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German Pages 294 [309] Year 2023
Drehli Robnik Flexibler Faschismus
Edition Politik Band 163
Im Andenken an die Tante Lina (Karoline Sommer, 1898-1991) und den Onkel Pepi (Josef Sommer, 1900-1984).
Drehli Robnik, geb. 1967, ist Autor und Kritiker in Sachen Politik, Geschichte und Film, außerdem Edutainer und Diskjockey. Er lehrte an Universitäten in Wien, Frankfurt a.M. und Brno, promovierte an der Universität Amsterdam und publizierte Monografien zu Anti-Nazi-Filmen, Jacques Rancière, Horrorkino, Pandemie-Spielfilmen sowie zur Beziehung von Kino und Politik. Er ist Mitherausgeber einiger Bände zu Siegfried Kracauers Film- und Politik-Denken.
Drehli Robnik
Flexibler Faschismus Siegfried Kracauers Analysen rechter Mobilisierungen damals und heute
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2024 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839470176 Print-ISBN: 978-3-8376-7017-2 PDF-ISBN: 978-3-8394-7017-6 Buchreihen-ISSN: 2702-9050 Buchreihen-eISSN: 2702-9069 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
Für Rat und Hilfe bedanke ich mich sehr bei David Auer, Joachim Schätz, Heide Schlüpmann, Renée Winter und vor allem bei Gabu Heindl.
Inhalt
Einleitung: F-Worte und Kracauer-Blicke .......................................... 11 1.
»Vielleicht Faschismus oder auch gar nichts« – Geschichte: Kontingenz wider besseres Wissen............................. 23 1.1 Faschismus-Vorahnungen und ihre späten Echos .............................. 25 1.2 Nichts als Maske (und ›die Mitte‹ über alles): Nachträglichkeit – Wiederaufnahme eines Kampfes statt Wissen in Distanz ....................... 35 1.3 Nichts als Zufall: Kontingenz, nicht Kontinuum – Geschichte und Faschismus bei Horkheimer, Adorno und Kracauer ......................................... 47 2. 2.1 2.2 2.3 2.4
3. 3.1 3.2 3.3
Politik: Aufladung, Bündnis, antifaschistische Subjekte (Mädchen in Uniform) ........................................................ 57 »Die Vorläufigkeit aller gegebenen Konfigurationen«: Passage durch das Nichts, Passage durch die Politik ........................... 57 Problembeziehungen (mit Laclau): zwischen gesellschaftlichen Ursachen und politischen Wirkungen; zwischen Kracauer und Bloch ...................... 64 Kracauers fragiler Individualismus (anders als Žižek glaubt) .................... 73 Insubordination statt Nation – Mädchen statt Uniform: Subjekte, Bündnisse, politischer Realismus ......................................................... 80 Soziologie: Masse, Mittelschicht, Kapital brutal ............................. 89 Masse: passager gelockert – faschistisch verstetigt ............................ 89 Aufruhr als Asyl: Mittelschicht und Jugend-Fetisch (Silone, Mason).............. 99 Bürgerlich bestialisch: das Ornament der Maske ............................... 115
4. Ideologie: Flexibler Faschismus als totalitärer Nihilismus ................ 123 4.1 Bewegen, erregen, entfesseln: Bund der Ungebundenen ........................123 4.2 »Lüge und Wahrheit gleich unerheblich«: Micro-Targeting und Rebellion von rechts ......................................................132 4.3 Immer schon improvisierend und hochmotiviert – Geschichtspolitisches (Traverso, Chapoutot, Strobl) ............................146 4.4 Terror und seine Begrenzung – Ideen in Wirklichkeit (Kracauer und Arendt) .... 153 5. 5.1 5.2 5.3 5.4
6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 7.
Unvollständigkeit einrichten: Kracauer’sches Nichts als Rest und Lücke in faschistischer Fülle und Totalisierung .................................... 171 Sammlung um ein Nichts versus nationalsozialistisches Alles ................... 172 Dünn, Bloch und Reich: Antifaschismus mit kraftbetonten Fundamenten (Es geht auch ohne.) ............................................178 Wie ein Barthaar dem anderen? Demokratie-Kritik mit Chaplins Great Dictator (Kracauer und Deleuze) ........................................ 183 Paris leert sich gegen Hitler: Nicht-Präsenz und active passivity (Kracauer und Majewska) ......................................................189 »If you watch closely enough«: Antisemitismus, der Nazi-Holocaust und ihre Alltäglichkeit .......................................................201 »Den Geist mit Grauen erfüllen«: Sündenbock, Witzblatt, blutiger Ernst ........ 204 Deutsch-jüdische Verklammerung: Kracauers Zeitungstexte zum Antisemitismus .......................................................... 210 Zweite Blicke auf unsichtbare Alltage – Nazi concentration camps ..............218 Mordende Familienväter (Kracauer und Arendt, einmal mehr) .................. 224 »What makes them tick«: antikapitalistischer Antisemitismus ................ 238
Heute: das Nichts nach dem Faschismus, Faschismen nach dem Nichts (Und doch ›haben uns‹ ein paar menschliche Ideen.) ...................... 247 7.1 Nach dem Faschismus ist vor dem Faschismus: Nachkriegslektionen in Italien, Deutschland und den USA...................... 247 7.2 Wiederholungen? Faschistische Farcen von Trump über Österreich bis Meloni.................................................... 262 7.3 Ideen und causes zurückgewinnen: Solidarität, Radikalität, Kritik, Vernunft, Menschlichkeit ...................................................... 271
Siglen und Verzeichnis der zitierten selbständigen Werke von Siegfried Kracauer .......................................................... 285 Literatur ......................................................................... 287
Einleitung: F-Worte und Kracauer-Blicke
Dies ist keine Einführung zu Faschismus oder Faschismustheorie, aber es geht um diese beiden Themen, und zwar von Siegfried Kracauer aus. Ihn verstehe ich als einen politischen Autor, zumal in Sachen Faschismus und Nationalsozialismus; und ich verstehe dieses Buch nicht zuletzt als einen Beitrag zu einer in diese Richtung veränderten Kracauer-Rezeption. Daher auch die Ausführlichkeit der einschlägigen Zitate. (Ich zitiere Kracauers Schriften in der Sprache, in der er sie jeweils verfasst hat, seine New Yorker Schriften also nach dem US-Original.) Die Gegenwartssituation, in der ich das schreibe und die ich im Auge habe, ist mit geprägt von Formen der antidemokratischen Mobilisierung und Propaganda und des Regierens von rechts. Auf einige davon passt das Wort Faschismus. Um dieses Wort und seinen Gebrauch geht es in dieser Einleitung zunächst; dann um unsere Gegenwart als Teil der Geschichte des Faschismus; und dann um Kracauer. »Haider ist ein Faschist.« Das sagte Johannes Voggenhuber, Europa-Parlamentarier der österreichischen Grünen, in einem ORF-Fernsehinterview über den langjährigen FPÖ-Chef Jörg Haider. Das war im Jahr 2000. Damals verhalf erstmalig die rechtsnationale Freiheitliche Partei per Koalitionspakt der Volkspartei, ÖVP, einer Rechtspartei mit christlich-sozialen bis autoritären Traditionen, zur Kanzlerschaft. (Dies stieß in Österreich wie auch international auf einige Ablehnung, aufgrund der Regierungsbeteiligung einer Partei mit rechtsextremen Elementen in einem postnazistischen Staat.) Als Voggenhuber entgegengehalten wurde, seine Bezeichnung sei unangebracht, denn das massenmörderische Gewaltmoment des historischen Faschismus treffe doch auf Haider nicht zu, modifizierte er sein Urteil: Haider sei ein Faschist im Sinn des frühen Bewegungsfaschismus der 1920er Jahre. In diesem Fall von F-Wort-Gebrauch erfolgte, anders als 2019 beim thüringischen
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Drehli Robnik: Flexibler Faschismus
AfD-Vorsitzenden Björn Höcke, keine gerichtliche Klärung, ob – bei Höcke: dass! – es zulässig sei, den Betreffenden einen Faschisten zu nennen. Dafür kam damals, anno 2000, zeitgleich die Bezeichnung Feschist in Gebrauch: für Karriere-Rechtsextreme eines damals neuen Typs mit hohem Lifestyle-, Look- und Entertainment-Anteil in der Propaganda. Beispiele für Feschismus boten und bieten Haider und seine Zöglinge wie FPÖ-Vorsitz-Nachfolger H.C. Strache (ein der Neonazi-Wehrsport-Szene entwachsener zeitweiliger Vizekanzler), weiters Pim Fortuyn und in jüngerer Zeit gegroomte Rassisten wie die Identitären, Alt-Right-Gruppen in den USA oder, als deren Softund Erfolgs-Variante, Jungkanzler Sebastian Kurz (ÖVP, 2017–2021) und sein antidemokratisches Netzwerk. Ich nenne diese Beispiele für Etikettierungen nicht, um ein Klassifikations-Tableau zu Rechtsextremismus und (Post-)Faschismus zu erstellen, sondern um eine Vielfalt an Bedeutungen und Nutzungen zu illustrieren: Faschist bzw. Faschismus ist ein Wort mit Aspekten eines Begriffs, ein Begriff mit Zug zum Slogan, eine vor Gericht, in den Wissenschaften und in öffentlichen Debatten umstrittene Definition. Faschismus kursiert in Abwandlungen, so wie die Bewegungs- und Herrschaftsform, die das Wort benennt: Die Benennung des einen Faschisten ist zeitgleich damit, dass ein neues Wort für fesche Faschos auftaucht; die des anderen ist zeitgleich damit, dass Gruppierungen mit Faschismus-Tendenzen sich als alternativ bezeichnen; also mit einem Zusatzadjektiv, das lange eng mit der grünen Linken assoziiert war und das nun für Nationalsozialismus-Relativierer und White Supremacists der etwas anderen Art steht (die Alternative für Deutschland bzw. Alt[ernative]-Right in den USA). In jüngster Zeit kam die Bezeichnung faschistisch für Putins Regime in Gebrauch, und zwar unter Berufung etwa auf dessen Imperialismus und Militarismus als Kriterien (während Putins Propaganda vorgab, in der Regierung der Ukraine Nazis zu erkennen, und zwar unter Berufung auf Geschichtsmythen).1 Aus Sicht mancher Wissenschaft zeigt sich hier nicht zuletzt eine regelrechte Inflation an Faschismus-Etikettierungen, und da gibt es Vorschläge, größere Strenge im Labelling walten zu lassen. Jedoch: Der Anspruch, die Proliferation der Bezeichnungen und deren Offenstehen für öffentlichen,
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Ein Beispiel: Der Kulturwissenschaftler Vasyl Cherepanyn verwendet in einem Artikel zum russischen Überfall auf die Ukraine die Bezeichnung »faschistische Militärdiktatur« (sowie »Despotismus« und »Konterrevolution«) für Putins Regime. Vasyl Cherepanyn: »Z: Putins Krieg der Welten«, IWMpost 129, Juni 2022, S. 3. https://www.iwm.a t/publication/iwmpost-article/z-putins-krieg-der-welten [3.3.2023].
Einleitung: F-Worte und Kracauer-Blicke
politisierten, Gebrauch einzudämmen, bringt weitere Bezeichnungen hervor, bringt neue Wortprägungen ins Spiel der Faschismus-Bezugnahmen. Ein Autor prägt die Ausdrücke »ewiger« bzw. »Ur-Faschismus« und betitelt mit ihnen seine Merkmalsliste, die alle historischen Faschismen abdecken soll; ein anderer Autor schlägt die Nomenklatur »Faschismus, aber weniger« bzw. »›Faschismus minus‹« oder »Faschismus (?)« für den Austrofaschismus vor, sowie »Faschismus, aber mehr« bzw. »›Faschismus plus‹« für den Nationalsozialismus (mit seiner singulären Vernichtungsdimension); dies in dem Anspruch, die »inflationäre Beliebigkeit« und das »Wortgeklingel um Faschismus und Antifaschismus« abzustellen.2 Dass das Wort »Faschismus« in Unruhe ist, stellt allerdings vielleicht gar kein Übel dar. Denn zum einen besteht der Begriffs-Charakter eines Wortes nicht nur in einem Definieren, das festlegt und aussageförmig Etiketten vergibt (»X ist ein*e Faschist*in«, »Regierung Y ist faschistisch« etc.), sondern auch im Definieren als einem Abstecken und Neu-Abstecken (somit auch Eröffnen) – nämlich von Bereichen, in denen Bezeichnungen, Deutungen und deren Wendungen vorgenommen und kenntlich gemacht werden können. Wenn ich das sage, rede ich keineswegs einer Demut vor einer angenommenen
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Ersterer ist der Schriftsteller und Semiotiker Umberto Eco, der historische Faschismen durch 14 Merkmale eines ewigen Faschismus bzw. Ur-Faschismus definiert, die in verschiedenen Ausmaßen für Hitler über Salazar bis zur Ustascha zutreffend sein sollen. (Umberto Eco: Der ewige Faschismus. [2018] München 2020) Zweiterer ist der Politikwissenschaftler Anton Pelinka, in dessen Augen »Faschismus« durch inflationären Gebrauch zu einem »Billigwort verkommen« ist, bei dem die Bedeutung »immer auch politischen Opportunitätserwägungen folgt«; dieser Missstand solle nun »nüchternen Analysen Platz mach[en].« (Anton Pelinka: Faschismus? Zur Beliebigkeit eines politischen Begriffs. Wien, Köln 2022, S. 11, 21f, 115–122, 228ff) Mein Einwand ist nicht, dass Ecos Katalog inkorrekt (oder 14 als Anzahl der Merkmale falsch) wäre, oder dass Pelinka verschiedene historisch-faschistische Weltbilder und Herrschaftspraktiken nicht plausibel darlegen würde. Mein Einwand ist: In Ecos klassifikatorischer Verve und in Pelinkas mansplainendem Szientismus, der überlauten politischen Wort-Nutzungen Einhalt gebieten will, wird jeweils verkannt und dissimuliert, dass solch ein Anspruch, terminologische Endpunkte zu setzen, dem weit gefächerten Bestand unwillkürlich jeweils weitere Termini hinzufügt. Das große Schlussmachen mit den Bezeichnungen ist auch – ›nur‹ – eine Bezeichnung. (Wobei Pelinka – ebd., S. 226ff – sich zu einem expliziten Ranking historischer [Quasi-]Faschismen nach Kriterien wie Herrschaftstotalität, Innen- und Außenrepression oder Genozid-Ausmaß aufschwingt, um diesen Faschismus-Charts aber sogleich Zweifel folgen zu lassen, dahingehend, ob »man diesen Sammelbegriff überhaupt weiter verwenden will«.)
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Drehli Robnik: Flexibler Faschismus
Unaussprechlichkeit der Wirklichkeit das Wort, der gegenüber das Definieren zu unterlassen wäre; auch nicht einer ›unendlichen Semiose‹ oder einem endlosen Schweben in Ambivalenz. Wir kommen nicht herum um das Definieren als ein situiertes, positioniertes Stillstellen von Deutungsprozessen, das auf Zeit und im Streit erfolgt. Wir kommen auch nicht herum um Vielfach-Nutzungen und Politisierungen von Bezeichnungen: So etwas ist kein Defekt, der behoben werden sollte, damit Ruhe einkehrt. Für den Gebrauch der Bezeichnung »Faschismus« bedeutet dies auch, dass jene, die um der Nüchternheit willen auf den Aufreger-Terminus verzichten und eine Debatte nicht unnötig politisieren wollen, genau damit ebenfalls eine politische Position beziehen. (Etwa die Position bzw. Agenda, einen Streit in der Public History beenden und Burgfrieden verordnen zu wollen, weil die Assoziation mit dem F-Wort manchen Akteur*innen peinlich ist.3 ) Zum anderen passt das Bewegliche, Unruhige, in Faschismus-Bezeichnungen zu ihrem Gegenstand. Faschismus ist beweglich. Nicht nur als Bewegung, nicht nur aufgrund des Stellenwerts von Mobilität in seinen Propaganda- und Machttechniken, worauf sich hier mein Titel Flexibler Faschismus und 3
Ich meine Public History-Kontroversen und Mehrfach-Bezeichnungen zum österreichischen Regime Engelbert Dollfuß/Kurt Schuschnigg 1933–1938, das klerikal geprägt, monarchistisch-reaktionär und/oder austrofaschistisch war. Die Mehrfach-Bezeichnungen rühren nicht einfach daher, dass die Wissenschaft sich nicht einig wird, sondern von einem Streit, der politisiert, geschichtspolitisch aufgeladen ist – v.a. deshalb, weil die Geschichte des Austrofaschismus Kontinuitäten bis in unsere Gegenwart umfasst: von der Christlichsozialen Partei, aus der dieses Regime hervorging, bis zur ÖVP als Direktnachfolgerin der Christlichsozialen, in deren Parlamentsklub Dollfuß’ Porträt bis 2017 hing. Die Mehrfach-Bezeichnungen umfassen Ständestaat (Selbstbezeichnung) und Kanzlerdiktatur (bzw. um 2010 von ÖVP-Seite vorgeschlagen: Notwehrdiktatur), das rein deskriptive Dollfuß-Schuschnigg-Regime und die politisch deklamatorischen Ausdrücke Kleriko- oder Austrofaschismus. Letztere haben zwar das Problem, dass sie Faschismus-Charakteristika implizieren, die bei diesem Regime eigentlich nicht vorliegen, nämlich Massenmobilisierung und Formen aggressiver ›Neuartigkeit‹. Sie machen aber auf eine (relativ) spezifisch österreichische, eben Austro- und Kleriko-, Situation aufmerksam: machtvoller politischer Katholizismus, Anknüpfung ans Habsburger Reich, Abgrenzung gegen Nazi-Deutschland mit der Parole »Patriotismus versus Nationalismus« und durch einen Konkurrenzfaschismus (noch ein Wort!), dessen Führer(und seitdem Märtyrer-)Figur Dollfuß 1934 einem gescheiterten Nazi-Putsch zum Opfer fällt. Und: Das Beharren auf das Label »Faschismus« konterkariert in diesem Fall den Versuch, diese Herrschaftsperiode zu bagatellisieren; genauer: sie durch weniger heikle, F-Wort-freie Bezeichnungen aus dem historischen Kreis der politisch ›ganz Bösen‹ auszunehmen.
Einleitung: F-Worte und Kracauer-Blicke
im Engeren mein Kapitel 4 bezieht.4 Sondern auch in zeitlicher Hinsicht bleibt Faschismus nicht an seinem Ort in der Geschichte. Er kommt ins Heute. 4
Es gibt da, was heutige rechte Mobilisierungen betrifft, Parallelen zum Konzept des libertären Autoritarismus von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in ihrer betont Empirie-geladenen Studie Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus (Berlin 2022). Vor allem anhand von »Querdenker«-, Verschwörungsglaubens- und AfD-affinen Milieus konzipieren die Autor*innen ein libertäres Moment, nämlich als »verdinglichte Freiheit«, die dem Modell »roher, negativer (Wirtschafts-)Freiheit« folgt, »sozial verpflichtende Normen« negiert, in »Überhöhung der eigenen Autonomie ihre Gesellschaftsabhängigkeit leugnet – und dadurch autoritär werden kann« (ebd., S. 172f, 177f, 200). Durch die Verbindung mit dem Konzept des Autoritären docken Amlinger und Nachtwey ihr Panorama libertärer Kontingenz-Leugnung an den historischen Faschismus an; genauer, an die teilweise Modellfunktion einer Perspektive auf Faschismus, die in der Kritischen Theorie anhand des autoritären Charakters ausgearbeitet wurde. Amlinger und Nachtwey zielen auf einen »libertären Nebentypus des Autoritären« (ebd., S. 178): An diesem stellen sie als klassisch-autoritäre Merkmale »binäres Machtdenken«, »Überlegenheitsfantasien«, »allgemeine Feindseligkeit«, und minderheitenfeindliche »›Strafsucht‹« festst; nicht jedoch die Merkmale des »Konventionalismus« und der »Unterwürfigkeit« (ebd., S. 15f) – durch welche aber die libertäre »aggressive Enthemmung« erst als autoritär verstehbar würde. Anders gesagt: Diese Enthemmung wird von den Autor*innen plausibel dargestellt als Steigerungsform der Deregulierungs-Imperative eines »unternehmerischen Selbst« (Ulrich Bröckling), eines neoliberalen Typus, der weg haben will, was seiner – profitablen – Selbstentfaltung im Weg ist; gemäß den »Normen einer Konkurrenzgesellschaft […], die ein destruktives, aggressives und exzessives Potenzial in sich bergen« (ebd., S. 190). Gerade die Entfesselung anstelle von Einschränkung, das antiinstitutionelle und dynamisierende Moment dieser Ideologien und Aggressionen und ihrer politischen Artikulation, wäre aber als »Faschisierung« besser charakterisiert als im Rückgriff auf das »Autoritäre«. Wobei: Vielleicht kommt ja ebendieser Rückgriff jener Psychologisierung entgegen, die Amlinger und Nachtwey den diversen Gefolgschaften der Neuen Rechten angedeihen lassen: Mit »Kränkungsgeschichten« über »verletzte Selbstbehauptung« und über Leute, die »vulnerabler« als andere auf meritokratische Überforderungen reagieren (ebd., S. 193, 201), wird in Gekränkte Freiheit ein Therapiejargon kultiviert, der Befürworter*innen minderheitenfeindlicher rechter Politik und Gewalt, spitz gesagt, als pflegebedürftiges Versehrtenkollektiv erscheinen lässt und QAnon als fehlgeleitete Online-Selbsthilfegruppe. Mag sein, dass das mit Amlingers und Nachtweys – im Buch breit ausgemalten – Kaffeejausengesprächs-Hausbesuchen als einem personen- und biografiezentrierten Empirie-Design zusammenhängt; sowie mit ihrer Vermeidung, in Gekränkte Freiheit an Positionierungen linker Sozialkritik und Protestpolitik mehr als nur anzustreifen, wofür denn auch die (im staatstragenden Gegenwartsdiskurs gängige) Pauschal-Abwertung von Radikalität – Warnung vor »Radikalisierungsgefahr« – durch Amlinger und Nachtwey steht (ebd., S. 9, 14, 190, 253). (Siehe weiters das Ende von Kap. 4.2)
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Drehli Robnik: Flexibler Faschismus
Ein Übersetzen in die Gegenwart, aufgrund dessen das Wort für einige heutige Sachverhalte buchstäblich verwendet werden muss. So schreibt Philosophin und Aktivistin Ewa Majewska 2019 über die zunehmend zwangspatriotische, minderheiten- und frauenfeindliche Politik der polnischen Regierung: »In such conditions, speaking about fascism today has lost it metaphorical sense.«5 Und der Medienwissenschaftler Simon Strick erklärt 2021, für seinen Untersuchungsgegenstand, nämlich »rechte Gefühle« und deren Online-Verbreitung, bevorzuge er gegenüber »rechter Populismus« oder »Extremismus« die Bezeichnungen »Faschismus« oder »Alternative Rechte«. Denn: Durch diese letzteren Labels komme zum Ausdruck, wie sehr es da, etwa bei antifeministischen Kampagnen oder der Verbreitung rassistischer Meme im Netz, um eine »affektive Struktur« geht, eine »Gefühlswelt«; es geht um die alltägliche Bespielung eines rechten (weiß-rassistischen, heteronormativen) Sich-gut-Fühlens: Empowerment, und sei’s im Modus von Selbstmitleid und selbstviktimisierender Paranoia. Feeling wäre, so Strick, hier das komplementäre F-Wort – im Kontext rechter Mobilisierungen, die von der Neuen Linken die Rolle der Alternative wie auch den Primat von Spaß und Wunschfantasie in der Politik geerbt zu haben beanspruchen.6 Zugleich warnt Strick vor einer bestimmten Art, vor Wiederholungen der Geschichte zu warnen. Er spricht von »hilflosen Zeitreisen«: Solch ein Diskurs der Warnung versetzt sich in die Zeit kurz ›vor Hitler‹, ›nach Weimar‹, zurück und beschwört von dort aus, in diesen Vergleichsrahmungen, eine Wiederholung des Faschismus als künftige Bedrohung. Tatsächlich ist der (geschichts-)politische Sinn solcher Operationen fragwürdig. Erstens hat die Rede vom sich wiederholenden Faschismus eine Neigung zum Reduktionismus eingebaut, insbesondere zur Vernachlässigung konkreter politischer Artikulationen, die mit sozialen und ökonomischen Faktoren einer Situation wechselwirken.7 Zweitens ist, so Strick, die Wiederholungsrhetorik Teil der Verkennung heutiger 5 6 7
Ewa Majewska: »A Bitter Victory? Anti-fascist Cultures, Institutions of the Common, and Weak Resistance in Poland«, Third Text 33:3, 2019, S. 398. Simon Strick: Rechte Gefühle. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus. Bielefeld 2021, S. 22, 27, 68, 113. So heißt es etwa – ökonomistisch, deterministisch –, »dass sich die Geschichte wiederholen könnte: dass eine falsche Wirtschaftspolitik neuerlich den Faschismus heraufbeschwört,« in: Peter Michael Lingens: »Wie wir eine faschistoide EU riskieren«, Falter 7, 2023, S. 8. Lingens hat Recht mit seiner Kritik an einer Wirtschaftspolitik, die Sozialausgaben und Löhne niedrig hält. Aber: Dieses Austeritätsdiktat beschwört nicht notwendig den Faschismus herauf; es könnte – anderes politisch-propagandistisches Handeln
Einleitung: F-Worte und Kracauer-Blicke
rechter Propaganda als das Werk »Ewiggestriger«; und sie ist eine Form, in der jene, die ›die Mitte‹ als Normal- bzw. Nicht-Position für sich beanspruchen, sich in sicherer Distanz zum Faschismus fühlen können.8 In eine ähnliche Kerbe schlägt die Publizistin Carolin Emcke: »Vielleicht war es paradoxerweise das moralisch-politische Versprechen eines ›Nie-wieder‹, […] das verhindert hat zu sehen, was es eben doch ›schon wieder‹ oder ›immer noch‹ (in anderer Form) gibt: antidemokratische Demagogie und rassistische, antisemitische Gewalt.«9 Angesprochen sind damit auch Zeitformen unserer Erfahrung der Geschichte von Faschismus – Erfahrung davon, wie dessen Vergangenheit und Gegenwart sich zueinander verhalten. Hat da etwas überlebt, nach 1945? (Oder: nach Salazar und Franco, nach…?)10 Auch wenn der Faschismus nicht ewig ist11 – auf Kontinuitäten stößt man bis heute. Verbreiteter, auch sinnträchtiger ist aber die Zeit-Erfahrungsform einer Wiederholung in Verbindung mit der einer Erwartung: Faschismus – bzw. ›Faschistisches‹ – droht zu ›kommen‹, und zwar »schon wieder«. Wobei wir das, was (wieder) kommt, nicht zu hoch veranschlagen
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vorausgesetzt (das ist natürlich die Crux) – ja auch sozialistische Gegenmobilisierungen und linke Gegenhegemonie-Kämpfe begünstigen. Strick: Rechte Gefühle, S. 106f. Carolin Emcke: Nachwort zu: Leo Löwenthal: Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation. Berlin 2021, S. 243. – Emcke vermerkt dies im Nachwort einer Neuausgabe von Leo Löwenthals (und Norbert Gutermans) Propaganda-Studie Falsche Propheten. Der Untertitel der US-Originalausgabe Prophets of Deceit von 1949 lautete A Study of the Techniques of the American Agitator; in der Löwenthal-Schriften-Ausgabe 1982 lautete er Zur politischen Psychologie des Autoritarismus, in der Schriften-Ausgabe 1990 Studien zum Autoritarismus, 2021 lautet er nun Studien zur faschistischen Agitation. Wo »Autoritarimus« war, wurde heute »Faschismus« angeschrieben, öffentlich und groß (als Bezeichnung für Hasspropaganda, die weniger »autoritär« als unruhestiftend und aufwühlend ist). Mittlerweile geschieht dies klarer Weise, ohne dass es danach klingt, als solle ein »Faschismus«-Konzept, vielsagend im Sinn eines DDR-Lehrbuch-Marxismus, die Nazis auf ein Kampfmittel großbürgerlicher Klasseninteressen reduzieren. Wenn überlebt, dann in einer Weise, für die Emcke (ebd., S. 247) eine Metapher nach Art der endlos gespeicherten Monster-DNA in den Jurassic Park-Filmen prägt (aus denen die tagline »Something has survived« stammt): Die »abstrusen Motive und Topoi«, die Löwenthal 1949 an faschistischer Propaganda untersuchte, wirken laut Emcke nicht überholt, sondern »bleiben starr wie ein totes Insekt in fossilem Harz.« Der ewige Faschismus von Eco ist als starker Ausdruck auf einem Buchcover leicht misszuverstehen – womöglich entgegen der kritisch-geschichtsbewussten Intention des Autors.
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sollten – in folgendem Sinn:12 Zum einen verlaufen Wiederholungen ja schon im Kleinen der erweiterten Gegenwart; siehe die Aufstiegszyklen – bei gleichzeitiger Spaltungskrise in Permanenz – der AfD seit 2013; oder eine drohende zweite Trump(ismus)-Präsidentschaft in den USA; oder eine dritte Koalition mit der antidemokratischen FPÖ, die deren ›konservativen‹ Adepten, der ÖVP, nach 2000 und 2017 auch heute Regierungsmacht sichern soll. (Das sind Fälle von Wiederholung ohne lernenden Reflexionszuwachs; größer wird nur die diskrete Schamlosigkeit der Bourgeoisie.) Was wir heute erleben, noch immer oder schon wieder, als am Erwartungshorizont aufziehend, ist ein kleiner Faschismus; dafür diesmal in Farbe. Nach dem Faschismus ist vor dem Faschismus: Nichts wird in sicherer Distanz hinter sich gelassen (im ›ewigen Gestern‹). Betrachten wir kurz das Wort postfaschistisch, im Deutschen als Bezeichnung für (Phänomene in) Gesellschaften, in denen bis 1945 der Nationalsozialismus (bzw. ein mit ihm eng verbündetes Regime) herrschte: Kaum hat sich postfaschistisch als Wort (bildungssprachlich) etabliert, ist der Faschismus als politische Option wieder aktuell. (Hier liegt ein Fall bitterer Ironie, nicht von Kausalität, vor.) Wie bei vielen aufgeladenen »post«-Begriffen heißt auch das »post« in Relation zum Faschismus, dass dieser nicht bloß zeitlich vorgängig, sondern auch als ein Bezugspunkt nicht loszuwerden ist. Und das im Rahmen demokratischer Gemeinwesen: von formalund repräsentativdemokratisch regierten Gesellschaften, die auf vielerlei Diskriminierung und Ungerechtigkeit beruhen. Dieses Buch verfolgt nicht zuletzt eine demokratiekritische Agenda in radikaldemokratischer, auf Demokratie-Vertiefung zielender, Orientierung.13 Diese Kritik ist Teil meiner Sicht auf Faschisierungsprozesse und antidemokratische Rechtstendenzen in bürgerlich-neoliberalen Gegenwarten. In auch diesem Sinn sollten wir Faschismus nicht zu hoch veranschlagen, sollten wir das F-Wort nicht wie einen Titel, der wohl erworben sein will, vergeben: Wir sollten es nicht ›erst dann‹ oder ›nur dort‹ verwenden, wenn oder wo Oppositionsparteienverbot, Pressezensur und Massenmilitarisierung vorliegen, als hinreichende Kriterien für die Rechtfertigung des Einsatzes eines
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Auch angelehnt an Stricks Warnung vor distanzierenden Effekten einer ›Weimar-Wiederholungs‹-Rhetorik. Anders als Pelinka (Faschismus?, S. 11, 260) oder als Feiertagsredner*innen der politischen ›Mitte‹ glaube ich nicht, dass die Demokratie »wehrhafter« werden soll. Sie soll demokratischer werden. (Mit dem Pathos des Wortspiels gesagt: nicht wehrhaft, sondern wahrhaft.)
Einleitung: F-Worte und Kracauer-Blicke
Alarmwortes. Auf das Gefühl einer Inflation von Faschismus-Etikettierungen – ein vages, aber seinerseits inflationär beschworenes Gefühl – sollte nicht ein inverser Alarmismus antworten, der abwartet, bis etwas eintritt, das eine Signalauslösung ganz sicher legitim macht.14 Faschismus als ein Wort in Bewegung; nicht als ein Echtheitskriterium, das zum Maßstab einer Erwartung wird, die Aufschub bedeutet: Ebendies findet sich verdichtet ausgedrückt 2022 bei der Publizistin Laurie Penny. Sie fragt ironisch »When the real fascists show up, will you be ready?«. Und erläutert dies weiter: Das Aufrufs-Pathos dieser gängigen Frage (und ähnlicher Gebrauchspoesie) bewirkt bestenfalls Entschlossenheit zu antifaschistischer Bereitschaft irgendwann in der Zukunft; wo doch »the real fascists« schon längst ›hier‹ sind – mit im Raum, in einer geteilten Gegenwart, in Person weder gestiefelter Skinheads noch geschniegelter Rechts-Honoratioren. Penny spricht von angry young men in Alt-Right-Netzwerken: »The new far right is distributed, networked and entrepreneurial. The new far right is gig-economy fascism.«15 Es geht nicht darum, ob diese Labels auf Dauer lehrbuchtauglich sind. Vielmehr fungieren Pennys Charakterisierungen begrifflich im oben angesprochenen Sinn: Sie eröffnen Zonen, in denen sich etwas wahrnehmend bedenken lässt; so z.B. Nahbeziehungen von faschistischen und neoliberalen ›Entfesselungen‹, wie sie Pennys New Economy-Paraphrase hier andeutet (und wie ich sie in Kapitel 4 weiterverfolge). Pennys Buch Sexual Revolution. Modern Fascism and the Feminist Fightback werden szientistisch Gesinnte wohl als einen (weiteren) Fall von inflationärem Gebrauch des Faschismus-Begriffs empfinden. Ich hingegen (und nicht nur ich) meine: Bei Penny ist Begriffliches in Aktion zu sehen – im Einrichten von Perspektiven und Verbindungen. Ich fahre da kurz konturierend mit: Pennys Begriff von Faschismus ist ein aus gegenwärtigen Kämpfen und Konfliktkonstellationen heraus dynamisierter. Respektive fungiert modern fascism als ihr 14
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Wenn wir, wie oben erörtert, den Austrofaschismus in die F-Familie einbeziehen, dann entspricht das nicht zuletzt auch dem umfassenderen Anliegen, das Epigonale, Ungelenke, selbst das Lächerliche, das manchen Manifestationen von Faschismus anhaftet (exemplarisch eben Auftritten von Dollfuß, Schuschnigg und ihrer Vaterländischen Front), nicht abzutun. Das heißt auch: nicht gelassen und offen zu sein gegenüber sich halt so äußernden ›Sorgen und Ängsten der Menschen‹ (deren ›Ängste‹ meistens Hass sind, der anderen Angst macht: LGBTQI+-Personen oder people of color); auch nicht offen zu sein für Koalitionen, die ›Regierbarkeit‹ gewährleisten. Laurie Penny: Sexual Revolution: Modern Fascism and the Feminist Fightback. London, Oxford, New York, New Delhi u.a. 2022, S. 199.
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Drehli Robnik: Flexibler Faschismus
starker Partikular-Aufhänger oder -Fokus für ein breites politisches Spektrum.16 Penny sieht heutigen Faschismus intersektional, an Knotenpunkten: Mehrfachbetroffenheit von Herrschaftsauswirkungen; Korrelationen zwischen Herrschaftspraktiken (»rape culture« erweitert verstanden, im Kontext von Arbeitsteilungen zulasten von Frauen, people of color und [neo]kolonisierten Bevölkerungen); geteilte Gegner*innenschaften und Kämpfe (gegen männliche Dominanz über weibliche Körper, gegen kapitalisierte [Care-]Arbeitsteilung, gegen Autoritarismus).17 Diese Intersektionalität wird plausibilisiert, indem Penny (ähnlich wie Strick) anhand des »online culture war against women« erläutert, dass faschistische und antifeministische Gefühlspolitiken (weaponised misogyny) in denselben – oder eng benachbarten – digitalen Soziotopen kultiviert und dynamisiert werden.18 Und entlang des Konzepts Gaslighting erörtert Penny Affinitäten zwischen männlich-häuslicher Gewalt und maskulinistisch verkörperter Staatsmacht, jeweils als Zerstörungen der Urteilskraft jener, denen eine brutale Herrschaft Schaden zufügt (im Sinn von ›Das bildest du dir nur ein! Nur ich kann dich schützen!‹), plus Projektion männlicher Gewalt auf Außenfeinde; wo doch, wie Penny über terroristische Gewalt schreibt, »the noise is coming from inside the house.«19 Soweit einige Punkte zum Sprechen/Schreiben über Faschismus; weiters zur Geschichtlichkeit von Faschismus und Zeitformen ihrer Erfahrung; und zu Verbindungen zwischen Kämpfen und Herrschaftsverhältnissen. Diese Punkte bilden einen Hintergrund, vor dem ich in diesem Buch eng an Siegfried Kracauers Schriften zum Faschismus anknüpfe: an seine geschichts- und sozialtheoretisch geladenen Überlegungen insbesondere zum Nationalsozialismus. Diese durchziehen seine Frankfurter, Berliner, Pariser und New Yorker Schriften von den frühen 1920er bis zu den späten 1940er Jahren (mit
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Neben Analogworten wie »new chauvinism«, »neo-nationalists«, »neo-reactionaries«, »new far right«, »neo-fascism«, »crypto-fascism«: ebd., S. 186–192, 258. Ebd., S. 23–41. »You can trace many of the tactics and cod philosophies of modern fascism back to the cultural sewer of online men’s groups.« Ebd., S. 10, 14. Ebd., S. 42f, 210. Zu Gaslighting als Machtszenario in männlich-häuslicher und faschistisch/nazistisch-staatlicher Herrschaft siehe die Beiträge von Elisabeth Streit und von Drehli Robnik zu Politiken des domestic thriller in: Robnik, Joachim Schätz (Hg.): Gewohnte Gewalt. Häusliche Brutalität und heimliche Bedrohung im Spannungskino. Wien 2022.
Einleitung: F-Worte und Kracauer-Blicke
Echos in seinen letzten Büchern – zu Film- bzw. Geschichtstheorie – in den 1960ern). Kanonisch ist Kracauer insgesamt noch heute vor allem als Autor filmkritischer und filmtheoretischer Schriften; und im Zusammenhang mit Faschismus als Autor eines Buches, das die Aufstiegsgeschichte des Nationalsozialismus anhand des deutschen Kinos der Zwischenkriegszeit erzählt.20 Sofern nun in meinem Buch und in meiner Auseinandersetzung mit Faschismus in Kracauers Zugang etwas ›Filmisches‹ in einem kategorialen Sinn relevant wird, geht es nicht um eine Modellfunktion von ›großem Kino‹, von ›starken Bildern‹ oder Rasanz; auch nicht vorrangig um Montagen (höchstens um ein paar harte Schnitte). Sehr wohl aber spielt ein Wahrnehmen von und in Wendungen eine Rolle. Und weiters ein Erfassen im Heraushören aus Atmosphärischem, aus dem Augenwinkel und auf zweite Blicke. Das meint schließlich auch einen zweiten Blick auf Kracauer selbst, eine Wendung zu Kracauer als einem politischen Autor: Auch wenn er heute primär als eine Gründungsfigur der Filmwissenschaft und Kulturwissenschaft rubrifiziert ist – Politik steht bei ihm immer schon im Raum und wird in meinem an ihm anknüpfenden Buch nun stark in den Vordergrund gerückt, vielleicht unerwartet.21 In den Vordergrund rücken hier auch seine vielen Texte (Artikelstellen, Aufsätze, Bücher) zum Faschismus; sie stehen üblicher Weise im Schatten einer vorherrschenden Kracauer-Rezeption, die lieber von ›Alltagskulturen der kleinen Dinge‹ spricht als von jenen politischen Rahmungen, die Kracauers Blicke – und Kracauer’sche Blicke – auf zunächst Übersehenes erst sinnvoll machen. Etwas, das die ganze Zeit über mit im politisierten Raum steht und unerwartet in den Vordergrund tritt, das ist, einem prominenten Kracauer-Text zufolge, der Faschismus. Der Text ist »Abschied von der Lindenpassage« aus dem Jahr 1930. Darin deutet Kracauer die deutsche Gesellschaft in der Gestalt einer Berliner Einkaufspassage; und über diese Gesellschaft als Passage schreibt er am Textende, dass sie »später einmal wer weiß was ausbrüten wird – vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts. Was sollte noch eine Passage in einer Gesellschaft, die selber nur eine Passage ist?«22
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Das Buch ist From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film. Princeton 1947. Vielleicht unerwartet: Ich bin ja da nicht der einzige. SK: »Abschied von der Lindenpassage« [FZ 21.12.1930] OdM, S. 332. Kracauer schreibt »Fascismus« gemäß dem italienischen Herrschaftsmodell und dessen Schreibweise.
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Drehli Robnik: Flexibler Faschismus
Alle sieben Kapitel dieses Buches gehen von diesen Kracauer-Sätzen aus dem Jahr 1930 aus, vor allem von der Formulierung »Faschismus oder auch gar nichts«. Im Licht politischer Problemlagen und Konfliktsituationen der Gegenwart geht es hier zunächst um Kracauers Faschismus-Schriften; und es geht weiters mit diesen Schriften (sowie im Kontext zeitgenössischer und aktueller Ansätze zum Thema) um sieben Aspekte der in der Lindenpassage anvisierten Beziehung von Faschismus und/oder nichts. Nämlich: •
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Kapitel 1: Mit Schwerpunkt auf das »oder« geht es um die Nicht-Unausweichlichkeit im Geschichtsverlauf und um das Nicht-im-Vorhinein-Wissen in der Auffassung der Geschichtlichkeit von Faschismus. Kapitel 2: Mit Schwerpunkt auf die Passage durch das Nichts bzw. durch das Nicht-Sein ist hier gesellschaftliche Kontingenz und wie sie politisiert wird das Thema; sowie weiters die Frage nach antifaschistischen Bündnissen und Subjekten. Kapitel 3: Die Masse als Passage, als Übergang, führt zu soziologischen Perspektiven auf Faschismus, zumal auf den »Aufruhr der Mittelschichten«. Kapitel 4: Mit Schwerpunkt auf dem Nichts geht es um das Ausmaß, in dem Faschismus flexibel ist: eine Ideologie des Nihilismus und der entfesselten Mobilität – und insofern gar nicht so weit weg vom Neoliberalismus. Kapitel 5: Hier liegt der Schwerpunkt auf einem Nichts, das als Lücke und Rest gegenüber faschistischer Totalisierung in Erscheinung tritt; sowie auf feministischem Antifaschismus im Zeichen einer Stärke der Schwäche. Kapitel 6: Nach 1945 läuft vieles so weiter, als wäre nichts passiert: Vor diesem Hintergrund, sowie auf zweite Blicke hin geht es um Antisemitismus und um den Holocaust. Kapitel 7: Ausgehend von dem Nichts an Politik, das zu bleiben scheint, d.h., von postfaschistischer Entpolitisierung, geht es zur Gegenwart: zu laufenden Faschisierungsprozessen und zurückzugewinnenden lost causes einer politischen Orientierung.
Wien-Erdberg, Juli 2023
1. »Vielleicht Faschismus oder auch gar nichts« – Geschichte: Kontingenz wider besseres Wissen Kontingent ist, was ein Nicht berührt. Deshalb kann Geschichte kontingent heißen. Sie ereignet sich, wo etwas aussetzt. – Was geschieht, ist Abschied. Werner Hamacher 1
Im Dezember 1930 veröffentlicht Siegfried Kracauer als Feuilletonist der Frankfurter Zeitung den Artikel »Abschied von der Lindenpassage«. Er handelt von einer (realen) Berliner Einkaufspassage mit abgetakelten Läden und Sortimenten, deren Rahmenarchitektur eben renoviert wird. Kracauer liest und beschreibt diese Versammlung mickriger Allzweckwaren als eine Allegorie der aktuellen deutschen Gesellschaft: Diese Gesellschaft präsentiert sein Text als Versammlung von verdinglichten Existenzen – Wesen unter Bedingungen der Warenwirtschaft – ohne soziale Zugehörigkeit, sowie als eine Ordnung, die den Umstand, wie sehr sie in Unordnung ist, kaum mehr kaschieren kann. Insbesondere in dieser Passage, die Kracauer als eine Einsichtsvorrichtung handhabt, tritt dies zutage: Nicht nur zeigt sich das WarenSammelsurium und mit ihm die warenproduzierende Gesellschaft als ein Chaos, das die »Fassadenkultur« des »bürgerlichen Idealismus« Lügen straft.2 Sondern diese Gesellschaft ist auch konflikthaft politisiert, bis an den Rand eines Bürgerkriegs, der alle Politik in Gewalt auflöst. Kracauer spricht davon, dass die Schaubuden der Passage und der »Krimskrams«, der dort »in Massen auf[tritt]«, im Verhältnis zur »Fassadenkultur« und ihren herrschaftlichen Rahmungen »Ausgestoßene« sind, die nur »eine Art von Aufenthaltsrecht« 1 2
Werner Hamacher: »95 Thesen zur Philologie« (Thesen 33 und 34) in: Was zu sagen bleibt. Schupfart 2019, S. 60. SK: »Abschied von der Lindenpassage« [FZ 21.12.1930] OdM, S. 331.
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Drehli Robnik: Flexibler Faschismus
(kein wirkliches) haben; die Objekte erleben hier eine »Zurücknahme von der bürgerlichen Front«; und schließlich: »Man exekutierte sie«, »verbannte sie ins innere Sibirien der Passage«; sie sinken ins »Marmormassengrab«; aber es kann auch geschehen, dass die »Erniedrigt[en]« »sich zusammenscharen« zu einer »wirksame[n] Protestaktion«.3 Dieses verdichtete Gesellschaftspanorama mündet in eine Art Vorhersage. Kracauer beendet seinen Artikel mit den Worten, dass die Passage mit ihrer modernisierten Architektur »später einmal wer weiß was ausbrüten wird – vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts. Was sollte noch eine Passage in einer Gesellschaft, die selber nur eine Passage ist?«4 Als Kracauer dies 1930 schreibt, hat er bereits einige Texte publiziert, die mit Andeutungen künftiger gesellschaftlicher Veränderungen enden. Diese Textenden spielen mit einem prophetischen Gestus. Das ist im Kontext von Kracauers marxistischer Orientierung zu verstehen (die er, zumal als Feuilletonist einer liberalen Tageszeitung, verhalten aber doch äußert), und das hat mitunter einen (zarten) messianischen Nachklang. Manche dieser Textenden zählen zum Kracauer-Kanon. Da ist etwa die Feststellung »Dann wird die Gesellschaft sich ändern.« am Ende von »Das Ornament der Masse«: Ändern wird sie sich, wenn die Massen sich in der Wahrheit ihrer gesellschaftsformenden Handlungsmächtigkeit realisieren.5 Oder da ist, im Aufsatz »Die Photographie« aus demselben Jahr 1927, die »Ahnung der richtigen Ordnung« der Wirklichkeit: Diese Ahnung – diese Zukunftsvision, die er unausgemalt lässt – wird wirkmächtig in dem Maß, wie im Alltag die »Vorläufigkeit aller gegebenen Konfigurationen« von Gesellschaft zum Vorschein gebracht wird; und das geschieht durch Kritik an der bestehenden Ordnung der Wirklichkeit und an ihren Ansprüchen, dauerhaft zu sein. (Wir kommen noch oft darauf zurück.)6 1926 schreibt er vom nahenden »Umschlag«, der davon abhängt, dass die Masse sich mit der bloßgestellten »Unordnung« der Gesellschaft konfrontiert – ähnlich wie angesichts des Waren-Chaos der Lindenpassage.7
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Ebd., S. 326ff, 331. Die Ausgestoßenen haben kein wirkliches Aufenthaltsrecht, schreibt er – »wie Zigeuner, die nicht in der Stadt, sondern nur an der Landstraße lagern dürfen« (ebd., S. 327). Er bedient hier nicht ein Stigma, sondern deutet ein Unrecht an. Ebd., S. 332. SK: »Das Ornament der Masse« [FZ 9./10.6.1927] OdM, S. 63. SK: »Die Photographie« [FZ 29.10.1927] OdM, S. 39. SK: »Kult der Zerstreuung. Über die Berliner Lichtspielhäuser« [FZ 4.3.1926] OdM, S. 315.
1. »Vielleicht Faschismus oder auch gar nichts«
Kracauers Erwartungen kommender Veränderungen gelten zunächst meist einem Umschlag, sind also Revolutionsgedanken. Dass er sie andeutungsund mitunter rätselhaft formuliert, ist nicht nur ein Zugeständnis an deren bürgerliche Publikationskontexte. Sondern das markiert auch seinen Vorbehalt gegen die Planungs- und Prognose-Seligkeit jener Organisationen, die gleichsam für Revolution zuständig sind: seinen Vorbehalt gegen den deterministischen Partei-Marxismus – gegen dessen Vorstellung, man wisse ganz sicher, wie die Geschichte verlaufen wird. Der »Abschied von der Lindenpassage« und dessen Textende, das ist nun aber keine Revolutionsvorhersage. Keine mehr: Dieser Aufsatz von Ende 1930 ist bereits ein Abschied von solchen Zukunftshoffnungen. Die bürgerliche Gesellschaftspassage »[wird] später einmal wer weiß was ausbrüten – vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts.«8 Dieses prognostische Ende setzt in gewissem Sinn einen Endpunkt auch zu Kracauers Gesamtwerk, zumindest zu der kanonischen Gesamtheit seiner deutschsprachigen Essays in ihrer Verbreitung, denn: Der Lindenpassage-Artikel ist als einziger längerer Text in beiden Aufsatzsammlungen enthalten, die Kracauer gegen Ende seines Lebens, Mitte der 1960er Jahre, selbst noch zusammengestellt hat. Mehr noch: Im Fall der Aufsatzsammlung Straßen in Berlin und anderswo von 1964 bilden die Schlusssätze des »Abschieds von der Lindenpassage« eine Art tagline – hier: Autorenzitat als Klappentext – auf der Coverrückseite und somit einen Auftakt zur Lektüre dieses Buches.9 Im Fall der bekannteren Sammlung Das Ornament der Masse von 1963 endet das ganze Buch mit dem LindenpassageAufsatz und ergo mit der Frage, was eine Passage in einer Gesellschaft soll, die selbst nur Passage ist, und ob ebendiese den Fasc(h)ismus oder gar nichts ausbrüten wird. Was hat somit das letzte Wort?
1.1
Faschismus-Vorahnungen und ihre späten Echos
Dieses letzte Wort, dieses Textende, ist ein mehrdeutiges Wort. Jedoch: Heute wissen wir längst, dass es im Deutschland der frühen 1930er nicht zu einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft gekommen ist, auch nicht zum Fortbestand bürgerlich-parlamentarischer Verhältnisse, sondern zu Kanzlerdiktaturen und dann zur Nazi-Herrschaft. Im Rückblick aus diesem Wissen 8 9
SK: »Abschied von der Lindenpassage«, S. 332. Zumindest bei der Berliner Arsenal-Ausgabe 1987.
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1. »Vielleicht Faschismus oder auch gar nichts«
Kracauers Erwartungen kommender Veränderungen gelten zunächst meist einem Umschlag, sind also Revolutionsgedanken. Dass er sie andeutungsund mitunter rätselhaft formuliert, ist nicht nur ein Zugeständnis an deren bürgerliche Publikationskontexte. Sondern das markiert auch seinen Vorbehalt gegen die Planungs- und Prognose-Seligkeit jener Organisationen, die gleichsam für Revolution zuständig sind: seinen Vorbehalt gegen den deterministischen Partei-Marxismus – gegen dessen Vorstellung, man wisse ganz sicher, wie die Geschichte verlaufen wird. Der »Abschied von der Lindenpassage« und dessen Textende, das ist nun aber keine Revolutionsvorhersage. Keine mehr: Dieser Aufsatz von Ende 1930 ist bereits ein Abschied von solchen Zukunftshoffnungen. Die bürgerliche Gesellschaftspassage »[wird] später einmal wer weiß was ausbrüten – vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts.«8 Dieses prognostische Ende setzt in gewissem Sinn einen Endpunkt auch zu Kracauers Gesamtwerk, zumindest zu der kanonischen Gesamtheit seiner deutschsprachigen Essays in ihrer Verbreitung, denn: Der Lindenpassage-Artikel ist als einziger längerer Text in beiden Aufsatzsammlungen enthalten, die Kracauer gegen Ende seines Lebens, Mitte der 1960er Jahre, selbst noch zusammengestellt hat. Mehr noch: Im Fall der Aufsatzsammlung Straßen in Berlin und anderswo von 1964 bilden die Schlusssätze des »Abschieds von der Lindenpassage« eine Art tagline – hier: Autorenzitat als Klappentext – auf der Coverrückseite und somit einen Auftakt zur Lektüre dieses Buches.9 Im Fall der bekannteren Sammlung Das Ornament der Masse von 1963 endet das ganze Buch mit dem LindenpassageAufsatz und ergo mit der Frage, was eine Passage in einer Gesellschaft soll, die selbst nur Passage ist, und ob ebendiese den Fasc(h)ismus oder gar nichts ausbrüten wird. Was hat somit das letzte Wort?
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Faschismus-Vorahnungen und ihre späten Echos
Dieses letzte Wort, dieses Textende, ist ein mehrdeutiges Wort. Jedoch: Heute wissen wir längst, dass es im Deutschland der frühen 1930er nicht zu einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft gekommen ist, auch nicht zum Fortbestand bürgerlich-parlamentarischer Verhältnisse, sondern zu Kanzlerdiktaturen und dann zur Nazi-Herrschaft. Im Rückblick aus diesem Wissen 8 9
SK: »Abschied von der Lindenpassage«, S. 332. Zumindest bei der Berliner Arsenal-Ausgabe 1987.
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Drehli Robnik: Flexibler Faschismus
heraus liest sich das schwerlich anders denn als ominös: die Gesellschaft, die eine Passage ist und »später einmal wer weiß was ausbrüten wird – vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts«. Diese Worte verlieren im heutigen Rückblick etwas von ihrer Uneindeutigkeit und Andeutungshaftigkeit. Das »wer weiß was«, das »oder«, das »auch gar nichts«, auch die Flapsigkeit dieser Formulierung, das geht im retrospektiven Vorstellungsbild von braunen Wolken, die sich über Deutschland zusammenbrauen, verloren. Und das Bild vom Ausbrüten tritt mit einer machtvollen Anmutung von Zwangsläufigkeit in den Vordergrund, als düstere Vorahnung mit mehr als nur einem Touch von ›Es kommt, wie es muss‹… Wenden wir uns dem kurz zu: der Vorstellung von Notwendigkeit in der Geschichte, von Unvermeidlichkeit, was deren Verlauf betrifft. Es ist wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, weil daraus nicht zuletzt eine Anmutung von fatalistischer Entmächtigung in politischer Hinsicht entsteht. Eine, die akut wird, auch heute, im Verhältnis zu faschistischen Bewegungen und zu alt- und neurechten Politik-Machinationen. Ihnen kommt die weit verbreitete Vorstellung, ihr ›Aufstieg‹ sei ›unaufhaltsam‹, sehr entgegen und gelegen: eine self-fulfilling prophecy. – Im Folgenden geht es darum, ein Geschichts- und Politik-Verständnis starkzumachen, das Wirkungen von Zwängen und Herrschaftsroutinen ins Auge fasst, sie aber gerade nicht zum Eindruck notwendiger Entwicklungen stilisiert, sondern sich kritisch positioniert, um anderer Möglichkeiten willen. Sowie mit Blick auf Gegenkräfte, insbesondere im Verhältnis zu Faschisierungsprozessen. Kracauers Schriften sind dabei nützlich. Aber zunächst gilt es eben, die Vorstellung zu konfrontieren, der Geschichtsverlauf führe unvermeidlich zu etwas Bestimmtem, in unserem Fall: zum Faschismus. Diese Vorstellung wird bis heute mit Kracauers lange Zeit bekanntestem Buch verbunden. From Caligari to Hitler, 1947 im New Yorker Exil veröffentlicht, ist eine soziologisch-ideologiekritische Geschichte der zunehmenden politischen Tendenz zur Rechten im Deutschland der Zwischenkriegszeit; diese Geschichte schreibt Kracauer um 1945 anhand der Filme dieser Periode und ihrer wiederkehrenden Motive. Er blickt damit aus kurzer historischer Distanz auf einen Faschisierungsprozess zurück, vor allem auf die Politisierung antidemokratischer Ressentiments der deutschen Mittelschichten, die anhand von Filmen lesbar werden. (Wir kommen darauf in den nächsten Kapiteln zurück.) In der vorherrschende Rezeption von From Caligari to Hitler wird oft eine Unausweichlichkeit hervorgehoben, die der Titel mit suggeriert: Demnach führt da, scheint’s, ein direkter Verlauf unaufhaltsam vom expressionistischen deutschen Horrorfilm Das Cabinet des Dr. Caligari aus dem Jahr 1920, der von einem
1. »Vielleicht Faschismus oder auch gar nichts«
dämonischen Hypnotiseur handelt, zum Reichskanzler Hitler. Mehr noch, die Filme scheinen Hitlers Aufstieg vorweggenommen zu haben. Tatsächlich findet sich im Caligari-Buch manches, das sich wie Prophezeiung liest; das Buch endet auch so: »Germany thus carried out what had been anticipated by her cinema from its very beginning«, und »conspicuous screen characters now came true in life itself. […] »It all was as it had been on the screen.« (CH, S. 272) Anticipation und foreshadowing werden Kracauer zu Schlüsselwörtern: Filme aus der Zeit der Weimarer Republik, ihre Figuren, Motive und Plots, nahmen laut Kracauer vorweg, was Hitler und Goebbels später taten – nämlich Massen aufhetzen, regelrecht hypnotisieren (CH, S. 32, 72, 92, 218). Da liegen drei Fragen nahe, die ich nun kurz erörtere. Erstens: Läuft Kracauers Darstellung »Alles war wie im Film« auf die Vorstellung hinaus, dass Filme (und andere Medien) der Wirklichkeit vorgeben, was diese dann ›bloß noch‹ nachstellt? Eine Vorstellung, wie sie v.a. in Blütezeiten der postmodernistischen Folklore verbreitet war (kurzgriffig gelabelt als »Simulation«). Ich würde meinen, dass Kracauer hier erstens weniger und zweitens etwas anderes tut (denkt, schreibt). Weniger, weil der Hinweis darauf, dass bestimmte politische Führungsgestalten und Rituale wie Figuren und Szenen aus Filmen wirken, zu Zeiten des historischen Faschismus häufig getätigt wurde.10 Anderes, weil – das führt zur zweiten Frage. Zweitens: Beschwört Kracauer mit seinem »Alles war wie im Film« nicht ein Geschichtsbild herauf, das von der Unausweichlichkeit eines Verhängnisses geprägt ist? Nun, wenn er über Weimar-deutsche Filme schreibt – vor allem düstere Filme, in heutiger Diktion: Horrorfilme, Psychothriller, Großstadtalpträume, Historienfilme mit Untergangs-Obsession –, und wenn er uns dann nahelegt, dass nationalsozialistische Wirklichkeit so war wie in diesen ihr vorhergehenden Filmen, dann gibt er uns damit ja zunächst eine Umkehrung zu denken auf; eine Umkehrung der klassischen Logik der Repräsentation (wie sie heute noch durchs Alltagswissen geistert). Dieser Logik zufolge bilden Filme (und andere mediale Wirklichkeitsvermittlungen) etwas ab, das die Wirklichkeit vorgibt, und sie sollten beim Abbilden dieses Modells originalgetreu sein. Jedoch: Kracauers Caligari-Buch, ja, sein insgesamter Begriff von Realismus
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Das reicht von der Einschätzung »They looked like characters in a musical comedy« und »Mussolini beat his chest like Tarzan« im US-Propagandafilm Why We Fight: Prelude to War (1942) bis zu dem Urteil des sozialistischen Faschismus-Analytikers Ignazio Silone (Der Fascismus. Seine Entstehung und seine Entwicklung. Zürich 1934, S. 266), der »Karnevals-Cäsar« Mussolini lasse das »italienische Kulturleben wie einen Film wirken«.
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Drehli Robnik: Flexibler Faschismus
läuft (notorischen Missverständnissen zum Trotz) in Sachen Film und auch sonst nicht auf die Vorstellung hinaus, dass Wirklichkeit als Modell aufzufassen und getreulich zu porträtieren wäre. Denn: Weder gibt die Wirklichkeit ein stabiles Modell ab noch liefert sie Abbildungsregeln mit. Die Logik von Modell und Repräsentation greift hier ebenso wenig wie die der Simulation. Wenn Kracauer die Einschätzung ›wie in der Wirklichkeit, so im Film‹ zu ›wie im Film, so in der Wirklichkeit‹ umkehrt, dann resultiert diese Umkehrung eines stabilen Kausalnexus, der der Repräsentation inhärent ist, nicht in einem neuen stabilen Kausalnexus, der halt nur auf den Kopf gestellt wäre. Etwas anderes steht im Raum, unsicherer, poröser; das schematisiert er in der Einleitung seines Caligari-Buches zu dem programmatischen Satz »Effects may at any time turn into spontaneous causes.« Und ebendies, dass Wirkungen zu Ursachen werden können, und zwar jederzeit, das zeige eine bestimmte Sicht auf Geschichte und Gesellschaft: Das ist, so Kracauer, eine Sicht, die dem Leitfaden des Films folgt (CH, S. 9). Eine solche Sicht zeigt nicht, dass die Wirklichkeit zu einem (schlechten) Film geworden ist oder dass die Politik die bessere Comedy ist oder derlei Gemeinplätze mehr. Sondern sie zeigt, dass Kausalreihen oft anders verlaufen als gedacht: Gewohnte Hierarchien zwischen einerseits aktiv bzw. bewirkend und anderseits passiv bzw. bewirkt werdend stehen in Frage. Damit werden auch eingeschliffene Verteilungen fragwürdig zwischen dem, was in einer gesellschaftlichen Situation wichtig und was unwichtig ist, oder dem, was in einem zeitlichen Ablauf prägend und was beiläufig ist. In From Caligari to Hitler schreibt Kracauer Filmgeschichte. Er schreibt nicht die Geschichte des Films der Weimarer Republik (das tun andere), sondern eine politisierte Sozial- und Ideologiegeschichte der Weimarer Republik – und ihrer Faschisierung – vermittels ihrer Filme. Mittels Film Geschichte schreiben, das heißt genau nicht, dass Geschichte nun als besonders bildhaft oder dramatisch erscheinen soll; schon gar nicht, dass sie als rasant oder actionreich daherkommen soll.11 Vielmehr heißt es, dass Geschichte so vermittelt wird, dass beim Blick auf übervertraut und festgelegt scheinende Situationen die Abweichungen in ihnen hervortreten, und somit auch Chancen; Chancen – unbemerkte, auch vergebene – für andere Verläufe und Entwicklungen. Vielleicht brütet die bürgerliche Gesellschafts-Passage den Faschismus aus, schreibt Kracauer; Chancen aber, dass es anders kommt, bestehen. Sie sind allerdings nicht als reichlich sprudelnde Quellen vorhanden. Vor diesem 11
Von Kracauer lässt sich einiges an Tempo-Skepsis in Film- und Politik-Belangen lernen. Siehe dazu seine Mobilismus-Kritik in Kap. 4.1.
1. »Vielleicht Faschismus oder auch gar nichts«
Hintergrund gilt es, Kracauers Buch über die deutsche Faschisierung auf politische Gegenpotenziale hin zu lesen – und auf die Kritik der Versäumnisse, diese zu nutzen. Dritter Frage-Einwand: Sei es in der retrospektiven politischen Fehleranalyse, sei es in Andeutungen von Unausweichlichkeit – ist es nicht so, dass Kracauer in seinem Caligari-Buch, das er gegen Ende des Zweiten Weltkriegs verfasst, sein späteres besseres Wissen um den maximal schlechten Ausgang der Weimarer Geschichte anno 1933 in ein ›Immer schon‹ zurückprojiziert? Nicht selten lautet der Vorwurf, Kracauer verfahre in From Caligari to Hitler im Gestus retrospektiver Prophezeiung; er beschwöre nachgerade düstere Vorahnungen, »dark premonitions«, die in Filmen der Weimarer Jahre enthalten seien.12 Allerdings sind Kracauers Vorahnungen von 1947 Echos: Echos seiner Vorahnungen von 1930 und den Jahren unmittelbar darauf. Es ist keineswegs so, dass ihm, salopp gesagt, nach Hitler einfällt, er könnte doch die Zeit und die Filme vor Hitler mit Faschismus-Vorahnungen drapieren. Vielmehr lässt sich das Caligari-Buch, zumal dessen Schlusssatz von den dark premonitions, als der späte Abschluss einer Reihe von Vorahnungs-Motiven lesen, die Ende 1930 im Lindenpassage-Aufsatz beginnt, in dessen Schlusssatz mit seiner – vielleicht – Faschismus-Ausbrütung. Kracauers kanonisches Caligari-Buch von 1947 überschattet – bzw. färbt den Blick auf – seine weit weniger stark rezipierte vorangegangene jahrzehntelange Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und deutschem Antisemitismus (sowie Mitte/Ende der 1930er auch mit dem italienischen Faschismus13 ): From Caligari to Hitler überschattet etwas, wovon 12
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»It all was as it had been on the screen. The dark premonitions of final doom were also fulfilled.« So lauten der vorletzte und letzte Satz des Buches (CH, S. 272). Den Vorwurf, er beschwöre Vorahnungen, erhebt Leonardo Quaresima in »Rereading Kracauer«, seiner Einleitung zur Neuausgabe von From Caligari to Hitler von 2004 (mit einiger Kritik an Kracauers »›anticipationist‹ hypotheses«: CH, S. xxxviii ff). – In Sachen retrospektive Prophezeiung weist Noah Isenberg auf folgende Ironie hin: 1949 bespricht Kracauer den jüngst erschienenen Roman The Dragon in the Forest des deutschen Emigranten Richard Plant, der im Frankfurt der Weimarer Republik spielt, und lobt den Autor dafür, dass er sich nicht als ein »prophet in retrospect« gebärde. Ebendies aber wurde Kracauer zeitgleich in Kritiken zu seinem Caligari-Buch vorgeworfen: Er spiele den Propheten des Rückblicks, der es immer schon besser wusste. Noah Isenberg: »This Pen for Hire: Siegfried Kracauer as American Cultural Critic« in: Gerd Gemünden, Johannes von Moltke (Hg.): Culture in the Anteroom. Legacies of Siegfried Kracauer. Ann Arbor 2012, S. 37. Davor taucht Mussolinis Faschismus nur kursorisch als Vergleichsreferenz auf; nach 1938 verschwindet er als Thema aus Kracauers Schriften.
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dieses Buch (um in der Kracauer’schen Horror-Motivik bzw. -Rhetorik zu bleiben) zum Teil selbst ein veritabler Wiedergänger ist, nämlich jene Texte Kracauers aus den frühen 1930er Jahren, die ihrerseits reich an Faschismus-Vorahnungen sind.14 So schreibt Kracauer etwa 1931 mit Blick auf eine juridische Reform, durch die in Deutschland künftig die Betriebsdisziplin zu einem Maßstab des Arbeitsrechts werden soll, dies sei »der nächste Weg zum Fascismus bei uns«.15 Und 1930 beschreibt er, wie ein »auf die nationalistischen Instinkte« abzielender, militaristischer deutscher Historienfilm – einer der höchst erfolgreichen Fridericus Rex-Filme – in einem Berliner Kino vorgeführt wird und dem Publikum frenetische Jubelschreie entlockt.16 Diese nationalistische Begeisterung 14
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Auch mit dem rückblickenden Vorahnen von kommendem politischem Unheil beginnt Kracauer bereits 1934, nur ein Jahr nach jenem Herrschaftsbeginn in Deutschland, dem viel Schlimmeres folgen sollte. Er blickt auf eine Vorahnung zurück im Schlusskapitel seines zu Lebzeiten unpubliziert gebliebenen autobiografischen Romans Georg, den er 1934 im Pariser Exil fertigstellt und der während der 1920er Jahre in Deutschland spielt. Das ominöse Berliner Ende von Georg kommentiert er selbst 1934 folgendermaßen: »Der Leser merkt aus der apokalyptischen Beschreibung der dunkelnden Stadt, daß ein gewaltiger Sturm die im Roman dargestellte Welt vernichten wird.« SK: »Inhaltsangabe meines Romans« [Typoskr., 1934] 7, S. 614. Und über den Protagonisten von Georg, einen schlussendlich wegen politischer Divergenzen aus der Redaktion entlassenen linken Feuilletonisten bei einer immer mehr nach rechts rückenden, vormals liberalen deutschen Tageszeitung (unverkennbar ein Abbild von Kracauers Tätigkeit und Rauswurf bei der Frankfurter Zeitung), schreibt er summarisch: »Klar, hell, illusionslos bleibt er zurück.« SK: »Analyse meines Romans« [Typoskr., 1934] 7, S. 605. SK: »Fascistische Rechtsprechung« [FZ 19.7.1931] 5.3, S. 597. Es handelt sich hier um Kracauers zustimmende Besprechung einer Studie von Otto Kahn-Freund über das »soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts«: Dieses Ideal, diese sozialtheoretische Grundlegung, sei »fascistisch«, weil einem »romantisch-militärische[n] Begriff von Betriebsgewalt« und »Betriebsdisziplin« verpflichtet (dies mehr als dem Zweck der Austragung und Schlichtung von arbeitsrechtlichen Konflikten) (ebd., S. 596). Auch in diesem angewandten, fokussierten Zusammenhang bringt Kracauer sein Votum für ein Erkenntnisverfahren zum Ausdruck, das durch »engst[e] Tuchfühlung mit der Praxis«, sowie mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit insgesamt, »Selbstbegrenzung« üben soll: »So ist es immer: unsere Erkenntnisse sind desto tragfähiger, je dichter sie sich der Wirklichkeit anschmiegen.« (Ebd., S. 596f) Zu Kracauers Realismus der (Selbst-)Begrenzung in politischer Perspektive siehe Kap. 4.4. Der von Kracauer vor allem anhand der Kinosituation besprochene Film ist Das Flötenkonzert von Sanssouci (D 1930); dieses (heutig gesagt) Biopic bejubeln bei der Berliner Gala-Vorführung nicht nur die »jungen Burschen unter den Nationalsozialisten, die den Krieg gar nicht kennen«, sondern – wie Kracauer angesichts eines Films, der so
1. »Vielleicht Faschismus oder auch gar nichts«
kommentiert er als exemplarisch für die »Verwechslung der nationalsozialistischen Illusionen mit Idealen« und prognostiziert: Wenn das »Sehnen« der »Massen« nicht »gute, menschenwürdige Ziele« erhalte, dann »werden ihre Explosionen fürchterlich sein.«17 Es geht hier nicht darum, darzulegen, dass oder inwiefern Kracauers Vorahnungen und andeutungshaften Prognosen in Sachen Faschismus um 1930 besonders ›originell‹ waren. Erstens ist er (no, na) bei weitem nicht der einzige deutsche Autor, der zu dieser Zeit Befürchtungen über eine Herrschaft der disruptiven und autoritären Rechten äußert. Zweitens geizen die Nazis selbst nicht mit Vorhersagen über ihre kommende Herrschaft; sie prophezeien, versprechen, drohen, geben ›Vorgeschmäcker‹. So wie auch die heutige extreme Rechte: Laut Paul Mason sind viele öffentliche Aktionen,
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bald nach 1918 wieder deutsche Kriegsglorie feiert, bestürzt feststellt – auch »Mütter, deren Söhne vielleicht gefallen sind«, geraten in »Rauschzustand«, verfallen in »Feldgeschrei« und »Gebrüll«: SK: »Der bejubelte Fridericus Rex« [FZ 23.12.1930] 6.2, S. 433. Ebd. – Auch die Gruselmotivik, anhand derer er im Caligari-Buch auf Hitlers Aufstieg zurückblickt, prägt schon einige seiner Ausblicke in Sachen Faschismus in den 1930er Jahren. So schreibt er 1938 am Ende seiner Studie zur Propaganda und Politik Deutschlands und Italiens, dass diese auf koloniale Eroberungskriege zusteuert, und beendet diesen Text – einmal mehr quasiprophetisch – mit dem Satz: »Hinter dem Tumult der totalitären Propaganda taucht ein Totenkopf auf.« (TP, S. 156) Und schon 1933, in einem FZ-Artikel über Berliner Kultur-Events, der kurz nach Amtsantritt der Koalitionsregierung Hitler/Von Papen erscheint, zehn Tage vor seiner Flucht aus Deutschland, schreibt er vorahnungsvoll über das Vorahnen selbst, nämlich anhand der Tätigkeit des Hellsehens. Hellsehen kann denen, die es öffentlich betreiben, Probleme einhandeln: Damit treibt Kracauer hier bitteren Scherz; dies in einem Ausdruck von (Selbst-)Zensur, der zugleich deren Kritik ist. Er habe, schreibt er, angesichts der »Zuckungen unseres politischen Lebens« den »Eindruck«, »daß sich das gesellschaftliche Leben in diesem Jahr« – Februar 1933! – »stärker als im vergangenen entfaltet. Wenn man die glänzenden Bilder betrachtet, die es bietet, hat man durchaus das Gefühl, als gingen wir wieder einmal herrlichen Zeiten entgegen.« SK: »Berliner Nebeneinander [Teil IV]« [FZ 17.2.1933] 6.3, 147f. Im selben Text stellt Kracauer die Publikumsbegeisterung bei der Varieté-Vorführung eines Hellsehers – dessen Charakteristika als charismatischer Prophet implizierend – in kaum verhohlene Analogie zu aktuellen nationalen Berauschungen im neuerdings von Hitler regierten Deutschland: »Sie fliehen aus der Verzweiflung in den Rausch, schieben die Vernunft beiseite, die sie nur quält, und vertrauen sich einem Hellseher an, um selber nichts mehr hell sehen zu müssen.« Und weiter: »Schade nur, daß Fragen [an den Hellseher, DR], die sich aufs politische Gebiet erstrecken, ausdrücklich untersagt sind. Man hätte gar zu gern gehört, wohin der Weg geht und wie das Programm für die nächsten Jahre beschaffen ist. […W]er öffentlich hellsieht, kann sich nicht genug vorsehen.« S.K.: »Berliner Nebeneinander [Teil I-III]« [FZ 17.2.1933] 5.4, S. 377f.
