von denen her man nicht die Existenz eines Akkusativs oder morphologischen Objektkasus schhißfolgern kann; vgl. Abschn. 1.4.

3.5. Wechsel von Struktureigenschaften

105

Auf diese Weise wurde das Kasuskategoriengefüge des Ungarischen um drei Kategorien erweitert und die entsprechende systemdefinierende Struktureigenschaft verändert. Das folgende Beispiel betrifft den Wechsel des Flexionstyps. Wir haben festgestellt, daß im Althochdeutschen bei den Substantiven die Stammflexion dominiert. Die Stammflexion ist dadurch charakterisiert, daß die Flexionssuffixe nicht an die lexikalische Grundform des Wortes, sondern an einen davon unterschiedenen kürzeren Stamm angefügt werden. Anders gesagt: Auch die lexikalische Grundform verfügt über ein grammatisches Morphem. Ein typisches Beispiel für Stammflexion bilden die althochdeutschen schwachen Maskulina: (10) N.Sg. G. D. A.

bot-o bot-en bot-en bot-on

PI.

bot-on bot-öno bot-örn bot-on.

Ähnlich stellen sich die Verhältnisse in den meisten anderen Flexionsklassen dar. Beim Übergang vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen werden durch einen phonologischen Reduktionsprozeß alle Vokale der Substantivflexive zu [Θ], phonologisch /e/, neutralisiert. Das heißt, daß die neue Grundform bote jetzt Bestandteil aller Flexionsformen ist. Mit anderen Worten: An die Stelle der althochdeutschen Stammflexion ist die mittelhochdeutsche Grundformflexion getreten: (11) N.Sg. G. D. A.

bote bote-η bote-n bote-n

PI.

bote-n bote-n bote-n bote-n.

In gleicher Weise verändern alle anderen Flexionsklassen, die bislang nach der Stammformflexion funktionierten, ihren Flexionstyp. Der Wechsel der systemdefinierenden Struktureigenschaft Stammflexion zu Grundformflexion ist wiederum rein phonologisch bedingt. Vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen vollzieht sich auch der Übergang von der kombinierten zur separaten Symbolisierung von Numerus- und Kasuskategorien beim Substantiv, der auf den gleichen phonologischen Veränderungen beruht wie der Wechsel des Flexionstyps. Im Althochdeutschen gab es ursprünglich nur eine einzige Deklinationsklasse mit separater Symbolisierung, nämlich den Typ N.Sg. rind — N.P1. rind-ir — G.P1. rind-ir-o. Noch in althochdeutscher Zeit bildet sich auf Grund der Wirkung des Umlauts, also wieder eines phonologischen Faktors, eine zweite Flexionsklasse mit separater Symbolisierung heraus, wobei der Umlaut faktisch den Plural und die Suffixe die Kasus kennzeichnen, vgl. N.Sg. gast — N.P1. gest-i — G.P1. gest-(e)o. Alle übrigen Klassen symbolisieren Numerus und Kasus kombiniert wie ζ. B. N.Sg. tag — N.P1. tag-a — G.P1. tag-o usw. Durch die Neutralisierung der Endsilbenvokale beim Übergang zum Mittelhochdeutschen ergibt sich in all diesen Fällen jedoch eine einheitliche Pluralform, die in den einzelnen Kasus entweder als solche oder in Verbindung mit einem weiteren Suffix erscheint. Vgl. die Unterschiede zwischen Althochdeutsch und Mittelhochdeutsch anhand des Beispiels :

3. Systemangemessenheit

106 (12)

N.Sg. G. D. A.

ahdtsch. tag tag-es tag-e tag

mhdtsch. tac tag-es tag-e tac

N.P1. G. D. A.

tag-a tag-o tag-urn tag-a

tag-e tag-e tag-e-n tag-e .

Instruktiv ist hier der Fall des D.P1., dessen mittelhochdeutsche ,Endung' -en auf das einheitliche althochdeutsche Numerus-Kasus-Suffix /um/ zurückgeht, das jedoch im Mittelhochdeutschen auf Grund des durchgängigen Auftretens von tage in allen anderen Pluralformen nach dem Vorbild des D.P1. des Typs rind-er-n als Pluralmarker /e/ plus Kasusmarker /n/ interpretiert wird, so daß sich hier die Gesamtform /tag -f- e + η/ ergibt. Daß die Annahme dieser Uminterpretation der Flexionsformen korrekt ist, zeigt sich u. a. später beim heute zu beobachtenden Abbau des Kasusflexivs im D.P1., der nur das jnj erfaßt, während das Numerusflexiv /e/ erhalten bleibt, vgl. ab drei Tage usw. Betrachten wir jetzt ein Beispiel der Veränderung von Distinktionstypen: Im Urgermanischen waren in wahrscheinlich allen Flexionsklassen des Substantivs die Nominativ- und Akkusativformen formal distinkt. In einer Reihe von Flexionsklassen, so bei den a-, i- und w-Stämmen sowie bei den Wurzelnomina' ist diese Distinktion im Gotischen und Altnordischen noch erhalten, vgl. ζ. B. got. N.Sg. fislc-s ,Fisch', balg-s ,Balg' und sunu-s ,Sohn' — A.Sg. fish, balg und sunu sowie aisld. N.Sg. madr (< mannr) ,Mann' — A.Sg. mann. Auf Grund des phonologischen Abbaus des auslautenden /s/ hat dagegen das Althochdeutsche hier einheitliche Formen im N./A.Sg., vgl. fisk, balg, sunu und man. Durch Lautentwicklung zusammengefallen sind im Althochdeutschen (und anderen altgermanischen Sprachen) auch N.P1. und A.P1. aller schwachen Substantive, vgl. urgerm. N.P1. *hanon-iz ,die Hähne' — A.P1. *hanon-z und ahdtsch. N./A.P1. hanun. Durch diese phonologisch bedingten Veränderungen in den formalen Verhältnissen zwischen Nominativ und Akkusativ hat sich der systemdefinierende (Teil-)Distinktionstyp ,Ν. Φ Α.' des Urgermanischen im Althochdeutschen zu ,Ν. = A.' gewandelt. Dadurch bedingt ist der formale Ausgleich zwischen dem Nominativ und dem Akkusativ dann bereits im frühen Althochdeutschen auch im Plural der a-, i- und w-Stämme sowie der ,Wurzelnomina' eingetreten, statt N.P1. taga, belgi, sunu, man — A.P1. *tagun, *belgin, *sunun und *mannun erscheinen im N./A.P1. einheitlich taga, belgi, sunt und man. Die systemdefinierende Struktureigenschaft ,Ν. = A.' hat sich damit auch in diesen Fällen durchgesetzt. Auch die bei der Symbolisierung von Kategorien eines Gefüges dominierenden Markertypen können im Laufe der Sprachgeschichte wechseln. Wir haben gesehen, daß im Althochdeutschen bei der Kasussymbolisierung, die kombiniert mit der Numerussymbolisierung realisiert wird, der Markertyp Suffix stark dominiert, während hier im Neuhochdeutschen die Dominanz des Markertyps Artikelflexion eindeutig ist. Dieser Unterschied beruht einerseits darauf, daß der bereits seit dem Urgermanischen wirkende Prozeß der phonologischen Reduzierung und Eliminierung unbetonter Silben sich weiter fortsetzt und die Flexionssuffixe am Substantiv infolgedessen in einem

107

3.5. Wechsel von Struktureigenschaften

Maße neutralisiert und abgebaut werden, so daß sie die Funktion der Kasussymbolisierung faktisch nicht mehr wahrnehmen können. Andererseits ist dafür entscheidend, daß sich schon im Althochdeutschen beginnend zugleich eine wichtige syntaktische Entwicklung vollzieht: Aus dem Demonstrativpronomen der/diujda3 bzw. dem Numerale ein bildet sich der bestimmte bzw. der unbestimmte Artikel heraus, der mit der Zeit obligatorischen Charakter erhält. Dieser Artikel ist schon normalerweise stärker betont als die ,Endung' des Substantivs, doch seine phonologische Reduktion wird vor allem durch die Existenz starkbetonter Artikelformen (Kontrastakzent u. ä.) verhindert. Auf diese Weise blieb seine ausgeprägte Kasus- (und Numerus-)Flexion erhalten und er konnte die Kasussymbolisierung übernehmen. Der in der Kasussymbolisierung dominierende Markertyp und damit die entsprechende systemdefinierende Struktureigenschaft hat gewechselt.23 Auch das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein von Flexionsklassen innerhalb eines Flexionssystems ist der Veränderung in der Zeit unterworfen; Flexionsklassen können sowohl entstehen als auch abgebaut werden. Das Ungarische gilt bekanntlich als eine agglutinierende Sprache, d. h. als eine Sprache ohne Flexionsklassen, in der das Auftreten der phonetisch verschiedenen Flexive nur durch die Vokalharmonie, also durch phonologische Regularitäten, bestimmt ist, vgl. z.B. viz ,Wasser' — Dativ vlz-nek — Adessiv (,bei. ..') νίζ-ηέΐ — Ablativ vlz-töl und häz ,Haus' — Dativ häz-nak — Adessiv hdz-näl — Ablativ häz-töl. Doch diese Charakterisierung trifft genauer genommen für die Substantivflexion des modernen Ungarischen gar nicht mehr zu. Das Ungarische besaß ursprünglich die nichtvorderen (zentralen) Vokalphoneme /i/ und /e/, die entsprechend der Vokalharmonie ganz regelmäßig auch die nichtvorderen Varianten der Suffixe bedingten, vgl. hid ,Brücke' — Dativ hid-nak usw. Durch einen phonologischen Wandel wurden jedoch die nichtvorderen Vokale/i/ und /e/ zu den vorderen Vokalen /i/ und /e/. Damit konnten nach diesen Vokalen sowohl die vordervokalischen als auch die nichtvordervokalischen Formen der Flexive auftreten. Vgl. den heutigen Stand: (13) Nominativ (a) viz Dativ viz-nek Adessiv viz-ηέΐ Ablativ vlz-töl

vir ,Blut' vir-nek νέτ-ηέΐ vir-töl

(b) Md hid-nak hid-ηάΐ hid-töl

eil ,Ziel' cü-nak cil-näl cil-l&l.

Das bedeutet, daß man einem ungarischen Substantiv mit den vorderen Vokalen /i/ und /e/ nicht mehr ansehen kann, welchen Satz von Flexiven es bei der Deklination annimmt. Ein Kind, das seine ungarische Muttersprache erwirbt, muß erlernen, ob ein entsprechendes Wort nach dem Typ (a) oder dem Typ (b) flektiert, ebenso wie ein deutschsprachiges Kind ζ, B. speziell erlernen muß, daß Hund seinen Plural mit /e/, aber Bär seinen Plural mit /n/ bildet. Mit anderen Worten: Im Bereich der ungarischen Substantivdeklination gibt es voneinander unterschiedene Flexionsklassen, die sekundär auf phonologischem Wege entstanden sind. Als Beispiel für den Abbau der Flexionsklassen in einem Flexionssystem kann die Entwicklung der Deklination bzw. Pluralbildung der Substantive vom Altenglischen 13

Anders verlief dieser Prozeß hinsichtlich der Numerusmarker. Auch hier wurde zwar phonologische Substanz phonologisch abgebaut, doch es blieb soviel davon erhalten, daß immer eine .analoge' Übertragung möglich war. Weiterhin sind hier nur zwei Kategorien (Singular und Plural) zu differenzieren.

108

3. Systemangemeesenheit

zum Neuenglischen dienen, vorausgesetzt, wir werten die wenigen Fälle von 0-Pluralen wie sheep — Plural sheep, ,Umlautpluralen' wie mouse — mice usw. nicht als Flexionsklasse, sondern als ,Ausnahmen'. Im Altenglischen gibt es etwa zehn verschiedene, sich auch in der Pluralbildung unterscheidende größere substantivische Deklinationsklassen, in denen u. a. Pluralmarker wie /as/, /a/, /η/, /e/ und Umlaut auftreten. Das Pluralzeichen /as/, der Vorgänger der heutigen «-Plurale, erscheint in einer verhältnismäßig großen Klasse, bei den maskulinen α-Stämmen, vgl. döm ,Urteil, Gericht' — Plural döm-as. Die Ausdehnung dieser Art der Pluralbildung auf im Prinzip alle Substantive ist ein langer und komplexer Prozeß, dem wir hier nicht in allen Details folgen können. 24 Dennoch können wir ausmachen, welche Faktoren ihn ausgelöst und vorangetrieben haben: Entscheidend sind auch hier die für die germanischen Sprachen auf Grund ihres starken Erstsilbenakzents typischen phonologischen Reduktions- und Abbauprozesse. Die Verbreitung des Pluralmarkers /as/ auf andere Flexionsklassen kommt dadurch in Gang, daß durch ,lautgesetzlichen' Abbau bereits im Altenglischen die langsilbigen maskulinen i- und «-Substantive ihre charakteristischen N.Sg.-Morpheme /i/ bzw. /u/ verloren hatten. Sie sind in der Form nicht mehr von den Substantiven der α-Deklination zu unterscheiden und schließen sich dieser an, da diese Flexionsklasse wesentlich stärker belegt ist, vgl. aengl. wyrm ,Wurm' — N.P1. wyrm-as und feld ,Feld' — N.P1. feld-as,25 Die kurzsilbigen i- und itSubstantive hatten durch die phonologischen Reduktionsprozesse ihre vom N.Sg. abweichenden Pluralmarker verloren, vgl. win-e ,Freund' — N.P1. win-e, sun-u (-ο, -α) ,Sohn' — N.P1. sun-α (-u, -o). Da im Altenglischen der (Teil-)Distinktionstyp jSg. Φ PI.' dominiert, übernehmen diese Substantive ebenfalls das Pluralmorphem /as/: win-as, sun-as. Gegen Ende der altenglischen Periode werden dann alle noch verbliebenen Endsilbenvokale einheitlich zu [Θ], phonologisch /e/, abgeschwächt. Das hat zwei wichtige Folgen: Erstens gehen die bisher ziemlich durchgängigen genusspezifischen Unterschiede in den Flexionsendungen weitgehend verloren, wodurch das Prinzip der Abhängigkeit der Flexionsklasse vom Genus stark geschwächt wird. Daran anschließend übernehmen auch Neutra den ursprünglich nur bei Maskulina vorkommenden Pluralmarker /es/ ( < /as/), besonders solche, die bislang kein Pluralzeichen hatten, vgl. word ,Wort' — N.P1. word > word — word-es. Zweitens büßen die femininen o-, i- und «-Stämme ihr Pluralzeichen ein, vgl. 3if-e ,Gabe' — N.P1. 3if-e (< zif-u — 3if-a) und dur-e ,Tür' — N.P1. dur-e (< dur-u — dur-a). Einen weiteren wichtigen Faktor für die Ausbreitung des s-Plurals stellt (zumindest für den Norden und die Mitte des Sprachgebiets) der phonologisch bedingte Abfall des auslautenden /n/ dar, durch den alle schwachen Substantive ihr vom Singular distinktes Pluralmorphem verlieren, vgl. han-a ,Hahn' — N.P1. han-an > han-e — han-e. Auch diese bilden neue deutliche Pluralformen mit dem Marker /es/. Mit dem w-Abfall verschwindet zugleich der einzige potentielle Konkurrent des Pluralmorphems /es/. Das heißt, auch für die Substantive der Typen 3 i f e und dure bleibt, soll bei ihnen der Plural entsprechend dem Distinktionstyp ,Sg. φ PI.' symbolisiert werden, nur die Möglichkeit der Übernahme von /es/, was dann auch bald geschieht, vgl. Formen wie dures. Abgesehen von den oben erwähnten ,Ausnahmen' schließen sich im Laufe der Zeit auch 24 25

Für Einzelheiten vgl. die Darstellung in R o e d l e r (1916). Konstellationen solcherart werden im Kap. 4 behandelt. Zur Ausbreitung von Markern vgl. speziell Abschn. 4.3.

3.5. AVechsel von Struktureigenschaften

109

die wenigen übrigen noch verbleibenden Fälle der s-Pluralbildung an. Da zugleich auch der s-Genitiv verallgemeinert wird und die Kasusflexion ansonsten völlig verschwindet, ist das Ergebnis der skizzierten Entwicklung die Vereinheitlichung der Substantivflexion im Englischen. Anders ausgedrückt: Es gibt keine Flexionsklassen mehr. Die systemdefinierende Struktureigenschaft hinsichtlich des Parameters (f), Vorhandensein vs. Nichtvorhandensein von Flexionsklassen, hat sich gewandelt. Alle acht diskutierten Beispielfälle für den Wechsel von systemdefinierenden Struktureigenschaften haben eines gemeinsam: Die Veränderung der systemdefinierenden Struktureigenschaften ist jeweils phonologisch und/oder syntaktisch, d. h. außermorphologisch, bedingt. Während also die der Morphologie ,benachbarten' Komponenten P'honologie und Syntax strukturverändernd auf die Morphologie einwirken, reagiert diese nur auf die entsprechenden Veränderungen: Haben Phonologie und/oder Syntax die systemdefinierenden Struktureigenschaften verändert, wirkt die Morphologie im Sinne der Anpassung von (noch) nicht systemangemessenen morphologischen Erscheinungen innerhalb des Systems an diese. Das wird u. a. am Beispiel des Abbaus der Nominativ-Akkusativ-Distinktion im Schwedischen deutlich. Der Wandel der systemdefinierenden Struktureigenschaften ist durch einen phonologischen Prozeß, den Abbau des auslautenden /r/, bedingt. Erst nachdem dieser Wandel eingetreten ist, werden durch morphologisch bedingte Ausgleichsprozesse die verbleibenden Instanzen von formalen Nominativ-Akkusativ-Distinktionen weiter reduziert und schließlich beseitigt. Daß hier phonologische Faktoren den Auslöser für den Abbau der Kasusdistinktion bilden, wird durch einen Vergleich mit dem Isländischen gestützt. In dieser Sprache sind zur altisländischen Zeit die morphologischen Verhältnisse hinsichtlich der Nominativ-Akkusativ-Distinktion die gleichen wie im Altschwedischen, doch es fehlt der Abbau des /r/ im Auslaut. Entsprechend bleiben hier die systemdefinierenden Struktureigenschaften erhalten. Noch heute unterscheidet das Isländische in der Substantivflexion Nominativ und Akkusativ. Sofern also beim Wechsel von systemdefinierenden Struktureigenschaften die jeweiligen konkurrierenden Strukturzüge nicht schon konsequent beseitigt werden (beseitigt sind sie u. a. beim Übergang von der althochdeutschen Stamm- zur mittelhochdeutschen Grundformflexion), vollziehen sich die betrachteten Veränderungsprozesse, insgesamt gesehen, in zwei unterschiedlich bedingten Etappen: (I) Der Wechsel der systemdefinierenden Struktureigenschaften oder — anders ausgedrückt — der qualitative Wechsel der übergreifenden morphologischen Systemeigenschaften ist a u ß e r m o r p h o l o g i s c h bedingt. (II) Die weitere Verbreitung und eventuelle völlige Durchsetzung der systemdefinierenden Struktureigenschaften, ihre quantitative Anhäufung im System, ist m o r p h o l o g i s c h bedingt. Da die systemdefinierenden Struktureigenschaften das Wesen eines morphologischen Systems ausmachen, seine Identität garantieren — ein System bleibt solange mit sich selbst identisch, wie die systemdefinierenden Struktureigenschaften erhalten bleiben —, ergibt sich die Schlußfolgerung, daß das Wesen eines morphologischen Systems von außermorphologischen Faktoren determiniert ist, die seine Entwicklung bestimmen. Die Morphologie selbst ist konservativ. Sie reproduziert immer nur die bereits vorhandenen systemdefinierenden Struktureigenschaften, produziert aber selbst keine neuen.

110

3. Systemangemessenheit

3.6. Systemangemessenheit und systemunabhängige Natürlichkeit Wir haben oben (in Kap. 2) die Systemangemessenheit als eine der Erscheinungsformen von systembezogener morphologischer Natürlichkeit charakterisiert. Nachdem wir uns mit diesem Phänomen etwas ausführlicher befaßt haben, soll im folgenden ihr Verhältnis zur eingangs der vorliegenden Arbeit vorgestellten systemunabhängigen (universellen) morphologischen Natürlichkeit, d. h. vor allem zum konstruktionellen Ikonismus, untersucht werden. Es soll überprüft werden, unter welchen Bedingungen sich bei die Morphologie betreffenden Wandelerscheinungen Systemangemessenheit und systemunabhängige Natürlichkeit, also einzelsprachlich favorisierte bzw. universell favorisierte Eigenschaften, durchsetzen können. Zunächst setzen sich — wie nicht anders zu erwarten — morphologische Veränderungen in Richtung auf eine Zunahme der Systemangemessenheit immer dann durch, wenn sie sich hinsichtlich der systemunabhängigen Natürlichkeit neutral verhalten, d. h., wenn diese dabei weder zu- noch abnimmt. Als Beispiel dafür möge der in althochdeutscher Zeit sich vollziehende Abbau der Kasuskategorie des Instrumental dienen. Ob die instrumentale Relation durch eine spezielle morphologische Kasuskategorie (swertu ,mit dem Schwert') oder durch einen präpositioneilen Dativ (mit swerte) ausgedrückt wird, macht keinen Unterschied hinsichtlich der systemunabhängigen Natürlichkeit; beide Konstruktionen sind in diesem Sinne ,gleich gut'. Die betreffende Veränderung ist ausschließlich durch die systemdefinierenden Struktureigenschaften bedingt. Interessanter sind solche Fälle, wo die systemdefinierenden Struktureigenschaften auf Veränderungen in Richtung der Systemangemessenheit drängen, wo aber ein Wandel, der zur Zunahme der systembezogenen Natürlichkeit führt, zugleich eine Abnahme der systemunabhängigen Natürlichkeit zur Folge hat, d. h., wo sich Systemangemessenheit und systemunabhängige Natürlichkeit widersprüchlich zueinander verhalten. I n den von uns untersuchten Fällen zeigt sich, daß solche Wandelerscheinungen in der Tat stattfinden oder — mit anderen Worten — daß sich die Systemangemessenheit gegen die systemunabhängige Natürlichkeit durchsetzen kann. Dafür sprechen zumindest die beiden folgenden Beispiele, die wir bereits in anderen Zusammenhängen diskutiert haben. I m Voralthochdeutschen haben alle Substantive, darunter auch sämtliche Neutra, deutliche Kategorienmarker für den N./A.P1.; für die Neutra der α-Klasse vgl. wort — N./A.P1. wort-u s o w i e / a j — N./A.Pl./aj-w, für die schwachen Neutra herz-a — N./A.P1. herz-un. I m Rahmen eines phonologisch bedingten Reduktionsprozesses wird dann ein auslautendes /u/ nach langer Silbe (d. h., wenn ihm einKurzvokal plus zwei Konsonanten bzw. ein Langvokal plus Konsonant vorausgeht) abgebaut, wodurch sich u. a. die Formen wort — N./A.P1. wort ergeben. Dagegen bleiben die Pluralformen fa$-u und herz-un erhalten. Da aber die langsibligen α-Neutra vom Typ wort die entsprechenden kurzsilbigen vom T y p / a j zahlenmäßig bei weitem überwiegen (es ist etwa mit Dreiviertel gegenüber ein Viertel zu rechnen) und es überhaupt nur ganz wenige schwache Neutra des Typs herza gibt (überliefert sind nur vier), dazu wenige Wörter mit »Y-Plural, vgl. lamb — lemb-ir, führt der phonologische Abbau des Vokals /u/ zur Veränderung des bisherigen Distinktionstyps ,Sg. φ PI.' in ,Sg. = PI.' bei den Neutra. Damit sind die Substantive der T y p e n / a j -fa^-u und herz-a — herz-un in diesem Punkte nicht mehr systemangemessen, die Systemangemessenheit wird jetzt vom Typ

3.6. Syetemunabhängige Natürlichkeit

111

wort — wort realisiert. Die systemangemessenen Neutra sind aber zugleich nichtikonisch, weil sie keinen Plurahnarker haben; sie sind also nicht natürlich im Sinne der systemunabhängigen Natürlichkeit. Natürlich in diesem Sinne sind dagegen die Typen / a j und herza mit ihren vom Singular unterschiedenen Pluralformen fa^-u und herz-un. Hier könnten also entweder die durch den sprachspezifischen Distinktionstyp ,Sg. = PI.1 oder die durch den universellen Ikonismus favorisierten Pluralformen verallgemeinert werden. Was tatsächlich eintritt, ist der Wandel zur Herbeiführung der Systemangemessenheit im Distinktionstyp der Numerusflexion: Im Rahmen eines morphologischen Veränderungsprozesses werden die bisherigen nichtsystemangemessenen Pluralformen fa3-u und herz-un durch die mit dem N./A.Sg. übereinstimmenden Formen fa$ und (partiell) herz-a ersetzt. Die Tendenz zum Abbau von nicht- bzw. wenig systemangemessenen morphologischen Erscheinungen hat sich gegen die Tendenz zu perzeptiv günstigen ikonischen Formen durchgesetzt. Durch bestimmte phonologische Entwicklungen hat sich der urgermanische (Teil-) Distinktionstyp ,Ν. φ Α.' bereits im Voralthochdeutschen zu ,N. = A.' gewandelt. Deklinationsklassen, die weiterhin Nominativ- und Akkusativformen formal voneinander unterscheiden, sind in diesem Punkt also nicht systemangemessen. Doch gleichzeitig realisieren sie konstruktionellen Ikonismus, indem sie den gegenüber dem Nominativ semantisch markierten Akkusativ merkmalhaft symbolisieren. Dennoch setzt sich auch hier die Systemangemessenheit gegen die systemunabhängige Natürlichkeit durch: Die nichtsystemangemessenen speziellen A.Pl.-Formen einer ganzen Reihe von Flexionsklassen werden zugunsten der N.P1.-Formen abgebaut; Flexionsformen wie N.P1. tag-a, belg-i, sun-u, man — A.P1. tag-un, belg-in, sun-un, mann-un werden durch die einheitlichen N./A.Pl.-Formen tag-a, belg-i, sun-u und man ersetzt, wodurch der Ikonismus der Akkusativformen verlorengeht. Man beachte dabei besonders, daß die N.Pl.-Form man zum N.Sg. man, die nicht einmal eine ikonische Pluralkodierung hat, zusätzlich auf den doppelt markierten A.P1. (gegenüber dem Singular und gegenüber dem Nominativ!) übertragen wird. Im Sinne der systemunabhängigen Natürlichkeit ist also die aus dem morphologischen Wandel resultierende A.PI.-Form man faktisch ,doppelt unnatürlich'. Doch auch diese Konsequenz kann offenbar die Wirkung der Tendenz zum Abbau nichtsystemangemessener Formen nicht blockieren. Hier stellt sich damit die Frage, durch welcherart morphologische Veränderungen überhaupt system unabhängige Natürlichkeit zustande kommt und welche Rolle im morphologischen Bedingungsgefüge sie spielt. Der einfachste Fall besteht darin, daß systemunabhängige Natürlichkeit dureh phonologisch bedingte Sprachveränderungen in Flexionssystemen entsteht wie etwa beim Übergang von der weniger ikonischen althochdeutschen Stammflexion zur stärker ikonischen mittelhochdeutschen Grundformflexion, vgl. ahdtsch. bot-o — G.Sg. bol-en und mhdtsch. bote — G.Sg. bote-η.2e Doch hier hat die systemunabhängige Natürlichkeit keine auslösende Funktion, was u. a. auch darin zum Ausdruck kommt, daß durch phonologisch bedingte Veränderungen auch systemunabhängige Natürlichkeit reduziert werden kann. Doch auch unter den morphologisch bedingten Entwicklungen von Flexionssystemen gibt es viele Fälle, in denen sich systemunabhängige natürliche Formen gegen weniger natürliche durchsetzen, in denen also systemunabhängige morphologische 26

Vgl. dazu die Absehn. 0.2. und 1.3.

112

3. Systemangemessenheit

Natürlichkeit angelagert wird. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen Konstellationen, in denen auch die Systemangemessenheit eine Rolle spielt, und solchen, wo das nicht der Fall ist. Alle zurate gezogenen Fakten sprechen dafür, daß sich die systemunabhängige Natürlichkeit immer nur mit der Systemangemessenheit verwirklichen kann, niemals jedoch gegen sie. Ein gutes Beispiel dafür bilden die im Frühneuhochdeutschen eintretenden Ausgleichsprozesse bei den Verbflexiven. Infolge der phonologischen Reduktion von unbetonten Silben beim Übergang vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen war in der Konjugation ein Wandel dos dominierenden Symbolisierungstyps dergestalt eingetreten, daß jetzt die Kategorien Person und Numerus (neben den Personalpronomen) durch ein sogenanntes ,Personalflexiv' symbolisiert werden, während das Tempus unabhängig davon durch das Dentalsuffix (bei den schwachen Verben) bzw. den Ablaut (bei den starken Verben) gekennzeichnet wird. Die Konjugation funktioniert jedoch hinsichtlich des Symbolisierungstyps nicht einheitlich: In bestimmten Fällen sind die Präsens- und Präteritalflexive weiter unterschiedlich, so in der 2.Ps.Sg. und der 3.Ps.Pl., vgl. du nim-est — du ncem-e und sie nem-ent — sie näme-n zu nemen ,nehmen'. Die Vereinheitlichung der Person-NumerusFlexive, d. h. die (nahezu) konsequente Trennung von Tempusflexion einerseits und Person-Numerusflexion andererseits, die dem Prinzip ,eine Funktion — eine Form' folgt, geschieht erst zu einem Zeitpunkt, da die uneinheitlichen Flexive nicht mehr systemangemessen sind; vgl. nhdtsch. du nimmst — du nahmst und sie nehm-en — sie nahm-en. In Fällen, wo die Systemangemessenheit keine Rolle spielt, setzt sich dagegen die systemunabhängige Natürlichkeit ungehindert durch. Besonders deutlich wird das in solchen Konstellationen, wo die morphologischen Fakten, bezogen auf die Systemangemessenheit, ambigue sind, d. h. unterschiedliche Analysen durch den Sprecher zulassen, wobei die eine systemunabhängig natürlicher, die andere weniger natürlich ist. Hier obsiegt immer die Lösung im Sinne der systemunabhängigen Natürlichkeit, deren Realisierung durch keinerlei gegenläufige Tendenzen blockiert wird. Durch die realisierte Lösung wird zugleich die Systemangemessenheit neu geregelt, und zwar im Sinne der systemunabhängigen Natürlichkeit. Als Beispiel dafür bietet sich die Uminterpretation des Symbolisierungstyps im Mittelhochdeutschen auf Grund der Abschwächung der Endsilbenvokale zu [Θ] an. Vgl. die folgenden althochdeutschen und mittelhochdeutschen Formen des Substantivs Tag: (14) ahdtsch. mhdtsch.

N.Sg. tag — N.P1. laga — D.P1. tagum N.Sg. tac — N.P1. tage — D.P1. tagen.

Während die althochdeutschen Flexionsformen nur im Sinne der kombinierten Numerus-Kasus-Flexion zu interpretieren sind (/um/ ist eindeutig ein kombinierter Plural-Dativ-Marker), könnten die mittelhochdeutschen Formen sowohl im Sinne der kombinierten wie der separaten Kategoriensymbolisierung gewertet werden, vgl. die Analysen /tag + en/ ,Tag plus D.P1.' und /tag + e + n/ ,Tag plus Plural plus Dativ'. Die weitere Entwicklung des substantivischen Flexionssystems im Deutschen zeigt, daß die systemunabhängig natürlichere Interpretation mit /e/ als durchgängiger Pluralmarker und /n/ als Dativmarker (im Plural) realisiert wird. Die universell natürlichere Alternative hat sich durchgesetzt. Bei Fällen solcherart wird deutlich, daß es neben der einzelspraclilichen Systemangemessenheit eine universelle (systemunabhängige) Natürlichkeit gibt. Solche fälle sind i n s g e s a m t g e s e h e n recht häufig, so d a ß

113

3.7. Stufenweise Vereinheitlichung ?

sich in den Flexionssystemen der Sprachen ein recht bedeutendes Maß an systemunabhängiger Natürlichkeit herausbilden kann. Nichtsdestoweniger müssen wir aber die in diesem Abschnitt gestellte Hauptfrage, welche Form der Natürlichkeit sich gegen die jeweils andere durchsetzen kann, wenn sie zueinander widersprüchliche Entwicklungen favorisieren, dahingehend beantworten, daß sich in solchen Konstellationen die Systemangemessenheit durchsetzt. Einzelsprachlich favorisierte morphologische Struktureigenschaften werden auf Kosten von universell favorisierten morphologischen Struktureigenschaften verwirklicht. Mit dieser Feststellung wollen wir es an dieser Stelle bewenden lassen. Wir werden die Problematik der Determinationsfaktoren in der Morphologie und ihres Verhältnisses zueinander im Zusammenhang mit der Behandlung des Phänomens der Klassenstabilität wieder aufnehmen.

3.7. Gibt es ein ,Prinzip der stufenweisen Vereinheitlichung' von Flexionssystemen ? Wir haben bislang ein nicht unwichtiges Problem vernachlässigt, das sich bei verschiedenen von uns diskutierten Zusammenhängen andeutete: Es ist nicht immer ohne weiteres klar, für welche Klassen von Wörtern die systemdefinierenden Struktureigenschaften gelten. Sie wurden oben (in Abschn. 3.1.) so eingeführt, daß sie sich auf jeweils alle Wörter einer Wortart beziehen, also auf alle Substantive, Verben, Adjektive usw. Doch beispielsweise bei der Analyse der althochdeutschen Substantivflexion konnten wir feststellen, daß die Distinktionstypen nicht für alle Substantive gleichermaßen gelten, sondern genusabhängig funktionieren. Es ergibt sich also die Frage, unter welchen Bedingungen systemdefinierende Struktureigenschaften für die Klasse der Wörter einer Wortart bzw. für Teilklassen der Wörter einer Wortart, also ζ. B. für die Wörter eines Genus, gelten. Diese Frage ist sehr kompliziert und kann hier nicht erschöpfend behandelt werden. Wir wollen aber versuchen, anhand eines entsprechenden Beispiels Ansätze zu einer Lösung zu skizzieren. Das Beispiel soll die Entwicklung der Numeruskennzeichnung der Neutra im Deutschen sein. Im Voralthochdeutschen gilt der Distinktionstyp ,Sg. φ PI.' für die Klasse aller Substantive; alle Substantive haben im N.P1. eine Form, die sich von der Form des N.Sg. unterscheidet. So ist es auch bei den Neutra, vgl. N.Sg. wort — N.P1. wort-u, N.Sg. / a j

— N.P1. fa^-u,

N.Sg. herz-a

— N.P1.

herz-un

und N.Sg. lamb — N.P1. lemb-ir-u. Der bereits mehrfach erwähnte phonologische Abbau des auslautenden /u/ nach langer Silbe schafft veränderte Verhältnisse im Flexionssystem. Weil das /u/ als Pluralmarker nur bei neutralen Substantiven auftritt, verlieren diese und zwar nur diese ihr Pluralmorphem, was etwa drei Viertel aller Neutra betrifft. Während es also bisher normal für alle Substantive unabhängig vom Genus war, einen Pluralmarker zu haben, trifft das jetzt nur noch für die Maskulina und Feminina zu. Für die Neutra ist es jetzt normaler, keinen Pluralmarker zu besitzen. Aus diesem Grunde etablieren sie hinsichtlich des Numerus-Distinktionstyps eine von den Maskulina und Feminina abweichende neue systemdefinierende Struktureigenschaft ,Sg. = PI.'. Obwohl die Mehrzahl der Substantive, alle Maskulina und Feminina, weiterhin dem älteren Distinktionstyp ,Sg. Φ- PL' folgen, schließen sich solche Neutra, die ihr Pluralflexiv nicht durch phono8 stud, gramm. X X I

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3. Systemangemessenheit

logischen A b b a u verloren haben, im R a h m e n eines morphologischen W a n d e l s d e m T y p N . S g . wort — N.P1. wort an, vgl. die T y p e n fa$ — fa^-u ^>fa3 — / a j und (partiell) herz-a — herz-un > herz-a — herz-a. Vereinzelt sind auch Fälle überliefert, in denen die wenigen S u b s t a n t i v e der ir-Klasse A n s ä t z e z u Pluralformen ohne /ir/ und U m l a u t zeigen, vgl. den T y p lamb — lemb-ir > lamb — lamb (BRAUNE ( 1 9 5 5 : 202)). N a c h d e m also durch eine phonologisch bedingte Veränderung die Einheitlichkeit und S y s t e m a t i k des S y s t e m s im Numerus-Distinktionstyp gestört wurde, wird die Numerusdistinktion zunächst innerhalb des Genus, d. h. des Neutrums, wieder vereinheitlicht. D a f ü r spricht a u c h d a s F a k t u m , d a ß die ir-Pluralklasse, die offenbar vor der Herausbildung der systemdefinierenden Struktureigenschaft ,Sg. = PI.' bei den N e u t r a eine R e i h e von N e u z u g ä n g e n aus der α-Deklination erhielt, n a c h der Herausbildung dieser systemdefinierenden Struktureigenschaft vorerst nicht mehr durch Übertritte aus der a - D e klination v e r s t ä r k t wird (vgl. GÜRTLEB ( 1 9 1 2 / 1 3 ) ) : D i e ir-Pluralformen des T y p s lemb-ir haben ihre Systemangemessenheit verloren. D a s interessanteste Moment der G e s a m t e n t w i c k l u n g besteht nun darin, d a ß zu einem Z e i t p u n k t , da sich der D i s t i n k t i o n s t y p ,Sg. = PI.' bei den neutralen Substantiv e n im Prinzip durchgesetzt hat 2 7 , offenbar erneut ein W a n d e l des D i s t i n k t i o n s t y p s eintritt, und zwar dergestalt, d a ß der bislang nur f ü r Maskulina und Feminina geltende D i s t i n k t i o n s t y p ,Sg. φ PI.' auf die N e u t r a ausgedehnt wird. Diese verlieren ihre Sonderstellung in der Pluralbildung und werden wieder stärker ins substantivische Gesamtdeklinationssystem integriert. Seit etwa dem 12. J a h r h u n d e r t beginnen sie entsprechend wieder P l u r a l m a r k e r anzunehmen. N e b e n da3 wort — diu wort tritt jetzt da$ wort — diu wort-e ,und auch die er-Pluralbildung wird f ü r die N e u t r a wieder prod u k t i v , vgl. das wort — diu wört-er. H e u t e haben die deutschen N e u t r a mit A u s n a h m e derer auf /-er/, /-el/ und /-en/ ( T y p das Ufer — die Ufer) längst wieder Pluralsuffixe. Diese E n t w i c k l u n g ließe sich so interpretieren, d a ß Flexionssysteme, deren Einheitlichkeit durch die E i n w i r k u n g phonologischer F a k t o r e n gestört wird und die dann im Sinne der Beseitigung nichtsystemangemessener F o r m e n wieder zur Einheitlichkeit tendieren, diese unter entsprechenden Bedingungen nicht in einem Schritt, sondern f a k tisch stufenweise wiederherstellen. D i e im Voralthochdeutschen verlorengegangene Einheitlichkeit der S u b s t a n t i v f l e x i o n hinsichtlich des Verhältnisses der N . P l . - F o r m zur N . S g . - F o r m wird in einem ersten Schritt im kleinsten sich anbietenden Bereich mit Uneinheitlichkeit, also bei den N e u t r a , wiederhergestellt, und zwar auf eine Weise, wie es der Verteilung beider Varianten in diesem Genus entspricht, d. h. nach deni S t r u k t u r z u g ,Sg. = P L ' . E r s t nachdem die Einheitlichkeit in diesem Bereich (im Prinzip) erreicht ist, erfolgt in einem zweiten Schritt die Vereinheitlichung über die Genusgrenzen hinweg, also im gesamten substantivischen Flexionssystem. D a aber in diesem S y s t e m insgesamt gesehen der Distinktionstyp ,Sg. Φ P L ' dominiert, wird dieser auf alle S u b s t a n t i v e , d. h. auf die N e u t r a , ausgedehnt. W e n n diese Interpretation zutrifft, so würde das bedeuten, daß es tatsächlich ein ,Prinzip der stufenweisen Vereinheitlichung' v o n Flexionssystemen gibt. D a m i t ließe sich dann erklären, weshalb sich im L a u f e der Sprachgeschichte D o m ä n e n von systemdefinierenden Struktureigenschaften verändern können bzw. müssen. W a s sich dem Anschein nach als durch das W i r k e n von Zufällen bedingtes .Hin und H e r der Sprach27

E s sei nochmals an die nicht konsequente Durchsetzung des Distinktionstyps ,Sg. = PI.' bei den wenigen schwachen und ir-Neutra erinnert.