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zumal Gewalthandlungen, des heutigen Faschismus und Rechtsextremismus nicht nur symbolisch, sondern »präfigurativ« angelegt: Sie geben Ausblicke auf einen kommenden Zustand – auf den Tag X der rechten prepper-Mythen, an dem Gegner*innengruppen liquidiert und Minderheiten mit offener Gewalt verfolgt werden.18 Drittens befasst sich Kracauer mit Faschisierungsprozessen fast von deren Anfängen an immer wieder – zunächst, bald nach Beginn seiner Laufbahn als Zeitungsautor, in besorgten Bemerkungen zur Politisierung von Antisemitismus; später in immer umfangreicheren Aufsätzen und Studien in Buchlänge; das umfasst ein Vierteljahrhundert publizistischer Tätigkeit.19 Viertens sind Kracauers Einsichten zu Faschismus und Nationalsozialismus nie bloß Erkenntnisse (bei denen die Frage nach ›Originalität‹ angebracht sein könnte), sondern hartnäckige Eingriffe in Öffentlichkeiten, deren Debatten und Positionskämpfe. Und fünftens agiert Kracauer selbst gerade nicht als ›Hellseher‹, nicht als »Faschismusorakel«20 – nicht als Subjekt einer einzigartigen Erkenntnis, das auftrumpfen könnte »Ich weiß schon, was kommt!« bzw. »Ich hab’s ja damals schon gewusst!«. Sondern: Er bezieht in seinen Texten zum Faschismus einige Male markant die Position eines strategischen Nichtwissens. Was heißt das? Faschismus tritt als etwas in Erscheinung, das nicht auf vertraute Schemata reduzierbar ist: Die Gesinnung, die er organisiert, die Gewalt, die er verbreitet, das ist etwas, das Gesellschaft durchdringt und daher umso weniger leicht festzumachen ist. Das legt Kracauer nahe, vielmehr: Ein solches ahnungsvolles Gefühl moduliert er im Spukszenario eines FZ-Artikels vom Juli 1930. Der Artikel thematisiert und heißt »Schreie auf der Straße«. Ebensolche hört der IchEzähler im Text immer wieder im gutbürgerlichen Berliner Westen; sie sind, schreibt er, anders als der Lärm des politischen Straßengeschehens in proletarischen Vierteln, die er mit »Arbeiterdemonstrationen« und »rote[n] Fahnen« assoziiert. Die bürgerlichen Straßen bzw. Welten hingegen sind leer: »Ist 18 19
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Paul Mason: How to Stop Fascism: History, Ideology, Resistance. London 2021, S. 19. Das geht bis zu seinem Aufsatz »The Decent German« von 1949 (siehe Kap. 7.1), und es beginnt Anfang 1923: Einen Roman Upton Sinclairs rezensierend, erwähnt er den »Terror amerikanischen Fascistentums« (»Upton Sinclair« [FZ 12.1.1923] 5.1, S. 553); später erwähnt er das »Treiben der Hitlerleute« (»Judentum und Staat« [FZ 6.2.1923] 5.1, S. 574), »Hitler-Unwesen in München« und »blindwütigen Revanche-Nationalismus« (»Aktiver Pazifismus« [FZ14.3.1923] 5.1, S. 585) und das »Treiben Hitlers und seiner Sturmtruppen« (»Aus Zeitschriften« [FZ 8.7.1923] 5.1, S. 653). Zu Kracauers journalistischen Stellungnahmen zum Antisemitismus siehe Kap. 6.1 und 6.2. Der Ausdruck stammt von Bert Rebhandl.
1. »Vielleicht Faschismus oder auch gar nichts«
es diese Leere, die sie für Sekunden so unheimlich macht?«21 In dieser Leere hört er immer wieder Schreie; wobei allerdings »man nie ihren Grund erfährt«. Nach dem Grund und der Bedeutung der Schreie fragt er aber den ganzen Artikel hindurch: Die hörbaren Wirkungen sind nicht zurückführbar auf bestimmte Ursachen; sie suchen sich neue Ursachen. Der Text erteilt am Ende auf die Frage nach dem Grund der Unheimlichkeit eine weit gefasste Antwort, indem er die Straßen, den gesellschaftlichen Raum selbst, als Grund angibt – dabei aber zugleich das Antworten zurücknimmt und die Frage aufrechterhält, nämlich in den Schlusssätzen: »Heute vermute ich, dass nicht die Menschen in diesen Straßen schreien, sondern die Straßen selber. Wenn sie es nicht mehr ertragen können, schreien sie ihre Leere heraus. Aber ich weiß es wirklich nicht genau.«22 Die Straßen, zu denen sich Gesellschaft verdichtet, schreien heraus, und die Einkaufspassage, zu der sich Gesellschaft verdichtet, brütet den Faschismus oder auch gar nichts aus – im Lindenpassage-Aufsatz, den Kracauer im selben Jahr 1930 veröffentlicht (und den er in seiner Straßen-Aufsatzsammlung von 1964 unmittelbar nach »Schreie auf der Straße« platziert). Etwas ausbrüten, das tut Berlins gebauter Raum auch in »Schreie auf der Straße«, in dem es heißt, »daß die weite Platzfläche einen Skandal ausbrütete«, und zwar in einer »Atmosphäre«, die »mit einer unerträglichen Spannung geladen« ist, ja, mit »Sprengstoff«, »der im nächsten Augenblick eine Explosion hervorrufen kann«. Gegenüber dieser Explosionserwartung nimmt nun eine Manifestation faschistischer Gewalt, nämlich ein Übergriff eines SA-Trupps gegen Gäste eines Cafés, den Kracauer wie nebenbei vermerkt, eine zwiespältige Rolle ein: So »richtig ein Krach« war das, schreibt er, einer, den die Polizei rasch beendet; »durch den nationalsozialistischen Radau [war] die Luft bereits wieder gereinigt worden«. Allerdings habe er, fährt er fort, »eigentlich nicht diesen Krach erwartet, sondern einen anderen, der gar keine bestimmte Herkunft hätte haben dürfen«.23 An die Stelle dieses unbestimmten Ausbruchs, der aus dem Nichts bzw. von der Leere her kommt, die die Straßen selbst herausschreien, 21
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SK: »Schreie auf der Straße« [FZ 19.7.1930] Straßen, S. 22. Die Leere ist etwas, das Kracauer (und ja nicht nur er) an der modernen Welt insgesamt häufig feststellt; wobei ihre Unheimlichkeit noch bekräftigt, dass diese Leere nicht nur ein Übel ist: Vielmehr verdeutlicht sie auch eine Wahrheit über die jeweilige (meist urbane) Welt, was wiederum einen Funken Hoffnung in sich trägt. Siehe in diesem Kontext etwa Kracauers Gedanken zur Leere des von den Nazis besetzten Paris in Kap. 5.5. Ebd., S. 23. Ebd., S. 21f.
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tritt ein Ausbruch von Nazi-Gewalt im urbanen Alltag. Der Passage, die »wer weiß was ausbrüten wird – vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts« (so das Lindenpassage-Textende), geht hier ein Nichts (Leere) voran, das Entsetzensausbrüche oder Ausbrüche von Faschismus ausbrütet. »Aber ich weiß es wirklich nicht genau.« Diese Schluss-Signatur, noch stärker als das »wer weiß was« in der Lindenpassage, schließt eine Reihe von Markierungen von Nichtwissen ab, die den Schreie-Text durchziehen: »Woher er [der Schrecken, DR] stammt? Ich weiß es nicht.« zu Beginn; »Ich wiederhole, daß ich es nicht weiß.« – nicht weiß, was die Leere »so unheimlich macht« – in der Mitte des Texts.24 Dadurch zeichnet Kracauer zum einen das (Hör-)Bild einer bürgerlichen Welt, auf der, in der, ein Schrecken lastet; ein Schrecken, dem NaziGewalt in Form eines Radaus der SA eine gewisse Abfuhr verschafft. Zum anderen hält er die unheimliche Ahnung aufrecht, dass da noch mehr ist und noch mehr kommt. Dass das Mehr an Schrecken und Schreien in den Straßen, in Berlin und anderswo in Deutschland, mit dem Nazi-Radau in eins fallen wird, vielmehr mit dessen Steigerung weit über SA-Prügeleien hinaus – das steht im Juli 1930 ominös als Möglichkeit im Raum, im Text.25
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Ebd., S. 21ff. »Straßen, aus denen kaum ein Laut drang – sicher schrien sie manchmal nachts, wenn sie die Leere nicht länger ertrugen.« Diese Paraphrase aus dem Schreie-Artikel baut Kracauer später in den Berlin-Schlussabsatz seines Romans Georg (7, S. 515) ein, der, wie er selbst sagt (siehe oben, Fußn. 14), ein schlimmes Ende der Dinge in Deutschland vorherahnen lässt. – »Schreie auf der Straße« ist ein Vorgänger zu Kracauers Lindenpassage-Artikel und ein Nachfolger zu seinem Artikel »Worte von der Straße«, zwölf Tage zuvor in der FZ. Auch in diesem Text verbindet er Nazi-Gewalt auf der Straße mit Prognosen (zum »nächsten Krieg«) rund um die Anmutung ursprungsloser Stimmen. Nämlich: Zum einen kritisiert er, wie die Reklame das Wort »rücksichtslos« positiv konnotiert (»›rücksichtslos herabgesetzt[e]‹« Preise), und er fährt ironisch fort: »So ist unsere Steuerpolitik bei weitem nicht rücksichtslos genug, und von den Hitlerleuten etwa wäre zu fordern, daß sie sich wenigstens auf der Straße rücksichtslos eines gesitteten Betragens befleißigten.« (SK: »Worte von der Straße« [FZ 7.7.1930] 5.3, S. 272) Danach kommentiert er Lautsprecherdurchsagen auf Bahnhöfen als ein Kommando aus dem Nichts, ein »Signal, das allen und daher niemandem gilt«: »Sein rauher militärischer Klang verwandelt die zerstreuten Publikumsgruppen in eine geschlossene Schützengrabenkompagnie […]. Das kann gut werden im nächsten Krieg, wenn zu den leibhaft anwesenden Kommandos noch die drahtlosen kommen.« (Ebd., S. 273)
1. »Vielleicht Faschismus oder auch gar nichts«
1.2 Nichts als Maske (und ›die Mitte‹ über alles): Nachträglichkeit – Wiederaufnahme eines Kampfes statt Wissen in Distanz ›Kracauers Nichtwissen‹, als ein einstweiliges, als eine Positionierung: Damit meine ich eine Wissenskritik, die seine politisch situierten Analysen begleitet; seine Kritik an Posen des unbeirrbaren Bescheidwissens über insbesondere Nationalsozialismus und Faschismus. Diese Kritik hat einen demokratischen Aspekt, einen zeitlichen Aspekt in Hinblick auf Geschichte, sowie einen quasiräumlichen in Hinblick auf Kontakt versus Distanz. Erstens: Der demokratische Aspekt des Umstands, dass Kracauer nicht vorgibt, in Sachen (Nazi-)Faschismus auf Anhieb Bescheid zu wissen, zeichnet sich eingangs seiner Studie Totalitäre Propaganda ab. In dieser 1936–1938 im Pariser Exil verfassten Studie zitiert er den sozialistischen Historiker Arthur Rosenberg, der schreibt, dass Faschismus »weiter nichts als eine moderne, volkstümlich maskierte Form der bürgerlich-kapitalistischen Gegenrevolution« sei. Heißt es im Lindenpassage-Aufsatz »Faschismus oder auch gar nichts«, so heißt es bei Rosenberg also – in Hinblick auf Erkenntnis – »Faschismus ist weiter nichts«: nichts, was nicht ohnedies schon durchschaut wäre. Wo etwas als nichts oder als nichtig abgetan wird, als irrelevant oder etwas, das eh alle wissen, da schaut Kracauer, schlicht gesagt, genau hin. Das betreffende Zitat kommentiert er so: Die Ansicht von Rosenberg, und bei weitem nicht nur von ihm, nämlich die »Betrachtungsweise, die in ein solches ›weiter nichts‹ mündet«, sei politisch grundfalsch, und sie habe zur »Niederlage der Linksparteien in Italien und Deutschland« beigetragen. Dies weil diese Parteien – wie wir in den nächsten Kapiteln mit Kracauer erörtern werden – an einem zu eng gefassten Politik-Verständnis festhielten, entlang von Kategorien der Klasseninteressens-Vertretung und des Hauptwiderspruchs von Lohnarbeit und Kapital; dem gegenüber erschien Faschismus als weiter nichts: bloße Klassenpolitik, die sich tarnt. Kracauer geht nun auf Rosenbergs Maskierungs-Metapher näher ein, mit einem Einwand, durch den er darauf aufmerksam macht, wie eigendynamisch die Maske ist: »Aber warum maskiert sich diese [bürgerlich-kapitalistische Gegenrevolution, DR] gerade so und nicht anders […]?« Dem fügt er hinzu, man dürfe »nicht gleich die Demaskierung vorwegnehmen, so als wisse man selbstverständlich schon, wer sich zu verbergen beliebt – man weiß es eben nicht – und als ob der ganze
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Mummenschanz lediglich für die Dummen nötig sei« (TP, S. 12f). Was ist nun der demokratische Aspekt an diesem Hinweis?26 Es geht um die Massen an »Dummen«: um die Anders-Bewertung ihres Nichtwissens in Hinblick auf Wahrheitsfähigkeit. Gerade jene, die sich angesichts neuer sozialer und politischer Sachverhalte in ihrem durchschauenden Wissen erhaben fühlen, nämlich über all die Getäuschten, Verblendeten, Ungebildeten ›da draußen‹, gerade diese Wissenden erliegen einer (Selbst-)Täuschung. Kracauer kritisiert hier eine Hierarchie, die auf Zuschreibungen von Erkenntnisfähigkeit aufruht: Die Gebildeten wähnen sich zu Unrecht im Besitz der Wahrheit über aktuelle Gesellschaftszustände; mehr an Wahrheitsfähigkeit – gar eine andere, weniger besitzförmige Wahrheit – ist bei jenen Massen situiert, die in ihrer Subjektivität als zerstreut (oder als »die Dummen«) abgewertet werden. Etwas in dieser Art hat Kracauer schon Ende der 1920er Jahre anhand neuer Formungen massengesellschaftlicher Alltagserfahrung zum Ausdruck gebracht: in »Kult der Zerstreuung« und »Das Ornament der Masse«.27 So wie Zerstreuung in diesem Sinn nicht einfach eine Konzentrationsstörung ist, sondern auf ein potenzielles Erkennen verweist, das nicht die in sich gesammelte Einzelperson zur Grundlage hat, so ist das Nichtwissen, auf das Kracauer abhebt, kein bloßer ›Mangel an Wissen‹. Es ist vielmehr etwa auch Ausgangspunkt für einen Neuanlauf im Analysieren; das bringt uns zweitens zum zeitlichen Aspekt seines kritischen Nichtwissens. Kracauers Rückblick auf den deutschen Faschisierungsprozess unterstellt ein Betrachtungssubjekt, das nicht im Nachhinein gescheiter, sondern im Nachhinein gescheitert ist: Weder ein ›Ich wusste es immer‹ noch ein ›Jetzt weiß ich es‹ prägt seine Schriften zum Thema nach 1933, sondern der Impuls, das politische Scheitern der Linken, auch des liberalen Bürgertums zu analysieren. Neuanlauf in der Auseinandersetzung (analytisch wie auch in der Öf26 27
Heben wir uns die Nicht-Reduzierbarkeit von Faschismus auf Klasse für Kap. 2 und 3 auf. Es geht darin um das Kino bzw. um Massenrevuen und Stadion-Massenformationen als Beispiele einer Erfahrung und Selbstformung, die nicht mehr dem Modell des rational wohlgeordneten bürgerlichen Individuums folgen. Solche Formen entsprächen der Wirklichkeit mehr als die Kunst der »abgelegte[n] höheren Gefühle« der »Gebildeten«, die über Massen-Formen die Nase rümpfen (SK: »Das Ornament der Masse«, S. 54f). Und gegenüber bürgerlichen »Begriffen wie Persönlichkeit, Innerlichkeit, Tragik usw.«, als »irreal geworden[e] Kulturwerte«, sei die Zerstreuungskultur der Massen, zumal im Kino, »in einem tiefen Sinn wahrheitsgemäß«, bzw., so Kracauers Schlusssatz, »der Wahrheit nahe« (»Kult der Zerstreuung«, S. 314, 317).
1. »Vielleicht Faschismus oder auch gar nichts«
fentlichkeitsarbeit) mit dem Faschismus unter Betonung dessen, was anders hätte kommen können, kommen müssen (»müssen« im Sinn von Dringlichkeit, nicht Notwendigkeit) – mit einem solchen Neuanlauf beginnt Kracauer schon in den ersten Monaten nach Hitlers Machtübernahme. Seine ersten Zeitschriften-Aufsätze im Pariser Exil widmen sich der politischen Soziologie des Nationalsozialismus und den strategisch-konzeptuellen Fehlern der Linken. Es geht dabei auch um Fehler, die aus sturem Festhalten an gesicherten Wissensbeständen resultierten; insbesondere aus dem eng gefassten Klassenvertretungsanspruch eines dogmatischen Marxismus, der die Mittelschichten für politisch irrelevant erachtete und sie Mussolini bzw. Hitler überließ (siehe Kap. 2.2 und 3.2). Der historiografische Rückblick, aus dem sich hoffentlich etwas lernen lässt, und von dem sein Caligari-Buch 1947 die umfangreichste und elaborierteste Form darstellen wird, beginnt sofort. Das einzige Buch, das Kracauer zur Gänze im Pariser Exil verfasst und veröffentlicht – 1937, durchaus erfolgreich –, ist eine Biografie Jacques Offenbachs, gestaltet als »Gesellschaftsbiographie«. Von dieser erhofft er sich laut Vorwort, sie könnte das »Geschehe[n] unserer Tage« kritisch zu beleuchten helfen: An der öffentlichen Figur dieses Komponisten, sowie an seinen Fantasy-Operetten und ihrer Herrschaftssatire ließen sich »wie an einem Präzisionsinstrument die feinsten gesellschaftlichen Veränderungen ablesen.«28 Dem entsprechend enthält sein Epochenporträt von Paris Mitte des 19. Jahrhunderts, seine »Phantasmagorie des Zweiten Kaiserreichs«, einige Gegenwartsvergleiche; deren geschichtspolitisches Ziel ist es, im Bild der betrügerischen Hohlheit der Diktatur von Louis Napoleon eine nicht unverwandte Hohlheit des Hitler-Regimes zu verdeutlichen: »[a]ufgeblähte Würde, hohle Autorität und angemaßte Gewalt.« Die NaziHerrschaft so zu charakterisieren, ist etwas kurzgriffig.29 Allerdings: Als ein 28 29
SK: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit [1937] 8, S. 12f. SK: Jacques Offenbach, S. 13. Diese Polemik drückt zugleich eine Hoffnung aus: die Vermutung, Faschismus sei das Werk hasardierender Schwindlercliquen und stürze demnächst in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Nicht nur Kracauer, auch sein Freund Ernst Bloch formuliert etwas in dieser Art Mitte der 1930er (Hitlers »Kredit bröckelt langsam ab, Gläubiger und Gläubige murren, der Zahltag wurde zu oft versäumt.« Bloch: Erbschaft dieser Zeit. [1935] Frankfurt a.M. 1985, S. 152). Dass Kracauer solche Einschätzungen, die einen politischen Zweckoptimismus ausdrücken, in einem an sich unpolitischen Erfolgsbuch auftauchen lässt – in einer Künstlerbiografie (wenn auch with a difference) –, ist taktisch gut gedacht; angesichts der Stabilisierung der betreffenden Regimes ist es aber doch nur gut gemeint, als Einsicht wie auch als Gegenpropa-
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Stück Historiografie, die antifaschistischen Anliegen der Gegenwart dienen soll, wird das Offenbach-Buch zum Modell für die politisch akzentuiertere Gesellschaftsbiografie, die zehn Jahre später From Caligari to Hitler darstellt.30 Auch dieses letztere Buch soll, als Rückblick auf das Deutschland fünfzehn bis dreißig Jahre zuvor, helfen, dem Heute zu begegnen: Die psycho- und ideologischen »dispositions«, die Kracauer laut Vorwort an der Gesellschaft der Weimarer Republik festgestellt habe, seien etwas »to be reckoned with in the post-Hitler era«. Und zwar auch in den USA, wie Kracauer nahelegt.31 Neuanläufe zum Verstehen, was mit dem Aufstieg Hitlers geschehen ist, macht er also in zwei Geschichtsbüchern; und die hat er bei seinem, nun ja, Abschied aus Deutschland – nunmehr Nazi-Deutschland – unversehens mit angekündigt. Seine Rückblicke auf Ausblicke – Ausblicke auf düstere Zukunft in (Filmen) der Weimarer Republik – antworten auf einen Ausblick auf Rückblicke, den er 1933 verfasst: Es ist der letzte Artikel, den er vor seiner Flucht nach Frankreich fertigstellt und der in der Frankfurter Zeitung erscheint, als Siegfried und Lili Kracauer bereits in ihrem Pariser Exil ankommen. »Rund um den Reichstag« handelt davon, wie am Tag nach dem Reichstagsbrand Leute in Berlin die Ruine des deutschen Parlament(arismu)s betrachten. Sie sammeln sich um das ausgebrannte Gebäude; über die »ahnungslos[en]« Schulkinder in der – auffallend schweigenden bzw. nur flüsternden – Menge schreibt er: »Wenn sie einmal groß sind, werden sie aus der Geschichte erfahren, was der Reichstagsbrand in Wirklichkeit zu bedeuten hatte.«32 Was für ein Schlusssatz! Nun, Anfang März 1933, da dieser Brand, ob gelegt oder gelegen kommend, als ultimativer Brutbeschleuniger nationalsozialistischer Machtdurchsetzung dient, hat auch das Lindenpassage-Textende vom »später einmal wer weiß was ausbrüten« von 1930 ein Echo in diesem »einmal«: »Wenn sie einmal groß sind…«
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ganda aber ist es bescheiden. – Zu den Gegenwartsanalogien anhand der Politik Louis Napoleons: Kracauer schreibt vergleichend von »Volksabstimmungen« der »modernen Diktatoren«, von »Gleichschaltung damals wie heute«, sowie summarisch: Er »schuf sich aus dem Pariser Lumpenproletariat eine Partei, die in Gestalt von Knüppeln über schlagkräftige Argumente verfügte, kaufte Zeitungen, durchsetzte die Verwaltung mit seinen Leuten […].« (SK: Jacques Offenbach, 8, S. 128, 137, 142) Laut Quaresima (»Rereading Kracauer«, S. xxiii) spricht Kracauer diese Modellfunktion in einer ersten »Ideenskizze« von 1938/39 zu seinem Buchvorhaben über den deutschen Film an. Nahe legt er das in zeitgleichen sozialkritischen Aufsätzen (dazu unten mehr), sowie im Caligari-Vorwort (CH, S. li). SK: »Rund um den Reichstag« [FZ 2.3.1933] 5.4, S. 396.
1. »Vielleicht Faschismus oder auch gar nichts«
– mit einem seiner vielen Zukunfts-Andeutungs-Schlusssätze appelliert Kracauer an die Geschichte: Geschichte gerade nicht als eine Verewigung, sondern als etwas, woraus, wie er schreibt, Wirklichkeit erfahren werden kann; erfahren im emphatischen Sinn, als kritische Sichtung, die herrschaftliche Zugriffe – auf Gesellschaften, auf ihre Zeit, ihre Vorzeit – konterkariert und revidiert. Auch als Buch. Neuanlauf 1947 im US-Exil: Über From Caligari to Hitler schreibt Christoph Brecht, dass Kracauer in diesem Geschichtsbuch »mit allen intellektuellen Mitteln den Kampf noch einmal aufnimmt, der historisch verloren gegangen war.« Brecht verteidigt den essayistisch-polemischen Gestus dieses Buches, der »gegebenenfalls auch auf Kosten jener szientifischen Konsistenzgebote« geht. Das geht also auf Kosten, mehr noch, es geht gegen – erstens Gebote einer wissenschaftlich normalisierten, systematisierten Film- bzw. Kulturgeschichtsschreibung; zweitens gegen jenen Szientismus, durch den »man sich der ›Hitlerei‹ hilflos ausgeliefert hatte.«33 Damit meint Brecht das politisch fatale Denken, das sich auf ›wissenschaftlichen Marxismus‹ berief und historische Notwendigkeit beschwor, im Rekurs auf die Letztinstanz ökonomischer Determinanten (sprich: unvermeidliche Zuspitzung der Klassenkämpfe zum Gegensatz Industrieproletariat versus Kapital, demgegenüber Faschismus als Sekundärphänomen). Und auch die Betonung der zeitlichen Dynamik der Antizipation, die Kracauer viel an Vorwürfen eingebracht hat, von wegen, deutsche Filme hätten hellsichtig Hitler vorweggenommen, das veranschlagt Brecht anders – nämlich, indem er das Caligari-Buch selbst als eine Antizipation interpretiert, als Antizipation eines Geschichtszusammenhangs, der einsichtig wird: »Das Buch muss noch kommen, das den Weg von der gescheiterten deutschen Revolution zu Hitlers Machtergreifung nicht nur chronikalisch beschreibt, sondern auch verständlich macht. Was Kracauer vorlegt, ist gleichsam im Vorgriff auf dieses Verstehen entstanden, und eben dies zeigt der Titel an.«34 Eben From Caligari to Hitler. Wobei, so schlägt Johannes von Moltke vor, das Einsichtige dieser Geschichte doch eigentlich unter dem Titel From Hitler to Caligari stehen müsste. Denn: Nicht Antizipation, sondern Retrospektion, mehr noch: retroaktive Kausalisierung bzw. Nachträglichkeit im psychoanalytischen Sinn, das sei die Zeit-
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Christoph Brecht: »Strom der Freiheit und Strudel des Chaos. Ausblicke auf Kracauers Caligari-Buch« in: Brecht, Ines Steiner: Im Reich der Schatten. Siegfried Kracauers From Caligari to Hitler. Stuttgart 2004, S. 38. Ebd., S. 39.
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Dynamik, die dieses Buch prägt. Laut Moltke macht der Gestus der Nachträglichkeit aus Hitler, dem Endpunkt der Caligari-Geschichtserzählung, ein event in search of its cause.35 Nun gilt da allerdings für Kracauers Handhabung von Nachträglichkeit einiges von dem, was Jean Laplanche in einem freudianisch-lacanianischen Verständnis über Nachträglichkeit sagt: Es geht dabei nicht nur darum, dass ein Subjekt in der Gegenwart auf eine Vergangenheit zugreift und sich aus dieser eine Vorgeschichte – und sei es eine düstere – nach seinem Belieben zurechtzimmert, gar zurechtfälscht (wie dies im postmodernistischen Diskurs der kreativen Aneignung zelebriert wird); vielmehr stößt dieses Gegenwartssubjekt in seinem Zugriff, in seinem Anspruch, sich eine Geschichte zu geben, die zu ihm passt, auch auf etwas, das diesen Anspruch in Frage stellt, durchkreuzt.36 Da gibt es also eine Gegenstrebigkeit bzw. Doppelung im Konzept von Nachträglichkeit, und etwas Ähnliches hat Kracauer, andeutungsweise, sowie unabhängig von psychoanalytischer Begrifflichkeit, anhand von hindsight, Rückblick im besseren Wissen, zum Ausdruck gebracht: nämlich einen Gegensatz zwischen einerseits einer hindsight, die Geschichte fälscht, um die Gegenwart zu zementieren, und anderseits einer hindsight, die Augen öffnet.37 Diese Gegenstrebigkeit im Nachträglichkeits-Gestus erleben wir bei Kracauer in Aktion. Das stellt Moltke so dar: Wenn Kracauer die Weimarer Geschichte entlang ihrer Filme zu einer Düstergeschichte schematisiert, die politisches Unheil hervorbringt, dann reduziert er den deutschen Film der Zwischenkriegszeit tendenziell auf einen einzigen großen Horrorthriller oder Verschwörungskrimi;38 das tut er, weil die Gegenwart der Jahre um 1945 seinen Rückblick prägt – weil er das deutsche Kino im Licht bzw. Schatten
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Johannes von Moltke: The Curious Humanist. Siegfried Kracauer in America. Oakland 2016, S. 94. Moltke zitiert hier den Filmhistoriker und -theoretiker Thomas Elsaesser; beide paraphrasieren die effects turning into causes aus Kracauers Caligari-Buch. Jean Laplanche: »Notes on Afterwardsness« in: Notes on Otherness. New York, London 1999. Das tut er in seiner posthumen History, in der er sich gegen Geschichtsbilder ausspricht, die einem »present interest«, Gegenwartsinteresse, verpflichtet sind: Er kontrastiert zwei Arten von Im-Nachhinein – einerseits »revealing hindsight«, anderseits »hindsight which falsifies historical reality by reading alien meanings into it«; bzw. kritisiert er »hindsight being used as a cementing device rather than an eye-opener« (H, S. 87, 119). All die deutschen Komödien, die er als Filmkritiker seinerzeit wohlwollend besprochen hat, lässt er im Caligari-Buch weitgehend weg.
1. »Vielleicht Faschismus oder auch gar nichts«
der Thriller des aktuellen US-amerikanischen Film Noir sieht, mit dem er sich zeitgleich, 1946, ebenfalls sozialdiagnostisch auseinandersetzt. Nun erweist sich aber diese Gegenwart in dieser Beziehung als alles andere denn eine stabile, selbstsichere Position. Denn die Nachträglichkeit/hindsight, in der diese Gegenwart auf die deutsche Vergangenheit zugreift, ist verflochten mit einer Nachträglichkeit/hindsight, in der diese Gegenwart von dieser Vergangenheit gemeint ist, kritisch befragt wird: Gerade durch die »projection of the writer’s American present onto his German past«, die das Caligari-Buch Moltke zufolge vornimmt, treten Widersprüche an ebendieser Gegenwart zutage: Die Beziehung zwischen Totalitarismus in Deutschland und Demokratie in den USA ist nicht ein Gegensatz (als den Kracauer sie während der Kriegsjahre – implizit – zu verstehen gegeben hat); nicht ein stabiler Gegensatz zwischen einem politischen Übel dort und damals und einer politischen Richtigkeit hier und jetzt; sondern diese Beziehung erweist sich spätestens jetzt, 1946, als eine Dialektik, ein widersprüchliches Ineinander.39 In der US-Gesellschaft sind, so legt Kracauer dar, demokratische Formen und Faschismus-Brennstoff (»fuel for fascism«) so sehr ineinander, betreffen die »political and social struggles« so sehr das Existenziell-Eingemachte der Leute (»very core of our existence«), dass er über sein Exilland konstatieren kann, vielmehr muss: »A civil war is being fought inside every soul.«40 Damit sind wir – nach dem demokratischen und dem zeitlichen Aspekt – drittens beim räumlichen Aspekt von Kracauers Kritik an der BescheidwissensPose: bei Distanz versus Nahkontakt. Wenn Kracauer über Faschismus, insbesondere den deutschen Nationalsozialismus, schreibt, dann tut er das keines-
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Moltke: The Curious Humanist, S. 103ff. SK: »Hollywood’s Terror Films. Do They Reflect an American State of Mind?« [Commentary 2, 2, Aug. 1946] AW, S. 46f. – In seiner Betonung des retroaktiven Elements in Kracauers Faschisierungsgeschichte verweist Moltke (The Curious Humanist, S. 94f) auch auf Hannah Arendts Totalitarismustheorie – und in dieser Theorie auf den Gedanken, wonach der Nationalsozialismus ein so neuartiges Phänomen sei, dass er sich nur retroaktiv fassen lasse; diesen Gedanken gibt Moltke als eine Arendt’sche Variante des im Poststrukturalismus geläufigen Paradoxons zu verstehen, wonach ein Ereignis sich seine Geschichte im Nachhinein schafft. Wie bei der (Laplanche’schen/ Kracauer’schen) Nachträglichkeit, die nie reine Aneignung ist, bedeutet diese Konzeption nicht, dass eine Vergangenheit durch eine souveräne Gegenwart vereinnahmt wird, sondern dass eine Gegenwart erschüttert ist, eben auch in ihrer Geschichte, als ihrem Verhältnis zur Vergangenheit. (Zur Beziehung von Kracauer und Arendt siehe Kap. 4.4, 6.4 und 6.5.)
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wegs aus objektivierender Distanz zu einem Thema, über das er in souveränem Wissen verfügt. Das heißt zunächst: Kracauer hat in einem ganz existenziellen Sinn keine Distanz zum Faschismus, weil dieser ihn verfolgt und, gelinde gesagt, massiv auf ihn einwirkt.41 Dass Kracauer seine New Yorker Faschisierungsgeschichte keineswegs bloß als Analyse eines Themenobjekts gestaltet, sondern als Wiederaufnahme eines Kampfes (Christoph Brecht), das ist nicht nur seine Entscheidung: Vielmehr lässt ja der Faschismus ihn nicht los; er kommt dem Faschismus auch in seinem Exil in den USA nicht aus. Denn dort ist Kracauer ab Mitte der 1940er, während er noch an seinem Caligari-Buch arbeitet, mit verstreuten Phänomenen einer weiteren potenziellen Faschisierung konfrontiert (einer, die in ihren Dimensionen und Wirkungen unvergleichlich geringer als die in Deutschland ist). Das ist die als »McCarthyismus« geläufige Second Red Scare zu Beginn des Kalten Krieges, die minderheitenfeindliche Ressentiments politisiert: Die geopolitisch gerahmten antikommunistischen Kampagnen und Repressalien sind auch antisemitisch getönt und gegen Schwarze Bürgerrechtsgruppen gerichtet. Kracauer versteht den Faschismus als historisch nicht unvermeidlich; aber er erlebt ihn räumlich, lebensweltlich, als unentrinnbar. Zur Wiederaufnahme des Kampfes zählen deshalb auch seine Studien zum politischen Klima in der US-Gesellschaft, die er mit Blick auf das HollywoodKino der unmittelbaren Nachkriegszeit formuliert (mehr dazu in Kap. 7.1). Es handelt sich dabei um kleinere Komplementärtexte zu seinem Buch über das deutsche Kino. 1946 stellt er anhand der, bzw. in der Optik der erwähnten aktuellen Hollywood-Psychothriller und Films Noir eine Stimmung ständiger Bedrohtheit fest; diese Stimmung sei vom Europa unter Hitlers Herrschaft herübergekommen – transferiert auf die American scene, auf den Schauplatz der Filme wie auch der sozio-ideologischen Szenarien der USA.42 Diese Stimmung wird zu einer entorteten, ›dekausalisierten‹ Wirkung auf der Suche nach neuen Ursachen, bzw. legt sie nahe, nach Ursachen hier zu suchen. Die Suche folgt Kracauers Ansage im Caligari-Vorwort, wonach das, was in diesem Buch über
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So wie viele andere ist er als deutscher Jude und linker Feuilletonist der nationalsozialistischen Gewalt ausgesetzt – von antisemitischen publizistischen Attacken über seine Flucht vor dem neuen Regime 1933 und Weiterflucht vor der Nazi-Invasion 1940/41 aus Paris via Marseille in die USA bis hin zur Ermordung seiner in Deutschland verbliebenen Angehörigen. »Thus the weird, veiled insecurity of life under the Nazis is transferred to the American scene.« SK: »Hollywood’s Terror Films, S. 41.
1. »Vielleicht Faschismus oder auch gar nichts«
Nazis geschrieben steht, auch uns – hier in den USA – betrifft; und sie mündet in die Diagnose einer »emotional preparedness for fascism«, die »hatred of minorities« und »sadistic energies at large in our society« umfasst.43 In einem weiteren Text setzt sich Kracauer kritisch mit Hollywood-Dramen auseinander, mit politischen Unzulänglichkeiten ihres liberaldemokratischen Antifaschismus. Angesichts von »dark powers« in der US-Gesellschaft, die der McCarthyismus politisch bündelt, angesichts von Antisemitismus, von Rassismus gegen Schwarze und von Aggression gegen Sündenböcke, macht er den Vorschlag: »we should acknowledge their existence and, so to speak, live on intimate terms with them.« Denn: »Evil yields only to an embrace, to a change in the substance of what cannot otherwise be conquered.«44 Diese Umarmung, »embrace«, ist natürlich nicht als eine wertschätzende zu verstehen: Nazis und andere Rassist*innen sollen nicht herzlich (auch nicht ›zu Tode‹) umarmt werden. Und living on intimate terms with evil meint nicht ein fatalistisches »Live with it!«, sondern eher ein »Face it!«. Das sind Aufforderungen, mit Manifestationen von Faschismus, zumal in Form von Minderheitenfeindlichkeit, in einen Nahkampf, ›in den Clinch‹, zu gehen. Kracauer legt uns hier eine Nähe nahe: einen Intimkontakt, im Bekämpfen wie auch im Detektieren, mit etwas, das als ein »Böses«, »evil«, allzu leicht wegprojiziert wird. Politisch richtet sich dies nicht zuletzt gegen die verbreitete moralisierende Haltung eines ›Wir wissen es besser‹ bzw. ›Wir sind auf der sauberen Seite‹. In Kracauers Kritik am ohnmächtigen Antifaschismus aktueller Hollywood- und anderer Filme (mehr dazu in Kap. 7.1) betrifft das auch eine Form, die bürgerliche Demokratie zu beschwören: nämlich so, als hätte diese mit Herrschaftseffekten, die im Faschismus akut werden, rein gar nichts zu tun. Im Spirit dieser Einsichten lassen sich politische Schemata, regelrechte Topografien, kritisieren, die heute allzu vertraut sind. Etwa die Raumanordnung der Firewall. Diese will zu verstehen geben, dass rechte Parteien nationalpopulistischen oder konservativ-autoritären Zuschnitts heutzutage eine notwendige Firewall gegen genuinen Neofaschismus darstellen. (Ein Pendant zu diesem Firewall-Gedanken ist das alte Motto der bayerischen Regierungspartei, rechts von der CSU dürfe nur die Wand sein – die sich dadurch oft und weit nach rechts verschiebt, ob antimigrantisch, antiökologisch oder zuletzt Wokeness-feindlich.) Diese Annahme suggeriert der Mitte (bzw. denen, die diese Nicht-Position für sich reklamieren) im Verhältnis 43 44
Ebd., S. 46. SK: »Those Movies with a Message« [Harper’s Magazine 196, Juni 1948] AW, S. 80.
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Drehli Robnik: Flexibler Faschismus
zur offen umstürzlerischen Rechten nicht nur Distanz, sondern auch noch Feuermauerschutz. Die Firewall-Annahme hat Paul Mason jüngst mit einem bestechenden Hinweis quittiert: »The firewall is on fire.« Sie brennt – und den liberaldemokratischen Innenbereich, den sie schützen sollte (parallel zu den Mauern der Festung Europa), verbrennt sie mit. Zugleich ist die MauerFunktion der Firewall auch die einer Stütze, nämlich für zwei Fraktionen der antidemokratischen Rechten: Wie Mason darlegt, gibt die Firewall regierenden oder etablierten Rechtsparteien diesseits dieser Mauer ein Maß an Respektabilität, weil sie sie von der Schmuddel-Nazi-Rechten (unter-)scheidet; der faschistischen Rechten jenseits der Mauer eröffnet sie eine Wartezone: zum Abwarten bis zur (diesseits betriebenen) ausreichenden Zerstörung formaldemokratischer Institutionen, bis zum Tag X, dem das jeweilige preppping entgegenfiebert.45 Weitaus diskursprägender als die Topografie der Firewall ist heute die der politischen Mitte: Wer sich in der Mitte als Normalposition verortet, im Bereich des gesunden Maßes, der Lösungsorientierung und was der Ideologeme mehr sind, sieht z.B. rassistischen Krawall als etwas, das rechtsaußen, im Rechtsextremen, stattfindet – also weit weg von bürgerlichen Selbstentwürfen und Sozialwelten. (Vielfach kommt notorisch hinzu, dass linke Veränderungsimpulse mit rechter Hetze als gleichermaßen abzulehnende Formen von ›Extremismus‹ gleichgesetzt werden.) Die Topografie, der zufolge die Rechte weit weg ist, weit von der Mitte, kritisiert Simon Strick in seiner Studie zu aktuellen faschistischen Netzwerken und Gefühlspolitiken: Laut Strick ist die »Ferne« einer vermeintlichen far right eine schmeichelhafte Illusion, erkauft durch Projektionen, die die Rechte »im Keller oder im Untergrund« verorten; der heutige Faschismus (mit Kracauer gedacht: auch schon der damalige) ist »amorpher und gestaltwandlerischer« als die Bescheidwissenden glauben, die ihn für eine »klar isolierbare Erscheinung« halten. Mehr noch: »An diesem Faschismus ist etwas über die brüchige und poröse Welt des sogenannten ›Normalen‹ zu lernen, über die Mitte […].«46
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Paul Mason: »Fascism in Europe is on the rise… here’s how to fight it«, The New European, 25.8.2021. https://www.theneweuropean.co.uk/paul-mason-fascism/ [8.3.2023]. Simon Strick: Rechte Gefühle. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus. Bielefeld 2021, S. 18, 22. Strick knüpft an Affekttheorien und kursorisch an Adorno an, nicht an Kracauer (wiewohl er diesem mitunter nahesteht).
1. »Vielleicht Faschismus oder auch gar nichts«
Es ist aber diese Mitte– um kurz bei heutigen Posen/Positionen von Bescheidwissen über die Rechten (Faschisierung, rechts-disruptive Mobilisierung) zu bleiben, eines Wissens, das als gesichertes auftritt und seinen Verkünder*innen Sicherheit bieten soll –, diese Mitte ist es, die in Deutschland heute der AfD als deren »Kernwählerschaft« dauerhafte Wahlerfolge sichert. Denn die Mitte erwartet sich von der AfD – bzw. einer durch sie geprägten Regierung oder Regierungspolitik – die Restauration von Privilegien (als nicht-niedriglohnabhängige europäisch-weiße Männer): Darauf weist Stephan Lessenich hin – sowie weiters auf eine »Deutungsindustrie«, die genau dies verunkenntlicht, indem sie, auch seitens der Linken, den Typus des ›abgehängten kleinen Arbeiters‹ als exemplarisches Wähler-Subjekt der AfD (oder Trumps) konstruiert.47 Heraus kommt: Rechts sind die anderen, denen sich Unwissen, Unbildung, zuschreiben lässt (und die Mitte, gibt Lessenich zu verstehen, ist den Deutschen heilig). In Ländern, deren Krawall-Rechtspartei stärker ist, noch stärker als die AfD, und auf zeitweilige (oder baldige) Regierungsbeteiligungen verweisen kann, z.B. in Österreich, läuft das Diskursspiel ein wenig anders ab: Leute, die FPÖ wählen, werden regelrecht entmündigt – und zwar durch einen Expert*innendiskurs, der ihnen das zentrale Motiv, diese Partei zu wählen (solange respektablere Rechtsparteien sie nicht gut genug imitieren), abspricht. Dieses Motiv ist der Rassismus, den die Freiheitlichen als ihren konstantesten Feindbild-Affekt befeuern. Diese Inschutznahme, der zufolge die Leute ja nicht wissen oder gar nicht merken würden, dass ihre präferierte Partei rassistische Politik macht, kennzeichnet Melisa Erkurt, indem sie auf eine Warnung als Trope aufmerksam macht: eine um Komplexitäten wissende Warnung vor Vereinfachung: »Man mache es sich zu einfach, FPÖ-Wählerinnen* [* Männer sind in dieser Kolumne immer mitgemeint] auf das Thema Rassismus zu reduzieren, heißt es dann oft. Ich finde ja, man macht es sich einfach, seit Jahren andere Gründe für den Erfolg der FPÖ zu suchen, nur um
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Lessenichs Mitte ist nicht ganz deckungsgleich mit der Mittelschicht, deren Rechtstendenz Kracauer (neben anderen) um 1930 untersucht, weil sie neben Büro- und Handelsangestellten, Kleinselbständigen und Beamten auch den (männlichen, nichtmigrantischen, nicht mit weiblich gegenderter Gratis-Sorgearbeit belasteten) »Facharbeiter« mit umfasst. Stephan Lessenich: »Klassenkämpfe aus der Mitte. Deutschland sucht seine Protestwählenden« in: Enzo Traverso: Die neuen Gesichter des Faschismus. Postfaschismus, Identitätspolitik, Antisemitismus und Islamophobie. [2017] Köln, Karlsruhe 2019, S. 129ff.
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Drehli Robnik: Flexibler Faschismus
nicht ernsthaft politisch über Rassismus sprechen zu müssen.«48 Um ja nicht zu vereinfachen – nicht zu den »Dummen« zu zählen, die Rassist*innen plump als Rassist*innen ansprechen –, versucht diese Art von Expertise, durchaus komplex, etwa die Korruptionsbekämpfung als zentrales Wahlmotiv für die FPÖ festzustellen, die selbst routinemäßig in Korruptionsskandale verwickelt ist. Lessenich konstatiert eine Projektion weg von der Mitte – mit dem Ziel, dieses zum Fetisch gewordene Sozial-Label, eben die Mitte, jenen Parteien vorzubehalten, die der AfD durch das Kopieren ihrer Politik Stimmen abzujagen hoffen. Erkurt hingegen konstatiert eine Projektion der Mitte, durch die der Nimbus einer ganz normalen Mitte-Rechts-Partei (die halt ›äußerst migrationskritisch‹ oder ›sehr deutlich in der Asylfrage‹ ist und dergleichen mehr) auf eine Partei des deutschnationalen, querdenkerisch demokratiezerstörenden Rassismus übertragen werden soll; was dann vormaligen Groß(koalitions)parteien, zumal der einst christlichsozialen, bzw. deren jeweiligen Wissensmilieus, dabei helfen soll, zu verleugnen, dass ihre Koalitionspartner-Partei zurecht als rassistisch punziert ist.49 Die erste Projektion besagt ›Wir sind normal!‹, die zweite ›Die sind normal!‹ (weil wir uns mit ihnen einlassen dürfen sollen). Randbemerkung: Nicht wegprojizieren, was einer*einem allzu nah sein könnte: Das betrifft auch den Stalinismus im Verhältnis zur Linken – und im Verhältnis zu Kracauer als einem marxistisch inspirierten Autor. Den Stalinismus spricht er 1938 in Totalitäre Propaganda kurz an, und zwar nicht als einen Totalitarismus (Arendts Totalitarismus-Studie ist da übrigens gut zehn Jahre entfernt), sondern als einen Faschismus, als »Faschisierung des Sowjetregimes« (TP, S. 47). In Vorarbeiten zu Totalitäre Propaganda beabsichtigt er, die »europäischen Diktaturstaaten« »in internationalem Maßstab« mit der Sowjetunion und den »großen Demokratien«, vor allem den USA, zu vergleichen (»Exposé« Dez. 1936, TP, S. 231, 237); es bleibt da beim Vorhaben. Allerdings verfasst Kracauer 1956 gemeinsam mit Paul L. Berkman Satellite Mentality. Political Attitudes and Propaganda Susceptibilities of Non-Communists in Hungary, Poland, and Czechoslovakia. Diese Auftragsstudie für die New Yorker Columbia University, Bureau of Applied Social Research, konzipiert von Kracauers Freund Leo Löwenthal, ist die interpretierende Auswertung von Interviews, die andere Forscher*innen fünf
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Melisa Erkurt: »Wenn es bloß ein Wort dafür gäbe…«, Falter 8, 2023, S. 9. In Österreich ist das die FPÖ als machterhaltende Koalitionspartei der ÖVP in drei Bundesländern (Stand: Juni 2023) und womöglich ab 2024 im Bund – mit Modellcharakter für die Normalisierung der AfD seitens der CDU-CSU?
1. »Vielleicht Faschismus oder auch gar nichts«
Jahre zuvor mit Geflüchteten aus Satellitenstaaten der Sowjetunion geführt haben. Da findet sich einiges an antikommunistischem Kalter Krieg-Jargon. Satellite Mentality ist aber auch ein spätes – weit schwächeres – Gegenstück zu Kracauers essayistischer Studie über die Angestellten von 1929, die zum Teil auf seinen Interviews, vor allem aber auf seiner teilnehmender Beobachtung aufbaute: Zitierte 1929 der Angestellte Kracauer andere Angestellte kurz vor deren massenweiser eskapistischer Flucht in rechte Ideologien, so zitiert 1956 der vormalige Geflüchtete Kracauer andere Geflüchtete kurz nach deren vereinzelten Fluchten in den Westen.50
1.3 Nichts als Zufall: Kontingenz, nicht Kontinuum – Geschichte und Faschismus bei Horkheimer, Adorno und Kracauer Kracauers Zugang zur Geschichte: Politisch, praktisch, publizistisch ist er geprägt vom Neuanlauf – philosophisch vom Neubeginn. Wobei »philosophisch« letztlich auch »politisch, praktisch, publizistisch« bedeutet und vice versa. Liegt beim Neuanlauf der Akzent eher auf dem Verfolgen eines Ziels, auch einer Idee, so liegt er beim Neubeginn eher auf dem Sinn dafür, dass es der Anfang ist, der sich genuin wiederholt: Die Sturheit von ersterem wäre nur trostlos verbissen, die Offenheit von zweiterem dem Neuen gegenüber nur großherzig bis indifferent, wären die beiden nicht ineinander; zumal in Kracauers Schreiben. In seinem letzten Buch History. The Last Things Before the Last (posthum 1969) erklärt er Kontingenz und Neubeginn zu Grundkategorien seines Geschichtsverständnisses: Geschichte ist »the realm of contingencies, of new beginnings.« Sie unterliegt keinem deterministischen Prinzip: »[H]istorical reality […] is full of intrinsic contingencies which obstruct its calculability, its subsumtion under the deterministic principle.« (H, S. 31, 45) Das ändert allerdings nichts daran, dass in der Geschichte Ideen und causes nicht loszuwerden sind, worauf Kracauer, formuliert in einer nachdrücklichen Zusatzqualifikation zu all seinen Kontingenz-Feststellungen, großen Wert legt.51 Und: Contingency meint hier keineswegs ein Walten blinder Zufälligkeit
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Die Angestellten seien auf der »Flucht vor der Revolution und dem Tod« (A, S. 99); mehr dazu in Kap. 2.1. In Hinblick auf die Hartnäckigkeit von Ideen – bzw. von universalistischen Wahrheiten – schreibt er in History, Geschichte als Erfahrungsform sei als ein Vorraum, »anteroom«
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1. »Vielleicht Faschismus oder auch gar nichts«
Jahre zuvor mit Geflüchteten aus Satellitenstaaten der Sowjetunion geführt haben. Da findet sich einiges an antikommunistischem Kalter Krieg-Jargon. Satellite Mentality ist aber auch ein spätes – weit schwächeres – Gegenstück zu Kracauers essayistischer Studie über die Angestellten von 1929, die zum Teil auf seinen Interviews, vor allem aber auf seiner teilnehmender Beobachtung aufbaute: Zitierte 1929 der Angestellte Kracauer andere Angestellte kurz vor deren massenweiser eskapistischer Flucht in rechte Ideologien, so zitiert 1956 der vormalige Geflüchtete Kracauer andere Geflüchtete kurz nach deren vereinzelten Fluchten in den Westen.50
1.3 Nichts als Zufall: Kontingenz, nicht Kontinuum – Geschichte und Faschismus bei Horkheimer, Adorno und Kracauer Kracauers Zugang zur Geschichte: Politisch, praktisch, publizistisch ist er geprägt vom Neuanlauf – philosophisch vom Neubeginn. Wobei »philosophisch« letztlich auch »politisch, praktisch, publizistisch« bedeutet und vice versa. Liegt beim Neuanlauf der Akzent eher auf dem Verfolgen eines Ziels, auch einer Idee, so liegt er beim Neubeginn eher auf dem Sinn dafür, dass es der Anfang ist, der sich genuin wiederholt: Die Sturheit von ersterem wäre nur trostlos verbissen, die Offenheit von zweiterem dem Neuen gegenüber nur großherzig bis indifferent, wären die beiden nicht ineinander; zumal in Kracauers Schreiben. In seinem letzten Buch History. The Last Things Before the Last (posthum 1969) erklärt er Kontingenz und Neubeginn zu Grundkategorien seines Geschichtsverständnisses: Geschichte ist »the realm of contingencies, of new beginnings.« Sie unterliegt keinem deterministischen Prinzip: »[H]istorical reality […] is full of intrinsic contingencies which obstruct its calculability, its subsumtion under the deterministic principle.« (H, S. 31, 45) Das ändert allerdings nichts daran, dass in der Geschichte Ideen und causes nicht loszuwerden sind, worauf Kracauer, formuliert in einer nachdrücklichen Zusatzqualifikation zu all seinen Kontingenz-Feststellungen, großen Wert legt.51 Und: Contingency meint hier keineswegs ein Walten blinder Zufälligkeit
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Die Angestellten seien auf der »Flucht vor der Revolution und dem Tod« (A, S. 99); mehr dazu in Kap. 2.1. In Hinblick auf die Hartnäckigkeit von Ideen – bzw. von universalistischen Wahrheiten – schreibt er in History, Geschichte als Erfahrungsform sei als ein Vorraum, »anteroom«
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oder eine nihilistische Lesart von Kontingenz in Richtung ›Hinfälligkeit‹, gar Indifferenz. Vielmehr: Kontingenz heißt Exponiert-Sein und Bezogen-Sein von etwas im Verhältnis zu Wirklichkeiten, die dezidiert außerhalb – nicht in diesem Etwas selbst – sind. Und: Dass Geschichte nicht vorbestimmt, nicht berechenbar ist, macht zielorientiertes, eingreifendes, kollektiv eingebundenes, strittiges Handeln – sprich: Politik – gerade nicht irrelevant, sondern macht solch ein Handeln vielmehr erst möglich und sinnvoll. Ähnliches gilt für den Zufall: Wenn Kracauer dieses Wort verwendet, dann als ein Synonym für Kontingenz und im Sinn von Kontingenz; wenn er von Zufall bzw. chance in der Geschichte spricht, so heißt das nicht, dass wir indifferenten Kräften oder gar einem Schicksal ausgeliefert sind, sondern es ist der Kurzname dafür, dass Zukunft nicht ableitbar, weil nicht vorherbestimmt, ist. Diese Einschätzung rahmt gleichsam Kracauers Schriften. Sein buchförmiges Werk endet mit den contingencies und new beginnings von History. Es beginnt 1922 mit Soziologie als Wissenschaft: Darin testet Kracauer gleichsam aus, inwieweit die Erforschung von Gesellschaft eine verlässlich von fixen Grundkategorien geleitete Wissenschaft sein kann; was nämlich implizieren müsste, schreibt er, dass gesellschaftliche Prozesse allgemeingültigen Regeln unterliegen, auf deren Basis Voraussagen über diese Prozesse möglich wären. Und bei diesem Test stößt Kracauer auf Geschichte als das, was diesen Zug zur Prognose, diesen regelrechten Wunsch nach Vorherbestimmbarkeit durchkreuzt.52 Geschichte macht diesen Wunsch zunichte, denn: Bei der Wirklichkeit, auf die sich Soziologie beziehen muss, wenn sie eine Wissenschaft von der Gesellschaft sein will, ist es so, dass »nicht etwa die gesamte Wirklichkeit von dem soziologischen Begriffsgeschiebe aufgenommen wird, sondern zum Teil bloße Geschichte bleibt, Geschehensfolge, die vom soziologischen Standpunkt aus und
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zu verstehen; dieser versetze seine Bewohner*innen nicht zuletzt in eine »precarious situation which even invites them to gamble with absolutes, all kinds of quixotic ideas about universal truths« (H, S. 216). Mehr dazu in Kap. 7.1 und 7.3. Es ist dies das Wunschbild einer herrschaftlichen Denkweise, die (auch schon 1922) nicht die von Kracauer ist. Manches in Soziologie als Wissenschaft deutet darauf hin, dass er – nicht zuletzt diesem Herrschaftsanspruch gegenüber – sein Grundlegungsprojekt als ein ironisches anlegt: als »das Unternehmen, eine Wissenschaft zu begründen, um hernach ihre Undurchführbarkeit zu erweisen«. SK: Soziologie als Wissenschaft. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung [1922] 1, S. 95.
1. »Vielleicht Faschismus oder auch gar nichts«
in bezug auf den für diesen allein wesentlichen Notwendigkeitsbegriff Zufall und nichts als Zufall ist.«53 Das Nichts begegnet uns hier als Zufall, der den antideterministischen Wesenszug von Geschichte benennt. Anders, mit/in der Lindenpassage, gesagt: Geschichte brütet immer vielleicht auch nichts aus; nie notwendig dieses bestimmte Endresultat, und sei es der Faschismus. Insofern hat das ZufallsNichts etwas Hoffnungsvolles bzw. einen Rest an Hoffnung. Dies zum einen in wissenschaftlicher Hinsicht, insofern, als Kracauer gleich am Beginn seiner kritischen Auseinandersetzung mit Gesellschaft (bzw. mit Soziologie) von der Vorstellung, wirkliche Prozesse wären aus Begriffsfundamenten ableitbar, Abschied nimmt; seine Konfrontation mit Geschichte wirkt da, 1922, bereits auf ein anderes, ein Kontingenz-offenes Verständnis von Soziologie und von Gesellschaftserfahrung hin. Insofern geht es dabei ja auch schon um mehr als um Wissenschaft. Hoffnung besteht zum anderen in politischer Hinsicht, nämlich darauf, dass ein anderer Verlauf erstritten und erkämpft werden kann; das Nichts als Zufall wahrt den (letzten) Platz dieser Hoffnung, der freilich fast immer von zeitweiligen Akteur*innen besetzt wird. In jedem Fall ist es Geschichte – contingencies und new beginnings –, die darin wirkt, darin wirklich wird. Um Akteur*innen von politischem Konflikt, zumal antifaschistischem Kampf, geht es in den nächsten Kapiteln. Das ist nun aber gerade nicht Geschichtsphilosophie; nicht, sofern darunter die Überformung von Geschichte durch ein philosophisches Panorama zu verstehen ist. Ein Panorama, das oft Pos(ition)en eines über den Dingen stehenden Wissens einzunehmen erlaubt. In Bezug auf Geschichte und Geschichtsphilosophie, zumal in der Konfrontation mit Faschismus, lohnt ein Vergleich: Zu der Zeit, als Kracauer seine Faschismusanalysen breiter ausformuliert, um 1940, legen auch Max Horkheimer und Kracauers alter Freund Theodor W. Adorno Faschismusanalysen vor, die sie allerdings geschichtsphilosophisch rahmen.
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Ebd., S. 92. Die »von ihr [der Gesellschaftsgeschichte, DR] aufgewiesenen Gleichförmigkeiten in der Entwicklung irgendeines Gebildes werden rein aus der historischen Erfahrung abgeleitet, jede neue Erfahrung kann daher grundsätzlich den Anspruch dieser Gleichförmigkeiten auf Allgemeingültigkeit zunichte machen. Wenn die Geschichte z.B. zeigt, daß alle uns bekannten Staaten ihr Dasein gewalttätiger Eroberung verdanken, so ist das eine Erkenntnis, die nichts unbedingt Zwingendes an sich hat.« (Ebd., S. 20) Geschichte ist nicht vorherbestimmt, auch nicht die der Staaten, ihrer Gewaltakte, Vergangenheiten und Zukünfte.
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So etwa Horkheimer in seinen Studien von 1939/40 zum autoritären Staat. Diese Herrschaftsform, so legt er dar, ist ein negativer Entwicklungsendpunkt der modernen Geschichte: Der autoritäre Staat, der im Faschismus kulminiert, überführt laut Horkheimer die bürgerliche Kapitalverwertung durch Ausbeutung in eine zentralisierte staatskapitalistische Kommandowirtschaft; diese kommt ohne formaldemokratische Vermittlung, ja, sogar ohne Vermittlung durch den Markt aus. Der autoritäre Staat bilde sich in einem langen Prozess, der von der Reformation über die Französischen Revolution bis zum Nationalsozialismus reicht – und zum New Deal in den USA. Roosevelts staatsdirigistische Planungseingriffe in Kräftespiele der US-Privatwirtschaft und die Nazi-Herrschaft, beide versteht er als Teile derselben transhistorischen Großformation: Diese Sichtweise ist bedenklich.54 Sie geht einher mit Horkheimers Betonung von Kontinua, mehr noch, von vorhersagbaren Ablaufsschemata, in der Geschichte: Quasi From Robespierre to Hitler – and Roosevelt; alles kam, wie es musste. Und wie Theorie es immer schon wusste.55 Schon zuvor, 1936, verortet Horkheimer in »Egoismus und Freiheitsbewegung« den deutschen und italienischen Faschismus in einem Geschichtskontinuum bürgerlicher Massenführung.56 Seine Kritik gilt charismatischen Füh54 55
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Horkheimer vertritt sie wohl mit aus einem trotzigen Impuls heraus: Er will der Kritik kapitalistischer Machtformationen die Treue halten – auch nach der Flucht in die USA. Horkheimers 1940 verfasste Studie »Autoritärer Staat« beginnt so: »Die historischen Voraussagen über das Schicksal der bürgerlichen Gesellschaft haben sich bewährt.« Max Horkheimer: »Autoritärer Staat« [1942] in: Horkheimer: Autoritärer Staat. Aufsätze 1939–1941. Amsterdam 1967, S. 44. https://cominsitu.files.wordpress.com/2018/10/s taat-horkheimer.pdf [8.3.2023]. In »Die Juden und Europa« schreibt er 1939: »Der Faschismus ist die Wahrheit der modernen Gesellschaft, die von der Theorie von Anfang an getroffen war.« Horkheimer: »Die Juden und Europa« [1939] in: Autoritärer Staat, S. 9. – Da kann man nur gratulieren, nämlich einem großmaßstäblichen FaschismusOrakel der Theorie zu seiner Prognose-Bestleistung. Horkheimer geht 1936 weit darin, das allenfalls Neue an faschistischen Politiken und Regierungstechniken einem bürgerlichen Geschichtskontinuum einzugliedern. Er erwähnt »die Erhebungen, die sich in der jüngsten Vergangenheit in einigen europäischen Staaten vollzogen haben«: 1936 meint er damit zweifellos die faschistischen – nazi- bzw. halbfaschistischen – Mobilisierungen und Herrschafts-Erkämpfungen in Italien, Deutschland und Österreich (vermutlich noch nicht die in Spanien). Für ihn zählen diese »Erhebungen« zu den »Phasen eines einzigen Prozesses, einer in sich zusammenhängenden Totalität«; und das ist die Herausbildung des »autoritären Staates« im Verlauf der Geschichte auf kapitalistischer Grundlage, mit ihrer Dialektik der Massenbefreiung, die in Massenunterdrückung und -betrug umschlägt. Den möglichen Einwand, dass es sich bei den Regimes zumal von Mussolini und Hitler um Herr-
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rungstechniken, durch die aufbegehrenden Massen, die die Welt gerechter wollen, Askese verordnet wird, die die Welt reiner machen wird: Es geht dabei um Zwang (und dessen Verinnerlichung) zur Umwandlung von revoltierender Energie in Reinigungsmanie, von sexuellem Begehren in Liebe zur »Persönlichkeit« eines »Führers«, von Lebensgenuss in Freude an der Arbeitsdisziplin. An letzterem Punkt, in der Beobachtung eines Zwangs zur Arbeitsfreude, berühren bzw. ähneln einander Horkheimers und Kracauers Machtkritik: Disziplinierung durch Moralisierung, wie sie Horkheimer analysiert, hat nicht zuletzt eine »vorschriftsmäßig freudige Gemütsverfassung« beim Verrichten der Arbeit zum Ziel.57 Ebendies hat ein Pendant in Kracauers Untersuchung 1929 zu den Angestellten: Diese sind Teil der Mittelschichten, leben gehaltsabhängig unter Konkurrenzdruck, in Angst vor dem Verlust eines bereits illusorischen bürgerlichen Status; sie sind daher bemüht, ihre prekarisierte Wirklichkeit zu dissimulieren; das zwingt sie umso mehr dazu, bei der Verkaufs- und Büroarbeit eine von ihnen erwartete »moralisch-rosa Hautfarbe«, also gut gelaunte Hochmotiviertheit, zur Schau zu stellen (A, S. 23f). Am Berührungspunkt der Arbeitsfreude-Zwangs-Kritik zeigen sich deutlich Horkheimers und Kracauers jeweilige gedankliche Kontexte und deren Faschismus-Konnexe: Horkheimer untersucht – mit Nietzsche-Verweis – Machttechniken, die den Massen »ein Gewissen machen«.58 Und er erweitert die Geschichte bügerlicher Herrschaft in die psychoanalytisch aufgeladene Anthropologie eines Genussstrebens, dem Befriedigung versagt ist. Und
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schaftsformen handeln könnte, die nicht unmittelbar bürgerlich sind, schmettert er durch Entkräftung eines Schein-Einwandes ab, den er selbst vorbringt: Auch wenn es »einer liberalistischen Betrachtungsart« so vorkommen mag, handle es sich dabei »jedenfalls nicht um absolutistische oder klerikale Rückschläge«. Das heißt also, dass die durch Mussolini und Hitler bewirkten politischen Veränderungen ja womöglich vorbürgerlicher Art sein könnten, eben absolutistisch oder klerikal. Wer aber, sei gefragt (außer billig vorgeschobenen Scheingegner*innen in der Debatte), würde faschistische Regimes 1936 dafür halten? Hat jedoch Horkheimer ebendies nun in den Raum gestellt, kann er dem korrigierend widersprechen: Es handle sich da in Wirklichkeit »um die Inszenierung einer bürgerlichen Pseudorevolution mit radikalen völkischen Allüren, entgegen einer möglichen Neuordnung der Gesellschaft überhaupt.« Horkheimer: »Egoismus und Freiheitsbewegung (Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters)« [1936]. https://www.gleichsatz.de/b-u-t/kriton/hork/heimer2egofrei.html #III – Teil 2 [8.3.2023] Faschismus wird von ihm also als bürgerlich aufgefasst; wenn auch als eine Fälschung, Pseudo-Form, bürgerlicher Politik. Horkheimer: »Egoismus und Freiheitsbewegung«, online Teil 1 [8.3.2023]. Ebd.
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dieses Thema bürgerlicher Lustfeindlichkeit, durch die sich Lust oft in Form von Aggression realisiert, verfolgt er von »Egoismus« und dessen Versagung, seinem 1936er Thema, bis zur Dialektik der Aufklärung, die er in den frühen 1940ern mit Adorno im Exil in Los Angeles verfasst: zum Antisemitismus als Ressentiment-Reaktion auf Zwänge zur Verdrängung von Sinnlichkeit (wobei Jüdinnen und Juden zu Sündenböcken wie auch Agressions-Zielobjekten werden59 ). Dieses geschichtsphilosophisch gefasste Thema hat kein Pendant in Kracauers Untersuchungen zum bürgerlichen und faschistischen Regieren.60 Kracauers Interesse gilt Führungstechniken, die die Gefühle von Büro- und Verkaufs-Arbeitenden zu Effizienzressourcen machen; was er herausarbeitet, sind avant la lettre ›postfordistische‹ Machtformen, die von ›Affektarbeit‹ profitieren; ein faschismusanalytischer Nachhall dazu ist seine spätere Kritik daran, wie die Nazi-Politik Gefühlsräusche, insbesondere Geschwindigkeitsräusche, zu einem Herrschaftsmittel macht (siehe Kap. 4.1). Kracauer bezieht sich in Totalitäre Propaganda mehrfach auf Horkheimers »Egoismus und Freiheitsbewegung« (auf die »Verinnerlichung« politischer Forderungen; siehe auch Kap. 2.2). Das hat neben der Theorie einen trivialen praktischen Grund: Kracauers teils schmeichelnde Horkheimer-Referenzen haben auch damit zu tun, dass er diese Faschismus-Studie im Auftrag des von Horkheimer geleiteten Instituts für Sozialforschung verfasst. Auf diese Schmeichelei (quasi gegenüber einem Chef in spe) weist auch Adorno hin, und zwar in seinem vernichtenden internen Gutachten über diese Kracauer-Studie, mit dem er 1938 deren Publikation in der Institutszeitschrift hintertreibt; mehr noch, er macht seinen alten Freund hinterrücks ›beim Chef‹ herunter, hält ihn so auf Distanz zum erlauchten Instituts-Wissenszirkel (speaking of Angestellten-Konkurrenz). Diese Episode ist ein Ausgangspunkt dafür, dass Kracauer gegenüber der Gründungsgeneration der Frankfurter Schule ein Outsider ist (bis heute). An ihr haftet aber auch ein weiterer Nahkontaktpunkt 59
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In der »antisemitischen Reaktionsweise« sehen die Autoren wahrgenommene Gelegenheiten, »den Augenblick der autoritären Freigabe des Verbotenen zu zelebrieren.« Horkheimer, Theodor W. Adorno: »Elemente des Antisemitismus« in: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. [1944] Frankfurt a.M. 1969, S. 193. Kein Pendant in dieser Größenordnung. Dass er die »moralisch-rosa Hautfarbe« der Arbeitsmotivation als eine Verdrängungsform – »um den Ausbruch der Begierden zu verhindern« – deutet, bleibt eine Momentaufnahme in seiner 1929er Studie. Bzw. ist dies eine Stelle, an der er sich wie eine Vorwegnahme der Dialektik der Aufklärung liest: »Die Düsterkeit der ungeschminkten Moral brächte dem Bestehenden ebenso Gefahr wie ein Rosa, das unmoralisch zu flammen begänne.« (A, S. 24)
1. »Vielleicht Faschismus oder auch gar nichts«
zweier Faschismusanalysen – der von Kracauer und der von Adorno: Letzterer fertigt, ohne dass Kracauer ihn darum gebeten hätte, eine auf ein Fünftel gekürzte Neufassung der Faschismus-Studie an, die er ohne Kracauers Wissen verrissen hat. Weiters schlägt Adorno ihm vor, er solle diese Neufassung unter seinem, Kracauers, Namen veröffentlichen. Kracauer verweigert das, weil die Neufassung kaum noch Formulierungen oder Schwerpunkte aus dem Originalmanuskript enthält, das Kracauer in Buchlänge eingereicht hat. Die Neufassung hat einen Fokus auf Reklame; das liest sich nun wie ein Probelauf zu dem vorwiegend auf Adorno zurückgehenden Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung. Nämlich (und schematisch gesagt) wie folgt. In der anthropologisierenden Geschichtsphilosophie der Dialektik der Aufklärung verfolgt Horkheimer eher das Thema des autoritären Staats(-Kapitalismus) weiter, Adorno eher das Thema einer Kultur, die ganz zur Reklame wird; beides als Formen der Integration von Massen in ein Herrschaftssystem. Horkheimer sieht im Faschismus die Kulmination einer Geschichte des Zwangs zu einer (Lust entsagenden) Arbeitsfreude, wie sie Kracauer in Moralisch-Rosa gemalt hat; Adorno wiederum sieht die Geschichte kulminieren im Blendend-Weiß der Zähne spätbürgerlicher Normal-Menschen als Signum für den »Triumph der Reklame«.61 Die »verstockte […] Selbstbehauptung des bürgerlichen Individuums« als geschichtsphilosophisches Panorama: Ans Ende seiner Verhängnisteleologie von menschheitsgeschichtlichen Dimensionen setzt Adorno festgelegte Star-Images, als Warenform von personality; und, ultimativ, den Holocaust.62 Adornos mit Reklame-Kritik gesättigte Neufassung von Totalitäre Propaganda ist aufschlussreich dahingehend, wie verschieden er und Kracauer den
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Heute ›heißt das‹ Influencer (um dazu sehr wenig zu sagen). Zu Adornos Weiß: Als Inbegriff von »personality« erscheinen »blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen.« Horkheimer, Adorno: »Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug« in: Dialektik der Aufklärung, S. 176. Das »Selbstbehauptung«-Zitat ist aus »Elemente des Antisemitismus«, ebd., S. 178. – Von Star-Images in Jahrhundert-Dimensionen ist im »Kulturindustrie«-Kapitel (ebd., S. 165) anhand zweier Hollywood-Feschaks die Rede: »Jahrhundertelang hat sich die Gesellschaft auf Victor Mature und Mickey Rooney vorbereitet.« – Zum Holocaust in Jahrtausend-Dimensionen siehe Adorno: »Erziehung nach Auschwitz« [1966] in: Stichworte. Kritische Modelle 2. Frankfurt a.M. 1969, S. 98: »Kälte« und Gleichgültigkeit, »Verfolgung des je eigenen Interesses gegen die Interessen aller anderen«, und zwar als »Grundzug der Anthropologie, also der Beschaffenheit der Menschen«, »wohl seit Jahrtausenden« – ohne dies »wäre Auschwitz nicht möglich gewesen«.
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Drehli Robnik: Flexibler Faschismus
Faschismus auffassen. Stellt dessen Propaganda für Kracauer eine Akutform faschistischer Politik und Machtausübung dar (siehe Kap. 2.1), so setzt Adorno diese Propaganda schon 1936 in Analogie zu Reklame, und zwar in Korrespondenzen zu Kracauers geplanter Studie (siehe Hg.-Nachwort, TP, S. 319); er verbreitert diesen Gedanken in seiner Neufassung von Kracauers Manuskript (in dem von Reklame fast nichts stand); das geschieht nicht ohne sexistischklassistische Spitzen gegen Leute, die in Massen Hygieneartikel oder Billigfernreisen konsumieren.63 Adorno stellt seine Reklame-Vergleiche unter die programmatische Überschrift von Propaganda als »Reproduktion der Dummheit«64 – im Kontrast zu Kracauers Wort von den »Dummen«, auf die ein unterstellter Mangel an A-priori-Wissen in Sachen Faschismus projiziert wird (TP, S. 13) –, und sein Vergleich etwa von Hitler-Reden mit »Schlagertexten« ist Teil seines Leitmotivs einer »falschen Grammatik«.65 An diesen und anderen Stellen gerät seine mikrologische Ideologie-Analyse zu einer Anklage von faschistisch induziertem Sittenverfall. Nicht zuletzt setzt sich mit dieser Analyse ein Subjekt, das seine Bildung und Kultiviertheit ausstellt, im Spott erhaben über plebejisch-kleinbürgerliche Züge des Nationalsozialismus.66
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In Adornos Neufassung, umgetitelt zu »Zur Theorie der autoritären Propaganda«, steht »Reklame« auf folgenden Seiten: TP, S. 269f, 275, 277, 285, 294; weiters Propaganda»Symbole« als »Werbemarken«, Hitler im »Ton des Reklamefachmanns« (TP, S. 291f); Kraft durch Freude-Reisen, bei denen »die Opfer nach Madeira transportiert werden« (TP, S. 277) und, schon ganz auf »Kulturindustrie«-Starkult-Kritik-Linie: »Die Persönlichkeit […] ist selber ein Massenartikel.« (TP, S. 294) Die von Hitlers Propaganda erfasste Person, die »die angepriesene Seife kauft« (TP, S. 270), kehrt 1946 in einer Forschungsprojektskizze Adornos wieder, nun explizit weiblich gegendert in einem soap opera-Vergleich: »Just as the housewife, who has enjoyed […the soap opera, DR], feels impelled to buy the soap sold by the sponsor, so the listener to the fascist propaganda act, after getting pleasure from it, accepts the ideology represented by the speaker out of gratitude for the show.« In diesem Text findet sich auch ein Vergleich, den Adorno nicht ohne Verachtung für Swing-Modetänze zieht: »The prospective fascist follower craves this rigid repetition, just as the jitterbug craves the standard pattern of popular songs […].« Adorno: »Anti-Semitism and Fascist Propaganda« [1946] in: The Stars Down to Earth and Other Essays on the Irrational in Culture. New York 1994, S. 224, 227. Adorno: Neufassung »Zur Theorie der autoritären Propaganda«, TP, S. 269, 274. Auf Grammatikfehler als Signum von Nazi-Rhetorik kommt Adorno mehrfach zu sprechen: ebd., TP, S. 280f, 294. So anhand der »Brüderlichkeit, die allen erlaubt, alle anzurempeln« (was offenbar für Nazi-Freizeitkultur typisch ist): ebd., TP, S. 276. Als Nachhall dazu: eine dem Faschismus affine »Sprache«, wie »von kaum kontrollierter körperlicher Gewalt«, die »bei ei-
1. »Vielleicht Faschismus oder auch gar nichts«
Freilich: Darüber zu klagen, wie Adorno über Massenkultur klagt, das ist seinerseits ein alter Schlager. Diesen Track spiele ich nur insoweit an, als er zur Unterscheidung beiträgt zwischen einem Zugang zum Faschismus, der unvertrautes Material sondiert – und einem Zugang auf Basis dessen, dass man immer schon weiß.67 Ich bin da – omelette surprise! – sehr für Kracauers Sicht der Dinge eingenommen: Während Horkheimer und Adorno dazu neigen, ihre Faschismus-Theoreme durch einen olympischen Blick auf ein transhistorisches Menschheitsverhängnis bzw. auf Krisen von Geist und Moral zu untermauern, nimmt Kracauer jeweils aktuelle Formen, in denen Massen und ihre Alltage organisiert sind, in den Blick und entwickelt von dorther seine Faschismus-Auffassung. Ein Beispiel dafür sind die flexibilistischen, mobilistischen Machtformen, die Kracauer an der Nazi-Politik herausarbeitet (siehe Kap. 4.2 und 4.3): Diese lassen sich so gar nicht unter ein Konzept der jahrhundertelangen Entwicklung zum Autoritären subsumieren, wie es Horkheimer anhand des autoritären Staates vorschlägt. Schlusswort: Kracauers faschismusanalytische Rückblicke behaupten weder vorgegebene Entwicklungsverläufe noch retrospektive Prophetik. Und sein Geschichtsverständnis läuft auf das Gegenteil von Zwangsläufigkeit hinaus. Er hält es da mit dem Urteil, das der sozialistische Faschismustheoretiker Ignazio Silone (der für seine Totalitäre Propaganda einflussreich und ihm selbst zum Freund wurde) 1934 formuliert: »Der Faschismus war nicht verhängnisvoll (denn nichts ist verhängnisvoll).«68 Und gerade weil Zukunft nicht ableitbar ist und sich auch keine Modellfälle wiederholen, agiert Kracauer durch seine US-Schriften der späten 1940er Jahre, im Sinn eines ›Dieses Mal soll meine Warnung doch gehört werden!‹. Sein Warnen ist zugleich die Geschichtsschreibung einer vergangenen Faschisierung in Deutschland – sowie die Analyse einer potenziellen in den USA. Damit es sich nicht wiederholt. Denn dass Geschichte sich nicht wiederholt, rührt nicht von einer höheren
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nem bestimmten Typus von Ungebildeten […] ins Drohende übergeht«: Adorno: »Erziehung nach Auschwitz«, S. 92. Dass Kracauer die Veröffentlichung von Adornos Neufassung seiner Totalitären Propaganda ablehnte, begründete er seinem Freund gegenüber unter anderem so: Die Neufassung »behandelt den Gegenstand« – also faschistische Propaganda – »als eine fertige Sache, die hundertprozentig ein- und zugeordnet werden kann«, und »wie eine kategorial bereits vollkommen subsumierte Affäre, die man ohne viel Rücksicht auf die vorgegebene Gestalt des Stoffes beliebig aufziehen kann.« (SK an Adorno 20.8.1938, Ado, S. 397f) Silone: Der Fascismus, S. 273.
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Macht her. Sondern es ist kontingent zum – abhängig vom – Tun und Lassen der Menschen. (Wie alles in der Geschichte: auch Wiederholungen bzw. deren Eindruck.)69 Sofern da Vorahnungen bzw. prophecies in retrospect ins Spiel kommen, sind dies Momente einer self-frustrating prophecy von jener Art, wie Kracauer sie mit Verweis auf Karl Marx in seinem Buch History beschreibt; diese ist das Gegenteil der geläufigen self-fulfilling prophecy. Nämlich: Die marxistische Vorhersage, es werde zu Massenverelendung kommen und diese führe notwendig zu Unterdrückung und dann zur proletarischen Revolution, diese »Marxist augury« sei »›self-frustrating‹« (so Kracauer mit einem Ausdruck des Historikers Edward Hallett Carr). Denn diese Vorhersage habe ja mit dazu beigetragen, die prophezeiten Zustände zu ändern: durch »strong labor unions, democratization of governments etc.«, so Kracauer (H, S. 38), bzw. durch Propaganda für und Kämpfe um diese Veränderungen. Kracauers Geschichtsvermittlungen wohnt die Aufforderung inne, Prognosen zu durchkreuzen. »[E]s kommt darauf an, daß Menschen die Institutionen ändern,« (A, S. 115) schreibt er 1929 am Ende von Die Angestellten; dieser Schlusssatz (mit einem Touch einer Marx’schen Feuerbach-These) ist mehr proaktiv denn prognostisch. Freilich – die Wahrnehmung von Chancen auf andere Verläufe beschränkt sich nicht auf ein Festhalten von Unvorhersehbarkeit und ein Pathos der Kontingenz: Das Kracauer’sche »vielleicht« und »wer weiß«, diese Leerstellen im Wissen, was kommt (um nicht ›Wissens-Lücken‹ zu sagen), sie fragen nach Gegenkräften zu Kontinua der Herrschaft und zu Prozessen von deren Faschisierung. Nach Gegenkräften, die diese Leerstellen im Geschichtsverlauf vorübergehend füllen. So etwas ist z.B. das kritische Agieren in (bildungsprivilegierten) öffentlichen Diskursen, für das Kracauer exemplarisch steht; in seinem Fall auch in Form eines Eintretens (und eines analytischen Gesellschaftsterrain-Sondierens) für Bündnisse gegen die antidemokratische Rechte, für Allianzen zwischen der proletarischen Linken und den Mittelschichten. Und es sind antifaschistische und aufbegehrende Subjekte, zumal solche, die auch einer maskulinistischen Verhärtung der Gegenkräfte entgegenstehen. Darum geht es nun in Kapitel 2.
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»Es ist Sache der [Geschichte], in jedem ›und so weiter‹ ein ›nicht so weiter‹, ›nicht und‹, ›anders als so‹ wahrzunehmen, zu realisieren, zu aktualisieren. Das ist die kleinste Geste ihrer Politik.« Zugegeben: Im Original steht »Philologie« statt »Geschichte«. Werner Hamacher: »95 Thesen zur Philologie« (These 36), S. 60.
2. Politik: Aufladung, Bündnis, antifaschistische Subjekte (Mädchen in Uniform)
Eine Laden-Passage, die eine Gesellschaft im Konflikt beherbergt, und deren modernisiertes Rahmenwerk »später einmal wer weiß was ausbrüten wird – vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts«: Davon schreibt Kracauer 1930 in seinem »Abschied von der Lindenpassage«.1 Das Wort »vielleicht« bekräftigt hier das Moment des Nichtwissens im Verhältnis zu einer möglichen faschistischen Zukunft; das »oder auch gar nichts« steht für die Möglichkeit einer anderen Zukunft, für das Offenhalten von Chancen auf einen anderen Verlauf als den, der droht, aber nicht unvermeidlich ist. Soweit mein Kapitel 1. Als unvermeidlich allerdings erscheint eine Erfahrung von Endlichkeit, die das Denkbild-Szenario von Kracauers allegorischem Lindenpassage-Essay anspricht. Darum geht es nun: um Endlichkeit und wie sie sich in Erfahrungen eines Prekär-Werdens manifestiert. Und nachdem nun Kapitel 1 schwerpunktmäßig der Geschichte galt, widmet sich dieses Kapitel im engeren Sinn der Politik.
2.1 »Die Vorläufigkeit aller gegebenen Konfigurationen«: Passage durch das Nichts, Passage durch die Politik »Wir selber begegneten uns als Gestorbene in dieser Passage wieder.«2 Das schreibt Kracauer über die Berliner Kaufhaus-Arkaden namens Lindenpassage, kurz bevor sein Text mit dem Ausbrüten von Faschismus oder auch gar nichts endet. Wo »wir« uns als Gestorbene begegnen, macht dieses Wir eine Erfahrung von Hinfälligkeit: nicht nur, was den je individuellen Tod betrifft, sondern auch 1 2
SK: »Abschied von der Lindenpassage« [FZ 21.12.1930] OdM, S. 332. Ebd.
2. Politik: Aufladung, Bündnis, antifaschistische Subjekte (Mädchen in Uniform)
Eine Laden-Passage, die eine Gesellschaft im Konflikt beherbergt, und deren modernisiertes Rahmenwerk »später einmal wer weiß was ausbrüten wird – vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts«: Davon schreibt Kracauer 1930 in seinem »Abschied von der Lindenpassage«.1 Das Wort »vielleicht« bekräftigt hier das Moment des Nichtwissens im Verhältnis zu einer möglichen faschistischen Zukunft; das »oder auch gar nichts« steht für die Möglichkeit einer anderen Zukunft, für das Offenhalten von Chancen auf einen anderen Verlauf als den, der droht, aber nicht unvermeidlich ist. Soweit mein Kapitel 1. Als unvermeidlich allerdings erscheint eine Erfahrung von Endlichkeit, die das Denkbild-Szenario von Kracauers allegorischem Lindenpassage-Essay anspricht. Darum geht es nun: um Endlichkeit und wie sie sich in Erfahrungen eines Prekär-Werdens manifestiert. Und nachdem nun Kapitel 1 schwerpunktmäßig der Geschichte galt, widmet sich dieses Kapitel im engeren Sinn der Politik.
2.1 »Die Vorläufigkeit aller gegebenen Konfigurationen«: Passage durch das Nichts, Passage durch die Politik »Wir selber begegneten uns als Gestorbene in dieser Passage wieder.«2 Das schreibt Kracauer über die Berliner Kaufhaus-Arkaden namens Lindenpassage, kurz bevor sein Text mit dem Ausbrüten von Faschismus oder auch gar nichts endet. Wo »wir« uns als Gestorbene begegnen, macht dieses Wir eine Erfahrung von Hinfälligkeit: nicht nur, was den je individuellen Tod betrifft, sondern auch 1 2
SK: »Abschied von der Lindenpassage« [FZ 21.12.1930] OdM, S. 332. Ebd.
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gesellschaftlich betrachtet. Beides zusammen meint Kracauer hier: Erfahrung der Endlichkeit einer Einzelperson wie auch einer Gesellschaft, einer bürgerlichen zumal.3 Dies spricht er zeitgleich, 1930, auch in seiner Studie zu den Angestellten, deren Alltag und Ideologie, an: »Die Flucht der Bilder ist die Flucht vor der Revolution und dem Tod.« (A, S. 99) Was heißt das? Kracauer meint hier die »wiederkehrenden Bildmotive« der Filme und Magazine, die unter den Mittelschichten, also den Massen von Angestellten und Kleinbürger*innen, populär sind. Diese Bilder fungieren »wie magische Beschwörungsformeln«, sie bannen die Erfahrung von Endlichkeit, verdrängen sie aus dem Bewusstsein. Die »Flucht der Bilder«, die vor der Wirklichkeit fliehende Bilderflut der Konsumkultur bzw. (heutiger gesagt) Medienkultur, würde, so Kracauer, die Erfahrung von Endlichkeit nachgerade »in den Abgrund bildloser Vergessenheit zu stürzen trachten«. Was also wird im kapitalistisch rationalisierten Freizeit-Alltagsbetrieb um 1930 dem Vergessen preisgegeben? Vergessen werden sollen, wie zitiert, Tod und Revolution, nämlich »jene Gehalte, die von der Konstruktion unseres gesellschaftlichen Daseins nicht umschlossen werden, sondern dieses Dasein selbst einklammern.« (A, S. 99) Das also, was nicht einen Teil des Lebens, das stets ein gesellschaftliches ist, darstellt; sondern was dieses Leben selbst einrahmt, als dessen Einklammerung. Diese Einklammerung begrenzt das »gesellschaftliche Dasein« und setzt es zugleich zu seinem Außen in Beziehung: Wie der Tod bzw. das Nicht-Sein das Leben, das Dasein, einklammert, so klammert die Revolution, als etwas Gesellschaften Hervorbringendes und Beendendes, das Alltagsleben der Gesellschaft ein. Kontingenz gegenüber dem Tod und Kontingenz gegenüber der Möglichkeit, dass Gesellschaft radikal umgestaltet werden könnte – also gegenüber einer Revolution: Vor beiden Einklammerungen, vielmehr deren Bewusstwerdung, flieht eine Art Kult der Verdrängung. »Die Flucht der Bilder ist die Flucht vor der Revolution und dem Tod.« (A, S. 99) In Sachen Tod: Die Alltagskultur der Mittelschichten bekräftigt den Jugend- und Leistungskult in der Arbeitswelt, den Kracauer in Die Angestellten analysiert, als eine Ausflucht vor individuellen Erfahrungen von Endlichkeit
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»Gesellschaft« benennt Kracauer hier als bürgerliche, sowie durch Synonyma mit existenziellen Zügen: Er spricht am Textbeginn von »bürgerlichen Passagen«, »Gänge[n] durchs bürgerliche Leben« bzw. durch die »bürgerlich[e] Öffentlichkeit« und am Ende vom »Durchgang durch die bürgerliche Welt«, weiters ohne Adjektiv von »Daseinsform«, von einer »Zeit« und im Schlusssatz von »einer Gesellschaft, die selber nur eine Passage ist«. Ebd., S. 327, 332.
2. Politik: Aufladung, Bündnis, antifaschistische Subjekte (Mädchen in Uniform)
und von Einschränkung leiblichen Könnens (in etwa: von Vulnerabilität).4 In Sachen Revolution: Dieser Alltagshabitus bekräftigt zugleich die Ideologie der Geschichtslosigkeit, in deren Optik die bürgerliche Gesellschaftsordnung als natürlich, in phantasmatischer Allheit und Ganzheit, erscheint. Das bedeutet eine Weigerung, sich mit der eigenen Geschichtlichkeit zu konfrontieren, also auch mit dem Konflikthaften in dieser Gesellschaftsordnung: mit ihren Widersprüchen, mit politischen Gegenkräften, die sie in Frage stellen. Allerdings hält Kracauer an der Konsumkultur der alltagsdurchdringenden warenförmigen Bilder oft auch gegenläufige Dynamiken fest: Momente, in denen das flüchtende Vergessen-Machen von Endlichkeit nicht so total und reibungslos funktioniert, in denen sich vielmehr Möglichkeiten zur individuellen und kollektiven Selbstkonfrontation im Zeichen der eingeklammerten Gegenwart, der Geschichtlichkeit, ergeben. Auf eine solche Möglichkeit hin, die inmitten derselben betriebsamen Alltagskultur auftaucht, interpretiert Kracauer eben die vergammelten, nun neusachlich renoviert werdenden Laden-Arkaden der Berliner Lindenpassage: In ihr »begegneten [wir] uns als Gestorbene«, und »dieser Durchgang durch die bürgerliche Welt [übte] an ihr eine Kritik, die jeder rechte Passant begriff.«5 Jeder rechte Passant, das heißt hier, jede*r, die*der dies wirklich ist. Für Passant*innen, die wirklich durch die bürgerlich regierte Welt gehen, die sich nicht an einem dieser Welt enthobenen Ort imaginieren oder platzieren (sei dieser weltenthobene Ort nun Schöngeistigkeit oder ein Dachausbau über der erhitzten Stadt) – für sie ist die Kritik an dieser Welt anhand ihres Mitten-in-der-Passage-Seins sinnfällig zu begreifen: Ihnen zeigt sich die bürgerliche Welt als die gewalttätige Unordnung, die sie ist; sie zeigt sich als eine ständig von beschleunigten ›Rationalisierungen‹ (vulgo ›Fortschritt‹) überholte Ansammlung von Waren,
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Kracauer spricht davon, wie betriebliche »Eignungsprüfer« Systeme regelrechter »Zuchtwahl« ins Werk setzen, und zwar nach Maßgabe »der verminderten Absatzfähigkeit von Runzeln und angegrauten Haaren« auf dem Markt der Verkaufs- und BüroArbeitskräfte. Dem »Druck« solcher »Rationalisierung« antworten wiederum der »Andrang zu den vielen Schönheitssalons« und »der Gebrauch kosmetischer Erzeugnisse« in Abgleichung des eigenen Erscheinungsbildes (»moralisch-rosa Hautfarbe«) mit »Photographien« (A, S. 23ff). Analogien zu Influencer*innen-basiertem Optimierungsdruck von heute liegen auf der Hand; an dieser Stelle nur der Hinweis, dass es Kracauer nicht um Kulturkritik, sondern um die Analyse von Habitus und Regierungstechniken geht. SK: »Abschied von der Lindenpassage«, S. 332.
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die wie entwurzelt und miteinander rivalisierend aufgehäuft sind. In solchen Szenarien liest, allegorisiert, Kracauer die Passage: als Sphäre zahlloser ›Überflüssiger‹, die deklassiert und schäbig, im Dauerkonflikt und umso mehr todgeweiht sind, virtuell bereits Gestorbene. Die Massen in Kracauers Text sind Warenobjekte; also nicht so anders als das, was Kapitalverhältnisse in bürgerlichen Gesellschaften (oder deren [Post-]Kolonien) aus Menschen machen. Als ein Schauplatz, der solche Einsichten als eine Anmutung nahelegt und als ein Denk-Bild dechiffrierbar macht, ist die Lindenpassage für Kracauer ein Ort der praktischen »Kritik« an der »bürgerlichen Welt«; einer Kritik, die innerhalb dieser Welt artikuliert wird: »Dies: daß die Lindenpassage eine Daseinsform desavouierte, der sie noch angehörte, verlieh ihr die Macht, von der Vergänglichkeit zu zeugen.«6 Ähnlich sieht Kracauer um 1930 seine eigene Rolle als Kritiker und Essayist bei einer liberalen bürgerlichen Tageszeitung. Er ist ein (zu dieser Zeit besonders merklich) marxistisch inspirierter Denker/Schreiber, aber im Unterschied zu anderen Frankfurter (Post-)Marxisten rund um ihn – die sich in der Philosophie, Wissenschaft oder Nähe zum Kunstdiskurs positionieren – ist er selbst viel mehr ein Angestellter, der im Tagesgeschäft unter Konkurrenz- und Rationalisierungsdruck arbeitet; das macht ihn dem lohnabhängigen Proletariat verwandt. Als ein ständig über gesellschaftliche Wirklichkeiten und Ideologiephänomene Schreibender allerdings erzeugt er gegenüber der bürgerlichen »Daseinsform«, der er nichtsdestotrotz angehört, sowie mitten in ihr tägliche Effekte »destruktiver« Kritik.7 Der Durchgang, die Passage, durch die bürgerliche Gesellschaft vermittelt deren Vergänglichkeit; nicht zuletzt insofern, als diese Passage vielleicht im Faschismus oder auch in gar nichts münden könnte. An diesem Punkt macht es Sinn, die Verwandtschaft ins Spiel zu bringen, die zwischen Kracauers Denken und jenen konzeptuellen »Passagen« besteht, von denen der Politiktheoretiker Oliver Marchart heute schreibt; eine Verwandtschaft, über die Wortgleichheit hinaus, im Register der Auffassung von Gesellschaft. Zu den Ausgangspunkten von Marcharts Theorie, seiner Begrifflichkeit radikaler Kontingenz und grundlegenden Konflikts in der Gesellschaft, zählen die Passage durch das Nichts und die Passage durch die Politik. Die Passage durch das Nichts ist eine
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Ebd. Er schreibt am 22.7.1930 in einem Brief an Adorno vom »ganz hübschen destruktiven Effekt«, den seine kritischen Zeitungstexte täglich erzielen (Ado, S. 232).
2. Politik: Aufladung, Bündnis, antifaschistische Subjekte (Mädchen in Uniform)
von Marcharts verdichteten Bezeichnungen dafür, dass gesellschaftliche Ordnungen – weil sie wie alles, was ist, zeitlich sind – durch ihr Nicht-notwendigso-Sein hindurchgehen: Ihr Bestand durchläuft notwendig die Konfrontation mit seiner Kontingenz, damit, dass seine Identität stets nur vorläufig stabil ist.8 Diese im Grundlegenden – mit Marchart: ontologisch – situierte Bindung an das Insistieren eines Anders-sein-Könnens wirkt sich in der Prekarität jeweiliger Machtgefüge aus; Politik ist dann der Umgang mit dieser Prekarität und ihren Wirkungen (auch damit, dass die Prekarität zeitweise latent bleibt, weil manche Ordnungen als unverrückbar erscheinen, manche Regierungen als alternativlos etc.). Diese Auffassung von Politik teilt Kracauer – auch wenn er kein Politologe oder Politiktheoretiker ist, auch wenn er in der heute vorherrschenden Rezeption (fälschlich) fast nur als Kulturwissenschaftler und Filmästhetiker gilt. Politik taucht bei ihm an einem nicht angestammten Ort auf, in Schriften, auf denen nicht ›groß Politik draufsteht‹; genau dieses irritierende, nicht ganz ruhigzustellende Auftauchen ohne Anstammung macht schon einiges von der grundlegenden ›Politizität‹ aus, um die es hier geht: dass nämlich auch ein Schauplatz, der gemeinhin für unpolitisch und für eine Domäne des rein Alltagskulturellen gehalten wird, von Momenten durchzogen ist, in denen Politisches, das implizit immer mitprägt, akut zutage tritt. In der Querlektüre von Marcharts und Kracauers Passagen-Begrifflichkeiten wird auch deutlich, dass die Rede von einer Passage durch das Nichts bzw. die Rede von einer Passage, die vielleicht gar nichts ausbrüten wird, keineswegs auf Nihilismus hinausläuft: weder auf eine Anbetung des Nichts noch auf Indifferenz.9 Wenn Kracauer schreibt, die Gesellschafts-Passage werde vielleicht den Faschismus oder auch gar nichts ausbrüten, dann zeugt das definitiv nicht von Indifferenz – so als wäre es egal, als wäre es ›nichtig‹, was im Gesellschaftlichen und Politischen passiert, was da nun ›kommt‹. Kracauer schreibt 1930 ja gerade deshalb vom Ausbrüten von Faschismus oder auch gar nichts, weil ihm die Frage, ob die deutsche Gesellschaft faschistisch regiert werden wird oder ob Chancen auf eine andere Ordnungen intakt bleiben, brennend wichtig ist. Kracauer zählt zu jenen, die Gesellschaft politisch denken, sie als politisiert denken. Dies, indem er sie zunächst als radikal prekär, von Grund auf unsicher auffasst. Das heißt nun wiederum nicht, dass Gesellschaft gänzlich 8 9
Oliver Marchart: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin 2010, S. 195f. Dem Nihilismus als Bestandteil faschistischer Ideologie widmet sich Kap. 4.
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›grundlos‹ ist; auch nicht, dass sie im permanenten Tumult ist. Sehr wohl aber sind die Gründe von Gesellschaft nicht fix und geben keine Garantien ab. Gerade darum sind sie ein Ausgangspunkt: Kracauers Kontingenz-sensitives Denken und Schreiben zielt darauf, »die Vorläufigkeit aller gegebenen Konfigurationen nachzuweisen, wenn nicht gar die Ahnung der richtigen Ordnung des Naturbestands zu erwecken.«10 »Naturbestand« meint hier die Gesamtheit der Wirklichkeit als einen Bestand, der immer anders geordnet wird; erahnt, nicht ausbuchstabiert, soll werden, wie die richtige – gerechte – Ordnung aussieht; gegenüber den gegebenen Ordnungen sagt die Ahnung: So nicht. Ausgangspunkte sind die Bruchstellen am Grund der Gesellschaftskonstruktion: Grund suchen heißt Bruch finden.11 Umso mehr gilt es, aufmerksam zu verfolgen, wie sich die vorläufigen Konfigurationen, die jeweils beanspruchen, Gesellschaft zu gründen, zu formen, auch ruhigzustellen – wie sich diese Ordnungen verändern: wie sich eine alte Ordnung modifiziert behauptet, wie sich eine neue durchsetzt. Damit sind wir bereits bei der Passage durch die Politik (im Marchart’schen Sinn). Kontingenz ist der Grund von Gesellschaft; Politik ist die Handlungsform, in der die Erfahrung von Kontingenz im Bereich von Macht und Konflikt bearbeitet wird; Geschichte ist die Zeitform dieser Erfahrung und ihrer Bearbeitung. Die Kontingenz am Grund und als Grund von Gesellschaft – also die Passage einer bestimmten Gesellschaft durch das ihr radikal äußerliche Nichts, ihr potenzielles Nicht-Sein (ihre Endlichkeit) – wahrzunehmen, heißt eo ipso, diese Kontingenz nicht einfach anzuerkennen (etwa aus einer Ethik reiner Großherzigkeit; denn diese liefe ultimativ eben darauf hinaus, dass die Grundlagen der Ordnung egal wären, also auf Indifferenz). Vielmehr: Was den Grund von Gesellschaft kontingent macht, ist gerade der Umstand,
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Kracauers Denken und Schreiben orientiert sich dabei vielfach an emphatischer Wirklichkeitswahrnehmung, für die Film und Fotografie modellhaft sind; respektive, wie in diesem Zitat, Fotografie, in deren Fluchtpunkt Film liegt – mit seinem Vermögen, Wirklichkeits-»Bruchstücke« »umzutreiben«. SK: »Die Photographie« [FZ 29.10.1927] OdM, S. 39. Über die deutsche Bourgeoisie, die ihre Geschichtlichkeit verdrängt, schreibt Kracauer 1930, sie könnte »erst dann auf Grund stoßen, wenn sie sich ohne jede ideologische Schutzhülle an die Bruchstelle unserer Gesellschaftskonstruktion begäbe und sich auf diesem vorgeschobenen Posten mit den sozialen Mächten auseinandersetzte, in denen sich heute die Wirklichkeit verkörpert.« SK: »Die Biographie als neubürgerliche Kunstform« [FZ 29.6.1930] OdM, S. 78.
2. Politik: Aufladung, Bündnis, antifaschistische Subjekte (Mädchen in Uniform)
dass er notwendig umstritten ist, dass verschiedene Vorstellungen der Gründung, der grundlegenden Formung, von Gesellschaft gegeneinander stehen, im Streit stehen. Dieser Streit ist Sache der Politik: der Durchsetzung kollektiver, zielgerichteter Projekte in Hinblick auf gesellschaftliche Gründung, Formung, Ordnung. Wo ein Handeln Ansprüche stellt, auch Machtansprüche, in Bezug auf gesellschaftliche Ordnung – wo es diese Forderung, diese Ordnung, gegen jene stellt –, nimmt solch ein Handeln einen Durchgang, eine Passage, durch die Politik; insofern nämlich, als es, wie Marchart darlegt, nicht im bloß Kulturellen oder im ethisch ›reinen‹ Bereich eines ›Alles-Anerkennens‹ verbleibt.12 Inwiefern ist das für Kracauers Sichtweise des Faschismus relevant? Das zeigt sich deutlich schon in seiner Perspektive auf die Propaganda des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus. Über diese verfasste er 1936–1938 im Pariser Exil eine umfangreiche Studie, deren Publikation allerdings (v.a. aufgrund von Theodor W. Adornos Hintertreiben; siehe Kap. 1.3) damals unterblieb und erst 2013 unter dem Titel Totalitäre Propaganda erfolgte. Propaganda ist für Kracauer eine Form von Politik; seine Studie betitelte er mit Die totalitäre Propaganda. Ein politischer Traktat (Herausgeber-Nachwort, TP, S. 323). Propaganda – hier: die der Bewegungen und Regierungen rund um Mussolini und Hitler – ist also (als) politisch aufgefasst.13 In der »totalen Diktatur«, verstanden als »Machttyp« (»Disposition« Juli 1937, TP, S. 246f), ist Propaganda »nicht nur ein Mittel zur Durchführung irgendwelcher politischer Ziele, sondern Politik selber« (»Exposé« Dez. 1936, TP, S. 231). Die Politik des Faschismus geht Kracauer in Totalitäre Propaganda nicht anhand von Propagandafilmen an (auch wenn dies zu vermuten bei Kracauer, als einem heute weithin als Filmkritiker und Filmtheoretiker bekannten Autor, nahe liegt).14 Ebenso wenig versteht er faschistische Propaganda im Licht von beschädigter Alltagskultur bzw. Unkultur.15 Vielmehr untersucht er anhand von Propagan12
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Bzw. sofern Kulturelles und Ethisches zum Schauplatz expliziter kollektiver Durchsetzungsansprüche, sprich: politisiert werden. Marcharts Rede von der notwendigen Passage durch die Politik hebt auf die Unterscheidung ab zwischen einer politisch verstandenen Demokratie und einer rein ethisch verstandenen Demokratie; letztere würde sich, gleichsam endlos und formlos, einer reinen Anerkennung von schlechthin Anderem/n verpflichten. Marchart: Die politische Differenz, S. 351, 354. Zu Kracauers Umgang mit dem Konzept des Totalitären kommen wir in Kap. 4 und 5. Zu seiner Sicht auf filmische Nazi-Propaganda siehe Kap. 4.1, 4.2, 5.5 und 6.4. Ebendiesen kulturellen Akzent setzt 1938 Adorno, indem er stark auf Sittenverfall als Effekt von Nazi-Propaganda abhebt (siehe Kap. 1.3). – Näher an der politischen Funktion von Propaganda, auch ähnlicher zu Kracauer, meint Adorno dann 1946, dass im
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da Techniken der politischen Mobilisierung und des Regierens. Was er an der faschistischen Propaganda herausarbeitet, ist eine Politik, die sich allerdings in letzter Konsequenz antipolitisch auswirkt, weil sie auf die Abschaffung von Politik im Sinn öffentlicher Konfliktaustragung abzielt. Faschistische Propaganda ist eine Massenverbreitung, die weniger Inhalte vertritt oder Positionen bezieht als dass sie Gefühle und Stimmungen verbreitet, und zwar ultimativ, um andere Stimmen gewaltsam zum Schweigen zu bringen (siehe Kap. 4.2).
2.2 Problembeziehungen (mit Laclau): zwischen gesellschaftlichen Ursachen und politischen Wirkungen; zwischen Kracauer und Bloch Für Kracauer ist Politik ein Bereich von Wirklichkeiten, die mit gesellschaftlichen Aufteilungen und Formationen notwendig in enger Beziehung stehen, aber dem Gesellschaftlichen gegenüber auch eigenen Logiken folgen. Diese Eigendynamik politischer Formbildungen ist in Kracauers Spätschriften unter dem Aspekt der Nicht-Rückführbarkeit bzw. Irreduzibilität von Wirkungen gegenüber Ursachen angesprochen; nämlich als die Art, wie sich effects gegenüber causes und wie sich politisch-ideologische Symptome gegenüber dem Boden soziologisch gesicherter Tatsachen verselbständigen: Ebendies trete in der Verfremdungs-Optik von Filmen besonders deutlich zutage. Mehr noch, effects und causes können regelrecht Platz tauschen, wie er 1947 schreibt: »Effects may at any time turn into spontaneous causes. Notwithstanding their derivative character, psychological tendencies often assume independent life, and, instead of automatically changing with ever-changing circumstances, become themselves essential springs of historical evolution.« (CH, S. 9) Und dass in der Geschichte Situationen auftauchen, die nicht in historiografische Kausalreihen und Kontinua rückverrechenbar sind, trägt mit dazu bei, dass Geschichte sich als die Wirklichkeit der Kontingenz und Neuanfänge präsentiert.16 Das sind Gedanken zur Politik-Wahrnehmung in der Gesellschaft und
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Faschismus »propaganda itself becomes the ultimate content«; und 1967, dass Propaganda »bei den Nazis geradezu die Substanz der Sache selbst«, »geradezu die Substanz der Politik« war. – Theodor W. Adorno: »Anti-Semitism and Fascist Propaganda« [1946] in: The Stars Down to Earth and Other Essays on the Irrational in Culture. New York 1994, S. 220; Adorno: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. [1967] Berlin 2019, S. 23f. In Kracauers posthumem Buch History heißt es, Geschichte sei geprägt von »contingencies« und »new beginnings« (H, S. 31); und zur Irreduzibilität: »There are actions and
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da Techniken der politischen Mobilisierung und des Regierens. Was er an der faschistischen Propaganda herausarbeitet, ist eine Politik, die sich allerdings in letzter Konsequenz antipolitisch auswirkt, weil sie auf die Abschaffung von Politik im Sinn öffentlicher Konfliktaustragung abzielt. Faschistische Propaganda ist eine Massenverbreitung, die weniger Inhalte vertritt oder Positionen bezieht als dass sie Gefühle und Stimmungen verbreitet, und zwar ultimativ, um andere Stimmen gewaltsam zum Schweigen zu bringen (siehe Kap. 4.2).
2.2 Problembeziehungen (mit Laclau): zwischen gesellschaftlichen Ursachen und politischen Wirkungen; zwischen Kracauer und Bloch Für Kracauer ist Politik ein Bereich von Wirklichkeiten, die mit gesellschaftlichen Aufteilungen und Formationen notwendig in enger Beziehung stehen, aber dem Gesellschaftlichen gegenüber auch eigenen Logiken folgen. Diese Eigendynamik politischer Formbildungen ist in Kracauers Spätschriften unter dem Aspekt der Nicht-Rückführbarkeit bzw. Irreduzibilität von Wirkungen gegenüber Ursachen angesprochen; nämlich als die Art, wie sich effects gegenüber causes und wie sich politisch-ideologische Symptome gegenüber dem Boden soziologisch gesicherter Tatsachen verselbständigen: Ebendies trete in der Verfremdungs-Optik von Filmen besonders deutlich zutage. Mehr noch, effects und causes können regelrecht Platz tauschen, wie er 1947 schreibt: »Effects may at any time turn into spontaneous causes. Notwithstanding their derivative character, psychological tendencies often assume independent life, and, instead of automatically changing with ever-changing circumstances, become themselves essential springs of historical evolution.« (CH, S. 9) Und dass in der Geschichte Situationen auftauchen, die nicht in historiografische Kausalreihen und Kontinua rückverrechenbar sind, trägt mit dazu bei, dass Geschichte sich als die Wirklichkeit der Kontingenz und Neuanfänge präsentiert.16 Das sind Gedanken zur Politik-Wahrnehmung in der Gesellschaft und
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Faschismus »propaganda itself becomes the ultimate content«; und 1967, dass Propaganda »bei den Nazis geradezu die Substanz der Sache selbst«, »geradezu die Substanz der Politik« war. – Theodor W. Adorno: »Anti-Semitism and Fascist Propaganda« [1946] in: The Stars Down to Earth and Other Essays on the Irrational in Culture. New York 1994, S. 220; Adorno: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. [1967] Berlin 2019, S. 23f. In Kracauers posthumem Buch History heißt es, Geschichte sei geprägt von »contingencies« und »new beginnings« (H, S. 31); und zur Irreduzibilität: »There are actions and
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in der Geschichte allgemein; präfiguriert sind diese Gedanken anhand der faschistischen Propaganda in Kracauers 1938er Studie Totalitäre Propaganda: »Die mannigfachen Gestaltungen, zu denen sich das geistige und seelische Leben verdichtet, behaupten sich also in größerer oder geringerer Unabhängigkeit von den gesellschaftlichen Interessen […]. Einmal gezeugt, gedeihen sie zu selbständigen Wesen, die mehr als eine Bedeutung annehmen und doch als Einheiten ins gesellschaftliche Leben eingreifen.« Ideologisches »führt sein eigenes Leben«: Als ein Beispiel dafür nennt Kracauer dafür etwa, wie eine imperialistische Gesinnung gegenüber Klasseninteressen, denen sie dient, in Teilen selbständig wirksam ist (TP, S. 12f).17 Er referenziert an dieser Stelle Max Horkheimers Theoreme zur Verselbständigung sozialer Forderungen gegenüber den Klassen, die sie äußern.18 Parallelen weist Kracauers Auffassung von Politik allerdings auch zur aktuelleren Politiktheorie von Ernesto Laclau auf, einem postmarxistischen Theoretiker, der die Eigenlogik politischer Formbildungen betont; um Politik geht es dabei als die Dynamisierung und Veränderung, nicht bloß Administrierung, gesellschaftlicher Verhältnisse. Beide, Kracauer und Laclau, gehen Fragen der Politik aus einer sozialistischen Orientierung heraus an.19 Um Parallelen zwischen ihnen kurz (von Laclau her) zu schematisieren – da ist zunächst das Moment der Aufladung: Bewegungen laden Forderungen auf, erheben sie in den Status einer Partikular-Position solcher Art, dass sie für das gesellschaftliche Allgemeine einstehen können soll, dabei rivalisierend mit anderen Positionen,
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emergent situations which so stubbornly resist a breakdown into repeatable elements or a satisfactory explanation from preceding or simultaneous circumstances that they had better be treated as irreducible entities.« (H, S. 29) Das Beispiel im Wortlaut: »Was sich da in der geistigen Sphäre als Begriff imperialer Haltung herausschält: es ist etwas für sich, es führt sein eigenes Leben.« (TP, S. 12) Wir kommen unter dem Stichwort »Verinnerlichung« gleich darauf zurück. – Max Horkheimer: »Egoismus und Freiheitsbewegung (Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters)« [1936]. https://www.gleichsatz.de/b-u-t/kriton/hork/heimer1egofrei.html und https://www.gleichsatz.de/b-u-t/kriton/hork/heimer2egofrei.html#III [4.2.2023]. Kracauer legt seine Politikkonzeption am umfassendsten in seiner Auseinandersetzung mit dem Faschismus dar (den er bekämpft und von dem er als rassistisch Verfolgter massiv betroffen ist). Ernesto Laclau wiederum lässt seine Politikkonzeption in eine Theorie des Populismus einmünden, eines Strategie-Stils politischer Mobilisierung, der links wie auch rechts praktizierbar ist; wobei Laclau (On Populist Reason. London, New York 2005) eine populistische Logik keineswegs aburteilt, sondern sie der Linken als eine Strategie-Option erläutern möchte.
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als Stand-in also nur provisorisch. Ein Teil neben anderen, auch gegen andere, steht für das – mit politischem Pathos gesagt – Ganze; dieses ist allerdings ein unmögliches Ganzes – ein gleichsam nicht total(itär)es, sondern unganzes Ganzes. Weniger paradox gesagt: Es ist Hegemonie – eine Allgemein-Formung in einer Vorherrschaft, die grundlegend ist, aber umstritten und vorläufig bleibt. Von Bedeutung ist dabei Politik in ihrer Eigenschaft als Gefühlspolitik, als notwendiger Überschwang affektiver Besetzungen beim Aufladen von Teil-Positionen; dies in einem Spannungsverhältnis zur Programm-Systematik politischer Inhalte. Und schließlich ist da der Aspekt, dass Politik, z.B. Mobilisierung, nie reduzierbar ist auf einen Ausdruck von Kollektivsubjekten, die, z.B. als Klassen oder Milieus, in der Gesellschaft bereits vorhanden, als ›fertig‹ gegeben wären; vielmehr bringt Politik neue Subjekte, zumindest SubjektFacetten, im Kollektiven hervor: Akteur*innengruppen versammeln sich um Haltungen und Forderungen, die nicht auf jeweils schon präformierte soziale Sachverhalte rückführbar sind. Plastisch wird das anhand politischer Bündnisse, die Kollektivsubjekte rund um ein gemeinsames Projekt formieren. Politische Aufladungen, Gefühlspolitik, Bündnispolitik und eine Ausrichtung auf ein strittiges Ganzes: Diese Themen prägen auch Kracauers Zugang zur Politik, insbesondere rund um Faschismus und die Auseinandersetzung mit ihm. Ein Ausgangspunkt ist dabei die Einsicht, dass die Geschichte nicht Entwicklungsgesetzen folgt, zumal nicht einer dogmatisch-marxistischen Klassenkampf-Teleologie: »Verliefe die geschichtliche Entwicklung nach den Gesetzen der Logik, so wäre es eine Selbstverständlichkeit, daß sich die neuen Massen« – er meint hier die Mittelschichten – »mit dem Proletariat vereinigen, dem sie durch […] ihre Existenzbedingungen […] faktisch zuzurechnen sind,« schreibt er 1938 (TP, S. 117). Geschichte verläuft nicht nach gesetzesförmig-logischen Notwendigkeiten, nicht berechenbar. Kracauer untersucht um 1930 ausgiebig die deutschen Mittelschichten; diese sind – insbesondere als Gehaltsabhängige (Angestellte) und krisenanfällige Kleingewerbetreibende – objektiv fast ohne Besitz, also proletarisiert; aber ideologisch sind sie obdachlos, ohne geistig-kulturelle, auch politische, Verortung (eben weder in klassisch bürgerlichen noch in Arbeiter*innen-Organisationen verortet).20 Wenn es so wäre, dass eine sozialistische Einstellung, ein Zusammengehen mit dem Proletariat und dessen Forderungen, als notwendige Folgewirkung aus objektiven Klassenbedingungen ableitbar ist und dass, umfassender, Politik sich mit Notwendigkeit aus dem Gesellschaftlich-Objektiven ableiten lässt, dann – könnte 20
Zu Kracauers Mittelschicht-Untersuchungen und -Konzeption siehe Kap. 3.2.
2. Politik: Aufladung, Bündnis, antifaschistische Subjekte (Mädchen in Uniform)
Kracauer sich seine kritisch-analytische Arbeit zu Ideologien und politischen Haltungen, auch seine journalistisch-essayistische Überzeugungsarbeit, in Sachen Mittelschichten eigentlich sparen. Und Prognostik wäre der einzige relevante Erkenntnistypus in Bezug auf Politik.21 21
Insofern liegt der US-Historiker und Kritische Theorie-Experte John Abromeit in einigen Punkten seiner Interpretation von Kracauers Totalitäre Propaganda falsch. Diese Faschismus-Studie Kracauers ist ein noch wenig rezipierter Kracauer-Text; umso markanter ist die ausführliche Untersuchung, die Abromeit ihr 2020 widmet. Darin schneidet er ebenfalls Analogien zwischen Kracauers und Laclaus Politikbegriffen an (beide betonen Bündnis-Politiken über Klassendeterminismen hinaus); dies allerdings, um dann doch Laclau als einen ungebrochenen Schmittianer und Politik-Dezisionisten hinzustellen – und dem gegenüber Kracauer als einen, der letztlich Marxist und damit dem Primat des Gesellschaftlichen gegenüber der Politik treu geblieben sei, sowie auch einer klassendeterministischen Auffassung von Faschismus verhaftet. Das ist falsch. Aber Abromeit lobt Kracauer dem entsprechend dafür, dass er gezeigt habe, inwiefern die Umwandlung linker Ideen in rechte Ideologien »socially necessary« sei; dieses Lob geht allerdings ins Leere, denn Kracauer ist ja faktisch darum bemüht, Notwendigkeits-Anmutungen abzubauen – im Politischen, im Ideologischen, in der Geschichte. Dass es Kracauer, wie Abromeit schreibt, um eine »social theory of fascism« gegangen sei – mit dieser Zuschreibung habe ich kein Problem. (Die Frage ist ja immer, was solche Labels an Denkbar- und Wahrnehmbar-Machungen bedeuten.) Ein Problem ist aber, dass Abromeit die Trennwand, die er zwischen Kracauer und den Eigenlogiken von Politik errichtet, durch eklatante Übersetzungsfehler abstützt: »[Kracauer] rejects the autonomy of ›the political‹ from social and socio-economic relations,« schreibt er, denn: »Kracauer states clearly his conviction that ›the autonomous life (Eigenleben) of social reality determines the dictatorships.‹« Schreibt aber Kracauer nicht vielmehr, wie eben zitiert, dass manch ein ideologisches Gebilde der Politik »sein eigenes Leben« führt, in Absetzung von (wenn auch nicht ohne Beziehung zu) Klasseninteressen? (TP, S. 12) Liegt da ein Widerspruch vor? Nein, denn Abromeit übersetzt hier aus Totalitäre Propaganda nicht eine These, sondern einen sinnentstellend abgetrennten Teil von folgendem Kracauer-Satz (mit Verben in antiquiertem Deutsch, unschwer falsch zu übersetzen): »Das Eigenleben der gesellschaftlichen Realität bestimmt die Diktaturen nicht nur zu unablässigen Richtungsänderungen ihrer Aktionen, sondern nötigt sie ebenso häufig dazu, ein und dieselbe Aktion auf stets verschiedene Weise propagandistisch zu bescheiden.« (TP, S. 146) Von diesem Satz übersetzt Abromeit eben nur den Anfang »Das Eigenleben der gesellschaftlichen Realität bestimmt die Diktaturen« und missversteht ihn. (Das wiederzugeben, ist spitzfindig, scheint mir aber lohnend, weil der Fall so einleuchtend wie kurios ist.) – Krass auch, dass Abromeit Horkheimers Wort vom Faschismus als einer »bürgerlichen Pseudorevolution mit radikalen völkischen Allüren« (Horkheimer: »Egoismus und Freiheitsbewegung«, online: Teil 2) zu »bourgeois pseudo-revolution with radical populist trappings« macht, also »völkisch« mit »populist« übersetzt: Das trägt mit dazu bei, Laclau als einen Theoretiker
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In Sachen Politik sieht Kracauer soziale Bedingtheit im Sinn von Kontingenz – im Sinn eines exponierten Unter-den-Dingen-, In-medias-res-Seins –, aber nicht von durchgängiger Determinierung.22 Gesellschaftliche Verortungen sind weder stabil noch bestimmen sie die politische Aufladung bzw. die Politisierung von »Akten«, wie Kracauer schreibt, hier synonym mit: »Maßnahmen«. Das Apriori prädeterminiert nicht die Appropriation: »Grundsätzlich kann also jeder beliebige Akt den Sinn eines PropagandaAktes erlangen« – auch »irgendwelche Maßnahmen, die ursprünglich gar keine propagandistische Bedeutung besitzen« (TP, S. 141). Das gilt ja nicht nur für den Faschismus (und es ist auch nicht zynisch gemeint): So vieles kann politisiert werden, kann eine Passage durch die Politik durchlaufen. Mit Laclau gesagt: Nicht nur werden partikulare Positionierungen zur Hegemonie im (prekären) Ganzen genutzt; sondern es können auch Ideen, Begriffe, Gehalte,
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des Populismus (eines Strategie-Stils, der linken und egalitären wie auch rechten und autoritären Projekten dienen kann) in ein schiefes Licht zu rücken – quasi: Einmal Carl Schmitt zitiert, immer völkisch! Und Populismus ist bei Abromeit synonym mit Rechtspopulismus, der wiederum, so seine Darstellung, im Faschismus seine vorrangige Form hat. – Übel ist schließlich, wie Abromeit, als ein marxistischer Anhänger der Frankfurter Kritischen Theorie, Kracauer aus deren erlauchtem Zirkel ausschließt: Das tun ja viele gern, seit Adorno mit dieser elitistischen Unsitte begonnen hat (in seinem gehässig vernichtenden Gutachten 1938 zu Totalitäre Propaganda; siehe Kap. 1.3); Abromeit tut das allerdings mit ausgesprochen pikanten Wertungen. Nämlich: Kracauer habe in Totalitäre Propaganda deshalb so ausgiebig Horkheimer und Erich Fromm zitiert, weil diese beiden nicht nur gegenüber seiner eigenen Studie »superior« seien, sondern auch, weil Kracauer sich seiner »theoretical weaknesses«, insbesondere in Sachen Massen-Begrifflichkeit, bewusst gewesen sei. Ja, sicher! Denken wir (so verkneife ich mir nicht, zu ergänzen) an vorhergehende Kracauer-Aufsätze wie »Kult der Zerstreuung« oder »Das Ornament der Masse«, die längst als Inbegriffe von theoretical weakness in Sachen Massen-Begrifflichkeit gelten. – John Abromeit: »Siegfried Kracauer and the early Frankfurt school’s analysis of fascism as right-wing populism« in: Pierre-François Noppen, Gérard Raulet (Hg.): Theorie critique de la propagande. Paris 2020. https://b ooks.openedition.org/editionsmsh/25159?lang=de [4.2.2023]. Zu Ding-Denkmotiven beim späten Kracauer – zum Mensch-Sein als object among objects in Theory of Film (ToF, S. 45), zum »to think through things, not above them« in History (H, S. 192) – siehe Drehli Robnik: »DemoKRACy: Siegfried Kracauers Film-Theorie als Politik der nonsolution« in: Sabine Biebl, Helmut Lethen, Johannes von Moltke (Hg.): Siegfried Kracauers Grenzgänge. Zur Rettung des Realen. Frankfurt a.M., New York 2019.
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die zunächst nicht dem Bereich der Politik angehören, zwecks Mobilisierung politisch aufgeladen und teilweise umdefiniert werden.23 Kracauer macht in den 1930er Jahren darauf aufmerksam, dass eine Idee – ein ideeller »Begriff« bzw. »Gehalt«, wie er es oft nennt – in vielen Fällen nicht a priori links oder rechts, sozialistisch, bürgerlich oder faschistisch ist; sie ist auch nicht von vornherein als Ideologie einer Klasse auf deren Stellung in den Produktionsverhältnissen rückverrechenbar. »Das fahrlässige Verhalten vieler Kommunisten, alle bürgerlichen Begriffe als Ideologien zu brandmarken, hat sich bitter gerächt,« schreibt er nach der Niederlage der Linken gegen die Nazis.24 Und 1938 spricht er von »Kurzschlüssen, die daraus, daß ein Begriff kapitalistisch ausgebeutet wird, sofort folgern, er sei ein Derivat des Kapitalismus und ihn dann hurtig wegwerfen, ohne sich um die verschiedenen Bedeutungen zu kümmern, die vielleicht noch außerdem in ihm stecken.« (TP, S. 45) Seine Beispiele für fälschlich Weggeworfenes sind die Individualität und das nationalstaatliche Ganze, die beide nicht notwendig ein Fetisch, auch nicht eine alleinige Domäne, der Rechten sein müssten (dazu gleich mehr). Was die politische Aneignung und Adaptierung kollektiver Selbstbilder und Sentimente betrifft, gibt es eine explizite Nähe Kracauers zur Position seines Freundes Ernst Bloch, eines KP-nahen marxistisch-messianischen Philosophen. Bloch spricht in den frühen 1930ern von Energien in der Gesellschaft, die potenziell oppositionell sind, auch wenn sie nicht im geschichtsteleologischen ›Hauptwiderspruch Lohnarbeit versus Kapital‹ aufgehen: Diese Energien wären revolutionär politisierbar (gewesen). Indem aber die marxistische Parteipolitik sich auf einen ökonomistischen Rationalismus beschränkte, habe sie Potenziale und Sinnbestände rechts liegen, also den Nazis zur Nutzung überlassen: als da sind kleinbürgerliche Aversion gegen Großkapital, bäuerliches Unbehagen an technischer Rationalisierung, jugendliches Aufbegehren gegen die Sinnleere der Warenwelt und anderes mehr.25 Mit 23
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So z.B., als jeweils nicht a priori politische Inhalte, naheliegender Weise Religiöses in konservativen Politiken, Ethiken der Lebensführung in grünen, Verheißungen technischer Modernisierung in sozialdemokratischen Politiken; aber ebenso können neue Technologien konservativ politisiert werden (»Laptop und Lederhosen« der CSU), kann Religiös-Konservatives (›Schöpfungsbewahrung‹) grün und Eliten-Lifestyle (ToskanaFlair, Macher-Pose) sozialdemokratisch politisch aufgeladen werden. SK: »Über die deutsche Jugend« [in frz. Übersetzung in L’Europe Nouvelle 16.8.1933] 5.4, S. 462. Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a.M. 1985, Abschnitt »Ungleichzeitigkeit und Pflicht zu ihrer Dialektik«.
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viel Zustimmung hat Kracauer 1935 Blochs Thesen rezipiert:26 seine Thesen von der politischen Dialektik der Ungleichzeitigkeit gesellschaftlicher Lebensweisen, der zufolge bäuerliche Milieus, organisiertes Industrieproletariat und abenteuerlich gesinnte Jugendliche in verschiedenen Zeiten leben, aber im Rahmen eines undogmatischen, Gefühle nicht verwerfenden Marxismus politisch ›miteinander können‹ könnten. Lässt sich Blochs Zugang schematisieren als »Alles kann politisiert und dadurch revolutionär werden«, so wird, auch das nahe bei Kracauer, zumal auch zeitlich nahe seinen Faschismus-Studien, ebenso ein nahezu konträrer Ansatz vertreten; einer, der sich schematisieren lässt zum Leitsatz »Alles kann entpolitisiert und dadurch quasi-faschistisch werden«. Gemeint ist eine These, die Horkheimer und Kracauers Freund Adorno während des Zweiten Weltkriegs in ihrer Dialektik der Aufklärung zuspitzen: Wenn Nazi-Kampagnen Ziele zusammenmontieren, die einander heterogen, indifferent bis widersprüchlich sind – darunter auch mörderische Ziele –, dann sei dies eine Variante eines generellen Ticket-Denkens in der Politik. Den Ausdruck Ticket greifen die Autoren der Dialektik der Aufklärung in ihrem Kapitel »Elemente des Antisemitismus« kritisch aus dem Jargon von US-Wahlkämpfen auf, zusammen mit Planke und Plattform; er bedeutet: Jegliche Politik, auch die auf dem »fortschrittlichen Ticket«, wird so sehr schematisiert, ihr Teilbestand so entleert, fungibel und manipulativ zusammengespindoctort, dass es unmöglich wird, politisch Position zu beziehen (sich um eine spezifische Forderung zu sammeln); davon ist das »faschistische Ticket« nur ein krasser Fall.27 Bloch versus Horkheimer, schematisch gesagt. Markant zeigt sich der Gegensatz ihrer Faschismus-Deutungen Mitte der 1930er anhand von Religion, jeweils als Material dialektischer Wendungen. Laut Bloch ist vieles von dem, was die Nazis für sich nutzen, auch – sogar primär – für die Revolution nutzbar; so insbesondere das Vermächtnis christlich inspirierter egalitaristischer Volksbewegungen: Dieses messianische Erbe hätten, so Bloch, jene usurpiert, 26 27
SK an Ernst Bloch 7.2.1935 in: Ernst Bloch: Briefe 1903–1975. Erster Band. Frankfurt a.M. 1985, S. 385f. Horkheimer, Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 1969, S. 217; sowie S. 210.: »Antisemitismus ist kaum mehr eine selbständige Regung, sondern eine Planke der Plattform«; wer also den »Faschismus« unterstütze, befürworte »mit der Zerschlagung der Gewerkschaften und dem Kreuzzug gegen den Bolschewismus automatisch auch die Erledigung der Juden.« – Auch dem NachkriegsRechtsextremismus in der BRD attestiert Adorno (Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, S. 34), er führe den »Antisemitismus« als »eine ›Planke in der Plattform« weiter.
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die das kommende Reich propagieren, während der Partei-Marxismus den Fehler mache, seine religiöse Sub- und Vorgeschichte bzw. sein utopischmessianisches Erbe (eine »phantastisch-großartige Tradition« mitsamt ihrem »Adventsblick«) gänzlich zu verwerfen.28 Direkt entgegengesetzt dazu die Einschätzung Horkheimers; sie lautet quasi: Alle Vorgeschichte ist Herrschaftsgeschichte; alles, was Volksbewegungen gedient hat, nützt nunmehr, ins Ressentiment gewendet, der autoritären Herrschaft (wie er sie 1936 nennt), die sich in Deutschland und anderen bürgerlichen Gesellschaften verfestigt. Das gilt bei Horkheimer insbesondere für Verbreitungsweisen christlicher Moral, die nicht mehr die verachtenswerten Reichen attackieren, sondern den Massen Tugend und Reinheit predigen: Religiös artikulierte Wut und Erlösungssehnsucht wurden laut Horkheimer durch eine Massenführung, die Verinnerlichung und Askese propagiert, transformiert; nämlich in Ressentiment, das sich über die allseitige Unmoral empört, diese auf gesellschaftliche Minderheiten projiziert und letztere als Unheilsbringer stigmatisiert.29 Auch das ist das ›Erbe einer Zeit‹ (vieler Zeiten): eine Erbmasse an Hass, die dem Faschismus zufällt. In Hinblick auf geistig-seelische Antriebe von Politik fragt/sagt Kracauer 1938: »Wer weiß, welche Sprengkräfte noch in kleinbürgerlichen Phantasien beschlossen liegen! Lebendig wirkende Begriffsprägungen, Impulse, Arten menschlichen Seins – sie alle sind mit verschieden gerichteten Tendenzen und Assoziationen geladen, und solange sie in der Gestalt wirken, die sie nun einmal gewonnen haben, ist nichts verkehrter, als die eigentümliche Beschaffenheit, kraft derer sie wirkt, zu überspringen und lediglich ihrer auf der Hand liegenden ideologischen Funktionen zu achten.« (TP, S. 13) Hier vertritt er – und noch mehr Bloch – die Auffassung, kleinbürgerliche Wutgefühle ließen sich, so wie religiöse Paradiesverheißungen, durch marxistische Bewegungen beerben und umarbeiten. Allerdings: Sein »Wer weiß« sollten wir hier nicht überlesen (wir sollten es vielmehr fast so wörtlich nehmen wie dessen Gegenstück in der Lindenpassage, die »später einmal wer weiß was ausbrüten wird«30 ): Es ist ihm Ernst damit, dass wir nicht im Vorhinein wissen können; deshalb teilt er weder jene Gewissheit versprühende Emphase des alles durchdringenden utopischen Wachtraums, die Bloch später zu seinem Prinzip Hoffnung ausbauen wird; noch teilt er Horkheimers psychoanalytisch unterlegtes 28 29 30
Bloch: Erbschaft dieser Zeit, S. 126ff, 135. Horkheimer: »Egoismus und Freiheitsbewegung«. SK: »Abschied von der Lindenpassage«, S. 332.
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Urteil, Massenmobilisierung bedeute fast notwendig vertiefte Unterwerfung im Kostüm der Befreiung. Der notorische Realist Kracauer ist in seinen Faschismus-Studien der 1930er Jahre weder utopisch noch verzweifelt gesinnt; vielmehr ist er an wirklichen Möglichkeiten von Bündnissen orientiert, somit an Bedingungen von Politik. Einer Politik, die nicht ›rein‹ im Sinn von Purismus ist: Politik ist hier nicht als ein unkompromittiertes Handeln aufgefasst, sondern im Zeichen von Hegemonie, das heißt, bezogen auf dauerhaften streitenden Kontakt mit anderen – mit Gegner*innen wie auch potenziellen Verbündeten. Kracauer votiert nicht dafür, verständnisvoll ›mit Nazis zu reden‹, wohl aber dafür, kritisch mit jenen zu reden, die überlegen, ob sie die Nazis wählen sollen. Seine Kritik an Reinheitsgeboten – inspiriert zum Teil vom sozialistischen Antifaschisten Ignazio Silone, den er in Totalitäre Propaganda häufig zitiert – gilt einer Haltung seitens der radikalen Linken, die mehr darauf hinauslaufe, »die eigene Keuschheit zu retten«, also nur ja nicht beim Reformismus der Sozialdemokratie anzustreifen, als darauf, im gesellschaftlichen Ganzen Wirkungen zu erzielen und die Hegemonie-Verhältnisse zu verändern (TP, S. 113).31
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Silone, ein Mitbegründer und nun, Mitte der 1930er, Kritiker der Kommunistischen Partei Italiens, schreibt in seiner Faschismus-Analyse 1934: »In unserer Zeit ist das geschichtliche Problem, das sich dem Sozialismus stellt, nicht das, die eigene Keuschheit zu retten, sondern das, die ganze Gesellschaft auf neuer Basis zu reorganisieren […].« Ganz entgegengesetzt agierte laut Silone der »maximalistische Sozialismus« in Italien nach dem Ersten Weltkrieg: Er verwarf die bäuerlichen Revolten und das Kleinbürgertum als strategische Partner*innen, weil diese nicht »›rein‹ sozialistischen Ursprung und ›rein‹ sozialistische Ziele« hatten. Dieser »Maximalismus […] begann zu prüfen, ob sie rein oder unrein seien, und trieb sie damit objektiv dem Fascismus in die Arme.« Ignazio Silone: Der Fascismus. Seine Entstehung und seine Entwicklung. Zürich 1934, S. 47, 50, 52. – Für Kracauer galt Silone als »der bei weitem wissendste und klügste der politischen Denker« zu Fragen des Faschismus (TP, S. 21); kaum ein Wunder, dass der Genannte von dem Manuskript der Propaganda-Studie, das Kracauer ihm 1938 zusandte, angetan war und anmerkte, er werde drei Punkte daraus (zu Propaganda, Terror und Krieg, jeweils im Verhältnis zum Faschismus) in sein Buch Die Kunst der Diktatur (1939) einarbeiten (Silone an SK 21.3.1938, laut Hg.-Nachwort, TP, S. 327). Die beiden Autoren blieben Zeit ihres Lebens befreundet (das Ehepaar Silone waren die letzten Gastgeber*innen des Ehepaars Kracauer auf deren letzter Europareise zwei Monate vor Siegfried Kracauers Tod 1966).
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2.3 Kracauers fragiler Individualismus (anders als Žižek glaubt) Möglichkeiten wurden vergeben, aber sie sind nicht vergessen: In Sachen Gefühlspolitik überließ die Linke, so Kracauers Fehlerdiagnose, einiges der nationalsozialistischen Propaganda; diese versteht sich blendend auf das Mobilisieren von Gefühlen (siehe dazu auch Kap. 4.2).32 Nahe an Fragen der Gefühlspolitik liegt Kracauers Verweis auf die links ungenutzte Möglichkeit einer speziellen Art von politischem Bündnis: eines Bündnisses mit der inneren, der triebhaften, Natur und deren Energien, die die Linke unterschätzt oder als bloß irrational abgetan hätte.33 Was Bündnispolitik im engeren Sinn betrifft, verweist Kracauer auf Allianzen, die zu schließen die marxistischen Parteien versäumt hätten: Das betrifft ein Bündnis miteinander – verfeindete Sozialdemokrat*innen und Kom-
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Den politischen Impuls nach rechts befördern um 1930 u.a. deutsche Filme, die nationalistisches Pathos bespielen. Kracauer beschreibt etwa die frenetische Begeisterung, die ein nationalheroischer Historienfilm 1930 in einem Berliner Kinosaal auslöst (SK: »Der bejubelte Fridericus Rex« [FZ 23.12.1930] 6.2, S. 433). Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg konstatiert er in From Caligari to Hitler im Rückblick auf den deutschen Faschisierungsprozess in den frühen 1930er Jahren und dessen exemplarische Filme: Ein nationalistisches Heldendrama (sein Beispiel: ein Luis Trenker-Film) lasse sich zwar kritisch verurteilen – »One may condemn it for well-founded external reasons, but one cannot hope to analyze away its reality or possible appeal« (CH, S. 271). Außerdem habe die Welle nationaler Heldenepen und Bergfilme eine konzertierte Tendenz dargestellt (»closely interrelated«, »allied in a common effort« – »They belong together [...]«); hingegen seien solche deutsche Kinoproduktionen, die linke und liberale Inhalte verbreiten, eine jeweils vereinzelte Manifestation und emotional wenig wirksam geblieben: Für Kracauer sind diese Filme »anemic« und »colorless«; sie seien ein Ausdruck von »exhaustion« und »unfit to represent a cause involving political issues« (CH, S. 242, 250, 271). Kracauer formuliert dies 1938 in Verbindung mit einem – der Hegemonietheorie nicht fernstehenden – Votum für die Ausprägung eines Sinns für Macht-Fragen: »Die deutschen und italienischen Arbeiterparteien scheiterten zweifellos auch deshalb, weil sie […] die bündnisfähigen Kräfte der Natur unterschätzten, was sich daran zeigt, daß sie dem Willen nicht genügend Spielraum gaben und einen zu geringen Instinkt für die Macht und ihre Möglichkeiten entwickelten. Revoltiert im Nationalsozialismus und Faschismus die mißachtete Natur? Indem sich die überantworteten dumpfen Triebe gewalttätig gegen den Geist erheben, bringen sie ihm drastisch bei, daß er die Natur nicht sich selber überlassen darf, sondern mitnehmen muß« und »mit der bündnisfähigen Natur wider die meuternde zu paktieren versteh[en]« sollte (TP, S. 45).
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munist*innen – wie auch mit den Mittelschichten.34 In dieser Hinsicht kritisiert Kracauer v.a. »die Kommunisten«: Sie »theoretisieren zu viel und verfehlen den emotionalen Anschluß an Schichten, die auf ein erlösendes Wort warten.«35 Das religiöse Moment, das mit dem erwarteten erlösenden Wort anklingt, weist in Richtung einer Verbindung von Kommunismus und Theologie, wie sie Bloch noch stärker propagiert. Beide, Bloch wie Kracauer, äußern sich mit großer Anerkennung über eine Art theologische Handreichung an die »kommunistische Lehre« seitens des protestantisch-sozialistischen Theologen Günther Dehn – als öffentlicher Diskutant mit einem nationalrevolutionären Publizisten, in Berlin drei Wochen vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler. Kracauer paraphrasiert Dehn Mitte Jänner 1933 in der Frankfurter Zeitung so: Im »Begriff« der »klassenlosen Gesellschaft« klingen auch »heilsgeschichtliche Erwartungen« nach; dem gegenüber sind das »›ewige Reich‹« und ebenso »das ›dritte Reich‹«, wie sie eine Quasi-Theologie des imperialen, totalitären Staats beschwört, »bar jeden wirklichen Inhalts«.36 Bloch sieht ebendarin An34
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Letzteres Anliegen teilt Kracauer z.B. mit Silone (Der Fascismus, S. 283): »Zu denken, daß das Kleinbürgertum historisch dazu verurteilt sei, […] nicht ein Verbündeter der sozialistischen Bewegung werden [zu] könne[n]«, war »[v]on allen Irrtümern derjenige, der dem Fascismus am meisten zum Erfolg verholfen hat.« – Wir kommen auf diese Bündnisfrage in Kap. 4.3 noch zurück u.a. anhand des Votums für eine antifaschistische Allianz der Linken mit Liberalen, das Paul Mason heute abgibt. Dabei rekurriert Mason auch auf die – damals marginalisiert gebliebenen – Ansätze einer Volksfront gegen Mussolinis Aufstieg, mit ihrem Fokus auf Faschismus, nicht Liberalismus, als Hauptgegner und ihrem Wechsel von der Klasse zum Popularen als Schlüsselvokabel. Masons Überlegungen – orientiert an Antonio Gramsci, einer weiteren Gründungsfigur des italienischen Kommunismus – sind denen Silones und im Weiteren Kracauers nicht fern. Paul Mason: How to Stop Fascism: History, Ideology, Resistance. London 2021, S. 214. Er schreibt dies im Frühjahr 1933, als noch nicht deutlich ist, wie dauerhaft und fest die Regierung Hitler im Sattel sitzt. SK: »Die deutschen Bevölkerungsschichten und der Nationalsozialismus« [in frz. Übers. in L’Europe Nouvelle 20.5. und 3.6.1933] 5.4, S. 442. Diese Reichs-Vorstellung, so Kracauer weiter mit Dehn, »kommt aus dem Dunkel der Triebe und geht wieder ins Dunkel ein«, und sie sei bloß eine »Glorifizierung gewisser Interessen«; die hinter diesen stehenden »Bevölkerungsgruppen, Wirtschaftsformen und Daseinsweisen« deutet er nur an. SK: »Theologie gegen Nationalismus« [FZ 14.1.1933] 5.4, S. 347f. – Hoffnungen auf Widerstand innerhalb der evangelischen Kirche, seitens »radikaler protestantischer Theologen«, gegen ihre nationalsozialistische »Gleichschaltung« – ja, sogar Hoffnung auf die »Sprengkraft« eines Pamphlets aus diesem Umfeld, »die sich früher oder später entladen muß« – äußert Kracauer im Pariser Exil in »Deutsche Protestanten im Kampf« [in frz. Übers. in L’Europe Nouvelle 18.11.1933] 5.4, S. 474, 476.