3.7. Stufenweise Vereinheitlichung ?

115

entwicklung' darstellt, erweist sich dann als durch die systemdefinierenden Struktureigenschaften und ihren erklärbaren Wechsel determinierte Entwicklung. Diese Entwicklung geht in Richtung auf eine größere Einheitlichkeit des Flexionssystems, auf die Beseitigung jeweils nichtsystemangemessener Formen. Auf Grund der Spezifik der Sprachentwicklung ist die Vereinheitlichung natürlich nicht ,bewußt vorausgeplant', sondern sie erfolgt auf der Basis der durch die sprachlichen Fakten vorgegebenen konkreten Bedingungen, und auf Grund dieser kann die Einheitlichkeit der Substantivdeklination im Verhältnis der Plural- zu den Singularformen offenbar nicht auf geradem Weg' erreicht werden. Wie zu zeigen war, ist die Annahme eines ,Prinzips der stufenweisen Vereinheitlichung' von Flexionssystemen nicht unplausibel. Dennoch ist sie vorerst noch als Hypothese zu betrachten, die der Überprüfung an einschlägigen Faktenkonstellationen bedarf. Hier wirkt sich negativ aus, daß solche Faktenkonstellationen, die sich dafür eignen würden, in den natürlichen Sprachen nur selten vorkommen.

8*

4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität 4.1. Der implicative Aufbau von Flexionsparadigmen: Implikative Paradigmenstrukturbedingungen Wir hatten oben herausgearbeitet, daß es im wesentlichen zwei unterschiedliche Erscheinungsformen der systembezogenen morphologischen Natürlichkeit gibt, die wir als Systemangemessenheit und als Flexionsklassenstabilität eingeführt haben. I m vorangegangenen Kapitel haben wir dann die Problematik der Systemangemessenheit in ihren wichtigsten Aspekten diskutiert. Wir wollen uns jetzt der Behandlung der F l e x i o n s k l a s s e n s t a b i l i t ä t zuwenden. Die Ermittlung der Systemangemessenheit geschah auf der Grundlage des Konzepts der systemdefinierenden Struktureigenschaften: Die Systemangemessenheit von morphologischen Erscheinungen wurde als der Grad ihrer Übereinstimmung mit den systemdefinierenden Struktureigenschaften des jeweiligen Flexionssystems gefaßt. Jetzt gilt es zu ermitteln, ob ein morphologisches Konzept existiert, auf dem die Flexionsklassenstabilität in ähnlicher Weise begründet ist wie die Systemangemessenheit auf den systemdefinierenden Struktureigenschaften. Zu diesem Zweck empfiehlt es sich zunächst zu untersuchen, nach welchen allgemeinen Prinzipien die Flexionsparadigmen der WTörter aufgebaut sind. Die Eigenschaft eines Wortes, einer bestimmten Flexionsklasse anzugehören, d. h. seine (flexions-)morphologischen Eigenschaften, hat bzw. haben einen anderen Status als seine phonologischen und semantischen Eigenschaften. Die phonologischen und semantischen Eigenschaften eines Wortes haben für diese konstitutiven Charakter. Erlernung eines Wortes heißt Erlernung seiner Lautstruktur und seiner Bedeutung. Es ist unmöglich, ein Wort zu erlernen, ohne sich seine Lautstruktur und seine Bedeutung anzueignen. Das Wort als Lexikoneinheit ist definiert als eine gegenseitige Zuordnung einer phonologischen und einer semantischen Repräsentation. Es gibt in keiner natürlichen Sprache Substantive, Adjektive, Verben, usw., denen eine dieser beiden Seiten fehlt. Beides ist notwendig für das Funktionieren einer Sprache. Demgegenüber stellen die morphologischen Eigenschaften eines AVortes etwas Zusätzliches dar, das im allgemeinen unabhängig von Lautstruktur und Semantik erlernt werden muß. Sie haben für ein Wort keinen konstitutiven Charakter, sondern bilden eine Art von Begleitbedingungen. Ein AVort bleibt durchaus mit sich selbst identisch, wenn es die Flexionsklasse wechselt. Anders ausgedrückt: Die Verbindung zwischen der phonologischen und der semantischen Repräsentation eines Wortes ist enger als die jeder von beiden zu seinen morphologischen Eigenschaften. Die morphologischen Eigenschaften bestimmen faktisch nicht die Identität des Wortes selbst, sondern stellen Bedingungen für seine Handhabung bei der Bildung von Sätzen dar, Operationsvorschriften. I n vielen Sprachen mit Flexion, nämlich in allen streng agglutinierenden Sprachen, existieren überhaupt keine unterschiedlichen Flexionsklassen und damit auch keine entsprechenden morphologischen Eigenschaften von Wörtern. Ähnliches wie für die morphologischen Eigenschaften gilt mit bestimmten Abstrichen auch für die syntaktischen Eigenschaften von Wörtern wie etwa das Genus von Substantiven.

4.1. Paradigmenstrukturbedingungen

117

Auch sie haben den Charakter von Operationsvorschriften, doch sind sie insofern,fester' als morphologische Eigenschaften, da sie vielfach unmittelbar semantisch motiviert sind — man denke ζ. B. an solche syntaktische Eigenschaften wie Modalverb, Transitivität usw. — und sich vor allem bedingt durch Kongruenz usw. im Satz über das Wort hinaus auswirken. Während sich die Anwendung phonologischer und semantischer Regularitäten auf ein Wort normalerweise automatisch aus seiner phonologischen bzw. semantischen Repräsentation ergibt, muß in Sprachen mit verschiedenen Flexionsmustern im Prinzip speziell erlernt werden, welche morphologischen Regularitäten, d. h. Flexionsregeln, für ein gegebenes Wort gelten. Das bedeutet für das seine Muttersprache erlernende Kind einen zusätzlichen Lernaufwand, der bezogen auf das Funktionieren der Sprache eigentlich unnötig ist. Das Kind versucht diesen Lernaufwand möglichst gering zu halten, indem es Relationen zwischen unabhängigen a u ß e r m o r p h o l o g i s c h e n Eigenschaften der Wörter und ihren m o r p h o l o g i s c h e n Eigenschaften oder aber, wenn das nicht möglich ist, zwischen den verschiedenen morphologischen Eigenschaften der Wörter ermittelt und zu generalisieren trachtet. Als außermorphologische Eigenschaften, an die sich morphologische Eigenschaften anlehnen können, bieten sich einerseits phonologische, andererseits semantisch-syntaktische Charakteristika an. 1 Entsprechende phonologische Charakteristika sind ζ. B. die ,Endung' der lexikalischen Grundform oder der Vokal des Basismorphems, vgl. ζ. B. die einheitliche Flexion der russischen Substantive auf /a/ vom Typ sobaka ,Hund', der auf nichtpalatalen Konsonanten endenden russischen Substantive vom Typ stol und der germanischen Verben auf /an/ mit dem Stammvokal /i/ vom Typ ahdtsch. ritan ,reiten'. Semantisch-syntaktische Charakteristika, an die sich morphologische Eigenschaften anlagern können, sind u. a. das Genus oder semantische Merkmale wie ,Person', ,Tier', ,Pflanze', ,Belebtheit' und Verwandtschaftsbezeichnung' bei den Substantiven sowie .Modalität', ,Transitivität/Intransitivität', ,Punktualität', ,Stativität' usw. bei den Verben. Eine Anlagerung morphologischer Eigenschaften an das Genus kommt beispielsweise im südlichen Mittelenglischen vor, wo (nahezu) alle Feminina zur w-Pluralklasse (der ursprünglichen schwachen Flexionsklasse) gehören. Das Merkmal ,Person' konstituiert die sogenannte ,1. oder Menschenklasse' im Suaheli, der wirklich nur Personenbezeichnungen angehören, vgl. m-tu ,Mensch' — Plural wa-tu oder m-toto ,Kind' — Plural wa-toto.2 In bestimmten Dialekten und Umgangssprachen des Deutschen bilden alle Modalverben einschließlich brauchen eine Konjugationsklasse, die u. a. dadurch gekennzeichnet ist, daß die ihr zugehörigen Wörter in der 3.Ps.Sg.Präs.Ind. kein ί-Flexiv haben: er muß, er brauch. Recht häufig lehnen sich morphologische Eigenschaften an Kombinationen von phonologischen und semantisch-syntaktischen Charakteristika an. Hier können ζ. B. die auf Vokal endenden Neutra des Schwedischen genannt werden, die ihren Plural generell mit /n/ bilden, vgl. hjärta ,Herz' — Plural hjärta-n und äpple ,Apfel' — Plural äpple-n. Im Russischen gibt es eine Flexionsklasse, zu der alle punktuellen Verben (.Momentanverben') auf -nut' vom Typ kriknut' ,aufschreien' gehören. Im Unterschied 1 1

Wir fassen hier semantische und syntaktische Eigenschaften der Einfachheit halber zusammen, um den Schwierigkeiten der Abgrenzung zwischen ihnen zu entgehen. Diese Präfixklassen wirken sich anders als die Flexionsklassen der indoeuropäischen Sprachen im Satz über die Wortgrenze hinaus aus. Sie haben damit faktisch morphologisch-syntaktischen Charakter.

118

4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

zu den ebenfalls auf -nut' endenden Inchoativa vom Typ soxnut' ,trocken werden' behalten sie das Morphem /nu/ im Präteritum bei, vgl. krik-nu-l, krik-nu-l-a mit sox, sox-l-a usw. Wenn keine außermorphologischen Eigenschaften vorhanden sind, zu denen die morphologischen Eigenschaften von Wörtern in Beziehung gesetzt werden können, dann lehnen sich verschiedene morphologische Eigenschaften aneinander an: Wenn in der Kategorie Ki der Marker Mj erscheint, so erscheint in der Kategorie K j der Marker Mj. Wenn beispielsweise bei einem deutschen Substantiv der Plural mit dem Flexiv /er/ gebildet wird, so wird der G.Sg. immer mit /s/ gebildet, vgl. Kalb — N.P1. Kälb-er — G.Sg. Kalb-es, Wurm — N.P1. Wiirm-er G.Sg. Wurm-es. Solche Relationen zwischen morphologischen Eigenschaften können auch dort auftreten, wo in einer Flexionsform zwei bzw. mehrere Marker zugleich erscheinen. Wenn im Deutschen das Pluralsuffix /er/ erscheint, so erscheint auch Pluralumlaut, vorausgesetzt der Vokal ist umlautbar, vgl. Kälb-er, Wiirm-er usw. Oft existieren auch solche Beziehungen zwischen Kombinationen von außermorphologischen und morphologischen Eigenschaften einerseits und anderen morphologischen Eigenschaften andererseits. XJm auch hier ein Beispiel aus der deutschen Substantivflexion anzuführen: Wenn ein Substantiv sowohl maskulin ist als auch seinen Plural mit dem Flexiv /e/ bildet, dann bildet es auch seinen G.Sg. mit dem Flexiv /s/, vgl. Hund — N.P1. Hund-e — G.Sg. Hund-es. Solche Relationen zwischen außermorphologischen und morphologischen Eigenschaften sowie zwischen verschiedenen morphologischen Eigenschaften der Wörter haben — wie unschwer zu sehen ist — den Charakter von I m p l i k a t i o n e n (,Wenn-dann-Bedingungen'). Daß dabei keine gegenseitigen Implikationen, d. h. Äquivalenzen, vorliegen müssen, zeigen ζ. B. die morphologischen Eigenschaften von Wörtern des Typs Wurm. Wohl impliziert der er-Plural eindeutig den s-Genitiv, aber nicht umgekehrt. Wörter mit einem G.Sg. auf /s/ können im Deutschen bekanntlich Pluralformen mit den Suffixen /er/, /e/, /n/ oder /s/ haben, vgl. (des) Wurms, Hund-es, Staat-es, Zoo-s mit (die) Würm-er, Hund-e, Staat-en, Zoo-s. Die Flexionsparadigmen werden durch die Implikationen gleichsam zusammengehalten. Es gibt (außer ganz extremen Fällen von Suppletion) keine Paradigmen, die nicht auf der Basis von über das Einzelwort hinaus geltenden Implikationen aufgebaut sind, so daß man mit voller Berechtigung sagen kann, daß Flexionsparadigmen generell eine implikative Struktur haben, wie diese im einzelnen auch jeweils beschaffen ist. Wörter, deren Paradigmen die gleiche implikative Struktur haben, bilden einheitliche Flexionsklassen bzw. Teilflexionsklassen. I n diesem Sinne konstituieren die Implikationen überhaupt erst die Flexionsklassen. Die einzelnen Flexionsklassen sind durch spezifische Reihen von Implikationen gekennzeichnet. Durch das Vorhandensein solcher Implikationsmuster für die Paradigmen bleibt die Morphologie der natürlichen Sprachen erlernbar und handhabbar. Eine Sprache, in der jedes Wort anders als alle anderen flektierte, könnte nicht funktionieren. Die Zahl der suppletiven Paradigmen ist in allen Sprachen stark begrenzt. Zur Illustration von auf außermorphologischen und morphologischen Eigenschaften beruhenden Implikationsmustern vgl. die relativ einfachen Fälle von Substantiven des Typs sobdka im Russischen und des Typs Wolf im Deutschen. 3 : 3

Die implikativen Verhältnisse sind nur soweit berücksichtigt, wie es für den Zusammenhang notwendig ist.

4.1. Paradigmenstrukturbedingungen

119

(1) (a) sobdka: lexikalische Grundform (N.Sg.) endet auf /a/ 'Iii im G.Sg. /e/ im D.Sg. /u/ im A.Sg. /ax/ im P.P1. (b) Wolf: /e/ im Plural, Umlaut im Plural ^ ( Μ im G.Sg. ) w e / im D.Sg.)J [ /n/ im D.P1. J Beide Typen unterscheiden sich darin voneinander, daß im Falle von (a) der Implikationsmechanismus auf Grund einer unabhängigen phonologischen Eigenschaft funktioniert, während er im Fall (b) erst auf Grund zweier speziell zu erlernender morphologischer Eigenschaften in Gang gesetzt wird. Wohl besitzen auch die Wörter des Typs Wolf bestimmte außermorphologische Eigenschaften, die das morphologische Verhalten beeinflussen. Sie sind einsilbig und maskulin, aber diese Informationen reichen nicht aus, um den entsprechenden Implikationsmechanismus auszulösen. Auch die Wörter der Typen Bär, Wurm und Park haben diese Eigenschaften, doch sie flektieren anders als Wolf, vgl. die Pluralformen Bär-en, Würm-er und Parks. Entscheidend ist, daß das Wort Wolf maskulin ist. Wäre es ein Femininum, dann könnte ζ. B. der G.S.g nicht Wolf-(e)s lauten, vgl. (der) Maus zu (die) Maus. Auch das Implikationsmuster von Substantiven wie Wolf beruht also neben morphologischen auch auf außermorphologischen Eigenschaften. Wie stark das Implikationsprinzip in der Flexionsmorphologie wirkt, zeigen nicht nur solche relativ einfachen, sondern vor allem auch kompliziertere Fälle, wobei die paradigmenorganisierende Funktion der Implikationsmuster besonders deutlich wird. B A I L E Y (1980: 40), der die große Bedeutung implikativer Zusammenhänge für die Flexionsmorphologie und speziell für die Aneignung der Flexionsmorphologie durch das Kind hervorhebt, weist dabei auf das interessante Beispiel der ,3. Deklination' des Lateinischen hin. Wir wollen dieses Beispiel etwas näher explizieren. Zwischen der konsonantischen Deklination und der i-Deklination des Lateinischen trat bedingt durch lautlichen Zusammenfall im N.Sg. (alte i-Stämme wie gens ,Geschlecht' < *gentis und pars ,Teil' < *partis sind von konsonantischen Stämmen wie ops ,Kraft' und rex ,König' nicht mehr zu unterscheiden) sowie durch alte Parallelformen ein umfassender Ausgleich ein, wobei der Grund für die Richtung der einzelnen Ausgleichsbewegungen nicht immer rekonstruiert werden kann. Doch nicht in allen Kategorien wurden einheitliche, für die gesamte ,3. Deklination' geltende Flexionsformen erreicht. Im A./Abl.Sg. und im G./A.P1. kommen die alten »-Formen und konsonantischen Formen nebeneinander vor. Neben solchen Paradigmen, wo alle Flexionsformen einheitlich nach der i-Deklination wie bei puppis ,Achterdeck' bzw. nach der konsonantischen Deklination wie bei rex gebildet werden, gibt es auch Vermischungen zwischen den beiden (ja ohnehin einander angeglichenen) Typen. Doch diese bei erster Betrachtung der einschlägigen Fakten verwirrend wirkende Konstellation bleibt dennoch geordnet, wie sich bei näherer Beschäftigung mit den Fakten bald zeigt. Von den theoretisch sechzehn möglichen Varianten der Kombination von Markern der i- und der konsonantischen Deklination bei den vier Kasus,

120

4. Flexionsklassenstabilität lind Produktivität

wo diese nicht übereinstimmen (A./Abl.Sg. und G./A.P1.). kommen insgesamt nur fünf Varianten vor, d. h. neben der reinen i-Deklination und der reinen konsonantischen Deklination nur drei Mischvarianten. Vgl. die folgende Zusammenstellung der Beispielparadigmen puppis, ignis ,Feuer', auris ,Ohr', civis ,Bürger' und rix (die Formen nach der i-Deklination sind durch Normalbuchstaben, die nach der konsonantischen Deklination durch Großbuchstaben hervorgehoben)4: (2) »-Deklination

,gemischte' Deklinationen

(a)

(b)

N.Sg. pupp-is pupp-is G. D. pupp-l A.

pupp-im -

ign-is ign-is ign-i IGN-EM

Abi.

pupp-ϊ

ign-I

N.P1. pupp-es pupp-ium pupp-ibus

G. D.

A. Abi.

pupp-is pupp-ibus

ί

ign-es ign-ium ign-ibus ign-is ign-ibus

konsonantische Deklination

(o)

(e)

aur-is aur-is aur-l

civ-is civ-is civ-l

(reg-s —) rix reg-is reg-l

AUR-EM ^

REG-EM /ium/ im G.P1. (b) /um/ im G.P1. /es/ im A.P1. ID /e/ im Abl.Sg. ID /em/ im A.Sg. Das Zusammenwirken dieser beiden gegenläufigen Implikationsmuster ermöglicht eine relativ einfache Erlernung und Handhabung der unterschiedlichen Flexionsklassen der lateinischen ,3. Deklination', obwohl in vier Fällen verschiedene Marker miteinander konkurrieren. Dabei braucht nur auf jeweils eine oder zwei morphologische Eigenschaften der betreffenden Wörter Bezug genommen zu werden. Vgl. dazu die spezifischen Implikationsmuster für die fünf einzelnen Flexionsklassen, die nach den Prinzipien der beiden allgemeinen Implikationsmuster aufgebaut sind: (4) (a) Klasse puppis /im/ im A.Sg. =3 /!/ im Abl.Sg. ID /Is/ im A.P1. ID /ium/ im G.P1. j/is/ im G.Sg. | |/ibus/ im D./Abl.Pl.J 4

Wir vernachlässigen hier die Neutra, wo zusätzlich im N./A. PI. /a/ und /ia/ miteinander konkurrieren.

4.1. Paradigmenstrukturbedingungen

121

(b) Klasse ignis I em I im A.Sg. I'll im Abl.Sg. => /is/ im A.P1. n> /ium/ im G.P1.

j/ifl/ im G.Sg.

|

l / i b u s / im D./A.P1.J (c) Klasse auris /e/ im Abl.Sg. => /em/ im A.Sg. /is/ im A.P1. =3 /ium/ im G.P1. /is/ im G.Sg.

1

j

/i'bus/ im D./Abl.Pl.J

(d) Klasse civis /es/ im Α .PI. =3 /e/ im Abl.Sg. zd /em/ im A.Sg. /ium/ im G.P1. J/is/ im G.Sg Sgi l/ibus/ im D./Abl.Pl.j D./Abl (e) Klasse rex /um/ im G.P1.

/es/ im A.P1. id /e/ im Abl.Sg. => /em/ im A.Sg.

j/is/im G.Sg.

1

l/ibus/ im D . / A b l . P l J Morphologische Konstellationen solcherart bringen die paradigmenorganisierende Funktion der Implikationsmuster besonders klar zum Ausdruck: Die korrekte Handhabung der relativ komplizierten morphologischen Fakten der lateinischen ,3. Deklination' durch den Sprecher erfolgt auf der Basis von jeweils nur einer oder zweier morphologischer Eigenschaften für jedes Wort, die anzeigen, wie es insgesamt dekliniert wird. F ü r keine der fünf Klassen ist mehr morphologische Ausgangsinformation notwendig als beispielsweise für die starken Maskulina des Deutschen, die durch einen Plural auf je/ und das Auftreten bzw. Nichtauftreten des Pluralumlauts (Typen Wolf — W'ölf-e und Hund — Hund-e) hinreichend morphologisch charakterisiert sind. Die Kompliziertheit der diskutierten morphologischen Verhältnisse im Lateinischen äußert sich allerdings darin, daß dabei insgesamt auf acht unterschiedliche morphologische Eigenschaften Bezug genommen wird, d. h. auf alle miteinander konkurrierenden morphologischen Charakteristika. Die Implikationsmuster legen fest, wie in einer gegebenen Sprache die Flexionsparadigmen aufgebaut sind. Sie stellen den Zusammenhang zwischen den Flexionsformen eines Paradigmas her. Damit sind sie den phonologischen Strukturbedingungen (Segment-, Morphem- und Wortstrukturbedingungen) vergleichbar, die den phonologischen Aufbau der Segmente, Morpheme und Wörter einer Sprache bestimmen. Die Implikationsmuster sind keine Erzeugungsregularitäten, sondern Strukturregularitäten. Als einzelsprachliche Gegebenheiten müssen sie vom Kind in der Spracherwerbsphase erlernt werden. Auch in der Art und Weise ihrer Aneignung durch das Kind lassen sich Parallelen zu den phonologischen Strukturbedingungen finden:

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4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

Wie das Kind die phonologischen Strukturbedingungen faktisch miterlernt, indem es sich die phonologische Form der Lexikoneinheiten aneignet, so erlernt das Kind die Implikationsmuster mit, indem es sich die morphologische Modifizierung der Lexikoneinheiten im Satzzusammenhang aneignet. (Im übrigen hat auch zumindest der Großteil der phonologischen Strukturbedingungen implikativen Charakter.) In einem nicht unwesentlichen Punkt unterscheiden sich jedoch die morphologischen Implikationsmuster von den phonologischen Strukturbedingungen: Die phonologischen Strukturbedingungen sind zwar sprachspezifisch, aber sie haben eine durch die Sprachorgane bedingte universelle Basis. So ist in keiner Sprache eine Segmentstrukturbedingung möglich, die bei Vorhandensein des phonologischen Merkmals , + hoch' dem entsprechenden Segment das Merkmal , + niedrig' zuweist. Diese Merkmale schließen einander aus. Hingegen sind ζ. B . die in einer Sprache vorkommenden Numerus-Kasus-Flexive der Substantive theoretisch uneingeschränkt miteinander kombinierbar. Wir wollen dem Status der diskutierten morphologischen Interpretationsmuster Rechnung tragen, indem wir sie als i m p l i k a t i v e P a r a d i g m e n s t r u k t u r b e d i n g u n g e n bezeichnen. Normalerweise gelten die Paradigmenstrukturbedingungen jeweils für einzelne Flexionsklassen. In Fällen, wo zwei oder mehrere Flexionsklassen partiell gemeinsame Marker aufweisen wie bei den ,gemischten' Deklinationen der ,3. Deklination' des Lateinischen, können sie allerdings auch für mehrere Flexionsklassen zugleich gelten. Vgl. den in dieser Hinsicht besonders instruktiven Typ auris, wo die ParadigmenStrukturbedingung aus Teilen zweier Implikationsmuster kombiniert ist. In solchen komplizierteren Fällen muß man zwischen allgemeineren und spezifischen Paradigmenstrukturbedingungen unterscheiden, wie wir es bereits getan haben; vgl. dazu nochmals die Paradigmenstrukturbedingungen unter (3) einerseits und unter (4) andererseits. Schließlich können sich im Verlauf der Geschichte einer Sprache auf der Basis von allgemeineren Paradigmenstrukturbedingungen auch generelle Muster herausbilden, nach denen die Implikationen sämtlicher Paradigmenstrukturbedingungen aufgebaut sind, wenn diese von morphologischen Eigenschaften der Wörter ihren Ausgang nehmen. So gilt für das Neuhochdeutsche durchgängig, daß sich aus der Form des Plurals der Substantive, teilweise unter Bezugnahme auf außermorphologische Eigenschaften, die Kasusformen der Wörter ergeben, aber nicht umgekehrt. Beispielsweise haben die Maskulina und Neutra mit «-Plural immer im G.Sg. /s/ und die parallelen Feminina überhaupt keine Kasusmarker am Wort, vgl. die Kinos — des Kino-s, dem Kino usw. und die Mutti-s — der Mutti, der Mutti usw. Belebte Maskulina mit w-Plural haben im G./D./A.Sg. /n/ und die entsprechenden unbelebten im G.Sg. /s/ und fakultativ im D.Sg. /e/, vgl. die Bär-en — desjdem,/den Bär-en und die Staat-en — des Staat-es, dem Staat(-e) usw. Da diese morphologische Eigenschaft des Deutschen nicht nur für eine einzelne Flexionsklasse, sondern für das gesamte Flexionssystem des Substantivs gilt, haben wir es hier mit einem übergreifenden morphologischen Strukturzug im Sinne der systemdefinierenden Struktureigenschaften zu tun. Wir können also die oben (in Abschn. 3.1.) herausgearbeiteten morphologischen Hauptparameter, die die Grundlage für die systemdefinierenden Struktureigenschaften darstellen, um den folgenden Punkt erweitern: (5) (g) die Ausprägung derjenigen Paradigmenstrukturbedingungen, deren Ausgangspunkt morphologische Eigenschaften der Wörter (abgeleitete Flexionsformen) sind.

4.1. Paradigmenstrukturbedingungen

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In der neuhochdeutschen Substantivdeklination gibt es also solche Paradigmenstrukturbedingungen; ihre Ausgangsform ist generell die des N.P1. Das Neuhochdeutsche ist dementsprechend hinsichtlich dieses Kriteriums einheitlich aufgebaut. Sich im Laufe der Sprachgeschichte ergebende Gegeninstanzen wurden auf Grund nichtvorhandener Systemangemessenheit wieder abgebaut. Dafür sei hier nur auf ein Beispiel verwiesen: Etwa in der Zeit vom 15. bis zum 18. Jahrhundert gab es (u. a.) bei den endungslosen Maskulina mit «-Plural verschiedene Möglichkeiten der Singularflexion. Neben den sprachhistorisch regelmäßigen G./D./A.-Formen auf /n/ treten auch sFormen nach dem Vorbild der starken Maskulina und Mischformen auf, vgl. Mensch — Plural Mensch-en — G.Sg. des Mensch-enjMensch-s/Mensch-en-s und Schmerz — Plural Schmerz-en — G.Sg. des Schmerz-enjSchmerz-esjSchmerz-en-s. Bei unterschiedlichen Wörtern setzen sich ziemlich unsystematisch die einzelnen Varianten fest. Aus der Form des Plurals verbunden mit außermorphologischen Eigenschaften kann die Singularflexion nicht mehr erschlossen werden, was der entsprechenden systemdefinierenden Struktureigenschaft des Deutschen widerspricht. Die Reaktion darauf ist, daß eine Regularisierung einsetzt, die die Deklination der betreffenden Wörter im Singular vom Merkmal der Belebtheit abhängig macht: Belebte endungslose Maskulina mit w-Plural zeigen eine schwache Singularflexion, vgl. Mensch — Plural Mensch -en — G.Sg. des Mensch-en·, unbelebte endungslose Maskulina mit w-Plural weisen eine starke Singularflexion auf, vgl. Schmerz — Plural Schmerz-en — G.Sg. des Schmerz-es? Doch zurück zu den einzelnen Paradigmenstrukturbedingungen. Diese erfüllen genauer betrachtet eine zweifache Funktion: Einerseits fixieren sie den implikativen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Flexionsformen eines Paradigmas, andererseits ordnen sie, wenn Flexionsklassen existieren, den Wörtern ihre Flexionsklasse zu. Mit anderen Worten legen sie also fest, welche von mehreren sich auf eine bestimmte Kategorie (ein bestimmtes Kategorienbündel) beziehende Flexionsregel auf das jeweilige Wort angewandt wird und das für jede auftretende Kategorie. Hier stößt man nolens volens auf die Problematik der F l e x i o n s k l a s s e n m e r k male, denn bei Vorhandensein mehrerer alternativer Flexionsregeln für die gleiche Kategorie (also in allen nicht streng agglutinierenden Sprachen) müssen die Flexionsregeln explizit auf entsprechende Flexionsklassenmerkmale Bezug nehmen, damit auf die einzelnen Wörter die jeweils korrekte Regel angewandt werden kann (vgl. Abschn. 1.3). Damit lassen sich Flexionsklassenmerkmale als solche Merkmale definieren, die bei Vorhandensein mehrerer Flexionsregeln, die sich auf ein und dieselbe Kategorie/ein und dasselbe Kategorienbündel für ein und dieselbe Wortart beziehen, die Auswahl der für ein gegebenes Wort geltenden Regel steuern. Obwohl hier eine Theorie der Flexionsklassenmerkmale weder entwickelt werden soll noch kann, erweisen sich einige Bemerkungen zum Charakter der Flexionsklassenmerkmale als zweckmäßig. 6

Daß die entsprechende Zuordnung auch noch heute funktioniert, zeigt das Substantiv Typ. Als unbelebtes Substantiv flektiert es im Singular stark: des Typs, dem/den Typ. Tritt es dagegen in der Bedeutung .Bursche, Kerl' auf, flektiert es gewöhnlich auch im Singular schwach, vgl. des/dem/den Typ-en. Im übrigen sind auch partiell phonologische Faktoren für die Zuordnung verantwortlich. Die Substantive auf /or/ flektieren vom Merkmal der Belebtheit generell im Singular stark. Es heißt sowohl des Generators wie des Doktors.

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4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

Wir haben zu Beginn dieses Abschnitts festgestellt, daß Flexionsklassen durch außermorphologische, d. h. phonologische und/oder semantisch-syntaktische Eigenschaften der lexikalischen Grundform der Wörter bestimmt sein können. I m Falle von semantisch-syntaktischen Eigenschaften können die entsprechenden semantischsyntaktischen Merkmale direkt als Flexionsklassenmerkmale fungieren, also beispielsweise das Merkmal , + Menschlich' im Suaheli, auf das sich die Regel, die das Pluralpräfix wa- an Substantive anfügt, unmittelbar bezieht. Ähnlich bei phonologischen Eigenschaften der lexikalischen Grundform. Hier nimmt man am zweckmäßigsten Flexionsklassenmerkmale an, die die relevante Eigenschaft reflektieren, also ζ. B. fiir die russischen Substantive des Typs sobälca etwa ein Merkmal ,-f α-Grundform', , + «-Substantiv', , + α-Klasse' oder dgl.6 Bei Flexionsklassen, die außermorphologisch bestimmt sind, bilden also jeweils die Ausgangseigenschaften der implikativen Paradigmenstrukturbedingungen die entsprechenden Flexionsklassenmerkmale. Es gibt auch keinen Grund gegen die Annahme, daß bei den nicht außermorphologiseh bestimmten Flexionsklassen der Sprecher die den Paradigmenstrukturbedingungen zugrunde liegenden morphologischen Ausgangseigenschaften, d. h. die entsprechenden Flexionsformen wie ζ. B. die Pluralform der Substantive im Deutschen als Flexionsklassenmerkmale benutzt. Damit wären für das Deutsche substantivische Flexionsklassenmerkmale wie e-PLURAL', ,-f er-PLURAL' und s-PLURAL' anzunehmen, die nicht nur die Anwendung der betreffenden Pluralregeln, sondern auch der implizierten Kasusregeln bedingen. 7 Es ist jedoch zu beachten, daß dem Sprecher mit dem Erwerb der implikativen Paradigmenstrukturbedingungen nicht nur die jeweiligen Ausgangseigenschaften, sondern im Prinzip alle in ihnen vorkommenden morphologischen Eigenschaften (Formen) als Flexionsklassenmerkmale zur Verfügung stehen. Dieses F a k t u m wird relevant, wenn Flexionsregeln, die die gleichen Operationen für gleiche Kategorien vornehmen (die gleichen Flexive anfügen), vom Sprecher zu einheitlichen Regeln zusammengefaßt werden, was uns eine recht plausible Annahme scheint. Hier könnte dann beispielsweise die Regel, die im Deutschen das Flexiv /s/ im G.Sg. einführt, statt u. a. auf die Merkmale , + e-PLURAL, — Femininum', , + er-PLURAL', , + w-PLURAL, - Belebt' und , + s-PLURAL, - Femininum' Bezug nehmen zu müssen, sich direkt auf das in allen diesen Fällen implikativ erschließbare einheitliche Merkmal , + s-GENITIV' beziehen. Verschiedene von uns angeführte Beispiele haben bereits gezeigt, daß eine Flexionsklasse auch durch mehrere Flexionsklassenmerkmale zugleich charakterisiert sein kann. Das trifft immer dann zu, wenn entweder die Implikation einer Paradigmenstrukturbedingung auf zwei verschiedenen Eigenschaften zugleich beruht, vgl. nochmals , + n-PLURAL, — Belebt' für Substantive des Typs Staat, Schmerz im Deutschen, oder eine Paradigmenstrukturbedingung zwei bzw. mehrere Implikationen enthält, vgl. noch einmal den Typ lat. auris unter (4 c). Dabei können außermorphologisch und morphologisch basierte Merkmale beliebig miteinander kombiniert erscheinen.