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satzmomente zu einem »christlichen Antifaschismus innerhalb« der »beginnenden deutschen Volksfront«; seitens eines messianischen Sozialismus könne und müsse »Propaganda unter Bekenntnischristen und humanen Katholiken« tätig werden.37 Ausgehend davon zeigt sich: Kompromissloser Atheismus seitens des Partei-Sozialismus schadet einem Bündnis, das über proletarische Gesellschaftsbereiche hinausginge. Ebenso abträglich für solche Bündnispolitik ist es, Kracauers frühen Fehlerdiagnosen zufolge, wenn proletarische Organisationen sich auf rigiden Kollektivismus fixieren; ihre pauschale Zurückweisung jeglicher individualistischen Gesinnung habe mögliche Verbündete verprellt: die Mittelschichten, die unter Rationalisierungsdruck kapitalismusskeptisch wurden, und die veränderungssehnsüchtige bürgerliche Jugend, für die Individualität jeweils ein wichtiger – ideologischer – Wert sei. Eine politische »Chance« sei somit »verspielt worden«.38 Was aber ist das für ein Individualismus, den Kracauer damit in den Raum stellt? Den er gegen stalinistisch-dogmatischen Kollektivismus (»nach russischem Muster«) verteidigt? Das ist selbstverständlich kein Glaube an das bürgerliche Privat-Subjekt und dessen Selbstbehauptungsmacht; das zu verteidigen, dazu ist Kracauer zu sehr linker Kapitalismuskritiker.39 Vielmehr ist die 37 38
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Bloch: Erbschaft dieser Zeit, S. 147f. Er gibt Dehns theologisches Bekenntnis teils wortgleich zu Kracauers Paraphrase wieder. Zwei aufschlussreiche Fehlerdiagnosen 1933: »Theoretisch wäre es möglich gewesen, daß das Gros der Angestellten etwa die Tatsache seiner ökonomischen Proletarisierung anerkannt und sich auf die Seite der Arbeiter geschlagen hätten. Diese Chance der sozialistischen Parteien ist von ihnen selber verspielt worden. Weder die Sozialdemokraten noch die kommunistische Partei haben die antikapitalistischen Neigungen des Mittelstandes oder gar seine revolutionären Energien auszunutzen verstanden. Man hat ihn, im Gegenteil, mit einem verbrauchten Begriffsapparat abgetan und z.B. seinen ererbten Individualismus einfach als schlechte Bürgerlichkeit verwerfen zu müssen geglaubt.« (SK: »Die deutschen Bevölkerungsschichten«, S. 436) – Warum hat die doch im Grunde selbst »proletarisierte Jugend des Mittelstandes den Marxismus« so sehr »verkannt«, ihn gar als einen »Fremdkörper« empfunden? Deshalb: »Der Kommunismus in Deutschland hat tatsächlich alle Gehalte angegriffen, die nun einmal zum ererbten geistigen Bestand der jungen bürgerlichen Generation gehören. Er setzt dem Glauben an die Persönlichkeit einen Kollektivismus nach russischem Muster entgegen […und] scheint durch seinen Materialismus den Sinn der idealistischen Haltung leugnen zu wollen […].« (SK: »Über die deutsche Jugend«, S. 462f) Zu seinen Attacken auf unternehmerische Despotie und auf unmenschliche Erfolgsanbeterei im Bürgertum siehe Kap. 3.3. – Einen »besonderen Individualismus«, ein Faible für (das) »Einzelne«, assoziiert Kracauer 1931 etwa mit der Gesellschaft im porösen
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Art von Individualität, die er in Schutz nimmt (eher als dass er sie propagiert) erstens als ein Rest zu verstehen: ein Rest, der nicht aufgeht in einem Kollektiv, das sich vervollständigen will. Und zweitens geht es Kracauer darum, ein Einzeln-Sein mit zu bedenken, das gerade nicht durch dynamische Initiative, Selbstbehauptung etc. geprägt ist, sondern durch Fragilität: durch seine Einsamkeit und Endlichkeit. Kracauers Warnung davor, das Individuelle ganz preiszugeben, ist vor dem Hintergrund seiner gesellschaftsbezogenen Denkfiguren von Loch und Lücke zu sehen (mehr dazu in Kap. 5.2 und 5.3); sowie als ein Teil seiner solidarischen Kritik an Formbildungen der Masse und ihrer Bewegungen, solidarisch mit deren Ausrichtung auf eine egalitäre kollektive Gerechtigkeit hin: »Nur mit der Masse selber kann eine Gerechtigkeit nach oben steigen, die wirklich gerecht ist.«40 Es ist Teil seiner mit der Arbeiter*innenund Gewerkschaftsbewegung mitgehenden Kritik, wenn er 1929 moniert, dass der gewerkschaftliche Kollektivismus der Tendenz nach »jede Abweichung […] mit dem Bann belegt«: »[M]an [macht] aus der Not der Uniformierung eine Tugend. Der Mensch, der allein dem Tod gegenübersteht, geht in das Kollektiv nicht ein, das sich zum Endzweck übersteigern möchte.« (A, S. 115) Was hier mit dem Allein-dem-Tod-Gegenüberstehen angesprochen wird, das entspricht einer individuellen Passage durch das Nichts: einer Erfahrung von Endlichkeit in Einzelheit und als Einzelheit. Solch eine Erfahrung von Fragilität solidargemeinschaftlich kollektiv zu bearbeiten, dazu bringen Arbeiter*innenbewegungen – und ebenso spätere antirassistische, antisexistische, antiableistische Bewegungen – zweifellos Formen und Einrichtungen hervor; das steht hier gar nicht in Frage. Es geht Kracauer allerdings und vielmehr darum, linken Kollektivismus kritisch zu beobachten: dahingehend, dass Einheit nicht mit disziplinierter Einheitlichkeit verwechselt wird und kämpferische Agency nicht mit industrieproletarisch-mannhafter Körperzucht, die ›keinen Schmerz kennt‹. Darauf hinzuweisen, hat Relevanz auch im Kontext von Antifaschismus, und das lässt sich mit Kracauer gut darstellen; respektive mit Blick
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Paris (als Alternative zur tendenziell brutalisierten Gesellschaft in Deutschland); der dort kultivierte Individualismus »fällt nicht mit dem faulen idealistischen Begriff der Persönlichkeit zusammen, […] sondern entstammt der Aufklärung und ist noch längst nicht erschöpft.« SK: »Pariser über Paris« [FZ 18.10.1931] 5.3, S. 673. – Zu, im Gegensatz dazu, nationalsozialistischen und neurechten Auffassungen von Individualismus siehe Kap. 4.2. SK: »Über Arbeitsnachweise. Konstruktion eines Raumes« [FZ 17.6.1930] Straßen, S. 57.
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darauf, wie dieser Autor heute von Theorie-prominenter linker Seite ordentlich missverstanden wird.41 Und zwar von Slavoj Žižek. In einem Text von 2004 attackiert Slavoj Žižek – so wie meistens: zurecht – die liberale Ideologie dafür, dass sie dazu neigt, jegliche emphatisch kollektive politische Organisation als faschistoid zu brandmarken. Diese liberale Faschismus-Anklage habe eine ähnliche Funktion für den bürgerlichen Antikommunismus wie die Mainstream-Lesart der ›Totalitarismus-These‹: Die Linke werde diskreditiert; etwa mit der Behauptung, so Žižek, dass »the Left in the 30s participated in the same ›proto-Fascist‹ totalitarian experience of the ›regressive‹ immersion into pre-individual community as Nazism« – und diese Behauptung sei »the thesis of, among others, Siegfried Kracauer.«42 Žižek verkennt Kracauer völlig, wenn er ihn hier als einen Vertreter der liberalen Phobie gegen kollektive Politik hinstellt. Das ist nicht ohne Ironie – sogar zweifach. Erstens beim Vorwurf der Regression. Diesen Ausdruck verwendet Kracauer 1938 gerade nicht, um links und rechts in einen Topf zu werfen, sondern um eine Unterscheidung vorzunehmen: zwischen einerseits dem faschistischen »Regressus« aus der Demokratie heraus – ein reaktionäres ZurückWollen ›hinter‹ demokratische Revolutionen von 1789 bis 1918 – und anderseits jener aufhebenden Vollendung der Demokratie, die der Kommunismus anstrebe.43 Zweitens in Sachen Disziplin: Žižek spricht von »high effort«-Sport und von der »mass choreography displaying disciplined movements of thousands of bodies (parades, mass performances in stadiums etc.)«, und er stellt dies als Ausdruck einer »genuine working class ideology of youngsters« hin; ebendiesen würden, so Žižek, Liberale wie Kracauer üblicher Weise als »›proto-Fascist‹« denunzieren.44 Žižek spielt hier, wie so oft, den Links-Macho und Bürger*innenschreck: Er geißelt ein privilegiertes Milieu individualistischer Genießer*innen – dem er selbst als Star-Denker angehört – für dessen Permis41 42 43
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»Heute« heißt hier, zugegeben, »unlängst«, und das heißt, zugegeben, »vor 19 Jahren«. Slavoj Žižek: »The Lesson of Rancière«, Nachwort zu: Jacques Rancière: The Politics of Aesthetics. The Distribution of the Sensible. London, New York 2004, S. 77. Kracauer folgt in diesem Punkt der marxistischen Orthodoxie: Der Kommunismus wolle die Demokratie »revolutionär ›aufheben‹«, der Faschismus hingegen vollziehe den »Regressus«, den »Rückfall«, als »Rückzug aus der liberalen Mentalität in die primitive«, sowie ein »Zurückgreifen hinter die Demokratie« und deren (bürgerlich-)revolutionäre Geschichte (TP, S. 40f, 43, 47). Žižek: »The Lesson of Rancière«, S. 78. Žižek äußert hier auch den von Bloch bekannten Gedanken von kollektiven Formen und Ideen, die die Nazis der Linken gestohlen hätten.
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sivität und hält ihm den Gottseibeiuns der Disziplin entgegen; und er hat da, von wegen Stadionmassen aus Tausenden Körpern, wohl Kracauers Überlegungen zum »Massenornament« im Visier. Da schießt er wieder aufs falsche Ziel. Denn – heben wir uns das Massenornament-Konzept fürs nächste Kapitel auf – nicht nur hat Kracauer grundsätzlich gar nichts gegen kämpferische proletarische Disziplin, im Gegenteil.45 Sondern er fragt auch seinerseits kritisch nach dem allfälligen Nutzen von Sport für sozialistische politische Kämpfe. Allerdings fällt sein Urteil anders aus als das von Žižek: Breitensport »fördert nicht die Umgestaltung der sozialen Verhältnisse, sondern ist insgesamt ein Hauptmittel der Entpolitisierung.« (A, S. 100) Diese Sportkritik ist um 1930 Teil seiner umfassenden Kritik an Betriebsamkeit und Rationalisierung. Diese Kritik richtet sich darauf, wie im Arbeitsregime und im Freizeitbetrieb, der ihm entspricht, Effizienz gesteigert wird, Körper ertüchtigt und generell Leute so beschäftigt werden, dass sie nicht auf Gedanken kommen: Sport ist demnach »eine Verdrängungserscheinung großen Stils«; darüber hinaus fördern Betriebssportvereine die Einübung der Lohnabhängigen in Arbeitsdisziplin und Unternehmensloyalität (A, S. 76ff, 100). Wenn nun die Linke den Sport als eine genuin proletarische Kulturpraxis reklamieren will, ist für Kracauer Skepsis geboten; zumindest sei – so legt er in der Auseinandersetzung mit Bertolt Brecht, v.a. mit dem von ihm mitgescripteten Agitationsfilm Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt (D 1932), nahe – zu bedenken: Sport ist politisch kontingent, garantiert von sich aus keine emanzipatorisch-egalitären Effekte.46 Und: Dem Pathos des leibesstarken, unentfremdet-naturnahen neuen Menschen, wie es mit der damaligen Sporteuphorie einhergeht, gewinnt
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Im Frühjahr 1933 hebt er hervor, wie das deutsche »Proletariat trotz aller Schwächen seiner Parteien dem Nationalsozialismus standhält« (indem es sich weit weniger als Kleinbürgerliche und Freiberufstätige in Nazi-Organisationen einfügt), und er lobt diesbezüglich die »herrliche Disziplin« der »Arbeitermassen« (SK: »Die deutschen Bevölkerungsschichten«, S. 441). Bertolt Brecht missverstehe »Sport als unbürgerliches Phänomen« (so Kracauer in »Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino« [u.d.T. »Film und Gesellschaft« FZ 11.19.3.1927] OdM, S. 282); dabei sei Sport aber »eine Sache der Jugend aller Richtungen und nicht nur das Zeichen der revolutionär gesinnten« (SK: »›Kuhle Wampe‹ verboten!« [FZ 5.4.1932] 6.3, S. 52). Ähnlich lautet, ebenfalls anhand der Sportfest-Szenen in Kuhle Wampe, seine Diagnose im Caligari-Buch 1947: »[S]ince sports festivals are held by people of all colors, this one does not prove the particular strength of the Reds.« (CH, S. 247).
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Kracauer gar nichts ab; die vielfach ausgestellte Begeisterung für Gesundheit macht ihm eher Angst.47 Das Zur-Schau-Stellen von Gesundheit als Beweis von Stärke hat so rein gar nichts mit jener Erfahrung von Fragilität in Einzelheit – in Einsamkeit und Endlichkeit – zu tun, der Kracauer, bei all seinem Bekenntnis zur egalitaristischen Politik der Masse, die Treue hält. Vielmehr hat solch ein Pochen auf das eigene Strotzen vor Lebendigkeit ein Echo in jener Gesundheitshuberei, die sich 2020–2022 in diversen Corona-Maßnahmen-Protesten politisierte und darin überwiegend von der extremen Rechten organisiert bzw. angeführt wurde.48 Bei diesen Protestkundgebungen verbanden sich leiblichindividuelle und völkisch-national-kollektive Körper in der Artikulation von biopolitischen Ängsten vor Verunreinigung, sowie in der Artikulation von libertären Weigerungen, die eigene ›Freiheit‹, den genussvollen Ausdruck des Ganz-sich-selbst-Gehörens, an irgendetwas Externes binden zu lassen. Fazit: Auch die rechten Gesundheiten der 2020er Jahre – die erst teils mit Davidsternen aufmarschierten (um sich zu vom ›Holocaust‹ durch die ›ImpfSelektion‹ Bedrohte zu stilisieren), dann vor ›Impf-Kliniken‹ Krawall machten und nun, nach Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine, Russland-Fahnen schwenken – haben etwas zutiefst Bedrohliches an sich.49
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»Die jungen Leute trieben heute sämtlich Sport und sahen so gesund aus, daß man vor ihnen Angst haben konnte. […] Wozu sie eigentlich die viele Gesundheit benutzen wollten, war nicht zu ermitteln.« Das schreibt Kracauer in dem semi-autobiografischen, 1934 vollendeten Roman Georg (7, S. 455). Ähnlich über den Anblick einer Jugend, die »trainiert, technisch gewandt und gesund« ist, mit einer »Gesundheit […] von einer Art, daß sie Angst erregt«, in: SK: »Aufenthalt in der Bretagne« [FZ 17.9.1930] 5.3, S. 327. (Schwer, hier nicht auch an die bald einsetzende Vernichtungsgewalt gegen ›Ungesunde‹ zu denken, die mit dem ›Volksgesundheits‹- und ›Kraft‹-Pathos der Nazis verbunden ist.) »Querdenker«-Demos bieten ein Lehrbuchbeispiel populistischer Mobilisierung und Allianzbildung: Einiges vom Massencharakter dieser Bewegung rührt daher, dass sie traditionell eher links geprägte Milieus (Althippies, Grüne, Heilberufstätige) und Anliegen (Verurteilung von Expertokratie, Konformismus, Überwachungsstaat, Konzernherrschaft und der NATO) mit umfasst und rechts adaptiert bzw. artikuliert. Bernhard Groß hat einen Kracauer’schen Vergleich in Verdichtung angedeutet, indem er das potenzielle Ausbrüten des Faschismus 1930 mit den Wutbürgern der 2010er Jahre (die heute bei Corona-Demos mitgehen) zu Brutbürgern kontrahierte. Auch sein diesbezüglicher Text thematisiert Kracauers Lindenpassage-Artikel und ein Spektrum zwischen ›Faschismus oder gar nichts‹ und ›Faschismus als (grauenvolles) Nichts‹. Bernhard Groß: »Brutbürger? Zur Genealogie des Kracauerschen Begriffs ›ausbrüten‹« in:
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2.4 Insubordination statt Nation – Mädchen statt Uniform: Subjekte, Bündnisse, politischer Realismus Die Gegenposition zu liberalem Individualismus, auch eine Gegenposition zur Self-Care eines identitätsfixierten Fundamental-Partikularismus, der heute von links zurecht kritisiert und von rechts obsessiv als Feindbild gehegt wird – solch eine Gegenposition kann nicht im Beschwören der Disziplin ertüchtigter Körper liegen. Das stellt die Frage nach anderen Subjekten antifaschistischer Politik, solchen, die weniger herrschaftlich sind, die weniger Herren sind – über sich, über andere und überhaupt. Auch für Kracauer um 1930 kann der durchtrainierte, maskulinistisch definierte Sportsfreund nicht das paradigmatische Subjekt sein, an dem politisches Handeln – nämlich auf ein gerechteres Ganzes hin – hängt. In diesen Zusammenhang fallen seine äußerst positiven Bezugnahmen auf Mädchen in Uniform: auf die Insubordination junger Frauen in Leontine Sagans deutschem Erfolgsfilm von Ende 1931. Der Film handelt vom Begehren und Aufbegehren ›höherer Töchter‹ um die 14 unter patriotisch-autoritärem Drill in einem Potsdamer Mädcheninternat. Wie Kracauer Mädchen in Uniform einschätzt, das ist im Kontext antifaschistischer Politik signifikant: erstens für ein antimaskulinistisches Verständnis widerständiger Subjekte; zweitens in Bündnisfragen; drittens hinsichtlich realistischer Wahrnehmung als Voraussetzung politischer Kämpfe. Zum Ersten: Für Kracauer ist Mädchen in Uniform ein Ausnahmephänomen. Schon allein als »ein guter deutscher Film!«, wie er schreibt; als Beweis dafür, »daß sich noch gute Kräfte bei uns regen.« Das heißt 1931: Dieser Film ist nicht nationalautoritär, bespielt nicht kleinbürgerliche Geltungssehnsüchte. Und es ist ein Film, der ein Aufbegehren an solchen Subjektpositionen zeigt, würdigt, feiert, an denen seitens der herrschenden Machtverteilung nur passive Fügsamkeit vorgesehen wäre. Er zeigt dies auf eine solche Art, dass die Inszenierung uns erlaubt, ja, nahelegt, einen Wunsch nach Revolte zu hegen, diesen Wunsch zu kultivieren, in emotionaler Anteilnahme am Film durchzuspielen – den Wunsch, diese »Revolte im Mädchenstift« (so titelt Kracauers Rezension) möge endlich erfolgen: »Nur das Eingreifen der endlich aufsässigen Kinder vermag im letzten Augenblick noch die doppelte Katastrophe zu verhindern.«50
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Groß, Vrääth Öhner, Drehli Robnik (Hg.): Film und Gesellschaft denken mit Siegfried Kracauer. Wien, Berlin 2018. SK: »Revolte im Mädchenstift. Ein guter deutscher Film!« [FZ 1.12.1931] 6.2, S. 563, 565.
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Während ringsum das durch Kanzlerdiktaturen regierte Deutschland einer Katastrophe entgegengeht (die ausgebrütet wird), verhindert im Film das Eingreifen aufsässiger junger Frauen – einige von ihnen (andeutungsweise) lesbisch liebend – Katastrophen, die durch obrigkeitlich verordnete Entsolidarisierung heraufbeschworen wurden: Diese Katastrophen sind die Zerstörung der Intimität zweier Protagonistinnen und der Suizid einer Schülerin, die auf Befehl von den anderen isoliert wurde. Die Obrigkeit verkörpert in diesem ausschließlich mit Frauen besetzten Film die Internatsleiterin, die, so Kracauer, jenem »Alten Fritz«, König Friedrich II. von Preußen, nachempfunden ist, den zur selben Zeit nationalistische Historienfilme als charismatischen Fridericus Rex glorifizieren. Gegen ihr Regime erfolgt die rettend eingreifende Revolte der im Filmdialog als »Kinder« Angesprochenen (die »keine schablonierten Girls sind« wie in den Revuen und in der Glamour-Kultur, »sondern richtige Mädchen«51 ). Diese Revolte ist weder ›wütend‹ noch ähnelt sie dem, was die Nazis »Volkserhebung« nannten; sie ist in dem Film das Werk einer Solidarisierung, nicht als identitär uniformierter Männerbund, sondern als Mädchensache der Aufsässigen.52 Ein Subjekt für das Wahrnehmen und Erstreiten anderer Verläufe als jener, die festgelegt scheinen: Nicht nur anhand von Mädchen gendert Kracauer modellhafte Bekundungen einer solchen Gegenmacht im sich faschisierenden Deutschland als weiblich.53 Eine ausnahmshafte Tat, die in den festgefahrenen 51 52
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Ebd., S. 564. Nun ist Kracauer ja in dieser Zeit als Filmkritiker auch der Autor jener FZ-Artikelserie von 1927, die unter dem Titel »Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino« notorisch wurde: dafür, dass sie der Empfänglichkeit für unterwürfige Ideologien und Gefühle, wie sie viele deutsche Erfolgsfilme kultivieren, ein junges weibliches Publikumssubjekt unterstellt. Da spielen wohl sexistische (auch ageistische) Projektionen eines Experten mit; aber nicht nur: Die Expertenhierarchie wird auch unterlaufen – dadurch, dass dieser Mann ständig im Kreis »kleiner Ladenmädchen« in denselben Filmen wie sie im Kino sitzt; und dass er deshalb so viel von ihren Empfindungen weiß, weil er sie als Erfahrung teilt. Markant ist dies etwa im Vergleich mit der sexistischen ›Arbeitsteilung‹ in Silones Antifa-Roman Brot und Wein von 1936, den Kracauer (ohne auf diesen Aspekt einzugehen) seinerzeit wohlwollend besprochen hat (siehe Kap. 7.1): Da gibt es das Hemingwayhaft weltmüde männliche Widerstands-Subjekt – und seine weiblichen Heilungsfiguren. Und zwar: Im Angesicht der weitgehenden Faschisierung der Gesellschaft denkt Silone (jungen) Frauen ein Stück weit die Funktion zu, mit ihrer Güte, Reinheit und Opferbereitschaft Männer, die vom moralischen Verfall in Mussolinis Italien ganz ermattet sind, nachgerade zu heilen.
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Routinen einer herrschaftsgläubigen Gesellschaft endlich ein wenig Handlungsfreiheit (auch im Sprachhandeln) und Gerechtigkeit ins Werk setzt, tritt bei ihm auch als das Werk älterer Frauen in Erscheinung. Dies laut den Beobachtungen von Alltagssituationen in zwei Essays von 1932. In dem einen, »Friedliche Lösung«, setzt sich eine kleine alte Berlinerin in einem Restaurant über das unerbittliche Lokal-Reglement, dem zufolge ein Fenster, obwohl es zieht, geöffnet bleiben muss, hinweg, indem sie, was in der Situation einem Wagnis gleichkommt, die lufthungrigen Gäste am Fenster ersucht, dieses doch zu schließen – was sie überraschender Weise bereitwillig tun.54 Ein Wagnis geht sie deshalb ein, weil in dem Text – wohl Franz Kafkas »Vor dem Gesetz« nachempfunden – hierarchisch gestaffeltes Personal herbeikommt: Kellner, Geschäftsführer, Direktor, alle sagen, das Fenster müsse offenbleiben. Kracauer sah diesen Text als politisches Szenario, plante ihn als Auftakt einer Reihe »›Politischer Erzählungen‹« in der FZ.55 Im Gleichnis von »Friedliche Lösung« wird in verfahrener Lage und verbohrtem Milieu ein erlösendes Wort gesprochen;56 ein Wort jener Art, wie es die Parteipolitik, konkret die KPD, laut Kracauers Diagnose von 1933 (siehe oben), der Öffentlichkeit vorenthält. Ein Pendant zu der mutigen Wahrsprecherin ist die »ältere Dame« im Szenario eines weiteren Beobachtungstexts: Ihr begegnet Kracauer auf einer Soirée, auf der »Karrieristentum« und »Erfolgsanbeterei« regieren; dort sagt sie zu ihm, dass sie ihren Mann, einen notorisch erfolglosen Schriftsteller, gerade »um seiner Erfolglosigkeit willen« liebt, »gerade so, wie er ist«, weil er »ein guter Junge« sei: Dieses erlösende Wort, gibt Kracauer zu verstehen, verleiht nachgerade einer Utopie einen singulären Moment von Wirklichkeit: der Sehnsucht nach Befreiung vom Kontinuum bürgerlichen Konkurrenzkampfs, der im Drall nach rechts brutaler wird.57 Zweitens die Bündnisfrage. Kracauer schreibt einige Male über Mädchen in Uniform, stets in auffälliger Nähe und Parallelsetzung zu G.W. Pabsts Bergwerkskatastrophenfilm Kameradschaft; diese zwei Ende 1931 veröffentlichten deutschen Filmdramen bilden eine implizite Kracauer’sche Doublette.58 54 55 56 57 58
SK: »Friedliche Lösung. Kleine moralische Erzählung« [FZ 24.6.1932] Straßen, S. 116f. SK an Adorno 22.7.1930, Ado, S. 232. Die Reihe kam nicht zustande. Kracauer (»Friedliche Lösung«, S. 117) schreibt vom ausnahmshaft Frieden stiftenden »Wort […], das die Kraft der Versöhnung hat«. SK: »›Er ist ein guter Junge‹« [FZ 1.1.1932] 5.4, S. 12f. Auch hier wäre etwas von Projektion zu vermuten, wäre nicht Kracauer selbst 1932 ein relativ erfolgreicher Schriftsteller. Seine Besprechung von Pabsts Film geht der von Sagans Film unmittelbar voran. In einem Atemzug nennt er beide Filme, zumal als »Ausnahmen« und »fortschrittliche«
2. Politik: Aufladung, Bündnis, antifaschistische Subjekte (Mädchen in Uniform)
In Mädchen in Uniform solidarisieren sich Mädchen gegen ein preußisches Zucht-Regime, in Kameradschaft solidarisieren sich deutsche und französische Bergarbeiter und ihre Familien nach einem Mineneinsturz, über die Staatsgrenze hinweg, die die internationale Rettungszusammenarbeit blockiert. 1947 unterzieht Kracauer in seinem Rückblick auf die Weimarer Republik vereinzelte antifaschistische Regungen im deutschen Kino einer kritischen Würdigung, so auch die beiden 1931er Filme. Nun aber kreidet er Mädchen in Uniform Folgendes an: Der Film kultiviere zwar Sympathie für »insubordination«, attackiere dabei aber die institutionelle Disziplinierung nicht radikal genug, sondern fordere nur deren Humanisierung (CH, S. 226, 229). Das ist scharfsinnig gedacht, hat aber etwas von einem Totschlag-Einwand:59 Kracauer ist da in seinem Rückblick kurz nach Hitler rigoroser, weniger anerkennungsbereit, gegenüber Mädchen in Uniform als in seiner Rezension kurz vor Hitler. Aber bleibend und entscheidend ist auch hier die mitgehende Kritik: jene, die ein Potenzial an Herrschaftsbeeinspruchung feststellt, die aber noch zu radikalisieren wäre. Setzen wir dies in Beziehung zu seiner Kritik 1947 am Bergwerksfilm Kameradschaft:60 Dem wirft er vor, er feiere 1931 eine proletarische Klassensolidarität, die bloß noch eine »anemic abstraction« sei; mehr noch, Kameradschaft bringe regelrecht die Apathie des deutschen Sozialismus, insbesondere der Sozialdemokratie, zum Ausdruck (CH, S. 242). Diese Kritik steht im Kontext von Kracauers Antifa-Fehlerdiagnosen: Da erscheint ihm Kameradschaft als symptomatisch dafür, wie »German socialists«, mit ihrem unbeirrbaren Fokus auf das Industrieproletariat als einzig relevantes Klassenkampf-Subjekt, den Stellenwert der Mittelschichten ebenso übersehen wie die »mental roots of the existing national aspirations« (CH, S. 242). Dieser Einwand ist ein Echo früherer Analysen: Schon 1938 attestierte er der Sozialdemokratie »Unfähigkeit zu einer totalen Vision der Gesellschaft« (TP, S. 112). Was ist nun mit diesen Vorwürfen gemeint?
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Ansätze wider die »Kulturreaktion«, in »Tonfilm von heute« ([Kunst und Künstler, Jan/ Feb. 1932] 6.3) und in »Film von heute« ([Melos, März 1932] 6.3, dort die Zitate auf S. 46f). Sein Einwand ähnelt Tendenzen innerhalb linker Sozialkritik (in der kritischen Theorie, in der Postfordismustheorie, im antireformistischen Maximalismus), in der Linderung negativer Wirkungen eines Regimes vorwiegend dessen Perfektionierung zu sehen: »any possible softening of authoritarian discipline would only be in the interest of its preservation.« (CH, S. 229) Auch auf diesen Film hatte er 1931 größere politisch-aufklärerische Hoffnungen in Sachen Solidarität und Nationalismuskritik als sein Urteil von 1947 vermuten lässt.
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Im Zusammenhang mit antifaschistischen Strategien liest sich das eigenartig: ein Hinweis darauf, national aspirations und eine totale Vision der Gesellschaft nur ja nicht zu vernachlässigen. Jedoch: »Totale Vision« meint nicht ›totalitäre Vereinheitlichung‹, sondern verweist auf Allianzen, die einen eng gefassten Klassenvertretungsanspruch auf das Anpeilen eines Gesellschafts-Ganzen hin überschreiten.61 Eine totale Vision, das ist hier – wie bei Silone, von dem Kracauer den Ausdruck hat –, eine, die vor allem die Mittelschichten mit einbegreifen sollte (die von den Linksparteien missachtet, von den Nazis erfolgreich umworben werden). Mittelschichten einbeziehen, das hätte mit zur Folge, dass sich der Inbegriff des adressierten Klassensubjekts wandelt: von virilen Fabrikarbeitern zu Angestellten, zumal weiblichen – zur Verkäuferin oder Schreibkraft, deren Habitus Kracauer in Die Angestellten erörtert. Und die von ihm genannten nationalen Aspirationen? Wenn er beklagt, dass seitens des Partei-Marxismus »jeder Begriff, von dem die Machthaber profitieren, also z.B. der Begriff der ›Nation‹, sofort und ausschließlich als Bollwerk des herrschenden Wirtschaftssystems verbucht wird« (TP, S. 11), dann will er damit nicht Nationalismus rehabilitieren. Nationales als Referenz meint nicht, dass die Linke nun vom Vaterland schwärmen soll. (Das gilt auch für heutige Vorschläge in Sachen Linkspopulismus, mehr noch für den Irrweg des Linkspatriotismus.) Sondern auch dies meint eine, bzw. ist Teil einer, Orientierung der Politik auf die Umgestaltung des Gemeinwesens in seiner Gesamtheit; diese Gesamtheit ist in hohem Maß in nationalstaatlicher Formung gegeben und in dieser Form bis heute für viele eine Bezugsgröße.62 61
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Auch wenn dieses Ganze als solches unmöglich bzw. ein Provisorium bleibt. Festzuhalten, dass Vorläufigkeit kategorisch ist, dem kommt Kracauer insofern nahe, als er Utopisches oder Letztinstanzliches nie mehr als nur andeutet – ohne dass aber das Ganze oder Universelle bei ihm irrelevant würde. Dies gilt besonders für sein posthumes Buch History (1969), mit dem Untertitel The Last Things Before the Last. Er ist ein Denker der vorletzten Dinge, von denen aus letzte Dinge im Blick bleiben, als Irritationen des Gegebenen. Das ist kein Grund zur Freude; es ist Gegenstand einer skeptischen Berücksichtigung. – Die Abkehr der Sowjetunion vom Internationalismus, »aus schwachen Gründen« und zugunsten der »Parole: ›Sozialismus in einem Lande!‹«, nennt Kracauer 1938 mit Unbehagen; sie sei ein Indiz nicht nur für die »Faschisierung des Sowjetregimes«, sondern auch dafür, dass das »Prinzip […] der Nation […] noch nicht am Ende seiner Mission angelangt ist«, sondern einen politischen Faktor darstellt, mit dem auch abseits Italiens und Deutschlands zu rechnen ist (TP, S. 46f). In Sachen totale Vision und Ganzes zitiert er in derselben Studie (TP, S. 112f) Folgendes aus Silones Der Fascismus (S. 47): Das »geschichtliche Problem, das sich dem Sozialismus stellt,« sei es, »die ganze Gesellschaft
2. Politik: Aufladung, Bündnis, antifaschistische Subjekte (Mädchen in Uniform)
In diesem Sinn, zugleich vor dem Hintergrund seiner nationalismuskritischen und internationalistischen Weltanschauung, schreibt Kracauer 1938 davon, dass der Linken der politische »Zug zum Ganzen« (TP 111, 120) fehle.63 Um nun wieder an seine Kritik der beiden deutschen Solidaritätsfilme anzuknüpfen: Die solidarische Insubordination von Mädchen in Uniform – eines Films mit lesbisch-feministischer Thematik und diesbezüglich ausgeprägter Rezeptionsgeschichte64 – erscheint im Verhältnis zur bergmännlich und industrieproletarisch beschränkten Klassen-Kameradschaft als ein ausbaufähiges Neben-, aber auch Gegen-Modell. Gerade in antifaschistischer Ausrichtung heißt Solidarität, die Reihen bunter, nicht im Sinn angestammter Vertretung dichter, zu machen. Kracauers Konstellation mutet uns die Vision eines
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auf neuer Basis zu reorganisieren«; das »verborgene Laster« des Sozialismus hingegen sei seine »Unfähigkeit, zu einer totalen Vision der Gesellschaft zu gelangen, in der Unfähigkeit, die Allgemeinheit der eigenen Funktion in die tägliche politische Arbeit umzusetzen.« Die »Arbeiterbewegung« müsse jedoch ihre »eigenen Klassengrenzen und [ihren] eigenen Klassenegoismus überwinden und aufhören, sich als minorenn [= unmündig, DR] zu betrachten«, stattdessen vielmehr »das ganze Volk um sich herum zusammenrufen und die ganze Nation neu organisieren.« – Kracauers Kritik der Sozialdemokratie vor Hitler hat ein rezentes Pendant in Dan Diners rückblickender Fehlerdiagnose: Die SPD von 1930 hätte »Verantwortung für das Ganze« über »Partikularinteressen« stellen und ihre Rolle als republikanische »Kraft der Mitte« spielen müssen, um so den Sturz der letzten parlamentsbasierten Weimarer Regierung zu verhindern, somit auch die darauffolgende Serie der Kanzlerdiktaturen abzuwenden – bis hin zur weit folgenschwereren Regierung Hitler. Diner formuliert dies im Rahmen einer an Kontingenz – an Anders-Verläufen, nicht Zwangsläufigkeiten – orientierten Historiografie (allerdings gar sehr im Ton einer staatstragenden Mahnung). Dan Diner: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung. Frankfurt a.M. 2000, S. 165f. Hingegen haben, so Kracauer, die »deklassierten Mittelschichten« einen gewissen Sinn für den »Zug zum Ganzen der Nation« – wobei sie aber nach rechts tendieren, zumal zum (bonapartistischen) Wunschbild einer Staatsmacht, die als unkompromittierte Autorität über der Klassenspaltung der Gesellschaft stehen und so deren Ganzheit gewährleisten soll (TP, S. 120, 124). – A propos vom Vaterland schwärmen: So etwas schlägt auch Bloch nicht vor; aber in seiner Bereitschaft, Wertsetzungen für die Linke zu reklamieren, die er als von den Nazis gekaperte sieht, greift er tiefer in den Giftschrank als Kracauer: So habe, vermerkt Bloch (Erbschaft dieser Zeit, S. 159) wohlwollend, »Lenins Rußland bereits Heimat und Folklore einmontiert«, sowie »Familie« und »Nation umfunktioniert und in den Dienst einer Volksgemeinschaft gestellt, aber einer echten.« Volksgemeinschaftlich echter als die Völkischen sein zu wollen, ist ein fragwürdiges Anliegen. In geringerem Maß gilt das auch für die Neuverfilmung mit Lilli Palmer und Romy Schneider aus dem Jahr 1958.
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heterogenen Ganzen an, eines Antifa-Bündnisses, das gegenherrschaftlich und nationalismuskritisch, antikapitalistisch und queer orientiert ist.65 Ausgehend von Mädchen in Uniform wurde hier erstens ein antimaskulinistisches Subjekt-Verständnis angesprochen; zweitens Bündnisfragen; kommen wir nun drittens zu realistischer Wahrnehmung als Voraussetzung politischer Kämpfe. Kracauer denkt Politik von ihrer Kontingenz her, ihrer radikalen Verwiesenheit auf nicht im Voraus festgelegte Faktoren. Kracauer geht nicht von einer Annahme von Vorhersehbarkeit und Zwangsläufigkeit aus; stattdessen legt er uns vielmehr, dem Zug zum Ganzen folgend, den Gedanken nahe, dass Politik einen Sprung ins Ganze, in den Zusammenhang und Sinn des Ganzen, beinhaltet. Dieser Sprung hat den Charakter eines Wagnisses, nachgerade eines Glaubenssprungs; dies aber nicht, weil er mystisch oder heroisch wäre, sondern weil der Sprung ins Ganze etwas Riskantes hat, auch wenn er auf einen Prozess des prüfenden Durchsehens, in diesem Sinn: Durchgehens, folgt. Das heißt: Durchgesehen, wahrnehmend durchgegangen/durchgangen, werden soziopolitische, auch historische, Bedingungen und Materialitäten einer Situation. Der Sprung in den Zusammenhang und Sinn des Ganzen beendet den Durchgangs-Prozess; beendet ihn stets nur vorläufig, ohne dass er die Notwendigkeit dieses Prozesses aufheben würde. Für diesen Durchgangs-Prozess prägt Kracauer die der ärztlichen Praxis entlehnten Metaphern des Abklopfens und Auskultierens (Abhorchens).66 Von Kracauers Lindenpassage aus gedacht, heißt das: Zur ausbrütenden Passage durch das Nichts bzw. in das möglicherweise Nichts (Kontingenz als Anders-sein-Können) und zur Passage durch die Politik (Erstreiten anderer Ganzheiten) kommt die Passage durch die Realität hinzu; diese Passage ist das wahr-
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Dies auch in Abgrenzung zu linkem Machotum und zu heutigen Vorstellungen einer paternalistisch auf »normale Leute« und arbeitsmarktprotektionistischen ›Grenzschutz‹ abstellenden Linken. Seinen diesbezüglichen Satz formuliert Kracauer 1941 ausgehend von der Rolle, die dem Zufall im Film zukommt. Den Zufall fasst er dabei gerade nicht als eine sinnlosindifferente Schicksalswirkung (also nicht nihilistisch) auf, sondern als eine Markierung dafür, dass Ganzheiten gegenüber ihrer Materialität kontingent, auf sie verwiesen, sind. Er schreibt also: »Die Anerkennung des Zufalls im Film besagt nicht, daß der Zusammenhang fehle, ein Sinn nicht vorhanden sei; wohl aber besagt sie: daß erst alle erdenklichen materiellen Phänomene gleichsam abgeklopft und auskultiert werden müssen, bevor der Sprung in den etwaigen Zusammenhang, den Sinn des Ganzen gewagt werden kann.« SK: [»Marseiller Entwurf« zu einer Theorie des Films] [16. Nov. 1940 bis Mai 1941] 3, S. 703 (Hervorh. im Orig.).
2. Politik: Aufladung, Bündnis, antifaschistische Subjekte (Mädchen in Uniform)
nehmende Durchgehen-als-Durchsehen materieller Wirklichkeiten.67 Politik erfolgt mit einem Zug zum Ganzen und als Sprung ins Ganze; aber in Bindung, Rückbindung, an Wirklichkeiten und deren Wahrnehmung. Dieses Aber festzuhalten ist wichtig in der Entgegensetzung zur Wirklichkeits-Entkopplung und zum Antirealismus einer faschistischen, auch einer puristischen oder rein disruptiven, Politik (siehe Kap. 4.1 und 4.2). Abhorchen, Abklopfen: Auch diesbezüglich ist Mädchen in Uniform beispielhaft, nämlich der Realismus von Sagans Inszenierung. Diese, schreibt Kracauer, »trifft immer scharf die Kontur«; sie durchläuft beobachtend eine soziopolitische, auch liebespolitische, Situation mit ihren Räumen, Routinen und Redeweisen: militaristische Zucht, Einübung in Mutterschaft und Selbstaufopferung (als »Soldatenmütter«), Schmerz nicht zeigen dürfen (heutig gesagt: Vulnerabilität verdrängen), pädagogischer Eros als alternativer Führungsstil, Bündnisse zwischen Mädchen, zwischen ihnen und egalitaristischen ReformMächten, implizit auch zwischen ihnen und Küchenarbeiterinnen, die sich in die (zum Zweck des Drills) ausgehungerten Zöglinge einfühlen. Im Durchgang durch diese Wirklichkeit(en) leistet dieser Film, so Kracauer, was eine »Karikatur« oder »zweidimensionale Satire«, die aus wissender Distanz verfährt, niemals könnte: nämlich eine Machtinstitution zugleich kritisch zu denunzieren und in ihrer heterogenen Totalität zu erfassen.68 »[D]ie Kraft, das unverstellte Leben ins Auge zu fassen, ist eine Vorbedingung echten politischen Handelns,« schreibt Kracauer im Herbst 1932 über den realistischen Ansatz einer französischen Film-Sozialsatire.69 Im selben Herbst, dem letzten vor seiner Flucht aus Deutschland, beschreibt und deutet er in einem langen FZ-Essay eine gesellschaftliche Einrichtung als Ort einer vorpolitischen realistischen Wahrnehmung. Es geht dabei um die »Arbeitslager« in Deutschland. Der Name dieser Einrichtung liest sich im Faschismus-Kontext ominös; er meint allerdings nichts in der Art der späteren ReichsarbeitsdienstLager, geschweige denn Konzentrationslager, der Nazis. Vielmehr geht es um Sommercamps, in denen Jugendliche aus politisch divergent orientierten Familien und Milieus zu sozial nützlicher Arbeit und gemeinsamer Freizeit zu-
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Dieses Durchsehen ist das Gegenteil einer Haltung des Durchschauens: der Attitüde, immer schon im Besitz des vollen Durchblicks sein zu wollen. Kracauers Wort dafür ist »Preisgabe«, die »zugleich« eine »Kennzeichnung ist«: SK: »Revolte im Mädchenstift«, S. 563f. Er würdigt Jean Renoirs Film La chienne (F 1931) für seine »Realistische Lösung«, so der Artikel-Titel ([FZ 16.9.1932] 6.3, S. 99).
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sammenkommen. Den Sinn dieser Lager sieht Kracauer nicht in der Gratisarbeit oder im Erzieherischen, sondern darin, dass in den Lagern links wie rechts, rot wie braun orientierte Jugendliche Gelegenheit haben, einander realistisch, aus der Nähe, als politische Gegner*innen wahrzunehmen, anstatt einander in Feindbildern zu rahmen. In heutigen Zeiten medialer Filterblasen und verfahrener soziokultureller Frontbildungen wäre es leicht, in diesem Denkbild eine Mahnung zur Versöhnung zu sehen: eine Mahnung im Sinn von ›Wir sind doch alle…‹, eine sozusagen damals schon geäußerte Warnung vor der Spaltung der Gesellschaft, wie sie derzeit so sehr beklagt wird. Es so zu sehen wäre leicht, aber falsch. Spaltung ist nicht das akute Problem, sondern ein Grundzustand von Gesellschaft; und Kracauers politischer Realismus fragt danach, wie die Spaltungen, aus denen Gesellschaften und das Leben in ihnen bestehen, als Konflikte austragbar sein können: Die »Aufgabe« der Arbeitslager sei eine »vorpolitische«, nämlich »Voraussetzungen für ein wirkliches politisches Handeln mitzuschaffen«; ihre »Funktion« sei es nicht, »die Gegensätze zu versöhnen und eine Volksgemeinschaft zu eröffnen […], sondern die Gegensätze in ihrer Wirklichkeit zu eröffnen und echte politische Kämpfe zu ermöglichen«; es geht darum, durch das Einander-gegenüber-Wahrnehmen »aus Phantomen, die sich bekämpfen, Gegner zu machen, die wirklich sind.«70 Lindenpassage, Arbeitslager: Wir begegnen uns als endlich und einander als gegnerisch. Kracauers räumlich-institutionelle Denkbilder vermitteln Konturen vorpolitischer Erfahrungen, die in der politischen Positionierung wirksam und als Bedingungen mit ihr verbunden sind.
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SK: »Über Arbeitslager« [FZ 1.10.1932] 5.4, S. 210f. – In Sachen Politik der austragbaren Kämpfe und der Gegner*innenwahrnehmung folge ich u.a. Chantal Mouffe: On the Political. London, New York 2005.
3. Soziologie: Masse, Mittelschicht, Kapital brutal
Kontingenz ist der Grund von Gesellschaft: Geschichte ist die Zeitform, in der gesellschaftliche Kontingenz erfahren wird; Politik ist die Handlungsform, in der diese Kontingenz bearbeitet wird. Davon handelten Kapitel 1 und 2; jeweils ausgehend von Kracauers hochverdichteter Bemerkung 1930, wonach die bürgerliche Gesellschaft unter Modernisierungsdruck »später einmal wer weiß was ausbrüten wird – vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts.«1 Von diesem Satz am Ende seines Lindenpassage-Aufsatzes und dessen (weit gefassten) Kontexten gehe ich aus. Insgesamt geht es hier um Siegfried Kracauers Sicht auf Faschismus. Das ist kein ›Spezialthema‹ eines halb kanonischen Autors. Kracauer formuliert seine Überlegungen im Kampf gegen den Faschismus und auf der Flucht vor dem Faschismus, also nicht als distanzierter Experte. Und das ist bei ihm auch kein Spezialbereich: Anhand des Faschismus schärft und entfaltet er sein Verständnis von Geschichte (Kontingenz als Neubeginn) und von Politik (Kontingenz als ›auszutragender‹ Kontakt mit anderen, im Bündnis wie auch im Konflikt). Das waren, wie gesagt, die Schwerpunkte jeweils meiner Kapitel 1 und 2. Im Folgenden geht es um Gesellschaft – darum, wie sich mit Kracauer die Rolle von Faschismus in der Gesellschaft wahrnehmen lässt; im Kontext einer kritischen Wahrnehmung von Gesellschaftlichkeit insgesamt. Konkret geht es um Beziehungen des Faschismus zur Masse, zur Mittelschicht und zum Kapital.
3.1 Masse: passager gelockert – faschistisch verstetigt »Ich entsinne mich noch des Schauers, den mir in der Knabenzeit das Wort Durchgang einflößte,« schreibt Kracauer in »Abschied von der Lindenpas-
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SK: »Abschied von der Lindenpassage« [FZ 21.12.1930] OdM, S. 332.
3. Soziologie: Masse, Mittelschicht, Kapital brutal
Kontingenz ist der Grund von Gesellschaft: Geschichte ist die Zeitform, in der gesellschaftliche Kontingenz erfahren wird; Politik ist die Handlungsform, in der diese Kontingenz bearbeitet wird. Davon handelten Kapitel 1 und 2; jeweils ausgehend von Kracauers hochverdichteter Bemerkung 1930, wonach die bürgerliche Gesellschaft unter Modernisierungsdruck »später einmal wer weiß was ausbrüten wird – vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts.«1 Von diesem Satz am Ende seines Lindenpassage-Aufsatzes und dessen (weit gefassten) Kontexten gehe ich aus. Insgesamt geht es hier um Siegfried Kracauers Sicht auf Faschismus. Das ist kein ›Spezialthema‹ eines halb kanonischen Autors. Kracauer formuliert seine Überlegungen im Kampf gegen den Faschismus und auf der Flucht vor dem Faschismus, also nicht als distanzierter Experte. Und das ist bei ihm auch kein Spezialbereich: Anhand des Faschismus schärft und entfaltet er sein Verständnis von Geschichte (Kontingenz als Neubeginn) und von Politik (Kontingenz als ›auszutragender‹ Kontakt mit anderen, im Bündnis wie auch im Konflikt). Das waren, wie gesagt, die Schwerpunkte jeweils meiner Kapitel 1 und 2. Im Folgenden geht es um Gesellschaft – darum, wie sich mit Kracauer die Rolle von Faschismus in der Gesellschaft wahrnehmen lässt; im Kontext einer kritischen Wahrnehmung von Gesellschaftlichkeit insgesamt. Konkret geht es um Beziehungen des Faschismus zur Masse, zur Mittelschicht und zum Kapital.
3.1 Masse: passager gelockert – faschistisch verstetigt »Ich entsinne mich noch des Schauers, den mir in der Knabenzeit das Wort Durchgang einflößte,« schreibt Kracauer in »Abschied von der Lindenpas-
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SK: »Abschied von der Lindenpassage« [FZ 21.12.1930] OdM, S. 332.
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sage«. Schauen wir uns Schauer dieser Art, die vom Durch- und Übergang herrühren, näher an. In voller Länge besagt das Ende seines FZ-Artikels: Die »leer[e] Architektur«, die die bürgerliche Gesellschaft in ihrem Modernisierungsprozess darstellt, »[verhält] sich einstweilen völlig neutral und [wird] später einmal wer weiß was ausbrüten – vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts. Was sollte noch eine Passage in einer Gesellschaft, die selber nur eine Passage ist?«2 Die bürgerliche Gesellschaft ist also eine Passage, besagt der Schlusssatz: Sie ist nicht nur im Übergang, sie ist vielmehr selbst ein Übergang, Durchgang.3 Und Faschismus ist eine mögliche Mündung ihres Übergehens, eine mögliche Zukunft der Gesellschaft. Diese Passagen-Frage beschäftigt Kracauer immer wieder, und immer wieder kommt er dabei mit Nachdruck auf die Masse zu sprechen. Kurz und leicht versetzt im Lindenpassage-Aufsatz;4 ausführlich 1938 in Totalitäre Propaganda. In letzterer Faschismus-Studie schreibt er über die Masse, die eine Passage ist: Die Masse ist ein Übergang und Durchgang der Gesellschaft – und sie ist selbst Gesellschaft. Diesen Gedanken entfaltet Kracauer anhand der kommunistischen Massen-Auffassung und -Politik im Gegensatz zur faschistischen: »Die Emanzipation des Proletariats ist die Aufhebung seiner Existenz in Form von Masse.« Der Kommunismus »will die Masse nicht verewigen«; vielmehr ist diese als »revolutionär[e] Masse« für kommunistische Politik »nicht Ziel, sondern Mittel.« Anders gesagt: Die »revolutionäre Masse [ist] immer nur die Passage zur Heimat« (TP, S. 79f, 97). Dass Gesellschaft eine Passage ist, zeigt die Masse; diese verkörpert im emphatischen Sinn, was an der Gesellschaft übergangshaft ist – was »passager« ist, wie Kracauer formuliert.5 Was er da schreibt, ist gerade nicht ein Aufguss der pseudomarxistischen Orthodoxie, für die am Ende der Geschichte notwendig der Sieg des Kommunismus steht.
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Ebd., S. 326, 332. Bekanntlich ist Kracauer nicht der einzige Frankfurter, der zu Passagen arbeitet: Von »mein[em] Freund Walter Benjamin, dessen Arbeiten seit Jahren auf die Pariser Passagen hindrängen«, schreibt er im selben Artikel (ebd., S. 330). So schreibt er 1928 in seinem Nachruf auf Max Scheler, einen seiner philosophisch-soziologischen Lehrer, dieser sei »der Philosoph des fortgeschrittensten Bürgertums« gewesen, »das schon ein Übergang ist«. SK: »Max Scheler +« [FZ 22.5.1928] 5.3, S. 27. Vom »Marmormassengrab« (SK: »Abschied von der Lindenpassage«, S. 326) ist die Rede in diesem Text-Panorama, das die Einkaufspassage als Gesellschaft zeigt: als Versammlung differenter, aus Rahmen gefallener und einander bekämpfender Massenwesen (Waren-Objekte in ihrer Unzahl). Die »revolutionär[e] Masse […] ist auch keine Heimat (wie die Masse der Diktatur), sondern durch[aus] passager – Passage zur Heimat.« (»Disposition« Juli 1937, TP, S. 252)
3. Soziologie: Masse, Mittelschicht, Kapital brutal
Sondern: Die Masse bildet sich in der Auflösung stabiler Klassenzugehörigkeiten; ein genereller Auflösungs- und Zerfallsprozess macht für Kracauer Gesellschaft aus – in ihrer Kontingenz, in ihrer Geschichte.6 Gesellschaft ist für ihn im Übergehen: nämlich im Vor-übergehen – jede Gesellschaft ist passager und endlich, keine existiert ewig – wie auch im Übergehen als einem Überquellen, einem Aus-dem-Rahmen-Fallen, wie Kracauer dies vor allem im Zusammenhang mit faschistischer Massenpolitik beschreibt (dazu gleich mehr). Das Vor-übergehende ist an modernen Gesellschaften ganz normal, und Masse als Passage ist, wie die Einkaufs-Architektur im LindenpassageAufsatz, zunächst einmal ja »völlig neutral«.7 Dass viele Leute aus etablierten gesellschaftlichen Aufteilungen herausfallen, wofür eben der Ausdruck Masse steht – davon geht Kracauer in seiner Gesellschaftsauffassung aus. Und in dieser Auffassung macht das Massenhafte die Instabilität von Gesellschaft mit aus. Das sind Ausgangspunkte – aber das ist noch nicht das Entscheidende. Entscheidend ist, einen Unterschied macht etwas anderes. Nämlich wie mit den aus Klassengefügen herausgefallenen Massen politisch und im sozialen Alltag umgegangen wird. Also auch: wie Massen mit sich selbst umgehen und wie sie sich selbst sehen. Mit Bezug darauf arbeitet Kracauer einen Unterschied, ja, Gegensatz heraus: eben zwischen kommunistisch-revolutionärer Massenpolitik und faschistischer Massenpolitik. Während also »die revolutionäre Masse immer nur die Passage zur Heimat ist« – einer Heimat, die Kracauer als Utopie andeutet, nicht zum Paradies-Plan ausmalt –, »hat die von der totalitären Propaganda im doppelten Sinn des Wortes ›massierte‹ Masse als eine Art Heimat zu gelten« (TP, S. 97).8 Letztere, die faschistische, Hei6
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Adorno weist (nicht nur hier) auf den Zerfall von Gesellschaft und in Gesellschaft hin und verwendet dabei das Wort »ausbrüten«, das Kracauer im Lindenpassage-Aufsatz so prägnant einsetzt; beide Autoren tun dies anhand von Faschisierungssymptomen: Adorno schreibt, »daß unsere Gesellschaft, während sie immer mehr sich integriert, zugleich Zerfallstendenzen ausbrütet.« Theodor W. Adorno: »Erziehung nach Auschwitz« [1966] in: Stichworte. Kritische Modelle 2. Frankfurt a.M. 1969, S. 88. SK: »Abschied von der Lindenpassage«, S. 332. Der Soziologe Leo Löwenthal, ein Freund Kracauers, zielt 1949 als Co-Autor der Propaganda-Studie Prophets of Deceit auf etwas Ähnliches: Im Unterschied zum (sozialdemokratischen) Typus des »reformer« und zum (kommunistischen) des »revolutionary« will der (faschistische) Typus des »agitator«, wiewohl er als man of change auftritt, die jeweilige »oppressive situation«, die er beklagt, nicht verändern – weder behutsam noch radikal –, denn er lebt davon, dass diese soziale Situation ein Dauerzustand bleibt. Leo Löwenthal, Norbert Guterman: Prophets of Deceit. A Study of the Techniques of the American Agitator. New York 1949, S. 15ff.
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mat heißt totale Selbst-Vergegenwärtigung im völkischen Gemeinwesen, und das als Dauerzustand. Wie sollen wir hier nun Kracauers Wort von der massierten Masse verstehen? Wie so viele seiner Wortspiele macht auch dieses als Verdichtung Sinn: Wenn es um Masse geht, will der Kommunismus Passage; der Faschismus will Massage. Vom Massieren als regelrechtem Durchkneten der Massen schreibt Kracauer 1934 angesichts »proletarischer und proletarisierter Massen, die der Gesellschaft auf die übliche Weise nicht mehr einverleibt werden können«; die »eigentliche Leistung des Fascismus« in Italien und Deutschland bestehe »eben darin, mit bisher unbekannten Methoden die der Gesellschaft entsprungenen Massen aufzufangen, zu beherrschen und durchzukneten.«9 Große Teile der Bevölkerung sind nicht über klassenspezifische Arbeitserfahrungen und Kulturnormen in die Gesellschaft integriert: Das ist etwas Krisenhaftes an Gesellschaft, und die(se) Krise ist ein Dauer- und Normalzustand moderner Gesellschaften, der auch Chancen enthält. Was tut in dieser Situation faschistische Politik? Anstatt die Chance als eine Passage hin zu einem Ziel (zu einer anderen, gerechteren Ordnung) zu nutzen, fängt sie die Massen auf: Mit seinen Organisationen, Versammlungen und völkischen Gemeinschaftsmythen fängt der Faschismus viele Leute auf – und, vor allem, viele stößt er dabei aus, verfolgt und ermordet sie. Mit einem anderen alliterierenden Kracauer-Masse-Wort gesagt: Die deutsch-völkische Masse ist »eine massive Masse, in der die notwendigen Lücken fehlen«; die Lücken, die der völkischen Herrschaft als Hindernis zu ihrer Totalisierung gelten, merzt sie aus.10 Die Masse wird vom Faschismus massiert, geknetet, auch geknechtet; sie wird dadurch fest. Kracauer spricht von »[V]ersteifen« und »Verfestigung von Massen«. Im Unterschied dazu haben die zeitgenössische »Aktionen der revolutionären Masse«, organisiert von marxistisch orientierten Bewegungen, nicht nur weniger »rituellen Charakter«; vor allem ist »Verfestigung« bei ihnen nur ein »Nebeneffekt«. Die Hauptsache besteht da, so Kracauer, in einem zeitlichen Vorgriff: Kommunistische Politik greift auf eine Willens-Einheit vor, die die Masse inspiriert, ohne dass sie diese noch ›hat‹. Manifestiert wird also etwas Künftiges, das wirklich ist, weil es wirksam ist, ohne dass es noch ausgeformt ist: Was Kracauer damit andeutet, ist ein revolutionäres Begehren,
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SK: »Europäische Jugend« [in frz. Übers. in L’Europe Nouvelle 11.8.1934] 5.4, S. 525. Kracauer schreibt dies 1931 zwar nicht über das deutsche Volk, aber, bedeutungsnah, über deutsche Renommierfilme, die nationale ›Größe‹ zelebrieren. SK: »Gepflegte Zerstreuung. Eine grundsätzliche Erwägung« [FZ 4.8.1931] 6.2, S. 529.
3. Soziologie: Masse, Mittelschicht, Kapital brutal
das noch nicht zur Volldefinition ›festgeklopft‹ ist.11 Zugespitzt zum Vergleich gesagt: Faschistische Massen-Massage knetet neue Verspannungen in die Massenkörper rein (»denn je mehr die Masse zu leisten hat, desto straffer wird sie angespannt«: TP, S. 98); klassenbewusste Solidarität hingegen wirkt nachgerade als eine Lockerung, wie dies Ruth Sonderegger ausgehend von Walter Benjamin nahelegt. Das liest sich vielleicht kontraintuitiv; wenn, dann aber nur deshalb, weil wir gewohnt sind, Klassenbewusstsein und Solidarität sofort und ausschließlich mit starken Identitäten, geschlossenen Reihen und Uniformierungen zu assoziieren. In Kracauers Sicht – ähnlich der Sichtweise, die Sonderegger von Benjamin her starkmacht12 – zählt an der Masse, die ein Übergang, eine Passage ist, eben das ›Lockere‹, das kategorisch Unvollständige, das gerade kraft der Organisation der Masse als ein Sinn, ein Wert hervortritt: Es ist nichts Naturwüchsiges, sondern eine Möglichkeit, die gewahrt sein will, auch gehütet sein will. Eben dafür steht die Forderung, die Kracauer in seinem Dialog mit der
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Die »entscheidende Aufgabe« sei es, »jenen Willen zu manifestieren, der die homogene proletarische Masse beseelt, noch ehe sie sich zur Masse zusammenschließt.« (TP, S. 97) Das Wort »homogen« sollten wir hier nicht zu stark gewichten: Kracauers Akzent liegt auf einer Ungleichzeitigkeit, die ihrerseits Heterogenität markiert; zu seiner Kritik an Massen-Homogenisierung durch Uniformierung kommen wir gleich. Mit Andrea Cavalettis Buch Classe (2009) als Bindeglied: Cavaletti mache mit Benjamin deutlich, so Sonderegger, »dass die Massen-Anfälligkeit für Rechts keine ausgemachte Sache ist, dass man die Massen vielmehr auch für eine linke Agenda gewinnen kann. Der entscheidende Unterschied zwischen diesen beiden Massenbewegungen besteht Benjamin zufolge darin, dass die rechte Masse homogen und von außen gewissermaßen zählbar ist, während das proletarische Klassenbewusstsein sich dadurch auszeichnet, dass es jede Homogenität preisgibt – Benjamin spricht von ›Auflockerung‹ –, und zwar zugunsten einer Form von Solidarität, die nicht länger auf Gemeinsamkeit angewiesen ist, sondern auf Heterogenität setzt. Genau deshalb entzieht sich die solidarische Verbündung im Aufgelockert-Inhomogenen den Augen der Außenstehenden, die die Masse messen wollen, während die entscheidende Solidarität zwischen Verschiedenen nur aus der Innenperspektive erfahrbar ist. In den Worten Benjamins: ›Das klassenbewußte Proletariat bildet eine kompakte Masse nur von außen, in der Vorstellung seiner Unterdrücker. In dem Augenblick, da es seinen Befreiungskampf aufnimmt, hat seine scheinbar kompakte Masse sich in Wahrheit schon aufgelockert. […] Die Auflockerung der proletarischen Massen ist das Werk der Solidarität.‹« Ruth Sonderegger: »Multiple Klass(e)ifizierungen in der (kunst-)universitären Bildung. Plädoyer für eine Auflockerung« in: Drehli Robnik (Hg.): Klassen sehen. Soziale Konflikte und ihre Szenarien. Münster 2021, S. 27f. (Das Binnenzitat stammt aus einer damals nicht publizierten Fassung von Benjamins »Kunstwerk«-Aufsatz von Mitte der 1930er Jahre.)
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Gewerkschaftsbewegung äußert:13 Wenn sich die Lohn- und Gehaltsabhängigen solidarisch organisieren, dürfe nicht »aus der Not der Uniformierung eine Tugend« gemacht werden (A, S. 115); das heißt, Solidarisierung soll das Moment individueller Erfahrung nicht tilgen; sie soll die Fragilität der Einzelnen in sich aufnehmen, auch die Verschiedenheit der Einzelnen, sei diese nun bunt oder diffizil (siehe auch Kap. 2.2). Der Faschismus hingegen will die Masse als einen fixfertigen Dauerzustand: Er »befiehlt […] der Masse Dauer«, will sie als ein formloses gesellschaftliches »Mischmasch« (TP, S. 82, 105). Zugleich verachtet der Faschismus die Masse: Er sieht sie als untätig, »pures Objekt«, und huldigt einem massenfeindlichen Kult der maskulinistisch definierten »Persönlichkeit« (TP, S. 55, 80, 93ff).14 In faschistischen Vorstellungen von Kollektivität erscheint die Masse notorisch als weiblich (vgl. auch TP, S. 84), und ›Weiblichkeit‹ wird als ein Dekadenz- und Gefahrenherd abgewertet; sprich: ›Die Frau‹ muss mit Gewalt gegen ständig drohende Unreinheit gesichert werden – ebenso die Masse. Der Faschismus will Masse als Dauerzustand, implizit als einen Dauer-Defekt: als eine Menge, die ständig Heilung braucht (und ständig »Heil!« schreit). Er will dies auf Kosten der Vielfalt und Selbsttätigkeit der Masse und auf Kosten von Ansätzen zur Individualität. Zu einer Individualität, die eben im Zeichen von Prekarität aufgefasst ist – und die insofern in die Perspektive demokratischer Verhältnisse gerückt ist. So verstanden, könnte Individualität heißen: Als Singulär-Viele sind wir ja immer auch Einzelne; wir sind quasi jeweils so viele, dass dieses Viele-Sein unser zeitweises Einzel-Sein mit umfasst. Und: Sich als Einzelne*r zu erfahren, das soll als Möglichkeit etwas Kollektives sein, für alle. Und zwar in einer Beziehung, bei der Massenhaftes und Einzelnes, jeweils
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Nämlich in seiner Studie über Alltage und Kämpfe der Angestellten, die als Teil der Mittelschichten zwischen bürgerlichem Habitus und proletarischer Prekarität leben; insofern tragen sie mehr Züge einer heterogenen Masse als einer definierten Klasse. Ideologisch aber sind sie, kraft ihrer Fixierung auf einen erhöhten bürgerlichen Status, kraft ihrer klassistischen und identitären Fixierung (um es mit heutigen Worten zu sagen) ungelockert, um das mit Kracauer zu sagen. Dieser schreibt an Horkheimer (20.4.1937, zit.n. Hg.-Nachwort, TP, S. 318) von »der Hartnäckigkeit des Mittelstands und seiner ungelockerten ideologischen Verfassung«. Kracauer zitiert und kritisiert 1932 den NS-Intellektuellen Kleo Pleyer, der das »Bündische« (also das Faschistische) als ein Prinzip von Gesellschaft feiert und geringschätzig meint, in den traditionellen Parteien gebe es nur »Massen«, im völkischen »Bund« hingegen »Kerle«. SK: »Gestern – Heute – Morgen. Zum Thema: Rundfunk« [FZ 9.11.1932] 5.4, S. 260.
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gelockert, einander durchqueren. Also so, dass die Durchkreuzung individueller Mächtigkeit durch die politisierte Masse ihr Gutes hat, wie Kracauer schreibt: In der Masse als Passage hat die »Herabminderung des individuellen Bewußtseins« ein »progressives Moment«, eine »positive Funktion« (TP, S. 84; »Disposition Juli 1937«, S. 252). Solch eine Reduktion von Individualität ist aber kein ›Wert an sich‹, kein Selbstzweck: Es geht vor allem nicht darum, sich zu ›verlieren‹ und ›bewusstlos‹ in der Masse aufzugehen (worauf die Angstlust bürgerlicher Massentheorien starrt). Sondern es geht um ein Verhältnis – eine Bezogenheit (Kontingenz) –, in dem »Ausschweifungen des Individualismus« in Schach gehalten werden (TP, S. 84). Die Ambivalenz, die Kracauer an der Masse hevorhebt, insbesondere im Verhältnis zu ihren uniformierenden und faschistischen Verfestigungen, unterscheidet seine Konzeption von Etikettierungen, die es sich einfach machen, indem sie linke Massen als ›rational‹ und rechte Massen als ›irrational‹ etikettieren.15 Kracauers Ambivalenz-Überlegungen zu Massengesellschaft und Massenpolitik gehen auf seine prominenteste Wortprägung zurück: auf sein sozial- und geschichtsphilosophisches Konzept »Ornament der Masse« (bzw. »Massenornament«) von 1927. Die Ornamente, die er meint, sind nicht etwa ›Verzierungen‹, sondern Formbildungen der Masse: Es sind neue, betont instabile Formen, in Wohnräumen wie auch in öffentlichen Räumen zu leben und zu erscheinen. Es sind Formen, in denen die Vielen, die weder in eine KlassenIdentität und -kultur eingehaust noch als (mythisches) ›Volk‹ definiert sind, sich präsentieren; sich auch vor sich selbst präsentieren.16 Kaleidoskopische 15
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Rationale Strategien gegen irrationalistische zu verfolgen, hat seinen Sinn in situierten, definierten politischen Konstellationen (siehe dazu auch Kap. 7.3). Das ist allerdings etwas anderes als ein Apriori-Etikettieren mit feststehenden Werturteilen. Solche Labels beruhen mehr auf Vorlieben, Ressentiments und Projektionen von Intellektuellen als auf politischer Analyse. – Den Gegensatz ›rational versus emotional‹ forciert Max Horkheimer in seiner Autoritarismus-Studie von 1936 (»bewußt« und »wachsam« als Eigenschaften der bürgerlich-revolutionären Masse, »Suggestion« und »Irrationalität« hingegen als Massen-Faktoren beim »›Mob‹« der »Gegenrevolution«); John Abromeit folgt ihm heute darin in einer seiner Fehldeutungen zu Kracauers Totalitäre Propaganda (siehe Kap. 2.2). Max Horkheimer: »Egoismus und Freiheitsbewegung (Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters)« [1936]. https://www.gleichsatz.de/b -u-t/kriton/hork/heimer1egofrei.html; https://www.gleichsatz.de/b-u-t/kriton/hork/h eimer2egofrei.html#III [4.2.2023]. In »dem Massenornament [wird] die Natur entsubstantialisiert« und wird ein Gesellschaftsbild, das von »mythologische[r] Konkretheit« ausgeht, in die Schranken gewiesen, schreibt Kracauer. Er sieht das Massenornament in einem dezidierten Ge-
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Körper-Fragment-Choreografien von Stadionveranstaltungen und RevuegirlTanztruppen sind 1927 Kracauers kanonische Beispiele für diese vorübergehenden Selbstpräsentationen der Massen im Zerfall der Festverortungen.17 Wie die Lindenpassage ist auch das »Massenornament« eine Denkfigur, in der zweierlei Mehrdeutigkeit zusammenkommen: zum einen Möglichkeiten, anders zu leben (auch besser, gerechter zu leben), die ungeahnt, noch nicht ›gewusst‹, noch nicht vorausplanbar sind; zum anderen die Zuspitzung einer krisenhaften Entwicklung. Nämlich: Bei den Massen ist nicht entschieden – und zwar 1927 nicht, aber auch immer wieder in der Geschichte nicht –, worauf ihre Formbildungen, die Einrichtungen ihrer Alltage, sozial und politisch hinauslaufen. Auch diese Passage durch die bürgerliche Gesellschaft – Gesellschaft, die sich im Zerfall rationalisiert, die in ihrer Rationalisierung zerfällt – hat mehrere mögliche Ausgänge. Das gilt es umso mehr zu betonen, als durch die Rezeption des »Massenornament«-Begriffs bzw. dadurch, dass er in bildungssprachlichen Allgemeingebrauch eingegangen ist, eine drastische Bedeutungsverengung stattgefunden hat: Aus Kracauers Begriff in dem genuinen Sinn, dass der Begriff »Massenornament« Potenziale wahrnehmend zu denken und ihre Entfaltung zu problematisieren ermöglicht, wird oft ein Signalwort-artiges Label, das sich schnell aufkleben lässt (meist ohne auf Kracauer einzugehen). Fast reflexhaft wird Massenornament mit Leni Riefenstahls NSDAP-Parteitags-Film Triumph des Willens (D 1935) in Verbindung gebracht, also mit dem Anblick uniformierter Männer-Massen in Block-Geometrien und disziplinierten Bewegungsabläufen.18 In dieser Verkennung drückt sich letztlich auch eine massenfeindliche Sichtweise aus, die allzu eilfertig proto-kommunistische
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gensatz zu den »natürlichen Organismen« der »Volksgemeinschaft« und der »Persönlichkeit«; denn es entspreche der universellen »Kalkulabilität«, wie sie die kapitalistische Produktion im imperialistischen Frühstadium der Globalisierung fordert (»Verwischung der nationalen Eigenarten«, »Fabrikation von Arbeitermassen, die sich an allen Punkten der Erde gleichmäßig einsetzen lassen«). SK: »Das Ornament der Masse« [FZ 9./10.6.1927] OdM, S. 53, 57, 59. In Sachen Kaleidoskop: Über »Teile«, die »ununterbrochen durcheinander geschüttelt wurden und neue Verbindungen eingingen, die wieder zerfielen«, schreibt Kracauer zeitgleich zum Massenornament-Aufsatz, in seinem Roman Ginster: Das bezieht sich auf Marseille, dessen Hafen-Massen-Durchgänge weniger durchchoreografiert, aber kaum weniger industrialisiert, beschleunigt und modern sind als die Stadionsportoder Revue-Ornamente. SK: Ginster [1928] 7, S. 245. Ein bekannter Filmpublizist etwa assoziiert, ohne Kracauer zu nennen, »Ornament der Masse« ganz und ausschließlich mit Riefenstahl und ihren Praktiken (»Schönheit von
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Formbildungen mit nationalsozialistischen in einen Topf wirft, und die nur Uniformierung und Standardisierung sieht, wo es eigentlich um Veränderung durch Herauslösung aus fixen Gesamtheiten geht. Ironischer Weise hat Kracauer in seinen New Yorker Schriften zum Nationalsozialismus zu dieser Verengung und Vereindeutigung beigetragen: Schreibt er da von »mass ornaments«, meint er immer nur Nazi-Masseninszenierungen (zumal die von Riefenstahl).19 In Totalitäre Propaganda hingegen, fertiggestellt 1938 in Paris, behält Kracauers Denkverbindung von Masse und Ornament noch einen Rest jener Ambivalenz, die sein MassenornamentBegriff ursprünglich herausgearbeitet hat.20 Das Sich-selbst-Sehen der Mas-
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Versteinern, Töten und Erscheinen«, »Körper als Fetisch«): Georg Seeßlen: Quentin Tarantino gegen die Nazis. Alles über Inglourious Basterds. Berlin 2009, S. 82. So in Propaganda and the Nazi War Film von 1942 (NW, S. 302) und From Caligari to Hitler von 1947; danach verwendet der den Ausdruck nicht mehr. Die kommunistisch-revolutionäre Masse, die eine Passage ist, fungiert in dieser Pariser Studie wie eine regulative Idee, die den Unterschied zu faschistischen Massenformationen aufrechterhält (so wie in Teilen das »oder auch gar nichts« in Relation zum Faschismus in der Lindenpassage). Das Wort »Ornament« hat Kracauer da als Bezeichnung allerdings schon an den Faschismus vergeben (nachgerade preisgegeben): Dass die Masse sich vermittels des Ornaments zu sich selbst verhält, »sich selbst erblickt«, das stellt er hier als etwas Paranoides, Zwanghaftes (der Masse Aufgezwungenes) dar. »Man zwingt die Masse dazu, sich überall selbst zu erblicken (Massenversammlungen, Massenaufzüge usw.) […,] oft in der ästhetisch verführerischen Form eines Ornaments oder eines effektvollen Bildes.« (»Exposé« Dez. 1936, TP, S. 234; ähnlich TP, S. 64] Das geht in Kracauers Darstellung bis zu Momenten von (Selbst-)Hypnose: »Zuletzt kommt es gar nicht mehr auf den Inhalt der Rede an, sondern die Masse hypnotisiert sich selber (Zitat aus Silone ›Brot und Wein‹).« (»Disposition« Juli 1937, TP, S. 252) (Die Masse bedarf also gar nicht mehr jenes »Massenhypnotiseurs«, von dem in TP, S. 95, die Rede ist.) Kracauer bezieht sich auf eine Stelle aus Ignazio Silones Antifaschismus-Roman Brot und Wein, an der die Menge bei einer faschistischen Dorfversammlung den (nicht anwesenden) »Duce« in Sprechchören anruft, sodass ein geschriener »CE DU, CE DU, CE DU«-Chant herauskommt (»Die beiden Silben verloren schließlich jeden Sinn, sie wurden wiederholt wie eine Beschwörung […].« Ignazio Silone: Wein und Brot [1936; überarb. und umbenannt 1955] Köln 1974, S. 227. – Vielleicht schlägt sich in Kracauers skeptischer Sicht auf die Selbstwahrnehmung der Masse auch ein Einfluss von Benjamins heute kanonischem »Kunstwerk«-Aufsatz, mit seiner Attacke auf die faschistische »Ästhetisierung der Politik«, nieder, den Kracauer in Totalitäre Propaganda einmal zitiert (nach der gekürzten französischen Übersetzung, die 1936 ebenso in der Zeitschrift für Sozialforschung erschien wie Horkheimers in Totalitäre Propaganda oft zitierter Aufsatz »Egoismus und Freiheitsbewegung«; Totalitäre Propaganda war ja als Beitrag für die Zeitschrift für Sozialforschung beauftragt und gedacht). Der Faschismus, so Kracau-
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sen, das er 1938 als etwas Zwanghaftes darstellt, versteht er im Aufsatz »Das Ornament der Masse« von 1927 noch als ein Umgehen der Masse mit sich, dem Momente des Spielens zukommen; Momente von Durchspielen der Formen der Massenalltagserfahrung, das im Horizont dieses Alltags stattfindet (nicht in der Hochkultur oder der literarisch-denkerischen Reflexion). Mithin geht es ihm da um Chancen auf mass empowerment. Faschismus erwähnt er in diesem Aufsatz von 1927 nicht. (Die NSDAP ist zu diesem Zeitpunkt eine der bei Wahlen mäßig erfolgreichen Rechtsaußen-Parteien.) Dass sich die Ambivalenz des Massenornaments krisenhaft zur »Zweideutigkeit« zuspitzen kann, das geht hier noch nicht in die Richtung einer Aufspaltung des Geschichtsverlaufs in »Fascismus oder auch gar nichts«;21 sondern das verweist noch auf die Aufspaltung von Tendenzen in rundumerneuerter Kapitalismus oder auch gar nichts: Die Umstellung von Schönheitsempfinden, Habitus und ›Kultur‹ auf modulare, anonyme Formen – auch im Wohnen – bedeute vielleicht nicht mehr als die Anpassung urbaner Lebensweisen an den Rationalisierungsgrad des tayloristischen Kapitalismus.22 Zugleich aber steht mit den Selbstformungen und Selbstbekundungen der Masse eine Passage im Raum, die nicht nur Anpassung ist, sondern Utopie: eine Utopie, die aus aktuellen gesellschaftlichen (Konflikt-)Konstellationen heraus interpretierbar ist, somit also konkrete Utopie einer, so Kracauer 1927, noch »ungegebenen Struktur der Gesellschaft« und ihrer Subjekte. Kracauer deutet Ende der 1920er einen regelrechten Exodus aus den Verfasstheiten des Individualismus und des Organischen an, hin zu einer Anonymität, die wahrheitsfähig ist, weil sie sich
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ers Freund Benjamin (in seiner heute gängigsten autorisierten Letztfassung dieses Aufsatzes), ziele darauf, »die Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen«, und in »den großen Festaufzügen, den Monstreversammlungen […] sieht die Masse sich selbst ins Gesicht«, was als eine Form von »Selbstentfremdung« zu werten sei. Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« [1936] in: Illuminationen. Frankfurt a.M. 1977, S. 167, 169. SK: »Abschied von der Lindenpassage«, S. 332. Wie später die »völlig neutrale« modernisierte Architektur der Lindenpassage sieht Kracauer Mitte 1927 (zeitgleich zum Massenornament-Aufsatz) auch die rationalistisch glatten Formen im neuen Wohnbau als »mindestens doppeldeutig« in Bezug auf das, was sie gleichsam ausbrüten werden: »Vielleicht deutet […der] Versuch, durch das Einreißen von Zwischenwänden die frühere Insichgeschlossenheit des Einzelmenschen nach außen hin abzubauen, auf eine noch ungegebene Struktur der Gesellschaft vor; vielleicht soll er aber auch nur dem anonymen Sein des der kapitalistischen Wirtschaft verpflichteten Massenmenschen Ausdruck verleihen.« SK: »Das neue Bauen. Zur Stuttgarter Werkbund-Ausstellung ›Die Wohnung‹« [FZ 31.7.1927] 5.2, S. 638.