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Man beachte, daß das auslautende /a/ dieser Substantive nicht unmittelbar in der Flexionsregel selbst erscheinen kann: Flektiert wird nicht die gesamte Grundform, sondern der Stamm /sobak/. 7 Zur Unterscheidung von außermorphologisch motivierten Merkmalen schreiben wir die nicht außermorphologisch motivierten Merkmale mit Großbuchstaben, womit ihrem grundsätzlich anderen Status Rechnung getragen werden soll.

4.2. Stabile und instabile Flexionsklassen

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4.2. Dominierende Paradigmenstrukturbedingungen, stabile und instabile Flexionsklassen Wir haben im vorangehenden Abschnitt, wenn es um die außermorphologische Bedingtheit des morphologischen Verhaltens von Wörtern ging, immer solche Fälle betrachtet, wo gegebene phonologische und/oder semantisch-syntaktische Eigenschaften die Flexionsklassenzugehörigkeit von Wörtern strikt implizieren. Die entsprechenden außermorphologischen Eigenschaften bilden die Ausgangseigenschaften für Paradigmenstrukturbedingungen, durch die die Flexionsklasse e i n d e u t i g bestimmt ist. Für Wörter mit den betreffenden außermorphologischen Eigenschaften gilt immer genau eine implikative Paradigmenstrukturbedingung. Als Beipsiele dafür können die Substantive im Esperanto (semantisch-syntaktische Eigenschaft: Substantiv) wie hundo, die auf /a/ endenden russischen Substantive wie sobaka und die mehrsilbigen Neutra auf Konsonant mit nichtnativer Struktur (u. a. Endbetonung) im Deutschen wie Organ und Sulfat (Plural /e/, G.Sg. /s/, D.P1. /n/) genannt werden. Es ist ein für das Verständnis der Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Flexionsklassen eines Flexionssystems ganz entscheidendes Faktum, daß es neben den Fällen der eben skizzierten Art auch solche Fälle gibt, wo zwar außermorphologische Eigenschaften von Wörtern deren Flexionsklassenzugehörigkeit nicht strikt implizieren, sondern mehrere Möglichkeiten offenlassen, aber wo die Zugehörigkeit zu einer der möglichen Flexionsklassen wahrscheinlicher ist als die Zugehörigkeit zu der/den jeweils anderen. Auf Wörter mit den betreffenden außermorphologischen Eigenschaften beziehen sich zwei oder mehrere Paradigmenstrukturbedingungen, von denen jedoch eine von den Sprechern als n o r m a l e r angesehen wird als die andere bzw. anderen. Anders ausgedrückt: Von mehreren alternativen Paradigmenstrukturbedingungen dominiert in einem spezifischen, noch näher zu fassenden Sinne jeweils eine über die jeweils andere(n). Wir wollen diese entsprechend als die d o m i n i e r e n d e P a r a d i g m e n s t r u k t u r b e d i n g u n g bezeichnen. Wegen der Bedeutung solcher Fälle für das Konzept der Klassenstabilität wollen wir einige Beispiele mehr anführen und sie etwas ausführlicher erläutern. Für die deutschen Substantive auf phonologisch kurzen (phonetisch halblangen) Vokal außer /e/ des Typs KinojFreskojPolkajFirma ist — wie bereits im Kapitel 2 gesagt — die Zugehörigkeit zur «-Pluralklasse wie bei Kino — Kino-s und Polka — Polka-s normaler als die Zugehörigkeit zur w-Pluralklasse wie bei Fresko — Fresk-en und Firma — Firm-en. Das zeigt eine ganze Reihe linguistischer Faktenbereiche. Sprachveränderungen gehen hier so vonstatten, daß Substantive der w-K lasse zur 5-Klasse übertreten. Zwei jüngere Beispiele sind Tuba und Viola, von denen jetzt neben den älteren w-Pluralen Tub-en und Viol-en auch die s-Plurale Tubas und Violas möglich sind.8 Den umgekehrten Weg des Sprachwandels gibt es nicht. Neuwörter, d. h. Neubildungen und Entlehnungen, flektieren nach der s-Klasse, vgl. Cola — Cola-s, Disko — Diskos, Manzi .(über)emanzipierte Frau' — ManzisPizza — Pizzas und Ufo — Ufos. Bildet man Nonsenswörter (etwa potentielle Kurzwörter) wie *Kepa oder *Robo, so erhalten sie ganz automatisch s-Plurale wie *Kepas und 8

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Der Leipziger DUDEN (1952) verzeichnet nur Viol-en, seit 1957 erscheint Violas; der Mannheimer DUDEN (1973) hat noch ausschließlich Viol-en. Tuba-s tritt erstmalig im Leipziger DUDEN (1980) auf, der Mannheimer DUDEN (1973) verzeichnet ausschließlieh Tub-en. Bei auf jij endenden Wörtern ist die era-Variante offenbar grundsätzlich ausgeschlossen.

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4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

*Robo-s. Treten im betrachteten Faktenbereich in der Kommunikation Versprecher mit inkorrekten Pluralformen auf, so wird es sich fast immer um normwidrige sPlurale von zur w-Klasse gehörigen Substantiven handeln, kaum aber um normwidrige w-Plurale von zur «-Klasse gehörigen Substantiven. Es sind also weit eher Versprecher des Typs * Villas statt Vill-en als *Polk-en statt Polka-s zu hören. I n der Kindersprache, also während des Spracherwerbs, gibt es eine Zeit, in der die Kinder zu allen Wörtern mit der entsprechenden phonologischen Charakteristik s-PI u rale wie ζ. B. die Firma-s, die Villa-s bilden. Das gleiche Phänomen tritt auf, wenn Ausländer in der Kommunikation Deutsch lernen; die «-Formen werden vor den w-Formen beherrscht. Schließlich sind ungrammatische s-Plu raiformen im hier relevanten Bereich akzeptabler als ungrammatische w-Pluralformen, vgl. *die Freskos und *die Firmas mit *die Kin-en und *die Polk-en. Damit steht der unterschiedliche Status der beiden Flexionsklassen für Wörter dieser phonologischen Beschaffenheit außer Frage. 10 Ähnliche Verhältnisse zeigen sich bei den maskulinen Substantiven auf /us/ im Lateinischen, wenn dabei auch die entsprechenden Fakten nicht so umfassend zugänglich sind wie bei Fällen aus gebenden Sprachen'. Die lateinischen Substantive auf /-us/ flektieren entweder nach der o-Deklination wie amicus ,Freund' — G.Sg. amlc-ϊ, N.P1. amlc-l oder nach der «-Deklination wie tribus ,Gau, Bezirk', G.Sg. trib-üs, N.P1. trib-üs. Hier ist die o-Deklination normaler als die «-Deklination, was zahlreiche nach dem Muster der o-Deklination gebildete ,Nebenformen' von «-Substantiven und Übergänge von der «- in die o-Deklination belegen. I m klassischen Latein schwanken beispielsweise u. a. aestus ,Hitze, Flut', aspectus ,Blick, Anblick', exercitus , H e e r f e t u s ,Fortpflanzung, Junges', flüctus ,Welle', früctus ,Ertrag, Genuß', gradus ,Schritt, Grad', quaestus ,Erwerb' und senätus ,Rat, Senat'. Für das Vulgärlatein ist bereits ein konsequenter Übergang aller «-Maskulina in die o-Deklination anzunehmen. I n keiner der romanischen Sprachen findet die «-Deklination eine Fortsetzung. Einen besonders interessanten Fall stellen die ins Lateinische entlehnten griechischen Neutra auf /-ma/ wie diadema ,Kopfbinde, Diadem', dogma .Lehrsatz' und schema .Haltung, Figur' dar, die im klassischen Latein nach der konsonantischen Deklination flektieren, vgl. dogma, G.Sg. dogma-tis, N.P1. dogma-ta. I n der lateinischen Volkssprache schließen sie sich trotz des nicht übereinstimmenden Genus der Klasse der α-Feminina vom Typ villa ,Landhaus', G.Sg. vill-ae, N.P1. vill-ae an, vgl. dogma, G.Sg. dogm-ae, N.P1. dogm-ae. Entscheidend ist hier also die gemeinsame phonologische Eigenschaft ,α-Endung' (vgl. dazu Abschn. 4.G.). I m Mittelhochdeutschen können auf /e/ endende Maskulina zwei unterschiedlichen Flexionsklassen angehören, der sogenannten ja-Deklination wie hirte ,Hirt', G.Sg. hirtes, N.P1. hirte oder der »-Deklination wie bote, G.Sg. bote-η, N.P1. bote-η. Wiederum ist die Zugehörigkeit zu einer dieser Flexionsklassen, nämlich zur «-Klasse, normaler als die Zugehörigkeit zur anderen. Die Wörter der ja-Deklination werden zum großen Teil, so etwa neben hirte auch hirse, rücke ,Rücken', weize ,Weizen', ende und Schate ,Schatten', auch als w-Maskulina dekliniert, aber nicht umgekehrt. Nach und nach treten sie endgültig zur w-Deklination über. Heute bildet den Rest der ,ja-Klasse' 10

Man beachte, daß die Pluralbildung des Typs Fresko — Fresk-en wegen der Stammflexion im Plural zusätzlich nicht systemangemessen ist, vgl. Abschn. 3.3.

4.2. Stabile und instabile Flexionsklassen

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nur noch ein einziges Wort, das Substantiv Käse, vgl. der Käse, des Käse-s, die Käse mit der Hirt(e), des Hirt-en, die Hirt-en. Das Beispiel der neuhochdeutschen Verben, das im Kapitel 2 als Einstieg für die hier zu behandelnde Problematik ausführlich dargestellt wurde, braucht an dieser Stelle nur noch einmal erwähnt zu werden. Auch in diesem Fall erweisen Fakten aus einer ganzen Anzahl von Bereichen den unterschiedlichen Status von miteinander konkurrierenden Flexionsklassen bei Wörtern mit denselben außermorphologischen Eigenschaften. I n diesem Fall ist die gemeinsame Eigenschaft einfach (Haupt-)Verb. Schwache Verben sind normaler als starke Verben. Bei den deutschen Modalverben gibt es zwei verschiedene Bildungen der 3.Ps.Sg.Präs.Ind., die ohne und die mit /t/, vgl. er kann und er brauch-t. Dabei ist die 0-Bildung normaler als die ί-Bildung, was der Übergang von brauch-en in die 0-Klasse in verschiedenen umgangssprachlichen und dialektalen Varianten des Deutschen zeigt, wo es er brauch wie er kann/darf/will heißt. 11 Wir wollen es mit diesen Beispielen bewenden lassen, obwohl für das Phänomen, daß Wörter mit bestimmten außermorphologischen Eigenschaften in einer gegebenen Sprache verschiedenen Flexionsklassen angehören können, von denen jedoch die Zugehörigkeit zu einer dieser Flexionsklassen wahrscheinlicher und insofern normaler als die Zugehörigkeit zu der/den jeweils anderen ist, noch viele Beispiele aus einer großen Zahl von Sprachen angeführt werden könnten. Wenn wir nach den Gründen für den unterschiedlichen Status von miteinander konkurrierenden Flexionsklassen, also Flexionsklassen, die Wörter mit den gleichen phonologischen und/oder syntaktischen Eigenschaften enthalten, fragen, so ist die Antwort darauf recht einfach: Von solchen Flexionsklassen ist jeweils diejenige normaler bzw. die normalste, die innerhalb des Flexionssystems deutlich quantitativ, d. h. nach der Anzahl der ihr zugehörigen Wörter, überwiegt. Das zeigen alle diskutierten Beispiele. Um nur zwei Fälle davon herauszugreifen: Von den deutschen Substantiven des Typs Kino/Fresko gibt es heute etwa 20 Wörter der Allgemeinsprache, die nur w-Plurale bilden (Fresko-Fresk-en), etwa 15 Wörter mit beiden Möglichkeiten der Pluralbildung (Konto — Konto-sjKont-en) und ungefähr 100 Wörter, die nur sPlurale bilden (Kino — Kino-s)}2 Unter den deutschen Modalverben gibt es nur eins, das in der 3.Ps.Sg.Präs.Ind. ein ί-Flexiv aufweist (brauchen — er brauch-t), aber sechs, bei denen kein solches Flexi ν erscheint (dürfen — er darf, ebenso können, mögen, müssen, sollen, wollen). Ähnlich stellen sich die quantitativen Verhältnisse in den anderen Fällen dar. Normalität von Flexionsklassen bzw. Dominanz von Paradigmenstrukturbedingungen bedeutet also nichts anderes als deutliches quantitatives Überwiegen von Flexionsklassen gegenüber anderen. 11

Dieses Verb tendiert auch dazu, sich syntaktisch wie die anderen Modalverben zu verhalten, vgl. Sätze wie Ich brauche nicht kommen anstelle von Ich brauche nicht zu kommen·, s. auch Abschn. 5.1. 12 Hierbei sind — wie gesagt — nur solche Wörter berücksichtigt, die auch in der Allgemeinsprache vorkommen. Wörter, die dagegen nur in Fachsprachen und ähnlichen Kontexten auftreten, werden normalerweise vom Großteil der Sprecher einer Sprachgemeinschaft überhaupt nicht verwendet (oft nicht einmal gekannt) und können sich demzufolge auch nicht auf die morphologische Entwicklung auswirken. Unter den hier zur Debatte stehenden Wörtern auf phonologisch kurzen Vokal außer /e/ gibt es besonders viele derartige Substantive, vgl. ζ. B. das Alpaka — die Alpakas und die Toccata — die Toccat-en.

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4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

Außer solchen Fällen, wo bei Vorhandensein zweier bzw. mehrerer Flexionsklassen, die sich auf Wörter mit den gleichen außermorphologischen Eigenschaften beziehen, eine als normaler empfunden wird als die andere bzw. anderen, kommen jedoch auch solche Fälle vor, wo sich miteinander konkurrierende Flexionsklassen nicht in ihrer Normalität unterscheiden. Hier ist die Zugehörigkeit eines gegebenen Wortes zu einer der möglichen Flexionsklassen nicht wahrscheinlicher als die Zugehörigkeit zur anderen. 13 Mit anderen Worten: Von den entsprechenden alternativen iniplikativen Paradigmenstrukturbedingungen dominiert keine über die andere. Nach dem bisher Gesagten ist es nicht überraschend, daß diese Konstellation auftritt, wenn zwei Flexionsklassen, denen die gleichen außermorphologischen Eigenschaften zugrunde liegen, etwa gleichstark belegt sind. Solche Fälle sind offenbar nicht sehr häufig. Ein gutes Beispiel für diese Konstellation bilden hier die Substantive auf /a/ im frühen Althochdeutschen. Sie werden entweder wie geba, G.Sg. geba, N.P1. gebä nach der starken ö-Deklination oder wie zunga, G.Sg. zung-ün, N.P1. zung-ün nach der schwachen w-Deklination flektiert. Schon von Beginn der schriftlichen Überlieferung an gibt es Schwankungen zwischen beiden Klassen und zwar — was entscheidend ist — in beiden Richtungen: Von Substantiven der ö-Deklination wie erda ,Erde' werden auch Flexionsformen nach der n-Deklination, von Substantiven der w-Deklination wie fasta ,das Fasten' werden auch Flexionsformen nach der ö-Deklination gebildet. Bei verschiedenen Wörtern wie ζ. B. scüvala ,Schaufel' ist auf Grund des Schwankens überhaupt nicht entscheidbar, in welche Klasse sie ursprünglich gehören. Entlehnungen aus anderen Sprachen schließen sich der m-Klasse wie flra ,Feier', glokka ,Glocke' und kirihha ,Kirche' oder der ö-Klasse wie spisa ,Speise', kestiga ,Züchtigung' und regula ,Regel' an oder flektieren nach beiden Klassen wie pina ,Pein' oder sihhila ,Sichel'. Es ist leicht zu sehen, daß sich das Verhältnis dieser beiden Klassen zueinander grundsätzlich von dem der vorher diskutierten Fälle unterscheidet. Die Zugehörigkeit von Wörtern zu bestimmten Flexionsklassen, ihr morphologisches Verhalten, ist also je nach der konkreten Konstellation im Flexionssystem u n t e r s c h i e d l i c h s t a r k d e t e r m i n i e r t . Diese unterschiedliche Determiniertheit ergibt sich daraus, ob ein Wort auf Grund seiner phonologischen und/oder semantisch-syntaktischen Eigenschaften genau einer oder aber mehreren Flexionsklassen angehören kann und wie stark diese Flexionsklassen jeweils relativ belegt sind. Wir wollen solchc miteinander konkurrierenden Flexionsklassen K o m p l e m e n t ä r k l a s s e n nennen: WTenn zwei oder mehrere Flexionsklassen Wörter mit den gleichen für die Klassenzugehörigkeit relevanten phonologischen und/oder semantisch-syntaktischen Eigenschaften enthalten, dann bilden diese Flexionsklassen Komplementärklassen. Die Einschränkung auf für die Klassenzugehörigkeit relevante außermorphologische Eigenschaften ist deshalb notwendig, weil WTörter natürlich jeweils eine ganze Reihe entsprechender Eigenschaften besitzen, aber die morphologische Klassifizierung in den einzelnen Sprachen immer nur auf bestimmte Eigenschaften Bezug nimmt. So enthalten ζ. B. im Lateinischen die o-, die ä- und die konsonantische Deklination jeweils auch Personenbezeichnungen, vgl. vir ,Mann', femina ,Frau' und homo ,Mensch'. Dennoch sind diese drei Klassen keine Komplementärklassen, denn die morphologische Klassifizierung der lateinischen Substantive beruht ausschließlich Es ist sehr unwahrscheinlich, worin auch nicht prinzipiell ausgeschlossen, daß es Fälle gibt, wo mehr als zwei gleichstarke Flexionsklassen nebeneinanderstehen.

4.2. Stabile und instabile Flexionsklassen

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auf den ,Endungen' der Wörter und (partiell) ihrem Genus, anders als ζ. B. in verschiedenen afrikanischen Sprachen, wo die morphologische Klassifizierung von Substantiven auf semantischen Eigenschaften wie ,Person', ,Tier', ,Pflanze' usw. basiert. Anhand der gegebenen Beispiele ist leicht auszumachen, daß eine gegebene Flexionsklasse oft genau eine Kompleinentärklasse hat, vgl. etwa die o- und die «Deklination im Lateinischen oder die deutschen Modalverben. Manchmal existieren jedoch ganze Gruppen von Komplementärklassen. Um auf eines unserer Beispiele zurückzukommen: Bei den deutschen Substantiven des Typs Kino/Fresko gibt es neben der s- und der «-Pluralbildung noch zwei weitere, wenn auch periphere Möglichkeiten, nämlich die Pluralflexion mit /i/ und /ta/, vgl. Tempo — Temp-i (neben Tempo-s) und Aroma — Aroma-ta (neben Aroma-s und Arom-en). Hier stehen also vier Komplementärklassen nebeneinander, wobei allerdings die i- und die ία-Klasse nur noch Wörter enthalten, die zugleich anderen Klassen angehören. In diesem Fall ist die Zugehörigkeit zur s-Klasse normaler als die Zugehörigkeit zur w-Klasse, und diese ist offensichtlich normaler als die Zugehörigkeit zur i- oder ία-Klasse.14 Wir können jetzt die sich ergebenden Determiniertheitsgrade für die Zugehörigkeit eines Wortes zu einer bestimmten Flexionsklasse in der folgenden Hierarchie zusammenfassen : — Hat eine Flexionsklasse keine Komplementärklasse, dann ist die Zugehörigkeit eines Wortes mit den entsprechenden außermorphologischen Eigenschaften zu dieser Flexionsklasse eindeutig bestimmt. — Hat eine Flexionsklasse eine Komplementärklasse/Komplementärklassen mit schwächerer Belegung, dann ist die Zugehörigkeit eines Wortes mit den entsprechenden außermorphologischen Eigenschaften zu dieser Flexionsklasse wahrscheinlich. — Hat eine Flexionsklasse eine Komplementärklasse mit etwa gleichstarker Belegung, dann ist die Zugehörigkeit eines Wortes mit den entsprechenden außermorphologischen Eigenschaften zu dieser Flexionsklasse zufällig. — Hat eine Flexionsklasse eine Komplementärklasse/Komplementärklassen mit stärkerer Belegung, dann ist die Zugehörigkeit eines Wortes mit den entsprechenden au ßermorphologischen Eigenschaften zu dieser Flexionsklasse unwahrscheinlich. Auf der Grundlage der Paradigmenstrukturbedingungen bzw. der ihnen zugrunde liegenden Implikationsmuster und dem in diesem Abschnitt herausgearbeiteten unterschiedlichen Status der Flexionsklassen im Rahmen eines gegebenen Flexionssystems soll jetzt das oben nur intuitiv eingeführte Konzept der Klassenstabilität, genauer: der Stabilität von Flexionsklassen, etwas exakter gefaßt werden. Wir unterscheiden in dieser Hinsicht drei Typen von Flexionsklassen, stabile, instabile und stabilitätsneutrale. S t a b i l e Flexionsklassen sind solche Flexionsklassen, deren Paradigmen dem Iniplikationsniuster einer für Wörter mit den betreffenden außermorphologischen Eigenschaften ausschließlich geltenden bzw. dominierenden Paradigmenstrukturbedingung folgen. Stabile Flexionsklassen sind also mit anderen Worten Klassen ohne Komplementärklassen oder mit schwächer belegten Komplementärklassen. Stabile Flexionsklassen 14

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Vgl. dazu Abschn. 4.3. stud, gramm. XXI

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4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

ohne Komplementärklassen unifassen bereits alle zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Sprache vorhandenen Wörter mit den jeweiligen konstitutiven außermorphologischen Eigenschaften; sie können nur durch Neuwörter (Neubildungen oder Entlehnungen) erweitert werden. Stabile Flexionsklassen mit Komplementärklassen werden demgegenüber sowohl durch Neuwörter als auch durch Übertritte aus den Komplementärklassen erweitert. I n s t a b i l e Flexionsklassen sind solche Flexionsklassen, deren Paradigmen einem Iniplikationsmuster folgen, das mit der für Wörter mit den betreffenden außermorphologischen Eigenschaften dominierenden Paradigmenstrukturbedingung nicht übereinstimmt. Instabile Flexionsklassen sind Klassen mit stärker belegten Komplementärklassen. Sie lassen sich damit als Flexionsklassen charakterisieren, bei denen die jeweils dominierende Paradigmenstrukturbedingung faktisch außer Kraft gesetzt ist. Sie gilt nicht, obwohl sie normalerweise gelten sollte. Instabile Flexionsklassen verlieren Wörter durch Übertritte in die stabilen Komplementärklassen. S t a b i l i t ä t s n e u t r a l e Flexionsklassen sind Flexionsklassen von Wörtern mit außermorphologischen Eigenschaften, für die keine dominierende Paradigmenstrukturbedingung existiert. · Stabilitätsneutrale Flexionsklassen sind also Klassen mit etwa gleichstark belegten Komplementärklassen. Sie können durch Neuwörter erweitert werden. Zwischen stabilitätsneutralen Klassen gibt es unsystematische Schwankungen und eventuell Vermischungen. Sie können durch Übertritte sowohl Wörter gewinnen als auch verlieren. Zusammenfassend kann also festgestellt werden, daß Flexionsklassenstabilität nichts anderes ist als die Übereinstimmung der Paradigmen einer Flexionsklasse mit der für die Wörter mit den entsprechenden außermorphologischen Eigenschaften dominierenden implikativen Paradigmenstrukturbedingung. Damit ist die Stabilität von Flexionsklassen in ähnlicher Weise auf den dominierenden Paradigmenstrukturbedingungen begründet wie die Systemangemessenheit morphologischer Erscheinungen auf den systemdefinierenden Struktureigenschaften. Wie die Systemangemessenheit bei Vorhandensein miteinander konkurrierender Strukturzüge, so ist auch die Flexionsklassenstabilität bei Vorhandensein von Komplementärklassen immer nur quantitativ erfaßbar. Für die Ermittlung der Flexionsklassenstabilität ist dabei entscheidend, wieviel Wörter eine Flexionsklasse im Vergleich zu ihrer Komplementärklasse bzw. ihren Komplementärklassen enthält.15 Es ist sinnvoll, das Konzept der Flexionsklassenstabilität — so wie wir es getan haben — als ,Stabilität von Flexionsklassen' und nicht als ,Stabilität von Paradigmen hinsichtlich ihrer Flexionsklassenzugehörigkeit' zu verstehen. Das, was wir Flexionsklassenstabilität genannt haben, stellt nämlich eine wesentliche Grundlage für die morphologische Produktivität dar, und diese ist natürlich immer nur bezogen auf 15

Daß für den Status miteinander konkurrierender Flexionsklassen die relative Belegung der Flexionsklassen (Type-Frequenz) und nicht die relative Texthäufigkeit der jeweils zugehörigen Wörter (Token-Frequenz) entscheidend ist, bestätigt ein interessantes Detail in LINELL (1977: 99): Obwohl im Schwedischen in den Fällen, wo die ar- und die er-Pluralklasse miteinander konkurrieren, die ar-Variante nach der Texthäufigkeit nicht überwiegt, ist sie auf Grund der stärkeren Belegung der ar-Klasse eindeutig normaler, was verschiedene Fakten u. a. aus den Bereichen Nonsenswörter, Neuwörter, Kindersprache klar erweisen.

4.2. Stabile und instabile Flexionsklassen

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Flexionsklassen, nicht aber auf Einzelparadigmen, faßbar. Dem widerspricht nicht, daß die .agierenden' Einheiten, deren Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit dem Implikationsmuster der dominierenden Paradigmenstrukturbedingung die Stabilität einer Flexionsklasse konstituiert, die einzelnen Paradigmen sind. Der Übergang von einer Flexion zur anderen erfolgt in der Regel paradigmenweise und nicht klassenweise, was zahlreiche Überbleibsel ehemals größerer Flexionsklassen zeigen, vgl. den früher erwähnten Fall Käse als letzten Rest der mittelhochdeutschen ^'α-Deklination. Wir wollen uns jetzt der Frage zuwenden, auf welche Weise bei den verschiedenen Typen von Flexionsklassen die morphologischen Lexikonrepräsentationen, d. h. die Lexikonmerkmale, und die implikativen Paradigmenstrukturbedingungen bei der Festlegung der Flexion für die einzelnen Wörter zusammenwirken. Wir haben weiter oben bereits gesehen, wie das funktioniert, wenn die Zugehörigkeit von Wörtern zu einer Flexionsklasse durch seine außermorphologischen Eigenschaften eindeutig bestimmt ist, d. h. bei stabilen Flexionsklassen ohne Komplementärklassen. In diesem Fall braucht der Sprecher nur eine Paradigmenstrukturbedingung zu erlernen, die besagt, daß Wörter mit den außermorphologischen Eigenschaften Ei ··· E n in den Kategorien K j . . . K n die morphologischen Marker Μ α ... M0 aufweisen. Für die Festlegung des morphologischen Verhaltens der einzelnen Wörter sind keine zusätzlichen morphologischen Informationen notwendig; es müssen keine speziellen idiosynkratischen (morphologisch basierten) Merknjale erlernt werden. Die Paradigmenstrukturbedingung gilt strikt für alle Wörter mit den entsprechenden phonologischen und/oder semantisch-syntaktischen Eigenschaften. Ein oder mehrere Flexionsklassenmerkmale, die diese außermorphologischen Eigenschaften reflektieren, bewirken die Anwendung der Paradigmenstrukturbedingung. Wenn bei Wörtern mit den außermorphologischen Eigenschaften E x . . . E n eine stabile und eine instabile Flexionsklasse einander gegenüberstehen, so muß der Sprecher anders als im vorangehenden Fall erlernen, daß für diese Wörter n o r m a l e r w e i s e eine Paradigmenstrukturbedingung gilt, die besagt, daß in den Kategorien K x . . . K n die morphologischen Marker Μ!... M0 auftreten. Für die Wörter, die sich gemäß der Paradigmenstrukturbedingung verhalten, d. h. denen der stabilen Komplementärklasse, ist wiederum keine zusätzliche Information über die Flexionsklassenzugehörigkeit notwendig. Anders für die Wörter, die sich nicht gemäß der Paradigmenstrukturbedingung verhalten, also den Wörtern der instabilen Koniplementärklasse, die vom normalen Muster abweichen. Hier ist für jedes entsprechende einzelne Wort speziell zu erlernen, daß es sich nicht gemäß der normalen Paradigmenstrukturbedingung verhält und welcher anderen Paradigmenstrukturbedingung es folgt. Das heißt, es wird erstens die Anwendung der für Wörter mit den gegebenen außermorphologischen Eigenschaften als normal empfundenen Paradigmenstrukturbedingung verhindert und zweitens die Anwendung einer anderen Paradigmenstrukturbedingung vorgeschrieben. Da in der Regel ein Wort nicht zugleich nach zwei Flexionsklassen flektiert werden kann16, können diese beiden notwendigen Informationen durch ein einheitliches Merkmal vermittelt werden. Ist ein Wort einer instabilen Komplementärklasse 16



Das besagt nicht, daß es nicht Wörter gibt, die alternativ nach mehreren Flexionsklassen flektiert werden können, vgl. ζ. B. Block — Plural Blöck-e oder Blocks, Viola — Plural Violas oder Viol-en, gären — Präteritum es gärte oder es gor usw.

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4. Flexionsklasscnstabilität und Produktivität

im Lexikon als , + FKj' spezifiziert, so bedeutet das zugleich, daß es nicht nach der entsprechenden stabilen Flexionsklasse FK; flektiert wird. Indem sich das seine Muttersprache erlernende Kind aneignet, daß f ü r ein Wort eine aridere als die dominierende Paradigmenstrukturbedingung gilt, wird damit die Anwendung der dominierenden Paradigmenstrukturbedingung blockiert. Synchron gesehen verdanken also instabile Komplementärklassen ihre Existenz der expliziten Blockierung der jeweils dominierenden Paradigmenstrukturbedingung. Es ist leicht zu sehen, daß sich die Kleinkinder zunächst die dominierenden Paradigmenstrukturbedingungen aneignen und diese uneingeschränkt auf die Wörter mit den entsprechenden außermorphologischen Eigenschaften anwenden. Die Blockierungen werden erst nachträglich unter dem normativen Druck der Sprachgemeinschaft vorgenommen. Dadurch werden dann ζ. B. Formen wie er schwimm-te und die Villa-s durch er schwamm, und die Vill-en ersetzt. Jeder im Laufe der Sprachgeschichte sich vollziehende Übertritt von einer instabilen in eine stabile Komplementärklasse, wie es gegenwärtig beispielsweise bei den Wörtern gären (es gor > es gär-te) und Tuba (die Tub-en > die Tuba-s) im Gange ist, bedeutet einen Sieg der jeweils dominierenden Paradigmenstrukturbedingung, d. h. den Abbau einer Blockierung im Lexikon. Es bleibt noch die Konstellation, daß sich bei Wörtern mit den außermorphologischen Eigenschaften E j . . . E n zwei stabilitätsneutrale Klassen gegenüberstehen. Hier erlernt der Sprecher zwei g l e i c h b e r e c h t i g t e Paradigmenstrukturbedingungen, die jeweils besagen, daß in den Kategorien K x . . . K n die morphologischen Marker M j . . . M0 auftreten. Jede der beiden Paradigmenstrukturbedingungen nimmt auf ein spezielles Flexionsklassenmerkmal Bezug, das auf rein morphologischen Eigenschaften beruht. Die beiden Komplementärklassen sind gleichberechtigt. Hier gibt es keine Blockierungen einer dominierenden Paradigmenstrukturbedingung. Zwischen den beiden Komplementärklassen kann es nicht zu systematischen Übertritten, sondern nur zu unsystematischen Schwankungen kommen. Abschließend für jeden der diskutierten Fälle noch ein Beispiel: Die Wörter der russischen α-Deklination wie sobäka, die einer stabilen Klasse ohne Komplementärklasse angehören, haben im Lexikon kein Flexionsklassenmerkmal. Die phonologische Struktur des Wortes (Grundform endet auf /a/) löst die Implikation der entsprechenden strikt für diese Wörter geltenden Paradigmenstrukturbedingung aus, die den Aufbau des Flexionsparadigmas festlegt. Auch die Substantive der deutschen s-Pluralklasse des Typs Kino, einer stabilen Flexionsklasse mit instabiler Komplementärklasse, weisen im Lexikon kein Flexionsklassenmerkmal auf. Die Implikation der für Wörter mit der entsprechenden phonologischen Eigenschaft (Grundform endet auf /V/ ungleich /e/) dominierenden Paradigmenstrukturbedingung wird durch das Vorhandensein ebendieser außermorphologischen Eigenschaft in Gang gesetzt, wodurch der korrekte Aufbau des Flexionsparadigmas gewährleistet ist. Die Substantive der zugehörigen instabilen Komplementärklasse mit n-Pluralbildung wie Fresko haben im Lexikon das Merkmal , + ra-PLUBAL'. Dieses Merkmal hat eine doppelte Funktion. Es blockiert die Anwendung der Paradigmenstrukturbedingung der s-Pluralklasse und bedingt die Anwendung der Paradigmenstrukturbedingung der w-Pluralklasse. Die Wörter der ö-Deklination wie geba und der «-Deklination wie zunga im frühen Althochdeutschen, die stabilitätsneutrale Komplementärklassen bilden, haben im

4.2. Stabile und instabile Flexionsklassen

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Lexikon jeweils ein Flexionsklassenmerkmal. Sie sind als ,+ö-DEKLINATION' und ö-DEKLINATION' (oder als ,-w-DEKLINATION' und ,+«.-DEKLINATION') spezifiziert. Da es hier keine dominierende Paradigmenstrukturbedingung gibt, haben diese Merkmale nur die Funktion, nämlich die Anwendung der jeweils zutreffenden Paradigmenstrukturbedingung zu garantieren. Wir haben oben (in Kap. 0) gesagt, daß die Markiertheit das negative Gegenstück der Natürlichkeit bildet: Je mehr Natürlichkeit, umso weniger Markiertheit, und je mehr Markiertheit, um so weniger Natürlichkeit. Dieses Verhältnis kommt bei den eben betrachteten Lexikonrepräsentationen für die unterschiedlichen Typen von Flexionsklassen gut zum Ausdruck. Die Klassenstabilität ist eine Erscheinungsform der systembezogenen Natürlichkeit in der Morphologie. Stabile Flexionsklassen sind also unmarkiert und instabile Flexionsklassen sind markiert, während zwischen stabilitätsneutralen Klassen kein Markiertheitsverhältnis besteht. Das spiegelt sich darin, daß beim Gegenüberstehen einer stabilen und einer instabilen Komplementärklasse nur die Wörter der markierten Klasse im Lexikon über eine explizite Angabe der Flexionsklasse verfügen, wohingegen sich die Flexion der Wörter der unmarkierten Klasse automatisch' ergibt. Hier haben wir also den für die Morphologie insgesamt durchaus nicht typischen Fall, daß sich morphologische Natürlichkeit unmittelbar als Einfachheit in diesem formalen Sinne realisiert. Der Übergang jedes einzelnen Wortes von einer instabilen Klasse in die stabile Komplementärklasse bedeutet eine Reduzierung des notwendigen Lernaufwands, d. h. eine Vereinfachung des Sprachsystems. Die implikativen Paradigmenstrukturbedingungen überhaupt, d. h. die implikativen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Flexionsformen der Paradigmen, ermöglichen eine relativ einfache Aneignung und Handhabung von Flexionssystemen durch den Sprecher, selbst wenn diese sehr komplex sind. Die dominierenden implikativen Paradigmenstrukturbedingungen haben dazu noch eine Reihe weiterer, spezifischer Charakteristika; sie — fixieren die vom Sprecher als normal empfundenen, typischen morphologischen Eigenschaften von phonologisch und/oder semantisch-syntaktisch definierten Gruppen von Wörtern17; — bilden den Maßstab für die Stabilität von Flexionsklassen und stellen (wie noch zu zeigen sein wird) eine wesentliche Grundlage für die Produktivität von Flexionsklassen dar; — wirken in Richtung auf eine strikte Kopplung der morphologischen Eigenschaften der Wörter an deren außermorphologische (phonologische, semantisch-syntaktische)Eigenschaften und bedingen so den Abbau idiosynkratischer morphologischer Eigenschaften; — halten solche Flexionsklassen, die auf Grund ihres quantitativen Übergewichts Potenzen für eine Ausdehnung im Flexionssystem haben, stabil und bewirken die Reduzierung von Klassen ohne solche Potenzen bis hin zum Abbau; — bedingen den Klassenwechsel von Wörtern und legen dessen Richtung fest; — prägen die Gliederung von Flexionssystemen bzw. Teilflexionssystemen in Flexionsklassen und wirken der Aufsplitterung des Flexionssystems durch beliebige 17

Vgl. dazu die in LINELL (1977) vorgelegten Ergebnisse eines Tests zur Pluralbildung von Nonsenswörtern im Schwedischen. In den Fällen, wo die außermorphologischen Eigenschaften der getesteten Wörter die Zuordnung zu zwei verschiedenen Pluralklassen, die ar- und die er-Pluralklasse, zulassen, dominiert die Pluralbildung nach der stabilen ar-Klasse klar.