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dem Universellen der Menschheit als Gattung (sprich: dem Kommunismus) nicht verschließt. Und er spricht von einer Art Mensch der Passage, der im vagabundierenden Übergang zu einer neuen Sozietät ist: in der Passage zu einer Gerechtigkeit der Massen, die ihrerseits im Zustand der Vorläufigkeit bleibt und so die Ansprüche der Einzelexistenzen wahrnimmt (sie in Schranken hält, nicht tilgt).23
3.2 Aufruhr als Asyl: Mittelschicht und Jugend-Fetisch (Silone, Mason) Allgemeiner nennt man eine solche Passage – weniger eine linde denn eine ruppige Passage – zu anderen gesellschaftlichen Ordnungen eine Revolution. Kracauers Kritik faschistischer Massenformationen erfolgt vor dem Hintergrund der Möglichkeiten, die mit den gelockerten Formbildungen der Masse im gesellschaftlichen Raum stehen; ebenso steht sein Gesamt-Verständnis von Faschismus – als einer drastischen politischen Veränderung – in Beziehung zur Revolution; konkret zu demokratisch-egalitär und sozialistisch aufgeladenen revolutionären Prozessen in Deutschland und Italien nach dem Ersten Weltkrieg. Der Faschismus ist kontingent gegenüber der Revolution: Er ist eine teils direkte, teils vermittelte Gegenreaktion zu revolutionären Prozessen mit sozialistischem Antrieb – zu deren Erfolgen wie auch zu deren Scheitern. Das gilt erstens in geschichts- und politiktheoretischer Hinsicht: Der Faschismus 23
Im Wortlaut: »Die im Massenornament eingesetzte menschliche Figur hat den Auszug aus der schwellenden organischen Pracht und individuellen Gestalthaftigkeit zu jener Anonymität angetreten, zu der sie sich entäußert, wenn sie in der Wahrheit steht und die aus dem menschlichen Grund herausstrahlenden Erkenntnisse die Konturen der sichtbaren natürlichen Gestalt auflösen.« (SK: »Das Ornament der Masse«, S. 59) – Der »Passant« als ein »Vagabundierender« »wird sich dereinst mit dem Menschen der veränderten Gesellschaft zusammenfinden.« (SK: »Abschied von der Lindenpassage«, S. 332) – Die Gerechtigkeit der Massen, der öffentlich und gleichheitlich geformten Körper, ist »barabarisch« und hat den »Schein der Inhumanität« – wohlgemerkt: deren Schein –, aber Kracauer gibt ihr den »unbedingten Vorzug«, ist sie doch unabgeschlossen, quasi passager, »ihrer Vorläufigkeit wegen mit Trauer umgeben«: »Ein schlechter Individualismus drückt auf die gute Grobheit, die den einzelnen vernachlässigen muss. Nur mit der Masse selber kann eine Gerechtigkeit nach oben steigen, die wirklich gerecht ist.« SK: »Über Arbeitsnachweise. Konstruktion eines Raumes« [FZ 17.6.1930] Straßen, S. 57.
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dem Universellen der Menschheit als Gattung (sprich: dem Kommunismus) nicht verschließt. Und er spricht von einer Art Mensch der Passage, der im vagabundierenden Übergang zu einer neuen Sozietät ist: in der Passage zu einer Gerechtigkeit der Massen, die ihrerseits im Zustand der Vorläufigkeit bleibt und so die Ansprüche der Einzelexistenzen wahrnimmt (sie in Schranken hält, nicht tilgt).23
3.2 Aufruhr als Asyl: Mittelschicht und Jugend-Fetisch (Silone, Mason) Allgemeiner nennt man eine solche Passage – weniger eine linde denn eine ruppige Passage – zu anderen gesellschaftlichen Ordnungen eine Revolution. Kracauers Kritik faschistischer Massenformationen erfolgt vor dem Hintergrund der Möglichkeiten, die mit den gelockerten Formbildungen der Masse im gesellschaftlichen Raum stehen; ebenso steht sein Gesamt-Verständnis von Faschismus – als einer drastischen politischen Veränderung – in Beziehung zur Revolution; konkret zu demokratisch-egalitär und sozialistisch aufgeladenen revolutionären Prozessen in Deutschland und Italien nach dem Ersten Weltkrieg. Der Faschismus ist kontingent gegenüber der Revolution: Er ist eine teils direkte, teils vermittelte Gegenreaktion zu revolutionären Prozessen mit sozialistischem Antrieb – zu deren Erfolgen wie auch zu deren Scheitern. Das gilt erstens in geschichts- und politiktheoretischer Hinsicht: Der Faschismus 23
Im Wortlaut: »Die im Massenornament eingesetzte menschliche Figur hat den Auszug aus der schwellenden organischen Pracht und individuellen Gestalthaftigkeit zu jener Anonymität angetreten, zu der sie sich entäußert, wenn sie in der Wahrheit steht und die aus dem menschlichen Grund herausstrahlenden Erkenntnisse die Konturen der sichtbaren natürlichen Gestalt auflösen.« (SK: »Das Ornament der Masse«, S. 59) – Der »Passant« als ein »Vagabundierender« »wird sich dereinst mit dem Menschen der veränderten Gesellschaft zusammenfinden.« (SK: »Abschied von der Lindenpassage«, S. 332) – Die Gerechtigkeit der Massen, der öffentlich und gleichheitlich geformten Körper, ist »barabarisch« und hat den »Schein der Inhumanität« – wohlgemerkt: deren Schein –, aber Kracauer gibt ihr den »unbedingten Vorzug«, ist sie doch unabgeschlossen, quasi passager, »ihrer Vorläufigkeit wegen mit Trauer umgeben«: »Ein schlechter Individualismus drückt auf die gute Grobheit, die den einzelnen vernachlässigen muss. Nur mit der Masse selber kann eine Gerechtigkeit nach oben steigen, die wirklich gerecht ist.« SK: »Über Arbeitsnachweise. Konstruktion eines Raumes« [FZ 17.6.1930] Straßen, S. 57.
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›kommt‹ nicht zwangsläufig, nicht aus sich selbst, nicht nach Geschichtsfahrplan, auch nicht als logischer Auswuchs bestimmter sozialer Gegebenheiten. Und es gilt zweitens für die Art, wie der Faschismus auf konkrete Revolutionsbewegungen und tiefgreifende gesellschaftliche Umbrüche um 1918 bezogen ist.24 Wobei gleich betont sein soll: Kracauer ist kein Vertreter eines Alles-odernichts-Verständnisses von Revolution. Er sieht es ähnlich wie der Kommunist, später Sozialist Ignazio Silone (den er in Totalitäre Propaganda oft zitiert): Laut Silone reagiert der italienische Faschismus als Bewegung auf eine sozioökonomische und politische Krise, auf das Scheitern einer umfassenden industrieproletarischen Revolution, sowie mehr noch auf emanzipatorische Sozialbewegungen und auf das Maß an regionaler politischer Kontrolle, das organisierte Landarbeiter*innen durchsetzen: Die Bourgeoisie, zumal die großgrundbesitzende, bekämpfe mittels der faschistischen Gewalt eher konkrete lokale Neuaufteilungen von Macht und Reichtum denn abstrakte Revolutionsdrohungen von »maximalistischer« Seite. Der Kapitalismus, so Silone, fühle »sich persönlich bedroht, weniger durch den Maximalimus als durch den Reformismus, weniger durch das Gespenst einer hypothetischen Revolution als durch die konkrete Drohung der Gewerkschaft, der Genossenschaft und der sozialistischen Gemeindeverwaltung« mit ihrer Gestaltung der Löhne, Tarife und Steuern.25
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Silone schreibt 1934 in Der Fascismus. Seine Entstehung und seine Entwicklung (Zürich 1934, S. 136): »Der Fascismus wuchs aus der Niederlage der Arbeiterrevolution heraus. Er erntete alle Früchte, die durch die[se] Niederlage […] der sozialistischen Bewegung entgingen.« Das heißt allerdings nicht, dass sich faschistische, insbesondere nationalsozialistische Massengewalt als eine Reaktion, gar Antwort oder Kopie, im Verhältnis zu bolschewistischer Massengewalt verstehen ließe (wie dies durch revisionistische Historiker, Auslöser des bundesdeutschen Historikerstreits der 1980er Jahre, nahegelegt worden ist). Silone: Der Fascismus, S. 85; und auf S. 71: »Gegen den schwätzerischen Maximalismus, der vom Morgen bis zum Abend ›Bandiera rossa‹ und die ›Internationale‹ singt, verteidigt sich der Kapitalismus mit den Gesetzen, und wenn die alten nicht genügen, macht er neue; gegen den Reformismus, der auf friedlichem, demokratischem und gesetzlichem Wege das Gleichgewicht zwischen den Klassen stört, wird der Kapitalismus blutgierig und greift zum fascistischen Bandentum.« – Vgl. dazu Ernest Mandels Position (wiedergegeben in: Matthias Wörsching: Faschismustheorien. Überblick und Einführung. Stuttgart 2020, S. 96): Der Faschismus habe gesiegt, als die Welle proletarischer Revolutionen bereits (längst) abgeebbt sei, und wollte, weitreichender als ein bürgerlich-bonapartistisches Regime, auch die Errungenschaften sozialistischer Reformen beseitigen.
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In Silones Darstellung gewinnen Prozesse, die in leninistischer Tradition despektierlich ›Reformismus‹ genannt werden, den Charakter einer ›wirklicheren‹, weil eben konkret effektiven, Umgestaltung, nachgerade den Charakter der genuineren Revolution. Kracauer wiederum macht in seinen Analysen deutlich, dass um 1930 kommunistische Revolutionsrhetorik weniger einen Ausdruck politischer Initiative darstellt als vielmehr eine Drohkulisse. Eine, die den größten Nutzen dem Nationalsozialismus bringt, der sie zu instrumentalisieren weiß, um sich die Unterstützung des Bürgertums und der Industrie zu sichern. 1934 schreibt er: »Obwohl dem liberalen Bürgertum der Fascismus widerstrebt, hat es doch nicht wenig dazu beigetragen, um Hitler die Machtergreifung zu ermöglichen. Aus Angst vor dem Kommunismus. Man muß in Deutschland Gesellschaften mitgemacht haben, in denen vom Kommunismus die Rede gewesen ist. Kluge, anständige Geschäftleute, Rechtsanwälte usw. erbleichen, sobald dieses Schreckenswort ertönt, ohne sich zu vergegenwärtigen, daß der Kommunismus tatsächlich gar keine ernsthafte Gefahr bedeutet. Die Juden genau so wie die Christen. Lieber räumen sie Hitler die Chance ein.« Es heiße dann: »[D]er Nationalsozialismus soll einmal zeigen, was er kann; oder: der Antisemitismus ist nur eine Begleiterscheinung, die sofort verschwinden wird. Usw. Hitler hat gewußt, warum er den Kommunismus unermüdlich als den Teufel an die Wand gemalt hat. Breite Schichten des Bürgertums sind haltlos genug, […] Hitler, der doch zum Unterschied von den Scheinmächten der Linken ihr wirklicher Gegner ist, den kleinen Finger zu geben.«26 Auch das ist eine Form von Kontingenz, Bezogenheit, des Faschismus auf eine revolutionäre Situation (oder was nach einer solchen Situation für eine solche gehalten wird). Zugleich aber setzt Kracauer Demokratisierungshoffnungen auf Ansätze einer Gegenmacht der Nicht-Besitzenden, die in sozialstaatlichen Einrichtungen auf Dauer gestellt sind.27 Diese Einrichtun26 27
SK: »Die deutschen Bevölkerungsschichten und der Nationalsozialismus« [in frz. Übers. in L’Europe Nouvelle 20.5. und 3.6.1933] 5.4, S. 439f. 1929 schreibt er: Das »Arbeitsgericht«, das seine Entscheidungen keineswegs nur im Interesse der Kapitalseite trifft, nehme zwar bloß »Ausbesserungsarbeiten« an den Schäden vor, die Profitwirtschaft systematisch verursacht, und sei insofern von »Zweideutigkeit« gekennzeichnet; dennoch sei diese »Reparaturwerkstatt« einer der wenigen Orte, an denen die »formale Demokratie mit einem richtigen Inhalt« erfüllt werde (A, S. 55f, 61). Inhalt der Demokratie heißt hier: ein Stück Kontingenz im Sinn von Ergebnisoffenheit der Auseinandersetzungen in einer kapitalistischen Gesellschaft.
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gen – hervorgegangen aus revolutionären Kämpfen oder Kampfdrohungen, als Reform-Institutionen Reste der 1918 abgewürgten Umwälzungsprozesse – zählen zu den gesellschaftlichen Wirklichkeiten und Möglichkeiten, die Kracauer als vom Faschismus unmittelbar bedroht sieht: Freiheitsgrade der Lohnabhängigen am Arbeitsplatz, gewerkschaftliche Mitbestimmung in Form von Betriebsräten, das droht durch die deutsche Faschisierung verloren zu gehen.28 Kracauer macht somit den Faschisierungsprozess auch an Phänomenen fest, wie sie keineswegs zum typischen (oder typischer Weise rezipierten) Themenbestand kritischer Theorie aus Frankfurt zählen. Für Kracauer zählt jede kleine Erweiterung demokratischer Spielräume, jede Reduzierung von Herrschaft. Aus Einsicht in die Notwendigkeit einer radikalen Umgestaltung der herrschenden Ordnung lässt sich auch auf den kleinsten Schritt zu diesem Ziel nicht verzichten. Kracauer denkt und schreibt – heutig gesagt – radikaldemokratisch; und definitiv nicht aus der linksfolkloristischen oder ›revolutionsplatonischen‹ Sorge, die ›Echtheit‹ einer Revolution könnte womöglich mit einer ›bloßen‹ Reform verwechselt werden. Und doch ist seine Analyse den Handlungsmöglichkeiten verpflichtet, die durch eine Revolution eröffnet werden, die genutzt werden – oder nicht. Vor diesem Hintergrund ist das erstaunlich apodiktische Urteil zu verstehen – umso erstaunlicher, weil er es nicht 1930 im tiefroten Berlin, sondern rückblickend 1947 in New York fällt –, das er in seiner Untersuchung des deutschen Weges in den Faschismus in Sachen Revolution 1918 fällt: »To call the events of November 1918 a revolution would be abusing the term. There was no revolution in Germany.« Es gab 1918 keine Revolution, schreibt er, weil die deutsche Sozialdemokratie eine akut revolutionäre Situation zu wenig nutzte,
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So protestiert er 1931 unter dem Artikel-Titel »Fascistische Rechtsprechung« ([FZ 19.7.1931] 5.3, S. 597f) gegen die Neuausrichtung des Reichsarbeitsgerichts, das nun die Kriterien Wirtschaftsfriede und Betriebsdisziplin ins Zentrum rückt: »Der romantisch-militärische Begriff von der Betriebsgewalt paart sich mit der Tendenz zur patriarchalischen Fürsorge«; damit beschreite man den »nächste[n] Weg zum Fascismus bei uns«. Und 1934 kommentiert er das neue, autoritäre, antigewerkschaftliche NS-Arbeitsrecht, in dem Betriebs-»Führer« durch »Vertrauensräte«, die an die Stelle des früheren Betriebsrats treten, bloß noch beraten werden können; der Betriebsrat aber sei »trotz aller Schwächen, die er als kümmerliches Überbleibsel einer nicht zustande gekommenen sozialen Gesetzgebung aufwies, ein Kampfinstrument der Gewerkschaften« gewesen, sein Wegfall ist also ein Verlust. SK: »[Das neue ›Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit‹]« [in frz. Übers. in L’Europe Nouvelle 21.4.1934] 5.4, S. 505.
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um das politische und wirtschaftliche System und die gesellschaftlichen Hierarchiegefüge tiefgreifend umzubauen, sondern stattdessen kommunistische Aufstände niederschlug und sich dabei teils mit rechtsextremen Freikorps zusammentat (CH, S. 43; ähnlich TP, S. 113). Kracauer ist, wie gesagt, kein Autor, dem in Sachen Revolution an deren Genuinität als einem Wert an sich viel liegt; dazu sind ihm sozialstaatliche Einrichtungen und Errungenschaften gewerkschaftlicher Kämpfe, die auch unter Bedingungen bürgerlich-demokratischer Herrschaft wirklich werden, zu wichtig (zu wichtig auch als Positionen, an und in Dialog mit denen die Utopie einer umfassenden Umgestaltung der Gesellschaft – a.k.a. Revolution – aufrechterhalten werden kann). Und doch beharrt er darauf, die Machtübernahme durch die Nazis als eine Fälschung des Sozialismus zu kennzeichnen – und als eine Revolution, die keine ist, aber so tut, als wäre sie eine.29 Im Faschismus tritt eine solche Nicht-Revolution nicht nur an die Stelle der wirklichen Revolution, sondern bekämpft diese (bzw. deren Teil-Errungenschaften) auch; und noch dazu ist sie im Verhältnis zum radikalen revolutionären Umsturz nicht nur dessen Stellvertreterin und Feindin, sondern auch eine Umwandlungsform von dessen Energien. In letzterem Punkt greift Kracauer 1938 Horkheimers freudianischen Gedanken einer »Verinnerlichung« der auf Veränderung drängenden psychisch-politischen Energien auf, durch welche diese in autoritäre Antriebe und Ressentiments umwandelbar werden (TP, S. 12).30 Diese umfassende Wendung nach innen – »that general retreat into a shell« (CH, S. 71) – ist ein Durchgang durch die angsterfüllte kleinbürgerliche Seele: Die Weimardeutsche Gesellschaft der Zwischenkriegszeit, wie sie in Kracauers Analyse anhand der Filmen dieser Jahre – deren Symptomzeichen und Hieroglyphen – lesbar wird, sei eine bürgerliche Gesellschaft, vor der, analog dem »Men at Work«-Warnschild bei Straßenbauarbeiten, das Warnschild »Soul at Work« aufgestellt werden müsse, schreibt er (CH, S. 71); nicht die Leute sind hier tätig, sondern die Seele ist an der Arbeit. Der »Transformationsprozeß der
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In seinen New Yorker Studien schreibt er vom »Nazi sham socialism« und »sham collective« (CH, S. 268; NW 290) und setzt die »Nazi ›Revolution‹« in Anführungszeichen (NW, S. 289), ebenso die »Revolution« von 1918 (CH, S. 10). Horkheimer schreibt von der »Verinnerlichung« und »Spiritualisierung« aufrührerischer politischer Kräfte und einem »Transformationsprozeß der Energien«, der diese auf autoritäre, minderheitenfeindliche Ziele umlenkt. Horkheimer: »Egoismus und Freiheitsbewegung« (online: Teil 1).
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Energien« (Horkheimer), der an solch einem Seelenarbeitsplatz abläuft, hat als eines seiner Resultate (die wir uns im Folgenden ansehen) eine Wendung der ausgeblieben Revolution in ihr Gegenteil; genauer gesagt, wenden sich Teile, zumal Äußerungsfomen, des egalitär orientierten revolutionären Prozesses gegen dessen Gesamtheit, dessen Inhalt und Sinn. Für solche Wendung und Entwendung durch den Faschismus gibt es in der Geschichte linken Denkens griffige Formeln: etwa »schlechter Abklatsch« und »Pseudorevolution« bei Horkheimer; Diebstahl und Pervertierung revolutionärer Symbole bei Ernst Bloch; »a revolution against the revolution« bei Enzo Traverso; Bekämpfung der »Revolution mit ihren eigenen Mitteln« und – in Übereinstimmung mit Kracauer – »Gegenrevolution gegen eine Revolution […], die niemals stattgefunden hat« bei Silone.31 Kracauer sagt es nüchterner: »Das Ausbleiben der realen Revolution macht die proletarisierten Mittelschichten für eine fiktive Lösung empfänglich.« (TP, S. 115) Mit den Mittelschichten sind wir nun bei seinem Keyword und seinem Fokus in Hinblick darauf, wie auf emanzipatorische Bewegungen der Furor des (deutschen, nationalsozialistischen) Faschismus folgt. In der Auseinandersetzung mit der Rolle der Mittelschichten im Faschisierungsprozess stellt Kracauer soziologische (Klassen-)Fragen in eine Spannungsbeziehung zu seiner psychoanalytisch angehauchten Kritik spezifisch deutscher Verhältnisse. Wie viele andere Kommentator*innen sieht Kracauer in der Mittelschicht (synonym auch »Mittelstand«, »middle class«) »die Kerntruppe der nationalsozialistischen Bewegung«.32 In mehreren Texten nennt er die Mittelschicht »geistig obdachlos« (A, S. 91; analog »Exposé« Dez. 1936, TP, S. 232).33 In die31
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Horkheimer (»Egoismus und Freiheitsbewegung«, online: Teil 2) schreibt von der »Inszenierung einer bürgerlichen Pseudorevolution mit radikalen völkischen Allüren, entgegen einer möglichen Neuordnung der Gesellschaft überhaupt«; diese sei »ein schlechter Abklatsch der Bewegungen« revolutionärer Massenbefreiung. – Ernst Bloch (Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a.M. 1985, S. 156f) schreibt: »die Nazis [haben] die rote Fahne [und] ersten Mai […] zum Zweck der Fälschung gestohlen und pervertiert«, sowie »auch die weniger manifesten Symbole der Revolution sich tauglich zu machen gewußt.« – Enzo Traverso zit.n. Paul Mason: How to Stop Fascism: History, Ideology, Resistance. London 2021, S. xxi. – Ignazio Silone: Die Kunst der Diktatur [1939] Köln, Berlin 1965, S. 50, sowie S. 237: »Das Besondere des Faschismus im Vergleich zu den früheren revolutionären Bewegungen besteht darin, daß er die Revolution mit ihren eigenen Mitteln bekämpft, indem er sich ihre Symbole, ihre Technik, ihre Taktik […] aneignet.« SK: »[Das neue ›Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit‹]«, S. 507. Synonym gebraucht er die Formulierung »in ideeller Hinsicht obdachlos« (SK: »Aufruhr der Mittelschichten. Eine Auseinandersetzung mit dem ›Tat‹-Kreis« [FZ 10./11.12.1931]
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sem Sinn sind Angehörige der Mittelschichten – neben kleinen Selbständigen insbesondere die damals relativ neue soziale Gruppe der Angestellten – exemplarische Massen-Menschen: habituell gesehen bürgerlich, im ökonomischen Sinn aber besitzlos – »depossediert«, »proletarisiert«, insofern geistig/ideologisch in keiner dieser Seinsweisen ›zu Hause‹.34 Auf den Spuren von Marx’ Brumaire-Text versteht Kracauer die Mittelschicht, die zwischen den etablierten Klassen zerrissene Nicht-Klasse, und ihre Rolle im Faschisierungsprozess zunächst ein Stück weit im Sinn der Bonapartismus-Theorie. Diese Theorie diente in den 1920er und 1930er Jahren zu marxistischen Analysen faschistischer Machtdurchsetzung. Bei Kracauer sieht das Bonapartismus-Szenario so aus: »Kleinbürger«, die »ideologisch in einem Vakuum« leben, hegen die »Illusion, daß sie klassenmäßig exterritorial seien.« (»Exposé« Dez. 1936, TP, S. 232; TP, S. 119) Wenn die Mittelschicht eine Klasse ist, dann eine, deren klassenspezifische Ideologie ganz zentral darin besteht, den eigenen Klassenstatus zu leugnen. Mehr noch, sie tendiert dazu, generell die Aspekte von Macht und Interessen an der Politik zu verachten und das gesellschaftliche Zusammenleben im Licht einer Moral zu sehen, die idyllisiert bzw. um illusorische Idyllzustände trauert (im Sinn von: ›Ach, wären doch alle viel anständiger!‹); das allerdings ist eine Moral, die ständig ins Ressentiment kippt (im Sinn von: ›Wer ist schuld daran, dass es heute so wenig Anstand gibt?‹). Mittelschichts-Angehörige träumen vom gütigen Herrscher, der alles ins Lot bringt, die Schuldigen bestraft und die Fleißigen, Braven, tätschelt; mit Kracauers Worten gesagt: Sie »träumen von einer Versöhnung der Klassen durch eine schiedsrichterlich über der Nation waltende Macht.« (TP, S. 119f) In der Bonapartismus-Optik, also im Zeichen der Frage nach dem, was scheinbar über den schnöden Wirrungen der
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OdM, S. 99), bzw. in New Yorker Schriften »mental forlornness«, »mentally shelterless« und »ideologically shelterless« (CH, S. 11, 132; ToF, S. 288). Diese Ausdrücke gehen auf die Denkfigur der transzendentalen Obdachlosigkeit zurück, die Kracauer ab 1921 aus der Literaturtheorie von Georg Lukács übernimmt. SK: »Aufruhr der Mittelschichten«, S. 98f. – In seiner letzten in Deutschland verfassten Bermerkung zu den Mittelschichen (in der FZ, bereits unter der Koalitionsregierung Hitler/Von Papen) sieht er das »mittelständische Bewusstsein« als zerrissen zwischen »einer nahezu proletarisierten Existenz« und »bürgerlichen Traditionen«; seine Kultur zeige sich (im Variété) als »provisorisches Gemenge«, passend zum »Übergangscharakter der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse«. Ob damit mehr das umfassend Passagenhafte der bürgerlichen Welt gemeint ist (»des sozialen Mischprozesses […der] noch des Abschlusses harrt«) oder bereits der kürzere Weg in die Nazi-Herrschaft, bleibt offen. SK: »Berliner Nebeneinander [Teil I-III] » [FZ 17.2.1933] 5.4, S. 378f.
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Politik steht, ist der Nationalsozialismus – der »Sozialismus des verelendeten Mittelstandes« – eine Herrschaftsform, die sich »als souveräner Outsider über die Klassen zu erheben behauptet«.35 Bei dieser ideologiekritischen Reduktion, dieser Rückführung, auf Klassenstandpunkte bleibt Kracauer aber nicht stehen. Er geht darüber hinaus – nicht in wissender Distanz zum Klassen-Objekt, sondern, einmal mehr, im Zeichen von Kontingenz als Bezogenheit. Als FZ-Angestellter ist er selbst Teil einer Mittelschicht, und in dieser Eigenschaft, zumal als durchaus angesehener Feuilletonist, versucht er um 1930 in einer Reihe von Artikeln in der Frankfurter Zeitung mit nach rechts tendierenden Intellektuellen der Mittelschichten sozusagen im kritischen Gespräch zu bleiben. Er schreibt nicht nur über, sondern quasi auch an sie. Er anerkennt etwa, dass diese Intellektuellen der fordistischen Rationalisierung und dem Liberalismus mit Skepsis gegenüberstehen, und er nennt diese Skepsis einen »legitimen Aufruhr gegen die entfesselte Ratio«. Er kritisiert jedoch scharf die Hinwendung dieser Mittelschichts-Publizistik zu Mythen vom Volk und vom durchgreifenden Staat, die auf der politischen Rechten kursieren. Und weiter: Die auf diese Mythen verwendeten geistigen »Energien [ließen] sich ungleich produktiver anlegen«, wenn die Mittelschichts-Intellektuellen bereit wären, in ihrer Gesellschafts- und Rationalitätskritik die Existenz von Klassen und von wirtschaftlichen Faktoren der Rationalisierung zu berücksichtigen.36 Kracauers kritische Kontaktaufnahmen – mit einem Touch eines Versuchs, Leute ›abzuholen‹ – sind publizistisch praktizierter Antifaschismus (wenn auch ohne durchschlagenden Erfolg). Da ist noch ein dritter Zugang Kracauers zu den Mittelschichten. In manchen plastischen Beschreibungen der »Zwischenposition« der geistig obdachlosen Mittelschichten37 weist er diesem Massentypus ein Leben im Dazwischen zu. Das ist strukturell analog zu einer Existenzweise, die er in manchen Frühschriften als die menschliche Doppelexistenz anspricht;38 und zu einer, 35
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SK: »[Das neue ›Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit‹]«, S. 506, 510. – Ulf Kadritzke knüpft heute an Klassenverhältnis-sensitive Mittelschichtsanalysen in der deutschen Soziologie der 1920er und 1930er Jahre, insbesondere an Kracauer, an; der Titel seiner Studie, Mythos »Mitte«. Oder: Die Entsorgung der Klassenfrage (Berlin 2017), trifft auch Kracauers sozialkritische Agenda gut. SK: »Aufruhr der Mittelschichten«, S. 86f, 95, 102f. Ebd., S. 102. Kulminierend in seinem theologisch getönten sozialphilosophischen »Traktat« zum Detektivroman: Das »Doppelleben« des gesellschaftlichen Menschen verläuft demnach zwischen dem materiell Bedingten einerseits und dem Geistigen, Unbedingten
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die in seinen späten Arbeiten mit »Exil« benannt ist – Exil verstanden als ein Erfahrungsmodus von »homelessness« und Nicht-Dazugehören im Verhältnis zur Geschichte.39 Zerrissenheit und vor allem Exil sind zwar Erfahrungen, die den assimilierten Juden Kracauer, von den Nazis 1933 aus Deutschland und 1940/41 aus Frankreich vertrieben, biografisch massiv prägen. Nichtsdestotrotz verwendet er – gerade in Schriften aus seiner unsicheren Pariser ExilZeit – das Bild des Exils und noch düsterere Bilder einer Nicht-Zugehörigkeit zur Kennzeichnung der obdachlosen (deutschen) Mittelschichten. Er nennt sie die »exilierten Massen« der Mitte, »aus der Bourgeoisie [stammend]«, aber von dieser »über Bord geworfen«, zum »erzwungene[n] Outsidertum« und »zum Pariadasein verurteilt« (TP, S. 116f, 122f): Diese klassenkulturell und -habituell ungebundenen Mittelschichts-Massen verkörpern als gesellschaftliche Outsider die paradigmatische Bevölkerung einer Gesellschaft im Übergang. »Wo sollen diese Massen hin?« (TP, S. 116) Der Nationalsozialismus gibt ihnen eine um den Preis des Massenmords vergegenständlichte Heimstatt. Es gibt einige bemerkenswerte Parallelen zwischen Kracauers Mittelschicht-Massen-Auffassung im Faschismus-Kontext und Hannah Arendts Origins of Totalitarianism von 1951: Arendts politische Theorie des Nationalsozialismus als Form totalitärer Mobilisierung ist mit aufgebaut auf einer Konzeption von Massen, die nicht mehr klassenmäßig gebunden sind. Der kleinbürgerliche philistine, Spießer, als der seiner eigenen Klasse entfremdete Bourgeois, ist für Arendt das exemplarische Partikel einer Masse, die außerhalb aller »social ramifications and political representation« steht und als solche organisiert wird: »Totalitarian movements are mass organizations of atomized, isolated individuals.«40 Arendts Ansatz greift heute etwa Paul Mason in How to Stop Fascism auf: Wie die Philosophin sieht auch Mason den Faschismus als einen politischen
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anderseits. SK: Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat. [unpubl. 1925] Frankfurt a.M. 1979, z.B. S. 84. In seinem posthumen Buch History spricht Kracauer das Subjekt von Geschichtserfahrung als »the historian« an (womit er definitiv nicht bloß Angehörige des Geschichtswissenschaftsbetriebs meint) und sieht es in Entsprechung zu einer Person im Exil: »[T]he exile who as an adult person has been forced to leave his country or has left it of his own free will […] has ceased to ›belong‹. […] It is only in this state of self-effacement, or homelessness, that the historian can commune with the material of his concern.« (H, S. 83f) Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism. [1951/1967] London 2017, S. 411, 423, 444.
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Prozess, der sich mit einem Zusammenbruch gesellschaftlicher Zugehörigkeiten vollzieht (»a process of social breakdown«). Er widerspricht Arendt allerdings in ihrer Darstellung, wonach die exemplarischen Subjekte des Nationalsozialismus sozial ungebundene Massen-Menschen seien. Laut Mason bestand die Gefolgschaft der Nazi-Bewegung aus joiners, nicht aus loners bzw. non-joiners, was Mitgliedschaft in zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Veteranenund Sportvereinen betrifft.41 Das einzuschätzen, ist wohl eine Frage von Nuancen: Sollen wir das Sich-Versammeln in Weltkriegsveteranen-Vereinen oder Bierkellerrunden, in denen Hitlers Bewegung ihren Aufstieg beginnt, so hoch veranschlagen wie Mitgliedschaften in proletarischen Gewerkschaften oder bürgerlichen Kulturclubs? Schwer zu sagen ist denn auch, ob wir heutige Vernetzungen rechtsextremer Milieus in Bubble-artigen Online-Foren, Milizen oder Demo-Reisegruppen eher als symptomatisch für non-joining oder als Formen einer Kultur des joining verbuchen sollen.42 Kracauer hingegen beobachtet in den Jahren des Aufstiegs der Nazis, wie die »ideologisch Obdachlosen« sich außerhalb etablierter Klassen(-Kultur)verbände neu einhausen: in neoromantisch-vitalistischen Jugend- und Wandervogel-Bewegungen, in irrationalistischen Strömungen – heutiger gesagt: New Age-Trends –, die er etwa schon 1922 in »Die Wartenden« thematisiert;43 in zunehmend heimeligen Themen-Environments von Freizeiteinrichtungen der Mittelschicht wie dem Berliner Haus Vaterland, das Kracauer 1929 in seiner Angestellten-Studie unter dem Titel »Asyl für Obdachlose« erörtert (A, S. 95ff).44 Die Metapher der Einhausung von Obdachlosen, konkret: 41 42
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Mason: How to Stop Fascism, S. 40ff, 153f, 167. Solche Fragen bzw. Themen sind in Arendts Theorie des stalinistischen und des nazistischen Totalitarismus unterbelichtet. Vielmehr stellt Arendt darin die Anthropologie – also das vielheitliche oder aber isolierte Mensch(en)sein – direkt der Politik gegenüber und überspringt dabei das Gesellschaftliche, die Texturen der Alltagsformen von Sozietät. Respektive nimmt bei Arendt zum Teil das Recht, von ethischem Rechts- und Unrechtsempfinden bis zu positive laws, eine Vermittlungsrolle zwischen MenschenExistenz und politischen Institutionen ein. SK: »Die Wartenden« [FZ 12.3.1922] OdM, dort u.a. anhand von Lebensphilosophie, Anthroposophie »Mystik«, »Sektenbildung«, »Eingliederung in esoterische Zirkel« (S. 109–112, 117). Auch Mason (How to Stop Fascism, S. 88f, 98) sieht in der Normalisierung von Irrationalismus im bürgerlichen Kulturleben der deutschen Zwischenkriegszeit einen Faktor für den Aufstieg der faschistischen Rechten. Kracauer deutet da einen Kontrast an: zwischen der neusachlichen Hallenarchitektur des Hauses Vaterland und den vorwiegend antiurbanen, anheimelnden geografischen Themen der Gastsäle (neben Spanien, Goldenem Horn und Wildwest-Sujets sind dies
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eines »Ortsangebots« für »Vagabundierende«, wurde jüngst in der politischen Soziologie des heutigen Nationalautoritarismus herangezogen: Laut Wilhelm Heitmeyer macht gegenwärtig die AfD einem »vagabundierenden« Autoritarismus in der deutschen Gesellschaft, der zuvor von Kleinpartei zu Kleinpartei weiterzog oder bei Wahlen abstinent blieb, ein Angebot zur parteipolitischen Fest-Verortung.45 Ähnlich verstehen lässt sich, was der Freiheitliche Partei in Österreich während der Corona-Pandemie gelang, nämlich gegenüber Maßnahmen-Verweigerungs-Milieus mit diversen politischen Vorprägungen (rechts, grün, esoterisch, libertär, antiimperialistisch…) als Agentur der Bündelung und politisch-institutionellen Verankerung aufzutreten: von der Großdemo-Organisation bis zur parlamentarischen Vertretung. Nun ist ja das soziokulturelle »Asyl« der Mittelschichten, das Kracauer in den 1920ern beschreibt, nicht dasselbe wie deren Artikulation und Mobilisierung durch eine Partei; aber die betreffenden Untersuchungen Kracauers werfen doch Licht auf Facetten der Rechtsorientierung von Angestellten, Beamten und Kleingewerbetreibenden. Heim(at)seliger Rückzug in die ›gute Stube‹ ist eine dieser Facetten. Mit Blick auf sie, fokussiert auf die Psychosymptomatik des stilbildenden Großstadt-Filmdramas Die Straße von 1923, zieht
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Rhein, Niederbayern-Klischees und Wiener Heuriger: »Hinter der Pseudostrenge der Hallenarchitektur nämlich grinst Grinzing hervor«: A, S. 96). Ebenso vermerkt er den fürs soziopolitische Klima signifikanten Wechsel im Dekor-Thema einer Achterbahn in einem Berliner Lunapark: vom New Yorker Wolkenkratzer 1929 zur »Alpenlandschaft« 1930 (SK: »Organisiertes Glück. Zur Wiedereröffnung des Lunaparks« [FZ 8.5.1930] 5.3, S. 230). – Kracauers Wort vom Asyl für Obdachlose hat Echos im Faschismus-Kontext, etwa in Löwenthals und Gutermans Propaganda-Studie Prophets of Deceit von 1949. An dieser war Kracauer als Berater beteiligt (siehe Löwenthal an SK 12.8.1947 in: Leo Löwenthal, Siegfried Kracauer: In steter Freundschaft. Briefwechsel 1921–1966. Springe 2003, S. 135). Das ist wohl mit ein Grund dafür, dass diese Studie die soziale Situation in den USA, in der rechtsextremer Pseudo-Protest und dessen Feindbild-Propaganda gedeihen, als eine Situation allgemeiner »spiritual homelessness« anspricht (Löwenthal, Guterman: Prophets of Deceit, S. 15). In diesem Zusammenhang fällt auf, dass ein Kapitel der Studie »A Home for the Homeless« heißt – vielleicht ein Nachhall von Kracauers Kapiteltitel »Asyl für Obdachlose« in seiner Angestellten-Studie von 1929/30. Prophets of Deceit endet mit einer Dechiffrierung der wahren Bedeutungen der Versprechungen, die the agitator den Massen macht; darunter ein Versprechen auf Beheimatung, das richtig gelesen so lauten müsse: »In the shadow of my venom you will find a home.« (Ebd., S. 142) Wilhelm Heitmeyer: Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung 1. Berlin 2018, S. 237.
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Kracauer in seinem Caligari-Buch eine Summe seiner Studien zur Regression des deutschen Kleinbürgertums: Den Spießer-Protagonisten dieses Films locken die ungeahnten Sensationen und Freiheiten urbanen Nachtlebens; als er sich in die heterogene Zufallswelt des Urbanen stürzt, erfährt er die Stadt eine Nacht lang als alptraumhaftes Chaos bis hin zur Lebensbedrohung; daraufhin zieht er sich verschreckt und zerknirscht ins Heim zurück, und am Ende bettet er sein müdes Haupt an der Brust seiner mütterlichen Ehefrau. Abwendung von der äußeren Wirklichkeit zugunsten seelenschwellender Verinnerlichung: Der Rückzug vor der Kontingenz der modernen Welt, mithin vor dem republikanisch-demokratischen Shock of Freedom (so heißt ein Kapitel des CaligariBuches), ist das eine. Zeitgleich zu diesem Rückzug geht eine andere Tendenz durchs deutsche Bürgertum, die gegenstrebig anmutet: ein Aufruhr, eben jener »Aufruhr der Mittelschichten«, den Kracauer um 1930 untersucht hat. Wie gehen Spießigkeit und Aufruhr der Mittelschichten zusammen? Mason, der ebenfalls die Eigendynamik der middle class hervorhebt, zumal ihre tragende Rolle bei den Aufstiegen Mussolinis und Hitlers, schlägt dazu eine Schematisierung vor: Es gebe zunächst ein passive belief system der Mittelschicht, das um quasi spießige Werte wie respectability, Fleiß und Patriotismus kreist. Unter dem Druck sozialer und ökonomischer Modernisierung – wenn der Anteil der Mittelschichten am bürgerlichen Reichtum und Status schrumpft – zerfällt dieses System passiver Integration und weicht, so Mason, einem active belief system, das quasi aufrührerisch ist, denn es forciert Irrationalismus, Rassismus und eine Mythologie der Gewalt. Mason überschreibt diese Diagnose mit der Frage, warum Leute, denen üblicher Weise »order and respectability« wichtig waren, zu »fanatical enthusiasts for racist terror« wurden.46 Mit Blick auf heutige Verhältnisse müsste man da wohl noch anmerken, dass einiges vom racist terror doch tatsächlich schon in der respectable order drinnensteckt: in einer Ordnung, wie sie im Europa unserer Tage von respektablen bürgerlichen Rechtsparteien in ihrer Heimat- und Grenzschutz-Politik aufrechterhalten wird. Dass Mason dies, nämlich die Nahebeziehungen von Gewalt und spießigem Habitus bzw. dessen Infrastrukturen, untergewichtet, dient wohl dem strategischen Ziel seines Buches How to Stop Fascism: dem Votum dafür, dass, um den Faschismus zu stoppen, die Linke sich mit bürgerlichen Parteien verbünden können muss; auch mit dem europäischen Rechtsstaat.47 Der ist aber bekanntlich beim Einsatz von Gewalt gegen Migrant*innen oder, punktueller, 46 47
Mason: How to Stop Fascism, S. 153, 156. Ebd., S. xviii.
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gegen aktionistische Klimaprotest-Gruppen nicht zimperlich (wiewohl er Mittel mit bereithält, diese Gewalt zu hinterfragen und zu reduzieren). Eine zweite Anmerkung zum faschistischen Zusammengehen von Spießigkeit und Aufruhr, nun mehr mit den Psychoanalyse-Anklängen bei Horkheimer und beim Caligari-Kracauer gesagt: Auch die zarteste Spießer-Seele ist im Aufruhr, wenn sie empfindet, dass der Fleiß, der Nationalstolz und die respectability derer, die sich als ›Leistungsträger‹ sehen, gekränkt werden – und zwar durch Migrant*innen, ›Sozialschmarotzer‹, LGBTQIA+-Leute und was der kleinbürgerlichen Feindbilder mehr sind. Kracauer spricht vom shock of freedom, den die deutschen Mittelschichten nach 1918 verarbeiten, indem sie sich zunächst abschotten: vor der unübersichtlich gewordenen sozialen Wirklichkeit – vor sichtbar werdenden demokratischen Spielräumen von Nicht-Besitzenden, von Frauen, von anders Genießenden (z.B. nicht heteronormativ Liebenden). Geschockte Mittelschichten ziehen sich zurück ins private wie auch seelische Innenbereiche, wandeln dort ihre unbewussten politischen Energien in Liebe zur Größe der Nation und Hass auf ›Volksfeinde‹ um – und setzen diese Kräfte dann in Form von völkischem Aufruhr frei. Ähnlich fasst Mason heute Faschismus (unter anderem) in der Kurz-›Formel‹: »the fear of freedom, triggered by a glimpse of freedom«, zumal angesichts der Möglichkeit, dass Folgendes geschieht: »people who are not supposed to be free might achieve freedom.«48 Den Schock der Freiheit bewirkt heute die Möglichkeit der Freiheit jener, denen die heteronormative Wohlstands-Herrschaft Freiheit nicht zugesteht – weil sie gefälligst dankbare ›Arbeitnehmer‹ bleiben sollen, unsichtbare ›Flüchtlinge‹, demütige Rollstuhlbenutzer*innen, fügsame Ehefrauen, closeted Queers… Auf solche Schocks reagieren große Teile der Mittelschichten, damals wie heute, einerseits mit Rückzug ins NeoBiedermeier, anderseits aber in jüngerer Zeit häufiger auch mit einer mobilisierenden Wut, in der sie ihre kleinen Reiche verteidigen: ein zerrbildhafter Ersatz für Revolte in Form von Pogromen – oder heute von Fackelmärschen gegen ›Islamisierung‹, impfende Ärzt*innen, Asylwerber*innenquartiere und Abtreibungskliniken. Drittens muss die Mittelschicht selbst (in Masons Vokabular gesagt) ja nur in kleinen Teilen zu »fanatical enthusiasts« werden, wenn es um »racist terror« geht. Denn: Totalitarismus ist in seiner Bewegungsphase nicht nur, einer oft zitierten Beobachtung Arendts zufolge, eine temporäre Allianz zwischen dem »Mob« und der »Elite«, jeweils als nichtnormale Teile der erodierenden 48
Ebd., S. xxi, 8, 17.
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Klassengesellschaft.49 Totalitarismus ist auch, wie Arendt ebenfalls darlegt, eine Bewegung der Massen, denen die Spießer*innen angehören, unter der Führung des »Mobs« bzw. von Personal, das ihm entstammt; beide, »Mob« und Masse, stehen außerhalb des Gesellschaftsgefüges und der politischen Repräsentation.50 Beim Faschismus entspricht die soziale Quasi-Kategorie des »Mob« den Milieus, die diese Bewegung vor allem zu Beginn tragen. In diesem Kontext spricht Arendt en passant von der NSDAP in ihrer Frühphase als »outcasts«, »misfits, failures, adventurers« und »›armed bohemians‹«.51 Kracauer verwendet ebenfalls »Boheme« zur Kennzeichnung der fasci- und SA-Milieus – explizit in Anklang daran, wie Marx diese Bezeichnung sozialkritisch-polemisch für eine ›unbürgerlich‹-dekadent herrschende Bourgeoisie und ihr buntes Regime geprägt hat (TP, S. 17).52 Ebenso Silone: Auch er übernimmt mit Blick auf Mussolinis Kerntruppen die fast poetischen BohemeEtikettierungen aus Marx’ Brumaire-Text: »Lumpen« und »Lazzaroni«.53 Kracauers Kennzeichnungen sind weniger blumig: Seine Soziotopik und Terminologie charakterisiert zwei für faschistische Programme empfängliche ›Outsider-Milieus‹ – zum einen jene Gruppen, die bürgerlich sein wollen, aber als Angestellte oder verarmte Kleingewerbetreibende faktisch proletarisiert und insofern Outsider sind; zum anderen jene Gruppen, die aufgrund eines zum Teil gewollt unbürgerlichen Habitus Outsider sind, als da sind Militärs, die nicht ins Zivilleben finden, »eine auffällig große Zahl von Studenten, Akademikern und Intellektuellen« (TP, S. 121), schließlich Boheme im Sinn von Künstler*innen-›Halbwelt‹.54 Unter diesem Aspekt lassen sich Parallelen 49 50 51 52
53
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Arendt: Origins of Totalitarianism, S. 427. Ebd., S. 411, 415. Ebd., S. 415. Kracauer zitiert Marx’ Tirade aus dem Achtzehnten Brumaire über »eine geräuschvolle, anrüchige, plünderungslustige Boheme« nach demselben Buch, nach dem Arendt »Hitler’s armed bohemians« zitiert: nach der Hitler-Biografie des Sozialdemokraten und ehemaligen FZ-Journalisten Konrad Heide (Kracauer nach der deutschen Ausgabe Adolf Hitler von 1936, Arendt nach der US-Ausgabe Der Fuehrer von 1944). Silone betont, dass nur Teile der italienischen Mittelschichten dem Faschismus Gefolgschaft leisten; das Kernpersonal der fasci umfasse vielmehr »Deklassierte«, das »Produkt einer ungenügenden Absorptionsfähigkeit der Bourgeoisie oder des Proletariats«, sowie »Diebe, Zuhälter, Hehler, Falschmünzer, Betäubungsmittel- und Mädchenhändler usw.« bzw. »Lumpen und Berufsverbrecher« (Silone: Der Fascismus, S. 80ff; Kunst der Diktatur, S. 90). »Insofern das Wort Boheme gesellschaftliches Outsidertum bezeichnet, paßt es auf die Nachkriegs-Cliquen.« (TP, S. 17) 1931 sieht er in der Boheme ein »Outsidertum, das
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ziehen (mit dünnem Stift) zwischen einerseits ›gescheiterten Künstlern‹ wie Hitler und Goebbels und anderseits dem Glücksritter-Personal bzw. dem mit einberechneten »Narrensaum« rund um aufsteigende Rechtsparteien, weiters den abenteuerlich-esoterischen ›Kadern‹ der »Querdenker«-Szenen und den neofaschistischen Hipster*innen von Casa Pound oder den Identitären. Kracauer nennt eine weitere Gruppe, die sich vor der Wirklichkeit ins ›Seelische‹ zurückzieht: die Jugend. Auch deren Rückzug findet in Form eines Aufruhrs gegen ein als ›Establishment‹, das ihr als seelenlos erscheint, statt.55 Die Jugend ist, so sagt er, »klassenmäßig nicht ein[zu]ordnen«, weil sie um 1930 vielfach aufgrund von Arbeitslosigkeit in einer Art von »erzwungene[m] Outsidertum« steckt (TP, S. 123f). Was Statements über »die Jugend« betrifft, sind bei Kracauer wohl auch Projektionen im Spiel, die mensch ageistisch und leistungsideologisch nennen kann (quasi: ›Die sollen mal was arbeiten!‹56 ). Primär aber geht es hier um Jugendlichkeit und wie sie politisch konstruiert und adressiert wird. Da zielt Kracauer einerseits auf den Nationalsozialismus, der Jugendlichen »ihren Drang nach Abenteuern stillt« und unter dessen Führung, ähnlich der Verfestigung des Massenzustands, sich »die jugendliche Mentalität staut und verfestigt«; eine Mentalität, die »Illusionsfähigkeit, romantisches Schwärmen, Abenteuerlust« hochhält.57 Anderseits bezieht er sich auf die kommunistische Linke, die mit dazu beiträgt, dass die Chance eines antifaschistischen Volksfront-Bündnisses verspielt wird. Da geht es mit um Auswirkungen der stalinistischen Losung, wonach die Sozialdemokratie, nicht der Faschismus, Hauptgegnerin der kommunistischen Bewegung sei; einen Aspekt dieser desaströsen Politik führt Kracauer anhand des Films Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt (D 1932) aus. Dieser KP-nahe Film begeht in seinen Augen den Fehler, dass er Unterschiede in der politischen Haltung unpolitisch vermittelt: Differenzen zwischen linksradikalen proletarischen Jugendlichen und ihren spießigen sozialdemokratischen Eltern werden in Kuhle
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seine konventionsfeindliche Haltung mit einer revolutionären verwechselt.« SK: »Verschollene Welt. Zu einem Pariser Künstlerroman« [FZ 20.9.1931] 5.3, S. 647. Siehe dazu auch Kracauers Darlegung 1934, dass bürgerliche deutsche Jugendbewegungen sich deshalb so leicht mit dem Nazi-Regime arrangieren, weil sie in ihrem antirealistischen Idealismus die »von der Realität gesetzten Schranken« ignorieren und der Kontingenz der »konkreten Tatsachen«, die ihnen »echte Entscheidungen« abverlangen, ausweichen. SK: »Europäische Jugend«, S. 523. Mehr dazu in Kap. 4.4. Oder: »Fascism is something you grow out of!« So heißt es sarkastisch im Dialog von Richard Lesters Militarismus- und Patriotismus-Satire How I Won the War (GB 1967). SK: »Die deutschen Bevölkerungsschichten«, S. 442; TP, S. 123.
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Wampe erstens entlang der Differenz ›naturnah und gesund‹ versus ›dekadent‹ dargestellt und zweitens im Zeichen eines Generationenunterschieds, den der Film hypostasiert.58 Gegenüber den kerngesund und paarungsfreudig durch die Natur rund um die Kuhle Wampe schweifenden KP-Kids sind die Sozi stigmatisiert, erscheinen als behäbig, alt und kränklich.59 »Glorifying youth as such« nennt das Kracauer, und: Das Feiern einer rebellischen Jugend-Attitüde als solche gehöre ja ebenso zum Politik-Inventar der Nazis (CH, S. 247). Jugendlichkeit ist also politisch kontingent, trägt nicht aus sich heraus einen politischen Sinn. In diesem Licht zeigt sich auch ein Aspekt von Masons heutigem Votum für ein antifaschistisches Bündnis der Linken mit liberalen ›Establishments‹ als sinnträchtig; nämlich insofern, als darin eine Forderung in folgende Richtung impliziert ist: Antifaschismus muss ›generalisiert‹ anstatt ›generationalisiert‹ sein. Das heißt, Antifa-Engagement darf nicht zu etwas stilisiert werden, das eigentlich oder primär eine Sache ›wilder‹, rebellischer Milieus ist, sondern es muss Andockpunkte zu gesettelten, gesetzten Habitus mit eröffnen. (Und, wohlgemerkt: Das zu fordern, ist dezidiert kein Votum für eine antiqueere, antimigrantische Linke, die sich an den ›Normalen‹ orientieren solle.)60
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»Unterschiede der Haltung durch Generationsunterschiede versinnlichen zu wollen, heißt jene entkräften.« SK: »›Kuhle Wampe‹ verboten!« [FZ 5.4.1932] 6.3, S. 53. Dieser Film – um einen zu seinem Titel oft gehörten Kalauer zu belehnen – schreibt den Eltern der hippen KP-Kids eine uncoole Wampe zu. 1933 merkt Kracauer an (»Die deutschen Bevölkerungsschichten«, S. 441f), dass Arbeitslose eher »auf apokalyptische Verheißungen« als auf Klasseninteressenspolitik anspringen, weshalb ein Teil dieser Outsider-Kategorie »zwischen dem Kommunismus und dem Nationalsozialismus hin und her [fluktuiert]«. Damit bedient er allerdings nicht den bis heute wirksamen liberalen ›Extremismus‹-Diskurs, der Kommunist*innen und andere Linksradikale mit Nazis gleichsetzt. Vielmehr steht Kracauers Hinweis erstens im Kontext seiner Wahrnehmungen zu Erfahrungen von Arbeitslosen und zu Einrichtungen des (wenig entwickelten) Sozialstaats; zweitens im Kontext seiner Kritik an der Unfähigkeit der proletarischen Parteien in Deutschland, ein Bündnis gegen Hitler zu schließen – insbesondere seiner Kritik an der von Moskau ausgegebenen ›Sozialfaschismus‹-Parole, in deren Befolgung die KPD sich als »gleichsam hypnotisiert durch den sozialdemokratischen Gegner« zeigte, unfähig, die »deutsche Gesamtlage« und die Notwendigkeit von Allianzen zu erfassen. SK: »Über die deutsche Jugend« [in frz. Übersetzung in L’Europe Nouvelle 16.8.1933] 5.4, S. 460.
3. Soziologie: Masse, Mittelschicht, Kapital brutal
3.3 Bürgerlich bestialisch: das Ornament der Maske Zum Abschluss von Kracauers Sicht auf Klassenfragen in Sachen Faschismus – nun ein Blick auf die Beziehung von Faschismus zum Kapitalismus und zum Bürgertum als besitzender Klasse, Klasse der Kapitalist*innen, eben nicht Kleinbürgertum. »Zweideutigkeit« prägt auch diese »komplexe Beziehung«.61 Kracauer spricht vom »Machtimpuls, der die totalitären Bewegungen erzeugt und zum Monopolkapitalismus hintreibt« (TP, S. 152);62 das aber bedeutet, dass Faschismus und Nationalsozialismus »von der Interessensphäre abstrahieren«, nämlich von den Interessen der Mittelschichten als ihrer Basis bzw. von »der Bourgeoisie im allgemeinen«, »und mit dem ideologisch stummen Großkapital zusammengehen« (TP, S. 48, 136). Ideologisch stumm – fast so »neutral« wie die modernisierte Lindenpassagen-Architektur63 – ist also das Großkapital (deutsche Schwerindustrie), dem der Faschismus zur Vorherrschaft verhilft; dies aber, ohne dass der Faschismus ein Ausdruck dieses Großkapitals wäre. Ebenso wenig kann Faschismus ein Ausdruck des Großbürgertums als Klasse sein, denn dieser Klasse attestiert Kracauer 1933 nachgerade, dass es sie in einem strengen Sinn gar nicht gibt: Das deutsche Großbürgertum hat keine Identität – so weit reicht sein »Charaktermangel«, sein Fehlen an »Zivilcourage«, Fehlen an »echte[m] Liberalismus«, an »Traditionen und Selbstbewußtsein«. All diese Mängel wirken letztlich als Faktoren daran mit, dass das Großbürgertum in der Nazi-Herrschaft Vorteile sieht und sie mitträgt.64 61
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Diese Zweideutigkeit verbiete es, den Faschismus »von vornherein mit der Gegenrevolution« gleichzusetzen; letzteres aber versuche, so Kracauer, sein Freund Adorno in seiner eigenmächtigen, verstümmelnden Neu-Kurzfassung von Kracauers Totalitäre Propaganda (SK an Adorno 20.8.1938, Ado, S. 397). Relativ orthodox marxistisch ortet er 1934 in Deutschland eine »Konzentrierung des Kapitals« unter »Schwerindustrie«-Führung: »der Kapitalismus wird durch das Gesetz« – das nationalsozialistische Wirtschaftsgesetz – »nicht beschränkt, sondern erhält die Chance, sich zu vollenden.« SK: »Das neue deutsche Wirtschaftsgesetz« [in frz. Übers. in L’Europe Nouvelle 11.8.1934] 5.4, S. 516. Über diese Passage und die Verkaufsgegenstände in ihr heißt es, unmittelbar vor dem Satz mit dem Faschismus-Ausbrüten: »Alle Gegenstände sind mit Stummheit geschlagen.« Und weiter, dass die Passage »sich einstweilen völlig neutral verhält und später einmal wer weiß was ausbrüten wird […].« SK: »Abschied von der Lindenpassage«, S. 332. SK: »Die Deutschen Bevölkerungsschichten«, S. 440. – Zu Kracauers Versuchen, mit dem »stummen«, wesenlosen Bürgertum, hier: Unternehmertum, gerade angesichts
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Was sich im Faschismus Ausdruck verschafft, ist laut Kracauer selbst stumm oder inexistent; oder es ist eigentümlich deutsch. Im Verhältnis zu diesem spezifisch Deutschen ist der Nazi-Faschismus eben nicht ein Tarnanstrich oder ein Instrument, sondern er ist, in seiner schrägen Ausdrucksförmigkeit, eine Maske. Und zwar in der vollen Eigendynamik, die Kracauer dem Wort Maske in seiner Faschismustheorie gibt (wodurch er es zum Begriff macht). Ehe wir uns seine diesbezüglichen Sätze aus Totalitäre Propaganda ansehen, sollten wir gleich mit bedenken, dass Kracauer Maske gerade nicht in dem gängigen Sinn einer Verkleidung, die gelüftet werden muss, damit sich die Wahrheit dahinter zeigt, verwendet; eher schwingt bei ihm eine Bedeutung von Maske mit, die im Zusammenhang mit Bild- und Textgestaltungen gängig ist – Maske als Rahmung bzw. Abdeckung, die hervorhebt, wo etwas Neues sichtbar oder lesbar werden soll. Wenn es nun also, wie Kracauer 1938 in Totalitäre Propaganda sagt, so ist, wie reduktionistische Deutungen des Faschismus behaupten, dass nämlich der Faschismus »weiter nichts« als eine »maskierte Form der bürgerlich-kapitalistischen Gegenrevolution« ist, dann fragt sich doch: »Aber warum maskiert sich [die Gegenrevolution] gerade so und nicht anders […]?« Und: Es sei wichtig, gerade nicht ins Pathos der wissend auftrumpfenden Demaskierung zu verfallen; »man muß vielmehr aufmerksam die Maske selber betrachten: den Menschenschlag, der die faschistische Bewegung hervorruft, und die Gedanken, die er sich macht.« Und dann kommt einer dieser Kracauer-Sätze, die sich lapidar lesen, aber wie ein Sickerwitz wirken, weil sie ein Paradoxon skizzieren: »Erst aus der Natur der Maske mag von dessen Tendenz zu den rechtsextremen Parteien, im Gespräch zu bleiben, dessen Situation zu bedenken, verständnisvoll und nichtsdestotrotz kritisch nach dessen geistigen Grundlagen zu fragen – dazu zählen auch Teile seiner Angestellten-Studie von 1929/30: In deren Kapitel »Von oben gesehen« heißt es, den »Unternehmern« sei 1918 die »Aufgabe, zu führen statt allein zu wirtschaften, […] über Nacht zugewachsen.« Infolge dessen »[befindet] sich eine Schicht in Macht, die ihre Position nicht weltanschaulich fundieren kann« und »die Konfrontation mit dem Grund ihres Daseins scheut«. Dass die deutsche Kapital-Klasse versuche, ihre soziopolitische Macht als eine »aufgeklärte Despotie« zu definieren bzw. eine »Führerfrage«, basierend auf »dem selber fragwürdigen Begriff der organischen Volksgemeinschaft«, zu stellen, das beurteilt Kracauer hier, in mehr kantianischer denn ideologiekritischer Terminologie, als unzureichende Rechtfertigungsansätze in Macht-Fragen. Weiters attestiert er dem unternehmerischen Bürgertum »Mangel an Selbstbewußtsein« und »Mangel an weltanschaulicher Fundierung« (A, S. 107ff) und kennzeichnet diesen Gesamtzustand als »Stummheit oben« (A, S. 102), also mit derselben Metapher, die er 1938 auf das durch die Nazis in seinen Interessen vertretene Großkapital anwenden wird.
3. Soziologie: Masse, Mittelschicht, Kapital brutal
sich allenfalls ergeben, wie das Ungeheuer geartet ist, das sie sich aufsetzt – vorausgesetzt, daß man ihm die Maske überhaupt absetzen kann.« (TP, S. 13f) Eine regelrechte Umkehrung: Erst die Maske erlaubt mir, das Maskierte zu verstehen. Entgegen der Common Sense-Auffassung, derzufolge ich etwas erkenne, wenn es nicht maskiert ist, hält Kracauer fest, dass hier etwas zu vermuten ist, das ich erst dann (hoffentlich) adäquat erkenne, wenn es maskiert ist, und zwar anhand der Maskierung. Das ist vergleichbar dem Platztausch, der Umkehrung der Beziehung, zwischen Ursachen und Wirkungen, von dem im Caligari-Buch zu lesen ist: »Effects may at any time turn into spontaneous causes.« (CH, S. 9; siehe auch Kap. 2.2) Vergleichbar ist das auch einer Beziehung, in der vom ›Überbau‹ auf die ›Basis‹ rückgeschlossen wird (entgegen einer marxistisch-orthodoxen Reduktion).65 In ebendiesem Sinn gibt Kracauer hier zu verstehen: An der faschistischen, genauer: an der nationalsozialistischen Maske lassen sich der Kapitalismus und das Bürgertum in Deutschland in ihrer spezifischen Ungeheuerlichkeit erkennen, in ihrer Skrupellosigkeit und Brutalität. Kracauer spricht um 1930 von bestialischen Erscheinungen, von »Erfolgsanbeterei« in unmenschlichem Ausmaß, von zerstörtem Anstand, auf die er in bürgerlichen Kreisen stößt (in denen er als Feuilleton-›Edelfeder‹ verkehrt).66 Vom Faschismus-empfänglichen deutschen Bürgertum der 1930er Jahre aus zeichnen sich zwei historische Vergleichsrichtungen ab. Die eine weist in
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Es ist fraglich, ob die längst kanonische Rede von Kracauer als einem Denker von ›Oberflächenerscheinungen‹ dieses politische Investment mittransportiert (oder nicht vielmehr in einer Vorliebe für das Studium alltäglicher Ephemera aufgeht). »Es waltet ein Verhängnis über diesem Land und ich weiß genau, daß es nicht nur der Kapitalismus ist. Daß dieser so bestialisch werden kann, hat keineswegs ökonomische Gründe allein,« schreibt Kracauer (an Adorno 24.8.1930, Ado, S. 246f); und weiter: Angesichts dessen, »was alles bei uns zerstört ist: der primitive Anstand« etwa, glaube er »auch nicht an die Heilkräfte des Umsturzes.« Hegemonietheoretisch-postmarxistisch verstanden, verweist diese Rede von einem Kapitalismus, der aus nicht nur ökonomischen Gründen bestialisch ist, mit auf einen Kapitalismus, der politisiert ist (z.B. ist Kapitalismus ja auch eine koloniale, rassifizierende Formation); und diese Politisiertheit betrifft auch die Alltagsmoral bzw. das Fehlen moralischer Halt(er)ungen, wie dies Kracauer immer wieder moniert: So attackiert er etwa 1932 eine »bestimmt[e] Haltung«, die »zum Karrieristentum [führt], zur Absage an zwischenmenschliche Verständigung, zur Erfolgsanbeterei und zu Betäubungsorgien; sie ist unmenschlich, mit einem Wort.« (SK: »›Er ist ein guter Junge‹. Berliner Betrachtung« [FZ 1.1.1932] 5.4, S. 12; siehe auch Kap. 2.3) Was sich hier wie eine Moralpredigt liest, ist Teil von Kracauers Diagnostik, die moralisches Verhalten als einen Faktor innerhalb von politischen Machtverhältnissen lesbar macht.
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der Zeit zurück – von den Nazis zur Französischen Revolution von 1789 und ihrem Staatsterror: Diesen Terror sieht Horkheimer in seiner »Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters« als Teil eines Kontinuums von sich verschärfender bürgerlicher Herrschaft, und angesichts der 1936 aktuellen deutschen Brutalisierung sieht er, was davon in der Französischen Revolution – im »Führer«Kult, im Terror einer asketischen Moral – bereits angelegt ist.67 Fast gegenteilig ist es bei Kracauer, denn er sieht zeitgleich im Licht derselben brutalisierten deutschen Situation, was in der Französischen Revolution anders ist (bzw. war):68 »Die Freiheit führte dieses Volk; darum waren noch seine dunkelsten Ausbrüche von menschlicher Art,« schreibt er über die revolutionäre Gewalt von 1789.69 Das Verhängnis durchzieht eben nicht universell die Geschichte; Paris wird nicht im Rückblick zur Antizipation von Berlin; und Geschichte bleibt, mit Kracauer gedacht, das Reich (vielmehr: Nicht-Reich) der Diskontinuität und des Neubeginns – und insofern von Hoffnung. Die andere historische Vergleichsrichtung weist in unsere Gegenwart. Eine Facette des nationalautoritären Rechtsrucks stellt die von Heitmeyer konstatierte »rohe Bürgerlichkeit« dar: »Verachtung schwacher Gruppen« und »Einforderung von Etabliertenvorrechten« als eine Gewalt-Werdung von Macht im soignierten Tonfall.70 Wir könnten da an die Aufkündigung von Steuerverpflichtungen seitens ›Besserverdienender‹ denken; an die eilfertig zur Schau gestellte Bereitschaft, bei der Abschottung gegen Kriegs-, Klimaund Armuts-Flüchtende die notorischen ›unschönen Bilder‹ in Kauf zu nehmen bzw. solche ›Bilder‹ – vielmehr: Gewaltakte – zu allererst zu produzieren; oder an die neuen Höhen- und ›Sicherheits‹-Zonierungen von urbanem Raum, die jene Sphäre relativen ›Zusammenlebens‹, die Stadt heißt, in neofeudaler Anmaßung aufkündigen. Rohe Bürgerlichkeit tut, was ein treffender Witz so formuliert: Sie sagt es denen da unten mal so richtig rein… Haben schon ›normale‹ Bürger*innen ›keinen Genierer‹ bei ihrer Brutalisierung, so sind engagierte Rechtsextreme erst recht nicht dadurch zu beschämen, dass mensch sie als solche ›überführt‹: Das gibt Simon Strick zu verstehen. Seine Darlegung erinnert an Kracauers Skepsis bezüglich des Ansinnens,
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Horkheimer: »Egoismus und Freiheitsbewegung«, online Teil 2. Er sieht um 1930 auch, was anders ist in der gegenwärtigen französischen Gesellschaft, die eben im emphatischen Sinn Gesellschaft ist, während es eine solche in Deutschland nicht gibt, wie Kracauer oft festhält. (Siehe dazu auch Kap. 6.4, Fußn. 60.) SK: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. [1937] 8, S. 23. Heitmeyer: Autoritäre Versuchungen, S. 310ff.
3. Soziologie: Masse, Mittelschicht, Kapital brutal
dem Bürgertum die faschistische Maske herunterreißen zu wollen: »Die Strategie, durch einen ›Extremismusverdacht‹ eine gewünschte Deradikalisierung oder Demaskierung zu erreichen, geht nirgendwo auf,« schreibt Strick. Vielmehr sollten wir die »automatisierte Geste der Überführung« entlernen; im Gegenzug sei am gegenwärtigen »Faschismus etwas über die brüchige und poröse Welt des sogenannten ›Normalen‹ zu lernen, über die Mitte […] und deren Offenheit für alle Arten von rechten Übergriffen […].«71 Am Faschismus lässt sich etwas über bürgerliche Normal- und Formaldemokratie lernen. Wir sollten »aufmerksam die Maske selber betrachten«, schrieb Kracauer 1938; nicht zuletzt, weil es gar nicht so sicher sei, dass man dem »Ungeheuer […], das sie sich aufsetzt«, »die Maske überhaupt abreißen kann.« (TP, S. 14) Bleibt die Maske etwa dran? Bringt sie etwas zur Geltung, das einer gesellschaftlichen Seinsweise wesentlich ist?72 Jedenfalls: Wenn durch die Betrachtung der Maske etwas untersucht wird, das vor rund 100 Jahren gekommen ist, um zu bleiben (und sei es im Modus des Wiederkommens als etwas leicht Anderes), dann bedarf die Untersuchung umso mehr einer Wahrnehmung, die anders ist. Wahrnehmung bedeutet hier das Versetzen empfindender Körper ins lesende Erkennen und vice versa, um Anteil an Wahrheiten 71 72
Simon Strick: Rechte Gefühle. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus. Bielefeld 2021, S. 22, 42. Das deutsche Bürgertum, das um 1930 vom antiparlamentarischen Regieren zur NS-Herrschaft übergeht (und das österreichische, das 1938 vom Kleriko[halb]faschismus zum Nationalsozialismus übergeht), trägt nach 1945, nach ein paar Nürnberger und anderen Prozessen gegen NS-Funktionseliten, während der Jahrzehnte keynesianischer Kompromisse und von links eingegrenzter Hegemonie, andere Masken, z.B. ›sozialpartnerschaftliche‹, sozialtechnokratische: Lassen diese ein verändertes Wesen der herrschenden Klassen erkennen – oder ein Maskieren, das Teil des Wesentlichen wird? – Thomas Elsaesser hat darauf hingewiesen, dass From Caligari to Hitler nicht so sehr eine Geschichtsteleologie hin zu Hitler vermittelt; vielmehr, so Elsaesser, analysiert Kracauer anhand des deutschen Faschisierungsprozesses – wir könnten sagen: vermittels seiner Maske, diese wieder auch als optischer Rahmen verstanden –, wie Film als eine gesellschaftlich wirksame Macht fungiert; und somit analysiert er Formen der Subjektivierung und (narrativen) Repräsentation, die ultimativ bürgerliche sind. (Thomas Elsaesser: »Cinema – The Irresponsible Signifier or ›The Gamble with History‹: Film Theory or Cinema Theory«, New German Critique 40, 1987, S. 84.) Laut Elsaesser rekonstruiert Kracauer anhand des Weimarer Kinos eine umfassende »gentrification of cinema«. Zugespitzt gesagt: Was in einer vordergründigen Rezeption des CaligariBuchs pauschal als ›Nazi-Kino‹ etikettiert wird, ist eigentlich das Kino des deutschen Bürgertums: der karrieristischen Besitzklassen, der identitätsbesorgten Mittelschichten, der ressentimentgetriebenen Spießer*innen.
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zu nehmen. Das Anders-Sein dieser Wahrnehmung, das benennt Kracauers Rede vom Film als einer art with a difference und von Geschichte als einer science with a difference, die eben jeweils – so die gängige Übersetzung – anders sind (ToF, S. x, 300; H, S. 32). Das Kracauer’sche Beharren auf dem Anders-Sein, auf dem Hinzukommen einer unvermittelten Differenz (die nicht fragt: »Anders als was?«), das mag naiv anmuten, unpolitisch, dahingesagt wie ein Werbeslogan; aber seine Art, Geschichte und Gesellschaft zu verstehen, hat nach wie vor etwas Antikonformistisches, Dissensuelles. Denn: Nach wie vor (heute gar mehr als früher) ist die konforme, konsensuelle Kracauer-Rezeption so beschaffen, dass seine Faschismus-Theoretisierungen als ein Spezialgebiet gelten, das leicht von seinem Werk abgekoppelt werden kann. Und seine Logiken und Praktiken des Dechiffrierens von Formbildungen, in denen gesellschaftliche Macht sich im Alltag und als Alltag entfaltet, die sind zwar in der Rezeption heute kanonisch, werden aber meist einer entpolitisierten Kulturwissenschaft zugeschlagen. Die Entzifferung von Verdichtungsgestalten der Massenerfahrung, um den »Grund der sozialen Wirklichkeit«, ihrer Selbst- und Macht-Verhältnisse, zugänglich zu machen, einen brüchigen Grund, wohlgemerkt, nachgerade Bruch als Grund73 – das ist bei Kracauer eng verbunden mit seiner Symptomatologie der Faschisierung. Dazu müssen politische Erscheinungen überhaupt erst als lesbare Rätselzeichen bemerkt werden. Mit ebendiesem Bemerken beginnt Kracauer schon 1921, in seiner zweiten Filmbesprechung ever, die mit dem Anblick einer ins Bild laufenden – sich über die Bildfläche ›ergießenden‹ – aufgewühlten Volksmenge in einem deutschen Drama zur Französischen Revolution endet: »Das ist das Wertvolle an diesem Film: daß er den Demos zeigt, daß er dieses große ungeschlachte Tier in seiner Feigheit und Tollkühnheit, in seiner Verächtlichkeit und seiner Urkraft selten eindrucksvoll enthüllt.«74 Der Demos ist demnach zugleich beeindruckend und furchteinflößend, bzw. kippt er schnell von der einen Anmutung in die andere. Diese Zweideutigkeit wird Kracauer später entlang der krisenhaften Aufspaltungen
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Siehe dazu dieses kanonische Kracauer-Zitat (»Über Arbeitsnachweise«, S. 52), geprägt 1930 mit Blick auf den Wartesaal einer (heutig gesagt) Arbeitsmarkt-Service-Filiale: »Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar.« – Zum Bruch-Grund der Gesellschaft (»auf Grund stoßen« heißt »an die Bruchstelle unserer Gesellschaftskonstruktion« gelangen) siehe Kap. 2.1. SK: »Großfilm Danton« [FZ 1.6.1921] 6.1, S. 11.
3. Soziologie: Masse, Mittelschicht, Kapital brutal
seines Massenkonzepts bis hin zum Nationalsozialismus weiter verfolgen. (Er wird sie verfolgen – und sie ihn.) Ein anderes Kippbild, hier als Denkbild, präsentiert er 1938 mit seiner Interpretation des ›Römischen‹ bzw. ›Deutschen Grußes‹: An der zum Heil! vor- und hochgestreckten Hand zeige sich der »dialektisch[e] Charakter« einer Stopp-Geste, die zugleich ein Impuls ist, »den Körper mitzureißen – irgendwohin.« (TP, S. 46f) Es zeigt sich somit am Faschismus das Zusammen von einerseits einem ›reaktionären‹ Stoppen, einem Stopp-Zeichen gegenüber Tendenzen zur Befreiung (Befreiung der Nicht-Besitzenden, der Frauen, der Minderheiten, der Freizeitsitten etc.) – und anderseits einem entfesselten Bewegungsimpuls. Von Bewegung handelt das nächste Kapitel.
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4. Ideologie: Flexibler Faschismus als totalitärer Nihilismus
»Vielleicht den Fasc[h]ismus oder auch gar nichts«: Das wird die bürgerliche Gesellschaft womöglich ausbrüten, schreibt Kracauer 1930.1 Seine Formulierung »oder auch« lässt allerdings mit anklingen, dass der Unterschied zwischen den beiden möglichen Zukünften vielleicht gar nicht so groß ist. Soll heißen: Vielleicht sind Faschismus und gar nichts ja gar nicht so weit voneinander entfernt. Kracauer wird in seinen politischen Studien der 1930er und 1940er Jahre oft und oft betonen, dass Faschismus gewissermaßen das zur politischen Ideologie gewordene gar nichts ist.
4.1 Bewegen, erregen, entfesseln: Bund der Ungebundenen In diesem Kapitel geht es nun um ein – Kracauer’sches – Faschismus-Verständnis unter dem Aspekt der Ideologie. Einer Ideologie, die zunächst paradox anmuten mag, weil sie im Wesentlichen keinen Inhalt hat. Dass faschistische Organisationen in den 1920er Jahren nationalistisch, antisemitisch, antidemokratisch, maskulinistisch und antisozialistisch orientiert sind, ist gar nicht so spezifisch für sie; diese Einstellungen teilen sie mit diversen Gruppierungen der christlichen und nationalen Rechten. (Weitgehend bis heute.) Faschismus ist in einem pointierten Sinn eine Ideologie des Nichts – und der Vernichtung. Kracauer nennt sie Nihilismus: Er spricht 1938 davon, dass die faschistische Politik in Deutschland und Italien in »zynische[r]« Weise »sämtliche Verpflichtungen abstreift; daß sie das Instrument eines nihilistischen Machtwillens ist«, ja, dass sie den »Machtwillen selber zum Inhalt stempelt«. Dieser Machtwille entspringt »einer nihilistischen Gesinnung […]. Er strebt 1
SK: »Abschied von der Lindenpassage« [FZ 21.12.1930] OdM, S. 332.
4. Ideologie: Flexibler Faschismus als totalitärer Nihilismus
»Vielleicht den Fasc[h]ismus oder auch gar nichts«: Das wird die bürgerliche Gesellschaft womöglich ausbrüten, schreibt Kracauer 1930.1 Seine Formulierung »oder auch« lässt allerdings mit anklingen, dass der Unterschied zwischen den beiden möglichen Zukünften vielleicht gar nicht so groß ist. Soll heißen: Vielleicht sind Faschismus und gar nichts ja gar nicht so weit voneinander entfernt. Kracauer wird in seinen politischen Studien der 1930er und 1940er Jahre oft und oft betonen, dass Faschismus gewissermaßen das zur politischen Ideologie gewordene gar nichts ist.
4.1 Bewegen, erregen, entfesseln: Bund der Ungebundenen In diesem Kapitel geht es nun um ein – Kracauer’sches – Faschismus-Verständnis unter dem Aspekt der Ideologie. Einer Ideologie, die zunächst paradox anmuten mag, weil sie im Wesentlichen keinen Inhalt hat. Dass faschistische Organisationen in den 1920er Jahren nationalistisch, antisemitisch, antidemokratisch, maskulinistisch und antisozialistisch orientiert sind, ist gar nicht so spezifisch für sie; diese Einstellungen teilen sie mit diversen Gruppierungen der christlichen und nationalen Rechten. (Weitgehend bis heute.) Faschismus ist in einem pointierten Sinn eine Ideologie des Nichts – und der Vernichtung. Kracauer nennt sie Nihilismus: Er spricht 1938 davon, dass die faschistische Politik in Deutschland und Italien in »zynische[r]« Weise »sämtliche Verpflichtungen abstreift; daß sie das Instrument eines nihilistischen Machtwillens ist«, ja, dass sie den »Machtwillen selber zum Inhalt stempelt«. Dieser Machtwille entspringt »einer nihilistischen Gesinnung […]. Er strebt 1
SK: »Abschied von der Lindenpassage« [FZ 21.12.1930] OdM, S. 332.
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Drehli Robnik: Flexibler Faschismus
nach totaler Herrschaft und repräsentiert das Nichts […].« (TP, S. 58, 64, 147, 152)2 Kracauer charakterisiert die faschistische Ideologie als eine, die auf nichts bzw. auf das Nichts abzielt. Seine Kennzeichnung geht über die Auffassung hinaus, der Faschismus sei eine Art Machiavellismus, dessen »zynischen, prinzipienlosen Machtwillen« es moralisch zu kritisieren gelte.3 Im Unterschied zu dieser Sichtweise – verbreitet in frühen konservativen Faschismustheorien – ergibt sich aus Kracauers Kennzeichnung des Faschismus als Nihilismus (sowie aus deren näheren Kontexten) eine Reihe von politischen Ansatzpunkten der Kritik; sowie von Bezügen zu politischen und ideologischen Situationen in unserer Gegenwart. Laut Kracauer hat Faschismus weder eine Lehre noch ein Ziel.4 Faschistische Propaganda unterscheidet sich in ihrem »Totalitätsanspruch« von kom-
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Zum Vergleich, zwei Positionen Ende der 1930er Jahre: Ignazio Silone, der ab den späten 1930ern mit Kracauer bekannt war und 1938 einige Motive aus dessen PropagandaStudie in seine Kunst der Diktatur einbaute, schreibt in ebendiesem Buch über den Typus des faschistischen Diktators, »daß er Macht will, nur Macht und nichts anderes als Macht.« Seine »einzige Regel […] besteht im Willen zur Macht. Alles übrige, Wahrheit oder Lüge, richtet sich je nach den Umständen.« Ignazio Silone: Die Kunst der Diktatur [1939] Köln, Berlin 1965, S. 76, 145. – Auch Max Horkheimer ortet 1936 – im Rahmen seiner Geschichte des Autoritär-Werdens bürgerlicher Machtausübung – am Faschismus Züge von Nihilismus. Horkheimers expliziter Nihilismus-Begriff orientiert sich an Friedrich Nietzsche: an dessen Kritik am Ressentiment gegen die Lebendigkeit und die in ihr enthaltenen Glücksmomente. Horkheimers Analyse eines politisch-moralischen Nihilismus bezieht sich konkret darauf, dass die Massen, die von den Herrschenden um die Verbesserung ihrer elenden Lage betrogen werden und obendrein noch die Sündhaftigkeit des Fleisches gepredigt bekommen, einen Hass auf die Glückserfahrungen anderer kultivieren: »Hinter dem Haß gegen die Kurtisane, der Verachtung gegen die aristokratische Existenz, der Wut über jüdische Unmoral […] steckt ein tiefes erotisches Ressentiment, das den Tod ihrer Repräsentanten verlangt.« Max Horkheimer: »Egoismus und Freiheitsbewegung (Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters)« [1936]. https://www.gleichsatz.de/b-u-t/kriton/hork/heimer2egofrei.html#III – 2. Teil [30.1.2023]. Zu dieser Auffassung siehe Matthias Wörsching: Faschismustheorien. Überblick und Einführung. Stuttgart 2020, S. 34. So schreibt Kracauer 1933 etwa über den Ernst Jünger nahestehenden nationalrevolutionären Publizisten Friedrich Hielscher und dessen Beschwörung des Machtstaats und des Reichsgedankens: »sein Weltbild ist gar kein Weltbild, sondern nichts weiter als ein Gemenge halbverdauter Begriffe […].« SK: »Theologie gegen Nationalismus« [FZ 14.1.1933] 5.4, S. 345.
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munistischer Propaganda dadurch, dass sie den Leuten im Grunde ›gar nichts‹ einreden will: keine bestimmten Inhalte im Gegensatz zu anderen Inhalten. In Kracauers Worten: Faschismus »[bezweckt] nicht die Durchdringung der Menschen mit einer als wahr erkannten Lehre, sondern die Abwehr von Lehren überhaupt«. Nicht Austragung von »Meinungskampf«, sondern der »Meinungstod« ist demnach das Ziel dieser Propaganda, dieser Mobilisierungspolitik (TP, S. 49, 95). Ziellos ist der Faschismus insofern, als er sich in permanenter Bewegung befindet, die kein Ende, kein Ziel kennt, sondern ein Selbstzweck ist: So wie im Faschismus die Propaganda das Substanzielle an der Politik ist, so wird in dieser Propaganda »die Bewegung selber Substanz« (TP, S. 151). Diese Betonung von radikaler – grundlegender, substanzieller – Mobilität entspricht so gar nicht dem (liberalen) Klischeebild vom Nationalsozialismus als einem Regime, das seine Subjekte und deren Verhalten diszipliniert und zum ›Stillhalten‹ zwingt. Vielmehr haben wir es beim Faschismus, zumal bei seiner nationalsozialistischen Ausformung, mit einem Dynamismus in Form von Mobilismus zu tun, mit einer Politik der durchdringenden Mobilisierung, wie Kracauer betont. Er vermerkt 1938, dass sich »Nationalsozialismus und Faschismus mit Recht ›Bewegung‹ nennen«, weil sie »das Unbewegliche in Bewegung zu versetzen« trachten: Ihre Propaganda zielt auf »Dynamisierung des starren Systems«, die dessen »stabiles Gerüst zerstückelt und die Trümmer durcheinanderwirbelt« (TP, S. 37f).5 Das hat Konsequenzen für die Auffassung von Politik in einer Gesellschaft mit Klassenhierarchien: Wenn Kämpfe von Klassen und zwischen Klassen geführt werden, dann, so Kracauer, erscheinen solche Klassenkämpfe in faschistischer Sicht als »Verfestigung« und »Starrheit«, weil bei diesen Kämpfen Begriffe, Ideen und Losungen mit sozialen Gruppen und deren spezifischen
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Ähnlich Theodor W. Adorno dann acht Jahre später über faschistische Propaganda: »any concrete political ideas play but a minor role […].« – »The glorification of action, of something going on, simultaneously obliterates and replaces the purpose of the so-called movement.« – »[A] certain vagueness with regard to political aims is inherent in Fascism itself. […] Totalitarianism means knowing no limits, not allowing for any breathing spell […].« – »With regard to this meaning of ›fascist dynamism‹, any clearcut program would function as a limitation […].« Theodor W. Adorno: »Anti-Semitism and Fascist Propaganda« [1946] in: The Stars Down to Earth and Other Essays on the Irrational in Culture. New York 1994, S. 219ff.
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Interessen und Zielsetzungen in Beziehung stehen.6 Dem Faschismus gilt diese Verbindung von Ideen mit gesellschaftliche Positionen als »die Starrheit als solche«, und daher gilt ihm »als bekämpfenswert: der Klassenkampf«. Auch diese Bindungs-Aversion, dieser »Wille, keine Verfestigung zuzulassen«, unterscheidet faschistische Bewegungen »grundsätzlich vom Kommunismus« (TP, S. 24; »Disposition« Juli 1937, TP, S. 247). Mit einer anderen Art von Kampf aber steht faschistische Politik, die ein Radikalmobilismus ist, in einem engen Naheverhältnis, nämlich mit dem Krieg. Das betrifft die faschistische Hypostase der Gewalt als eines Mittels und Milieus der Politik, bis hin zu einem Kernbestand von Politik; und es betrifft die Rolle, die der zurückliegende Erste und dann der Zweite Weltkrieg im Faschismus spielen: Diese Bewegung tragen in ihren Anfängen zu einem Gutteil Veteranen, die nach 1918 »geistig nicht zu demobilisieren« (also nicht im Zivilleben anzukommen) imstande sind, wie Kracauer schreibt (TP, S. 15). Paul Mason zählt zu den Gegenwartsautor*innen in Sachen Faschismus, die betonen, wieviel Mussolini und seine frühe Gefolgschaft aus dem Ersten Weltkrieg gelernt haben.7 In Sachen politisch-strategischer Lehren aus dem Krieg bezieht sich Mason auf eine Unterscheidung, die der kommunistische Theoretiker Antonio Gramsci prägte: zwischen politischem Stellungskrieg und politischem Bewegungskrieg. Diese Unterscheidung taucht auch bei Kracauer auf: Er spricht 1937 (ohne Gramsci-Bezug) vom »langwierigen Stellungskrieg« der Bourgeoisie im 19. Jahrhundert.8 Dem gegenüber lässt sich die Politik Mussolinis und seiner terroristischen squadri in ihrer Frühphase als rasanter Bewegungskrieg verstehen. Bei der formalparlamentarischen, auch bündnistaktischen Politik der NSDAP nach 1925 wiederum handelt es sich eher um hartnäckigen Stellungskrieg (von einer Wahl zur nächsten), kombiniert mit blitzartigen Vorstoßbewegungen und hochsymbolischen Coups. Bewegungskrieg in Form von Blitzkrieg wird dann im Zweiten Weltkrieg zu einer Nazi-Strategie, deren ideologische Dimension Kracauer vor allem in seiner Propagandafilm-Studie von 1942 analysiert: Deutsche Parteitags- und »Feldzugs«-Filme setzen Nihilismus in Form eines umfassenden Mobilismus um (den Bewegungs-Imperativ der gezeigten
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Wie in Kap. 2.2 dargelegt, wendet sich Kracauer gegen die begriffliche Reduktion politischer Ideen und Formbildungen auf soziale Sachverhalte; keineswegs aber dagegen, erstere und letztere in Beziehung zueinander zu verstehen. Paul Mason: How to Stop Fascism: History, Ideology, Resistance. London 2021, S. 122. Konkret vom kulturellen bürgerlichen Hegemoniekampf im Frankreich der Juli-Monarchie. SK: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. [1937] 8, S. 59.
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Marschkolonnen potenziert der Bewegungs-Imperativ der jeweiligen Film-Inszenierung), mit Tendenz zu einer Auslöschung von Wirklichkeit schlechthin: Bewegung wird in diesen Filmen autonom, mehr noch, sie wird solipsistisch und totalitär; sie steht nicht länger in Beziehung (Kontingenz) zu Räumen, die sie situieren und hemmen, und zu Körpern, die sie erfahren und erleiden.9 Als ein Gegenkonzept zu Nihilismus und Mobilismus gewinnt bei Kracauer Realismus eine Bedeutung, die weit über Ästhetik hinausgeht. Kracauers Realismus: Das klingt zunächst nach einer Allerweltsposition; aber das ist eine durchaus spezifische Position – nicht zuletzt im Kontext der Kritischen Theorie. Denn diese Theorie – wenn wir nur mal einige ihrer Zugänge zum Faschismus betrachten – sieht im Realismus meist eine Art von Konformismus.10 Insgesamt hat Realismus im kritischen Frankfurter Denken einen schlechten Ruf:
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Über Leni Riefenstahls NSDAP-Parteitagsfilm Triumph des Willens (D 1935) schreibt Kracauer 1942, der Film betone »endless movement«, und »total movement seems to have devoured the substance« (NW, S. 302). Das gilt in einer geschichtstheoretischen Perspektive für Horkheimer: Aus der Sicht der »kritischen Theorie«, die »sich gegen das Wissen [kehrt], auf das man pochen kann«, »wurde die Menschheit nicht durch die unzeitgemäßen Unternehmungen der Umstürzler, sondern durch die zeitgemäße Weisheit der Realisten verraten.« Max Horkheimer: »Autoritä rer Staat« [1942] in: Autoritärer Staat. Aufsätze 1939–1941. Amsterdam 1967, S. 51. https://cominsitu.files.wordpress.com/2018/10/staat-horkheimer.pdf [8.2.2023]. – Ähnliches gilt in faschismusanalytischer Perspektive für Adorno, nämlich mit Blick darauf, wie faschistische Propaganda sich auf die schiere Realität bzw. Realitätstüchtigkeit beruft: Damit meint Adorno eine Bereitschaft, sich etablierten Mächten zu unterwerfen; und, mehr noch, eine Bereitschaft, dem bloßen realen Vorhandensein dieser Mächte einen mythischen Status zuzuschreiben, durch den diese gänzlich unhinterfragbar werden. Konkret spricht er 1946 von einem »cult of the existent«, »wholly adapted to the priciple of reality (realitätsgerecht)«, wonach »whatever is, and thus has established its strength, is also right, – the sound principle to be followed. […] Leadership as such, devoid of any visible idea or aim is glorified [,.m]aking a fetish of reality and of established power relationships […].« Adorno: »Anti-Semitism and Fascist Propaganda«, S. 223, 226f. – Das heißt, ironischer Weise: Adorno zeichnet den Faschismus als eine Realitätsgerechtigkeit, die so nihilistisch ist wie der Faschismus in Kracauers kritischer Sicht – in einer Sicht, die wiederum aber ihrerseits realistisch orientiert ist. – Auch von beiden, Horkheimer und Adorno, zusammen ist über Realismus nichts Gutes zu lesen: »Der unbedingte Realismus der zivilisierten Menschheit, der im Faschismus kulminiert, ist ein Spezialfall paranoischen Wahns […].«Horkheimer, Adorno: »Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung« in: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 1969, S. 202.
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Er gilt als anti-utopischer Pragmatismus, der die notorische ›Alternativlosigkeit‹ bekräftigt.11 Kracauer hingegen versteht Realismus als eine Erfahrungsform in Offenheit für Wirklichkeiten in ihrer Eigendynamik und weitgehenden Unvorhersehbarkeit.12 Diese Offenheit ist nicht weich-liberal oder ethisch großzügig angelegt, sondern hat (mitsamt ihren ethischen Anteilen) eine politische Kontur. Wenn Kracauer Realismus als einen »approach to the world« (ToF, S. li) starkmacht, dann geht das über Fragen der Ästhetik hinaus. Vielmehr: Dieser Realismus ist der Kunst entgegengesetzt.13 Das gilt auch für Kracauers systematische Entgegensetzung geschlossenes Film-Kunstwerk versus wirklichkeitsoffene Film-Erfahrung: Diese Polarität kulminiert bei ihm 1960 in seiner Filmtheorie, ist zuvor allerdings Teil seines Faschismusverständnisses; nämlich in seiner Analyse des Anti-Realismus von Nazi-Kriegspropagandafilmen, in denen Mobilisierung totalitär wird. Diese Filme, etwa Sieg im Westen (D 1941), ignorieren
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Das geht bis hinauf zu Frankfurter Echos (weitergeleitet über Jacques Derridas Rezeption von Walter Benjamin) in: Mark Fisher: Capitalist Realism. Is There No Alternative? Winchester 2009. Insofern bezeichnet Realismus bei Kracauer (am systematischsten 1960 in seiner Theory of Film) etwas, das Adornos Emphase der Erfahrung verwandt ist. Dieser Erfahrungsbegriff schlägt sich seinerseits in Adornos (und Horkheimers) Überlegungen zu Faschismus, Nationalsozialismus und Antisemitismus nieder – nämlich als Kritik an antisemitischen bzw. »autoritätsgebundenen« Einstellungen: Diese werden als Erfahrungsverweigerung und nihilistische Fixierung auf Macht als Selbstzweck gesehen. Horkheimer, Adorno: »Elemente des Antisemitismus«, Dialektik der Aufklärung; Adorno: »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« [1959] in: Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt a.M. 1963, S. 133; ebd. heißt es: Die »autoritätsgebundenen Charaktere« in ihrer »mangelnde[n] Fähigkeit zur Erfahrung […] identifizieren sich mit realer Macht schlechthin, vor jedem besonderen Inhalt.« – Am nächsten kommt Adorno Kracauers Realismus dort, wo er diese Denk-Haltung und kritische Sensibilität seines alten Freundes direkt darstellt, nämlich als eine, die auf die res, das Ding, zurückverweist, und wo er dessen ambivalente Beziehung zu Dinglichkeit/Verdinglichung als einen »wunderlichen Realismus« würdigt (und diesen in zwiespältiger Weise zugleich von sich weist). Adorno: »Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer« [1964] in: Noten zur Literatur III. Frankfurt a.M. 1965. Vgl. dazu, sowie zum thinking through things in Kracauers posthumer History: Drehli Robnik: »DemoKRACy: Siegfried Kracauers Film-Theorie als Politik der nonsolution« in: Sabine Biebl, Helmut Lethen, Johannes von Moltke (Hg.): Siegfried Kracauers Grenzgänge. Zur Rettung des Realen. Frankfurt a.M., New York 2019. Kracauer widmet sich selten, fast nur in politischen bzw. Politik-nahen Kontexten, der bildenden Kunst (ausführlich und oft hingegen Architektur, Romanliteratur und Film).
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laut Kracauer nicht einfach die Wirklichkeit: Sie zeigen viel an Wirklichkeit (etwa vom Bewegungskrieg), allerdings als eine Wirklichkeit, die ganz der Nazi-Maschinerie unterworfen und dadurch nihilisiert ist.14 Mehr noch: Sie zeigen Wirklichkeit, die in Form der filmischen Darstellung versammelt, regelrecht aufgerufen ist, um an ihrer eigenen Abschaffung mitzuwirken. »Reality was put to work faking itself […].« (NW, S. 299) Ein heutig anmutendes Wort: Fake. In der Nazi-Propaganda verbindet sich eine Frühform von Fake News mit einem Nihilismus, der ein Totalitarismus ist, weil er das, was er auslöscht, nicht nur vernichtet, sondern es für seine Vernichtungszwecke produktiv macht und sich so ›totalisiert‹.15 Daher greift es zu kurz, und es ist auch nicht nur in ästhetischer Hinsicht signifikant, wenn – wie es in einer filmästhetisch orientierten Rezeption oft geschieht – Kracauer in Sachen Film als ein Befürworter von sinnlicher Erregung, im Gegensatz zu ›narrativer Formung‹, verstanden wird.16 Denn sinnli-
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Die Filme vermitteln einen Eindruck unaufhaltsamer nationalsozialistischer Mobilisierung und sollen dadurch bei ihrem kalkulierten Kinoeinsatz in den USA 1941, in den Monaten vor Kriegseintritt der USA, genau gegenteilig wirken, nämlich demobilisierend – im Sinn von ›Legt euch lieber nicht mit Deutschland an‹. Der Titel des Frankreich/ Benelux-»Feldzugfilms« Sieg im Westen ist somit mehrdeutig für einen Film, der triumphale Effekte auch etwa in New York erzielen sollte – wo Kracauer ihn 1941 mehrmals sah. 1938 schreibt er: »Die Realität im totalitären Staat ist eine Pseudo-Realität.« (TP, S. 139) Und 1942: »Only a nihilistic-minded power that disregarded all traditional human values could so unhesitatingly manipulate the bodies and the souls of a whole people to conceal its own nihilism.« (NW, S. 303) Ähnlich Horkheimer und Adorno 1944 (»Elemente des Antisemitismus«, Dialektik der Aufklärung, S. 194): »Der Faschismus ist totalitär auch darin, daß er die Rebellion der unterdrückten Natur gegen die Herrschaft unmittelbar der Herrschaft nutzbar zu machen strebt.« Am Rande gesagt: Das heißt nicht, dass ein Film-Denken, das von der Eigenlogik von Bewegung ausgeht, der Tendenz nach faschistisch wäre. Ich meine damit nun nicht Kracauer (auf den »Eigenlogik von Bewegung« ja gar nicht zutrifft), sondern Gilles Deleuze: Dessen Filmphilosophie baut auf der eigenlogischen Bewegung-als-Bild auf; die Bewegung ist in Deleuzes Ethik/Politik/Ästhetik gebrochen durch Situationen, Räume und Zeiten; sie ist also, needless to say, etwas ganz anderes als der filmische und politische Mobilismus der Nazis: Deleuze versteht Bewegung als eigenlogisch, in Beziehungen zu anderen Eigenlogiken; der Nazi-Mobilismus versteht Bewegung nicht als eigenlogisch, sondern als totalitär – und als ›puristisch‹ in der Weise, dass sie nichts außer sich ›sein lässt‹. – Am Rand dieses Randes gesagt: Kracauers Analyse der Verabsolutierung von Bewegung und der Hypostasierung von Geschwindigkeit unterscheidet sich, weil auf ihre politisch-ideologische und Mobilisierungsfunktion bezogen, von
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ches Erregen, das Aufwühlen, nachgerade das Sprengen des Ich, das ist für Kracauer kein Wert an sich: Das beherrscht, so betont er, auch die Nazi-Propaganda, im Film wie auch in Rundfunk und Presse.17 Ein Beispiel dafür ist die Krisen-Dramaturgie in der politischen Kommunikation der Nazis, die er 1938 als »Spannungserreger« anspricht: Diese Art von Propaganda lässt Leute »dauernd in angespannter Bereitschaft [auf die] von oben her erteilten Direktiven« warten, als seien sie atemlose »Leser von Kolportageromanen«; dabei bewirkt der »Rhythmus der Propagandawellen« eine »kunstvolle Beschleunigung oder Verzögerung« (TP, S. 140f; »Disposition«, Juli 1937, TP, S. 258). Auf der Hand liegt da der Vergleich zu heutigen Propaganda-Dramaturgien eines Viktor Orbán, Sebastian Kurz oder Donald Trump – mit ihren Ausrufungen akuter Krisen und ominösen Andeutungen bevorstehender Breaking News, ihren überfallsartigen Pressekonferenzen und abgestuften Ankündigungen von Rettung aus herbeigeredeten Notlagen. Ausgegangen sind wir gerade von Kracauers Realismus in seiner Entgegensetzung zur Kunst. »[D]er Begriff Kunst [ist] in diesem Zusammenhang mehr als eine Metapher« (TP, S. 63), und die Entgegensetzung prägt explizit seine Analyse faschistischer ›Regierungskunst‹: Diese folgt laut Kracauer einem nihilistischen »L’art-pour-l’art-Prinzip«. Das heißt: »Das Ästhetisieren der Propaganda bezweckt die Anästhetisierung der Massen«, betreibt die Zerstörung ihrer Reflexionsvermögen, und zwar mit Verfahren, die aus der Musik, der bildenden Kunst und dem Film bekannt sind.18 Den Vergleich zwischen Führer-
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einer Philosophie der reinen Geschwindigkeit nach Art von Paul Virilio, die in Richtung Technologie und Anthropologie zielt. Bezeichnend ist: Wenn Kracauer von Ich-Auflösung durch Film schreibt, dann tut er das meist nicht mit einem Vokabular der Sprengung, wie es für seinen Freund Walter Benjamin typisch ist; außer in seinem frühen Entwurf zu Theory of Film, an dieser Stelle: »Das ›Ich‹ des dem Film zugeordneten Menschen ist in ständiger Auflösung begriffen, wird ständig von den materiellen Phänomenen gesprengt.« SK: [»Marseiller Entwurf« zu einer Theorie des Films] 3, S. 577. Diesen Entwurf von 1940/41 beginnt Kracauer im November 1940 in Marseille auf der Weiterflucht durch und aus Europa zu schreiben, sozusagen unter dem Eindruck der hochmobilen, dynamischen Nazi-Blitzkriegsmaschinerie, die alles um sich herum in die Luft sprengt und die ihn und Millionen anderer durch den Kontinent jagt. »Massenbildkunst«, Rhythmisierung, Schocks und v.a. Montagen: Mittels »Ideeller Montagen« bzw »Ideen-Montagen« macht die totalitäre Propaganda geistig-ideologische Inhalte frei verfügbar und verknüpft sie nach Belieben neu (TP, S. 40, 64, 98, 129, 133, 138, 150f, 153). – Es mutet ironisch an, dass Adorno die Art, wie er bei seiner verstümmelnden Neu-Kurzfassung von Kracauers Totalitäre Propaganda verfuhr (siehe
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orientierter Politik einerseits und Kunst anderseits hatte Kracauer bereits 1921 in seinem Aufsatz »Das Wesen des politischen Führers« angestellt; zwar nicht anhand des Faschismus, aber anhand einer »Führer«-Rettergestalt als »Künstler« im Bereich der Politik, einer Gestalt, die er damals noch positiv auffasste:19 Zwar lokalisiert Kracauer hier im Rahmen einer Reihe von politiktheoretischen Texten 1920/21 diesen »Führer« als Akteur in einer politischen Mitte, zwischen Autoritarismus und Liberalismus; doch ist die Politik dieser Figur, wie Kracauer sie beschreibt, zutiefst autoritär bzw. autokratisch. Immerhin: Kracauer besinnt sich bald eines Besseren und lässt diese Konzept-Figur in Sachen Politik, kaum dass er sie in den Raum gestellt hat, gleich wieder fallen, nämlich zugunsten der »Gruppe« und der »Masse« als Politik-Subjekte demokratischer Art. Den »Führer« greift er nach 1921 nicht wieder auf; ebenso wenig den emphatischen Bezug auf Kunst. Stattdessen beginnen gleich nach 1921 jene politischen Bewegungen, deren Zentralgestalten sich »Führer« bzw. »Duce« nennen, in seinen Texten aufzutauchen – natürlich in ablehnender Perspektive. In dieser Perspektive kehrt einiges als Negativum wieder, das Kracauer in seinem frühen »Führer«-Aufsatz noch positiv sah. Nun ist ja ein Fokus auf den »Führer« als Künstler nicht nur politisch ungut, sondern auch für die Untersuchung faschistischer Strategien und Ideologien nicht von der allergrößten Ergiebigkeit. Und natürlich sind Erörterungen zur Psychologie des (verkannten) Kunst-Genies ein damals schon abgeschmacktes Stereotyp.20 Von Interesse im Faschismuskontext ist jedoch folgende Beobachtung, die Kracauer 1921 in seinen Politik-Geniekunst-Ausfüh-
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Kap. 1.3), ausgerechnet im Vokabular von Zerstörung und Montage beschrieb: Er wolle, so Adorno, die »brauchbaren Teile […] aus dem Kracauerschen Zusammenhang herauslösen«; denn Kracauers Auftragswerk tauge nur dann zur Veröffentlichung, »wenn man es vollständig zerschlägt und dann kleinste Bruchstücke zusammenmontiert.« (Adorno: »Gutachten über die Arbeit ›Die totalitäre Propaganda Deutschlands und Italiens‹, S. 1 bis 106, von Siegfried Kracauer«, TP, S. 264; sowie Adorno an Walter Benjamin 7.3.1938, zit.n. Hg.-Nachwort, TP, S. 324) »Der politische Führer großen Stils gleicht darin dem Künstler, daß er einem an sich noch formlosen Stoff innerlich erschaute Gestalt verleiht.« SK: »Das Wesen des politischen Führers« [FZ 12.6.1921] 5.1, S. 215. – Ähnlich dann in spezifischem Kontext 1942: Die Nazis verstehen »modern political propaganda as a creative art«, und »a world shaped by the art of propaganda becomes as modeling clay – amorphous material lacking any initiative of its own.« (NW, S. 299) Silone vermerkt in Die Kunst der Diktatur (S. 60) – dem Titel seiner Studie entsprechend –, der Wunschtraum vom Künstlerdasein, das Scheitern als Künstler, das fehle in kaum einer Diktatoren-Biografie. – Als Milieu wiederum spielt die Boheme – Reven-
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rungen anstellt: Nicht nur ein Former, sondern auch ein Fühler ist im »Führer« verkörpert – das Subjekt eines tiefen Empfindens.21 Wir kommen darauf zurück.
4.2 »Lüge und Wahrheit gleich unerheblich«: Micro-Targeting und Rebellion von rechts Nihilistisch ist faschistische Propaganda auch insofern, als sie Kriterien, durch die wahr und falsch unterscheidbar werden, außer Kraft setzt. Es soll gar nichts mehr gelten. Das bewirkt die Propaganda einerseits durch verwirrende Dauerbewegung;22 anderseits durch Zerstörung jener Wahrheitsfähigkeit, die im differenzierenden Urteilen entsteht: »Wenn die totalitäre Propaganda Lügen aussprengt […], geschieht es nicht so sehr in der Erwartung, daß die Lügen geglaubt oder gar nicht geglaubt werden, als in der Absicht, […] eine Oszillation von Lüge und Wahrheit zu erzeugen, die deren Unterscheidung verwehrt, um so die Empfänger der Propaganda in dieselbe Verwirrung zu bringen, der die Besucher eines Spiegelkabinetts ausgesetzt sind. Das Schwindelgefühl, das die Massen befällt, zwingt diese dazu, die Augen zu schließen und die Frage der Richtigkeit irgendeiner propagandistischen These zurückzustellen.« (TP, S. 62) Anders als in der kommunististischen Politik, so Kracauer, gilt das Interesse des Faschismus nicht der Bekräftigung einer eigenen Position; es gilt auch »nicht wie das der demokratischen Politik einer Scheidung zwischen Lüge und Wahrheit, sondern einer Mentalität, der Lüge und Wahrheit gleich unerheblich sind.« (TP, S. 59)
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ants aus Marx’ Brumaire-Studie im Personal der antibürgerlichen rechten Bewegungen der 1920er – eine Rolle in Kracauers Faschismus-Soziologie (siehe Kap. 3.2). »Wie der Bildhauer in dem ungefügten Marmorblock bereits Umrisse einer Gestalt erschaut, so spürt der wahre Führer mit jeder Faser seines Wesens, welchen besonderen Zielen sein Volk unbewußt zustrebt« und »fühlt« sich als »Vollstrecker« von des Volkes »Schicksal«. SK: »Das Wesen des politischen Führers«, S. 216. So heißt es am Ende von Totalitäre Propaganda über ebendiese: »blindlings wirbelt sie alles umher, was niet- und nagelfest scheint, da sie nur durch die Verdrehung und Vertauschung der von ihr freigesetzten Gehalte die totale Meinungsbeeinflussung zu erzielen vermag […]. […] Unten ist oben, oben ist unten.« (TP, S. 156)
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rungen anstellt: Nicht nur ein Former, sondern auch ein Fühler ist im »Führer« verkörpert – das Subjekt eines tiefen Empfindens.21 Wir kommen darauf zurück.
4.2 »Lüge und Wahrheit gleich unerheblich«: Micro-Targeting und Rebellion von rechts Nihilistisch ist faschistische Propaganda auch insofern, als sie Kriterien, durch die wahr und falsch unterscheidbar werden, außer Kraft setzt. Es soll gar nichts mehr gelten. Das bewirkt die Propaganda einerseits durch verwirrende Dauerbewegung;22 anderseits durch Zerstörung jener Wahrheitsfähigkeit, die im differenzierenden Urteilen entsteht: »Wenn die totalitäre Propaganda Lügen aussprengt […], geschieht es nicht so sehr in der Erwartung, daß die Lügen geglaubt oder gar nicht geglaubt werden, als in der Absicht, […] eine Oszillation von Lüge und Wahrheit zu erzeugen, die deren Unterscheidung verwehrt, um so die Empfänger der Propaganda in dieselbe Verwirrung zu bringen, der die Besucher eines Spiegelkabinetts ausgesetzt sind. Das Schwindelgefühl, das die Massen befällt, zwingt diese dazu, die Augen zu schließen und die Frage der Richtigkeit irgendeiner propagandistischen These zurückzustellen.« (TP, S. 62) Anders als in der kommunististischen Politik, so Kracauer, gilt das Interesse des Faschismus nicht der Bekräftigung einer eigenen Position; es gilt auch »nicht wie das der demokratischen Politik einer Scheidung zwischen Lüge und Wahrheit, sondern einer Mentalität, der Lüge und Wahrheit gleich unerheblich sind.« (TP, S. 59)
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ants aus Marx’ Brumaire-Studie im Personal der antibürgerlichen rechten Bewegungen der 1920er – eine Rolle in Kracauers Faschismus-Soziologie (siehe Kap. 3.2). »Wie der Bildhauer in dem ungefügten Marmorblock bereits Umrisse einer Gestalt erschaut, so spürt der wahre Führer mit jeder Faser seines Wesens, welchen besonderen Zielen sein Volk unbewußt zustrebt« und »fühlt« sich als »Vollstrecker« von des Volkes »Schicksal«. SK: »Das Wesen des politischen Führers«, S. 216. So heißt es am Ende von Totalitäre Propaganda über ebendiese: »blindlings wirbelt sie alles umher, was niet- und nagelfest scheint, da sie nur durch die Verdrehung und Vertauschung der von ihr freigesetzten Gehalte die totale Meinungsbeeinflussung zu erzielen vermag […]. […] Unten ist oben, oben ist unten.« (TP, S. 156)
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In seinem Untersuchungsansatz zur politischen Propaganda singt Kracauer nicht die übliche Leier von wegen Propaganda verblödet, schematisiert, versteckt Interessen hinter verlogenem Schein. Vielmehr nimmt er spezifische Verfahren ins Visier. Von daher fällt ein Licht auf Herrschaftsaspekte gegenwärtiger propagandistischer Szenarien: auf heutige Praktiken der Abstumpfung (anstelle von Überredung) durch rechte Kampagnen. Ein treffendes Label dafür prägte Trump-Berater Steve Bannon in den 2010er Jahren: flooding the zone with shit. Ein Fall von »manufactured nihilism«:23 Diese Strategie hebt darauf ab, dass ihre mit gezielten Falschinformationen und haarsträubenden Fake News zugemüllten Adressat*innen des Differenzierens müde werden, bzw. dass sie glauben, wahr und falsch ließen sich ohnehin nicht mehr unterscheiden. Und warum nicht? Weil, so der Eindruck, ›sowieso alle lügen‹.24 Oder auch weil das Kriterium der Wahrheit durch das Kriterium überlagert wird, welche News aufregender sind bzw. der Freude am Sich-Ärgern mehr entgegenkommen; siehe Kracauers Kolportageroman-Spannungs-Vergleich, und siehe natürlich die heute notorischen Wut-Algorithmen auf OnlinePlattformen. In der Konfusion, die durch Flutung mit Fake-»shit« erzeugt wird, setzt sich durch, wer durch die lautesten, rücksichtslosesten KraftDemonstrationen optimalen Schutz verspricht – Schutz vor der faktischen oder vermeintlichen Verwirrtheit der Verhältnisse. Vor dem Hintergrund dieser Vergleiche fallen Stellen in Totalitäre Propaganda ins Auge, an denen Kracauer – ohne dass er das Wort verwendet – Medienstrategien behandelt; so etwa mit Blick darauf, wie der Nationalsozialismus in Privatsphären einbricht, sowie mit Formulierungen, die zum Teil ›heutig‹ anmuten.25 Ein Vergleich zwischen gegenwärtigem Faschismus in medienwis23
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Sean Illing: »›Flood the zone with shit‹: How misinformation overwhelmed our democracy«, vox.com, Upload 6.2.2020. https://www.vox.com/policy-and-politics/2020 /1/16/20991816/impeachment-trial-trump-bannon-misinformation [10.9.2022] – Vom Überziehen von Öffentlichkeiten mit SNU, strategisch notwendigem Unsinn, sprach in Bezug auf seine Tätigkeit (rückblickend im Febuar 2023) der für die Message Control der Regierungen Sebastian Kurz zuständige Gerald Fleischmann. Es lügen sozusagen diejenigen, die den Verdacht verbreiten, Hillary Clinton sei Oberhaupt eines Geheimbundes, der Kindern ihr Blut aussaugt – aber ebenso lügen diejenigen, die diesen Verdacht zurückweisen. »Man verwandelt mit Hilfe des Rundfunks die Wohnstube in einen öffentlichen Platz.« (SK: »Exposé« Dez. 1936, TP, S. 235) Weiters zitiert Kracauer Goebbels’ Begeisterung dafür, künftig Massenereignisse mittels des »Fernsehens« gestalten zu können, und er spricht von der »virtuelle[n] Sphäre, in der die undeutlichen Gerüchte hausen«, sowie davon, dass »Fakten, Bäumen gleich, fürchterliche Formen an[nehmen], wenn sich Ne-
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senschaftlicher Sicht und historischem Faschismus in Kracauer’scher Sicht ist allerdings ergiebiger auf einer anderen Ebene: Simon Strick spricht vom gegenwärtigen Faschismus anhand rechter Online-Kampagnen; diese zerstören öffentliche Infrastrukturen der Konfliktaustragung, und sie hetzen. Sie hetzen nicht zuletzt in der Weise, dass sie ihren Zielgruppen ermöglichen, sich als Opfer zu fühlen – dadurch, dass sie multiethnische Gesellschaften als Biosphären eines radikal gefährdeten Lebens für Männer, Weiße, Waffenbesitzer, Dieselfahrer etc. hinstellen. Für diese Gruppen sei das Leben heute riskant, denn sie würden, so die Propaganda, vom woken Establishment systematisch diskriminiert und verfolgt. Empowerment verbreiten hier gerade Medienformate einer nahezu genüsslichen Selbstviktimisierung.26 Daher bezeichnet Strick den heutigen Faschismus als reflexiven Faschismus: als einen, der Risiken für bestimmte Gruppen kalkuliert und deren ›Bedrohungslagen‹ durchreflektiert.27 Dieser Begriff von Reflexivität hat bei Kracauer ein nicht allzu weit entferntes, aber anders konfiguriertes Pendant: In Totalitäre Propaganda charakterisiert er nämlich den Faschismus – ohne dass er das Wort »reflexiv« verwenden würde – als hochgradig selbstreflexiv. Wie das? Das heißt natürlich nicht, dass der historische Faschismus ›selbstkritisch‹ gewesen wäre; sondern es geht um eine Bedeutung von Selbstreflexivität teils ähnlich der bei Strick verhandelten; teils wie sie im postmodernistischen Mediendiskurs gängig wurde, also im Sinn von ›die eigenen Verfahren und Tricks ausstellen‹, ›die eigene Illusions-Gestaltung spielerisch unterlaufen‹ etc. Da ergibt sich folgendes Bild (zunächst mit einem kleinen Umweg): Ein Stück weit setzt Kracauer ja vorerst darauf, dass faschistische Propaganda sich verrät, ihre wahren Interessen preisgibt, nach Art eines Versprechers oder in einer Weise, die sich dechiffrieren lässt.28 Das betrifft, so Kracauer, jene Art von »Spiegelreflex«, bei der ein Dieb »›Haltet den Dieb!‹« ruft, um von sich abzulenken; und das geht bis zu einer »Selbstenthüllung in Spiegelschrift«: Durch diese wird an den notorisch selbstviktimisierenden Selbstdarstellungen der Nazis genau das
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bel um sie breitet« (TP, S. 50, 65, 72). Denken wir an die Fürchterlichkeit der umnebelten alternative facts in Donald Trumps (erster) Amtszeit. Simon Strick: Rechte Gefühle. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus. Bielefeld 2021. Die Bedrohungen existieren als solche nicht; was existiert, sind Verluste an alten Herrschaftspositionen und Privilegien. So wie Kracauer Diskurse, Räume und Alltagspraktiken im bürgerlich regierten Kapitalismus dechiffriert hat.
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ablesbar, was in Wahrheit die Nazis ihren Opfern antun (TP, S. 60f);29 oder es betrifft die Selbstenthüllung unumwundener Gewalt-Absichten durch die zunehmende Leere der Propaganda.30 Das ist das eine. Das andere ist: Die eigentümliche Selbstreflexivität faschistischer Propaganda zeigt, dass sich auf solche Dechiffrierung und auf eine Art Auto-Demaskierung keine allzu großen Hoffnungen setzen lassen. Dessen ist sich Kracauer bewusst. So schreibt er, ein Zweck der faschistischen Propaganda sei es, Inhalte zu verbreiten, die so abstrus sind, dass viele sich davon an den Kopf greifen wollen; in seinen Worten gesagt, ist ihr Zweck, »die Ratio vor den Kopf zu stoßen und sie derart noch mehr ins Wanken zu bringen. Indem die Propaganda den Widerspruch zur Alltäglichkeit stempelt, spielt sie […] bewußt die Absurdität wider den Common sense, das Unfaßliche wider das Faßliche aus.« Und weiter heißt es: Faschistische Propaganda benutzt »den unbeschönigten Widerspruch als eine Sonde, mit deren Hilfe sie sich fortlaufend darüber vergewissert, ob die Massen ihr wirklich vollkommen unterworfen sind. So nennt man einen Schläfer laut beim Namen, um sich von der Tiefe seines Schlafes zu überzeugen.« (TP, S. 59) Das Totalitäre an der Nazi-Herrschaft zeigt sich hier daran, dass noch die Selbstreflexivität bzw. das kalkulierte Riskieren der Stabilität des Banns, den diese Herrschaft ausübt, zu einem Teil der betreffenden Herrschaftspolitik wird, die sich eben dadurch noch perfektioniert. Die Momente von Beinah-Selbstinfragestellung dienen zum Austesten der Reichweite der eigenen Macht. »Es ist, als erläutere ein Zauberkünstler mitten im Zaubern dem Publikum, wie er das Mädchen verschwinden läßt und dem Zylinderhut flatternd die Tauben entlockt. Statt der Warnung Leichtgläubiger dient […dies] dem Nachweis der Tiefe des Glaubens […und] hat den Sinn der Stichprobe, der Triumphe. Die Zauberkünstler sind erst dann total, wenn […] selbst die zwanghafte Desillusionierung gegen die Gewalt der von ihnen erzeugten Illusionen nichts auszurichten vermag.« (TP, S. 63)
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Vergleichbares kennen wir – lapidar gesagt – heute von Wladimir Putin (wenn er etwa die Ukraine von ihrer »Nazi-Regierung« befreien will). Diese Entleerung untersucht Kracauer am Ende seiner Studie: »Hinter dem Tumult der totalitären Propaganda taucht ein Totenkopf auf.« (TP, S. 156, Schlusssatz) – Ähnlich im »Exposé« von 1936 (TP, S. 250): »Es ist Bekenntniszwang! Der Drang nach Offenbarung der Wahrheit tritt als Spiegelreflex hervor.«
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Im Kontext heutiger Medienpraktiken im Allgemeinen gibt es Vergleichbares in Form von Film-Special Effects, die weniger als Vortäuschung fungieren als dass sie als Effekte ausgestellt werden – und so den Bann des Spektakels über sein Publikum noch verstärken. Oder denken wir an den zur Orthodoxie geronnenen Ironie-Diskurs, der fast zwanghaft verordnet, dass Darbietungen ›sich selbst nicht ganz ernst nehmen‹ sollen – wodurch diese Darbietungen umso unangreifbarer werden. Etwas in dieser Art konstatiert Kracauer für faschistische Mobilisierungspolitik: dass sie »bewußt ein Theater aufführt, das offenkundig Theater ist«, wobei »sich die Spieler der Scheinhaftigkeit ihres Handelns bewußt sind«.31 Herrschaftsverstärkung durch Selbstreflexivität, zusammen mit nihilistischem, disruptivem Mobilismus, das fügt sich in die Gesamtdiagnose eines flexiblen Faschismus. Sprich: Faschismus kann, als eine antidemokratische Herrschaftsform, nicht auf bloßes autoritäres Regieren reduziert werden, auch nicht auf eine repressive Diktatur; denn er ist weniger streng disziplinierend als vielmehr mobilisierend – und er ist dabei äußerst flexibel. Parallelen zwischen faschistischer Ideologie bzw. Politik und entfesseltem Wirtschaftsliberalismus – der seinerseits auf ein herrschaftliches Durchregieren setzt, das demokratische Bindungen auflöst, weil diese unnötig kompliziert und abstrakt wären – zeigen sich nicht erst heute.32 Energien, zumal destruktive, zumindest disruptive, durchrüttelnde, sollen freigesetzt, nicht eingeschränkt werden. Insofern hat Faschismus, auch der historische, mehr mit neoliberalem Regieren gemeinsam als der liberale Diskurs eingesteht. Dies verdeutlichen Analysen, in denen Kracauer einerseits Faktoren, die er zuvor am sozial pervasiven Kapitalismus kritisiert hat, in verschärfter
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Dabei aber wird dem Publikum beigebracht, »daß das Spiel mehr als ein Spiel und der Irrsinn die Norm sei« (TP, S. 73). – Kracauers Bemerkungen zur selbstenthüllenden Spiegelschrift, zum Schläfer, der zwecks Tiefschlaf-Testung laut gerufen wird, und zum Zauberer, der seine Tricks erklärt, zählen zu den wenigen Stellen aus Totalitäre Propaganda, die Adorno in seine verstümmelnde Kurz-Neufassung von Kracauers Text übernommen hat (Adorno: Neufassung, umgetitelt zu »Zur Theorie der autoritären Propaganda«, TP, S. 282, 285). Parallelen, wie sie auch Strick (Rechte Gefühle, S. 131) hervorhebt: Der heutige, nämlich der »reflexive Faschismus, ist nicht gegen die neoliberale Flexibilisierung von Gesellschaften aufgestellt (vulgo: traditionalistisch, revisionistisch). Er hat sich der Risikogesellschaft perfekt angepasst und entfaltet sich primär innerhalb kapitalistischer Formen der Macht, Kontrolle und Kommunikation.«
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Form an den Regimes von Mussolini und Hitler feststellt; etwa die Entgrenzung einer ziel- und endlosen Mobilität.33 Anderseits fasst Kracauer an den fasci und an den Nazis Politik-Merkmale ins Auge, die Analogien zu heutigen neoliberalen Führungs- und Management-Formen, mit ihrem Übergreifen auf institutionelle Politik, aufweisen: So spricht er von jenem »nihilistischen Zug« der faschistischen Propaganda, der darin besteht, »daß der Erfolg als solcher ihr einziges Kriterium bildet« und sie »nur die Sünde begehen kann, nicht erfolgreich zu sein.« (TP, S. 58)34 Erfolg über alles. Wollten wir ausgehend davon im Faschismus bloß einen entfesselten Kapitalismus sehen – Entfesselung der Erfolgslogik in der Akkumulation von Kapital als Profit –, wäre das überspitzt und kurzgriffig. Anderseits ist die »Fixierung« ans Privateigentum, und damit an eine rein unternehmerische Freiheit, die einzige »Bindung«, so Kracauer, welche die Nazis bei ihrer politischen Mobilisierung eingehen (TP, S. 53).35 Diese Beinahe-Bindungslosigkeit – Bindung an nichts außer dem Dispositiv unternehmerischen »Erfolgs« – ermöglicht der Nazi-Propaganda ihre Flexibilität, durch die sie sich ohne »die geringste Scheu […] den Eigentümlichkeiten der jeweils von ihr bearbeiteten gesellschaftlichen Materie weitgehend anpaßt«, wobei sie »die gestern gültige Losung heute durch die gegenteilige verdrängt, ohne [dies] zu vertuschen.« Den »Widerspruch […] trägt sie« vielmehr »unbedenklich zur Schau.« (TP, S. 59, 125) 33
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1920 schrieb Kracauer in »Das Lebensgefühl in der Epoche des Hochkapitalismus« ([Der Zuschauer, Aug. 1920] 5.1, S. 105) über den »Sklave[n] des kapitalistischen Systems«: »Er bewegt sich, weil er nichts anderes kann als sich bewegen […]. Alle Kraftentfaltung hat im Grunde keinen Zweck […], sie ist ohne Sinn unbegrenzt weiterschwingende Energie geworden.« 1932 macht Kracauer »Karrieristentum« und »Erfolgsanbeterei« als Merkmale der Brutalisierung des deutschen Bürgertums auf seinem Weg in den Faschismus aus. SK: »›Er ist ein guter Junge‹. Berliner Betrachtung« [FZ 1.1.1932] 5.4, S. 12 (siehe Kap. 2.3., 3.3) – Die Kritik an etwas Selbstzweckhaftem, die er anhand des nihilistisch-reinen Machtwillens des Faschismus übt, formuliert er bereits 1929 anhand des Unternehmens als eines nicht gerechtfertigten, ungebundenen Machtträgers in der bügerlichen Gesellschaft: Bürgerliche Begründungsversuche in Gestalt einer »Theorie, die das Unternehmen als solches zum Selbstzweck macht«, laufen auf reine »Verklärung« der Macht des Unternehmens hinaus; dabei aber sei dieses nicht »das Höhere«, es sei vielmehr ohne »Bestimmung«, »die seinen Sinn kennzeichne[n]« würde (A, S. 106). Weiters schreibt er, dass die Nazi-Propaganda »nur die paar Bindungen eingeht, die im unmittelbaren Machtinteresse geboten sind, und sich im übrigen allen Inhalten gegenüber nur nihilistischer Indifferenz befleißigt […].« (TP, S. 125)
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Es gibt im Kontext von Kracauers Faschismus-Analyse Momente, an denen es scheint, als würde seine Diagnose sich mit der von Horkheimer und Adorno treffen, wonach jegliche Politik in Reklame aufzugehen droht.36 Den Vergleich von Politik mit Reklame formuliert Kracauer in Totalitäre Propaganda allerdings kaum mehr als einmal. Und: Er gestaltet diesen Vergleich auch nicht so, dass er, wie dies die Autoren der Dialektik der Aufklärung tun, ein totalitär gewordenes Tauschabstraktions-Regime anklagt – dafür, dass alles austauschbar, ›käuflich‹, ist. Vielmehr zieht Kracauer seinen Reklame-Vergleich mit Blick auf ideologische Aspekte einer Politik. Also anhand des bindungslosen, entfesselten Charakters faschistischer Politik; konkret anhand des Nihilismus, der diese Politik so beweglich, so flexibel, macht: Die totalitäre Propaganda vollzieht eine »Anpassung an die Glaubensinhalte und Wunschträume der verschiedenen Bevölkerungsschichten« und »behandelt […] jede auf ihre eigene Weise, verspricht jeder das Blaue vom Himmel herunter. (Programm: ›politische Reklame‹)« (TP, S. 129; »Disposition« Juli 1937, TP, S. 255). Ungefähr solche Praktiken heißen heute Micro-Targeting: Das algorithmisch punktgenaue Beliefern mit Content je nach Vorlieben, Empfänglichkeit etc. umgeht eine Allgemeinheit, vor der Interessensbezüge, Gruppenpositionen und Stile einer Politik sich öffentlich verantworten und gegeneinander abwägen lassen müssten. Beherrschte Mussolini vergleichbare InkonsistenzStrategien laut Kracauer schon sehr gut – mit seinem »ständige[n] Improvisieren«, seinem »Wille[n] zum Ungewissen« und dazu, »den Kurswechsel selber zum Prinzip zu machen« (TP, S. 23f)37 –, so fällt der »Duce« in Sachen 36
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Adorno stellt in seiner eigenmächtigen Neufassung von Totalitäre Propaganda das Reklame-Motiv ins Zentrum, pfropft es somit Kracauer auf (siehe Kap. 1.3). Und Horkheimer und Adorno argumentieren anhand des Ticketdenkens, als einem der »Elemente des Antisemitismus« (Dialektik der Aufklärung, S. 210, 214f), im Rekurs auf ein in den USA gängiges Wahlkampf-Vokabular: Das »Ticketdenken«, ein »Produkt der Industrialisierung und ihrer Reklame«, die auf die Politik übergreife, bedeute, dass Wahl- und bewegungspolitische Programme a priori so schematisiert sind, dass sie Entscheidungen ausschalten, somit Positionierung und ultimativ Politik selbst verunmöglichen. »Anstelle der antisemitischen Psychologie ist weithin das bloße Ja zum faschistischen Ticket getreten«, und: »Antisemitismus ist kaum mehr eine selbständige Regung, sondern eine Planke der Plattform: wer irgend dem Faschismus die Chance gibt, subskribiert mit der Zerschlagung der Gewerkschaften und dem Kreuzzug gegen den Bolschewismus automatisch auch die Erledigung der Juden.« Kracauer attackiert hier selbstverständlich nicht Ungewissheit per se, schon gar nicht unter Berufung auf ›Gewissheit‹ als politische Kategorie. Seine Kritik ist eine andere als jene, die unlängst einem Trump im Amt seine ›Unberechenbarkeit‹ ankreidete (so als
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Flexibilität doch hinter die Nazis zurück, denn: Mussolini muss »nacheinander« tun, was Hitler »gleichzeitig« gelingt, nämlich »im revolutionären und im gegenrevolutionären Lager Fuß zu fassen«. Respektive gab es, wie Kracauer hervorhebt, in der NSDAP zeitweilig eine Arbeitsteilung, der zufolge Gregor Strasser die nationalsozialistische Propaganda »für Arbeiter« vertrat, während gleichzeitig Hitler diese Propaganda, nun aber mit passgenauen antisozialistischen Versprechungen, »in Industriellenkreisen« repräsentierte (TP, S. 130; »Disposition« Juli 1937, TP, S. 255). Für »die oft unvereinbaren Inhalte« in ihren »eklatanten Widersprüche[n]« zueinander (TP, S. 129), die die Nazis zielgruppengenau propagieren, bringt Kracauer schon in seinen Analysen 1933/34 klassen- und schichtenspezifische Beispiele und stellt sie unter die Überschrift, der Nationalsozialismus verspreche »jedem das Seine«.38 Dieser Spruch, im Nazi-Zusammenhang unweigerlich mit der Aufschrift auf dem Lagertor von Buchenwald assoziiert, mutet wie ein weiterer Fall von nationalsozialistischer Selbstoffenbarung auf Basis von »Bekenntniszwang« an.
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wäre diese das größte Problem an ihm – und nicht vielmehr seine berechenbare, vorhersehbare Herrschaftsideologie und Minderheitenfeindlichkeit). Gerade in der Konfrontation mit Faschismus zeigt sich Kracauer skeptisch gegenüber einer Pose der Immerschon-Gewissheit (siehe Kap. 1.1 und 1.2). Dem faschistischen Willen zum Ungewissen entgegengesetzt ist demnach nicht Wissenszement, sondern sind Positionierungen, die klar dargestellt, nachvollziehbar gemacht und öffentlich bestritten oder verteidigt werden. – Kracauer greift hier manches von Silone auf, den er in Totalitäre Propaganda oft zitiert. Silone schreibt 1934 (in: Der Fascismus. Seine Entstehung und seine Entwicklung. Zürich 1934, S. 185), »daß der Fascismus bei jeder Wendung, die seine Entwicklung nahm, eine Richtung einschlug, die der von ihm ursprünglich ins Auge gefaßten diametral entgegengesetzt war. Es war dies seine grundlegende politische Qualität.« Silone (Kunst der Diktatur, S. 141, 158) hebt 1939 auch hervor, wie sehr die NSDAP sich von ihrem frühen antikapitalistischen Programm massiv abwendet und den Sozialismus im Parteinamen entsprechend umzudeuten versucht. »[Den Mittelschichten] paßt sich der aus ihnen hervorgegangene Nationalsozialismus mit vollendeter Schmiegsamkeit an. Sein Programm bekennt sich ausdrücklich zur Schaffung eines gesunden Mittelstandes und verspricht im übrigen jedem das Seine: den Handwerkern und dem Einzelhandel Schutz des Privateigentums, Kredite, Maßnahmen gegen die Warenhäuser usw.; den Angestellten die Unterdrückung der internationalen Börsenspekulation und eine Altersversorgung; den Beamten die Wiederherstellung der Glorie, die ein starker Staat seinen Funktionären verleiht.« Darüber hinaus versucht der Nationalsozialismus »[g]enau wie im Falle des Mittelstandes […] die voneinander abweichenden bäuerlichen Interessen gleichmäßig zu befriedigen.« SK: »Die deutschen Bevölkerungsschichten und der Nationalsozialismus« [in frz. Übers. in L’Europe Nouvelle 20.5. und 3.6.1933] 5.4, S. 437f.
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Wir sind hier aber im Kontext des politischen Flexibilismus – und auch in dieser Hinsicht tragen die Nazis ihr Herz auf der Zunge: Kracauer überführt quasi nur in eine kritische Analyse, was etwa Hitler selbst in seiner Abschlussrede zum Nürnberger Parteitag 1934 über die NSDAP sagt, nämlich dass sie taktisch »schmiegsam und anpassungsfähig« sei – und »in ihrer Lehre unveränderlich«, was weniger mit zu erringender oder neu auszuhandelnder Prinzipientreue zu tun hat als mit der Abwesenheit jeglicher Lehre und mit radikaler »Prinzipienlosigkeit« (TP, S. 26).39 Ein Blick auf heutige Rechtsparteien zeigt einen vergleichbar flexiblen Umgang mit ›Prinzipien‹. Etwa mit der deutschnational-traditionalistischen Orientierung, wie sie die FPÖ lange Zeit prägte: Parteichef Jörg Haider, später sein Nachfolger H.C. Strache, öffnete die Freiheitlichen ab Ende der 1980er weit über das (Outsider-elitistische) ›nationale Lager‹ hinaus – für proletarische Elektorate, die Arbeitsmarkt-protektionistisch gesinnt waren und sind, ebenso für (klein-)bürgerliche Publika, die ein ›Macher‹-Lifestyle-Chic beeindruckt. Die freiheitliche Partei des ›kleinen Mannes‹, der ›fleißigen Inländer‹ etc. war und ist stets bereit, für flexiblere Maximal-Arbeitszeit-Regelungen und gegen Gewinnsteuern zu stimmen.40 Geopolitische Umorientierungen der Rechtsparteien in postnazistischen/postfaschistischen Staaten wiederum münden gegenwärtig in ihre Unterstützung aggressiver russischer Außenpo-
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Hitlers Wortlaut zit.n. Leni Riefenstahls Triumph des Willens: Die Partei »wird in ihrer Lehre unveränderlich, in ihrer Organisation stahlhart, in ihrer Taktik schmiegsam und anpassungsfähig, in ihrem Gesamtbild aber wie ein Orden sein!« – Im Gegensatz zu den schmiegsamen Nazis erweist sich in Kracauers Augen der »Kommunismus in Deutschland« Anfang der 1930er Jahre als zuwenig elastisch: Die bürgerliche Jugend, die von ihrer Prekarität und ihrer Umsturz-Gesinnung her vielfach Bündnispartner*in sein könnte, verprellt der Kommunismus durch seinen strikten Anti-Individualismus und Anti-Idealismus; laut Kracauer »hätte die proletarisierte Jugend des Mittelstandes den Marxismus weniger verkannt, wenn dieser elastisch genug gewesen wäre, ihrer angestammten Art entgegenzukommen.« SK: »Über die deutsche Jugend« [in frz. Übers. in L’Europe Nouvelle 26.8.1933] 5.4, S. 463. – Der Imperativ der Elastizität kommt in Kracauers 1934 fertiggestelltem autiobiografischem Roman Georg markant vor, nämlich in der Standpauke, die der Titelheld als linker Feuilletonist einer zunehmend rechts orientierten Zeitung von seinem Chef gehalten bekommt – bei seiner Entlassung (ähnlich der schrittweisen Entlassung Kracauers bei der Frankfurter Zeitung 1930–1933): SK: Georg, 7, S. 503. Dies trotz Marginalisierung ihres FDP-vergleichbaren wirtschaftsliberalen Flügels.
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litik ein.41 Als Teil der rechtspopulistischen Mobilisierungen in jüngster Zeit vollzieht sich auch jener politische Flexibilisierungsprozess, durch den vormals christlich-konservative Parteien nihilistisch nach rechts schwenken: von Resten christlicher Ethik auf ein antimigrantisch-rassistisches KulturkampfChristentum, das mehr Kampagnen-Spielraum und weniger programmatisch-moralische Verbindlichkeiten beinhaltet; so in Ungarn und Österreich.42 An Sebastian Kurz, 2017–2021 österreichischer Bundeskanzler und Posterboy des europäischen Rechtsrucks von konservativen und ›Mitte‹-Parteien, und mehr noch an Trump und Boris Johnson tritt eine Eigentümlichkeit des nihilistisch-mobilistischen Moments am Faschismus in den Vordergrund.43 Nämlich die widersprüchliche Verbindung zwischen einerseits autoritärem Durchregieren und anderseits einem antiinstitutionell-rebellischen Gestus, wie sie Kracauer in seinem Caligari-Buch anspricht: Der Führer ist ›oben‹, ein ungebundener Herrscher, mitunter Staats- oder Regierungschef, und zugleich Rebell mit direktem Draht zu den vielen da ›unten‹. Zum einen ist hier eine bestimmte Ausprägung von ›Gefühlspolitik‹ wirksam: Wenn Strick vom heutigen Faschismus als einer »Gefühlswelt« spricht, wenn er von der empfindungsbezogenen »Einbettung« des betreffenden Rassismus, Sexismus etc. in ein »Lebensgefühl« spricht, Einbettung in ein umfassendes Feeling (Alt)
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Im Fall der FPÖ: von rabiat antikommunistischer und antislawischer Orientierung (samt deutschnationalistischer Kennzeichnung der »österreichischen Nation« als »ideologische Missgeburt« von Stalins Gnaden) unter Parteichef Haider Ende der 1980er – hin zu rabiatem, Deutschland-skeptischem Österreich-Patriotismus ab den 1990ern und unter Haiders Nachfolger Strache – bis zum Putin-Appeasement von Straches Nachfolger Kickl heute. Siehe etwa Sebastian Kurz’ flexible Verbindung von Grenzschutz und Klimaschutz als Agenden seiner Koalitionsregierung mit den Grünen unter dem Motto »das Beste aus beiden Welten« Anfang 2020. »Gelernt haben sie ja nichts.« (TP, S. 15) Das schreibt Kracauer abschätzig über die Sturmtruppen des Faschismus in seiner Frühphase, also über Militärs, die direkt ins politische Kampagnisieren wechseln, ohne Zivilberufe, also ohne eine Arbeitserfahrung, die nicht rein aggressiv und disruptiv wäre. Ein Schelm, wer da (halb-weit ausholend) an Personal von Österreichs aktueller Regierungspartei denkt: an den direkt aus PR-Partys der Jungen ÖVP zu Staatsmacht gekommenen Kurz (Staatssekretär mit 25, Regierungschef mit 31), an Teile seiner konspirativen Kanzlerschafts-Blitzkrieg-Jungmänner-Truppe, an seinen Kanzler- und Parteichef-Nachfolger Karl Nehammer (von Beruf Bundesheer-Leutnant und Kommunikationstrainer) – Leute, die nur Seilschaftspflege, politische Konspiration und Heereswesen gelernt haben.