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4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

Vermischung der Paradigmen oder phonologisch bedingte Differenzierung in zu viele Flexionsklassen entgegen. Kurz zusammengefaßt läßt sich also feststellen, daß die dominierenden Paradigmenstrukturbedingungen die Herausbildung und Erhaltung von Flexionssystemen favorisieren, deren Flexionsklasseneinteilung auf den außermorphologischen Eigenschaften der Wörter beruht, d. h. unabhängig motiviert ist, also solchen Flexionssystemen, die hinsichtlich des Verhältnisses von außermorphologischen und morphologischen Eigenschaften der Wörter einheitlich und systematisch aufgebaut und entsprechend einfach zu handhaben sind.18 Wir haben in diesem Abschnitt, wenn es um die Klassenstabilität ging, immer von stabilen, instabilen und stabilitätsneutralen Flexionsklassen gesprochen, haben also die Stabilität stets auf ganze Flexionsklassen bezogen. Das ist nicht ganz korrekt. Wenn wir uns an die oben (im Abschn. 1.4.) vorgenommene Bestimmung des Begriffs Flexionsklasse erinnern, so beruhte diese u. a. auf der formalen Einheitlichkeit der abgeleiteten Flexionsformen, nicht aber der Grundformen. In diesem Sinne gehören also ζ. B. lat. equus und vir zur gleichen Flexionsklasse, der maskulinen o-Deklination, auch wenn sie sich im N.Sg. unterscheiden, wo einmal das grammatische Morphem /us/, einmal aber eine Form ohne grammatisches Morphem erscheint. Dasselbe gilt auch sowohl für die Maskulina als auch für die Feminina der w-Pluralklasse im Deutschen, wo sich jeweils auf /e/ endende und endungslose Substantive gegenüberstehen, vgl. Hase — G./D./A.Sg. Hase-n — PI. Hase-η und Bär — G./D./A.Sg. Bär-en — PI. Bär-en sowie Straße - G./D./A.Sg. Straße — PI. Straße-η und Burg - G./D./A.Sg. Burg — PI. Burg-en. Die Paradigmenstrukturbedingungen beziehen sich aber auf außermorphologische Eigenschaften der Grundform. In Fällen wie den genannten, wo die Grundformen einer einheitlichen Flexionsklasse eine unterschiedliche phonologische Struktur haben, sind also damit auch jeweils unterschiedliche Paradigmenstrukturbedingungen anzunehmen, die eine unterschiedliche Stabilität der Teilklassen bedingen können. Daß diese Annahme nicht nur hypothetisch ist, zeigen die erwähnten Beispiele aus dem Deutschen: Bei den Maskulina bilden die Substantive auf /e/ des Typs Hase eine stabile Teilklasse mit einer instabilen Komplementärklasse, die nur noch aus dem Wort Käse — Plural Käse besteht. Dagegen bilden die entsprechenden endungslosen Wörter vom Typ Bär eine instabile Teilklasse, deren stabile (stabilste) Komplementärklasse die e-Plurale des Typs Wolf/Hund — Plural Wölf-ejHund-e darstellen. 19 Anders bei den Feminina. Hier konstituieren die auf /e/ endenden Substantive des Typs Straße eine stabile Teilklasse ohne Komplementärklasse, während 18

18

Auch an dieser Stelle ist ein Vergleich mit dem Begriffsapparat COSERIUS nicht uninteressant: Bezogen auf diesen würden die dominierenden Paradigmenstrukturbedingungen einen Teil des ,Systems' ausmachen, denn „das System als solches geht schon über das historisch Verwirklichte hinaus, weil es auch das nach den bestehenden (in der Norm nur teilweise angewandten) Regeln realisierbare enthält" (1975: 141). Was innerhalb der Flexionsmorphologie „im System begründet" ist und „im Laufe der Zeit in die Norm aufrückt" (143), ist normalerweise nichts anderes, als nach dem Muster von stabilen Flexionsklassen analog gebildete neue Flexionsformen. — Da (wie wir oben gesehen haben, vgl. Anm. 9 zum Kap. 3) die systemdefinierenden Struktureigenschaften etwa COSERIUS ,Sprachtyp' entsprechen, ähnelt unsere Konstellation .Flexionssystem — dominierende Paradigmenstrukturbedingungen — systemdefinierende Struktureigenschaften' hinsichtlich der Morphologie in gewisser Weise COSERIUS Triade ,Norm — System — Sprachtyp'. Weitere Komplementärklassen bilden hier die er- und die s-Plurale.

4.2. Stabile und instabile Flexionsklassen

135

die endungslosen Wörter des Typs Burg eine stabile Teilklasse mit instabiler Komplementärklasse bilden. Diese Komplementärklasse machen die e-Plurale des Typs Stadt — Plural Städt-e aus. Die jeweiligen Teilklassen einer Flexionsklasse verhalten sich auch entsprechend unterschiedlich in bezug auf Sprachveränderungen. Die HaseTeilklasse hat seit dem Mittelhochdeutschen alle auf /e/ endenden Maskulina außer einem einzigen Wort aufgenommen. Dagegen verliert die J5är-Teilklasse Wörter an die Klasse der e-Plurale. So sind seit H. Patjl (vgl. Paul (1917: 34)) beispielsweise die Wörter Aar, Greif und Hagestolz von der n- in die e-Pluralklasse übergegangen. Die (SirajSe-Klasse nimmt alle Neuwörter auf, die Feminina sind und auf /e/ enden, vgl. ζ. B. Empore, Krise und Sonate, dazu moderner Fritüre, Kolchose und Emanze. I n die Burg-Klasse sind verschiedene Wörter der e-Klasse übergetreten, vgl. Flucht — Flucht-en und Zucht — Zucht-en, von denen bei Paul (1917: 75) nur die Pluralformen Flücht-e und Zücht-e angegeben sind, sowie das aus dem Englischen entlehnte Wort Box — Box-en. Von Rechts wegen müßte man in solchen Fällen, die durchaus nicht selten sind, jeweils von stabilen, instabilen bzw. stabilitätsneutralen Teilflexionsklassen sprechen. Wir wollen das jedoch aus Gründen der Einfachheit der Terminologie nur dann konsequent tun, wenn es auf den Unterschied von Flexionsklassen und Teilklassen ankommt. Die Problematik Flexionsklasse — Teilflexionsklasse erschöpft sich jedoch nicht im Terminologischen. Sie hat verschiedene Aspekte, von denen einer für die hier zur Debatte stehende Problematik besonders wichtig ist: Wenn die Stabilität nicht ganzen Flexionsklassen, sondern außermorphologisch definierten Teilklassen zukommt, dann ergibt sich die Frage, wie weit oder wie eng solche Teilklassen gefaßt werden, d. h., auf wie spezifische Eigenschaften dabei Bezug genommen wird, wenn sich dafür unterschiedliche Möglichkeiten anbieten. Da es von den Prinzipien der Klassifizierung abhängen kann, ob ein Wort in einem konkreten Fall einer stabileren, weniger stabilen oder auch instabilen Teilklasse zugeordnet wird, sind diese Prinzipien der Teilklassenbildung für die Struktur und Entwicklung eines Flexionssystems von nicht geringer Bedeutung. Um ein Beispiel anzuführen: Deutsche Substantive wie Biß, Dachs, Hals, Krebs, Kreis, Kürbis, Schlitz und Sturz könnten theoretisch entweder als auf Konsonant endende Maskulina mit nativer phonologischer Struktur oder als Maskulina auf dentale Spirans bzw. Affrikate klassifiziert werden. Im ersten Fall würden sie zu einer Gruppierung von Substantiven gehören, bei denen es vier verschiedene Komplementärklassen gibt. Neben den e-Pluralen des Typs Biß — Biss-e existieren hier auch s-Plurale wie Park — Park-s, w-Plurale wie Mensch — Mensch-en und er-Plurale wie Wurm — Würm-er, von denen bei Neuwörtern sowohl e- als auch s-Plurale auftreten. Im zweiten Fall hingegen würden sie einer Gruppierung von Substantiven zugeordnet, bei der es nur zwei Komplementärklassen gibt, eine sehr stabile Teilklasse der e-Plurale und eine instabile Teilklasse der w-Plurale mit wohl nur drei Wörtern (Ochs, Schmerz und Spatz). Welche Klassifizierung von den Sprechern wirklich vorgenommen wird, zeigt die Behandlung von Neuwörtern mit den einschlägigen außermorphologischen Eigenschaften: Alle entlehnten und neu abgeleiteten Maskulina, die auf dentale Spirans bzw. Affrikate enden, schließen sich der e-Pluralklasse an, vgl. u. a. Boß — Boss-e, Exkurs — Exkurs-e, Keks — Keks-e, Proporz — Proporz-e, Topas — Topas-e und Ukas — Ukas-e sowie Schlaks — Schlaks-e und Schlumps — Schlumps-e. Andere Pluralbildungen, speziell auch s-Plurale (vgl. engl, boss — boss-es), kommen hier

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4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

nicht vor. 20 Das bedeutet also, daß die Sprecher offensichtlich eine spezielle Teilklasse der maskulinen e-Pluralklasse konstituieren, die n u r Substantive auf dentale Spirans bzw. Affrikate enthält. Neuwörter mit den entsprechenden außermorphologischen Eigenschaften können sich d a n n n u r dieser Teilklasse anschließen, weil die einzig existierende Komplementärklasse mit Wörtern des Typs Schmerz — Schmerz-en instabil ist. Dieses Beispiel zeigt wie viele parallele Fälle, daß bei der Flexionsklassenzuordnung von Wörtern auf sehr spezifische außermorphologische Eigenschaften Bezug genommen werden kann, wenn dadurch eine eindeutige oder sehr wahrscheinliche Zuordnung der Wörter erreicht wird. Hier schließt sich ganz organisch eine Problematik an, die (worauf LINELL (1977: 97) hinweist, bisher von der modernen Grammatiktheorie vernachlässigt wurde, nämlich die der Analogiewirkung von ,Reimwörtern': E s ist ein altbekanntes F a k t u m , daß bei Klassenübertritten von Wörtern oft die Existenz von auf sie reimenden Wörtern in der aufnehmenden Flexionsklasse eine Rolle spielt; vgl. dazu ζ. B. KNUDSEN (1976: 16), wo auf das Vorhandensein verschiedener durch Klassenübertritte entstandener Gruppen von ,Reimwörtern' bei den konsonantischen Feminina im Altisländischen aufmerksam gemacht wird (u. a. brlk ,Brett', flik ,Zipfel', spik ,Fliese', tik ,Hündin' sowie rgng ,Spant', spQtig ,Platte', stgng ,Stange', tgng ,Zange'). LINELL (1977) hat am schwedischen Material gezeigt, daß sich Testpersonen bei der Flexion von Nonsenswörtern ebenfalls an vorhandenen Reimwörtern orientieren. So h a t t e beispielsweise unter den Substantiven, bei denen ,eigentlich' überwiegend Plurale auf /ar/ zu erwarten wären, das Nonsenswort *mejd den höchsten Anteil von Pluralformen auf /er/ (52 vs. n u r 32 ar-Pluralen), f ü r das zwei ,Reim Wörter' mit er-Plural (fejd ,Fehde' und nejd ,Gegend'), jedoch keine ,Reimwörter' mit ar-Plural existieren. Die Analogiewirkung von ,Reimwörtern' läßt sich im R a h m e n des hier dargelegten Konzeptes der außermorphologischen Basierung von Flexionsklassen und Teilflexionsklassen ohne Schwierigkeiten auf die Konstituierung von implikativen Paradigmenstrukturbedingungen durch die Sprecher zurückführen, die ihren Ausgang von sehr speziellen phonologischen Eigenschaften der Wörter nehmen und die demzufolge sehr kleine Teilklassen begründen. F ü r den letzten Fall wäre eine außer morphologische Charakterisierung ,Nichtneutrum auf /-ejd/' anzunehmen. Das oft beobachtete Phänomen der morphologischen Wirkung von ,Reimwörtern' stellt seinem Wesen nach nichts anderes dar als einen extremen Fall der Nutzbarmachung phonologischer Eigenschaften f ü r die Prädizierung der morphologischen Eigenschaften der Wörter, also ihrer Flexionsklasse

4.3. Grade von Klassenstabilität; überstabile Marker Wir sind bisher faktisch davon ausgegangen, daß in allen Fällen, wo sich Komplementärklassen mit unterschiedlicher Klassenstabilität gegenüberstehen, immer eine Klasse uneingeschränkt stabil' u n d die andere bzw. die anderen uneingeschränkt instabil' ist bzw. sind. E s wurde also mit anderen Worten hinsichtlich der Klassenstabilität eine Ja-Nein-Distinktion praktiziert, während ja f ü r die Klassenstabilität eine graduelle A b s t u f u n g von ,maximal systemangemessen' bis ,minimal systemangemessen' postuliert worden war. so "vVir vernachlässigen hier die [Spezifik der Wörter auf /us/ bzw. /ismus/.

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4.3. Klassenstabilität

Es ist bekannt, daß oft die Paradigmen von Komplementärklassen durchaus nicht nur voneinander abweichende, sondern auch übereinstimmende Eigenschaften aufweisen. Das ergibt sich einfach daraus, daß die Paradigmen nicht primäre, unzerlegbare Einheiten sind. Sie werden vielmehr durch Reihen von Formen und damit durch Reihen von Markern gebildet. Man kann deshalb in jedem vorliegenden Fall die Frage stellen, welche einzelnen Eigenschaften, d. h. Marker, für die Stabilität bzw. Nichtstabilität entscheidend sind. Die Anzahl der übereinstimmenden Marker von Komplementärklassen kann je nach der gegebenen Konstellation recht unterschiedlich sein. Vgl. dazu zunächst die Maskulina der lateinischen o- und «-Deklination: (6) N.Sg. G. D. A. Abi. N.P1. G. D. A. Abi.

(a) amic-us amiC'i amic-ö amic-um amlc-δ

(b)

trib-us trib-üs trib-ul trib-um trib-ü

(a) amic-l amlc-örum amlc-is amic-ös amic-is

(b)

trib-üs trib-uum trib-ibus trib-üs trib-ibus.

Außer der lexikalischen Grundform erscheint hier nur für eine einzige Numerus-Kasus-Kombination, nämlich den A.Sg., der gleiche Marker, während für acht NumerusKasus-Kombinationen verschiedene Marker auftreten. Der Unterschied zwischen der o- und der «-Deklination und damit die Stabilität der o-Klasse und die Instabilität der «-Klasse realisiert sich in acht Flexionsformen. Etwas anders sieht es bei dem schon einmal in einem anderen Zusammenhang (vgl. Abschn. 1.4) zitierten Beispielfall der Maskulina der i- und «-Deklination im ältesten Altschwedischen aus: 21 (7) N.Sg. (a) vin (b) sun G. vin-ar sun-ar D. vin-i, vin syn-i, sun A. vin sun N.P1. G. D. A.

vin-ir vin-a vin-urn vin-i

syn-ir sun-a sun-um sun-u.

Hier stimmen die Flexionsformen beider Klassen bis auf eine einzige NumerusKasus-Kombination überein. Die Unterscheidung der beiden Flexionsklassen und damit zugleich ihre Unterscheidung hinsichtlich der Klassenstabilität basiert lediglich auf der Nichtübereinstimmung der Marker in einer Numerus-Kasus-Form, dem A.P1., wo die Marker jij und /u/ miteinander konkurrieren. Das heißt, der Marker /i/ ist der eigentliche Träger der Stabilität der ΐ-Flexionsklasse und der Marker /u/ der Träger 21

Die Klassen der maskulinen i- und w-Substantive stellen umfassender betrachtet nur einen Ausschnitt einer ziemlich kompliziert strukturierten Konstellation von Komplementärklassen dar, zu der weiter auch die maskulinen a-, ja- und Wurzelnomina gehören. Wir können diese Zusammenhänge hier vernachlässigen.

138

4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

der Instabilität der w-Flexionsklasse. Es ist also durchaus sinnvoll, in Fällen wie diesem nicht nur von stabilen und instabilen Klassen, sondern auch von stabilen und instabilen Markern zu sprechen. Das hier betrachtete Beispiel zeigt zugleich, daß man zwischen den in einer instabilen Flexionsklasse auftretenden Markern und instabilen Markern differenzieren muß. In instabilen Flexionsklassen erscheinen oft neben instabilen auch stabile Marker, vgl. ζ. B. den D.Pl.-Marker /um/, der der i- und der ω-Klasse gemeinsam ist. Das ist wichtig für die Struktur und Entwicklung von Flexionssystemen. Doch in wieviel Markern sich eine stabile und eine instabile Komplementärklasse auch unterscheiden, ob in allen außer einem oder in einem, entscheidend bleibt, daß die Wörter der stabilen Klasse immer vom Sprecher als morphologisch normaler empfunden werden als die der instabilen Klasse und daß letztere demzufolge zum Übertritt in die stabile Klasse tendieren. Unterschiedlich ist dabei aber natürlich die Zahl der Formen des Paradigmas, die sich beim Klassenübertritt eines Wortes ändern. Beim Ubertritt eines lateinischen «-Substantivs in die o-Klasse ändern sich acht Formen, beim Übertritt eines altschwedischen «-Substantivs in die »-Klasse nur eine. Wenn sich als Komplementärklassen nur zwei Flexionsklassen gegenüberstehen, dann genügt es also vollauf, wenn man zwischen der stabilen und der instabilen Klasse unterscheidet. Die Berücksichtigung von Stabilitätsgraden ist hier nicht notwendig. Es ist verständlich, daß sich diese Konstellation sofort ändert, wenn in einem Fall mehr als zwei Komplementärklassen vorhanden sind, d. h., wenn Wörter auf Grund ihrer außermorphologischen Eigenschaften alternativ mehr als zwei Flexionsklassen angehören können. Ein gutes Beispiel für so einen Fall bilden die bereits mehrfach zitierten deutschen Substantive auf phonologisch kurzen Vokal ungleich /e/, denn hier gibt es ja neben der s-Pluralbildung und der w-Pluralbildung auch noch bestimmte Reste einer i- und einer ta-Pluralbildung: (8) (a) der Sakko — die Sakkos, die Pollca — die Polkas, das Kino — die Kinos (b) der Saldo — die Sald-en (neben Saldos), die Firma — die Firm-en, das Fresko — die Fresk-en (c) der Saldo — die Sald-i (neben Saldos und Sald-en), das Cello — die Cell-i (neben Cellos) (d) das Schema — die Schema-ta (neben Schemas und Schem-en).22 Hier zeigen sich ganz deutlich verschiedene G r a d e v o n K l a s s e n s t a b i l i t ä t . Stabil sind heute nur noch die s-Plurale. Diese Klasse nimmt Entlehnungen wie der Ufo, die Cola und das Veto und Neubildungen wie der Juso, die Manzi und das Foto auf. Wörter der anderen Komplementärklassen treten in sie über, vgl. die Tuba — die Tub-en > die Tubas. In Fällen, wo Wörter mehreren Flexionsklassen zugleich angehören, nehmen die s-Pluralformen an Häufigkeit zu, vgl. nochmals die Pluralbildung von Saldo. Die w-Plurale sind instabil, sie bekommen heute keine Neuzugänge mehr und verlieren Wörter an die s-Klasse. 23 Doch die i- und die ία-Pluralklasse sind noch weit instabiler, wie die Fakten zeigen. Es gibt schon überhaupt keine Wörter dieser 22

23

Zum Wort Klima führen die Wörterbücher neben der Pluralform die Klimas nicht die zu erwartende Form *die Klima-ta an, sondern statt dessen die etwas seltsam anmutende Form die Klima-te. Sollte diese Pluralform wirklich existieren (fachsprachlich ?), dann stellt sie einen instabilen Einzelfall dar. Falls bei Neuwörtern mit dieser phonologischen Struktur Substantive mit »-Plural auftauchen, dann sind diese als Ergebnis ungeschickter Normierung innerhalb von Fachsprachen zu bewerten, wie sie leider nicht selten sind.

4.3. Klassenstabilität

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Klassen mehr, die daneben nicht auch schon der s- oder der w-Pluralklasse angehören, und auch die i- bzw. ία-Pluralformen bei Wörtern mit mehreren Pluralmöglichkeiten nehmen immer stärker ab, vgl. etwa die sehr seltene Form die Kont-i neben Konto-s und Kont-en. Solche Formen existieren faktisch nur noch in verschiedenen Fachsprachen. Zwischen der i- und der ία-Klasse gibt es offenbar keinen Unterschied im Stabilitätsgrad. So ist etwa zwischen den Pluralformen die Kont-i und die Aroma-ta in dieser Hinsicht wohl kaum ein Unterschied feststellbar. Das diskutierte Beispiel, das man leicht durch weitere, ζ. T. noch wesentlich komplexere Beispiele ergänzen könnte (vgl. die einsilbigen auf Konsonant endenden Maskulina des Deutschen, deren Pluralformen alternativ mit /e/ plus Umlaut, mit /e/ ohne Umlaut, mit /s/, mit /n/ und mit /er/ gebildet werden!), erweist, daß man ähnlich wie für die Systemangemessenheit auch für die Klassenstabilität prinzipiell mit einer graduellen Abstufung, also einer Skala rechnen muß, wenn auch in vielen Einzelfällen die Bezugnahme auf die Unterscheidung ,stabil vs. instabil' ausreicht. Auf dem ,Mittel· und Umschlagspunkt' einer solchen Skala liegen dann die stabilitätsneutralen Klassen. Bei den vorangehenden Erörterungen waren wir auf die Problematik der Stabilität von einzelnen Markern gestoßen. Diese Problematik hat jedoch noch einen weiteren wichtigen Aspekt: Wir haben gesehen, daß sich stabile Marker innerhalb eines Flexionssystems normalerweise ausbreiten, indem Wörter aus instabilen in stabile Flexionsklassen übertreten. Der für die auf kurzen Vokal außer /e/ endenden Substantive stabile Pluralmarker /s/ beispielsweise breitet sich einfach dadurch aus, daß Substantive von der «-Klasse in die s-Klasse überwechseln. Doch es gibt eine weitere Möglichkeit. Marker können sich auch innerhalb des Flexionssystems ausbreiten, ohne daß ein Klassenübertritt erfolgt. Die Flexion der Wörter einer gegebenen Flexionsklasse wird nach dem Vorbild anderer Flexionsklassen verändert, ohne daß diese dabei ihre Identität als eigene Klasse verliert. Genauer: Eine Flexionsklasse übernimmt aus anderen Flexionsklassen den Marker für eine Kategorie bzw. ein Kategorienbündel. Es handelt sich dabei immer um Marker stabiler Klassen, die gleichzeitig noch in weiteren (stabilen oder instabilen) Klassen vorkommen, und deshalb über einen höheren Stabilitätsgrad verfügen als die Flexion der jeweiligen Klasse insgesamt. Auf Grund dieser hohen Stabilität tendieren sie dazu, aus der stabilen Klasse gleichsam auszuscheren und sich schneller und umfassender im Flexionssystem auszubreiten als diese. Dabei ergibt sich eine Art von ,Lawineneffekt': Jede Ausbreitung eines Markers auf eine neue Flexionsklasse erhöht seinen Stabilitätsgrad weiter. Auf diese Weise kann ein einzelner Marker schließlich alle Flexionsklassen erfassen, wobei diese ihre Selbständigkeit jedoch nicht einbüßen. Wir wollen solche Marker, die in mindestens einer stabilen Flexionsklasse auftreten und durch das gleichzeitige Vorkommen in weiteren Flexionsklassen in ihrer Stabilität gestärkt werden, wodurch sie zur separaten Ausbreitung tendieren, im Unterschied zu gewöhnlichen stabilen Markern (Markern stabiler Flexionsklassen) als ü b e r s t a b i l e M a r k e r bezeichnen. Die Verbreitung von überstabilen Markern vollzieht sich nicht nur zwischen Komplementärklassen. Sie hat damit einen grundlegend anderen Status als der Klassenwechsel. Ein Klassenübertritt erfolgt stets aus einer Komplementärklasse in die andere, d. h. auf der Basis gemeinsamer phonologischer und/oder semantisch-syntaktischer Eigenschaften der lexikalischen Grundform. Diese gemeinsamen Eigenschaften bilden den

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4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

Ausgangspunkt einer (proportionalen) Analogie im Sinne von H . P A U L (vgl. P A U L (1909: 116ff.)). Vgl. dazu das folgende Beispiel: (9) (die) Polka : (die) Polka-s = (die) Viola : X > (die) Polka: (die) Polka-s = (die) Viola : (die) Viola-s. Dagegen werden — wie gesagt — überstabile Marker nicht notwendigerweise nur von einer Komplementärklasse in die andere übernommen. Wenn die Richtung der Ausbreitung solcher Marker auch von gemeinsamen Eigenschaften gesteuert wird, so erfolgt sie doch nicht nach der proportionalen Analogie. Man kann in solchen Fällen von Extension oder nichtproportionaler Analogie sprechen. 24 Vgl. (10) Vaters = X > Vaters = Mutters. Den Beweis dafür, daß die Verbreitung von Einzelmarkern nach der nichtproportionalen Analogie vonstatten geht und die lexikalische Grundform dabei nicht involviert ist, zeigen die häufigen Fälle, wo überstabile Marker an Formen angefügt werden, die schon einen Marker für die betreffende Kategorie haben. Vgl. dazu die Entstehung der ,Doppelflexion' des G.Sg. im Deutschen: (11) (des) Lebens = X > (des) Lebens = (des) Buchstabe-ns. Ein Beispiel, an dem man die Ausbreitung eines überstabilen Markers gut verfolgen kann, liefert die Geschichte des Schwedischen anhand des Genitivmarkers /s/.25 Die ursprüngliche Domäne dieses Markers wird gebildet durch die maskuline a- und jaDeklination, vgl. fisk-er ,Fisch' — G.Sg. fisks und väv-er ,Gewebe' — G.Sg. väfs, sowie durch die neutrale a- und ja-Deklination, vgl. skip ,Schiff' — G.Sg. skips und äpli ,Apfel' — G.Sg. äplis. Der erste Schub der Verbreitung des Markers /s/ vollzieht sich bei den Komplementärklassen der maskulinen α-Klasse, nämlich bei den i-Maskulina (einschließlich der von diesen inzwischen ,aufgesogenen' w-Maskulina) und den maskulinen Wurzelnomina, vgl. rätt-er ,Gericht' — G.Sg. rätt-ar > rätts und fot-er ,Fuß' — G.Sg. fot-ar > fots. Die beiden letztgenannten Klassen bleiben als solche erhalten, was u. a. die unterschiedlichen N.Pl.-Formen fisk-er, rätt-ir und föt-er erweisen. Mit dem /s/ verbreitet sich also der Marker einer stabilen Klasse, der maskulinen α-Flexionsklasse, zunächst in die entsprechenden weniger stabilen und instabilen maskulinen Komplementärklassen. Wenn wir die Frage stellen, weshalb die i- und die Wurzelnomina nicht vollständig in ihre stabilere Komplementärklasse übertreten, sondern nur einen ihrer Marker übernehmen, so ist sie leicht zu beantworten: Der Marker /s/ ist stabiler als die stabile Flexionsklasse der α-Maskulina, denn er erscheint nicht nur in dieser Klasse, sondern auch in einer der zugehörigen instabilen Komplementärklassen (den ja-Maskulina) und bei nahezu allen Neutra. Der Marker ist 24

25

Zur nichtproportionalen Analogie vgl. ANTTILA (1974: 106); PAUL (1909: 117) nimmt solche

Fälle ausdrücklich von der Analogie aus. Vgl. dazu die parallele (wenn auch nicht so umfassende) Ausdehnung des s-Genitivs im Deutschen weit über sein ursprüngliches Verbreitungsgebiet hinaus. Er betrifft außer verschiedenen Gruppen von eigentlich schwachen Maskulina und Neutra (man denke hier auch an den verhältnismäßig hohen Akzeptabilitätsgrad von ungrammatischen Formen wie *des Bärs) auch attributiv gebrauchte feminine Personenbezeichnungen einschließlich von Namen unabhängig von der Flexionsklasse: Mutter-s Tochter, Oma-s Liebling, Τantes Kleid, Erika-s Mann usw. Daß sich die Verbreitung dieser Genitivbildung nicht auf der Basis der für die Flexionsklassenbestimmung entscheideöden außermorphologischen Eigenschaften vollzieht, zeigt die Aussparung ζ. B. der schwachen Maskulina auf /e/, vgl. *Neffe-s Freund. Eine auf der Basis dieser Eigenschaften erfolgende Verbreitung müßte zur Erfassung aller Maskulina von allen Feminina geführt haben.

4.3. Klassenstabilität

141

überstabil im echten Sinne des Wortes. Folglich wirkt die Tendenz zur Ausbreitung des einzelnen Markers /s/ stärker als die Tendenz zur Ausbreitung der maskulinen α-Deklination insgesamt. In einem zweiten Schub der Ausdehnung erhalten dann die maskulinen Verwandtschaftsbezeichnungen den Marker /s/, vgl. fapir — G.Sg. fapur > fa Pur-s/fapir-s. Auch hier wird übrigens (wie bei einigen der folgenden Fälle) der Marker /s/ ganz im Sinne der nichtproportionalen Analogie zunächst an die alte Genitivform angefügt.26 Erst später setzen sich dann die Formen des Typs ,Grundform plus /s/' (bzw. ,Pluralform plus/s/') durch. Die maskulinen Verwandtschaftsnamen stellen keine Komplementärklasse der α-Maskulina dar, vgl. die Endung /ir/ und die spezielle Semantik. In einem dritten Schub übernehmen dann die starken Feminina, die schwachen Maskulina und die schwachen Feminina den überstabilen Marker: brud ,Braut' — G.Sg. brud-ar > brud-s, goss-e ,Junge' — G.Sg. goss-a > goss-a-sjgosse-s, kvinn-a ,Frau' — G.Sg. kvinn-o > kvinn-o-sjkvinna-s. Nachdem so die Genitivbildung im Singular aller Flexionsklassen vereinheitlicht ist, wird der Marker /s/ schließlich auch auf den Genitiv im Plural ausgedehnt, vgl. fisk — N.P1. fisk-ar — G.P1. fisk-a > fisk-a-s/fisk-ar-s, rätt — N.P1. rätt-er — G.P1. rätt-a > rätt-a-sjrätt-er-s und kvinn-a — N.P1. kvinn-or — G. PI. kvinn-o > kvinn-o-sjkvinn-or-s. Wenn man noch einmal den Weg rekapituliert, auf dem sich der überstabile Marker /s/im Schwedischen ausbreitet, so beginnt dieser bei den Komplementärklassen der stabilsten Klasse der ursprünglichen Domäne des Markers. Auch für die weitere Ausbreitung spielen gemeinsame außermorphologische Eigenschaften eine Rolle. Die folgenden Verwandtschaftsnamen sind ebenfalls Maskulina, die starken Feminina des Typs brud entsprechen in ihrer phonologischen Struktur den starken Maskulina wie fisk und rätt (die in der Zwischenzeit das -er des N.Sg. verloren haben). Besonders bemerkenswert ist, daß schließlich der Marker /s/ auch in den Plural aller Flexionsklassen dringt. Der Marker ist durch die schrittweise Übertragung auf immer neue Flexionsklassen so stabil geworden, daß er schließlich die beiden stabilen Klassen selbst, von denen er seinen Ausgang genommen hat, die maskuline und die neutrale α-Klasse, verändern kann. Der überstabile Marker erweist sich damit auch in der unmittelbaren Konfrontation mit seinen stabilen Ursprungsklassen stabiler als diese. Der Kreis hat sich geschlossen. J e stabiler ein Marker im Laufe der Sprachgeschichte geworden ist, um so stärkeren Widerstand setzt er durch fehlende Systemangemessenheit bedingten Abbautendenzen entgegen. Ein deutliches Beispiel dafür findet sich wiederum im Schwedischen. Das Neuschwedische ist u. a. dadurch charakterisiert, daß das Subjekt sowie das direkte und das indirekte Objekt nicht mehr durch morphologische Marker (Flexive), sondern durch syntaktische Marker (Satzgliedstellung und grammatische Wörter) symbolisiert werden. Es ist also eine systemdefinierende Struktureigenschaft dieser Sprache, daß die Objekt-Kasus normalerweise nicht morphologisch ausgedrückt werden. Dennoch halten sich Reste der altschwedischen Kasusflexion ziemlich lange. Am resistentesten gegen den morphologisch bedingten Abbau ist das Flexiv /um/ bzw. /oni/, das den D.P1. repräsentiert. Dieser Marker hatte sich bereits in altnordischer Zeit als einziger D.Pl.-Marker durchgesetzt, vgl. ζ. B. aschwed. dag-um ,den Tagen', gest-um ,den 2« Dafür, ob das Genitiv-/s/ an die Grundform oder die alte Genitivform angefügt wird, sind offenbar morphotaktische Regularitäten maßgeblich.

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4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

Gästen', hiord-um ,den Herden' und sun-urn ,den Söhnen' mit den parallelen gotischen Formen dag-am, gast-in, haird-om und sun-um. Noch im 16. Jahrhundert, wo die Differenzierung der beiden Objekte untereinander und gegenüber dem Subjekt durch syntaktische Mittel längst systematisch durchgeführt ist und alle anderen Marker der Objektskasus beim Substantiv, u. a. auch des D.Sg., längst verschwunden sind, kommen die morphologisch durch /um/ gekennzeichneten Formen des D.P1. häufig vor. Für ihren langen Erhalt gibt es keinerlei syntaktische Gründe. Entscheidend ist vielmehr der hohe Stabilitätsgrad des überstabilen Markers /um/, der sich entsprechend lange auch gegen die Systemangemessenheit halten kann. Doch letztlich bleibt auch ihm wegen seiner fehlenden Systemangemessenheit der Abbau nicht erspart. Im modernen Schwedisch sind die D.Pl.-Formen mit /um/ verschwunden.27

4.4. Klassenstabilität in historischer Perspektive: Entstehung und Abbau Wir haben in diesem Kapitel die morphologische Erscheinung der Stabilität von Flexionsklassen unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet. Dabei wurde das Vorhandensein von Klassenstabilität aber immer schon vorausgesetzt. Wir haben nichts darüber gesagt, unter welchen Bedingungen Klassenstabilität entsteht und abgebaut wird. Das soll jetzt nachgeholt werden. Man kann davon ausgehen, daß neu entstehende Flexionsklassen, wenn sie keine Komplementärklassen haben, stabil sind. Flexionsklassen und Teilflexionsklassen (im Sinne von 4.2) können sich auf unterschiedliche Weise herausbilden. Eine Möglichkeit besteht darin, daß im Laufe der Sprachgeschichte bestimmte Wortbildungsmuster produktiv werden und sich für diese eine eigene Flexion herausbildet. Als Beispiel dafür können etwa die m-Abstrakta in den altgermanischen Sprachen dienen. Sie sind wahrscheinlich dadurch entstanden, daß Adjektive auf -i durch Anhängen eines ,Determinativ-Suffixes' /n/ substantiviert wurden (vgl. H I R T (1932: 69f.)). Sie schlossen sich der Flexion der bereits vorhandenen öw-Feminina, d. h. den anderen mit /n/ gebildeten Feminina, an, vgl. got. manag-ei ,Menge' — G.Sg. manag-ei-ns, D./A.Sg. manag-ei-n usw. mit tugg-o ,Zunge' — G.Sg. tugg-o-ns — D./A.Sg. tugg-o-n. Diese abstrakten Feminina, die zu jedem Adjektiv gebildet werden können (vgl. hauh-ei ,Höhe' zu hauh-s, baitr-ei ,Bitterkeit' zu baitr-s usw.), konstituieren im Gotischen eine stabile Teilklasse ohne Komplementärklasse, da Wörter mit der entsprechenden phonologischen Struktur nur zu einer Flexionsklasse gehören können. Neue Flexionsklassen können auch dadurch entstehen, daß sich aus zwei bisher unterschiedenen Flexionsklassen eine ,Mischklasse' entwickelt wie im Falle der gemischten Feminina' des Deutschen. Diese Deklinationsklasse, die sich in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert herausbildete, vereint die Singularflexion der ehemaligen starken ö-Klasse und die Pluralflexion der ehemaligen schwachen Feminina: 27

Vgl. dazu Absehn. 4.5. — Reste der ow-Formcn halten sich als Adverbien, vgl. stundom ,bisweilen' zu stund ,Weile'.