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Right 44 – dann hat das bei Kracauer ein ungefähres Pendant: Das geteilte Fühlen, das Strick anhand dezentraler, netzwerkhafter Politiken untersucht, hat im Parteien-Register von Politik ein Pendant anhand des Führers als Fühler, das Kracauer schon 1921 anhand des »politischen Führers« erörtert (siehe oben); also anhand des Machtpolitikers, der mit ›seinem‹ ständig entmündigt werdenden Volk mitlebt und empfindend mitbebt. Bei Strache, der um 2010 erfolgreich als Sozialrebell mit Herz propagiert wurde und 2017–2019 österreichischer Vizekanzler war, steigerte sich das behauptete Fühlen mit dem Volk, als ein direkter Link an allen institutionellen Vermittlungen vorbei, zur nachgerade vulgärphänomenologischen Betonung des Erlebens, nämlich in seiner ständig intonierten Leit-Floskel »Wir erleben« – jeweils gefolgt von: »Asylmissbrauch«, »Sozialtourismus« etc. Erfolgreiche rechte Gefühlspolitiker*innen wie Trump, Orbán, Björn Höcke, Giorgia Meloni oder Herbert Kickl, der deklarierte »Volkskanzler«-Kandidat der FPÖ, stehen dafür, dass ein ›Fühlen wie ihr‹ bzw. ›wie wir alle‹ zur handlungsleitenden Kategorie von Politik erhoben wird. Diese geteilten rechten Gefühle sollten wir nicht verwechseln: erstens nicht mit Empathie oder Mitgefühl, denn diese setzen als Empfindungsgrundlage keineswegs jene Gleichartigkeit als notwendig voraus, wie sie rechte Fühler-Figuren damals wie heute nationalistisch bzw. rassistisch definieren. Zweitens sollten wir das rechte Gleichartig-Fühlen nicht damit verwechseln, dass kritisierbare, strittige politische Positionierungen mit Gefühlen aufgeladen werden wie z.B. in linkspopulistischen oder humanitär gefärbten Mobilisierungen; Gefühle und Pathos sind dabei ein wichtiger und legitimer Faktor von Politik, nicht aber ihr Inhalt oder Fundament. Zum anderen haben wir hier Widersprüche und in sich zwiespältige Konstellationen vor uns, auf die weniger ein phänomenologisches Vokabular passt als vielmehr eine psychoanalytische Kritik. Eine solche nimmt Kracauer 1947 in seinem Buch From Caligari to Hitler vor – eben mit Blick auf den Widerspruch zwischen Unterordnung und Rebellion, Autorität und Aufruhr, in der Rechtstendenz der deutschen Mittelschichten: Im Buchkapitel »From Rebellion to Submission« widmet er sich den in den 1920er Jahren äußerst erfolgreichen Fridericus Rex-Filmen; diese Biopics feiern den (proto-)nationalen Herrscher Friedrich II. als ostentativ unkonventionellen Regenten, der wie ein Künstler, Trickser, ja, Rebell anmutet. Die Filme sind laut Kracauer symptomatisch, weil sie in dem Dilemma, vielmehr Schein-Dilemma, zwischen Rebellion und Unterwerfung bzw. zwischen Chaos und Tyrannei zweierlei 44
Strick: Rechte Gefühle, S. 22, 157, 161, 163.
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Ausweg anbieten – Auswege, dramatisch ausinszeniert, gebahnt durch einen Prozess der Verinnerlichung gesellschaftlich-politischer Konflikte (CH, S. 118; siehe auch Kap. 3.2).45 Das Schein-Dilemma Rebellion oder Unterwerfung also – Ausweg Nr. 1 geht so: Friedrich II.-Biopics und ähnliche Erfolgsproduktionen der populären Imagination wandeln das Dilemma in eine zeitliche Abfolge um, in einen »evolutionary process«: Der Rebell erscheint dann, so Kracauer, als gleichsam verpuppte Keimform, »pupa«, des Diktators, der unterwirft. Geschichte gerät so zu einer Teleologie, nachgerade Bio-Teleologie, des faschistischen »Führers«: vom Anti-Establishment-Krawall zur staatlichen »Machtergreifung«. Ausweg Nr. 2 löst, so Kracauer, den Widerspruch auf, der darin besteht, dass Mittelschichts-Angehörige, die eigentlich das idealistische Konzept des autonomen Individuums wertschätzen, bereit sind, jegliche individuelle Autonomie aufzugeben, zugunsten ihrer Unterwerfung unter einen »autocratic ruler«.46 Da bleibt ein Ausweg, den die ideologischen Skripts der Filme weisen – »one way to preserve a semblance of self-determination while actually relinquishing it: one could participate in the ruler’s glory and thus drown the consciousness of one’s submission to him.« (CH, S. 118) Diese Identifikation mit der Führer-»Persönlichkeit« des zur Allmacht gelangten Sozialrebellen antwortet auf eine ideologische Gespaltenheit. Eine solche hatte Kracauer bereits deutschen Jugendbewegungen, mit ihrer Empfänglichkeit für rechten Irrationalismus, attestiert: Zutage treten da »Machträusche, gehorchen dürfen und auch befehlen«, sowie »Illusionsfähigkeit, romantisches Schwärmen, Abenteuerlust, Verlangen nach Rebellion und Autorität zugleich«.47 Echos dieses Zwiespalts zeigen sich heute in einer Art Angstlust im Verhältnis zu politischen bullies wie Trump, die eine umfassende Befreiung von Hemmungen an-
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Wobei in Kracauer’scher Sicht klar ist: Innerliche, innerpsychische Umarbeitung der Rebellion durch Ressentiment, durch angstvoll-giftiges Negieren gerade der eigenen Handlungsspielräume – diese Umarbeitung beginnt ja schon dort, wo die Umarbeitung zunächst einmal ein Aufbegehren in Richtung gegenherrschaftlicher Umgestaltung der Gesellschaft als ausschließlich negativ, als reines Chaos, erscheinen lässt. Der nächste Schritt führt dann von der Auflehnung gegen etablierte Herrschaft zu der nihilistischen Geste des Auf-den-Tisch-Hauens, weil ›alles anders werden muss‹. Vorausgesetzt, fügt Kracauer hinzu (CH, S. 118), dass dieser Herrscher jeglichen Eingriff ins Privateigentum unterbindet (also nicht sozialistisch vergesellschaftend agiert, sondern ›nur‹ jüdisches Privateigentum enteignet, ›arisiert‹, raubt). SK: »Die deutschen Bevölkerungsschichten und der Nationalsozialismus«, S. 442; TP, S. 123.
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drohen wie auch versprechen: Sie schüchtern ein und laden zugleich zur Identifikation ein mit dem, der einschüchtern kann, indem er so redet – auch so rücksichtslos – ›wie wir alle‹ (eben nicht ›wie ein Politiker‹). Und wie die Weimarer Biopics Anarchie als einen Zustand ausmalten, von dem aus herrschaftliches Durchgreifen als wünschenswert erschien (»approved of anarchy inasmuch as it made authority desirable«: CH, S. 118), ähnlich soll auch die propagandistische Verwirrung (das flooding the zone with shit) heute ultimativ nicht in eine anarchische Kakophonie münden, sondern in das Resultat, dass zuletzt primär die Stimme des ›starken Mannes‹, der ›klärende Machtworte‹ spricht, gehört wird. Die kleinbürgerliche Gespaltenheit zwischen dem Beharren auf individueller Autonomie und der Unterwerfung unter Mythen von Volk und Allmacht hatte Kracauer in den Jahren unmittelbar vor Hitlers Kanzlerschaft anhand des »Aufruhr[s] der Mittelschichten« interpretiert, unter anderem psychoanalytisch. Sein Befund: Angewidert vom Kapitalismus – von seinen Auswirkungen, nicht von seiner Systematik – »hetzen« mittelständische Rechtsintellektuelle »den Liberalismus bis in den entlegensten Winkel hinein«; solche Aversion gegen den Liberalismus entspreche einer regelrechten »Sucht«, die »psychoanalytisch gesprochen, so etwas wie eine Verdrängungserscheinung ist. Man verfolgt ihn mit Haß, weil man ihn in sich hat« – nämlich den Liberalismus, den Glauben ans durchsetzungsfähige Individuum. Das heißt, diese Intellektuellen, die vom »Fascismus« wie auch vom »Aufbau einer ›neuen Persönlichkeitskultur« schwärmen48 – sie sind als angehende Nazis immer noch Liberale, verehren das Individuum als politischen Unternehmer.49 Deren Nachfahren in jüngerer Zeit sind deal-maker Trump, Kleptokrat Orbàn oder Deregulierer Kurz: als individual-liberale Anti-Liberals und Illiberale. Und eben auch als schambefreitzynische Bully-Bros eher denn als steife Patriarchen/Hirten, wie sie einem im engeren Sinn autoritären Konzept von Machtpolitik entsprächen.50 In jüngster Zeit ist hier die aus dem organisierten Neofaschismus hervorgegangene 48 49 50
SK: »Aufruhr der Mittelschichten. Eine Auseinandersetzung mit dem ›Tat‹-Kreis« [FZ 10./11.12.1931] OdM, S. 95. Komplementär zu all den vordergründig Liberalen, die verkappte Nazis sind, stehen da gleichsam Nazis, die verkappte Liberale sind. Die heutige Rechte übt einen veritablen Zwang zum Antiautoritären aus. Sie gebietet, fast drohend: Lasst euch ja nicht von den Eliten vorschreiben, was ihr sagen, was ihr essen, wieviel ihr Autofahren dürft! (Und: Lasst euch nicht einreden, eure ›Ängste‹ vor Migrant*innen seien unbegründet. – Letzteres war eine Wahlkampfbotschaft von Kurz 2017.)
4. Ideologie: Flexibler Faschismus als totalitärer Nihilismus
italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni zu nennen; über sie stellt Isolde Charim den Befund eines »reaktionären Liberalismus«, der Nationalismus und rabiaten Heteronormativismus widersprüchlich, aber effektiv mit Individualismus verknüpft.51 Randbemerkung: Ist die Bindung ans Privateigentum und dessen unternehmerische Freiheit die einzige »Bindung«, die der Faschismus Kracauer zufolge eingeht (TP, S. 53), so findet sich ein Echo davon in jenen Faschisierungstendenzen auf neoliberaler Grundlage, die Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey libertären Autoritarismus nennen. In Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus (Berlin 2022) untersuchen sie Gruppierungen der allerneuesten Rechten, insbesondere »Querdenker«; diese sind nicht so sehr »autoritär« als vielmehr betont antikonventionell, staatsskeptisch und um ihre Selbstentfaltungsspielräume besorgt: »Angepasst sind sie nur insofern, als sie die Normen der Konkurrenzgesellschaft internalisiert haben.« (Ebd., S. 178) Und zwar die durch Deregulierung verschärften Normen von Profitwirtschaft als Dauer-Disruption (Sozialstaatsrückbau, Rechtsstaatszerschlagung). Zwar vergeben Amlinger und Nachtwey zum Teil das kritische Potenzial ihrer Verbindung zwischen der auf sozial entkoppelte Freiheit pochenden Rechten und den Entfesselungskünsten der Kapitalherrschaft; sie vergeben es zugunsten der Psychologisierung und Pathologisierung von Exemplaren der untersuchten Milieus. Ideologische Parallelen zum flexiblen Faschismus aber – als da sind Kontingenz-Leugnung, Umlenkung links geprägter Habitus und Protest-Agenden gegen Minderheiten, »normativer Nihilismus« im Verzicht auf verhandelbare »Werte« und »Interessen«, schiere »Rebellion gegen die Realität« (ebd., S. 17, 172f, 183, 202ff, 253ff, 268, 328), diese Parallelen legen es nahe, kurz auf ein Kriterium von Amlinger und Nachtwey einzugehen. Mit u.a. diesem Kriterium setzen sie den libertären Autoritarismus vom Faschismus ab (bzw. von der Tradition autoritärer Politik, als welche die Kritische Theorie – nicht so sehr aber Kracauer – den Faschismus verstand). Es ist der geringe Stellenwert einer Führerfigur: Amlingers und Nachtweys libertäre Autoritäre »identifizieren« sich nicht mit einer »autoritären« bzw. »omnipotenten« »Führerfigur«; stattdessen heroisieren sie sich selbst, ihre Anti-Mainstream-Dissidenz, ihr Demo-Engagement, ihr Durchschauen verborgener konspirativer Wahrheiten (ebd., S. 16, 172f, 192). Nun, zweifellos bringt die AfD bislang keine dauerhaften Charisma-Träger*innen oder zur Identifikation einladenden Führerfiguren hervor, und FPÖ-Chef Herbert Kickl ist mehr Redetalent und populistischer Taktiker 51
Isolde Charim: »Giorgia Meloni: Eine Frau – ein Satz«, Falter 39, 2022, S. 9.
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Drehli Robnik: Flexibler Faschismus
denn Identifikations-Magnet (wenn auch 2023 Wahlumfragen-Kaiser von Österreich). Allerdings ist mit Amlingers und Nachtweys Pochen auf Führerlosigkeit rechter Strömungen der zentrale Status eines Trump unterschätzt – als modellhaft libertärer, mehr destruktiver denn autoritärer Alt-Right-Führer; unterschätzt auch die Zeit der politischen Strahlkraft und Machtakkumulation von Boris Johnson, Sebastian Kurz und, noch rezenter, Giorgia Meloni: Das ist politisches Führungspersonal, das nicht autoritär mobilisiert und regiert, sondern nach neoliberalen Kriterien – mit dem Nimbus von frecher Authentizität und frischem Wind qua antiinstitutionellem Regelbruch.
4.3 Immer schon improvisierend und hochmotiviert – Geschichtspolitisches (Traverso, Chapoutot, Strobl) Aus Parallelen von Faschismus und Neoliberalismus, die ich hier betone, ergeben sich zwei politisch-konzeptuelle Konsequenzen. Die erste ist geschichtspolitischer Art: Dass der heutige Faschismus nicht traditionalistisch, ideologisch nicht aus einem Guss ist, daraus folgt noch nicht, dass der historische Faschismus dies war. Weil etwas heute volatil und heterogen ist, muss es nicht damals homogen und gefestigt gewesen sein – aber genau diese idealtypische Differenzierung, der auch etwas von Umkehrschluss anhaftet, finden wir beim Historiker Enzo Traverso und seinem Konzept des Postfaschismus. Mit diesem Konzept setze ich mich nun kurz auseinander, um dadurch einige mir wichtige Punkte stärker zu konturieren. Den Post-Aspekt seines Konzepts entwirft Traverso weitgehend im Sinn von ›danach kommend in gemilderter Form‹; er spricht also von »Postfaschismus« als einem verwässerten Faschismus, ein wenig auch im Sinn eines Faschismus-Potenzials, das in heutigen Rechtspolitiken angelegt bleibt und reaktivierbar ist. Das historiografisch-theoretische Post ist ein großes Konzept und Diskursfeld; da gäbe es auch andere Verständnismöglichkeiten – etwa das selektierende Zurückschauen auf einen durchreflektierten Bestand (das wäre dann »Postfaschismus« als ein reflexiver Faschismus in noch einem anderen Sinn) oder das unloswerdbare, spukhafte Nachwirken (»Postfaschismus« als eine Art Faschismus-Hantologie); aber diese anderen Facetten bleiben bei Traverso peripher. Den Abstand zwischen historischen faschistischen und aktuellen, wie er sie nennt, »postfaschistischen« Mobilisierungen (etwa Marine Le Pens Rassemblement National) konzipiert Traverso nach dem Modell der Beziehung zwischen einem Original in eindeutiger Festform und einem
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Drehli Robnik: Flexibler Faschismus
denn Identifikations-Magnet (wenn auch 2023 Wahlumfragen-Kaiser von Österreich). Allerdings ist mit Amlingers und Nachtweys Pochen auf Führerlosigkeit rechter Strömungen der zentrale Status eines Trump unterschätzt – als modellhaft libertärer, mehr destruktiver denn autoritärer Alt-Right-Führer; unterschätzt auch die Zeit der politischen Strahlkraft und Machtakkumulation von Boris Johnson, Sebastian Kurz und, noch rezenter, Giorgia Meloni: Das ist politisches Führungspersonal, das nicht autoritär mobilisiert und regiert, sondern nach neoliberalen Kriterien – mit dem Nimbus von frecher Authentizität und frischem Wind qua antiinstitutionellem Regelbruch.
4.3 Immer schon improvisierend und hochmotiviert – Geschichtspolitisches (Traverso, Chapoutot, Strobl) Aus Parallelen von Faschismus und Neoliberalismus, die ich hier betone, ergeben sich zwei politisch-konzeptuelle Konsequenzen. Die erste ist geschichtspolitischer Art: Dass der heutige Faschismus nicht traditionalistisch, ideologisch nicht aus einem Guss ist, daraus folgt noch nicht, dass der historische Faschismus dies war. Weil etwas heute volatil und heterogen ist, muss es nicht damals homogen und gefestigt gewesen sein – aber genau diese idealtypische Differenzierung, der auch etwas von Umkehrschluss anhaftet, finden wir beim Historiker Enzo Traverso und seinem Konzept des Postfaschismus. Mit diesem Konzept setze ich mich nun kurz auseinander, um dadurch einige mir wichtige Punkte stärker zu konturieren. Den Post-Aspekt seines Konzepts entwirft Traverso weitgehend im Sinn von ›danach kommend in gemilderter Form‹; er spricht also von »Postfaschismus« als einem verwässerten Faschismus, ein wenig auch im Sinn eines Faschismus-Potenzials, das in heutigen Rechtspolitiken angelegt bleibt und reaktivierbar ist. Das historiografisch-theoretische Post ist ein großes Konzept und Diskursfeld; da gäbe es auch andere Verständnismöglichkeiten – etwa das selektierende Zurückschauen auf einen durchreflektierten Bestand (das wäre dann »Postfaschismus« als ein reflexiver Faschismus in noch einem anderen Sinn) oder das unloswerdbare, spukhafte Nachwirken (»Postfaschismus« als eine Art Faschismus-Hantologie); aber diese anderen Facetten bleiben bei Traverso peripher. Den Abstand zwischen historischen faschistischen und aktuellen, wie er sie nennt, »postfaschistischen« Mobilisierungen (etwa Marine Le Pens Rassemblement National) konzipiert Traverso nach dem Modell der Beziehung zwischen einem Original in eindeutiger Festform und einem
4. Ideologie: Flexibler Faschismus als totalitärer Nihilismus
Abklatsch in bröseliger Vieldeutigkeit. Das beruht mit darauf, dass er dem historischen Faschismus hartnäckig Eindeutigkeit, starke Fundamente und Werte, rigorose Programmatik und ideologische Homogenität zuschreibt; diese Zuschreibungen laufen darauf hinaus, dass er Mussolinis und Hitlers Faschismen in einen ausschließlichen Gegensatz zur heutigen neoliberalen Politikformation setzt, welcher ihm zufolge der »Postfaschismus« angehört. Traversos »Postfaschismus« steht somit in starkem Kontrast zum Faschismus; dies, obwohl beide einige Wesensmerkmale miteinander teilen: Der Traverso’sche »Postfaschismus« hat einige Eigenschaften, die Kracauer in den 1930er Jahren am Faschismus (Italiens und Deutschlands) diagnostizierte. Als da sind: flexibel improvisierendes Hin und Her, Widersprüchlichkeit, Eklektizismus, ideologischer Nihilismus.52 52
Enzo Traverso: Die neuen Gesichter des Faschismus. Postfaschismus, Identitätspolitik, Antisemitismus und Islamophobie. [2017] Köln, Karlsruhe 2019. Seine Diagnosen im Detail: »[D]ie klassischen Faschismen waren nicht neoliberal, sie waren imperialistisch und etatistisch […].« (Ebd., S. 24) »Postfaschismus« ist laut Traverso geprägt von einem »fluiden, instabilen, häufig widersprüchlichen ideologischen Inhalt […], in dem sich gegensätzliche politische Philosophien vermischen.« Und »es handelt sich um eine heterogene Tendenz, in der verschiedene Strömungen zusammenkommen und deren historische Genealogie recht unterschiedlich sein kann.« Weiters: »Der Postfaschismus verfügt nicht mehr über die ›starken Werte‹ wie seine Vorläufer in den 1930er Jahren […].« (Ebd., S. 12, 27, 29) Im Unterschied zu diesen Vorläufern zeige sich etwa bei Trump ein »postideologische[r] Eklektizismus«, »Er beruft sich auf keine Ideologie […] und kann seine Ansichten in jeder Frage von einem Tag zum andern ändern […].« (Ebd., S. 35) Dass »er über kein Programm verfügt«, sei »auch eine Differenz, [die] ihn vom historischen Faschismus unterscheidet.« Ebenso wenig habe Trump Pläne, »das wirtschaftliche und gesellschaftliche Modell Amerikas [zu] ändern« (ebd., S. 26). Nun, solche Pläne hatten etwa die Nazis (bezogen auf die Sozioökonomie in Deutschland) auch nicht, auch kein Programm im formellen Sinn – insofern als sie bemüht waren, sich vom frühen antikapitalistischen 25-Punkte-Programm der NSDAP freizuspielen; ja, sie erachteten ihr Parteiprogramm als für ihre Politik so irrelevant, dass sie es nie diskutierten oder änderten; ebenso wenig wie die Weimarer Verfassung, der die Nazi-Regierung ›nur‹ einige Ermächtigungs- und antisemitische »Rassen«-Gesetzpunkte hinzufügte. Arendt nennt es sarkastisch Hitlers größte Leistung im Organisieren seiner Bewegung, dass er ihr die Last ihres ursprünglichen Programms abnahm; und zwar nicht, indem er das Programm beeinspruchte, sondern indem er es ignorierte. Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism. [1951/1967] London 2017, S. 424. – Hingegen machten sich die »Austrofaschisten« die Mühe einer eigenen, auf Gott als allmächtiger Rechtsquelle aufbauenden, ständisch-autoritären Staatsverfassung (die Maiverfassung 1934), und das ist eines der Merkmale, die Dollfuß’ und Schuschniggs Diktatur im »Bundesstaat« Österreich vom Faschismus unterscheidet, der flexibel und als
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Es geht mir bei den Einwänden gegen Traverso um mehr als um historiografische, Modell-politologische oder theoretische Korrektheit. Aus Traversos Konzeption resultieren nämlich Probleme für die Einschätzung der politischen Gegenwartssituation: Wenn ein historiografischer Ansatz den Unterschied zwischen dem Faschismus von circa 1920 und dem von circa 2020 so groß und schematisch darstellt, dann kann daraus leicht die Fehleinschätzung entstehen, dass heutige Rechtspolitiker*innen, die mit Autoritarismus und neoliberaler Entfesselung gleichermaßen flirten, zu jener dynamistischen Gewaltpolitik, die den historischen Faschismus kennzeichnet, keineswegs willens oder imstande wären. Dann kann es sein, dass mensch, so wie Traverso 2017, schreibt, Trump »droht nicht, seine Schwarzhemden (oder Braunhemden) auf Washington marschieren zu lassen […].«53 Genau das aber tat Trump Anfang 2021 (und hatte es 2020 konsistent mit seinen Grußadressen an die Proud Boys und andere militante patriots angedroht). Und wenn Traverso 2017 schreibt, »heute die Rückkehr der Frauen an den Herd zu verkünden«, das wäre als rechte politische Strategie unwahrscheinlich, weil hochgradig »anachronistisch«,54 dann ist dem entgegenzuhalten, dass hier zweifellos ein Anachronismus vorliegt – allerdings einer, den der US Supreme Court, die Rechts-Regierungen Polens und Ungarns, sowie BundesländerKoalitionen von ÖVP und FPÖ in Österreich gegenwärtig ansteuern: mit ihrer gesetzlich erzwungenen Mutterschaft (sukzessive Kriminalisierung der Abtreibung) und Propagierung patriarchaler Familiennormen.55 Das heißt: Rechte, antidemokratische Mobilisierungen von damals und von heute sind nicht kategorisch unterschieden, nicht radikal voneinander getrennt; schon gar nicht durch Neoliberalismus als eine geschichtsperspektivische Firewall. Es ist heute mehr an ›anachronistischer‹ Gewalt (etwa putschistische oder sexistische Gewalt) im Feld konkreter Möglichkeiten vorhanden als es eine Gesellschaftsbetrachtung, die Anachronien aus der Geschichte entfernt sehen will, anerkennt. Einiges von dem also, was Traverso erst am Postfaschismus feststellt, sieht Kracauer schon 1938 am Faschismus; und einiges, das an damaligen rechten
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Herrschaftssystem gegenüber Rechtssatzungen entkoppelt ist (in Arendts Terminologie: unterscheidet von einer mehr als ›nur‹ faschistischen, nämlich vielmehr totalitären, Organisation). Traverso: Die neuen Gesichter des Faschismus, S. 23. Ebd., S. 34. Überdies hält Traverso (ebd., S. 46) die AfD und Pegida für konservativ.
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Mobilisierungen diagnostiziert wurde, kehrt in heutigen wieder.56 Kontinua sieht wiederum der Gouvernementalitätsanalytiker Johann Chapoutot in seiner Studie zum Verwaltungsrecht in Nazi-Deutschland: Er sieht darin VorFormen des gegenwärtigen neoliberalen Managements, das flach hierarchisiert und Energien freisetzt, das motiviert und flexibilisiert.57 Allerdings ergibt sich nun folgendes Gegensatz-Szenario in Hinblick auf politische Geschichtsverständnisse: Wir haben auf der einen Seite den trotzkistischen Historiker
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Mehr dazu in Kap. 7.2. Kracauer erwähnt 1938 im Faschismus-Kontext auch das damals neue Phänomen Neoliberalismus: Er nennt den »Neoliberale[n]« Alexander Rüstow, eine Gründerfigur dieses Wirtschaftsordnungs-Denkens (TP, S. 109f), und zwar im Zusammenhang damit, wie massengesellschaftliche Krisen nach 1918 staatsdirigistische Eingriffe provozieren. Unter diesen Eingriffen ist der Faschismus eine sehr spezifische Form: ein »Machttyp«, der in seiner Nazi-Variante letztlich Staats-skeptisch, antiinstitutionell, mobilistisch-totalitär ist. – Faschismus und Staat, das ist eine Problembeziehung: Mussolinis Faschismus wurde seinem eigenen Bewegungsprinzip gewissermaßen untreu und geriet zu einem »Instrument« des italienischen Staates; so urteilt Silone (Der Fascismus, S. 172f). Er spricht 1934 von einer »Verstaatlichung« des Faschismus im Interesse des den Staatsapparat dominierenden Großkapitals. Dem gegenüber stuften die Nazis die Allmacht des Staates konsistent zugunsten der Allmacht der Partei bzw. Bewegung und ihres Organisationsgeflechts zurück: im Sinn polykratischer Herrschaft und der Propagierung einer Souveränität, die unmittelbar aus »Volk« und »Rasse«, nicht vermittelt durch den Staat, entspringen sollte. Zum Volk als »Urtatbestand« des totalen völkischen Staates, in Abgrenzung vom hypertrophen italienischfaschistischen Machtstaat, siehe Herlinde Pauer-Studer, Julian Fink (Hg.): Rechtfertigungen des Unrechts. Das Rechtsdenken im Nationalsozialismus in Originaltexten. Berlin 2014, insbes. das Textdokument des NS-Juristen Ernst Rudolf Huber. Zumal im Denken und Schreiben des – auch in Arendts Totalitarismustheorie oft zitierten – Nazi-Verwaltungsrechtlers Reinhard Höhn (und rund um ihn). Dass Höhn »nach 1945 zum Vordenker eines nicht autoritären Managements wurde, war angesichts seiner SS-Vergangenheit scheinbar paradox – nicht aber für jemanden, der mit dem […] Staat überhaupt brechen wollte und die Entscheidungsfreiheit der Funktionsträger […] forderte.« Johann Chapoutot: Gehorsam macht frei. Eine kurze Geschichte des Managements – von Hitler bis heute. [2020] Berlin 2021, S. 115. Weiters betont Chapoutot den Stellenwert der »Befreiung des Individuums und [der] Freisetzung seines Angriffsund Aktionspotenzials« im flexibilistisch-vitalistischen Nazi-Diskurs zum Thema Regieren/Führen; und er zitiert den Nazi-Juristen Wilhelm Stuckart mit seinem Votum für eine »›freier und elastisch arbeitende, regionale Selbstverwaltung‹ […] bei gleichzeitiger ›Ablehnung jedes verknöchernden Schemas‹«, sowie Höhns Überzeugung, »das Leben sei nichts anderes als Formbarkeit, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit« – samt dem wiederkehrenden Schlüsselterminus »Elastizität«. Ebd., S. 25, 95, 99. Zum Elastischen in politischer Hinsicht bei Kracauer siehe oben, Fußn. 39.
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Traverso, der in Sachen Faschismus auf Kosten der Vergangenheitserfassung einige markante, wenn auch schematische Gegenwarts-Perspektivierungen vorschlägt – etwa dass der Postfaschismus nicht an die Macht kommt, solange große Kapital-Agenturen sich durch die EU weit besser als durch ihn vertreten fühlen, oder dass Postfaschismus zum offenen Neofaschismus ausartet, wenn die Linke den antikapitalistischen Protest besser als er abdeckt.58 Und wir haben auf der anderen Seite den Foucault-orientierten Historiker Chapoutot, der eine markante Vergangenheitsdeutung auf Kosten der GegenwartsPerspektivierung vorlegt: Er spricht, eher vage, vom heutigen Management entfremdeter Arbeit, nicht aber von Politik.59 Meine zweite konzeptuelle Konsequenz aus Affinitäten von Faschismus und Neoliberalismus betrifft nun aber eben konkrete politische, nämlich bündnispolitische Fragen. Und zwar zum einen in Hinblick auf antifaschistische Allianzen, die weit über einen aktivistischen Antifa-Kern hinausgehen. Solche Allianzen stehen im Fokus von Masons How to Stop Fascism: als Bündnis der Linken mit Liberalen – und das sind heute Neoliberale.60 Masons Allianz-Votum hat einiges für sich. So etwa, dass er es zwar aus aktivistischen Erfahrungen heraus vorbringt, es aber – trotz einigem Pathos in manchen Formulierungen – im Wesentlichen nicht militanzheroisch anlegt; das heißt, Antifa ist hier nicht auf eine exklusive Sache für Vollzeit- und Hardcore-Militante verengt, sondern einladend zugeschnitten. Als Zusatz zu Masons Votum gilt es meines Erachtens aber zu bedenken, dass (Neo-)Liberale als Verbündete nicht nur eine seitens der Linken zu schluckende Krot’ darstellen (um es
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Traverso: Die neuen Gesichter des Faschismus, S. 17. 61. Chapoutot: Gehorsam macht frei, S. 142ff. Sofern nicht liberals im US-Sinn, also moderate Linke, gemeint sind. – Die Frage einer antifaschistischen Mitte-Links-Allianz stellt sich heute in Europa anders als zur Zeit von Kracauers Kritik an Strategiefehlern der marxistischen Parteien im Kampf gegen Hitler und Mussolini (siehe Kap. 2.2 und 2.3). Nicht zuletzt deshalb, weil es damals galt, sozialistische Parteien zur Öffnung gegenüber den Mittelschichten zu ermahnen, während heutige Sozialdemokratien – und Teile der (post-)kommunistischen Kleinparteien – auf die Mittelschichten abonniert sind. Diese, nämlich Angestellte, prekäre Intellektuelle, freiberuflich oder kleingewerblich Tätige, werden in ihren Interessen, Gefühlen und Weltanschauungen vielfach von Linksparteien vertreten. Das zahlenmäßig geschrumpfte Proletariat hingegen ist heute in großen Teilen migrantisch und nicht wahlberechtigt oder wahlabstinent, der Rest fühlt sich teils von rechten, teils von linken Parteien vertreten; letztere, sofern sozialdemokratisch, haben im Zug ihrer neoliberalen Umorientierung viel an Glaubwürdigkeit für Lohnabhängige verloren.
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unvegan zu sagen). Sondern: Der Neoliberalismus, sowie der formaldemokratische Rechtsstaat, auf dessen Rolle als antifaschistisches Instrument Mason ebenfalls setzt, stehen faschistischer Politik in einigen Punkten zumindest nicht ganz fern; das gilt für den Neoliberalismus als einen sozialstaatsfeindlichen Machttypus entfesselter Durchsetzungsfähigkeit; und es gilt für den europäischen Rechtsstaat als ein Dispositiv, das die EU als Zone relativen Reichtums abschottet und eilfertig Abschiebungen durchführt, wenn nicht NGOs und grenzregimekritische Parteien ihm humanere Prozeduren aufzwingen. Ergo müsste ein antifaschistisches Bündnis mit Neoliberalen darauf einwirken, dass diese sich ›von sich selbst‹ trennen, also von ihrem elitistischantidemokratischen Element; so im Fall konservativer und liberaler Parteien in Europa;61 oder im Fall der Democrats (ihres Partei-Establishments) in den USA. Dass der neoliberal übergriffige Kapitalismus dem Rassismus bzw. Faschismus nahesteht, wurde von einigen Seiten angedeutet. Etwa bei Jacques Rancière in demokratietheoretischer Sicht (das neoliberal-antidemokratische Verordnen von Konsens delegitimiert politische Differenz-Artikulationen zugunsten einzig einer rassistischen Artikulation von Differenz62 ); und bei Eva von Redecker im Zeichen einer Aktiv/Passiv-Unterscheidung: Faschismus quasi als Aktiv-Politik-Form einer Passiv-Politik der »Sachherrschaft« im entfesseltem Kapitalismus.63 Zum anderen steht aufgrund der Affinitäten zwischen Faschismus und Neoliberalismus die Möglichkeit von Allianzen zwischen der extremen Rechten und (vormals) konservativen Parteien verstärkt im Raum. Eine Dynamik 61
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Sofern wir ohnehin offen antidemokratisch auftretende Rechtsparteien wie die AfD oder Orbáns Fidesz nicht (fälschlich) für ›konservativ‹ halten. – Sich in antifaschistischen Konstellationen von manchem politisch-ideologischem ›Eigenbestand‹ trennen müssen, das gilt natürlich auch für die Linke, und zwar in Bezug auf linke Antisemitismen oder auch auf neuere Initiativen aus Sorge um Normalität (von wegen, die Linke solle sich mehr um »normale Leute«, weniger um LGBTQIA+s und Migrant*innen, kümmern). Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. [1995] Frankfurt a.M. 2002, S. 127ff. »Tatsächlich könnte man die Erderwärmung die ökologische Variante der Sachherrschaftskatastrophe nennen. Keine aktive Politik der Sachherrschaft wie der Faschismus, sondern eine passive Politik der Sachherrschaft qua Ressourcennutzung.« Eva von Redecker: Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. Frankfurt a.M. 2020, S. 41. – Diese Aktiv/Passiv-Unterscheidung erinnert an die von Paul Mason (siehe Kap. 3.2).
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in dieser Allianz ist, dass diese letzteren Parteien nach rechts rücken, indem sie etwa die rassistischen, sexistischen, antisemitischen und antimigrantischen Agenden nationalpopulistischer Parteien übernehmen – allerdings in gepflegterem bürgerlichem Tonfall. Natascha Strobl untersucht (u.a. mit Analogieverweisen auf die bürgerliche Rechte Weimar-Deutschlands) diese aktuelle Tendenz. Sie tut dies unter der Bezeichnung »radikalisierter Konservatismus«.64 Das ist allerdings ein misnomer, gerade im Sinn von Strobls Analyse. Denn: Die von ihr ins Auge gefassten bürgerlichen Parteien radikalisieren, vertiefen, ja primär nicht ihre konservative Politik und Ideologie; sondern sie agieren eskalierend, disruptiv und nihilistisch gerade gegenüber Einrichtungen und Traditionen, die mäßigend, in diesem Sinn ›bewahrend‹, agieren würden – mäßigend etwa gegenüber Kapitalherrschaft oder dem Ausmaß an Umweltvernichtung durch diese. Radikalisierter Konservativismus, das ist im Kontext einer Kritik an rechten Enthemmungen auch deshalb kein so glücklicher Ausdruck, weil er die Möglichkeit birgt, dass das Konzept der Radikalität noch schlechter angeschrieben wird als es das im allgemeinen antipolitischen Sprachgebrauch schon ist (siehe auch Kap. 7.3). Ungeachtet der Benennung des politischen Phänomens und sehr zurecht unterstreicht Strobl an der neuen bürgerlich-rechten Aggressivität die Rolle von »Zerstörung« durch »bewussten Regelbruch«: Dieser erzeuge den »Anschein eines Neuanfangs« – und bewirke faktisch, dass jegliches Gefühl dafür, dass es Regeln gibt, verlorengeht.65 Verloren geht ebenso der Sinn für Unterscheidungen von Wirklichem und Unwirklichem: Worauf der fabrizierte Nihilismus der enthemmten bürgerlichen Rechten abzielt, »ist mehr als Lüge – es ist Gegenrealität,« wie Strobl schreibt.66 Wenn die Autorin allerdings
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Natascha Strobl: Radikalisierter Konservatismus. Eine Analyse. Berlin 2021. Deshalb ist es auch, so Strobl, ein Irrglaube, wenn man annimmt, es genüge, die von einem Trump begangenen Übertretungen aufzuzeigen, um seine Attraktivität zu brechen. Ebd., S. 41ff, 45, 49. – Sebastian Kurz präsentierte sich und seine zur »Bewegung« umbenannte, weit rechts neuausgerichtete, vormals christlich-soziale Partei beim bombastischen Wiener Auftakt-Event am 23.9.2017 zu jenem Parlamentswahlkampf, der ihm erstmals zur Kanzlerschaft verhalf, nicht nur als Akteur der »Veränderung«, sondern auch dezidiert antikonservativ: Angesichts der »Chance, das alte System hinter uns zu lassen«, würden »die bewahrenden Kräfte in diesem Land alles versuchen, um den Menschen einzureden, dass Veränderung nicht möglich ist.« Mit Veränderung meinte Kurz durchwegs Enthemmung in Hinblick auf antimigrantische und gewinnsteuerschonende Politik. Ebd., S. 128.
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betont, diese Politik sei am Bespielen von Leidenschaften interessiert und keineswegs am »Lösen tatsächlicher Probleme«,67 dann greift diese ›solutionistische‹ Entgegensetzung zu kurz: Diese setzt ja voraus, dass ein konsensuell definierter Bestand an »tatsächlichen Problemen« existiert, die ohne Mehrdeutigkeit für alle gesellschaftlichen Gruppen und politischen Parteien als dieselben gegeben wären. Mobilisierungspolitik versus Tatsächliches, das ist nicht der relevante Gegensatz. Diese Beobachtung ist der Ausgangspunkt zu einer letzten Klärung des Nihilismus-Aspekts am Faschismus in Kracauers Sicht – nun im ›Dialog‹ mit Hannah Arendt.
4.4 Terror und seine Begrenzung – Ideen in Wirklichkeit (Kracauer und Arendt) In politischer Hinsicht fasst Kracauer weniger das »Lösen tatsächlicher Probleme« ins Auge als vielmehr das Verhältnis der Propaganda, also der politischen Mobilisierung und der emotionalisierenden Politik, zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Wirklichkeit ist mehr als Tatsächlichkeit. Es geht nicht um einen Gegensatz zwischen Propaganda und »tatsächlichen Problemen« (die ja eine außerpolitische Annahme wären), sondern um die Frage der Eingebundenheit von Ideen in politisierte gesellschaftliche Wirklichkeit. Und da zeigt sich ein spezifisch nihilistisches Verhältnis des Faschismus zu politischen Ideen – zu Ideen, die begeistern können. Der Reihe nach. Faschistische Propaganda will Ideen haben, sich nicht an sie binden. Sie will sich gegenüber Ideen, etwa einer Gleichheitsidee, nicht verpflichten: Abgesehen von einer Verpflichtung darauf, unternehmerisches Privateigentum aufrechtzuerhalten, so Kracauer, geht faschistische Propaganda »Engagements irgendwelchen Werten, Ideen, autonomen Inhalten gegenüber nicht ein« (TP, S. 53). Vielmehr will sie diese Ideen als frei verfügbare handhaben. So wie der Faschismus die Masse als ein formloses, also frei formbares, gesellschaftliches »Mischmasch« will, »unabhängig von den Interessen«, um die herum Klassen sich bilden (TP, S. 82, 105), so zielt er auch darauf ab, »die propagandistisch verwertbaren fascinierenden Ideen freizusetzen, um sie nach Belieben manipulieren zu können. Das heißt, diese Ideen müssen aus der Verkopplung mit gegnerischen Ideen befreit und vor allem von den Interessen losgelöst werden, in denen sie fest verwurzeln.« (TP, S. 36f) Kracauer schreibt »fascinierend« 67
Ebd., S. 111, 134.
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betont, diese Politik sei am Bespielen von Leidenschaften interessiert und keineswegs am »Lösen tatsächlicher Probleme«,67 dann greift diese ›solutionistische‹ Entgegensetzung zu kurz: Diese setzt ja voraus, dass ein konsensuell definierter Bestand an »tatsächlichen Problemen« existiert, die ohne Mehrdeutigkeit für alle gesellschaftlichen Gruppen und politischen Parteien als dieselben gegeben wären. Mobilisierungspolitik versus Tatsächliches, das ist nicht der relevante Gegensatz. Diese Beobachtung ist der Ausgangspunkt zu einer letzten Klärung des Nihilismus-Aspekts am Faschismus in Kracauers Sicht – nun im ›Dialog‹ mit Hannah Arendt.
4.4 Terror und seine Begrenzung – Ideen in Wirklichkeit (Kracauer und Arendt) In politischer Hinsicht fasst Kracauer weniger das »Lösen tatsächlicher Probleme« ins Auge als vielmehr das Verhältnis der Propaganda, also der politischen Mobilisierung und der emotionalisierenden Politik, zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Wirklichkeit ist mehr als Tatsächlichkeit. Es geht nicht um einen Gegensatz zwischen Propaganda und »tatsächlichen Problemen« (die ja eine außerpolitische Annahme wären), sondern um die Frage der Eingebundenheit von Ideen in politisierte gesellschaftliche Wirklichkeit. Und da zeigt sich ein spezifisch nihilistisches Verhältnis des Faschismus zu politischen Ideen – zu Ideen, die begeistern können. Der Reihe nach. Faschistische Propaganda will Ideen haben, sich nicht an sie binden. Sie will sich gegenüber Ideen, etwa einer Gleichheitsidee, nicht verpflichten: Abgesehen von einer Verpflichtung darauf, unternehmerisches Privateigentum aufrechtzuerhalten, so Kracauer, geht faschistische Propaganda »Engagements irgendwelchen Werten, Ideen, autonomen Inhalten gegenüber nicht ein« (TP, S. 53). Vielmehr will sie diese Ideen als frei verfügbare handhaben. So wie der Faschismus die Masse als ein formloses, also frei formbares, gesellschaftliches »Mischmasch« will, »unabhängig von den Interessen«, um die herum Klassen sich bilden (TP, S. 82, 105), so zielt er auch darauf ab, »die propagandistisch verwertbaren fascinierenden Ideen freizusetzen, um sie nach Belieben manipulieren zu können. Das heißt, diese Ideen müssen aus der Verkopplung mit gegnerischen Ideen befreit und vor allem von den Interessen losgelöst werden, in denen sie fest verwurzeln.« (TP, S. 36f) Kracauer schreibt »fascinierend« 67
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ähnlich wie bis in die 1930er Jahre den »Fascismus«, und er lässt damit fast ein Wortspiel im Voraus anklingen, das seit den 1970er Jahren mit einem Aufsatz von Susan Sontag zur Nazi-Ästhetik assoziiert ist: den fascinating fascism.68 Jedenfalls: Kracauer wendet sich gerade nicht gegen Ideen als solche, auch nicht gegen Faszination als solche. Was er verurteilt, ist vielmehr die beliebige Verwert- und Manipulierbarkeit von Ideen, die daraus resultiert, dass Ideen von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abgetrennt werden. Er verurteilt das Herauslösen von Ideen aus gesellschaftlichen Beziehungen, aus Interessenskonstellationen und Konflikten (explizit genannt: aus einer »Verkopplung« gegner*innenschaftlicher Art).69 Parallelen dazu zeigen sich in Arendts Totalitarismustheorie. Laut Arendt zeichnet den Nationalsozialismus (und den Stalinismus) als totalitäre Bewegung und Herrschaftsform Folgendes aus: Er organisiert nicht interessensbasierte Klassen, sondern Massen aus Einzelnen in ihrer Isolation, ihrer »spiritual and social homelessness«;70 er verfolgt keine causes, sondern strebt Erfolg als solchen an; weiters ermöglicht die totalitäre Formation den Massen (und zwingt sie auch dazu), sich vor der unberechenbaren Wirklichkeit in eine Fiktion von Konsistenz zurückzuziehen, was einer regelrechten »revolt of the 68
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Susan Sontag: »Fascinating Fascism«, The New York Review of Books, 6.2.1975. http s://www.nybooks.com/articles/1975/02/06/fascinating-fascism/ [8.2.2023]. Sontag erwähnt Kracauers fascinierenden Fascismus in diesem Text – der u.a. das Werk Leni Riefenstahls behandelt – nicht. (Wie auch? Totalitäre Propaganda blieb bis 2013 unpubliziert.) Aber da gibt es folgendes Kuriosum (in der an Kuriosa und Unterschlagungen reichen Kracauer-Publikationsgeschichte): Nichtsdestotrotz räumt Sontag in einer Folgeausgabe der New York Review of Books (6.3.1975) ein, sie habe ohne Absicht Kracauer plagiiert; sie sei nämlich darauf hingewiesen worden, dass sie einige Zeilen aus einer Riefenstahl-Spielfilm-Synopsis fast wörtlich aus From Caligari to Hitler übernommen habe; und zwar auf Basis älterer Notizen. (Im Weiteren mokiert sie sich über die »mimetic solemnity and unintended funniness«, sowie die »Teutonic sonorities« von Kracauers Synopsis.) Sontag: »Credit for Kracauer«. https://www.nybooks.com/articles/1975/03/0 6/credit-for-kracauer/ [8.2.2023]. Auch wenn wir vielleicht deleuzianische Kritiker*innen eines ›Wurzel-Denkens‹ und insgesamt auch gegenüber dem Anspruch einer Fundamentierung skeptisch eingestellt sind: Lassen wir uns nicht allzu sehr beirren von den Worten, die Kracauer hier verwendet – von Ideen, die in Interessen »fest verwurzeln«, und vom »Interessensfundament«. Denn damit ist bei Kracauer gemeint, dass Ideen in einem unaufkündbaren Zusammenhang stehen – und nicht, dass sie einen fundamentierenden Fest(wurzel)grund haben. Ein Echo von Georg Lukács »transzendentaler Obdachlosigkeit«, das auch bei Kracauer häufig ertönt.
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masses against ›realism‹« gleichkommt. Beschworen wird dabei die »logical consistency« von prinzipienhaften Ideen – Ideen im Sinn von herrschaftlichen Maximen und Großschemata; dies sei allerdings nicht mit Idealismus zu verwechseln.71 Bei Arendt, wie bei Kracauer, ist der Nazismus charakterisiert als ein nihilistischer Antirealismus in Gestalt von Massen-Organisation – wobei dem Moment der Ideen noch eine ›Hintertür‹ offenbleibt – und als ein Mobilismus, der ziellos und endlos ist.72 Was hingegen den Ansatz betrifft, den Nationalsozialismus als autoritär zu verstehen (etwa anhand der »authoritarian personality«), meldet Arendt Zweifel an, denn: Das Nazi-System sei totalitär, nicht autoritär; es ersetze Stufungen autoritärer Hierarchie durch ein eigenlogisch wucherndes Gestrüpp undurchschaubarer (Parallel-)Organisationen, und es schränke Freiheit nicht ein (wie ein autoritäres Regime), sondern schaffe Freiheit gänzlich ab.73 Dieser Totalisierungs-Gedanke ist bei Arendt wie auch bei Kracauer in folgender Argumentationsfigur entfaltet: Es kommt zu einer wesentlichen, qualitativen Ausweitung der Herrschaftsform – Ausweitung von lediglich »tyranny« (Arendt) bzw. »despotism« (Kracauer) zu eben totalitärer Herrschaft.74 Das Nihilistische daran fasst Kracauer insbesondere mittels der Kritik-Denkfigur, der zufolge die Wirklichkeit bei ihrer eigenen Vernichtung mithelfen muss. Konkret: Vor-totalitäre Wirklichkeitsbestandteile werden propagandistisch in die Perfektionierung der totalitären Abschaffung von Wirklichkeit eingespannt. Als Beispiele dafür nennt Kracauer alte Volkslieder, die, mit Nazi-Themen umgetextet, weiter gesungen werden, und republikanische Institutionen, die mit einer »contrary significance« beibehalten werden (CH,
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Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism. [1951/1967] London 2017, S. 403, 423, 458ff. Totalitäre Bewegungen akzeptieren keine »political goals«, sondern bewirken »swift and surprising changes in policy«; »[they] keep moving and set everything around them in motion.« Ebd., S. 400, 427, 534. Ebd., S. 517ff, 529. Von Redecker (Revolution für das Leben, S. 40f) deutet in ihren Arendt-Referenzen diesen Unterschied analog zu einer Aktiv/Passiv-Unterscheidung an: Die Atomisierungsund Isolations-Wüste der Tyrannei wird im Totalitarismus noch zusätzlich mobilisiert, bis hin zur »Verlassenheit«; und was bei Arendt Metapher sei, nämlich herrschaftlich bewirkte »fortschreitende Wüstenbildung«, das wird in Von Redeckers ökologischer Perspektive buchstäblich.
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S. 298; siehe auch Kap. 5.1).75 Mehrmals nennt er auch die Aneignung und Umarbeitung kommunistischer Politikformen – Revolutionspathos, MontageÄsthetik – durch die Nazis (z.B. NW, S. 289f). In Arendts wie auch Kracauers Totalitarismus-Konzeption kommt dem Terror zentrale Bedeutung zu. Beide sehen im Terror etwas, das die totalitäre Zerstörung eigenständiger Wirklichkeit bewirkt, somit auch die Zerstörung des Sinns für Wirklichkeit. Wobei klar ist: Der Sinn für die Unterscheidung von wirklich und unwirklich betrifft hier nicht vulgär-epistemologische Scheinprobleme nach Art von ›Wie weiß ich, dass mein wirkliches Leben nicht geträumt ist?‹. Sondern es geht um Wirklichkeit als gesellschaftliche, als ein Mit-Sein mit anderen in nie ganz berechenbaren Formen. Nun: Für Arendt bedeutet Terror die Gesetzwerdung des Gesetzlosen; zum Gesetz erhoben wird gerade eine dereguliert wütende Herrschaft – im Einklang mit einem unmenschlichen und außermenschlichen ›Grundgesetz‹; das heißt im Fall der Nazis: mit den ›Naturgesetzen‹ der »Rassen«-Biologie (und im Stalinismus: mit Verlaufsgesetzen der Geschichte). Das dereguliert Wütende, die unkalkulierbare Formlosigkeit der totalitären Herrschaft, das ist laut Arendt etwas zutiefst Geplantes, und der Terror fungiert als ein Ermöglicher, wie ein Schmiermittel, für den rasend mobilen Total-Nihilismus. Terror übernimmt also mit jene Macht-Transmissionsfunktion, die unter Herrschaftsbedingungen, die im engen Sinn autoritär sind, eine jeweilige Hierarchie-Kette erfüllt.76 Terror macht, dass trotz, vielmehr: gerade in der Formlosigkeit des Systems die Herrschaft flutscht. Dem ist Kracauers Sicht vergleichbar: In der totalitären Mobilisierung überschreitet der Terror seinen Charakter als bloßes Instrument von Herrschaft; Terror wird zur Sache selbst – zur politischen Sache der Propaganda selbst.77 Die terroristische Gewalt hat laut Kracauer die Aufgabe, »Angst zu 75
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Kracauer führt das nicht aus, aber die obszöne Nazi-Etikettierung von KZ-Insass*innen als »Schutzhäftlinge« wäre ein Beispiel dafür: Das demokratische Anliegen des Schutzes für gesellschaftliche Minderheiten (zumindest ihres unversehrten Lebens) vor der Macht der Mehrheit wird vom Nazi-Regime adaptiert und umgefälscht. Arendt (Origins of Totalitarianism, S. 526, 610f) schreibt von »planned shapelessness«. Und später: »Terror is lawfulness, if law is the law of the movement of some suprahuman force, Nature or History.« – »Terror is the realization of the law of movement; its chief aim is to make it possible for the force of nature or of history to race freely through mankind, unhindered by any spontaneous human action.« Die terroristische Gewalt faschistischer Organisationen richte sich systematisch und notorisch gegen deutlich Schwächere, schreibt Kracauer, und weiter: »Terrorakte sollen
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erzeugen«, und zwar nicht primär, um im autoritären Sinn einzuschränken, also Gegner*innen von etwas abzuhalten; vielmehr soll die durch Terror erzeugte Angst Verflüssigungen bewirken: »Chronische Angst entwurzelt«, sie »gründet einen in Hysterie übergehenden Zustand, in dem sich Sein und Schein, Lüge und Wahrheit, hoffnungslos vereinen.« – »Der hydraulische Druck, unter den sie [die Angst] die Massen setzt, soll Zusammenhänge verflüssigen, die als die festesten gelten; sein Zweck ist, die Ideen vom Interessensfundament abzulösen und derart eine Dynamisierung und effektvolle Manipulation zu ermöglichen.« (TP, S. 69) Zunächst: Wenn also den Nazis an Verflüssigung gelegen ist – ist das nicht womöglich ein ähnliches Anliegen wie das der Lockerung? Ähnelt das jener Lockerung der Massen, die in Kapitel 3.1 in Kracauers Sinn (konkret mit Walter Benjamin und Ruth Sonderegger) mit proletarischer Solidarität zusammengedacht wurde? Keineswegs: In diesem Theorie-Framework ist flüssig etwas recht anderes als locker. Die Flüssigkeit im Gesellschaftlichen, an der die Nazis erklärtermaßen arbeiten,78 hat als ihre Gegnerin die »Starrheit« von Bindungen, die zwischen den Massen und konkreten Ideen bestehen, wie Kracauer schreibt. Und: Die Verflüssigung als eine Verfügbar-Machung hat zur Gegnerin letztlich auch so etwas wie Lockerheit: Locker ist eher eigensinnig und bröckelig denn geschmeidig-flüssig; locker ist dezidiert nicht verfügbar.79 Lockerheit sperrt und spreizt sich – gegenüber dem Durchmarsch von Herrschaft. So etwa gegenüber jenem racing freely through mankind seitens der totalitären Grundprinzipien, von dem Arendt schreibt. Jedenfalls ist für Kracauer im Politik-Kontext, zumal in Konfrontation mit rechter Politik, »Verflüssigung« eher
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nicht den Mut erhärten, sondern die Macht, und diese muß stets Übermacht sein […].« Und: »Der Terror ist nicht nur ein Mittel der totalitären Propaganda, sondern selber Propaganda […].« (TP, S. 66, 74) Die Verflüssigung denkt sich Kracauer nicht aus; er hält sich ans Wording der Nazis, etwa des Nazi-Pädagogen Ernst Krieck, den er so zitiert: »›Masse muß flüssig werden, wenn sie gestaltet sein soll.‹« (TP, S. 37) Insofern zeichnet sich auch ab, was ohnedies selbstverständlich sein sollte: Es geht hier keinesfalls darum, Inanspruchnahmen von ›flüssig‹, ›fluid‹ etc. pauschal in ein schlechtes Licht zu rücken. Zweifellos gibt es sehr unterschiedliche Arten und Konnotationen von ›Flüssigkeit‹ und ›Verflüssigung‹: Jene, die Kracauer am Faschismus ausmacht, sind teilsynonym mit ›Reibungslosigkeit‹, wenn es ums Gefügig-Machen, Sich-dienstbarMachen geht. (Sie erinnern gar an ein Verständnis von liquidieren als nihilisieren, vernichten.) Hingegen ginge eine Sinngebung von ›flüssig‹ als ›nicht ohne weiteres greifbar‹ fast in die Gegenrichtung, und sie läge eher auf der Linie Kracauer’scher – und meiner – Positiv-Auffassungen.
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negativ besetzt und »Starrheit« eher positiv, im Sinn einer ausformulierten Positionierung. Das sperrt sich auch gegenüber einer heutigen neoliberal-flexibilistischen Orthodoxie, die in Politik und Wirtschaft grundsätzlich alles Starre mobilisieren und ständig ›Reformstau verflüssigen‹ will.80 Weiters sind in Kracauers Überlegungen zum Terror einmal mehr die politischen Ideen angesprochen: Diese Ideen sind es, die der faschistische Terror herauslöst, frei verfügbar macht; und zugleich zerstört Terror durch systematische Verängstigung massenweise Urteilskraft. Was aber steht nun dem Terror jeweils entgegen – gemäß der Faschismus/Totalitarismus- bzw. Politik-Konzeption bei Arendt und bei Kracauer? Bei beiden mündet die Auseinandersetzung mit der totalitären Mobilisierung und Wirklichkeitszerstörung 80
Kracauer vergleicht die Totalität der NS-Herrschaft etwa auch mit einem alles penetrierenden Fluidum: »Die nationalsozialistischen Instanzen sind also nirgends zu umgehen, erfüllen vielmehr das ganze soziale Leben mit ihrem Fluidum.« SK: »[Das neue ›Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit‹]« [in frz. Übers. in L’Europe Nouvelle 21.4.1934] 5.4, S. 509. Umso seltsamer mutet es an, dass Miguel Vedda bei Kracauer eine Wertschätzung dessen, was »fluid« ist, entgegen dem, was »ossified« ist, zu erkennen glaubt. Seltsam auch, dass Vedda Totalitäre Propaganda als ein nützliches Tool zur Kritik am politischen Spektakel von hetzerischen Politik-Hazardeuren wie Trump oder Bolsonaro betrachtet (ob wir für Spektakel-Kritik Kracauer brauchen, sei mal dahingestellt), zugleich aber in Kracauer einen »adventurer« sieht. Miguel Vedda: Siegfried Kracauer, or The Allegories of Improvisation. Cham 2021, S. 106, 108. – Näher bei einer skeptischen Kritik der Verflüssigung ist Zygmunt Baumans Soziologie (in Flüchtige Moderne. Frankfurt a.M. 2003) einer liquid modernity, einer deregulierten, individualisierten Moderne, die flüssig und flüchtig ist (konzeptuell anschlussfähig an Theoreme zu Neoliberalisierung und Kontrollgesellschaft). Weit entfernt davon, das Flüssige mit Sanftheit oder Befreiung kurzzuschließen, weist Bauman auch auf spezifische Gewaltformen dieser modernen Gesellschaftsverfasstheit hin: Regimes hochgerüsteter Sicherheit, Kriegsführung als Spektakel einer Bestrafung (aus der Luft), sowie – hier liegt der Konnex zum Faschismus/Nazismus-Thema – ethnische Säuberung als ein genozidales »Ersatzopfer« von Sündenböcken zwecks symbolischer Neugründung/Bekräftigung von Gesellschaften. Interessanter Weise treffen die Kriterien, mit denen Bauman diese Genozide vom Nazi-Holocaust unterscheidet – den er der früheren staatszentrierten, »soliden« Moderne zuordnet –, gerade auf den Nazi-Holocaust zu; dies, wenn wir Kracauers umwegig-deutender und Arendts totalitarismustheoretischer Charakterisierung folgen (siehe Kap. 6.4): Die Massenmorde der Nazis sind eben nicht nur »Experten oder speziell beauftragten Abteilungen und Einheiten überlassen« (Baumans Formulierung, ebd., S. 230), sondern sie sind (wenn auch nicht von exzessivrituellem Charakter, so doch) nachgerade ›beteiligend‹ und jedenfalls in Alltage eingebettet – in Arbeitsalltage, ins Alltagswissen von Millionen keineswegs ›fanatisierter‹ Bürger*innen.
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durch Terror argumentativ in ein Gegenteil von Terror – nämlich in eine Positivkonzeption von Freiheit. Arendt gelangt am Ende (bzw. im Zusatz zu) ihrer Totalitarismustheorie zur menschlichen Freiheit als dem, wodurch das Rasen des Terrors gehemmt wird.81 Offen gehalten wird diese Freiheit durch Konturen: Erhalten wird Freiheit im Arendt’schen Verständnis durch Gesetze, die als Einhegungen einen Spielraum schaffen: Spielraum gerade nicht für ein Leben, das durch Regelungen ruhiggestellt und berechenbar wäre; vielmehr dienen die fences und das hedging-in durch Gesetze gerade der Verstetigung des Neu-Beginnens (»something entirely new and unpredictable«) als spezifisch menschlicher Lebensweise.82 Schon gar nicht – das ist eh klar, aber doch wichtig festzuhalten – sind die Arendt’schen Zäune zu verwechseln mit jenen gewalttätig abschottenden Zäunen, die heutige Rechtsparteien an Staats- und Reichtumszonen-Grenzen fordern. In dieser Konzeption Arendts – wie gesagt: verfasst als, und angelegt als, Gegenkonzept zu einer totalitär regierten Existenz – kommt ein Moment von Realismus zum Tragen; und zwar insofern, als für sie die Gesetze im Politischen dem entsprechen, was das Gedächtnis im Historischen ist: Gesetz und Gedächtnis bedeuten das Festhalten der Prä-Existenz einer geteilten, gemeinsamen Welt, mithin einer Wirklichkeit, in der existiert und gehandelt, in der Mensch-Sein als Freiheit gelebt werden kann. Dem entgegen steht totalitäre Vereinheitlichung und Berechenbar-Machung von Massenverhalten: eine zwanghafte »escape from reality«.83 In der Konfrontation mit totalitärer Herrschaftspolitik des Faschismus verläuft Kracauers Denkweg in manchem parallel dazu. Auch bei Kracauer hat Wirklichkeit eine Zeit-Markierung, die ›Vorgängigkeit‹ anzeigt, allerdings
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»Total terror, the essence of totalitarian government«, als eine beschleunigte Bewegung von Herrschaft, »can be slowed down and is slowed down almost inevitably by the freedom of man«. Arendt: Origins of Totalitarianism, S. 612. »With each new birth, a new beginning is born into the world, a new world has potentially come into being. […] The laws hedge in each new beginning and at the same time assure its freedom of movement, the potentiality of something entirely new and unpredictable; the boundaries of positive laws are for the political existence of man what memory is for his historical existence: they guarantee the pre-existence of a common world […].« – »To abolish the fences of laws between men – as tyranny does – means to take away man’s liberties and destroy freedom as a living political reality; for the space between men as it is hedged in by laws, is the living space of freedom.« Ebd., S. 611. Ebd., S. 460.
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nicht vermittels des Gedächtnisses, sondern über Geschichte erschlossen – Geschichte als Zeitform des Umstands, dass Wirklichkeit von contingencies and new beginnings geprägt ist (siehe Kap. 1.3). Wir kommen gleich dorthin. Diese Wirklichkeit hat – um nun damit einzusteigen – auch bei Kracauer einen zutiefst politischen Charakter, den er dezidiert im Zeichen von Begrenzungen anspricht; dies in einer Entsprechung zu (aber unabhängig von und früher als) Arendts fences. Diese Wirklichkeit als Begrenzung wird virulent in Kracauers Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus und seinen Vor-Formen. Konkret mit einer institutionalisierten Militarismus- und Drill-Tradition, und zwar anhand eines Spielfilms. An dem herrschaftskritischen, insofern atypischen deutschen Film Mädchen in Uniform (siehe Kap. 2.3) hebt Kracauer 1931 nicht zuletzt dies lobend hervor: Die Inszenierung des Films, genauer, seine kritische Kennzeichnung des institutionellen Milieus (Internat), in dem er spielt, »überschreitet […] nirgends die von der Wirklichkeit gezogenen Grenzen«.84 Was ist damit gemeint? Das wird deutlich, wenn wir uns weitere Kracauer’sche Bezugnahmen auf Wirklichkeit als Grenze ansehen. Drei Jahre nach seinem Lob für diesen Film, der antidemokratische Vergesellschaftung in Deutschland realistisch zeigt, resümiert er, nun bereits im Pariser Exil, den ideologischen Weg der deutschen mittelständischen Jugend(-Bewegungen); einen Weg, der in den Nationalsozialismus bzw. in Unterwerfung unter diesen einmündet. Was für Alternativen hätte diese Jugend, bzw. hätte sie gehabt, ehe die Nazi-Herrschaft sie sich einverleibte? Ausgehend davon, dass die deutsche Mittelschichtjugend vielfach von idealistischem Pathos inspiriert war, spekuliert Kracauer: Anstatt einem abstrakten Idealismus zu huldigen, durch den diese Jugend »immer wieder aus der Endlichkeit heraus in die Unendlichkeit verwiesen wird«, müsste diese doch vielmehr »die von der Realität gesetzten Schranken respektieren«.85 Diese Formulie84 85
SK: »Revolte im Mädchenstift. Ein guter deutscher Film!« [FZ 1.12.1931] 6.2, S. 562. SK: »Europäische Jugend« [in frz. Übers. in L’Europe Nouvelle 11.8.1934] 5.4, S. 523. Es handelt sich hier um den letzten von Kracauers Texten für L’Europe Nouvelle 1933/34 in der Pariser Emigration. – Hier zeigt sich einmal mehr, wie unkonventionell, wie im Besonderen unromantisch Kracauers Wirklichkeits- bzw. Realismusbegriff ist: Die Wirklichkeit zieht Grenzen, und Überschreitung ist hier – wie auch in Sachen Gesellschaft und Politik – keineswegs von vornherein positiv besetzt. Dass diese Position unkonventionell ist, illustriert auch einer der vielen Druckfehler in Kracauers Werk: In seiner Besprechung von Hans Falladas Bauern, Bonzen und Bomben würdigt er 1931 die »Tendenz« dieses Romans »zum genauen, umgrenzten Aufweis der Wirklichkeit.« Das Lektorat der FZ macht verschlimmbessernd aus dem »umgrenzten« einen »unbegrenzten
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rung ist Teil eines Realismus im Zeichen der Begrenzung, und diese wiederum ist allerdings antitotalitär und antiherrschaftlich angelegt: Kracauer predigt hier ja nicht eine Demutshaltung gegenüber der Realität, er fordert nicht, ›Grenzen des Gegebenen‹ einzuhalten. Sondern: Realismus in diesem Sinn bedeutet, wahrzunehmen, dass letztlich nichts gegeben ist, weshalb – und darauf kommt es an – Entscheidungen getroffen werden müssen, wie Kracauer schreibt. Nichts ist gegeben, Entscheidung ist nötig: Das heißt definitiv nicht, dass ›nichts wirklich‹ ist; vielmehr ist alles – allzu viel – wirklich; und dies eben so, dass das Wirkliche keine Garantie bietet. Kracauer sagt das folgendermaßen: Um zu einer politisch wirksamen Kraft zu werden, müsste die deutsche Jugend »die von der Realität gesetzten Schranken respektieren, sich zu konkreten Tatsachen konkret verhalten und lauter echte Entscheidungen treffen.«86 Echte Entscheidungen, das heißt: solche, die nicht im Vorhinein festgelegt sind. (Wären sie im Vorhinein festgelegt, wären sie keine Entscheidungen, sondern bestenfalls korrekt gezogene Folgerungen.) Was hat das mit Faschismus zu tun – und, im Gegensatz zu ihm, mit politischem Realismus in Kracauers und Arendts Perspektiven? Was anstünde, wäre das Ziehen von Eingrenzungen, die demokratisch sind, die Freiheit, Spontaneität, Unvorhergesehenes (»Entscheidungen«) ermöglichen, nicht ersticken. Solche diffizilen Grenzen wären entscheidungsbasiert und könnten entscheidende Differenzen einräumen. Jedoch: Die Mittelschicht-Jugend, im weiteren: die deutsche Mittelschicht insgesamt, hängt, wie Kracauer diagnostiziert, Idealen an, die im Unendlichen angesiedelt, von der Wirklichkeit gänzlich losgelöst sind. Insofern sind sie unfähig zum Treffen von Entscheidungen und zu konkretem Verhalten. Jugend und Mittelschicht als soziale Träger des Nationalsozialismus finden zu einer anderen Problemlösung (wie Kracauer es
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Aufweis der Wirklichkeit«. SK: »Politik in der Kleinstadt« [FZ 20.12.1931] 5.3, S. 744. Die Anekdote verdeutlicht: Dass die Wirklichkeit als wahrgenommene (›aufgewiesene‹) begrenzt und nicht einfach im romantischen Sinn unendlich ist, das ist spezifisch für Kracauers Realismus. Dies gilt es auch insofern zu betonen, als eine heute teils vom ökologischen Denken inspirierte, aber mitunter neoromantisch geratende Rezeption Kracauers Realismus fehlinterpretiert, nämlich als Konzept einer Erfahrung, die unendlich ist, radikal sinnlich, immersiv etc. SK: »Europäische Jugend«, S. 523. Es geht dabei nicht um Dezisionismus: Das Entscheidungen treffende Subjekt ist für Kracauer kein fixfertig als souverän vorausgesetztes; vielmehr formt es sich – findet eine Form, indem es sich begrenzt – durchs Entscheiden »im Interesse der Selbsterhaltung«, wie er schreibt (ebd.). (Bzw. sollte es dies tun, anstatt sich Hitler zu unterwerfen.)
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nennt): Die »Jugend (und mit ihr das vom Idealismus geprägte Volk)«, die »sich nicht begrenzen kann«, primär gemeint die deutsche Mittelschicht, sie tendiert dazu, Grenzen nur (dafür aber bereitwillig) dann zu akzeptieren, wenn sie auf Herrschaft basieren. In Kracauers Worten 1934: »Wie sollte diese idealistische Jugend je eine Form finden, wenn ihr die Form nicht autoritativ aufgenötigt würde?«87 Dieser Soziotypus ist sozusagen so unbegrenzt idealistisch, dass er sich der herrschenden Macht unterwirft. Diese Spaltung – ähnlich dem »Verlangen nach Rebellion und Autorität zugleich«, das Kracauer der deutschen Mittelschicht am Beispiel von Jugendbewegungen attestiert88 – tritt zutage im Kontext von psychodynamisch/ideologisch verwickelten Beziehungen zwischen Wirklichkeits- und Ideen-Orientierung, Realismus und Idealismus. Schematisch gesagt, sieht Kracauer 1934 die Unterwerfung unter wirkliche Herrschaft als den Preis, den die deutsche Mittelschicht(sjugend) für eine ganz im Ideenhimmel verortete Freiheit entrichtet.89 (Und, so könnte man ergänzen, für all die unmenschlichen ›Freiheiten‹, vielmehr: Exzesse, die den durch die Nazi-Herrschaft Mobilisierten in Form von Pogromen und Eroberungskriegen offenstehen.) Der politische Bezug zu Ideen im Faschismus-Kontext, zumal im Zeichen der Fragen von Entscheidung und Begrenzung: Das lässt sich noch stärker konturieren in einem Dialog zwischen Kracauer und Arendt, einem fiktiven Dialog zwischen beider politischem Denken, den Johannes von Moltke skizziert hat. Den Wirklichkeitsbegriff, der bei Kracauer politisch aufgeladen ist,90 betrachtet Moltke mit Augenmerk auf Krisen des politischen Handelns 87 88 89
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Ebd., S. 523. SK: »Die deutschen Bevölkerungsschichten und der Nationalsozialismus«, S. 442. »Einmal erspart sie [die deutsche Jugend, DR] sich durch die Unterordnung unter ein äußeres Gebot die unmittelbare Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, der ihr Idealismus nicht standzuhalten vermag. Zum anderen erkauft sie sich damit, daß sie Subordination übt, jene Freiheit der Phantasie und des Gefühls, die derselbe Idealismus beansprucht.« – Die Jugend »löst das Problem, das ihr der Idealismus stellt, praktisch dadurch, dass sie sich bei allen die Realität betreffenden Fragen der Autorität beugt, und sich überall dort zur Freiheit bekennt, wo es nicht auf die Realität ankommt. Beide Male überspringt sie diese.« SK: »Europäische Jugend«, S. 523f. Johannes von Moltke: The Curious Humanist. Siegfried Kracauer in America. Oakland 2016, S. 146: »Kracauer stages a struggle between authoritarianism and realism, or conversely, between expressionism and democracy« (1947 im Caligari-Buch). Und: »realism becomes the name for the emancipation from authoritarian fixations« (beim Kracauer der 1950er Jahre). Es fällt auf, dass Moltke (ebd., S. 60, 96f, 146) im Faschismusund Autoritarismus-Kontext mitunter von »illiberal politics« oder »illiberal cinema«
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und aus der Warte von Arendts starkem Handlungsbegriff. Wenn Kracauer im Rückblick auf die deutsche Gesellschaft vor Hitler einen »state of paralysis« ausmacht, eine »inability to act« aufgrund von »indecision«, dann bezieht sich das, so Moltke, auf die Unentschlossenheit und Tatenlosigkeit der deutschen Linken gegenüber rechten Bewegungen. Akzentuiert via Arendt, geht das noch weiter: Das ist ein Handlungskonzept, verkappt in einem Nichthandlungskonzept. Es beinhaltet das politische Problem des EntscheidungenTreffens; Moltke spricht von einer »inability to decide and, more importantly, to act – to have and to maintain the courage of one’s own convictions«.91 Da schwingt ein Echo von Kracauers Faschismus-als-Nihilismus-Diagnose mit, von Kracauers Kritik an einer Festlegung auf nichts: »Cynicism, resignation, disillusionment: these tendencies point to a mentality disinclined to commit itself in any direction […and to a] reluctance to ask questions, to take sides,« schreibt er (CH, S. 165f).92 Unfähigkeit zum Commitment und zum öffentlichen Handeln unter Bedingungen von Unvorhersehbarkeit bzw. Kontingenz: Ebendiese Nicht-Haltung des Nicht-Handelns tritt am atomisierten Massen-Individuum zutage, wie es Arendt am Zusammenbruch von Klassenzugehörigkeiten und wie es Kracauer an der middle class als einer non-class festmacht. Was nun den Nationalsozialismus als Bewegung der middle class masses betrifft, zumal das politische Personal der Nazis, so ist diese Unfähigkeit zum öffentlichen Handeln nicht im Typus des ›Fanatikers‹ exemplarisch verkörpert, sondern im paradigmatischen Spießer-Typus eines Heinrich Himmler: Gerade aus der kleinbürgerlichen Sorge des Privatmannes bzw. Familienvaters um den ›Wohlstand der Seinen‹ heraus, somit auch aus Sorge um seine Karriere, plant er Massenverbrechen bzw. wirkt er an deren Ausführung mit.93 Das heißt, dieser Soziotypus verkörpert einen zynisch-privatistischen Nihilismus; er ist zu Gräueltaten fähig, weil er unfähig ist zu handeln. Entscheidungsfragen stellen sich. Das Entscheidende ist zunächst die Begrenzung. Das lässt sich mit der Engführung von Kracauer und Arendt ver-
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spricht, womit er den von Viktor Orbàn für Ungarn gewählten – ansonsten 2016 noch wenig gängigen – Ausdruck illiberaler Staat paraphrasiert; so rückt er Kracauers Positionierungen näher an Kontexte heutiger rechter Politik heran. Ebd., S. 128f. Kracauer bezieht sich hier auf ideologische Antriebe der Kultur der »Neuen Sachlichkeit« Mitte der 1920er Jahre. Moltke: The Curious Humanist, S. 128ff; Arendt: Origins of Totalitarianism, S. 443f. Wir kommen auf den massenmordenden family man in Kap. 6.4 zurück.