4.4. Klassenstabilität historisch (12) N.Sg. (a) die Gabe der Gabe G. D. der Gabe A. die Gabe N.P1. G. D. A.

die der der die

Gabe Gabe-n Gabe-n Gabe

143 (b) die der der die die der der die

Zunge Zunge-n Zunge-n Zunge(-n)™ Zunge-n Zunge-n Zunge-n Zunge-n

(c) die der der die die der der die

Gabe/Zunge GabejZunge Gabe/Zunge Gabe/Zunge Gabe-n/Zunge-n Gabe-n/Zunge-n Gabe-n/Zunge-n Gabe-n/Zunge-n

Diese ,Mischklasse' verdankt ihre Herausbildung der Wirkung der Prinzipien der Systemangemessenheit und des konstruktionellen Ikonismus: I n der Deklination des Typs (a) sind N./A.Sg. und N./A.P1. formal gleich (die Gabe), in der Deklination des Typs (b) G./D.Sg. und G./D.P1. (der Zunge-n); in beiden Klassen erscheinen Kasusmarker am Wort (Typ (a): G./D.P1., Typ (b): G./D.Sg.), was für das Neuhochdeutsche nicht systemangemessen ist (s. Abschn. 3.3.). Diese morphologischen Defekte werden durch den Klassenausgleich beseitigt. Doch die neue Flexionsklasse mit der Deklination (c) verfügt nicht nur über eine maximal ikonische Pluralbildung und ist maximal systemangemessen. Ihre bei weitem größte Teilklasse, deren Wörter auf /e/ enden, bildet zugleich eine stabile Klasse ohne Komplementärklasse. Deutsche Feminina auf /e/ gehören ausschließlich in die n-Pluralklasse. Desweiteren können sich neue Flexionsklassen auf phonologischem Wege ergeben. I m Mittelhochdeutschen wird ein auslautendes je/ getilgt, wenn ihm ein kurzer, betonter Vokal plus /l/ oder /r/ vorausgeht. Das führt u. a. auch dazu, daß das /e/ der Flexionsendungen bei der maskulinen α-Deklination (starke Maskulina ohne Umlaut) im genannten Kontext abgebaut wird. Auf diese Weise entsteht eine neue Deklinationsklasse. 29 Vgl. die Paradigmen visch ,Fisch' und kil ,Federkiel': (13) N.Sg. G. D. A.

(a) visch visch-es visch-e visch

(b) kil kil-s kil kil

N.P1. G. D. A.

visch-e visch-e visch-en visch-e

kil kil kil-n Icil

Beide Flexionsklassen sind stabile Klassen ohne Koniplementärklassen. Sie sind gemeinsam dadurch charakterisiert, daß die zugehörigen Wörter Maskulina sind, nicht auf /e/ enden (wie bote usw.) und einen nicht umlautbaren Vokal enthalten. Sie unter28 29

Das /n/ des A.Sg. wird wegen seiner fehlenden Systemangemessenheit schon früh abgebaut. Hier könnte eingewandt werden, daß die Flexive ohne e auf Grund ihrer phonologischen Prädiktabilität phonetische Varianten der e-haltigen Flexive seien und daß damit weiterhin eine einheitliche Flexion vorläge (vgl. Abschn. 1.4.). Es spräche auch wirklich nichts dagegen, ζ. B. das Flexiv -s als Variante eines einheitlichen Flexivs /es/ zu werten. Dagegen macht es jedoch offenbar keinen Sinn, auch für Wörter des Typs kil ein Pluralflexiv anzunehmen, das stets durch eine phonologische Regel getilgt wird und in der lautlichen Repräsentation nie erscheint. Für den Sprecher existiert hier — analog zum neuhochdeutschen Typ der Dackel — die Dackel — überhaupt kein Pluralaffix am Wort. Aus diesem Grunde ist auch die Behandlung der neuhochdeutschen 0-Plurale in Wubzel (1970a) unangemessen!

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4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

scheiden sich darin, daß die Substantive der Klasse (b) auf kurzen, unbetonten Vokal plus Liquid enden, während dieser Wortausgang für die Substantive der Klasse (a) ausgeschlossen ist. Auch neue Teilklassen entstehen oft durch phonologische Veränderungen. Hier sei auf die femininen i-Substantive des Althochdeutschen verwiesen. Diese Wörter endeten ursprünglieh einheitlich auf Jij. Durch den phonologischen Abbau dieses /i/ nach langer Stammsilbe zerfiel die Klasse in zwei sich in der lexikalischen Grundform, d. h. dem N.Sg., phonologisch unterscheidende Teilklassen, vgl. ahdtsch. anst (mit langer Stammsilbe) und turi ,Tür' (mit kurzer Stammsilbe). Ansonsten bleiben die beiden Typen in ihren Deklinationsformen völlig einheitlich, vgl. anst — G.Sg. enst-i — I.Sg. enst-iu usw. und turi — G.Sg. turi — I.Sg. turiu usw. Da jedoch die Paradigmenstrukturbedingungen von den Eigenschaften der Grundform ausgehen, ergeben sich damit zwei Paradigmenstrukturbedingungen, wovon eine für auf /i/ endende Feminina vom Typ turi und die andere für endungslose Feminina vom Typ anst gilt. Sie weisen den entsprechenden Wörtern nach wie vor ein und dieselbe Flexion zu. Beide Teilklassen sind stabile Klassen. Schließlich können neue Flexionsklassen bzw. Teilflexionsklassen dadurch zustande kommen, daß bei gehäuft auftretenden Entlehnungen von Wörtern mit bestimmten außermorphologischen Eigenschaften entweder die Flexion dieser Wörter mit entlehnt wird oder diese Wörter obligatorisch mit einer bestimmten Flexion verbunden werden, wobei der zweite Fall offenbar stärker verbreitet ist. Ein Beispiel dafür sind die aus dem Lateinischen übernommenen Substantive auf /ismus/ im Deutschen, die alle zur n-Pluralklasse gehören, vgl. Mechanismus — Mechnism-en, Organismus — Organism-en und Amerikanismus — Amerikanism-en. Bei ihnen gibt es weder i-Plurale (Modus — Mod-i) noch e-Plürale (Zirkus — Zirkuss-e), wie sie sonst bei auf /us/ ausgehenden Substantiven im Neuhochdeutschen vorkommen. Die Wörter des Typs verkörpern eine stabile Teilflexionsklasse. Allen diesen Fällen ist gemeinsam, daß hier neue Flexionsklassen und Teilflexionsklassen als stabile Klassen ohne instabile Komplementärklassen entstehen. Klassenstabilität erscheint hier faktisch als ,natürlicher Begleiter' der Flexionsklassen selbst. Die Klassenzugehörigkeit der Wörter ergibt sich eindeutig auf Grund ihrer außerxnorphologischen Eigenschaften, über die nur jeweils die Wörter einer Flexionsklasse verfügen. Auf diesen Eigenschaften operieren dann die entsprechenden ParadigmenStrukturbedingungen, wobei deren Geltung nicht durch idiosynkratische Flexionsklassenmerkmale im Lexikon eingeschränkt wird. Wenn ein Flexionssystem ausschließlich stabile Flexionsklassen enthält, d. h., wenn alle seine Flexionsklassen unabhängig motiviert sind, dann ist es hinsichtlich seiner Flexionsklassengliederung maximal natürlich. Dieser Charakteristik entspricht ζ. B. das rekonstruierte Deklinationssystem des urindoeuropäischen Substantivs.30 Bekanntermaßen sind aber bei weitem nicht alle Flexionssysteiue mit Flexions30

Die Deklinationsklassen des Urindoeuropäischen beruhen hauptsächlich auf phonologischen Eigenschaften, vgl. ζ. B. *dhogh-os (nichtneutrale o-Klasse), *kerdh-ios ,Hirt' (nichtneutrale jo-Klasse), *urdh-om .Wort' (neutrale o-Klasse). Bei übereinstimmenden phonologischen Eigenschaften wie im Falle der maskulinen und neutralen on-Stämme wie *kan-ön ,Hahn' vs. *kerd-ön ergeben sich die unterschiedlichen Flexionsklassen auf Grund des Genus (vgl. WEKNEH (1909: 102 ff.)).

4.4. Klassenstabilität historisch

145

klassen so aufgebaut. Viele dieser Systeme haben eine beachtliche Anzahl von instabilen und stabilitätsneutralen Flexionsklassen angehäuft. Beispielsweise existieren im Neuhochdeutschen annähernd fünfzehn instabile bzw. stabilitätsneutrale Teilflexionsklassen des Substantivs; allein einsilbige Maskulina mit umlautbarem Vokal können fünf unterschiedlichen Flexionsklassen angehören, vgl. Bach — Bäch-e, Tag — Tag-e, Narr — Narr-en, Mann — M&nn-er und Park — Parh-s. Instabile und stabilitätsneutrale Flexionsklassen kommen dadurch zustande, daß im Rahmen von grammatischen Veränderungen Eigenschaften der Grundformen von zwei oder mehreren Flexionsklassen neutralisiert (ausgeglichen) werden, die die Grundlage für die entsprechenden Paradigmenstrukturbedingungen, d. h. die Flexionsklassenzuweisung, bilden. Damit verfügen zwei/mehrere Flexionsklassen mit unterschiedlicher Flexion über die gleichen klassenbestimmenden Eigenschaften. Diese Flexionsklassen treten sofort in eine Stabilitätsrelation. Auf diese Weise werden bislang stabile Klassen bei deutlichem Ubergewicht einer anderen Klasse zu instabilen Klassen und bei etwa gleicher Belegung der betroffenen Klassen zu stabilitätsneutralen Klassen. Beim Zustandekommen einer Stabilitätsrelation wird, bezogen auf das Gesamtsystem, Klassenstabilität abgebaut, was sich formal gesehen darin äußert, daß im Lexikon explizite Flexionsklassenmerkmale erscheinen. Eine solche Konstellation kann sich auf recht unterschiedlichem Wege ergeben. Die wohl häufigste Ursache für den Abbau von Klassenstabilität ist die durch phonologische Veränderungen bedingte Neutralisierung phonologischer Eigenschaften. Beispiele dafür gibt es entsprechend viele, wobei wir ζ. T. auf bereits erwähnte Fälle zurückgreifen können: Die nichtunterscheidbaren N.Sg.-Formen der o- und ω-Deklination im Lateinischen, vgl. nochmals amlc-us und trib-us, sind die Folge eines altlateinischen Lautwandels, durch den ein /o/ in entsprechender Position zu /u/ wurde: alat. amlc-os, trib-us^> amlc-us, trib-us. Es ergibt sich die beiden Flexionsklassen gemeinsame Charakteristik ,Maskulina auf /us/'. Auf Grund der stark unterschiedlichen Belegung wird die w-Klasse des Typs tribus — G.Sg. trib-us zur instabilen Komplementärklasse der o-Deklination. Die starken Verben des Germanischen unterscheiden sich ursprünglich von den Klassen der schwachen Verben insgesamt durch den Ausgang/an/, vgl. ζ. B. got. niman ,nehmen' und slahan ,schlagen'. Die einzelnen Klassen der starken Verben sind untereinander durch die phonologische Struktur ihrer Stämme unterschieden. So hat die 1. Klasse der ablautenden Verben die phonologische Struktur /K(K)i:K/, die 3. Klasse die phonologische Struktur /K(K)£NK/, vgl. got. greipan,greifen' und bindan ,binden'. Bereits im Urgermanischen gibt es eine phonologische Veränderung, durch die die Verbindung /inx/ über /I :x/ zu /i:x/ wird. Verben der 3.( Ablautklasse mit dem entsprechenden Konsonantismus wie *pinxan ,gedeihen', *prinxan ,drängen' und *winxan ,kämpfen' ändern ihre phonologische Form in *pixan, *prixan und *wixan, got. Peihan, preihan und weihan. Obwohl ihre Stämme jetzt die gleiche phonologische Struktur wie die Verben der 1. Klasse des Typs ptgerm. *gripan, got. greipan haben, gehören sie zur 3. Klasse und zeigen entsprechend ζ. B. im Prät.Sg. weiterhin den Vokal /a/, vgl. *wax ,er kämpfte'. Unter den starken Verben, deren Stamm die Struktur /K(K)i:K/ hat, bilden sie die instabile Komplementärklasse der Verben der 1. Klasse vom Typ *gripan, Prät. *graip. Auf Grund ihrer geringen Anzahl — drei gegenüber etwa f>0 Verben dor gripan-KhwiW — sind sie dann schon in allen altgermanischen Sprachen in die 1. Klasse übergetreten, vgl. got. peihan — paih, preihan — 10 stud, gramm. XXI

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4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

Prath und weihan — waih sowie die neuhochdeutsche Entsprechung des ersten Verbs ge-deihen — ge-dieh. Die Feststellung, daß im Altgernianischen ursprünglich die einzelnen Verbklassen durch ihre Ausgänge phonologisch unterschieden sind, gilt auch noch für das Althochdeutsche, vgl. die starken Verben wie nem-an ,nehmen' sowie die schwachen Verben der Klassen 1 bis 3 wie suoch-en ,suchen', salb-ön ,salben und hab-en ,haben'. Im Althochdeutschen gibt es zwischen diesen Klassen zwar vereinzelte Schwankungen, aber keinerlei systematische Übertritte, auch nicht von den starken zu den schwachen Verben. Alle Klassen sind stabil. Vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen werden die unbetonten Endsilbenvokale zu /e/, phonetisch [Θ], reduziert, vgl. mhdtsch. nem-en, suoch-en, salb-en und hab-en. Die Flexionsklassen der mittelhochdeutschen Verben sind damit hinsichtlich ihrer phonologischen Form neutralisiert. Da durch diesen phonologischen Wandel gleichzeitig die Unterschiede zwischen den drei schwachen Flexionsklassen — zumindest im wesentlichen — beseitigt wurden, entsteht dabei eine einheitliche Flexionsklasse mit t-Präteritalbildung, der eine ganze Gruppe von Klassen mit Präteritalbildung durch Ablaut gegenübersteht.31 Die schwachen Verben, die nicht nur jede einzelne der Ablautklassen, sondern auch diese insgesamt zahlenmäßig bei weitem überwiegen, stellen die stabile Komplementärklasse, die starken Verben stellen die zugehörigen instabilen Komplementärklassen dar.32 Damit entsteht die Grundlage für den jahrhundertelangen Prozeß des Übertritts von starken Verben in die schwache Klasse im Deutschen, der, wie schon oben (vgl. Abschn. 2.1) anhand von Beispielen belegt wurde, auch heute noch nicht abgeschlossen ist. Wichtig ist, daß auch hier durch die Wirkung der Phonologie Klassenstabilität im Flexionssystem abgebaut wird. Auch die Entstehung der beiden stabilitätsneutralen Komplementärklassen von auf /a/ endenden femininen Substantiven des Althochdeutschen, der Typen geba und zunga, erfolgt auf phonologischem Wege. Beide Typen, die sich im Urgermanischen als *gebö und Hungön unterscheiden (und auch im Gotischen und Altnordischen noch formal distinkt sind), werden in der Entwicklung zum Althochdeutschen hin dadurch neutralisiert, daß das auslautende /n/ eliminiert wird und das /o:/ in /a/ übergeht. Wegen der etwa gleichen Stärke beider Klassen äußert sich hier der Abbau von Klassenstabilität in der Herausbildung zweier stabilitätsneutraler Klassen. Schließlich sei hier noch einmal der ungarische Fall der Neutralisierung der nichtvorderen Vokale / ί / und /e/ und der vorderen Vokale /i/ und /e/ in /i/ und /e/ erwähnt, wodurch Substantive wie hid vorderen Vokalismus bekamen, vgl. nung. hid. Da aber die Substantive des Typs hid ihre (ursprünglich durch die Vokalharmonie bestimmten) Flexive mit hinterem Vokalismus beibehielten, vgl. den Dativ hid-nah, können heute Substantive mit /i/ und /e/ sowohl ,vordervokalisch' wie viz — νίζ-nek als auch ,hintervokalisch' wie hid — hid-nah dekliniert werden. Mit der Herausbildung von Flexions31

32

Die vorerst noch verbleibenden geringfügigen Unterschiede zwischen den schwachen Klassen in der Bildung der l.Ps.Sg.Präs.Ind. (Flexive /e/ vs. /en/) und des Präteritums (Nichtauftreten vs. Auftreten des ,Rückumlauts'), die ohnehin bald verschwinden, können hier vernachlässigt werden. Nach ÄUGST (1975: 254) gibt es im Althochdeutschen 2440 schwache, aber nur 349 starke Verben, die sich auch noch auf etwa zehn Klassen (Ablautreihen und Unterreihen) verteilen. — Zur zeitweisen Produktivität der 1. Ablautklasse (Typ mhdtsch. nie»/nhdtsch. reiten) vgl. Abschn. 4.6.

4.4. Klassenstabilität historisch

147

klassen (vgl. Abschn. 3.5.) ist hierzugleich eine stabile Teilflexionsklasse in Gestalt derjenigen Wörter mit vorderem Vokal entstanden, die Flexive mit hinterem Vokalismus annehmen. Phonologische Eigenschaften der Grundformen von zwei/mehreren l'lexionsklassen können auch durch morphologische Entwicklungen neutralisiert werden, wofür wir nur einen Beispielfall anführen wollen: I m älteren Neuschwedischen werden unter dem Druck der systemdefinierenden Struktureigenschaften die nicht mehr systemangemessenen Reste der Kasusflexion (mit Ausnahme des zum Possessiv gewandelten Genitivs) abgebaut. Im Singular der schwachen Maskulina wie goss-e , Junge' — Obl.Sg. goss-a — N.P1. goss-ar und kärn-e ,Kern' — Obl.Sg. Icäm-a — N.P1. kärn-ar wird bei Bezeichnungen für Gegenstände u. ä. jedoch normalerweise die Form des Obliquus (Objektskasus) verallgemeinert. I m ersten Fall ergeben sich hinsichtlich der Pluralklassenzugehörigkeit keine Komplikationen; sie behalten ihre Pluralbildung des Typs goss-e — goss-ar bei. Die unbelebten Substantive des Typs kärn-a — kärn-ar werden aber automatisch' zur instabilen Komplementärklasse der bereits existierenden Substantive auf /a/, die ihren Plural auf /ur/ ( = -or) bilden, vgl. gat-a ,Straße' — gat-or. Damit geht Klassenstabilität verloren. Entsprechend treten die neuen α-Substantive wie kärna dann auch in die graia-Klasse über, vgl. modern schwed. kärn-a — kärn-or. Ein ähnlicher Fall ist auch im Deutschen zu beobachten, nur wird hier keine Obliquusform, sondern eine Pluralform zum N.Sg. uminterpretiert. Den neuhochdeutschen Wörtern Blüte, Ente und Geschichte sowie einigen anderen entsprechen im Mittelhochdeutschen e-lose Formen, vgl. bluot, ant und geschiht. Im Frühneuhochdeutschen werden dann die auf /e/ endenden Pluralformen als Singularformen gefaßt, sie fungieren aber zugleich auch weiter als Pluralformen, so daß sich auf diese Weise eine Numerusflexion des Typs Blüte — Plural Blüte ergibt. Diese neue Flexionsklasse, die nur etwa zehn Substantive enthält, bildet zeitweise eine instabile Komplementärklasse der e-Feminina mit w-Pluralbildung wie Zunge — Zunge-n und Straße — Straße-η. Heute sind alle diese Substantive in die m-Pluralklasse übergetreten, vgl. Blüte-η, Ente-n und Geschichte-n. Instabile Flexionsklassen können sich in einem Flexionssystem auch dadurch herausbilden, daß semantisch-syntaktische Eigenschaften der Grundformen von zwei oder mehr Flexionsklassen neutralisiert werden, wenn diese Eigenschaften für die Zuweisung der Flexionsklasse von Bedeutung sind. So kann sich beispielsweise der Abbau von Genusdistinktionen entsprechend auswirken: Bereits im Altenglischen gibt es die Tendenz zur Aufgabe des Genus, in ganz besonderem Maße im Nordhum brischen. Mit dem Abbau des Genus sind dort u. a. die Substantive der maskulinen und der neutralen α-Deklination wie ζ. B. dorn ,Urteil, Gericht' und word ,Wort' nicht mehr durch außermorphologische Eigenschaften voneinander gesondert, da sie sich auch phonologisch nicht mehr unterscheiden, vgl. dagegen urgerm. *döm-az und *word-a(n). Die beiden Klassen, die ohnehin nur im N./A.P1. verschiedene Formen haben, werden damit zu Komplementärklassen. Weil die maskuline Klasse wesentlich stärker belegt ist als die neutrale, schließen sich dann die bisherigen Neutra der Flexion der bisherigen Maskulina an, indem sie den N./A.P1. nicht länger auf -uj-oj-a, sondern auf -asj-es bilden, vgl. word-es wie döm-es.33 33

Die Varianten beider Flexive sind phonologisch bedingt.

10·

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4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

Ein interessantes hierhergehöriges Beispiel ist die Herausbildung der sogenannten Präteritopräsentien, d. h. von Verben mit präteritaler Form, aber präsentischer Bedeutung. Sprachhistorisch gesehen liegen diesen Verben wie nhdtsch. wissen — ich weiß, können — ich kann usw. völlig normale Verben zugrunde, vgl. urieur. *ueid,sehen' und lat. videö ,ich sehe'. In den Vorstufen des Germanischen verschwinden die Präsensformen, es bleiben nur die Vergangenheitsformen (alte Perfektformen, die im Germanischen dann zu Präteritalformen werden), vgl. für das Verb ,sehen' die Form *uoida mit der Bedeutung ,ich habe (ein-)gesehen'. Der entscheidende Schritt ist dann, daß diese Verben mit Beibehaltung ihrer Vergangenheitsformen präsentische Bedeutungen nach dem Muster ,ich habe (ein-)gesehen' > ,ich weiß' entwickeln. Ihre spezifische temporale Bedeutung wird also abgebaut; sie unterscheiden sich in ihrer Bedeutung nicht mehr von den ,normalen' Verben. Die Präteritopräsentien, die im Germanischen dann auch ein neues Präteritum ausgebildet haben, stellen dann etwa im Mittelhochdeutschen eine instabile verbale Flexionsklasse (genauer: eine Gruppe solcher Klassen) dar, vgl. wiföen — ich wei$ — wir wiföen — ich wiste usw. Die Präteritopräsentien haben durch den Verlust ihrer spezifischen temporalen Bedeutung ihre charakteristische außermorphologische (semantische) Eigenschaft verloren, aus der sich ihre Zuordnung zu einer speziellen Flexionsklasse ergab. Diese Beispiele belegen deutlich, daß instabile Flexionsklassen in Flexionssystemen immer dann entstehen, wenn phonologische und/oder semantisch-syntaktische Eigenschaften von Lexikoneinheiten verlorengehen, die bisher die Grundlage für die Flexionsklassenzuweisung darstellten. Hier ergibt sich die Frage, ob es auch eine gegenläufige Entwicklung gibt, d.h.,ob unter bestimmten Bedingungen bei der außermorphologischen Basierung von Flexionsklassen auch auf neue, bislang nicht genutzte phonologische bzw. semantisch-syntaktische Eigenschaften Bezug genommen werden kann. Auf diese Weise könnten dann erneut stabile Flexionsklassen entstehen. Vgl. dazu die folgenden Beispielfälle. Es ist bereits mehrfach darauf verwiesen worden, daß die durch phonologische Veränderungen in ihren Grundformen zusammenfallenden beiden Klassen von auf /a/ endenden Feminina der Typen zunga und era im frühen Althochdeutschen zwei stabilitätsneutrale Komplementärklassen bilden. Das gilt — wie gesagt — für das frühe Althochdeutsche. Später ist eine für den vorliegenden Zusammenhang wichtige Veränderung in dieser Konstellation zu beobachten. Der Ausgangspunkt dafür ist eine ungleichmäßige Verteilung von Konkreta und Abstrakta auf die beiden Flexionsklassen: In der w-Deklination überwiegen die konkreten Substantive stark; u. a. gehören alle femininen Personenbezeichnungen in diese Deklination, vgl. die Wörter diorna ,Mädchen', quena ,Frau' und wituwa ,Witwe'. Hingegen kann man in der öKlasse ein Uberwiegen der Abstrakta gegenüber den Konkreta feststellen. Bei diesen Voraussetzungen beginnt die Nutzung des semantisch-syntaktischen Merkmals der Konkretheit für die Fixierung der Flexionsklassenzugehörigkeit, also eines Merkmals, das bisher im Flexionssystem des Substantivs überhaupt keine Rolle spielte: Als normal interpretiert werden die konkreten «-Substantive des Typs zunga und die abstrakten ö-Substantive des Typs era. An die Stelle der beiden stabilitätsneutralen Flexionsklassen treten so zwei stabile Teilflexionsklassen, die jeweils den Großteil der beiden alten Klassen abdecken. Jede der stabilen Teilklassen hat eine instabile Teilklasse. Es sind dies die Abstrakta der w-Deklination vom Typ fasta ,das Fasten' und die Konkreta der ö-Deklination vom Typ wamba ,Bauch'. Den überzeugenden Beweis

4.4. Klassenstabilität historisch

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dafür liefern die zahlreichen Klassenübertritte im Althochdeutschen und im Mittelhochdeutschen. Vor allem sind im Mittelhochdeutschen (wo das auslautende /a/ dieser Substantive zu /e/ geworden ist) viele ö-Konkreta in die w-Klasse übergetreten, vgl. brücke, erde und strä^e ,Straße'. Wie stark die Tendenz zum Klassenwechsel ist, wird besonders bei Personenbezeichnungen deutlich, die ja gleichsam ,Konkreta par excellence' darstellen: Wenn nämlich Abstrakta wie ere und minne personifiziert gebraucht werden, dann werden sie im allgemeinen auch schwach flektiert (PAUL (1950: 98)).34 Das zweite Beispiel für die morphologische Nutzung einer neuen außermorphologischen Eigenschaft führt zurück zu den eben diskutierten Präteritopräsentien. Da diese Verben ihre spezifische perfektive Bedeutungskomponente schon im Vorgermanischen verloren hatten, verfügen sie im Germanischen über keine einheitliche sem antische Eigenschaft mehr. Wie besonders deutlich die Verhältnisse im Gotischen zeigen, hatte ursprünglich nur der kleinere Teil dieser Verben eine modale Bedeutung. Den fünf Modalverben gi-dars. ,wage', bi-nah ,kann, muß', skal ,ΘΟΙΓ und parf ,bedarf, habe nötig' stehen elf nichtmodale Verben wie u. a. aih ,habe', man .meine', kann ,weiß, kenne' und og ,fürchte' gegenüber. Auf Grund verschiedener, mehr oder weniger zufälliger Sprachveränderungen (Verlust von Verben, Bedeutungsverschiebungen) hat sich verglichen damit die Situation im Mittelhochdeutschen ziemlich verändert. Hier gibt es nur noch die drei nichtmodalen Präteritopräsentien gunnenjgünnen ,gönnen, erlauben', tugen[tügen ,helfen, nützen' und wiföen ,wissen' neben sechs Verben mit modaler Semantik, vgl. durfenjdürfen ,brauchen, (be-)dürfen', kunnenfkünnen ,können; verstehen', mugenjmügen ,können', müe^en ,sollen, müssen, können, mögen, dürfen', suln/süln ,müssen, sollen' und turrenjtürren ,wagen'. Entsprechend setzt bald die außermorphologische Motivierung der Flexionsklasse der Präteritopräsentien durch die semantische Eigenschaft ,Modalverb' ein. Das zeigen Flexionsklassenübertritte in beiden Richtungen. Nichtmodalverben verlassen die Klasse der Präteritopräsentien, und Modalverben treten in diese Klasse ein. Das soll anhand eines besonders auffälligen Kennzeichens der Präteritopräsentien, der ί-losen 3.Ps.Sg.Präs.Ind., belegt werden, vgl. er kann vs. er sag-t: Schon vom 13. Jahrhundert an werden die ilosen Formen der nichtmodalen Präteritopräsentien tugen und gunnen durch (-Formen ersetzt, vgl. er touc > er toug-et und er gan > er gan-(e)t (> gönn-t). Andererseits schließt sich das modale Verb wellen ,wollen', das nicht zu den Präteritopräsentien gehörte und über eine eigene Flexion des Musters ich wil-e, du wil-e, er wil-e, wir well-en usw. verfügte, den Präteritopräsentien an, vgl. er wil-e > er wil wie er kan. In verschiedenen deutschen Dialekten und Umgangssprachen ist dann auch das letzte noch verbleibende Modalverb brauchen in diese Klasse übergetreten, vgl. er brauch für er brauch-t. Die gegenseitige Zuordnung der außermorphologischen Eigenschaft ,Modalverb' und der Flexionsklasse ohne jtj in der 3.Ps.Sg.Präs.Ind. (.Präteritopräsentien') wird nur noch durch das Verb wissen mit der Form er weiß durchbrochen. Im Altnordischen sind drei feminine Flexionsklassen, die ursprünglich formal verschieden waren, in ihrer phonologischen Struktur zusammengefallen, nämlich die 34

Sprachhistorisch gesehen stellt diese Regularisierung der auf ahdtsch. /a/ bzw. mhdtsch. /e/ endenden Feminina nur eine .Zwischenlösung' dar. Die endgültige .Lösung' erfolgt im 16./ 18. Jahrhundert durch die Herausbildung der .gemischten Flexion' der Feminina, der heute alle auf /e/ endenden Feminina angehören, vgl. dazu diesen Abschnitt weiter oben.

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4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

Konsonantstämme wie geit ,Ziege' (urgerm. *geit-z), die i-Stämme wie gnd ,Ente' (urgerm. *anud-iz) und die ö-Stämme wie hind Hirschkuh' (urgerm. *hind-ö), worauf verschiedene Schwankungen und Ausgleichstendenzen beruhen, auf die hier nicht insgesamt eingegangen werden kann. Interessant für unseren Zusammenhang ist jedoch, daß die Flexionsklasse der Konsonantstämme neben geit noch eine ganze Reihe weiterer Tierbezeichnungen enthält, vgl. etwa kyr ,Kuh', syr ,Sau', ggs ,Gans', mus ,Maus' usw., die anderen beiden Klassen aber nur jeweils wenige. Schon im Altnordischen haben sich verschiedene feminine Tiernamen der i- und ö-Deklination angeschlossen, ζ. B. gnd und glptr ,Schwan' einerseits sowie hind andererseits. Dieser Sachverhalt läßt sich nur so interpretieren, daß im Altnordischen die auf Konsonant endenden femininen Tierbezeichnungen eine stabile Teilklasse der konsonantischen Deklination bilden, zu der sich entsprechend mit den Tierbezeichnungen der i- und ö-Deklination zwei instabile Komplementärklassen konstituieren, die dann der Wirkung der stabilen Klasse ausgesetzt sind. Hier wird also die außermorphologische Eigenschaft ,Tiername' zur Basierung der Flexionsklassenzuweisung genutzt. Es ist kein Zufall, daß sich die vorangehenden Beispiele alle auf die Anlehnung von Flexionsklassen an semantisch-syntaktische Eigenschaften von Wörtern beziehen. Da in den ieur. Sprachen die Flexionsklassen typischerweise an die Lautgestalt der Wörter, d. h. phonologische Eigenschaften, gekoppelt sind, ist es charakteristisch, daß im Rahmen von Sprachentwicklungen gerade diese Eigenschaften verlorengehen und — wenn überhaupt — nur durch semantisch-syntaktische Eigenschaften kompensiert werden können. 35 Eine Neubezugnahme auf phonologische Eigenschaften bei der Flexionsklassenfixierung ist daher, wenn auch nicht prinzipiell, so doch weitgehend ausgeschlossen. Eine Ausnahme dazu ergibt sich allerdings im Falle der gehäuften Entlehnung fremder Wörter mit einer spezifischen phonologischen Struktur, die dann durch neue Paradigmenstrukturbedingungen bestehenden oder auch neuen Flexionsklassen zugewiesen werden müssen. Solche Konstellationen treten auch in der Geschichte des Deutschen auf, speziell seit mittelhochdeutscher Zeit. Es werden Substantive aus anderen Sprachen übernommen, für die es auf Grund ihrer phonologischen Struktur keine eindeutige oder aber überhaupt keine Flexionsklassenzuordnung gibt. Da diese Wörter ja irgendwie dekliniert werden müssen, konkurrieren verschiedene Möglichkeiten miteinander. Hinsichtlich der Pluralbildung sind das hauptsächlich deutsche Pluralformen mit /e/ und /n/ (bei den Neutra auch partiell solche mit /er/) sowie Pluralformen mit fremden Flexiven wie /s/, /i/, /ta/ u. a., die ζ. T. zeitweise ziemlich regellos miteinander variieren. Auch für die morphologische Einordnung von Substantiven auf kurzen Vokal ungleich /e/ gab es im Deutschen kein Muster. Meist werden hier die Pluralformen der Herkunftssprachen verbunden mit s-Genitiven bei Maskulina und Neutra sowie 0Genitiven bei Feminina verwendet, vgl. ζ. B. Sofa — des Sofas — die Sofa-s aus dem Französischen, Tornado — des Tornados — die Tornados aus dem Englischen, Porto — des Portos — die Port-i aus dem Italienischen und Komma — des Kommas — die Komma-ta aus dem Griechischen. Teilweise treten auch (besonders bei Feminina mit ae-/e-Pluralen im Italienischen bzw. Lateinischen, vgl. lat. mens-a — mens-ae, 36

Es müßte interessant sein, solche Prozesse in Sprachen zu untersuchen, wo die Flexionsklassen ausschließlich oder hauptsächlich semantisch bestimmt sind, ζ. B. in bestimmten afrikanischen Sprachen.

4.4. Klassenstabilität historisch

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ital. vill-a — vill-e) Adaptionen an die deutsche w-Pluralbildung auf: Mensa — der Mensa — die Mens-en. Keine der entsprechenden Klassen hat ein klares Übergewicht, alle Varianten sind gleich normal bzw. unnormal; der Sprecher muß für jedes Wort die Pluralbildung speziell erlernen. Das ändert sich mit der zunehmenden Entlehnung von Wörtern dieser phonologischen Struktur aus Sprachen mit s-Pluralbildung, d. h. aus dem Französischen (Mama, Papa, Karo, Rollo) und dem Englischen (Derby, Kanu, Tabu, Baby, Pony), aber auch dem Spanischen (Zigarillo, Havanna). Diese neue Situation ermöglicht die Etablierung einer neuen Paradigmenstrukturbedingung, die auf eine bisher für morphologische Zwecke nicht genutzte phonologische Eigenschaft Bezug nimmt. Sie weist den auf kurzen Vokal ungleich /e/ endenden Wörtern den Pluralmarker /s/ zu, so daß diese damit eine stabile Teilklasse im Rahmen der sPlurale bilden. Spätere Entlehnungen aus Sprachen ohne s-Pluralbildung schließen sich an (u. a. Trojka aus dem Russischen, Sauna aus dem Finnischen, Saga aus dem Isländischen, Polka aus dem Tschechischen, Geisha aus dem Japanischen usw.), dazu Kurzwörter (Auto, Akku, Krimi) und die wenigen deutschen Wörter dieser Lautstruktur (wie Uhu). Wörter aus anderen Flexionsklassen treten in die s-Klasse über (Porto, Komma, Viola). Eine neuere Gruppe in dieser Klasse bilden populäre Warennamen (vgl. Trabi .Trabant', Lada, Mazda, Volvo usw.). Wenn wir die Problematik der Entstehung und des Abbaus von Klassenstabilität noch einmal in einer Zusammenschau betrachten, so zeigt sich innerhalb der Flexionssysteme eine widersprüchliche Entwicklung. Einerseits tendieren diese Systeme ganz eindeutig zu einer unabhängigen Motivierung von Flexionsklassen, d. h. zur Etablierung von stabilen Flexionsklassen ohne Komplementärklassen. Bei Voraussetzung des Vorhandenseins von Flexionsklassen überhaupt ist in dieser Hinsicht ein Flexionssystem am natürlichsten, in dem alle Flexionsklassen eindeutig durch phonologische und/oder semantisch-syntaktische Eigenschaften bestimmt sind: Wörter mit gleichen nichtmorphologischen Eigenschaften werden auf gleiche Weise flektiert. Andererseits werden durch die Wirkung verschiedener anderer Tendenzen immer wieder äußermorphologische Eigenschaften, die die Grundlage für die Zugehörigkeit zu Flexionsklassen sind, neutralisiert, wodurch im System Klassenstabilität verloren geht. Es entsteht morphologische Markiertheit, Natürlichkeit wird abgebaut. Jede solche Neutralisierung führt dazu, daß die betroffenen Flexionsklassen zueinander in Bezug gesetzt werden, d. h. führt zur Herausbildung von Komplementärklassen, zwischen denen bestimmte Stabilitätsrelationen herrschen. Die mit der Neutralisierung notwendigerweise verbundene Herausbildung von sich untereinander beeinflussenden Komplementärklassen bildet faktisch den ersten Schritt zur erneuten Reduzierung der Markiertheit im Flexionssystem. Im Großteil der Fälle, wo die einander gegenüberstehenden Komplementärklassen sich in ihrer Belegung deutlich unterscheiden, ergibt sich eine Bewertung der Komplementärklassen als ,normaler' und ,weniger normal' durch die Sprecher, was Folgen für die Repräsentation der Flexionsklassenzugehörigkeit im Lexikon hat. Gilt für ein Wort die normalere Flexion, so braucht das nicht speziell erlernt zu werden; es versteht sich faktisch von selbst. Es sind keine Flexionsklassenmerkmale im Lexikon notwendig. Nur wenn ein Wort zur weniger normalen Flexion gehört, dann muß das speziell erlernt und im Lexikon durch geeignete Flexionsklassenmerkmale repräsentiert werden. Damit sind zugleich die Weichen gestellt für den allmählichen Abbau einer der beiden konkurrierenden Flexionsklassen, für die Richtung, in der die Vereinheitlichung und Vereinfachung

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4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

der Flexionsklassenzuordnung erfolgen kann. Die als weniger normal empfundene, schwächer belegte Klasse tendiert zum Abbau, wird instabil auch im üblichen Sinne des Wortes. Wörter der instabilen Flexionsklasse treten in die stabile Klasse über. Mit jedem übergetretenen Wort werden nicht nur Lexikonmerkmale abgebaut, es verschiebt sich auch das Ungleichgewicht der Klassen weiter zugunsten der größeren Klasse. Es zeigt sich eine Art von ,Lawineneffekt': Die stabile Klasse wird immer stabiler, die instabile immer weniger stabil. Im Idealfall verschwindet die instabile Klasse ganz. Die Flexionsklassenzugehörigkeit der Wörter mit den gegebenen außerm'orphologischen Eigenschaften braucht dann in keinem Falle mehr speziell erlernt zu werden. Morphologische Eigenschaften ergeben sich wieder eindeutig aus nichtmorphologischen. Doch eine eindeutige Zuordnung von nichtmorphologischen und morphologischen Eigenschaften der Wörter wird nicht nur dadurch herbeigeführt, daß instabile Flexionsklassen langsam ausgehöhlt und schließlich abgebaut werden. Flexionsklassenunterschiede von bisherigen Komplementärklassen können auch motiviert werden, indem sie sich an mehr oder weniger zufällig vorhandene nichtmorphologische Eigenschaften anlehnen, die bisher für die Flexionsklassenzugehörigkeit irrelevant waren. Auf diese Weise können dann neue stabile Flexionsklassen entstehen, die den Großteil der Wörter umfassen, die bislang nicht stabilen (instabilen und stabilitätsneutralen) Flexionsklassen angehörten. Eine solche Entwicklung ermöglicht vor allem auch die Beseitigung von stabilitätsneutralen Komplementärklassen, die eine recht große Belastung für ein Flexionssystem darstellen, weil sie explizite Flexionsklassenmerkmale im Lexikon für beide Klassen bedingen (keine davon ist für den Sprecher normaler als die andere) und eine Beseitigung einer der Klassen durch Übertritte entfällt. Auch damit wird morphologische Markiertheit abgebaut; das Flexionssystem gewinnt an Klassenstabilität. In Sprachen mit Flexionsklassen gibt es faktisch zu jeder Zeit sowohl Tendenzen des Aufbaus als auch des Abbaus von Klassenstabilität, letztere besonders bedingt durch die ständig wirkenden phonologischen Veränderungen. Sprachhistorische Prozesse, die in Richtung auf einen Abbau von instabilen Flexionsklassen führen, dauern in der Regel eine relativ lange Zeit, vgl. dazu etwa den bereits viele Jahrhunderte währenden Übergang der deutschen starken Verben in die Klasse der schwachen, der noch lange nicht abgeschlossen ist. Wenn eine instabile Flexionsklasse schließlich abgebaut ist, ist häufig bereits schon wieder eine neue entstanden. Zu dem Zeitpunkt beispielsweise, wo die Substantive des mittelhochdeutschen Typs hirte — N.P1. hirte (bis auf das Wort Käse) vollständig in die w-Pluralklasse übergetreten sind, hat bereits eine ganze Anzahl von Maskulina mit «-Plural wie Bär, Graf, Herr und Mensch ihr auslautendes /e/ verloren und damit eine instabile Komplementärklasse zu den e-Pluralen gebildet, zu der, nachdem es sein /e/ ebenfalls eingebüßt hat, heute auch das Substantiv Hirt — Plural Hirt-en gehört. Es ist daher nicht verwunderlich, daß sich im Laufe der Zeit ζ. B. aus dem substantivischen Deklinationssystem des Urindoeuropäischen, in dem es nach unserem Wissen keine instabilen Flexionsklassen gab, ein solches Deklinationssystem wie das des Neuhochdeutschen herausbilden konnte. 36 Abschließend soll noch anhand eines Beispiels gezeigt werden, wie sich der Abbau und die Herausbildung von Klassenstabilität auf die Flexionsklassenspezifizierung 36

WERNER (1969: 109) spricht bezogen auf die Flexionsklassengliederung vom germanischen Endungsverfall als von einer „phonemischen Katastrophe" für die Substantivmorphologie.

4.5. Produktivität I

153

der jeweils betroffenen Wörter im Lexikon auswirkt. Vgl. die drei Stufen der Entwicklung der ö- und «-Stämme: (14) (a) Urgermanisch: *gebö ,Gabe' *tungon ,Zunge' [ + Fem] [ + Fem] (b) frühes Althochdeutsch: geba zunga + Fem Γ+ Fem 1 - ö-DEKLl + öö-DEKLj L+ -DEKLj (c) spätes Althochdeutsch: geba zunga + Fem + Fem ] + Konkr . - KonkrJ

[

erda ,Erde' fasta ,Fasten' " + Fem "1 Γ + Fem + Konkr — Konkr + ö-DEKLJ L-ö-DEKL. I m Urgermanischen bilden die beiden Flexionsklassen stabile Klassen ohne Komplementärklassen, wobei die Klassenzugehörigkeit der Wörter durch ihre phonologische Struktur und die ohnehin gegebene Genusangabe eindeutig spezifiziert ist. Durch eine phonologisch bedingte Neutralisierung sind die beiden Klassen im frühen Althochdeutschen auf Grund ihrer außermorphologischen Eigenschaften nicht mehr unterscheidbar. Da beide Klassen etwa gleichstark belegt und daher stabilitätsneutrale Komplementärklassen sind, müssen die Wörter beider Klassen explizit für ihre Klassenzugehörigkeit spezifiziert sein. Die Stabilität beider Klassen ist verlorengegangen. Die Lexikonrepräsentationen aller Wörter sind komplizierter geworden. Durch die Anlehnung der «-Deklination an das Merkmal der Konkretheit und der ö-Deklination an das Merkmal der Abstraktheit im späteren Althochdeutschen werden die Lexikonrepräsentationen des jeweils überwiegenden Teils der Wörter beider Flexionsklassen vereinfacht; ihre explizite Flexionsklassenspezifizierung entfällt. Das betrifft die konkreten «- und die abstrakten ö-Substantive. Sie konstituieren jeweils stabile Teilklassen. Die weit wenigeren abstrakten n- und konkreten ö-Substantive bilden dazu die entsprechenden instabilen Teilklassen. Sie behalten die expliziten Flexionsklassenangaben. Es ist erneut Klassenstabilität im Flexionssystem entstanden. Gleichzeitig ist durch Beseitigung der stabilitätsneutralen Klassen die Voraussetzung zum weiteren Ausbau der Stabilität geschaffen: Jeder Klassenübertritt, beispielsweise der des Konkretums erda in die «-Klasse, vereinfacht das Lexikon weiter und lagert weiterhin Klassenstabilität an.

4.5. Produktivität I Das entscheidende Charakteristikum von Flexionsklassen, die normalerweise als produktiv aufgefaßt werden, ist ihre ,Offenheit': Produktive Flexionsklassen unterscheiden sich von unproduktiven darin, daß die Anzahl der ihnen zugehörigen Wörter nicht begrenzt ist; sie erhalten Neuzugänge. Dagegen sind unproduktive Klassen in diesem Sinne geschlossen'; die Zahl ihrer Wörter verringert sich.37 Betrachtet man 37

So etwa ISACEKKO (1962: 24ff.; vgl. auch 87ff. und 220ff.).

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4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

die ,Offenheit' typischer produktiver Klassen etwas differenzierter, so ergibt sich: Produktive Flexionsklassen — werden durch Neuwörter, d. h. Entlehnungen und Neubildungen, aufgestockt; — nehmen Wörter aus anderen Flexionsklassen auf; — verlieren selbst keine Wörter durch Übertritt in andere Flexionsklassen. Diese Kriterien erinnern stark an das, was wir als Klassenstabilität gefaßt haben. Die in den vorangehenden Abschnitten diskutierten Beispielfälle stabiler Flexionsklassen zeigten gerade diese Eigenschaften. Hieraus könnte sich der Eindruck ergeben, als sei Stabilität nichts anderes als das, was sonst als Produktivität morphologischer Erscheinungen bezeichnet wird. Damit wäre dann einer der beiden Begriffe entbehrlich. Doch dieser Eindruck ist nicht richtig. Wenn es auch in vielen Fällen eine faktische Übereinstimmung von stabilen und produktiven Flexionsklassen gibt, so gilt das keineswegs notwendigerweise. Zwar baut die Produktivität u. a. auch auf der Klassenstabilität auf, aber beides ist nicht gleichzusetzen. Wir wollen im folgenden überprüfen, welche Erscheinungen in den Bereich der Produktivität fallen und wie sich Klassenstabilität und Produktivität zueinander verhalten. Beginnen wir mit dem Fall einer stabilen Teilflexionsklasse, deren Produktivität in eben umschriebenem Sinne außer Frage steht, den (in Abschn. 4.3. diskutierten) deutschen Substantiven auf phonologisch kurzen Vokal ungleich /e/. Vgl. nochmals kurz die Fakten: Diese Teilklasse wird durch Entlehnungen wie der Ufo — die Ufo-s, die Cola — die Cola-s und das Veto — die Vetos sowie Neubildungen (Kurzwörter) wie der Juso — die Juso-s, die Manzi — die Manzis und das Foto — die Fotos erweitert. Sie nimmt Wörter aus anderen Klassen wie ζ. B. der Saldo — die Saldos (< Salden), die Tuba — die Tubas (< Tub-en) und das Risiko — die Risiko-s (< Risik-en) auf. Sie verliert keine Wörter an andere Flexionsklassen; Übergänge des Typs Tangos > *Tang-en, Kameras > *Kamer-en und Extras > *Extr-en wären unmöglich. Es sind alle Kriterien der Produktivität erfüllt. Wir haben es hier also ganz offensichtlich mit einem Fall zu tun, wo Produktivität und Klassenstabilität voll übereinstimmen. Doch zugleich zeigt dieser Beispielfall ein wichtiges Faktum, das in den eben gegebenen Kriterien für die Produktivität nicht zum Ausdruck kommt: Wohl ist diese Klasse ,offen' für Neuzugänge, aber eben doch nicht ,offen nach allen Seiten'. Die Klassenübertritte erfolgen lediglich aus den Komplementärklassen, vollziehen sich also auf der Basis gemeinsamer außermorphologischer Eigenschaften. Dasselbe gilt für die Aufnahme von Neuwörtern. Beispielsweise werden von der «-Pluralklasse keine Substantive auf je/ aufgenommen, weder in Form von Klassenübertritten von Wörtern der Typen Bote und Tante, noch von Entlehnungen wie Taiwanese und Viskose oder von Neubildungen wie Chaote (neben Chaot) und Lesbe ,Lesbierin'. Daß sich die Produktivität von Klassen immer nur auf einen bestimmten Bereich bezieht, wird besonders deutlich in Fällen wie den deutschen Maskulina mit »-Plural. Diese Klasse ist so gesehen sowohl produktiv wie unproduktiv. Produktiv ist sie für Wörter auf /e/, vgl. neben den eben erwähnten Neuwörtern den Übergang der Substantive vom Typ Hirte (älter der Hirte — die Hirte) in diese Klasse. Unproduktiv ist sie für auf Konsonant endende Wörter, vgl. den Wechsel von Wörtern wie Blitz, Mond und Star von der n- in die e-Pluralklasse. Daraus läßt sich die Schlußfolgerung ziehen, daß es keine Produktivität schlechthin' gibt, sondern immer nur eine Produktivität für Wörter mit bestimmten phonologischen und/oder semantisch-syntaktischen Eigen-

4.5. Produktivität I

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Schäften. Die außermorphologischen Eigenschaften, für die die Produktivität einer Klasse gilt, können allerdings einen recht unterschiedlichen Allgemeinheitsgrad haben, wodurch die Produktivität dann auch einen recht unterschiedlichen Einzugsbereich erfassen kann. So kommen einerseits sehr spezielle Kombinationen von Eigenschaften als produktivitätsbasierend vor, ζ. B. ,auf dentale Spirans oder Affrikate endendes Maskulinum' im Deutschen für eine Teilklasse der e-Pluralbildung (vgl. Abschn. 4.2.). Andererseits treten auch sehr generelle Eigenschaften auf, die im Grenzfall sogar auf eine Wortart insgesamt Bezug nehmen können, vgl. ,Substantiv' im Englischen, das den Bereich der Produktivität der «-Pluralbildung bestimmt, was u. a. Entlehnungen wie pizza — pizza-s, ruchsack — rucksacks und sputnik — sputniks zeigen. Hier mag die Produktivität als Produktivität schlechthin' erscheinen, aber auch die Produktivit ä t des s-Plurals im Englischen ist auf einen durch außermorphologische Eigenschaften charakterisierten Bereich bezogen. Sie gilt bekanntlich nur für die Wortart Substantiv, erfaßt also ζ. B. keine Adjektive und Pronomen. Wir haben gesehen, daß die Produktivität morphologischer Klassen wie ihre Stabilität an außermorphologische Eigenschaften der Grundform von Wörtern gebunden ist. Das impliziert, daß — abgesehen von solchen Fällen, wo Flexionsklassen nur Wörter mit einheitlichen außermorphologischen Eigenschaften enthalten wie die lateinische α-Deklination, die ausschließlich auf /a/ endende Substantive umfaßt — nicht die Flexionsklassen, sondern die Teilflexionsklassen produktiv sind, wie sich auch die Stabilität auf Teilklassen bezieht (vgl. Abschn. 4.2.). Es wurde ζ. B. bereits festgestellt, daß innerhalb der maskulinen w-Pluralklasse des Deutschen die Teilklasse der Wörter auf /e/ vom Typ Bote produktiv und die Teilklasse der Wörter auf Konsonant vom Typ Mensch nicht produktiv ist. Bislang wurden nur Fälle betrachtet, wo produktive Flexionsklassen (wir wollen der Einfachheit halber bei dieser Redeweise bleiben) auch immer stabil waren. Doch auch stabilitätsneutrale Klassen können produktiv sein. Wenn wir zu unserem früheren Beispiel zurückkehren, so sehen wir, daß sowohl die w-Feminina als auch die ö-Feminina des frühen Althochdeutschen typische Eigenschaften produktiver Klassen besitzen: Sie nehmen Entlehnungen und Neubildungen auf. Nach der «-Deklination werden entlehnte Wörter wie amp(ul)la ,Ampel' > lat. ampulla, flra ,Feier' > mlat. feria und glokka ,Glocke' > abrit. *klokkä flektiert. Zu maskulinen w-Substantiven können entsprechende Feminina gebildet werden, vgl. a f f a ,Äffin' zu affo, forasaga ,Prophetin' zu forasago und gastgeba ,Gastgeberin' zu gastgebo. Nach der ö-Deklination gehen Entlehnungen wie kestiga ,Züchtigung' < lat. castiga(tio), regula ,Regel' > mlat. regula und splsa ,Speise' < mlat. spesa. Auch hier existieren produktive Wortbildungsmuster, ζ. B. können von allen Adjektiven Abstrakta auf -ida abgeleitet werden, die nach der ö-Deklination flektieren, vgl. hreinida ,Reinheit', hertida ,Härte' und spähida ,Klugheit'. Beide Klassen erhalten zusätzlich Wörter durch Klassenübergang, die «-Deklination aus der ö-Deklination und umgekehrt. Das bedeutet aber natürlich zugleich, daß beide Klassen auch Wörter verlieren. Damit ist eines der obigen Kriterien der Produktivität nicht erfüllt. Stabilitätsneutrale Klassen sind also produktiv hinsichtlich der Aufnahme von Entlehnungen, Neubildungen und Wörtern anderer Flexionsklassen, nicht aber hinsichtlich der Erhaltung ihres Wortbestandes. I n diesem Zusammenhang muß vermerkt werden, daß ja auch stabile Flexionsklassen ohne Komplementärklassen (wie ζ. B. die auf /a/ endenden Substantive des Russischen vom Typ sobäka) nicht alle oben erwähnten Kriterien der Produktivität erfüllen: Sie

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4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

sind nicht produktiv hinsichtlich der Aufnahme von Wörtern anderer Flexionsklassen, weil sie ja bereits alle Wörter der entsprechenden außermorphologischen Eigenschaften enthalten. Für die bisher behandelten Beispielfälle produktiver Flexionsklassen läßt sich sagen, daß sich die Produktivität immer aus dem stabilen oder stabilitätsneutralen Status der betreffenden Klasse ergibt. Doch das ist nicht notwendigerweise so. Es gilt nur, wenn die stabilen bzw. stabilitätsneutralen Flexionsklassen zugleich auch systemangemessen sind, was bei den bisherigen Beispielen überall der Fall ist. Deshalb sollen jetzt einige zusätzliche Beispiele diskutiert werden, für deren Produktivität oder Nichtproduktivität die Systemangemessenheit eine entscheidende Rolle spielt. Im Althochdeutschen sind die neutralen α-Substantive wie wort — G.Sg. wort-es — N.P1. wort sowohl stabil als auch produktiv. Beispielsweise können zu allen Substantiven Diminutiva gebildet werden, die als α-Neutra flektieren, vgl. kindilin ,Kindchen' — G.Sg. kindilln-es — N.P1. kindilin, und die Klasse nimmt entlehnte Wörter wie paradis ( > lat. paradisum) auf.38 Diese Flexionsklasse ist im Althochdeutschen — wie oben festgestellt — u. a. auch hinsichtlich ihres Distinktionstyps systemangemessen, denn für Neutra gilt der Distinktionstyp ,Sg. = PI.'. Später, im Mittelhochdeutschen, ändert sich jedoch der Distinktionstyp für Neutra in ,Sg. φ PI.', so daß die neutralen Substantive in dieser Hinsicht mit den Maskulina und Feminina übereinstimmen (vgl. dazu Abschn. 3.7.). Damit ist die Übereinstimmung von N.Sg. und N.P1. nicht mehr systemangemessen. Das führt dazu, daß die weiterhin stabile Klasse der auf Konsonant endenden Neutra des Typs wort unproduktiv wird. Obwohl die neutrale α-Klasse genau wie vorher mehrfach so viele Wörter enthält wie ihre Komplementärklasse, die Klasse der er-Neutra wie rint — G.Sg. rind-es — N.P1. rind-er, kehren sich die ProduktivitätsVerhältnisse der beiden Klassen um. Die rintKlasse mit dem Distinktionstyp ,Sg. φ PL' wird produktiv. Daraus folgt, daß dann besonders im späten Mittelhochdeutschen und im Frühneuhochdeutschen viele aNeutra in ihre Komplementärklasse übertreten, vgl. wort — wort > wort — wört-er. Doch nicht alle Neutra, die auf Grund der Wirkung der systemdefinierenden Struktureigenschaften ihre 0-Plurale beseitigen, treten in die er-Klasse über. Es ist zugleich bei diesen Wörtern die Tendenz zu beobachten, sich der maskulinen α-Deklination des Typs tac — G.Sg. tag-es — N.P1. tag-e anzuschließen, vgl. wort — wort > wort — wort-e. Dabei bleiben sie aber nach wie vor Neutra. Viele Substantive schwanken zwischen den Klassen und noch heute gibt es eine Reihe von Doppelformen (neben Wört-er — Worte auch Länd-er — Land-e und Tüch-er — Tuch-e). Der Übertritt zum maskulinen Typ der α-Deklination erklärt sich offenbar daraus, daß die mit der neutralen aDeklination in allen außermorphologischen Eigenschaften (Endung auf Konsonant und Neutrum) übereinstimmende er-Klasse nur etwa fünfzehn Wörter enthält, die im Genus von ihr unterschiedene maskuline α-Klasse dagegen mehrere Hundert. Die somit weit größere Stabilität der letztgenannten Klasse wirkt hier allem Anschein nach so stark, daß die Nichtübereinstimmung im Genus dadurch kompensiert wird.39 38 38

Hier liegt ein Fall von sekundärer Produktivität vor, vgl. Abschn. 4.6. Vgl. den ähnlichen Fall von dtsch. Datschaj Datsche (Anmerkung 46). — Im übrigen könnte das Auftreten von Pluralformen des Typs Worte auch als Verbreitung des produktiven Pluralmarkers /ef verstanden werden.

4.6. Produktivität I

157

Deshalb gibt es für die Beseitigung der nicht mehr systemangeniessenen 0-Plurale keine einheitliche Lösung. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist, daß hier eine stabile Flexionsklasse ihre Produktivität verliert, weil sie in einem wichtigen Punkt nicht länger systemangemessen ist. Der Verlust der Produktivität bewirkt den Übertritt von Wörtern in andere Klassen und so längerfristig auch den Abbau der Klassenstabilität, wodurch Stabilität und Produktivität im Flexionssystem wieder in übereinstimmender Weise verteilt sind. Ein ähnlicher Fall läßt sich im Neuhochdeutschen beobachten, wenn seine Entwicklung auch noch nicht soweit gediehen ist wie beim eben behandelten. Er betrifft die auf -el, -er, -era, -chen und -lein endenden Maskulina und Neutra, die keine Pluralkennzeichnung am Wort selbst haben, vgl. Spiegel, Fenster, Schlitten, Mädchen und Vöglein. Diese Wörter bilden eine stabile Flexionsklasse mit gewaltigem Übergewicht über eine Komplementärklasse mit w-Pluralbildung, die nur die Wörter Bauer, Muskel, Pantoffel, Stachel und Vetter enthält, vgl. der Bauer — die Bauer-η. Die 0-Klasse nimmt die häufigen Neubildungen auf -er wie Schuber ,Schiff, das Lastkähne (nicht schleppt, sondern) schiebt' ebenso auf wie entsprechende entlehnte Worter, vgl. Blazer, Computer und Tuner.10 Diese Fakten erwecken den Eindruck, als funktioniere die Produktivität dieser Flexionsklasse uneingeschränkt, obwohl (wie die Analyse im Abschn. 3.3. zeigt) im Neuhochdeutschen in der Numerusflexion der Distinktionstyp ,Sg. φ PI.' für das Wort selbst (also ohne Besücksichtigung des Artikels) dominiert und Substantive mit einer Übereinstimmung von Singular- und Pluralform wie (der) Spiegel — (die) Spiegel in dieser Hinsicht nicht den systemdefinierenden Struktureigenschaften entsprechen. Auch bezüglich der Kasusaffixe ist diese Klasse wenig systemangemessen. Doch der Eindruck der völlig intakten Produktivität trügt. Es lassen sich zumindest deutliche ,Aufweichungserscheinurxgen' ausmachen, wenn auch zumeist noch außerhalb der literatursprachlichen Norm: In der Kindersprache werden die Wörter dieser Flexionsklasse ziemlich konsequent mit Pluralmarkern versehen, wobei die auftretenden Marker landschaftlich verschieden sind. Im Norddeutschen erscheint /s/, im Süddeutsch-Österreichischen und Mitteldeutschen dominiert /n/, vgl. die Spiegels und die Spiegel-η. Entsprechende Formen haben sich auch in den Umgangssprachen weitgehend durchgesetzt. So weist bereits P A U L (1917: 58) darauf hin, daß die Pluralformen Flitter-η, Splitter-n, Stiefel-η und Ziegel-η „landschaftlich nicht selten, aber nicht als korrekt betrachtet sind". Bei verschiedenen Einzelwörtern werden Pluralformen mit /s/ bzw. /n/ bereits vom D U D E N akzeptiert, vgl. der Kumpel — die Kumpel-s, das Fräulein ' — die Fräuleins, das Mädel — die MädelsjMädel-n, der Onkel — die Onkels/Onkel-n. Diese Erscheinungen sind mit der Auffassung von einer produktiven Flexionsklasse nicht vereinbar. Sie lassen sich vielmehr nur dahingehend interpretieren, daß die 0-Pluralklasse gegenwärtig dabei ist, unter dem Druck der systemdefinierenden Struktureigenschaften ihre Produktivität zu verlieren. Dieser Prozeß wird sich künftig mit Sicherheit weiter verstärken. Er wird allerdings dadurch verkompliziert, daß mehrere Komplementärklassen um die Übernahme der Wörter 40

Auch Nonsens Wörter funktionieren so: Wenn man (wie unlängst Otto Waalkes) ein Wort wie *das Wusel für ein (nichtexistentes) Tier erfindet, so ergibt sich automatisch der Plural *die Wusel. Vgl. auch die manchmal vorkommende Verwendung des Wortes Partikel als Maskulinum anstatt, als Femininnm. Hier heißt dann der Plural nicht mehr die Parlikel-n, sondern die Partikel.

158

4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

der 0-Pluralklasse miteinander konkurrieren. 41 Auch die literatursprachliche Normierung wirkt sich hier bremsend aus. Ein sehr interessantes Beispiel für das Unproduktiver den und den Abbau einer bislang stabilen Flexionsklasse bilden die sogenannten r-Stämme oder Verwandtschaftsnamen im Althochdeutschen, weil hier der Vergleich mit einer anderen altgermanischen Sprache, dem Altisländischen, die bedingende Rolle der systemdefinierenden Struktureigenschaften besonders deutlich werden läßt. Zu dieser Klasse gehören in den altgermanischen Sprachen die Wörter für ,Vater', ,Mutter', ,Bruder', .Schwester' und ,Tochter', vgl. ahdtsch. fater und muoter, aisld. faper und moper. I n beiden Sprachen ist diese Flexionsklasse durch die gleichen außermorphologischen Eigenschaften bestimmt: Ihre Wörter enden auf /er/ und bezeichnen Verwandtschaftsgrade. Sie werden folgendermaßen dekliniert: (15)

(a) Althochdeutsch

(b) Altisländisch

N.Sg. G. D. A.

fater fater fater fater

faper fopor fepr fopor

N.P1. G. D. A.

*fater fater-o fater-um *fater

fepr fepr-a fe pr-um fepr .

Sowohl im Althochdeutschen wie auch im Altisländischen bilden die Verwandtschaftsnamen stabile Klassen ohne Komplementärklassen. Doch die weitere Entwicklung verläuft in beiden Sprachen recht unterschiedlich. I m Isländischen ändert sich nur der D.Sg. von fepr zu /gper, ansonsten ist die Klasse unverändert und — was wichtig ist — selbständig bis heute erhalten. I m Deutschen beginnt schon in althochdeutscher Zeit die Angleichung der maskulinen Verwandtschaftsnamen an die aDeklination und der femininen Verwandtschaftsnamen an die ö-Deklination. I m Mittelhochdeutschen existiert die selbständige Flexionsklasse dann bereits nicht mehr. Diese Unterschiede ergeben sich aus der unterschiedlichen Systemangemessenheit der Verwandtschaftsnaraen im Altisländischen und Althochdeutschen hinsichtlich der Distinktionstypen: Die isländische Klasse realisiert in ihrer Numerusflexion den für Nichtneutra dominierenden Distinktionstyp ,Sg. φ PI.', die deutsche Klasse den für Nichtneutra wenig systemangemessenen Typ ,Sg. = PI.'. In der Kasusflexion folgt die isländische Klasse im Plural einem im System verbreiteten Distinktionstyp. I m Singular entspricht sie abgesehen von der speziellen Dativform dem ebenfalls stark verbreiteten und entsprechend systemangemessenen Typ ,Ν. φ G. = D. = A.', der für die Klassen der schwachen Maskulina und Feminina gilt, vg. han-e ,Hahn' — G./D./A.Sg. han-a und gat-a ,Straße' — G./D./A.Sg. gat-o. Während die deutsche 41

Hier ist zu erwähnen, daß sich eine weitere Möglichkeit der Pluralsymbolisierung für eine Teilklasse dieser Wörter durch den Pluralumlaut ergibt. Speziell bei den Wörtern auf -en, die ja aus phonologischen Gründen den Pluralmarker /n/ nicht annehmen können, breitet sich vom Oberdeutschen der Umlaut als Pluralmarker aus, wodurch ebenfalls Singular und Plural am Wort selbst unterschieden werden können, vgl. die neueren Pluralformen Böden, Bögen, Kästen, Krügen, Mägen und Wägen, die der D U D E N heute neben den älteren, umlautlosen Formen alle akzeptiert.

4.5. Produktivität I

159

Klasse in der Kasusflexion im Plural ebenfalls einem systemangemessenen Distinktionsmuster folgt, realisiert sie im Singular das wenig systemangemessene Muster ,N. = G. = D. = A.' (bei den Maskulina dominiert hier ,N. = Α. φ G. Φ D.', bei den Feminina ,N. = Α. Φ G. = D.'). Insgesamt gesehen verwirklicht die Klasse der Verwandtschaftsnamen im Altisländischen ein hohes Maß an Systemangemessenheit, wohingegen die Klasse der Verwandtschaftsnamen (ebenso wie das oben zitierte Paradigma man; vgl. Abschn. 3.4) im Althochdeutschen zu den am wenigsten systemangemessenen Flexionsklassen gehört. Allein aus diesem Grunde und nicht, weil es sich um eine nur kleine Klasse handelt, büßte sie die Produktivität ein und verschwindet durch den vollständigen Übergang der ihr bislang zugehörigen Wörter in andere Klassen, während die ebenso kleine altisländische Klasse erhalten bleibt.42 Stabile Flexionsklassen verlieren also ihre Produktivität, wenn sie den systemdefinierenden Struktureigenschaften der gegebenen Sprache nicht entsprechen, d. h., Produktivität setzt Systemangemessenheit voraus. Produktivität läßt sich also — grob gesagt — als Überschneidungsbereich von Klassenstabilität und Systemangemessenheit fassen.43 Wenn eine Flexionsklasse systemangemessen und stabil ist, dann ist sie auch produktiv. Diese Umschreibung muß noch in zwei Punkten präzisiert werden: Erstens verlieren Klassen, die nicht mehr systemangemessen sind, ihre Produktivität nicht sofort vollständig, sondern nur allmählich. Deshalb können auch nicht mehr systemangemessene Flexionsklassen noch (anfangs sogar recht beachtliche) Reste von Produktivität aufweisen, vgl. den Typ Spiegel — Spiegell Blazer — Blazer im Neuhochdeutschen. Zweitens bedingt der Abbau der Produktivität einer Klasse, solange es Wörter mit den entsprechenden außermorphologischen Eigenschaften gibt, zwangsläufig das Produktivwerden der bzw. einer Komplementärklasse. So werden auch bei Produktivitätsverlust auf Grund mangelnder Systemangemessenheit Flexionsklassen produktiv, die zunächst noch nicht stabil sind, sondern erst durch diese Entwicklung selbst stabil werden, vgl. den Typ rint — rind-er/ wort — wört-er im späten Mittelhochdeutschen. Es ist also jeweils mit bestimmten Übergangsstadien zu rechnen. Beide Typen von Fällen können folgendermaßen zusammengefaßt werden: (Siehe (16) Seite 160 oben). Wir können also zusammenfassend konstatieren, daß sich die Produktivität innerhalb eines Flexionssystems im Spannungsfeld von Systemangemessenheit und Klassenstabilität regelt, wobei in Konfliktfällen letztlich immer die Systemangemessenheit dominiert. Produktivität ist demnach keine primäre, sondern eine abgeleitete Größe, ein ,Oberflächenphänomen'. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal: Die Systemangemessenheit repräsentiert die Richtung derjenigen Ausgleichstendenzen, die auf die typologische Vereinheitlichung des Systems zielen; die Klassenstabilität repräsentiert die Richtung derjenigen Ausgleichs- und Anpassungstendenzen, die auf die unabhängige, außermorphologische Motivierung der Flexionsklassen zielen. Die Produktivität, die sich aus dem Miteinander- und Gegeneinanderwirken von Systemangemessenheit und Klassenstabilität ergibt, repräsentiert dann die Richtung der auf 42

aa

Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil mit den ia-Stämmen des Typs hirp-er ,Hirt' — G.Sg. hirp-es — N.P1. hirp-ar schon im Altisländischen und noch heute neben den Verwandtschaftsnamen eine größere Klasse existiert, deren Wörter die gleichen phonologischen Eigenschaften haben und die überdies eine ganze Reihe von Personenbezeichnungen enthält. Genauer müßte man hier sagen ,Nicht-Instabilität', vgl. die erörterte Produktivität stabilitätsneutraler Klassen.

160

4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

(16)

Stadiuni I Flexionsklasse FKX

systemangemessen stabil PRODUKTIV

Flexionsklasse FK a

systemangemessen ~ stabil ~ PRODUKTIV

Stadium I I (Übergangsstadium) ~ systemangemessen stabil PRODUKTIV

>

~ systemangemessen stabil ~PRODUKTIV

systemangemessen ~ stabil PRODUKTIV

Stadium I I I ~ systemangemessen ~ stabil ~PRODUKTIV systemangemessen stabil PRODUKTIV

ein Flexionssystem einwirkenden morphologischen Ausgleichs- und Anpassungstendenzen insgesamt, soweit diese einzelne Flexionsklassen favorisieren. Wir haben in diesem Abschnitt bisher das Phänomen der Produktivität immer anhand der Produktivität von Flexionsklassen diskutiert, weshalb sich hier einige Bemerkungen zur Produktivität einzelner Marker als notwendig erweisen. Wie die Produktivität von Flexionsklassen auf deren Systemangemessenheit und Stabilität basiert, so basiert auch die Produktivität von Kategorienmarkern auf deren Systemangemessenheit und Stabilität: Stabile Marker sind produktiv, wenn sie zugleich auch systemangemessen sind. Wenn stabile Marker durch phonologische und/oder syntaktische Veränderungen ihre Systemangemessenheit eingebüßt haben, verlieren sie längerfristig auch ihre Produktivität. Als Beispiel für einen sehr produktiven Marker kann der altschwedische Genitivmarker /s/ gelten, der sich nicht nur auf den G.Sg., sondern auch auf den G.P1. sämtlicher substantivischer Flexionsklassen ausbreitet. Dagegen verliert der ebenfalls hochgradig stabile D.Pl.-Marker /um/ bzw. /om/, der bei allen Substantiven und in der starken Adjektivdeklination auftritt, im Neuschwedischen seine Produktivität auf Grund nicht mehr vorhandener Systemangemessenheit (vgl. dazu Abschn. 4.3.). Der letztlich die Produktivität determinierende Faktor, der sich entsprechend auch gegen die Stabilität von Flexionsklassen und Markern durchsetzt, ist die Systemangemessenheit. Dabei ist wichtig festzuhalten, daß sich die Systemangemessenheit nicht immer als Produktivität äußern muß. Wir haben die Produktivität hier als Produktivität von konkreten einzelnen Flexionsklassen und Markern gefaßt. Oft wirkt sich die Systemangemessenheit entsprechend im Produktivwerden von Flexionsklassen und Markern aus, vgl. die Produktivität der von wort — N.P1. wort repräsentierten Flexionsklasse auf Grund des bei den Neutra dominierenden Distinktionstyps ,Sg. = PI.' im Althochdeutschen. Anders sieht es bei den im Voralthochdeutschen auftretenden Ausgleichserscheinungen auf Grund des dominierenden Distinktionstyps ,N. = A.' aus, durch die die maskulinen a-, i-, u- und Wurzelstämme ihre besonderen N.P1.Formen verlieren, vgl. tag — N.P1. tag-a — A.P1. *tag-un > N./A.P1. tag-a, balg — N.P1. belg-i — A.P1. *belg-in > N./A.P1. belg-i, sun — N.P1. sun-u — A.P1. *-sun-un > N./A.P1. αtui-u und mau — N.P1. man — Λ.Ρ1. *manu-un > N./A.P1. man. Hier jetzt sich keine einzelne Flexionsklasse und kein einzelner Marker durch, sondern

4.5. Produktivität I

161

eben nur ein allgemeiner Strukturzug, ein Distinktionstyp. Man könnte meinen, daß es in Fällen wie diesem sinnvoll wäre, von Produktivität eines Bildungstyps' oder dgl. zu sprechen. Aber eine solche Begriffsbildung wäre unnötig und verwirrend, denn was hier vorliegt, ist nichts anders als die Durchsetzung der systemdefinierenden Struktureigenschaften, also Systemangemessenheit, ohne daß die Klassen- bzw. Markerstabilität mit hereinwirkt. Produktivität ist — um es noch einmal zu sagen — die auf dem Zusammenwirken von Systemangemessenheit und Stabilität beruhende Eigenschaft von Flexionsklassen und Markern, sich im Rahmen von morphologischen Ausgleichs- und Anpassungsprozessen innerhalb des Flexionssystems unter gegebenen Bedingungen über ihre bisherige Domäne hinaus auszudehnen. Der hier erarbeitete, aus den Konzepten der Systemangemessenheit und der Stabilität abgeleitete Produktivitätsbegriff erfaßt damit lediglich die M ö g l i c h k e i t der Ausdehnung von Flexionsklassen und Markern, d. h. gleichsam eine potentielle Produktivität. Entscheidend für das Wirksamwerden der Produktivität im Sinne der Ausbreitung morphologischer Erscheinungen auf neue Instanzen ist eine weitere, rein faktische Voraussetzung, nämlich das Vorhandensein von geeigneten ,Kandidaten', auf die Flexionsklassen bzw. Marker ausgedehnt werden können. So können Flexionsklassen natürlich nur dann neue Wörter aufnehmen, wenn solche Wörter überhaupt vorhanden sind. Wenn eine Flexionsklasse also keine Komplementärklasse hat und Wörter mit den klassencharakteristischen außermorphologischen Eigenschaften weder aus anderen Sprachen entlehnt, noch mit Mitteln der Wortbildung neu abgeleitet werden, dann gibt es eben einfach keine ,Kandidaten' für eine Aufstockung dieser Klasse. 44 Hier zeigt sich, daß für das Wirksamwerden der Produktivität hinsichtlich der Ausdehnung der gegebene Einzugsbereich einer Klasse (vgl. weiter oben in diesem Abschnitt) eine entscheidende Rolle spielt. Klassen wje die der s-Plurale im Englischen, deren Einzugsbereich sämtliche entlehnten und neugebildeten Substantive umfaßt, können ihre potentielle Produktivität hinsichtlich der Ausbreitung auch immer in aktuell wirksame Produktivität umsetzen. Dagegen sind Klassen mit sehr kleinen Einzugsbereichen (d. h. sehr spezifischen außermorphologischen Charakterisierungen) in ihren Ausbreitungsmöglichkeiten faktisch stark eingeschränkt. Als Beispiel dafür können die ebenerwähnten altisländischen Verwandtschaftsbeziehungen auf /er/ genannt werden, die eine systemangemessene und stabile, ergo produktive Klasse bilden, was die Erhaltung ihres Wortbestandes bis heute klar erweist. Daß sie sich nicht ausbreitet, liegt einfach daran, daß es im Isländischen keine weiteren Substantive mit den entsprechenden außermorphologischen Eigenschaften gibt, die die Klasse aufnehmen könnte und solche Wörter weder entlehnt noch neu gebildet werden. Daß die Flexionsklasse also ihre Domäne nicht erweitern kann, ergibt sich nicht aus mangelnder Systemangemessenheit und/oder Stabilität, sondern ist in diesem Sinne rein zufällig. Da die Produktivität auf der Systemangemessenheit und der Stabilität beruht, können wir uns hinsichtlich der Veränderung von Produktivität recht kurz fassen: Produktivität wird auf- bzw. abgebaut, wenn sich die Systemangemessenheit oder die Stabilität von Flexionsklassen und Markern verändert. Die Systemangemessenheit morphologischer Erscheinungen kann sich aus zwei Gründen wandeln, nämlich bei Veränderung der systemdefinierenden Struktureigenschaften oder bei Veränderung der jeweiligen morphologischen Erscheinung selbst. Ein Beispiel für einen Wechsel in den 44

Vgl. dazu jedoch den folgenden Abschn. 4.6.

11 stud, gramin. XXI

162

4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

systemdefinierenden Struktureigenschaften stellt der Übergang des Distinktionstyps ,Sg. = PI.' in ,Sg. φ P.' bei den Neutra im späten Mittelhochdeutschen dar. Die Klasse der Neutra mit 0-Pluralformen wird unproduktiv und die Klasse der Neutra mit erPluralformen entsprechend produktiv. Ein Fall, wobei sich eine Flexionsklasse selbst hinsichtlich ihrer Flexionsformen verändert, ist der im Voralthochdeutschen erfolgte phonologische Abbau der Numerus-Kasus-Marker im gesamten Singular und im N./A.P1. der Verwandtschaftsnamen, wodurch Systemangemessenheit verloren geht und die Produktivität der Klasse beseitigt wird. Die Stabilität von Flexionsklassen ändert sich gewöhnlich durch Neutralisierungsprozesse meist phonologischer Art, vgl. den Zusammenfall von /us/ und /os/ im Lateinischen. Auf diese Weise wird die «-Deklination des Typs tribus — G.Sg. tribüs zu einer instabilen Klasse und verliert dann ihre Produktivität. Alle diese Beispielfälle wurden im Zusammenhang mit den Konzepten der Systemangemessenheit und der Klassenstabilität ausführlicher diskutiert, so daß sich ihre erneute Darstellung hier erübrigt.

4.6. Produktivität II Die Behauptung, daß die Produktivität von Flexionsklassen immer nur im Rahmen von durch gemeinsame außermorphologische Eigenschaften bestimmten Einzugsbereichen wirkt, scheint einer bekannten morphologischen Tatsache zu widersprechen: Oft verfügen aus anderen Sprachen entlehnte Wörter gar nicht von vornherein über die außermorphologischen Eigenschaften produktiver Flexionsklassen, sondern bekommen diese erst bei der Übernahme zugeordnet. Man denke hier ζ. B. daran, daß bestimmte französische Substantive wie bombe ,Bombe' und fabrique ,Fabrik' im Russischen in der Form bömba und fdbrika, also mit phonologischer Anpassung, der produktiven α-Deklination zugewiesen werden. Wie sind solche Fälle zu erklären ? Wir sind bisher davon ausgegangen, daß die in einer Sprache neu auftretenden Wörter solche phonologischen und/oder semantisch-syntaktischen Eigenschaften aufweisen, die den Eigenschaften einer im Flexionssystem vorhandenen Klasse entsprechen. Die Klassenzuordnung solcher Wörter funktioniert auf dieser Basis automatisch durch die implikativen Paradigmenstrukturbedingungen. Wir wollen in solchen Fällen (wie sie uns im ganzen vorangegangenen Abschnitt beschäftigt haben) von p r i m ä r e r P r o d u k t i v i t ä t sprechen. Daneben gibt es jedoch die Möglichkeit, daß aus fremden Sprachen übernommene Wörter nicht die außermorphologischen Eigenschaften einer Klasse des Flexionssystems besitzen, was auf Grund der phono-morphologischen Verschiedenheit der natürlichen Sprachen recht häufig der Fall ist. Theoretisch besonders interessant ist dabei die Konstellation, daß ein Wort auf Grund seiner phonologischen Eigenschaften einer der Flexionsklassen, auf Grund seiner semantisch-syntaktischen Eigenschaften jedoch einer anderen Flexionsklasse zuzuordnen wäre. Die Eigenschaften solcher entlehnter Wörter verhalten sich in der Zuordenbarkeit zu den vorhandenen Flexionsklassen widersprüchlich zueinander, so daß sich Konflikte ergeben. Derartige Konflikte müssen auf irgendeine Weise gelöst werden. Rein theoretisch gesehen ergeben sich dafür drei verschiedene Möglichkeiten, die alle drei auch als Anpassungsverfahren vorkommen. Erstens kann eine neue Teilflexionsklasse im Flexionssystem etabliert werden, die durch die bisher nicht vorhandene Kombination von außermorphologischen Eigen-

4.6. Produktivität I I

163

Schäften charakterisiert ist. Dieser Lösungsweg ist offensichtlich ziemlich selten. Als Beispiel kann hier die Übernahme von griechischen Neutra wie dogma und schema in das Flexionssystem des klassischen Latein genannt werden. Diese Substantive haben die phonologische Form von ä-Feminina wie villa, sind aber — wie gesagt — Neutra. Sie werden im klassischen Latein als neue Teilklasse der konsonantischen Neutra mit der Flexion dogma — G.Sg. dogma-tis — N.P1. dogma-ta etabliert. Zweitens können die Wörter auf Grund ihrer phonologischen Eigenschaften einer Flexionsklasse zugeordnet werden, deren Wörter die entsprechende phonologische Form haben, und an die semantisch-syntaktischen Eigenschaften, etwa das Genus, dieser Klasse angepaßt werden. Wir können beim ebengenannten Beispiel bleiben: In der lateinischen Volkssprache nämlich werden die griechischen Neutra auf ja./ wegen ihrer phonologischen Form in die wiZa-Klasse übernommen und erhalten entsprechend das feminine Genus. Ähnlich übrigens auch im Russischen, wo dögma, drama, tima usw. Feminina der α-Deklination sind. Ein weiteres Beispiel liefern ebenfalls im Russischen aus dem Deutschen stammende Neutra und Feminina auf Konsonant. Bedingt durch ihre phonologische Form werden sie trotz des abweichenden Genus der Klasse der Maskulina auf unpalatalisierten Konsonanten vom Typ stol zugewiesen und ändern dementsprechend ihr Genus. Wörter wie bant .Schleife, Band', gorn ,Horn (Instrument)' und vunderkind ,Wunderkind' sowie brandmduer ,Brandmauer' und cejtnöt,Zeitnot' sind im Russischen Maskulina. Drittens können die Wörter auf Grund ihrer semantisch-syntaktischen Eigenschaften, bei Substantiven hauptsächlich des Genus, einer Flexionsklasse zugeordnet werden, deren Wörter die entsprechenden semantisch-syntaktischen Eigenschaften haben, und an die phonologische Form der WTörter dieser Klasse angepaßt werden. Einige französische und deutsche Feminina wie bombe und fabrique sowie Büchse und Hülse werden wegen ih^Genus der russischen α-Deklination zugeordnet und phonologisch entsprechend verändert, vgl. russ. bömba, fabrika, büksa und gil'za. Desweiteren werden ζ. B. englische Verben wie crawl, lynch und strike auf Grund der syntaktischen Eigenschaft ,Verb' im Deutschen der Klasse der schwachen Verben zugeordnet und phonologisch durch Anfügen des Morphems /en/ an die Grundform entsprechend zugepaßt.45 Welches der drei Verfahren unter welchen Bedingungen praktiziert wird, läßt sich nicht für alle Fälle eindeutig vorhersagen. Das erste Verfahren kommt allem Anschein nach nur unter ganz spezifischen Bedingungen vor, so bei sogenannten ,gelehrten Entlehnungen' und bei verbreiteter Kenntnis der Sprache, aus der entlehnt wird. Weiterhin kann es nur funktionieren, wenn ganze Gruppen von Wörtern zugleich übernommen werden. Was die beiden anderen Verfahren betrifft, so kann man sich leicht klar machen, daß eine Sprache, deren Flexionsklassen ausschließlich phonologisch basiert sind, Entlehnungen notwendigerweise nach phonologischen Kriterien, und eine Sprache, deren Flexionsklassen ausschließlich semantisch-syntaktisch basiert sind, Entlehnungen notwendigerweise nach semantisch-syntaktischen Kriterien einordnet. Man könnte nun dahingehend spekulieren, daß in einer Sprache, in der phonologische Eigenschaften für die Flexionsklassenzuordnung eine größere Rolle spielen als semantisch-syntaktische, die Einpassung von Entlehnungen nach phonologischen 45

Sie erhielten natürlich die gleiche Form, wenn sie der Klasse der starken Verben zugeordnet würden.

11*

164

4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

Kriterien dominieren müßte und umgekehrt. Dazu scheint zumindest die Beobachtung zu passen, daß im Russischen offenbar die Flexionsklassenzuweisung von entlehnten Wörtern hauptsächlich nach phonologischen, im Deutschen dagegen hauptsächlich nach syntaktischen Kriterien erfolgt (ISAÖENKO (1962 : 54)). Es ergibt sich die Frage, welcher Klasse entlehnte Wörter zugeordnet werden, wenn sie nach dem zweiten oder dritten Verfahren in das Flexionssystem einer Sprache eingepaßt werden. Sie ist einfach zu beantworten für solche Fälle, in denen es nur eine Flexionsklasse oder nur eine stabile Flexionsklasse mit der jeweiligen Ausgangseigenschaft gibt. So ist beispielsweise im Lateinischen überhaupt nur eine Substantivklasse vorhanden, deren Grundform auf /a/ endet und die damit zugleich auch stabil ist. Entsprechend schließen sich die griechischen Neutra auf /a/ in der lateinischen Volkssprache dieser Klasse an. Im Deutschen existieren zwar mehrere verbale Flexionsklassen (die Klasse der schwachen und eine Reihe von Klassen der starken Verben), aber nur eine davon ist stabil. Die aus dem Englischen (und anderen Sprachen) entlehnten Verben schließen sich der schwachen Flexion an. Wenn mehrere stabile Flexionsklassen mit der jeweiligen phonologischen oder semantisch-syntaktischen Ausgangseigenschaft vorhanden sind, so werden die Entlehnungen in die stabilste dieser Klassen übernommen. Auch dafür ein Beispiel: Im Russischen gibt es (u. a.) zwei stabile Flexionsklassen von Feminina, außer den Feminina auf /a/ sind auch die auf palatalisierten Konsonanten wie rec' ,Rede' und sol' ,Salz' stabil. Letztere, die i-Deklination, wird ζ. B. durch Entlehnungen, die vom Standpunkt des Russ. auf jl'j enden, aufgestockt, vgl. moral' oder roV ,Rolle'. Doch verglichen mit dei i-Deklination ist die α-Deklination weit stabiler, da sie viel mehr Wörter als diese enthält. Folglich erscheinen frz. bombe und fabrique im Russischen nicht als *bomb' und *fabrik', sondern als bömba und fdbrika. Hier ergibt sich auf neuer Ebene quasi wieder eine Konstellation von Komplementärklassen: Beide Flexionsklassen sind durch die gemeinsame außermorphologische Eigenschaft ,Femininum' charakterisiert. Produktiv für entlehnte Feminina, deren phonologische Eigenschaften keiner der beiden Klassen entsprechen, wird die stabilere Klasse.46 Zum Verständnis solcher Erscheinungen reicht offenbar die Distinktion .stabil — stabilitätsneutral — unstabil' nicht aus; entscheidend für die Einordnung der Wörter sind die Stabilitätsgrade der für die Aufnahme der Wörter in Frage kommenden stabilen Flexionsklassen. Wenn Flexionsklassen neue Wörter aufnehmen und diese dabei an die phonologischen oder seniantisch-syntaktischen Eigenschaften dieser Klassen angepaßt werden, dann wollen wir in Unterscheidung von der oben diskutierten primären Produktivität von der s e k u n d ä r e n P r o d u k t i v i t ä t von Flexionsklassen sprechen. Die sekundäre 46

Sehr interessant stellt sich in diesem Zusammenhang betrachtet die Übernahme des russischen Wortes daca ins Deutsche dar. Es ist ein Femininum und endet auf /a/. Entsprechend schließt es sich der femininen «-Pluralklasse des Typs die Polka — die Polkas an, vgl. die Datscha — die Datscha-s. Doch diese stabile Klasse enthält etwa nur 25 bis 30 (feminine) Wörter. Daneben steht die weit stabilere Klasse der Feminina auf /e/ vom Typ die Straße — die Straße-η, die wahrscheinlich mehrere tausend Wörter enthält. Obwohl daca wohl mit dem Genus, nicht aber mit der phonologischen Form dieser Klasse übereinstimmt, wirkt das statistische Übergewicht der Klasse hier so stark, daß sich das Wort als die Datsche — die Datsche-η auch dieser Klasse anschließt, weshalb also im Deutschen heute zwei Varianten des russischen Wortes existieren. Erscheinungen solcher Art erfordern detaillierte, auf das jeweilige Flexionssystem bezogene Spezialuntersuchungen, die über den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinausgehen.

4.6. Produktivität II

165

setzt die primäre Produktivität voraus. Dagegen verfügen nicht alle Flexionsklassen, die primäre Produktivität aufweisen, auch über sekundäre Produktivität. Das Verfahren der phonologischen Anpassung entlehnter Wörter an bestimmte Flexionsklassen ist u. a. auch deshalb bedeutsam, weil besonders die Verben in vielen Sprachen eine nur in der jeweiligen Sprache vorkommende phonologische Struktur der Grundform haben, die eine automatische Zuordnung von entlehnten Verben in eine Flexionsklasse der übernehmenden Sprache auf Grund voll übereinstimmender außermorphologischer Eigenschaften unmöglich macht. In Sprachen mit mehreren produktiven Flexionsklassen für Verben muß deshalb immer ,entschieden' werden, welcher Flexionsklasse ein neues Verb zugeordnet werden soll. Unter solchen Bedingungen kann sich eine regelrechte Spezialisierung produktiver Flexionsklassen herausbilden, was wiederum das Russische zeigt. Während sich nämlich russische Neubildungen und klassen wechselnde Verben hauptsächlich der α-Konjugation des Typs raböt-at' ,arbeiten' — raböt-aju — raböt-ajet und der »-Konjugation des Typs govor-lt' ,sprechen' govor-jü — govor-lt anschließen 47 , werden entlehnte Verben von der ovaKonjugation des Typs organiz-ovät' ,organisieren' — organiz-iiju — organiz-üjet aufgenommen. Das betrifft nicht nur Verben mit den aus dem Deutschen und Französischen stammenden Suffixen /ir/, /izir/ und /ficir/ wie abstragirovat' abstrahieren', spezializirovat' spezialisieren' und klassificirovat' klassifizieren', sondern auch solche Verben wie fexlovdt' ,fechten', frezerovdt' ,fräsen' und tancovät' ,tanzen'. Entscheidend für die Klassenzuweisung sind also nicht mitentlehnte phonologische Eigenschaften der Verben, sondern ihre Bewertung als nichtnative Wörter (Fremdwörter). Hier existiert faktisch eine Art von ,Arbeitsteilung' zwischen verschiedenen produktiven Flexionsklassen: Die a- und die ΐ-Klasse sind produktiv hinsichtlich der Aufnahme von russischen Neubildungen und Wörtern anderer Flexionsklassen, die om-Klasse ist produktiv hinsichtlich der Aufnahme von Entlehnungen. Diese ,Arbeitsteilung' hat sich übrigens erst in jüngerer Zeit herausgebildet, wobei u. a. die owi-Klasse andere Erscheinungsformen der Produktivität die sie im älteren Russischen noch besaß, einbiißte(IsAÖENKO (1962 : 227)). Eng mit dieser Problematik verbunden ist ein weiterer Aspekt der Produktivität von Flexionsklassen: Oft steht die Produktivität von Flexionsklassen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Produktivität von Wortbildungsmustern, nämlich immer dann, wenn bei Wortbildungsprozessen Wörter entstehen, die einer ganz bestimmten Flexionsklasse zugeordnet sind. Dabei kann es dann der Fall sein, daß eine ganze Flexionsklasse ausschließlich Wörter eines einzigen semantisch motivierten Wortbüdungsmusters enthält. Wenn das Wortbildungsmuster produktiv ist, ist damit zugleich auch die entsprechende Flexionsklasse produktiv. Ein solcher Fall liegt mit der sogenannten 4. schwachen Konjugation des Gotischen vor, die nur von Verben und Adjektiven, vereinzelt auch von Substantiven, abgeleitete Inchoativa auf -nan enthält, vgl. ga-wak-nan ,erwachen' zu wak-an ,wachen', full-nan ,voll werden' zu full-s ,νοΙΓ und ga-frisaht-nan ,gebildet werden' zu frisaht-s ,Bild'. Die Produktivität solcher Flexionsklassen steht außer Frage, doch sie sind noch stärker spezialisiert als ζ. B. die russische om-Klasse, die nur produktiv für Entlehnungen ist. Die gotische naw-Klasse ist nur produktiv für Neubildungen mit einer bestimmten semantischsyntaktischen Eigenschaft. " Die angegebenen Kennformen sind außer dem Infinitiv die l.Ps.Sg.Präs. und die 3.Ps.Sg.Präs. Für Details zur Produktivität der russischen Verbklassen vgl. ISAÖENKO (1962: 220ff.).

166

4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

Auch die sekundäre Produktivität funktioniert immer auf der Basis bestimmter außermorphologischer Eigenschaften, wie unschwer zu sehen ist. Normalerweise sind das ganz wie bei der primären Produktivität phonologische Eigenschaften (Typ griech. dogma neutr. > lat. dogma fem.) oder semantisch-syntaktische Eigenschaften (Typ frz. fabrique fem. > russ. fäbrika). Doch zusätzlich können auch Eigenschaften wie die Nichtnativität (,Fremdheit') von Wörtern dafür von Bedeutung sein (Typ dtsch. tanzen > russ. tancovdt'). Der Unterschied zwischen primärer und sekundärer Produktivität besteht darin, daß im ersten Fall Wörter einer Flexionsklasse zugeordnet werden, über deren konstituierende Eigenschaften sie vollständig verfügen, während sie im zweiten Fall einer Klasse zugeordnet werden, über deren konstituierende Eigenschaften sie nur teilweise verfügen. Sekundäre Produktivität ohne alle gemeinsamen außermorphologischen Eigenschaften kann es nicht geben. Die in das Esperanto übernommenen und phonologisch an dieses angepaßten Substantive (dtsch. Mantel > esper. mantelo, lat. lingua ,Sprache' > esper. lingvo, frz. visage ,Gesicht' > esper. vizago) beispielsweise haben eben die außermorphologische Eigenschaft ,Substantiv'.

4.7. Produktivität und systemunabhängige Natürlichkeit Der von uns erarbeitete Begriff der Produktivität beruht (anders als ζ. B. der Mayekthalees; vgl. Abschn. 0.2.) — ausschließlich auf der Systemangemessenheit und der Stabilität d. h. auf Erscheinungsformen der systembezogenen morphologischen Natürlichkeit, und ist somit unabhängig von der systemunabhängigen Natürlichkeit bestimmt. In welchem Verhältnis steht nun dieser Begriff zur systemunabhängigen Natürlichkeit und speziell zu dessen Kernkonzept, dem Ikonismus ? Man braucht nicht lange zu suchen, um Beispiele dafür zu finden, daß sich produktive Flexionsklassen und Marker nicht nur dann im Flexionssystem ausbreiten, wenn die systemunabhängige Natürlichkeit in die gleiche Richtung weist wie die Produktivität oder wenn sie irrelevant ist. Produktive Flexionsklassen und Marker verbreiten sich auch dann, wenn dadurch Klassen und Marker, die im Sinne der systemunabhängigen Natürlichkeit über einen höheren Natürlichkeitsgrad verfügen, zurückgedrängt und abgebaut werden. Das gilt unabhängig davon, ob die Produktivität im konkreten Fall in erster Linie durch die Systemangemessenheit oder durch Stabilität bedingt ist. Was die Fälle betrifft, in denen die Systemangemessenheit für die Produktivität entscheidend ist, so können wir an die Behandlung der Problematik Systemangemessenheit und systemunabhängige Natürlichkeit (im Abschn. 3.6) anknüpfen: Durch die Systemangemessenheit bedingt ist beispielsweise die Dominanz des Distinktionstyps ,Sg. = PI.' für die Neutra im Althochdeutschen und damit u. a. auch die Produktivität der Flexionsklasse mit einem flexivlosen N./A.P1., vgl. wort — N./A.P1. wort. Entsprechend schließen sich die Wörter der Klasse mit der Flexion/aj — N./A.P1 *fa^-u der wori-Klasse an. Das aber bedeutet, daß die ikonische Pluralform */aj-M durch die unikonische Form fa$ nach dem Vorbild von wort ersetzt wird. Es ist Ikonismus verlorengegangen. Durch die Klassenstabilität bedingt ist die Produktivität der Pluralbildung der Klasse gat-a — Plural gat-or im Schwedischen, wohingegen die auf Grund von Kasus-

4.7. Produktivität und Natürlichkeit

167

ausgleich entstandene Klasse von neuen α-Substantiven des Typs kärna — Plural kärna-r (vgl. Abschn. 4.4) unproduktiv ist. Demzufolge treten Wörter der kärnaKlasse in die grata-Klasse über und nicht umgekehrt, vgl. modern schwed. kärn-a — kärn-or. Die Konstellation ,Symbolisierung des semantisch unmarkierten Singulars durch 0-Symbolisierung des semantisch markierten Plurals durch /r/' wird ersetzt durch ,Symbolisierung des semantisch unmarkierten Singulars durch /a/ — Symbolisierung des semantisch markierten Plurals durch /ur/'. Damit wird der unmarkierte Singular nicht mehr, wie es am natürlichsten ist, merkmallos symbolisiert, sondern merkmalhaft. Mit anderen Worten: Es wurde Ikonismus abgebaut. Dabei muß man sich vergegenwärtigen, daß das Wesen der durch die Systemangemessenheit bzw. die Klassenstabilität bedingten Ausgleichstendenzen ja eigentlich nur darin besteht, das Flexionssystem zu vereinheitlichen bzw. die Flexionsklassen unabhängig zu motivieren. In diesem Sinne sind die beiden theoretisch möglichen Lösungen in den Beispielfällen (also: Ausgleich zugunsten des Typs wort — wort vs. zugunsten des Typs fa% — *fa$-u; Ausgleich zugunsten des Typs gat-a — gat-or vs. zugunsten des Typs kärna — kärna-r) jeweils ,gleichgut'. Dennoch setzt sich die Produktivität gegen den systemunabhängigen Ikonismus durch; die Produktivität bestimmt die Richtung des Ausgleichs. Wie stark im Extremfall die systembezogene Produktivität gegenüber der systemunabhängigen Natürlichkeit dominiert, zeigt das folgende Beispiel: Wir haben gesehen, daß im Deutschen die 0-Pluralbildung bei Substantiven des Typs (der) Spiegel — (die) Spiegel noch produktiv ist, obwohl sie nichtsystemangemessen ist. Neue Wörter mit den entsprechenden phonologischen Eigenschaften schließen sich dieser Klasse an, darunter auch Wörter aus dem Englischen, die in der Herkunftssprache s-Pluralbildung haben, vgl. blazer — blazers. Obwohl es im Deutschen bekanntermaßen s-Plurale gibt, in Einzelfällen sogar von Substantiven mit dieser phonologischen Struktur (vgl. Kumpel — Kumpels), und zusätzlich ζ. B. von der Werbesprache versucht wird,,schicke' anglisierende Pluralformen wie die Blazers zu etablieren, gelten heute in der Standardsprache noch die 0-Formen. Entscheidend ist der noch vorhandene Produktivitätsgrad der Flexionsklasse. Es zeigt sich also, daß der hier erarbeitete Begriff von Produktivität, der ausschließlich auf der Systemangemessenheit und der Klassenstabilität beruht, keine eingeschränkte Produktivität' widerspiegelt, die nur wirksam werden kann, wenn sie nicht mit den universellen Prinzipien des Ikonismus in Widerspruch gerät. Unsere Produktivität funktioniert vielmehr in diesem Sinne uneingeschränkt, da sie sich auch gegen den Ikonismus durchsetzt; sie deckt genau alle die Entwicklungen und Tendenzen in Flexionssystemen ab, die traditionellerweise mit Produktivität' umschrieben werden. Ein für Sprachen mit den systemdefinierenden Struktureigenschaften des Deutschen nicht unwichtiger Aspekt dieses Ergebnisses besteht darin, daß auf diese Weise verständlich wird, weshalb sich unter entsprechenden Bedingungen Flexionsklassen mit modifikatorischen Markern wie etwa Umlaut und Ablaut gegen Flexionsklassen mit additiven Markern durchsetzen können, die ja in stärkerem Maße ikonisch sind. Dafür im folgenden zwei Beispiele. Im Oberdeutschen ist der Pluralmarker /e/ auf phonologischem Wege abgebaut worden, wodurch u. a. bei allen starken Maskulina ohne Umlaut Singular- und Pluralformen zusammenfielen, vgl. den Typ (der) tag — (die) tag. Da diese neuen Plural-

168

4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

formen nicht systemangemessen sind (auch für die oberdeutschen Dialekte gilt der Distinktionstyp ,Sg. φ PI.' für die Wortform ohne den Artikel), werden die markerlosen Pluralformen durch Formen mit Markern ersetzt. Obwohl im System sehr wohl additive Marker vorhanden sind (nämlich /er/ und /e(n)/), werden Singular und Plural dadurch wieder distinkt gemacht, daß der Pluralumlaut ausgedehnt wird, soweit die betroffenen Wörter umlautbare Vokale haben, vgl. Pluralformen der Typen tag und hämmer in ihren verschiedenen dialektalen Ausprägungen. Ein schönes Beispiel dafür bietet die Mundart von Imst in Tirol (vgl. SCHATZ (1897: 121 ff.)), wo der Umlaut als Plurlamarker mit ganz wenigen Ausnahmen auf alle entsprechenden starken Substantive und dazu auf eine ganze Reihe schwache übertragen ist. So erscheint der Umlaut neben allen Wörtern, die auch in der Standardsprache Umlaut haben, u. a. auch bei tgg ,Tag' — tag, dgks ,Dachs' — daks, kchrgas ,Kreis' — kchreas48, tgdl,Tadel' — tädl und summer ,Sommer' — simmer. Bemerkenswert sind auch die Umlautplurale bei Abstrakta, die in der Standardsprache überhaupt keinen Plural haben wie hgss ,Haß' — hass, toad ,Tod' — tead, joumer ,Jammer' — jeimer und zgare ,Zorn' — zeare. Von den schwachen Substantiven zeigen Umlaut beispielsweise pglkche .Balken' — palkche und foune ,Fahne' (maskulin!) — feine. Diese Fakten erweisen klar die Produktivität der Umlaut-Pluralklasse. Das zu erklären, ist nicht schwierig: Die Klasse wird produktiv, da sie stabiler ist als die e(n)- und die er-Pluralklasse (vgl. die Typen pökch ,Bäcker' — pökch-e und gart ,Ort' — eart-er) und insofern die stabilste Komplementärklasse der nichtsystemangemessenen 0-Pluralklasse bildet. Die stärkere Ikonizität der Pluralformen der anderen Flexionsklassen ist dafür kein Hindernis. Wir haben mehrfach konstatiert, daß die starken Verben, d. h. die Verben mit Ablaut, im modernen Deutschen zum Übertritt in die Klasse der schwachen Verben, d. h. der Verben mit t-Präteritalbildung, tendieren. Diese Tendenz beruht auf der Produktivität der schwachen Verbklasse und der fehlenden Produktivität der verschiedenen Ablautklassen. Dieses Verhältnis zwischen den verbalen Flexionsklassen kommt auf Grund des Abbaus der formalen Kennzeichen der einzelnen Verbklassen durch phonologische Neutralisierung zustande (vgl. Abschn. 4.4.). Die starken Verben verlieren ihre Klassenstabilität und damit auch ihre Produktivität. Vorher sind sie durchaus produktiv, vgl. den erwähnten Übergang von lihan, dlhan und wlhan in die 1. Ablautklasse und die Einpassung des aus dem Lateinischen entlehnten Verbs scrib-ere ,schreiben' als scrib-an in die gleiche Klasse im Sinne der sekundären Produktivität. Die fehlende Produktivität der starken Verben ist also nicht durch ihre mit den schwachen Verben verglichen geringere Ikonizität bedingt. Das zeigt auch eine interessante, meist wenig beachtete Entwicklung im Bereich der starken Verben, die sich etwa in der Zeit zwischen dem Mittelhochdeutschen und dem 17. Jahrhundert abspielt. In dieser Zeit treten eine Reihe von schwachen Verben mit der phonologischen Form mhdtsch. /K(K)i:K-/, nhdtsch. /K(K)aeK-/, nämlich schweigen, neiden, weisen, gleichen sowie das aus dem Französischen stammende Lehnwort preisen (mhdtsch. prlsen), in die 1. Ablautklasse über, in bestimmten Dialekten dazu noch 48

Wörter wie kchroas — Plural kchreas zeigen die Produktivität der Umlaut-Pluralklasse besonders deutlich. Ihr Diphthong /oa/ geht auf den mittelhochdeutschen Diphthong /ei / zurück, der überhaupt nicht umgelautet werden konnte, vgl. krei3 — Plural krei^-e. Erst nachdem /ei / zu /oa/ geworden und mit /oa/ aus mhdtsch. /o:/ zusammengefallen war, konnte der Umlaut auf solche Wörter übertragen werden. Ausgangspunkt waren dabei Substantive wie stoas ,Stoß' — Plural eteas > mhdtsch. eiog — «iceg-e.

4.7. Produktivität und Natürlichkeit

169

weitere Verben wie etwa leiten ,läuten' (vgl. die Form es hat gelitten). Beim Verb pfeifen, das im Mittelhochdeutschen schwach und stark belegt ist, setzt sich die starke Flexion gegen die schwache durch, vgl. er p f i f f (*er pfeif-te). Wenn man überprüft, weshalb diese Klassenübertritte erfolgen, so ergibt sich, daß die 1. Ablautklasse mit der Flexion des Typs fiten — ich rite — ich reit — wir riten — geriten im Mittelhochdeutschen eine stabile Flexionsklasse darstellt: Von den etwa 65 Verben der Form /K(K)i:K-/ sind etwa 50 Wörter stark, aber nur etwa 15 Wörter schwach.49 Die 1. Ablautklasse ist damit zugleich die größte Klasse der starken Verben überhaupt. Die nächstgrößte Klasse, nämlich die Klasse 3 a des Typs /(K)KiNK-/, nach der ζ. B. klingen konjugiert wird, enthält dagegen nur etwa 35 Verben, und die meisten anderen Klassen sind noch wesentlich kleiner. Da sich keine Konflikte mit der Systemangemessenheit ergeben, ist die 1. Ablautklasse auf Grund ihrer Stabilität auch produktiv, d. h. sie tendiert zur Aufnahme von Verben mit dem Stammvokal mhdtsch. /i:/, nhdtsch. /ae/, was die angeführten Beispiele belegen. Wir können konstatieren, daß sich auch hier ganz eindeutig eine Flexionsklasse mit modifikatorischen Markern gegen eine Klasse mit nur additiven Markern durchsetzt. Ihre Produktivität kann durch die gegenläufige Ikonismustendenz, die additive Mark er favorisiert, nicht blockiert werden.50 Flexionsklassen mit modifikatorischen Markern sowie modifikatorische Marker wie Ablaut und Umlaut in den germanischen Sprachen selbst sind also auf Grund ihres niedrigeren Ikonismusgrades offenbar nicht von vornherein gegenüber Flexionsklassen mit additiven Markern bzw. diesen Markern selbst in ihrer Produktivität eingeschränkt. Doch andererseits ,muß man das u . a . auch von M A Y E R T H A X E B (1981: 23ff., 112ff.) festgestellte Faktum zur Kenntnis nehmen, daß universell gesehen additive Marker stärker verbreitet sind als modifikatorische und daß es zwar Sprachen mit ausschließlich additiven Markern, aber (zumindest allem Anschein nach) keine Sprachen mit ausschließlich modifikatorischen Markern gibt. Will man diesen Sachverhalt erklären, so tut man gut daran, sich zunächst einmal die Herausbildung von morphologischen Regeln zu vergegenwärtigen, die modifikatorische Marker einführen: Morphologische Alternationsregeln entstehen durch Morphologisierung phonologischer Regeln. Phonologische Regeln sind im allgemeinen auf bestimmte Phonemklassen, also Vokal- bzw. Konsonantenklassen, beschränkt; der Umlaut erfaßt ζ. B. aus phono49

60

Diese Zahlen ergeben sich bei Einschluß von abgeleiteten Verben wie ent-lib-en .entleihen' zu lip. Rechnet man diese ab, ergibt sich ein Verhältnis von etwa 50:10. Die 1. Ablautklasse ist als einheitliche Flexionsklasse zu fassen, weil das Auftreten der beiden Varianten /ei/ und je:/ im Prät.Sg.Ind. phonologisch bedingt ist: /e:/ erscheint vor /h/, /w/ und jrj — /ei/ sonst, vgl. riten — ich reit vs. lihen .leihen' — ich leh. Hierbei tut es nichts zur Sache, daß später diese Klasse ihre Produktivität wieder verliert. Entscheidend ist, daß sie jahrhundertelang produktiv ist. Was den späteren Verlust der Produktivität und den daraus resultierenden Übertritt von Verben wie greinen, keifen, kreischen und neiden zu den schwachen Verben betrifft (wobei neidenjniden ja ursprünglich schwach war und so zweimal die Klasse wechselt!), so scheint dafür ein Abbau der Systemangemessenheit des Ablauts insgesamt entscheidend zu sein, der daraus resultiert, daß die anderen, instabilen Ablautklassen laufend Wörter an die schwache Klasse verlieren, was durch phonologisch bedingte Spaltungen der ja ohnehin kleinen Klassen noch weiter verstärkt wird. Vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen hat sich insgesamt die Zahl der Ablautverben (nach ÄUGST (1975 : 254ff.)) durch Übertritte und Verschwinden von 339 auf 169, also um etwa 50% verringert.

170

4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

logisch-phonetischen Gründen nur hintere Vokale, die , Auslautverhärtung' nur stimmhafte Obstruenten (Geräuschlaute,) usw. Solche Regeln können damit immer nur für Wörter mit einer ganz bestimmten phonologischen Struktur gelten.51 Damit sind also dann auch morphologische Alternationsregeln zum Zeitpunkt ihrer Herausbildung auf Wörter eingeschränkt, in denen bestimmte Phoneme an einer bestimmten Stelle vorkommen. Da aber das Vorkommen gerade dieser Phoneme nur höchst selten für eine Flexionsklasse konstitutiv ist, erfassen neue morphologische Alternationsregeln meist nicht Flexionsklassen vollständig, sondern nur teilweise. So kann ζ. B. der Umlaut in der ir-jer-Pluralklasse im Deutschen nach seiner Morphologisierung52 beim Übergang vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen nur bei Wörtern mit hinteren Stammvokalen als Pluralmarker funktionieren, vgl. lamp — hmb-er, aber rint — rind-er, ähnlich auch in anderen Flexionsklassen. Zwar können modifikatorische Marker auf neue Instanzen der von ihnen erfaßten Phoneme ausgedehnt werden, wie es im Deutschen beim Umlaut häufig und beim Ablaut in ein paar Fällen geschieht, kaum aber auf neue Phoneme und Phonemklassen, weil dafür in der Sprache keine ,Muster' existieren. Das zeigt u. a. der bereits behandelte Klassenwechsel des nichtmodalen Verbs taugen aus der und des modalen Verbs brauchen in die Klasse der Präteritopräsentien. Für diese Klasse ist nicht nur die t-lose 3.Ps.Sg.Präs.Ind. des Typs er kann/er muß charakteristisch, sondern auch der auf den Ablaut zurückgehende Vokalwechsel zwischen Infinitiv und Präs.Pl. einerseits und Präs.Sg. andererseits, vgl. können — kann, müssen — muß usw. Das Verb taugen, mhdtsch. tugenjtügen — er touc, gibt mit der ί-losen Form der 3.Ps.Sg.Präs.Ind. den Vokalwechsel auf, vgl. nhdtsch. taugen — er taug-t. Dagegen nimmt das Verb brauchen beim Übertritt in die genannte Klasse keinen Vokalwechsel an, weil es im Neuhochdeutschen kein ,Muster' für Modalverben mit dem Diphthong /ao/ im Infinitiv oder auch Präs.Sg. gibt. Man könnte nun darauf verweisen, daß manchmal modifikatorische Marker auf dem Wege rein phonologischer Entwicklung auf neue Phoneme ausgedehnt werden, wobei sich neue ,Muster' für eine entsprechende Ausbreitung ergeben könnten. Ein nahezu klassisches Beispiel für eine solche Entwicklung ist der Ablaut im Deutschen. Während im Urgermanischen der Ablaut nur bei Verben mit zwei Vokalphonemen auftrat (/i/ mit den Varianten [i] und [e] sowie /e:/), erfaßt er im Neuhochdeutschen Verben mit fast allen Vokalen Und Diphthongen, vgl. die Verben schwimmen, fliegen; heben, essen; lügen-, erlöschen-, gebären-, halten, graben-, rufen; stoßen; schreiben; saufen. Doch dabei werden gleichzeitig die Klassen, in denen der Marker auftritt, so zersplittert, daß sie zwangsläufig ihre Stabilität und damit auch ihre Produktivität einbüßen. Eine Durchsetzung modifikatorischer Marker gegen additive Marker ist auch auf diesem Wege nicht zu erwarten. Additive Marker können anders als modifikatorische im Prinzip auf jedes Wort unabhängig von seiner phonologischen Struktur übertragen werden. Mit ihrem Vorkommen in einer Klasse von Wörtern ist zugleich das ,Muster' für ihre Ausdehnung auf andere Wörter gegeben; sie brauchen bloß an den Stamm angefügt zu werden. Damit sind — rein statistisch bestimmt — auf Grund der weit günstigeren Verbreitungsmöglichkeiten modifikatorische Marker bzw. Flexionsklassen mit modifikatorischen Markern in der Regel weniger stabil und meist auch 61 52

Ausnahmen dazu gibt es nur wenige, vgl. ζ. B. Akzentwechselregeln. Die Problematik der Morphologisierung phonologischer Regeln ist ausführlich behandelt in

WTJBZEL ( 1 9 8 0 D ) u n d ( 1 9 8 2 ) .

4.7. Produktivität lind Natürlichkeit

171

weniger systemangemessen als additive Marker bzw. Flexionsklassen mit additiven Markern, woraus dann ihre geringere Produktivität resultiert. Selbst wo modifikatorische Marker auf Grund günstiger phonologischer Voraussetzungen in einem Flexionssystem relativ verbreitet und entsprechend produktiv sind wie der neuhochdeutsche Umlaut in verschiedenen Substantivklassen, können sie sich verständlicherweise immer nur innerhalb ihres phonologisch vorgegebenen Rahmens gegen additive Marker durchsetzen. Sie können niemals wie ζ. B. der englische Pluralmarker /z/ für die gesamte Wortart produktiv werden. Sie bleiben dazu auch innerhalb ihrer Domäne gefährdet, weil sie vom Stabilitätsgrad sehr stabiler additiver Marker übertroffen werden, die sich bereits über mehrere Flexionsklassen ausbreiten konnten, ohne auf phonologisch bedingte Hindernisse zu stoßen. Aus alledem ergibt sich eine relativ eingeschränkte Verbreitung modifikatorischer Marker, nicht nur universell gesehen, sondern auch in Sprachen mit in engerem Sinne flektierendem Charakter. Man kann dabei im Prinzip mit drei verschiedenen Verbreitungsgebieten modifikatorischer Marker rechnen. Sie treten auf: (I) als alleinige Marker nur in phonologisch definierten Flexionsklassen, deren Wörter eine phonologische Struktur haben, die die entsprechende Alternation zuläßt; vgl. ζ. B. den Ablaut als Präteritalmarker in den verschiedenen Klassen der starken Verben im Neuhochdeutschen (wir reiten — wir ritten, wir bieten — wir boten usw.) und den Umlaut als (alleinigen) Pluralmarker der kleinen femininen 0-Pluralklasse des Deutschen (die Mutter — die Mütter); (II) kombiniert mit anderen Markern in Flexionsklassen unabhängig von der phonologischen Struktur, die die zugehörigen Wörter haben, wobei die modifikatorischen Marker (je nach der Zusammensetzung der Klasse) meist nur bei einem Teil der Wörter auftreten; vgl. ζ. B. den Pluralumlaut bei den Wörtern der er- Pluralklasse und bei den Feminina der e-Pluralklasse (Lamm — L&mm-er, aber Rind — Rind-er; Auskunft — Auskünfte, aber Kenntnis — Kenntniss-e); (III) kombiniert mit anderen modifikatorischen Markern in Flexionsklassen unabhängig von der phonologischen Struktur, die die zugehörigen Wörter haben, wobei die Einschränkungen im Vorkommen der einzelnen Marker durch wechselweises Auftreten kompensiert werden; vgl. die Funktionsgemeinschaft von Umlaut und Palatalisierung bei der Kennzeichnung des Konjunktivs im Prät.Pl. der neuisländischen starken Verben (die angegebenen Formen sind die l.Ps. Pl.Prät.Ind. und die l.Ps.Pl.Prät.Konj.; spinna ,spinnen': spnnnum — spynnum mit Umlaut; leika ,spielen': ldkum — lekjum mit Palatalisierung [k] — [k']; drekka ,trinken': drvikkum — drykk\um mit Umlaut und Palatalisierung)53 sowie den extremen Fall der Funktionsgemeinschaft von ,Auslauterweichung', Konsonantentilgung, Umlaut, Vokalwechsel, Dehnung und Akzentwechsel bei der Kennzeichnung des Plurals in mecklenburgischen Dialekten (barch ,Berg' — barz mit ,Auslauterweichung', hunt ,Hund' — hun mit Konsonantentilgung, sprunk ,Sprung' — spriing mit Umlaut und ,Auslauterweichung', et ,Eid' — 6d mit Akzentwechsel (zweigipfliger Betonung des Plurals) und,Auslauterweichung' 43

Zur Bewertung der Palatalisierung im Isländischen vgl. WUBZEL (1980e).

172

4. Flexionsklassenstabilität und Produktivität

i n t ,Tritt' — trM mit Vokalwechsel, ,Auslauterweichung', Dehnung und Akzentwechsel usw. usf.; vgl. Schibmunski (1962: 417)).64 Das im Vergleich zu additiven Markern eingeschränkte Vorkommen von modifikatorischen Markern ist also offenbar nicht universell durch ihren niedrigeren Ikonismusgrad bedingt, sondern dadurch, daß sie aus rein faktischen Gründen im allgemeinen keine so hohen Grade an Stabilität und damit an Produktivität erreichen können wie mit ihnen konkurrierende additive Marker. Diese Annahme hat den Vorzug, daß sie nicht nur mit der insgesamt stärkeren Verbreitung von additiven Markern, sondern zugleich auch mit dem unter bestimmten Bedingungen auftretenden Produktivwerden modifikatorischer Marker gegen additive Marker, für das wir überzeugende Beispiele angeführt haben, vereinbar ist. In diesem Zusammenhang zeigt sich übrigens auch, daß sich systemunabhängige und systembezogene morphologische Natürlichkeit zueinander nicht in allen Aspekten widersprüchlich verhalten müssen. Für den Bereich der Typen morphologischer Marker, genauer: des Verhältnisses von additiven und modifikatorischen Markern, läßt sich sagen, daß sich hier systemunabhängige Natürlichkeit (Ikonismus) durch bzw. über systembezogene Natürlichkeit (Produktivität) verwirklicht.

54

Die Anwendung des Begriffs der (einheitlichen) Flexionsklasse auf solche Gruppierungen von Wörtern mit sehr unterschiedlichen Markern für ein und dieselbe Kategorie ist recht problematisch; vgl. Abschn. 1.4., wo vorausgesetzt ist, daß in einer einheitlichen Flexionsklasse die Kategorien in formal einheitlicher Weise symbolisiert werden.

5. Fazit und Einordnung

5.1. Die generellen Prinzipien der morphologischen Strukturbildung Wir haben in den beiden Hauptkapiteln der vorliegenden Arbeit unter den Stichwörtern .Systemangemessenheit morphologischer Erscheinungen' und ,Stabilität von Flexionsklassen und Markem' zwei morphologische Phänomene behandelt, die bislang im Rahmen der morphologischen Theoriebildung wenig Beachtung fanden, obwohl sie — wie zu zeigen war — eine entscheidende Bedeutung für die Flexionsmorphologie haben und in ihrem Zusammen- und Gegeneinanderwirken die Produktivität von Flexionsklassen und Markern begründen. Der methodische Weg, auf dem wir die Konzepte der Systemangemessenheit, der Stabilität und der Produktivität gewonnen haben, stellt sich dabei zusammengefaßt wie folgt dar: (1)

Flexionsmorphologische Fakten: Paradigmen, Flexionsformen, Marker, Flexionsklassen I miteinander konkurrierende allgemeine Struktureigenschaften I systemdefinierende Struktureigenschaften ; Systemangemessenheit morphologischer Erscheinungen

l

miteinander konkurrierende Paradigmenstrukturbedingungen (Flexionsklassen)

i

dominierende Paradigmenstrukturbedingungen I (Über-)Stabilität Stabilität von -4von Flexionsklassen Markern I

' Γ Produktivität von Flexionsklassen und Markern Es ist nochmals daran zu erinnern, daß sich Systemangemessenheit und Produktivität unmittelbar auf der Oberfläche äußern. Die Stabilität äußert sich nur mittelbar in der Produktivität (vgl. Abschn. 4.5.). Die beiden Phänomene der Systemangemessenheit und der Stabilität haben zwei wichtige Gemeinsamkeiten: Erstens bedingen sie Sprachveränderungen, die zu Flexionssystemen führen, welche in einem angebbaren Sinne natürlicher bzw. weniger markiert sind als ihre Vorgängersysteme. Zweitens ist eine Entscheidung darüber, ob eine morphologische Erscheinung in einer gegebenen Sprache systemangemessen oder stabil ist, nur unter Bezugnahme auf das einzelsprachliche Flexionssystem insgesamt oder große Teile davon möglich, wohingegen ζ. B. ohne Bezug auf das jeweilige

174

δ. Fazit und Einordnung

gesamte einzelsprachliche System entschieden werden kann, ob eine morphologische Kategorie in einer Flexionsform ikonisch kodiert ist oder nicht. Wir haben deshalb Systemangemessenheit und Stabilität, die von uns zunächst (im Abschn. 2.1) undifferenziert mit dem Begriff der , einzelsprachlichen Normalität' umschrieben worden waren, als Erscheinungsformen einer systembezogenen morphologischen Natürlichkeit interpretiert und diese der systemunabhängigen morphologischen Natürlichkeit (der ,morphologischen Natürlichkeit' im Sinne von MAYEETHALEE (1981); vgl. Abschn. 0.2) gegenübergestellt. Dabei kommt das Bewertungsprädikat der Natürlichkeit in diesen beiden Fällen primär nicht Erscheinungen gleicher Stufe zu. ,Natürlich' im Sinne der systemunabhängigen Natürlichkeit sind primär die morphologischen Einzelerscheinungen: Eine Flexionsform mit einem höheren Grad von konstruktionellem Ikonismus ist natürlicher als eine mit einem niedrigeren Grad (unter den englischen Pluralformen ist ζ. B. dog-s natürlicher als sheep usw.). Aus der Natürlichkeit der morphologischen Einzelerscheinungen ergibt sich dann die Natürlichkeit des Flexionssystems insgesamt : Ein Flexionssystem, dessen Flexionsformen zusammen einen höheren Grad von konstruktionellem Ikonismus aufweisen, ist natürlicher als ein solches, dessen Formen einen niedrigeren Ikonismusgrad haben. ,Natürlich' im Sinne der systembezogenen Natürlichkeit sind dagegen primär die Flexionssysteme als Ganzes. Grob gesagt: Ein Flexionssystem, das hinsichtlich der systemdefinierenden Struktureigenschaften einheitlicher aufgebaut ist, ist natürlicher als ein solches, das weniger einheitlich aufgebaut ist; ein Flexionssystem, dessen Flexionsklasseneinteilung in einem stärkeren Maße auf außermorphologischen Eigenschaften beruht, ist natürlicher als ein solches, bei dem das in geringerem Maße der Fall ist. Nicht ein systemangemessenes oder zu einer stabilen Flexionsklasse gehöriges Paradigma als solches ist natürlicher als ein anderes, sondern es ist natürlicher immer nur bezogen auf die Verhältnisse im ganzen Flexionssystem, die sich von Sprache zu Sprache unterscheiden. Es sei noch einmal darauf verwiesen, daß Systemangemessenheit und Stabilität nur in dieser Hinsicht, d. h. in ihrer jeweiligen konkreten Realisierung, sprachspezifisch sind: Wie sich die beiden Phänomene in einer gegebenen Einzelsprache auch immer äußern mögen, in ihnen drücken sich universelle morphologische Prinzipien aus (vgl. Abschn. 3.1. und 4.2.).

Da wir in diesem Abschnitt die Frage nach der Bedingtheit der einzelsprachlichen morphologischen Systeme stellen wollen, ist es zweckmäßig, die für den Aufbau der Flexionsmorphologie relevanten universellen Prinzipien insgesamt (jedenfalls soweit wir im Rahmen dieser Arbeit auf sie gestoßen sind) kurz zusammenfassend zu erörtern. Da der Begriff ,Prinzip' bereits für verschiedene Erscheinungen unterschiedlichen Charakters gebraucht wurde, wollen wir sie genauer als g e n e r e l l e P r i n z i p i e n der m o r p h o l o g i s c h e n S t r u k t u r b i l d u n g bezeichnen. Es sind (zumindest) die folgenden fünf Prinzipien anzunehmen: (I) das Prinzip der typologischen Einheitlichkeit und Systematik morphologischer Systeme; (II) das Prinzip des implikativen Aufbaus morphologischer Strukturen; (III) das Prinzip der strikten Kopplung morphologischer Klassen an außermorphologische Eigenschaften (außermorphologische Klassen); (IV) das Prinzip der formalen Widerspiegelung .inhaltlicher' Identitäten und Distinktionen;

5.1. Morphologische Strukturbildung: Generelle Prinzipien

175

(V) das Prinzip der formalen Widerspiegelung ,inhaltlicher' Markierungsverhältnisse. Das P r i n z i p (I) liegt dem von uns ausführlich diskutierten Phänomen der Systemangemessenheit zugrunde. Es favorisiert Flexionssysteme, die hinsichtlich ihrer wesentlichen Parameter einheitlich und systematisch aufgebaut sind. Auf dem Prinzip beruht die Tendenz zum Abbau nichtsystemangemessener, d. h. die Systematik des Flexionssystems mehr oder weniger störender morphologischer Erscheinungen (vgl. Abschn. 3.1.). Daß Prinzip (I) auch für die Derivationsmorphologie gilt, zeigt ζ. B. die Verteilung der verschiedenen Typen von Affixen in der Wortbildung der Einzelsprachen. Es ist charakteristisch, daß dabei (wenn wir die Infixe einmal vernachlässigen) entweder die Suffixe oder die Präfixe dominieren bzw. ausschließlich vorkommen, oft auch in Übereinstimmung mit dem Vorkommen von Suffixen und Präfixen in der Flexion. 1 Das Prinzip der typologischen Einheitlichkeit und Systematik ist offensichtlich kein spezifisch morphologisches Prinzip, sondern bildet die morphologische Ausprägung eines für das gesamte Sprachsystem geltenden Prinzips. Seine Wirkung ist in den Komponenten am besten zu beobachten, wo die Variationsmöglichkeiten von Sprache zu Sprache am größten sind. Das betrifft außer der Morphologie vor allem die Syntax. Wie die Morphologie hat auch die Syntax einer jeden Einzelsprache über die einzelnen Regularitäten hinausgehende, übergeordnete Struktureigenschaften von sprachspezifischem Charakter, die im System ausnahmslos vorkommen oder dominieren. Wenn syntaktische Konstruktionen existieren, die diesen übergeordneten Strukturzügen nicht entsprechen (etwa im Sinne ,sprachhistorischer Relikte'), so tendieren sie zum Abbau zugunsten der ,bevorzugten' Konstruktionen. Eine solche systemdefinierende Struktureigenschaft der deutschen Syntax stellt ζ. B. der sogenannte ,Satzrahmen' dar (der dem für die Syntax wichtigen Prinzip der ,Serialisierung entsprechend der Satzsemantik' widerspricht). In der Phonologie wird das Prinzip der typologischen Einheitlichkeit und Systematik durch die Artikulationsbasis realisiert, eine von Sprache zu Sprache (und von Dialekt zu Dialekt) verschiedene Einstellung der Artikulationsorgane, aus der sich dann bestimmte sprachspezifische phonologische Eigenschaften und Entwicklungstendenzen ergeben.2 Die Prinzipien (II) und (III) bewirken gemeinsam das, was wir Klassenstabilität genannt haben. Die Existenz zweier voneinander unterschiedener Prinzipien ergibt sich hier aus der zweifachen Funktion der implikativen Paradigmenstrukturbedingungen: Die Paradigmenstrukturbedingungen generell gewährleisten den implikativen Zusammenhang der Flexionsformen innerhalb des Paradigmas (und ordnen damit den Wörtern ihre Flexionsklasse zu); die dominierenden Paradigmenstrukturbedingungen konstituieren darüber hinaus stabile, d. h. unabhängig motivierte Flexionsklassen. Das P r i n z i p (II) favorisiert Paradigmen, die nach für die jeweilige Sprache möglichst generellen Implikationsmustern aufgebaut sind. Es liegt damit der Zu1

2

Im Deutschen ζ. B. dominieren sowohl in der Flexion als auch in der Derivation die Suffixe, allerdings unterschiedlich stark. Während in der Flexion nur ein einziges Präfix, nämlich /ge/, vorkommt, sind Präfixe in der Derivation bekanntermaßen recht häufig. Vgl. die ausführliche Behandlung dieser Problematik in DRACHMAN (1973).

176

5. Fazit und Einordnung

sammenfassung von Paradigmen zu formal gleichartig funktionierenden Flexionsklassen zugrunde. Aus dem Prinzip ergibt sich die Tendenz zum Abbau von morphologischen Erscheinungen, die die ansonsten generelle Gültigkeit der Implikationsmuster einschränken. Vgl. dazu den erwähnten Abbau der zeitweisen ,Genitiv-Verwirrung' bei den endungslosen deutschen Maskulina mit w-Plural vom Typ Mensch/ Schmerz durch Bezugnahme auf das außermorphologische Merkmal der Belebtheit, wodurch es wieder möglich ist, aus der N.Pl.-Form implikativ die übrigen Flexionsformen zu gewinnen (Abschn. 4.1). Die Durchsetzung des Prinzips (II) bildet auch einen Teilaspekt der Regulierung von suppletiven Paradigmen: Ein bisher unikal flektierendes Paradigma wird so umgestaltet, daß es in seinen Flexionsformen einem allgemeinen (über den Einzelfall hinaus geltenden) Implikationsmuster der Sprache folgt. I n der Derivationsmorphologie ist die Wirkung des Implikationsprinzips durch die Faktoren, die deren Spezifik gegenüber der Flexion ausmachen (vgl. Abschn. 1.2.), eingeschränkt, aber nicht aufgehoben. Als Beispiel für eine zumindest ansatzweise implikative Strukturierung derivationsmorphologischer Zusammenhänge kann die Verteilung des Umlauts bei Wörtern gleichen Stammes im Deutschen genannt werden (vgl. W ü b z e l (1970: 118ff.)). Auch hier gibt es keine Einschränkung auf die Morphologie. Es ist, wofür unzählige Fakten aus unterschiedlichen linguistischen Bereichen (es seien nur Sprachgeschichte und die verschiedenen Gebiete der Psycholinguistik erwähnt) sprechen, offenbar ein generelles Charakteristikum grammatischer Strukturen, daß diese leichter erwerbbar und handhabbar sind, wenn ihre Einheiten nicht einfach konjunktiv nebeneinanderstehen, sondern untereinander implikativ geordnet sind. Entsprechend hat das Implikationsprinzip auch für das gesamte Sprachsystem Geltung. Vgl. dazu ein Beispiel aus der Syntax: Das Deutsche besitzt bekanntlich neben dem mit werden gebildeten Vorgangspassiv auch ein mit sein gebildetes Zustandspassiv. Dabei gibt es unter den transitiven Verben drei hinsichtlich ihrer Passivierungsmöglichkeiten unterschiedene syntaktische Klassen: (2)

A

Β

C

Aktiv

Α. wäscht den Hund.

Α. liebt den Hund.

A. bekommt den Hund.

Vorgangspassiv

Der Ilund wird gewaschen.

Der Hund wird geliebt.

*Der Hund wird bekommen.

Zustandspassiv

Der Hund ist gewaschen.

*Der Hund ist geliebt.

*Der Hund ist bekommen.

Es zeigen sich die folgenden Zusammenhänge: Alle (transitiven) Verben, die ein Zustandspassiv bilden, haben auch ein Vorgangspassiv, und alle Verben, die ein Vorgangspassiv bilden, haben auch ein Aktiv. Aber nicht alle transitiven Verben (die immer auch ein Aktiv haben) besitzen ein Vorgangspassiv, und nicht alle transitiven Verben mit Vorgangspassiv besitzen ein Zustandspassiv. Das bedeutet, daß die entsprechenden syntaktischen Eigenschaften der deutschen Verben untereinander implikativ geordnet sind.

5.1. Morphologische Strukturbildung: Generelle Prinzipien

177

Für die Phonologie sei in diesem Zusammenhang auf die ,Wenn-dann-Bedingungen' verwiesen, die in wohl allen Sprachen den Hauptteil der phonologischen Strukturbedingungen ausmachen und implikative Beziehungen zwischen den Werten phonologischer Merkmale determinieren. 3 Wenn aus anderen Sprachen Wörter entlehnt werden, deren phonologische Struktur diesen Bedingungen nicht entspricht, so werden sie entsprechend angepaßt. Man vergleiche die Strukturbedingung, die festlegt, daß im Deutschen eine koronale Spirans im Wortanlaut vor /p/ oder /t/ immer ein /// ist, an die ζ. B. Entlehnungen wie Sputnik und Streik angepaßt werden. Ähnlich implikative Relationen existieren auch zwischen semantischen Merkmalen; so impliziert ζ. Β. ,Menschlich' das Merkmal,Belebt' usw. Das P r i n z i p (III) favorisiert Flexionsklassen, die außermorphologisch motiviert sind. Es bewirkt den unterschiedlichen Status von dominierenden und nichtdominierenden Paradigmenstrukturbedingungen und damit von stabilen und instabilen Flexionsklassen. Aus diesem Prinzip resultiert die Tendenz zum Abbau von instabilen Flexionsklassen, die ja die strikte Kopplung von Flexionsklassen an außermorphologische Eigenschaften stören (vgl. Abschn. 4.2.). In der Derivationsmorphologie wird dieses Prinzip der Motivierung morphologischer Klassen vor allem bei,flexionsähnlichen' Bildungen wirksam. So gibt es beispielsweise im Deutschen eine partiell distributioneile Verteilung der semantisch völlig gleichwertigen Diminutivsuffixe -chen und -lein, die auf phonologischen Eigenschaften der Ausgangswörter basiert: -lein erscheint, wenn das Basismorphem auf /-§/ und /-g/ (einschließlich /-ng/) endet, vgl. Büch-lein, Bäch-lein\ Äug-lein, Zwerg-lein; Ring-lein.4 Dagegen tritt nach /-1/ (außer /-el/) generell -chen auf, vgl. Kerl-chen, Mäul-chen, Roll-chen. Bei den auf /-el/ endenden Substantiven stehen beide Möglichkeiten nebeneinander, vgl. Englein (/engel + laen/) und Engel-chen. Die beiden Bildungen sind aber nicht gleichwertig. Die Diminuti'va mit dem Suffix -lein kommen nur noch bei einer begrenzten Anzahl von Substantiven vor, so beispielsweise Vöglein und Spieglein (neben Vögel-chen und Spiegel-chen), nicht aber *Krümlein und *Schüßlein (neben Krümel-chen und Schüssel-chen). Wenn Zeim-Diminutiva bildbar sind, sind sie oft nicht gleich normal wie die Parallelformen mit -chen, sondern wirken veraltet, vgl. Mäntlein vs. Mäntelchen. Die Diminutivformen von Neuwörtern auf /-el/ können nur mit -chen gebildet werden, vgl. Beatle (dtsch. /bi:tel/) — Beatle-chen (*Beatlein). Das alles zeigt, daß für die deutschen Substantive auf /-el/ die cÄew-Diminutivklasse eine stabile Derivationsklasse und die Zeiw-Klasse eine instabile Derivationsklasse bildet. Es ist die Tendenz zu sehen, die Klassenzugehörigkeit der Wörter mit der entsprechenden außermorphologischen Eigenschaft zugunsten der stabilen Klasse eindeutig zu regeln. Das hier diskutierte Prinzip hat eine syntaktische Entsprechung: Soweit syntaktische Klassen nicht mit semantischen Klassen übereinstimmen, zeigt sich häufig die Tendenz, eine solche Übereinstimmung herzustellen, d. h. syntaktische Klassen außersyntaktisch, also semantisch, zu motivieren: Das zur semantischen Klasse der Modalverben gehörige brauchen tendiert nicht nur zur entsprechenden morphologi3 4

Für das Deutsche vgl. W U R Z E L (1980b: 970ff.). Man beachte, daß für die Verteilung der beiden Suffixe die oft strapazierte .Aussprechbarkeit' kaum eine Rolle spielt. Weshalb soll ein Sprecher des Deutschen * Augchen [-k^gn] nicht oder schlecht aussprechen können, wo ihm doch Wörter wie Häkchen [-k§an] keinerlei Schwierigkeiten bereiten ?

12 Btud. grarnm. X X I

178

5. Fazit und Einordnung

sehen Klasse mit ,tf-loser' 3.Ps.Sg.Präs.Ind. (er brauch; vgl. Abschn. 4 . 2 . , und 4 . 4 . ) , sondern auch zur entsprechenden syntaktischen Klasse, die durch den Anschluß von Infinitiven ohne zu gekennzeichnet ist, vgl. Ich brauche nicht kommen. In Sprachen, wo Genus und Sexus nicht von vornherein übereinstimmen, zeigen sich oft Anpassungstendenzen des Genus an das Sexus, vgl. ζ. B. den Übergang ursprünglich neutraler (weil diminutivischer) Personennamen wie Friedel, Gretel und Liesel zum Femininum. Phonologische und seniantische Eigenschaften von Wörtern bzw. deren lexikalischen Grundformen haben einen völlig anderen Status als ihre morphologischen und (soweit sie nicht unmittelbar semantisch motiviert sind) syntaktischen Eigenschaften. Sie sind mit dem Erwerb der Wörter bereits unmittelbar gegeben und brauchen nicht zusätzlich erlernt zu werden (vgl. Abschn. 4.1). Phonologische Klassen (,Wörter, deren Grundform auf /a/ endet' usw.) und semantische Klassen von Wörtern (,Wörter, die etwas Belebtes bezeichnen' usw.) müssen sich also nicht im Sinne einer einfacheren Handhabbarkeit an jeweils andere Eigenschaften anlehnen. Deshalb ist für Phonologie und Semantik das Prinzip (III) irrelevant. Das P r i n z i p (IV) liegt denjenigen morphologischen Phänomenen zugrunde, die im allgemeinen mit der Formel ,eine Funktion — eine Form' umschrieben werden und die MAYEBTHALEB ( 1 9 8 1 : 3 5 u. 1 0 7 ) unter den Stichwörtern ,Uniformität' und ,Transparenz' als Erscheinungsformen einer (systemunabhängigen) morphologischen Natürlichkeit faßt (vgl. Abschn. 0.2.). Es favorisiert — wie sein Name sagt — eine möglichst eindeutige Wiedergabe ,inhaltlicher' Übereinstimmungen und Unterschiede mit morphologischen Mitteln, wobei sich ,inhaltlich' natürlich letztendlich auf semantische Verhältnisse bezieht, aber eben nur insofern, wie die morphologischen Kategorien wirklich semantisch sind (vgl. die in Abschn. 1.4. diskutierte mehrfach vermittelte Beziehung zwischen semantischen Entitäten und morphologischen Kategorien). Es versteht sich von selbst, daß dieses Prinzip grundlegend für das Funktionieren jeder Flexionsmorphologie ist, denn ihr Wesen besteht ja gerade in der Symbolisierung grammatischer Kategorien am Wort (vgl. Abschn. 1 . 1 . und 1 . 4 . ) . Was die auf diesem Prinzip beruhenden Tendenzen betrifft, so sollte man, uneingeschränkt wie das ,Funktion-Form-Prinzip' meist für die Morphologie formuliert wird, erwarten, daß alle Flexionssysteme zu jeder Zeit dahin tendierten, ,inhaltlich' (kategoriell) Gleiches auch morphologisch gleich und ,inhaltlich' (kategoriell) Ungleiches auch morphologisch ungleich zu machen, also eine echte Isomorphierelation zwischen den Kategorien und Markern bzw. Formen durchzusetzen. Das miißte u. a. bedeuten, daß Flexionsklassen überall dort, wo sie existieren, zum Abbau tendieren würden. Doch das ist (wie im Kapitel 4 zu zeigen war) durchaus nicht der Fall: Abgebaut im Laufe der Sprachgeschichte werden immer nur instabile Flexionsklassen, also Klassen, die die außermorphologische Motivierung der Flexionsklassengliederung stören, und der Abbau erfolgt gemäß dem Prinzip (III). Stabile Flexionsklassen werden dagegen ganz offensichtlich nie abgebaut, obwohl die Existenz von stabilen Flexionsklassen der Eins-zu-Eins-Zuordnung von Kategorien und Markern ebenso entgegensteht wie die Existenz von instabilen Klassen. Wäre dem nicht so, dann könnte man ζ. B. nicht erklären, weshalb es auch heute noch im indoeuropäischen Bereich Sprachen mit so intakten Flexionsklassensystemen wie das Isländische oder das Russische gibt. So gesehen ist die Anlehnung morphologischer Klassen an außermorphologische Eigenschaften gewissermaßen keine ,Kann-', sondern eine ,Mußbestimmung': Morpho-

5.1. Morphologische Strukturbildung: Generelle Prinzipien

179

logische Klassen können sich nicht nur zur Vereinfachung der Handhabung der Flexion an außermorphologische Klassen anlehnen, sondern sind außermorphologisch motivierte Flexionsklassen einmal da, dann bleiben sie selbst dann erhalten, wenn sie einer weiteren Vereinfachung der Flexion im Sinne des ,Funktion-Form-Prinzips' im Wege stehen. Aus diesem Grunde haben wir das Prinzip (III) auch als ,Prinzip der s t r i k t e n Kopplung morphologischer Klassen an außermorphologische Eigenschaften' formuliert. Das Prinzip der formalen Widerspiegelung .inhaltlicher' Identitäten und Distinktionen kann also nicht als Prinzip der Isomorphie von einzelnen Kategorien und einzelnen Markern verstanden werden. Es funktioniert im Rahmen der Satzdomäne zwischen der Menge der auftretenden Kategorien insgesamt und der Menge der sie symbolisierenden morpho-syntaktischen Konstruktionen. Das Funktionieren einer Flexionsmorphologie nach diesem Prinzip ist daher faktisch nie ernsthaft gefährdet. Wenn ζ. B. ein substantivischer Pluralmarker phonologisch getilgt wird, bleibt meist die Unterscheidung durch die Verbform (vgl. ahdtsch. wort ist ,das/ein Wort ist' — wort sint ,(die) Worte sind'), wenn Akkusativ und Dativ formal nicht länger unterschieden sind, bleibt die Möglichkeit ihrer distinkten Symbolisierung durch Stellung und Präpositionen (vgl. Englisch und Schwedisch) usw. usf. Die verlorengegangenen Distinktionen werden nur wiederhergestellt, wenn es die Systemangemessenheit verlangt, also im Sinne der typologischen Einheitlichkeit und Systematik und nicht im Sinne einer strengen Einanderzuordnung von Funktion und Form. Man kann also feststellen: So grundlegend das Prinzip (IV) für das Funktionieren jeglicher Flexionsmorphologie auch ist, als Triebkraft für morphologische Veränderungen kann es offenbar nur sehr eingeschränkt wirksam werden. Es gibt sogar morphologische Veränderungen, die direkt gegen das Prinzip verlaufen. So werden Entwicklungen, die zum Abbau von nicht oder wenig systemangemessenen Erscheinungen entsprechend dem Prinzip (I) führen, auch dann nicht blockiert, wenn die resultierenden Flexionsformen dem ,Funktion-Form-Prinzip' eindeutig widersprechen: I m Lateinischen gibt es eine ganze Reihe von Verben der konsonantischen Konjugation, die ein sogenanntes ,Nasalpräsens' haben. Bei solchen Verben erscheint vor dem auslautenden Konsonanten des Basismorphems in den Präsensformen und im Infinitiv ein Nasal, der in den Formen des Perfekts und im Part.Perf. fehlt, vgl. frang-ere .brechen', frangö ,ich breche' — freg-l ,ich habe gebrochen', fräc-t-us ,gebrochen'. I m Lateinischen werden alle Verbformen vom Präsensstamm abgeleitet. Die Formen des Perfekt und das Part.Perf. werden gebildet, indem auf diesen (u. a.) eine subtraktive Flexionsregel angewandt wird, die den Nasal (so auch ζ. B. das /n/ in /frang/) tilgt. Subtraktive Regeln und die durch sie erzeugten subtraktiven Flexionsformen sind im lateinischen Flexionssystem wenig systemangemessen, und es ist die Tendenz vorhanden, sie abzubauen. Entsprechend werden die nasallosen Formen etlicher Verben (vollständig oder partiell) durch Formen mit Nasal ersetzt; vgl. das Verb iung-ere ,binden', Präsens iung-ö, Perfekt iünx-l, Part.Perf. iünc-t-us, zu dem das den älteren Zustand repräsentierende Substantiv iug-um ,Joch' gehört. Wichtig ist nun, daß der ursprüngliche Präsensnasal auch in solchen Fällen generalisiert wird, wo das Nichtauftreten des Nasals die einzige formale Differenzierung des Perfektstamms gegenüber dem Präsensstamm ist, so ζ. B. beim Verb prehend-ere ,ergreifen', Präsens prehend-ö, altes Perfekt prehed-l, wo dann ein neues Perfekt prehend-i erscheint. Dadurch werden die 3.Ps.Sg.Präs.Ind. und die 3.Ps.Sg.Perf.Ind. gleichlautend: prehend-it heißt sowohl ,er 12*

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