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deutlichen, und zwar in Erwiderung auf eine Infragestellung seitens Moltke. Moltke problematisiert die Art, wie in Kracauers Rückblick auf das Deutschland der Zwischenkriegszeit, den er 1947 in seinem Caligari-Buch anstellt, Ambivalenzen verlorengehen: In diesem Rückblick stellt Kracauer einiges als rein negativ dar, das er zuvor als mehrdeutig, als zwiespältig, zum Teil auch als verheißungsvoll, gezeichnet hatte. Es scheint, als gehe Kracauer 1947 von der Ambivalenz-Diagnose an den Raum- und Traumbildern der Gesellschaft, die ihm in den 1920er Jahren so wichtig war, zu einem rein negativen rückblickenden Urteil über.94 Dazu stellt Moltke Fragen. Warum, so Moltkes Beispiel, beschreibt Kracauer das wirre Jahrmarkttreiben in dem stilbildenden deutschen Film Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) als ein Chaos, das ein Gegenstück zu einem tyrannischen Regime darstellt? Im Plot dieses Horrorfilms ist das die konspirative Herrschaft eines dämonischen Hypnotiseurs und einer psychiatrischen Anstalt; in der deutschen Geschichte ist es der Ruf nach Herrschaftsverschärfung, den das Chaos – vergleichbar einem heutigen flooding the zone with shit (siehe oben) – hervorruft. Die Darstellung des Jahrmarkts in dem Caligari-Film liest Kracauer nun als einen ideologischen Auftakt zur Nicht-Politik der Mittelschichten in den 1920er Jahren: »The fair is not freedom, but anarchy entailing chaos.« Und er charakterisiert diese Darstellung mit Attributen, wie er sie dem »Aufruhr der Mittelschichten« zuschreibt: Sie sei Boheme-haft (»Bohemian«) und stehe für »naive idealism rather than true insight« (CH, S. 73f) Warum diese Vereindeutigung? – so fragt Moltke: Warum gilt turbulentes Jahrmarkts-Chaos dem Kracauer von 1947 als bloßes Gegenstück zur Tyrannei, zur Herrschaft? Warum gilt ihm dieses Chaos nicht mehr als Potenzial von Freiheit? Nicht mehr als vieldeutig wie noch das chaotische »Schneegestöber« der im Alltag omnipräsenten fotografischen Bilder, nicht mehr »zweideutig« wie die »Abstraktheit« des »Massenornaments« in seinen klassischen Texten aus den 1920er Jahren?95 Warum, so Moltke, verwies das »ambivalent play of revolt and submission, authority and madness« in dem Caligari-Film für den Kracauer von 1947 nicht länger auf ein »Vabanque-Spiel« gegen die Herr-
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Zur Reduktion seines Massenornament-Begriffs von einer halb-utopischen, ambivalenten Form auf eine reine ›Nazi-Form‹ siehe Kap. 3.1. Gemeint sind der »Photographie«-Aufsatz und der »Ornament der Masse«-Aufsatz, beide von 1927.
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schaft?96 Es ist, so mutmaßt Moltke über Kracauers Reduktion des Jahrmarkts auf Chaos, als müsse Kracauer gerade deshalb so sehr betonen, dass der Jahrmarkt nicht Freiheit bedeutet, weil er sehr wohl weiß, dass er Freiheit bedeuten, könnte (»precisely because he knows it could«).97 Nun, einmal abgesehen von der Mutmaßung, Kracauer verkneife sich da nachgerade ein Nachgeben gegenüber dem Lockruf der Jahrmarkts-Freiheit: Der Antrieb dafür, dass Kracauer das abstrakt-dynamische oder chaotische Treiben deutscher Massen im Rückblick nach 1945 so anders, soviel negativer sieht, liegt eben darin, dass das »Vabanque-Spiel«, die Wette auf die Ordnungs-erodierenden Kräfte des Jahrmarkts und Schneegestöbers (medien-)kultureller Modernisierung, verlorengegangen ist. »With the rise of Hitler, […] the wager was lost.«98 Verlorengegangen ist damit die Offenheit der Frage, ob die modernisierte bürgerliche Gesellschafts-Passage den Faschismus oder etwas anderes, vielleicht auch schlicht gar nichts, ausbrüten werde. Im Sinn einer Kracauer-Arendt-Engführung wäre dies allerdings weiter auszuformulieren – entlang der Begrenzung, des Zauns (fence): Das verwirrende öffentliche Treiben ist deshalb nur als Chaos lesbar, das eine Herrschaftsverschärfung ankündigt, weil der Zaun in Gestalt der egalitaristischen Revolution wegfällt; was wegfällt, ist die greifbare Möglichkeit einer Massenmobilisierung, die durch ein Gerechtigkeits-Ziel definiert, begrenzt ist, und die ihrerseits den Herrschaftsexzess des elitistischen Bürgertums, den Aufruhr des mittelständischen Bürgertums und deren faschistische Organisierung begrenzen könnte.99 Weil eine starke, konkrete emanzipatorische Option wegfällt, die den Ambivalenz-Spielraum erst eröffnen, Möglichkeiten einräumen, würde – denn: Ambivalenz gibt es nicht einfach so, sondern nur als eingerichtete, eingehegte. Und auch Kontingenz will wahrgenommen sein. – Was wegfällt, ist das politische Neu-Beginnen, das die Masse
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Moltke paraphrasiert Kracauers geschichtstheoretisches Krisen-Zuspitzungs-Denkbild von 1927: »Die Wendung zur Photographie ist das Vabanque-Spiel der Geschichte.« SK: »Die Photographie« [FZ 29.10.1927] OdM, S. 37. Moltke: The Curious Humanist, S. 137, 143. Ebd., S. 138. Etwas in dieser Art formuliert Kracauer 1929, durchaus konziliant im Ton, gegenüber den »Unternehmern« als Deutschlands »Schicht in Macht«: Die von dieser getragen politische Ordnung sei letztlich eine »aufgeklärte Despotie«; sie beruhe einzig auf »Gewinnstreben« und »Freude an der ökonomischen Macht«; deren bisweilige »soziale Gesinnung« hingegen sei bloß eine »Dreingabe«, eine »Konzession an die Arbeitnehmer«, »die der sozialistischen Strömung Zugeständnisse macht.« (A, S. 106, 108, 109)
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lockert; das sie nicht zur Identität verpanzert, sie auch nicht in entgrenzter Endlos-Mobilisierung verflüssigt (siehe oben). Gesetzt, gewettet (von wegen »Vabanque-Spiel«) hat Kracauer auf Eigentätigkeiten in den Massen; und weniger auf Karnevalistisches oder Heterotopien, in deren Licht der Jahrmarkt als ein ›Anderes-der-Ordnung‹ erstrahlen würde. Spitz gesagt: Was bei Arendt das Gesetz als Zaun ist, ist bei Kracauer die organisierte Gegenmacht der Nicht-Besitzenden; sie reicht von Gewerkschaften und Umverteilungssteuern bis zur Revolutionsdrohung. Dieses Gesetz wird von der faschistischen Gewalt gebrochen. Wir kommen zum Schluss. Hannah Arendts Denkfigur des new beginning ist eine Gundlegung menschlicher Existenz von ontologischem Charakter. Gewonnen allerdings zunächst (wie oben dargelegt) aus der Eingrenzung des totalitären Terrors: aus dessen Eingrenzung durch die Freiheit als politischer Realisierungsform jenes Neubeginns, der in der menschlichen Natalität liegt.100 Bei Kracauer wiederum hat die Faschismustheorie einen späten Nachhall in seiner posthumen Geschichtsphilosophie, die Geschichte kategorisch als »realm of contingencies, of new beginnings« auffasst (H, S. 31). Bei Kracauer heißt Geschichte erstens new beginning – und zweitens, dass Ideen und causes nicht ganz verloren gehen, dass ideelle Zielsetzungen gerade als lost causes nachwirken, wieder ins Spiel kommen (siehe Kap. 7.1 und 7.3). Arendts aus der Auseinandersetzung mit Hitlers und Stalins Herrschaft gewonnener Satz »[E]very end in history necessarily contains a new beginning« gilt, mit Kracauer gelesen, auch in umgekehrter Richtung, was das Enthalten-Sein anbelangt: Every new beginning in history necessarily contains an end – wobei end als ein begrenzendes Ziel zu verstehen ist: als ein kontingentes, umstrittenes Ziel, kein FixablaufsTelos. Und schon gar nicht ein Endpunkt im Sinn dessen, was Kracauer als »das
100 So endet der ebenso Zusatz-hafte wie Existenz-Grund-sätzliche Schlussteil von Arendts Origins of Totalitarianism (S. 629): »every end in history necessarily contains a new beginning; […| This beginning is guaranteed by each new birth; it is indeed every man.« Meine Arendt-Lektüre folgt in Teilen Oliver Marchart: Neu beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung. Wien 2005, darin etwa S. 98: Arendts Modell totaler Herrschaft ist, als ein »Negativkorrelat«, »die Folie, vor der ihre spätere Theorie des Handelns, der Fähigkeit zum Handeln und damit zum Neubeginn, erst positive Konturen entwickeln konnte.«
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abschlußhafte Denken« kritisiert.101 Wenn schon Ende, dann votiert Kracauer, schön paradox, für ein verendlosigtes Ende: ein »End without end«.102 Hier kommen die Ideen zum Tragen, genauer: die Beziehung des Faschismus zu Ideen und die Beziehung von Ideen zur Wirklichkeit. Was Arendt Ideologie nennt, was sie synonym »the logic of an idea« nennt, nämlich die Grundannahme totalitärer Herrschaft, Geschichte lasse sich durch logische Ableitung aus einer Ideenmaxime im Voraus berechnen (aus der nazistischen ›Idee‹ der ›Rasse‹, aus der stalinistischen der Geschichtsteleologie) – Ideologie in diesem Arendt’schen Sinn hat bei Kracauer das Pendant der Ratio bzw. Rationalität, die zugleich entfesselt und verkümmert, zum Effizienzkalkül verkürzt, ist. In Entgegensetzung zu dieser herrschaftlichen Rationalität verfolgt Kracauer in Ansätzen das philosophische Unterfangen, die Vernunft als sich begrenzende konzeptuell zu retten: die an und in die Welt gebundene, ihre Bedingtheit wahrnehmende Vernunft. Darin mündet 1931 Kracauers kritisch-soziologische Auseinandersetzung mit dem geradeaus antirationalen »Aufruhr der Mittelschichten«, der ultimativ zu Hitler führt: Die Forderung nach einer vernünftigen Selbstbesinnung der Vernunft, die Kracauer da stellt, nimmt Motive der Vernunftkritik in der Dialektik der Aufklärung vorweg.103 Aber da steht mehr auf dem Spiel als solch ein Selbstbezug rationalen Denkens; nämlich ein Wirklichkeitsbezug der Vernunft und vernünftiger Ideen. Diese Frage beschäftigt Arendt im Totalitarismus-Kontext, und zwar anhand 101
SK: Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat. [unpubl. 1925] Frankfurt a.M. 1979, S. 134. Das Denksystem herrschaftlicher Rationalität ist insofern »abschlußhaft«, als es beansprucht, »aus seinem konstitutiven Prinzip zur Totalität, zu Ergebnissen vor[zu]stoßen«, also »von dem Anfang her das Ende bestimmen zu können« (ebd., S. 72). 102 So lautet ein Abschnitt-Titel in: SK: »Tentative Outline of a Book on Film Aesthetics« [8.9.1949] in: Siegfried Kracauer – Erwin Panofsky Briefwechsel 1941–1966. Berlin 1996, S. 90. 103 »Die entfesselte ratio […] ist so wenig Vernunft, daß sie vielmehr, einem Naturdämon gleich, das Vernünftige übermannt. Und gerade die Machtlosigkeit der Vernunft erlaubt ihr, heute so ungezügelt zu walten. Sie, die blinde Ratio, gibt der Profitgier ihre Transaktionen ein; […].« – »Jenes ungebundene, vom Kreatürlichen abgelöste Denken, das sich in der Nachkriegswelt auf den Gebieten der Wirtschaft, Politik usw. ungestraft über alle Schranken hinwegsetzen durfte, hat viel mehr Affinität zur Barbarei als zur Vernunft; der liberalen nicht ausgenommen. Es ist, ich wiederhole schon Gesagtes, der Exponent blinder Naturtriebe […]. Nur die Vernunft kann die maßlose Ratio begrenzen; die Vernunft, zu deren Merkmalen auch dieses gehört, daß sie ihrer Bedingtheit eingedenk ist.« SK: »Aufruhr der Mittelschichten.«, S. 87, 104.
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der totalitären Maxime, man müsse einer Idee logisch in ihre letzte Konsequenz folgen – bis in die Verlassenheit als ein entwirklichtes Ohne-Welt-Sein und OhneAndere-Sein, das die konsequent organisierte Herrschaft einrichtet.104 Was bei Arendt die binnenkonsistent solipsistische Ideen-Logik totalitärer Bewegungen ist, sind bei Kracauer die von Wirklichkeiten losgelösten Ideen; im Faschismus-Kontext sind das die (oben genannten) »faszinierenden« Ideen, auf die die Propaganda dieser Bewegungen und Regimes aus ist. Die Auseinandersetzung mit Faschismus verbindet sich da mit der Frage der Beziehung zwischen Wirklichkeit und Ideen, als einer politisch relevanten Frage. Bei Kracauer reicht diese Frage von seiner frühen Soziologie politischer Gruppierungen als »Ideenträger«105 bis zu den historischen Ideen in seinem geschichtstheoretischen Spätwerk.106 Das »ungebundene, vom Kreatürlichen abgelöste Denken« der entfesselten Rationalität107 findet seine ultimative politische Ausformung in faschistischer Propaganda, die Ideen aus der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit herauslöst, aus ihrer Bezogenheit auf Andere, auch aus gegnerschaftlichen Konstellationen.108 Diese Herauslösung aus der Wirklichkeit ist der Einstieg in die verhängnisvolle Pervertierung emanzipatorischer 104 Arendt: Origins of Totalitarianism, S. 617, 619, 627. 105 In »Die Gruppe als Ideenträger« ([Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 49, 3, 1922] OdM) untersucht er 1922, wie politische Ideen mit den sie »tragenden« Gruppierungen verbunden sind; ohne dass politische Ideen auf diese Gruppen reduziert werden könnten, und ohne dass politische Gruppen (ihre Organisierung, Fraktionierung und Wandlung) auf das Ideelle ihrer Politik reduzierbar wären. 106 Historical ideas tauchen laut Kracauer an der Grenze zwischen Geschichte und Philosophie auf, als singuläre, nicht schematisierbare Fügungen zwischen dem Universellen einer Idee und dem Partikularen einer historischen Situation in ihrer Materialität. Als Beispiele dafür nennt er die neuzeitliche Idee des Individuums und die Marx’sche BasisÜberbau-Theorie (H, S. 97, 99ff, 151). Bei letzterer liegt sein Akzent nicht auf dem Determinismus – quasi: Basis bestimmt Überbau –, sondern gerade auf der Ungleichzeitigkeit, auf der Unruhe zwischen der Ökonomie und ihren Klassen einerseits und der Politik, Kultur, Geisteswelt anderseits. – Weiterführend zur paradoxen Beziehung zwischen Allgemeinem und Partikularem beim späten Kracauer siehe: Robnik: »Side by side als wirkliche Gegner: Zu politischen Einsätzen im Film-Denken von Kracauers History« in: Robnik, Amàlia Kerekes, Katalin Teller (Hg.): Film als Loch in der Wand. Kino und Geschichte bei Siegfried Kracauer. Wien, Berlin 2013. 107 SK: »Aufruhr der Mittelschichten«, S. 104. 108 Im Wortlaut: Faschistische Propaganda zielt darauf ab, dass »diese Ideen aus der Verkopplung mit gegnerischen Ideen befreit« und dadurch manipulierbar werden (TP, S. 36).
4. Ideologie: Flexibler Faschismus als totalitärer Nihilismus
vernünftiger Ideen durch den Faschismus (eigene bringt er nicht hervor): Gleichheit gerät zur mörderisch vereinheitlichten »Volksgemeinschaft«, Freiheit zur Selbstrealisierung des »Volkes« in Harmonie mit dem »Führer«Willen, Solidarität der Nicht-Besitzenden zum antisemitischen Ressentiment der zwanghaft Arbeitsamen gegen bestimmte Kapitalfraktionen. Ideen-Entkopplung als Ideen-Vernichtung: Die Verabsolutierung der Ideen läuft hinaus auf ihre Nihilisierung als vernünftige Ziele, die politische Bewegungen in einem Geflecht sozialer Situierungen und Beziehungen orientieren können. In diesem Sinn ist Faschismus das Nichts (»gar nichts«). Allerdings hält Kracauer daran fest, dass es in Gesellschaft und Politik Ideen braucht. Und mit der Einbindung von Ideen in die Wirklichkeit ist nicht so etwas wie ›Mäßigung‹ von Ideen gemeint, schon gar nicht im Sinn einer Phobie gegen Radikalität.109 Kracauers Untersuchung des nihilistischen Elements am Faschismus ist verknüpft mit einer Wahrnehmung ideenorientierter Politik in der Wirklichkeit der Geschichte; mithin mit der Wahrnehmung dessen, dass Geschichte Kontingenz bedeutet – dies eben nicht als ›blinder Zufall‹, sondern als Bestreitung von Kontinua des Normalablaufs (von Herrschaft und Ausbeutung) durch neue, unvorhergesehene kollektive Akteur*innen. Es geht nicht zuletzt um die Wahrnehmung von Revolution (siehe auch Kap. 3.2) – und um die Kritik ihrer Vernachlässigung oder ihres Heruntermachens in herrschaftlichen Geschichtsbildern. Das zeigt sich denn auch in Kracauers Auseinandersetzung mit der Geschichte der deutschen Faschisierung. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg weist er auf die Nihilisierung von politischen Ideen bzw. von causes, wie er sie in seinen New Yorker Schriften vielfach nennt, hin. Nicht nur in From Caligari to Hitler;110 dort allerdings umfassend, anhand von Kino. Seine Ideolo-
109 Die bei Kracauer implizit in den Raum gestellte gebundene Idee ist nicht eine gemäßigte im Unterschied zu einer radikalen Idee; Radikalität ist für Kracauer – wie auch für Arendt – kein Problem. (Zur Radikalität siehe Kap. 7.3.) Eine gebundene Idee ist auch nicht eine auf gesellschaftliche Interessenspositionen reduzierbare Idee. Es geht da weder um Maß-Einhaltung, etwa nach ›Mitte‹-Maßstäben, noch darum, Ideen zu reduzieren, sie zurückzuführen, etwa auf ein Realitäts-Fundament. Sondern es geht um Bindung und Bedingung der Ideen im Sinn ihrer kontingenten Wirklichkeit. (Wirklichkeit ist weder Granit-Grund noch Immersions-Ozean, sondern ein unaufkündbares Zusammen von Verschiedenem.) 110 1948 bespricht er eine historiografische Studie, die auf den Faschisierungsprozess des deutschen Geisteslebens zurückblickt: Frederic Lilges The Abuse of Learning biete, so sein Vorwurf, eine bloße »history of ideas«; diese lasse das »social climate« der betref-
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giekritik des antidemokratischen Nihilismus, den die Nazis so erfolgreich politisch bündelten, richtet sich da etwa auf groß produzierte deutsche Historienfilme, die in der Französischen Revolution spielen; zumal auf die zynisch-nihilistische Geschichtsauffassung dieser Erfolgsproduktionen. Filme wie Danton (D 1921)111 geben, so Kracauer, Geschichte als das Reich sinnloser Zufälligkeit zu verstehen: »They characterized history as meaningless. History, they seemed to say, is an arena reserved for blind and ferocious instincts […] forever frustrating our hopes for freedom and happiness.« (CH, S. 52f) Diese Filme degradierten um 1920 die Revolution, die Französische von 1789ff und damit implizit auch die soeben erst abgewürgte deutsche von 1918ff, zu einem »questionable adventure«; und am revolutionären Geschehen hielten sie vorwiegend »images of utter destruction« fest, vermittelten dadurch ein Chaos, das nach hartem Durchgreifen als Gegenmittel ruft. Eben dadurch erwies sich der »nihilistic outlook« dieser Filme als Symptom wie auch als Spielfeld für die starken »antirevolutionary, if not antidemocratic tendencies« in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Diese filmischen Ausprägungen einer Ideologie der Verachtung der Massen und der Moralisierung von Politik unterstellten, dass »the masses are as despicable as their leaders«. Und sie diffamierten »not only bad rulers but also good revolutionary causes.« (CH, S. 51, 53) Auf Ideen und (good revolutionary) causes, sowie auf deren zeitweiliges – nicht gänzliches – Verschwinden aus der postfaschistischen Geschichte kommen wir in Kapitel 7 zurück.
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fenden »ideological developments« außer Acht – konkret, dass in den Mittelschichten demokratische Traditionen fehlten und dass in Deutschland 1918 eine Revolution ausgeblieben war. SK: »The Teutonic Mind« [New Republic 23.2.1948] AW, S. 183. Zu Kracauers früher Einschätzung, Danton bringe das Volk, den demos, zwiespältig – zwischen Faszination und Verächtlichkeit – zur Erscheinung, siehe das Ende von Kap. 3.3.
5. Unvollständigkeit einrichten: Kracauer’sches Nichts als Rest und Lücke in faschistischer Fülle und Totalisierung
Bürgerliche Gesellschaft im Übergang: Siegfried Kracauer vergleicht sie 1930 vielsagend mit einer Berliner Kaufhauspassage, die modernisiert wird; diese werde »später einmal wer weiß was ausbrüten – vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts.«1 Faschismus oder auch gar nichts: Auf ein Banner gedruckt – dabei womöglich das Wort »auch« weglassend –, läse sich das wie eine politische Losung; allerdings eine faschistische: »Faschismus oder gar nichts!« (analog zu »Freiheit oder Tod!« etc.) In diesem Kapitel geht es aber in die Gegenrichtung: Es geht um genau »gar nichts« – um eine Affirmation des Nichts in Entgegensetzung zu faschistischen Machtansprüchen. Es geht um Kracauer’sche – und vergleichend um andere – konzeptuelle Bespielungen von Nichts mit Faschismus-Bezug: und zwar nun nicht im Sinn des »oder auch gar nichts« als eines Kontingenz-Platzhalters in der Geschichte bzw. in der Politik wie in den Kapiteln 1 und 2, sondern um eine Wahrnehmung des Nichts als Rest und Lücke. Eine Wahrnehmung von Unvollständigkeit, auch von nicht-gegenwärtigen Menschen und Dingen, Ansätze einer politischen Inanspruchnahmen von Schwäche – in Entgegensetzung zu Totalitätsansprüchen faschistischer Art, die Ansprüche auf Vollständigkeit und Allmacht sind.2
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SK: »Abschied von der Lindenpassage« [FZ 21.12.1930] OdM, S. 332. Kracauer spricht im Kontext der Nazi-Ideologie von der »Haltung des kleinbürgerlichen Philisters, der die Stärke vergöttert, weil er anders seine Unterlegenheit nicht kompensieren kann, und der mit der Faust auf den Tisch haut, weil ihm ›all diese Finessen‹ schlicht mißfallen.« SK: »Eine intellektuelle Anpassung an den Hitlerismus« [Buchbesprechung von Oswald Spenglers Jahre der Entscheidung; in frz. Übers. in L’Europe Nouvelle 25.11.1933] 5.4, S. 484.
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5.1 Sammlung um ein Nichts versus nationalsozialistisches Alles Eine Wahrnehmung des Nichts als Rest und Lücke bei Kracauer, mit Kracauer, ist dezidiert nicht nihilistisch. Nihilistisch ist vielmehr die Entfesselung von Gewalt und Mobilität im Faschismus, insbesondere im nationalsozialistischen (siehe Kap. 4.1). Dem »Blitzkrieg«, der die Nazi-Politik militärisch fortsetzt, eignet laut Kracauer eine »eternal restlessness« (NW, S. 287); diese zwanghafte Rastlosigkeit, die hochdestruktiv ist, lässt sich auch als eine Umsetzungsform des Anspruchs auf Restlosigkeit lesen: Gewalt der Auslöschung. Ein Pathos des Restlosen findet sich in der Nazi-Propaganda; wörtlich bei Hitler.3 Diese Propaganda beschwört völkische Total-Präsenz, Vollständigkeit und Reinheit bis zum Massenmord. Kracauer nannte seine umfassendste Studie zur faschistischen Politik Totalitäre Propaganda. Auch wenn in dieser 1938 fertiggestellten Studie und ihren Entwürfen kursorische Kurzverweise auf Stalins Sowjetherrschaft auftauchen, haben wir es dabei keineswegs mit einem Verständnis von Totalitarismus als einem Dachbegriff zu tun, der Faschismus/Nazismus und Stalinismus zusammenfassen, vergleichen oder analog setzen soll. Vielmehr verwendet Kracauer, der noch 1932 das drohende Nazi-Regime in Deutschland mit dem Etikett »autoritärer Staat« versieht, nun, 1938, die Bezeichnung »totalitär«, und zwar vor allem aus folgendem Grund: Die Regimes von Mussolini und mehr noch Hitler sind, über das autoritäre Durchregieren und das diktatorische Moment hinaus, insofern totalitär, als sie eine Herrschaft ausüben, die alldurchdringend und Energien freisetzend ist (wie in Kap. 4 mit Kracauer dargelegt).4 Die Nazis mobilisieren und appropriieren auch noch außerherrschaftliche oder gar gegenherrschaftliche Kräfte zum Zweck der Perfektionierung ihrer Herr3 4
So in Hitlers Abschlussrede zum NSDAP-Parteitag 1934 (zit.n. dem Film Triumph des Willens): »Wir können glücklich sein, zu wissen, dass diese Zukunft restlos uns gehört!« Von der »Tendenz« zum »autoritären Staat« schreibt Kracauer 1932 anhand einer FilmImportbeschränkung, die als Schutzverordnung für als deutsch klassifizierte Kinoproduktionen fungiert: Regungen einer nationalistischen, zur Zensur neigenden Kulturpolitik. SK: »Analyse einer Verordnung. Zur Neufassung der Filmkontingent-Bestimmung« [FZ 22.7.1932] 6.3, S. 88. – Bezeichnender Weise hatte Adorno in seiner eigenmächtigen Kurzfassung von Kracauers Studie, die deren Autor Die totalitäre Propaganda. Ein politischer Traktat nennen wollte, diesen Titel auf »Zur Theorie der autoritären Propaganda« geändert (TP, S. 223, 266; siehe Kap. 1.3): die Rückgängigmachung einer politiktheoretischen Differenzierung – vom Totalitären zurück zum Autoritären.
5. Unvollständigkeit einrichten: Kracauer’sches Nichts als Rest und Lücke
schaft: Diese Diagnose tritt in Kracauers New Yorker Exil-Schriften Mitte der 1940er Jahre hervor, die einen pessimistischen Blick bzw. Rückblick auf Hitlers Aufstieg und Herrschaft werfen. Eingliederung von Gegenkräften in die eigene Machtordnung: Eine totalitäre Dialektik dieser Art sieht Kracauer etwa in Gestalt der groß produzierten deutschen Historienspielfilme der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg vorweggenommen. Zu diesen Filmen vermerkt er, dass sie die Massen als politische Subjekte der Geschichte und ihre revolutionären Antriebe (»good revolutionary causes«) diffamieren (siehe auch das Ende von Kap. 4.4), und dass sie zu diesem Zweck insgesamt Folgendes betreiben: »seize upon history for the sole purpose of removing it thoroughly from the field of vision« (CH, S. 52f). Geschichte wird ausgestellt, um sie unkenntlich zu machen. In ähnlicher Weise attestiert Kracauer 1942 den deutschen Kriegspropagandafilmen, dass sie manche Elemente von filmischem Wirklichkeitssinn gerade dazu einsetzen, dass sie jegliche Wahrnehmung einer eigenständigen Wirklichkeit zerstören; dies wiederum sei exemplarisch für Logiken der Nazi-Herrschaft insgesamt: »Since the Nazis aimed at totality, they could not be content with simply superseding this reality – the only reality deserving the name – by institutions of their own. If they had done so, the image of reality would not have been destroyed but merely banished; it might have continued to work in the sub-conscious mind, imperiling the principle of absolute leadership. To attain their aim, the Nazi rulers had to outdo those obsolete despots who suppressed freedom without annihilating its memory. These modern rulers knew that it is not sufficient to impose upon the people a ›new order‹ and let the old ideas escape. […] They tried to sterilize the mind. And at the same time they pressed the mind into their service, mobilizing its abilities and emotions to such an extent that there remained no place and no will for intellectual heresy. Proceeding ruthlessly, they not only managed to prevent reality from growing again, but seized upon components of this reality to stage the pseudo-reality of the totalitarian system.« (NW, S. 298f) Als Beispiele für die vom Nazismus erfassten und adaptierten Bestandteile einer vortotalitären Wirklichkeit nennt Kracauer in dieser Studie von 1942 alte Volkslieder und republikanische Institutionen, die die Nazis appropriiert und umfunktioniert hätten. Wohl auch unter dem frischen Eindruck der Durchschlagskraft der deutschen Kriegsmaschinerie stellt er hier etwas als vollzogen, quasi als gelungen dar, das er vier Jahre zuvor, 1938 in der Pariser Studie zur Totalitären Propaganda, noch als einen Krisenfall für die totalitäre Herr-
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schaft des deutschen und des italienischen Faschismus betrachtet hatte: nämlich eine totalitäre Mobilisierung und Einverleibung der ganzen Gesellschaft, mitsamt ihrer widerstrebenden Elemente. 1938, kurz vor dem von Deutschland begonnenen Krieg, hatte Kracauer in einer beinah hoffnungsvollen Perspektive im Kern des faschistischen Total-Machtanspruchs ein »unlösbares Dilemma« geortet: »Die Diktaturen erheben den Anspruch auf absolute Macht, dessen Durchsetzung eben ihre Macht in Frage stellte.« Und zwar so: »[D]a der Machtwille […] einer nihilistischen Gesinnung erwächst, muß er sich bei seiner Realisierung in Antinomien verstricken. Er strebt nach totaler Herrschaft und repräsentiert das Nichts: Die Konsequenz ist, daß er mit dem von ihm erzeugten Totalitätsanspruch selber in Widerspruch gerät. Im Interesse der Macht als solcher« müssen nämlich Faschismus und Nationalsozialismus die »geistige Spontanität« unterdrücken und gleichermaßen nachgerade entfesseln. (TP, S. 147; Kracauer schreibt von einer »Freigabe« der Spontaneität) Die Hoffnung, dass »[a]uf allen Gebieten geistiger Spontaneität der totalitären Diktatur ihr eigener Imperialismus in die Quere [kommt]«, und dass ihr »Nihilismus ad absurdum geführt [wird], wenn er sich in die Welt hineinbegibt« (TP, S. 147), wenn nämlich der Faschismus zum imperialistischen Krieg in die Welt hinauszieht – diese Hoffnung auf ein Scheitern der faschistischen Entfesselung von Produktivkräften (und Destruktivkräften) sieht sich Anfang der 1940er Jahre zeitweise widerlegt. Denn: Die spektakulären Erfolge deutscher »Blitzkriege« zeigen deutlich, wie gut das Nazi-Regime auf die Produktivkräfte, auf die Initiative und kreative Fantasie der Massen – wenn auch zum Zweck der Zerstörung – zuzugreifen vermag.5 Kracauer setzt 1938 Hoffnung darauf, dass an der faschistischen Herrschaft, gerade weil sie sich zu totalisieren trachtet, innere Widersprüche zutage treten werden. Was die (Un-)Fähigkeit dieser Herrschaft zur Entfesselung von Energien betrifft, wird diese Hoffnung enttäuscht. Etwas anders liegt
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Vgl. dazu den Gedanken, das Sowjetregime sei genau deshalb nicht totalitär gewesen (sondern ›nur‹ eine bürokratische Diktatur), weil es unterworfene Bevölkerungen eher in Abstumpfung, Dienst nach Vorschrift und innere Emigration trieb als sich ihrer Produktivkräfte und kreativen Impulse zu bemächtigen, in: Michael Hardt, Antonio Negri: Empire. Cambridge, London 2000, S. 278f. Totalisierung ist in Empire zum Teil gleichgesetzt mit dem Konzept einer »reellen Subsumtion« produktiver Subjektivitäten unter das industrialistisch-kapitalistische Verwertungsregime; und das gelang, so Hardt & Negri, dem postfordistischen Kapitalismus viel besser als dem Sowjetregime. Und mit Kracauer gesprochen, gelang dies auch dem Faschismus zeitweilig allzu gut.
5. Unvollständigkeit einrichten: Kracauer’sches Nichts als Rest und Lücke
der Fall dort, wo Kracauers Analyse 1938 das Moment gleichsam eines soziopolitischen Rests, eines Rests gegenüber dem faschistischen Alles starkmacht. Er gibt das Fast-Nichts als eine potenzielle Gegenkraft zu verstehen, wenn auch implizit und übrigens mit einer Formulierung, die an das »Faschismus oder auch gar nichts« im Lindenpassage-Aufsatz erinnert: »Die nationalsozialistische Propaganda beansprucht aber die faschistische Totalität. Entweder sie erreicht die totale Mobilisierung der Massen, oder sie erreicht überhaupt nichts.« Der Nazismus will und kann also keinen Rest dulden, keinen Rückstand bei der mobilisierenden Durchdringung der Gesellschaft: Bliebe ein Rest, wäre das riskant, meint Kracauer; selbst »nur die Möglichkeit freier Meinungsbildung« wäre »lebensgefährlich« für Hitlers Regime (TP, S. 47f). Umso riskanter wird in Nazi-Deutschland freies öffentliches Agieren, sei es auch nur im Ansatz (ganz zu schweigen von offenem Widerstand). Im Hintergrund dieser Gedanken zu Krisen und Selbstwidersprüchen der Totalität von Herrschaft steht, dass Kracauer hier einerseits ein Verständnis von Totalisierung ins Spiel bringt, das mit auf seine frühe Georg LukácsRezeption zurückgeht. Er versteht generell Totalität als etwas notwendig Problematisches, Krisenhaftes, bei dem unweigerlich Heterogenität wirksam wird. Diese seine Auffassung der Bildung von Totalitäten, Ganzheiten, ähnelt weniger einem monolithischen Totalitarismus-Konzept als einer philosophischen Konzeption, wie sie Gilles Deleuze vertritt: einem Begriff des Ganzen als das Offene bzw. als das Außen.6 Es geht dabei um das Ganze als etwas, das in seiner Totalisierung und wegen dieser Totalisierung von seiner Öffnung und seinem Außen heimgesucht wird; eine verganzheitlichende Schließung, die sich Prozessen oder Vielheiten auferlegt, wird unweigerlich wieder geöffnet bzw. von innen heraus gespalten. So ergeht es eben auch der faschistischen Totalität, wie Kracauer sie darstellt. Zugleich versteht Kracauer das Nichts in Gestalt des Rests vielfach als positiv (und definitiv in Opposition zu Politiken und Ideologien, in denen ein Nichts das Resultat von Vernichtung ist). Positiv versteht er das Nichts etwa im Zusammenhang mit der modernen, prekären Wirklichkeitswahrnehmung, die Film und Fotografie einrichten; diese vermitteln Massenpublika die Kontingenz, somit auch die Veränderbarkeit, der sozialen Realität, indem sie Öffentlichkeiten mit einer Art von Nichtigkeit
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So wie Kracauers Theoretisieren vielfach am Leitfaden des Kinos als eines Schauplatzes von Einsicht in Massenwirklichkeiten erfolgt, so prägt auch Deleuze diese Auffassung von Ganzheit im Rahmen seiner Film-Philosophie. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. [1985] Frankfurt a.M. 1991, S. 233.
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im Herzen ihres Betriebs konfrontieren, einer Nichtigkeit, die allerdings in dieser Vermittlung gerade nicht als irrelevant abgetan oder aber als schädlich gebrandmarkt wird.7 Vielmehr erscheint das Nichts nachgerade als Inbegriff oder Charakteristikum eines Wir, das sich versammelt: Ein Zusammen im Zeichen des Nichts, das deutet Kracauer in einer paradoxalen Formulierung zur Fotografie als Massenphänomen – Erscheinungsweise der Massen – an. Nämlich: »Wir sind in nichts enthalten, und die Photographie sammelt Fragmente um ein Nichts.«8 Das heißt: In den omnipräsenten Zeitschriften- und Albumfotos, die Alltage fragmentieren und Körper in ihrer gänzlich äußerlichen (quasi seelenlosen) Materialität herausstellen, als eine Erscheinung aus unwillkürlichen, nunmehr eingefrorenen Posituren, Fotochemie und gemustertem Papier, darin könnte ein gesellschaftliches Wir sich als etwas sehen – empfinden und erkennen –, das in und um nichts/Nichts versammelt ist: in nichts eingefasst (»enthalten«). Kracauer deutet dies auch in einer ebenfalls paradoxalen Formulierung zur Masse an: Die Masse ist unvollständig, wenn in ihr »die notwendigen Lücken fehlen«. Es braucht die Lücke: Was keine Lücke hat, ist unvollständig (also erst recht lückenhaft).9 Kracauers Gedanken zur Lücke und zur Leere, in Affinität zum Nichts und Nichtigen, verbinden sich mit seinen häufigen Positionierungen als Teil der
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1923 lobt Kracauer etwa den deutschen »Sensationsfilm« (im heutigen Sinn: Actionfilm) Die närrische Wette des Lord Aldini: Dieser Film sei »so kinomäßig«, weil er »sich um ein reines Nichts dreht, das nun zu einem sehr spannenden und sehr unwahrscheinlichen Etwas aufgebauscht wird. An dem Beispiel dieses Glückes ließe sich recht gut die noch ungeschriebene Metaphysik des Films entwickeln. Er zeigt nämlich, daß echtes Kinospiel die Aufgabe hat, durch Übersteigerung der Unwirklichkeit unseres Lebens seine Scheinhaftigkeit zu ironisieren und derart auf die wahre Wirklichkeit hinzudeuten. […] Er [enthüllt] die Nichtigkeit einer Welt, die sich um einer Nichtigkeit willen in Bewegung setzen läßt und das Gelächter über diesen vorher entgifteten Ernst heraufbeschwört. SK: »Wetter und Retter« [FZ 16.12.1923] 6.1., S. 43. SK: »Die Photographie« [FZ 29.10.1927] OdM, S. 32. SK: »Gepflegte Zerstreuung. Eine grundsätzliche Erwägung« [FZ 4.8.1931] 6.2, S. 529. Kracauer schreibt dies 1931 über deutsche Renommierfilme, denen er ankreidet, dass sie zu kultiviert daherkommen (»viel zu soignierte Mache«). Er nennt diese groß produzierten, oft viel Komparserie ausstellenden Filme »eine massive Masse«, die eben der Lücken bedürften. Seine wortspielhaft (durch Alliteration) markierte Charakterisierung von Filmen als massive Masse ist durchaus auf die gesellschaftliche Masse in Kracauers Sinn übertragbar – quasi zwischen seinem zweideutigen Ornament der Masse und der »›massierte[n]‹ Masse« (hallo, Wortspiel!) seiner Propagandastudie (TP, S. 97; siehe Kap. 3.1).
5. Unvollständigkeit einrichten: Kracauer’sches Nichts als Rest und Lücke
Mitte. Ein Kapitel für sich… Entscheidend daran ist, dass er Mitte zwar in einem gesellschaftlichen und politischen Sinn verwendet, aber ohne all die hochideologischen Konnotationen von Ausgewogenheit, ›gesunder‹ Äquidistanz etc., wie sie der Mitte im liberalen Konsens-Diskurs zukommen. So untersucht Kracauer ausgiebig die Mittelschichten: Deren Wirklichkeit als Klassengebilde besteht, wie er hervorhebt, gerade darin, dass sie erstens in ihrem KlasseSein nicht zuhause sind (bzw. »in nichts enthalten« sind), und dass sie, mehr noch, hartnäckig verleugnen, dass sie Teil einer von Klassenverhältnissen geprägten Gesellschaft sind (siehe Kap. 3.2). Für Kracauer aber gilt es, die umfassenden Konsequenzen von Klassenspaltung und von kapitalistischer Rationalisierung in ihrer Wirklichkeit anzuerkennen, sie nicht als einen bloß punktuellen Defekt abzutun oder zu leugnen. Dafür steht etwa sein RaumDenkbild von den »Straßen zur Mitte«, die »begangen werden [müssen], denn ihre Leere ist heute wirklich.«10 Und vor diesem Hintergrund ist auch sein frühes programmatisches »Bekenntnis zur Mitte« zu verstehen: An dieser Mitte, die er 1921 mit der Demokratie als Machtform assoziiert, zählt nicht nur ihr Abstand zu Radikalismen links wie rechts – ein Abstand, der schon bald einer dezidierten Links-Tendenz von Kracauers Schriften weichen wird. Sondern es zählt an dieser Mitte auch ihre Leere im Sinn einer Nicht-Erfülltheit: Sie ist nicht erfüllt von Pathos als psychischer Triebkraft; vielmehr zählt an der Mitte im Kracauer’schen Verständnis eine seelische Unerfülltheit und Ungeborgenheit, die es wahrzunehmen, nicht zu verwerfen gilt.11 10 11
Schlusssatz von: SK: »Analyse eines Stadtplans« [FZ-Druckfahne 1926] OdM, S. 17. Wer sich, so Kracauer 1920, den »Linksradikalen« oder den »Rechtsradikalen« anschließt, »ist seelisch gleichsam geborgen. Ungehemmt durch irgendwelche Rücksichtnahmen, darf er sich einem Ideal hingeben, das seinem ganzen Wesen Horizont schenkt […].« Im Gegensatz dazu hebt Kracauer an der Demokratie bzw. an einer »Partei der Mitte« etwas als eine potenzielle Stärke hervor, das ihr von radikaler Seite stets nur als ein Defekt vorgehalten werde, nämlich dass diese Politik nicht imstande ist, aus »Prinzipien« »die äußersten Konsequenzen zu ziehen.« SK: »Das Bekenntnis zur Mitte« [FZ 2.6.1920] 5.1, S. 70. (Demokratie ist der Zentralbegriff, Pendant zu seiner Betonung der Mitte, in Kracauers nächstem politischen Grundsatz-Text in der Frankfurter Zeitung »Autorität und Individualismus« [FZ 15.2.1921].) – Dass er ein Seelisch-nicht-geborgenSein positiv auflädt, ist ein früher Fall der häufigen Echos von Lukács »transzendentaler Obdachlosigkeit« in Kracauers Schriften bis in die 1960er Jahre. Kracauers Kritik an einer Politik, die Prinzipien bis zu ihrer äußersten Konsequenz verfolgt, hat wiederum (wohl ohne dass ›Beeinflussung‹ vorliegt) ein Echo in Arendts Kritik einer totalitären Axiomatik, die in Isolation von der Welt und von den Vielen, allein mit einer umfassenden Basis-Idee, dieses All-Ausgangs-Axiom zu Ende denkt, logisch schlussfolgernd
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5.2 Dünn, Bloch und Reich: Antifaschismus mit kraftbetonten Fundamenten (Es geht auch ohne.) Leere versus Fülle: Nicht weit entfernt von diesem Themenkomplex ist der von Kracauers Beziehungen zu anderen deutsch-jüdischen Sozialkritikern in seinem (erweiterten) Umfeld, die so wie er wesentlich (auch) vom Marxismus ausgehend schreiben. Auch im Verhältnis bzw. im Vergleich zu deren Denken und Schriften zeigt sich da ein Kontrast, respektive zeigt sich Kracauer im Licht der Unerfülltheit, zumal im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Faschismus. Und zwar (um anekdotisch einzusteigen): Theodor W. Adorno nannte Kracauers Lindenpassage-Text – eben den, der mit »Fascismus oder auch gar nichts« endet – bei dessen Erscheinen »die sehr dünne Passagensache«, und zwar dezidiert geringschätzig (der Text erschien ihm auch zu sehr »mit der linken Hand geschrieben«: Adorno an SK 2.1.1931, Ado, S. 261). Nun hat die Ablehnung von etwas Dünnem bei Adorno wohl nicht programmatischen Status, und wir werden bei ihm wohl auch nicht Textstellen der Wertschätzung für ›Dickes‹ finden. Aber seinen Vorwurf an Kracauer hat er nun mal so formuliert, gegen das Dünne (und dabei dick auftragend). In Kracauers Vokabular wäre aber dünn eigentlich gar kein Vorwurf; die damit verwandte Eigenschaft dürr etwa nennt er dezidiert schön – »schön dürr«.12 Die beiden D-Worte stehen hier dafür, dass Kracauer quasi aus dem Dünnen und Dürren schöpft – eben nicht aus dem Vollen, und das deshalb, weil er keine verheißungsvollen Fundamentierungen geltend macht; nicht einmal die Sexyness einer in ihre Konsequenzen durchgeführten Negativität, auch kein Naheverhältnis zur Kunst und kein philosophistisches Besserwissen, wie dies Adornos Schriften vielfach anhaftet. Kracauer verzichtet auf Grundlegungen via Kunst oder Philosophie – und konkret in der Konfrontation mit dem Nationalsozialismus verzichtet er auch auf Fundamentierungen jener Art, wie sie Ernst Bloch und Wilhelm Reich in Schriften aus den 1930er Jahren jeweils in Anspruch nehmen. Zunächst Bloch: Kracauers jahrzehntelanger Freund publizierte 1935 im Rahmen seiner Analysen zum »Endspurt des Bürgertums« und zum Aufstieg des Nationalsozialismus eine »Dialektik der Ungleichzeitigkeit«. Damit
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bis in seine extremsten, schlimmsten Konsequenzen. Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism. [1951/1967] London 2017, S. 627. Das formuliert er als eine Positiv-Einschätzung filmischer Formbildungen bei G.W. Pabst. SK: »Zum Film Kameradschaft« [FZ 21.11.1931] 6.2, S. 559.
5. Unvollständigkeit einrichten: Kracauer’sches Nichts als Rest und Lücke
zielt Bloch auf die Ungleichzeitigkeit von Klassenkulturen, Lebensweisen und Alltagshabitus, die allerdings in dieser ihrer Ungleichzeitigkeit, als verschiedenen Zeiten zugehörig, doch gleichzeitig unrund zusammen sind, in einem heterogenen, unabgeschlossen-prekären gesellschaftlichen Ganzen. Mit diesen Überlegungen von Bloch hat Kracauer immer wieder Dialogbeziehungen angeknüpft; er hat sich da aber teilweise in sympathetischer Distanz positioniert.13 Dies insbesondere gegenüber dem Überschwang eines aufgeklärten Voraus-Empfindens, wie Bloch dieses in seiner Treue zum Marxismus/Kommunismus begrifflich entfaltet hat – von wegen Prinzip Hoffnung (das ja meist als Allerweltsfloskel oder als Synonym für ›Optimismus‹ missverstanden wird). Abgesehen von Kracauers gebrochenen Kontinuitäten im Verhältnis zum Marxismus (noch ein Thema für sich) lässt sich hier festhalten: In Totalitäre Propaganda weist Kracauer auf das Maß an Revolte, an »Sprengkräften«, hin, das in »kleinbürgerlichen Phantasien« eingekapselt sein könnte – etwa in einem Groll gegen Zumutungen des Kapitalverhältnisses, auch wenn dieser nicht auf der geschichtlichen Höhe der Entfaltung der Klassenkämpfe ist (TP, S. 13, siehe Kap. 2.2); damit kommt er Bloch auf dem Pfad der Ungleichzeitigkeit ein Stück entgegen. Was Kracauer mit ihm aber kaum teilt, ist die ganze Reihe von politisierbaren Energien, die Bloch als Positiva setzt und als etwas darstellt, das die Nazis erfolgreich adaptiert und genutzt hätten, obwohl dies doch ein ureigener Bestand linksrevolutionärer Bewegungen sei, weshalb diese Bewegungen sich diesen Bestand, so Bloch, von den Nazis zurückholen müssten. Und zwar was konkret? Da nennt er mittelständische oder bäuerliche Arten der Renitenz gegen fordistische Rationalisierungen und das Verheißungspathos des Christentums (von wegen ›Reich‹, das ›komme‹); weiters das Offenbarungsmoment an der Kunst und an der Phantasie; sowie eine Art ›Kräftigkeit‹, die doch eigentlich zur Jugend sozialistischer Revolutionsbewegungen gehörte, die aber die Nazis erfolgreich für ihre Zwecke gekapert hätten.14 Anders Kracauer: Auch wenn er mögliche Nahebeziehungen von Religion und revolutionärer Bewegung in den Raum stellt – wenn er etwa angesichts drohender Gefahr, im Jänner 1933, stark für
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SK: »Zwei Deutungen in zwei Sprachen« [verf. 6.-16.1.1965 für den Band Ernst Bloch zu ehren] 5.4. Bloch nennt die »gute kräftige Jugend« und »beste Jugend« mit ihrer Vorliebe für »die Form des Gehorsams und des Befehls, die Tugend der Entscheidung statt der Feigheit der Bourgeoisie, dieser ewig diskutierenden Klasse«. Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a.M. 1985, S. 164f.
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ein Anti-Nazi-Bündnis zwischen religiösen und politischen GerechtigkeitsGesinnungen plädiert –, versucht er doch im Wesentlichen nicht, egalitäre Politik auf ein religiös-spirituelles Fundament zu stellen.15 Und Kracauers Zug zur Leere, Lücke und resthaften Nichtigkeit verträgt sich auch keineswegs mit dem Ansinnen, einen Elan des Kräftigen gegen eine Morbidität von Bürgerlichkeit zu behaupten.16 Ebenso wenig zieht es Kracauer zu jener Natürlichkeit, der Wilhelm Reich in seiner Massenpsychologie des Faschismus – erstveröffentlicht 1933, überarbeitet 1942 bis 1944 – das Wort redet. Reich geht von der freudomarxistischen Grundannahme aus, der Faschismus sei primär auf autoritär-patriarchale Unterdrückung früher sexueller Begehren in bürgerlichen und bäuerlichen Familien zurückzuführen. Nah an dieser These finden sich in seinem Buch zunächst Parallelen zu Kracauer: Beide Autoren verstehen Faschismus als heterogen, als eine reaktionär-autoritäre wie auch rebellische Bewegung, in der sich die psychische Gespaltenheit kleinbürgerlicher Mittelschichten ideologisch auswirkt.17 Eine Detailparallele zeigt sich auch in Reichs Formulierung, »soziale Institutionen« (zumal solche, die dir allzu nahe sind, bis hin zum eigenen Selbst als einer Art Institution) würden den Faschismus »täglich ausbrüten.«18 Es findet sich da aber auch eine Abgrenzung, die sich liest, als wäre sie auf Kracauer gemünzt, denn: Reich betont, dass viele Linke in ihren politischen Analysen die Mittelschichten zugunsten eines zweipoligen Klassenschemas vernachlässigten; jene aber, die das nicht tun, sondern die politische Eigendynamik der Mittelschichten ernst nehmen, rückten, so schreibt er, zu sehr die »›Rebellion des Mittelstandes‹ in den Vordergrund«, womit »sie die reaktionäre Rolle des 15
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Gegen den »Nationalismus«, zumal den der Nazis, ließe sich die Affinität von Theologie und Marxismus behaupten, und zwar auch kraft des Umstandes, dass der »Begriff der klassenlosen Gesellschaft« als eine aktualisierte Umwandlungsgestalt theologischer Gehalte verstanden werden könne (dies im Kontrast zum gehaltlosen »Mythos« eines »Dritten Reichs«). SK: »Theologie gegen Nationalismus« [FZ 14.1.1933] 5.4, S. 347f. Zu Kracauers Skepsis gegenüber sportlicher Körperkultur und Gesundheitseuphorie siehe Kap. 2.2. Der Faschismus »ist nicht, wie allgemein geglaubt wird, eine rein reaktionäre Bewegung, sondern er stellt eine Amalgam dar zwischen rebellischen Emotionen und rektionären sozialen Ideen.« Weiters hebt Reich als ein Merkmal dieser zwiespältigen Bewegung die »Rebellion gegen die Autorität mit gleichzeitiger Anerkennung und Unterwerfung« hervor. Wilhelm Reich: Die Massenpsychologie des Faschismus. [1933, 1969] Köln 1986, S. 14, 54. Ebd., S. 15.
5. Unvollständigkeit einrichten: Kracauer’sches Nichts als Rest und Lücke
Mittelstandes verwischten«.19 Das könnte eine 1933 publizierte Anspielung von Reich nicht zuletzt auf Kracauers Studie zum »Aufruhr der Mittelschichten« aus dem Jahr 1930 sein. In ziemlich kritikwürdiger Weise aber rückt Reich das »Natürliche« ins Zentrum, wenn er aus der Faschismus-Analyse (und aus seinem teilweisen Bruch mit dem Marxismus) einen euphorischen Positivbegriff der »Arbeitsdemokratie« gewinnen will. Damit benennt Reich etwas, das nicht allzu demokratisch anmutet.20 Diese »naturwüchsige« Grund-Energie steht nämlich in seinem Gedanken-Szenario nicht primär im Kontrast zum Faschismus, sondern zu Kräften, die einen von Reich postulierten »Einklang« stören. In den Positivsetzungen, die aus Reichs Faschismus-als-Sexualunterdrückungs-Studie holprig resultieren, gibt er sich offen fundamentalistisch, mit vitalistisch-mystischem Anklang.21 Ortete er in seiner Faschismus-Analyse noch bedrohliche politische Gegner, so machter er in seiner Anrufung der Arbeitsdemokratie – die holprig aus der Faschismus-Analyse resultiert – eher Störenfriede aus, eben ganz andere: Insbesondere die Geschwätzigkeit hat es Reich nun als Feindbild angetan. Insgesamt gerät seine Arbeitsdemokratie – anstatt dass sie das ›Gerede‹ anerkennen würde, das demokratischen Ausverhandlungsdispositiven immer mit anhaftet – zu einem Industrialismus der anpackenden Arbeit, der offenbar das Natürliche und die wissenschaftliche Rationalität auf seiner Seite hat, also über jede Kritik erhaben ist. Reichs Fluchtpunkt ist denn auch eine Auffassung von Arbeitsdemokratie als einer »›Politik‹«, an der, so schreibt er, das Neue gerade im »Aufgeben aller Politik und
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Ebd., S. 58. »Arbeitsdemokratie ist der naturwüchsige Prozeß der Liebe, der Arbeit und des Wissens, der die Wirtschaft, das gesellschaftliche und kulturelle Leben der Menschen regierte, regiert und regieren wird, solange es eine Gesellschaft gab, gibt und geben wird.« – »Dieser arbeitsdemokratische Prozeß fordert aber […], daß die sozialen Ideologien und Einrichtungen in Einklang mit den natürlichen Bedürfnissen und zwischenmenschlichen Beziehungen gebracht werden, wie er sich in der natürlichen Liebe, in der lebensnotwendigen gesellschaftlichen Arbeit und in der Naturfoschung klar ausdrückt.« Ebd., S. 276f. Reich schreibt vom »natürlichen Lebensprozeß« analog zum »Fundament der menschlichen Gesellschaft«. Und weiter: »Liebe, Arbeit und Wissenschaft sind die Quelle des menschlichen Seins. […]«, gemeint ist die »Funktion der natürlichen Liebe zwischen Mann und Frau, Mutter und Kind«. (Andere als heterosexuelle und Mutterliebe scheint die Natur nicht vorzusehen.) Ebd., S. 277, 322f.
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Demagogie« bestehe.22 Da werden ungetrübte Natürlichkeit, Wissenschaftsbasierte fleißige Arbeit und ein antipolitisches Mund-Halten gefordert und gefeiert: Damit kommt Reich – der von den Nazis attackierte und ins Exil getriebene jüdische Faschismus-(Psycho-)Analytiker und spätere Biophysiologe, der als Autor heute wieder recht angesagt ist – unversehens manchen Herrschaftsparametern nahe, die dem Faschismus nicht fernstehen. Kracauer setzt mehr auf Lücke und Loch als Bloch, er ist im Denken eher karg als Reich; Natürlichkeits-Fundamentalismus liegt ihm fern. Wobei allerdings Reichs Massenpsychologie des Faschismus nicht nur 1938 von Kracauer zitiert wird;23 die Verbindung von Nazismus und Antisemitismus mit sexueller ›Triebverdrängung‹ zählt auch zu den freudomarxistischen Motiven, die bei Reich wie auch bei Horkheimer (in der von Kracauer 1938 zitierten Studie »Egoismus und Freiheitsbewegung«) und bei Adorno in den 1930er und 1940er Jahren relevant sind. Die jüngere Reich-Rezeption mit Faschismus-Bezug umfasst etwa Paul Masons ausführliche und Laurie Pennys punktuelle Bezugnahmen auf ihn; sowie die mit der Literatur der 1968er Studierendenrevolte querzulesende Referenz auf Reichs Kritik am Repräsentations-Denken (Faschismus ist affektiv eher denn ›falsches Bewusstsein‹) bei Gilles Deleuze und Félix Guattari, ebenfalls mit Verweis auf Die Massenpsychologie des Faschismus (und
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Ebd., S. 280. Dort auch: Das Neue an der Befragung der Entwicklungen zu Diktaturen seitens der »Arbeitsdemokraten« sei u.a., dass die Frage in »echt wissenschaftlicher Weise« gestellt war. – Weiters: »Keiner, der praktisch arbeitet, kann seine Arbeit mittels liberaler, sozialdemokratischer, religiöser, kommunistischer oder faschistischer Ideologie leisten. Keiner darf sich gestatten, zu schwätzen. Jeder muß genau Bescheid wissen und arbeiten.« – »Die Menschentiere mögen noch so sadistisch, mystisch, geschwätzig, skrupel- und gesinnungslos, gepanzert, oberflächlich und tratschsüchtig sein, in ihrer Arbeitsfunktion sind sie nützlicherweise dazu verhalten, rational zu sein.« Das »Wesen des Arbeitsprozesses« ist »natürlicherweise rational«. Ebd., S. 333, 335. Kracauer hat in seinen Materialien zu Totalitäre Propaganda einiges aus der 1933er Ausgabe von Reichs Massenpsychologie des Faschismus exzerpiert, und er zitiert dieses Buch – etwas abseits von dessen sexualpolitischem Schwerpunkt – zur Bekräftigung seiner eigenen Analysen zur Rolle des Rhythmus und des klassenspezifischen Micro-Targeting avant la lettre in der faschistischen Propaganda (TP, S. 91, 131; siehe Kap. 4.2). Reichs Gedanken zur »Abeitsdemokratie« entstammen der Erweiterung, die er 1942–1944 in New York an seiner Massenpsychologie vorgenommen hat; fast zeitgleich verfasste Kracauer, ebenfalls in New York, sein Caligari-Buch, eine psychoanalytisch-soziologische Geschichte des Weimarer Faschisierungsprozesses, die mehr an marxistischem Vokabular beibehält als Reich in seiner Revision (mehr an Klassenbezug, insbesondere hinsichtlich »middle classes«).
5. Unvollständigkeit einrichten: Kracauer’sches Nichts als Rest und Lücke
alle ohne Reichs Beschwörung von Arbeit und Natürlichkeit).24 Der im weiten Sinn deleuzianische Ansatz, wonach Faschismus keine ideologische Falsch-Repräsentation objektiver sozialer Verhältnisse ist, sondern eher ein Modulator von Empfindungen (Ressentiment, Selbstmitleid, Hass), dieser Affekt-theoretische Zugang, den Deleuze und Guattari zum Teil bei Reich präfiguriert gesehen haben, ist ein wichtiger Input in Simon Stricks rezenter Forschung: in seiner Analytik zur Online-Mobilisierung rechter Gefühle, für die Stricks prägnantes Kürzel »Feeling (Alt) Right« steht.25
5.3 Wie ein Barthaar dem anderen? Demokratie-Kritik mit Chaplins Great Dictator (Kracauer und Deleuze) Zurück zum Nichts bei Kracauer, zumal im Kontext von Gegenpositionierungen zum Faschismus. Deleuze kommt da noch einmal ins Spiel: entlang einer Parallele dahingehend, wie die beiden Autoren in ihren Film-Schriften Charlie Chaplins Tramp-Figur einschätzen. Deleuze situiert Chaplins Tramp markant im Rahmen seiner Differenztheorie des Films, der zufolge kleine Unterschiede zwischen Handlungen oder Erscheinungen im Film-Bild auf große Unterschiede zwischen Situationen verweisen können. So auch der minimale Unterschied zwischen dem Schnurrbart des Tramps bzw. des jüdischen Friseurs in The Great Dictator einerseits und dem Schnurrbart von Hitler anderseits: ein Fast-Nichts an Unterschied, so Deleuze, das Chaplin in seiner Hitler-Satire auf einen enormen Unterschied hin ausfaltet, nämlich den zwischen Demokratie und NaziDiktatur. Es ist in Deleuzes Perspektive alles eine Frage von Differenzen – wie an sie angeknüpft wird, wie sie organisiert werden. Denn: Die beiden politischen Regimes, die in den großen Reden der Schnurrbartträger, in Hitlers Rede bald nach Beginn von The Great Dictator und in der des Friseurs am Filmen24
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Mason verbucht Reichs Theorien zur Sexualunterdrückung unter seine Generalthese von Faschismus als einer fear of freedom (Paul Mason: How to Stop Fascism, S. 179–182). – Laurie Penny spielt mit ihrem Buchtitel auf Reichs The Sexual Revolution von 1936 an und nennt dessen Mass Psychology of Fascism als eine Vorläufer-Schrift, was ihre Analyse zum »strategic use of sexual frustration« im Autoritarismus betrifft. Laurie Penny: Sexual Revolution: Modern Fascism and the Feminist Fightback. London, Oxford, New York, New Delhi, Sidney 2022, S. 23. – Gilles Deleuze, Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie 1. [1972] Frankfurt a.M. 1977, S. 39f. Simon Strick: Rechte Gefühle. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus. Bielefeld 2021.
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5. Unvollständigkeit einrichten: Kracauer’sches Nichts als Rest und Lücke
alle ohne Reichs Beschwörung von Arbeit und Natürlichkeit).24 Der im weiten Sinn deleuzianische Ansatz, wonach Faschismus keine ideologische Falsch-Repräsentation objektiver sozialer Verhältnisse ist, sondern eher ein Modulator von Empfindungen (Ressentiment, Selbstmitleid, Hass), dieser Affekt-theoretische Zugang, den Deleuze und Guattari zum Teil bei Reich präfiguriert gesehen haben, ist ein wichtiger Input in Simon Stricks rezenter Forschung: in seiner Analytik zur Online-Mobilisierung rechter Gefühle, für die Stricks prägnantes Kürzel »Feeling (Alt) Right« steht.25
5.3 Wie ein Barthaar dem anderen? Demokratie-Kritik mit Chaplins Great Dictator (Kracauer und Deleuze) Zurück zum Nichts bei Kracauer, zumal im Kontext von Gegenpositionierungen zum Faschismus. Deleuze kommt da noch einmal ins Spiel: entlang einer Parallele dahingehend, wie die beiden Autoren in ihren Film-Schriften Charlie Chaplins Tramp-Figur einschätzen. Deleuze situiert Chaplins Tramp markant im Rahmen seiner Differenztheorie des Films, der zufolge kleine Unterschiede zwischen Handlungen oder Erscheinungen im Film-Bild auf große Unterschiede zwischen Situationen verweisen können. So auch der minimale Unterschied zwischen dem Schnurrbart des Tramps bzw. des jüdischen Friseurs in The Great Dictator einerseits und dem Schnurrbart von Hitler anderseits: ein Fast-Nichts an Unterschied, so Deleuze, das Chaplin in seiner Hitler-Satire auf einen enormen Unterschied hin ausfaltet, nämlich den zwischen Demokratie und NaziDiktatur. Es ist in Deleuzes Perspektive alles eine Frage von Differenzen – wie an sie angeknüpft wird, wie sie organisiert werden. Denn: Die beiden politischen Regimes, die in den großen Reden der Schnurrbartträger, in Hitlers Rede bald nach Beginn von The Great Dictator und in der des Friseurs am Filmen24
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Mason verbucht Reichs Theorien zur Sexualunterdrückung unter seine Generalthese von Faschismus als einer fear of freedom (Paul Mason: How to Stop Fascism, S. 179–182). – Laurie Penny spielt mit ihrem Buchtitel auf Reichs The Sexual Revolution von 1936 an und nennt dessen Mass Psychology of Fascism als eine Vorläufer-Schrift, was ihre Analyse zum »strategic use of sexual frustration« im Autoritarismus betrifft. Laurie Penny: Sexual Revolution: Modern Fascism and the Feminist Fightback. London, Oxford, New York, New Delhi, Sidney 2022, S. 23. – Gilles Deleuze, Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie 1. [1972] Frankfurt a.M. 1977, S. 39f. Simon Strick: Rechte Gefühle. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus. Bielefeld 2021.
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de, jeweils auf den Punkt gebracht werden, diese Regimes sind ihrerseits Formen, durch welche die an sich kleinen Unterschiede zwischen den Menschen politisch organisiert werden. Das Nazi-Regime, so Deleuze, überführt diese Differenzen in die gigantischen systematischen Unterschiede zwischen Herrschenden und Beherrschten, Täter*innen und Opfern; unter demokratischen Bedingungen hingegen werden diese Differenzen zu »Variablen einer […] gemeinschaftlichen Situation«.26 Das Fast-Nichts an Unterschied will im Dispositiv der Demokratie wahrgenommen sein: In eben dieser Weise spricht auch Kracauer von Chaplin, konkret mit Blick auf dessen frühe Slapstick-Features. Mit diesen Filmen wird Chaplins Tramp, als ikonische Verkörperung von Ohnmacht im Dauerkonflikt mit der Gewalt herrschender Mächte, zu einer Weltstar-Figur, ja, zu einer Art Weltmacht, wie Kracauer hervorhebt. Er nennt Chaplin 1926 schlicht »Ein Loch.« – so lautet sein vielleicht kürzester Satz, ganz auf Linie seiner Auslotungen der Agency-Potenziale in Leeren und Lücken –, und 1931 meint er: »Chaplin beherrscht die Welt von unten her, als einer, der gar nichts repräsentiert.«27 Angestrahlt mit dem Licht von Deleuzes Tramp-undDemokratie-Verknüpfung, tritt an diesem Beherrschen von unten, das gar nichts repräsentiert, ein Aspekt von Demokratie in den Vordergrund: Radikaldemokratisch betrachtet, anerkennt Demokratie das Nichtige und bleibt damit gleichsam eine ›Macht von unten‹. Jedoch – das Repräsentieren von Nichts stellt Kracauer einige Jahre später, 1938, ja auch am Faschismus fest: Über den »Machtwillen« des Faschismus heißt es in Totalitäre Propaganda: »Er strebt nach totaler Herrschaft und repräsentiert das Nichts« (TP, S. 147). Nun ist damit ja keineswegs gesagt, dass diese beiden Macht-Ordnungen, diese beiden ›Herrschafts-Repräsentanten von Nichts/nichts‹ einander grundsätzlich gleichen – also einerseits Chaplins Tramp als verkörperte Leere, Nichtigkeit und Ohnmacht, anderseits der Faschismus als verkörperter Vollständigkeitsanspruch in nihilistischer Allmacht. Und doch wirft dieses doppelte Nichts, das im (Be-)Herrschen repräsentiert ist, in der Demokratie wie auch im Faschismus, Fragen von allgemeinem politischem Charakter auf. Diese Fragen gehe ich nun an, entlang zweier politischer Deutungen zu dieser Kracauer’schen Dopplung, die sich nahelegen, wenn wir Kracauer und auch Chaplin beim Wort nehmen. 26 27
Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. [1983] Frankfurt a.M. 1989, S. 232f. SK: »Chaplin« [FZ 6.11.1926] 6.1, S. 269; »Chaplins Triumph« [Die Neue Rundschau, April 1931] 6.2, S. 493.
5. Unvollständigkeit einrichten: Kracauer’sches Nichts als Rest und Lücke
Nehmen wir erstens Chaplin beim Wort, bei den Reden, die er in The Great Dictator hält; und zwar entlang der Spur, auf die Kracauer uns setzt, wenn er sagt: »Chaplin beherrscht die Welt von unten her«. Dass sozusagen nicht nur Hitlers Regime, sondern auch Chaplins Demokratie herrscht, oder besser gesagt: Macht ausübt, einen Machtwillen ausdrückt, das ist schon bei Chaplin selbst wahrgenommen: dadurch nämlich, dass der jüdische Friseur, Doppelgänger des Nazi-Diktators, ja selbst eine laute, flammende Rede hält, eine Schlussrede für Demokratie und Solidarität, die mit dem Aufruf »In the name of democracy – let us all unite!« endet. Und mehr noch ist die demokratische Macht dadurch wahrgenommen, dass die deutsche Menschenmenge vor Ort, die sich ja eigentlich in Erwartung einer Hassrede von Hynkel/Hitler versammelt hat,28 nun diesem Demokratie-Aufruf genauso fanatisch zujubelt wie zuvor dem Diktator. Da dämmert dem Friseur wohl die Einsicht, dass Demokratie nicht einfach ein außerpolitisches Idyll ist, das mit Machtfragen nichts zu tun hätte, sondern dass auch Demokratie eine Form der Machtausübung ist, mitsamt Propaganda und Massen-Euphorisierung. Auf diese Einsicht scheint sich die verstörte Miene des gutherzigen, ansonsten wortkargen Friseurs zu beziehen, aus dem die zutiefst menschlich-egalitaristischen Propaganda-Worte eben hervorgebrochen sind: Während die Menge jubelt, macht er ein Gesicht, als wollte er damit sagen »Was hab ich jetzt nur angerichtet?« Demokratie ist Wahrnehmung des unterscheidenden Nichts zwischen den Menschen, aus dem nichts folgt, aus dem nämlich keine Hierarchien oder Positionszuweisungen ableitbar sind; aber Demokratie ist nichtsdestoweniger eine Macht-Ordnung.29 Dies im Sinn von Kracauers Beherrschung der Welt von unten her durch Repräsentation von gar nichts. Sowie im Sinn von Kracauers Einsicht, dass bei aller unerlässlichen Kritik an Macht-Verkörperungen der Stärke und an ungerechten Hierarchien doch damit zu rechnen ist, dass Zwang im Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse ein Faktor bleibt; ja, dass die Reduktion und Eingrenzung von Herrschaft, selbst die Reduktion von Zwang, kaum ohne
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Dem Film-Plot zufolge ist das eine Wiener Menschenmenge beim »Anschluß« Österreichs an Nazi-Deutschland 1938. Entlang etwa der Hannah Arendt’schen Unterscheidung zwischen Gewalt, die nur einzelne Herrschende ausüben, und Macht, die von den Vielen im Zusammenhandeln ausgeht, ist Demokratie in exemplarischer Weise eine Machtform. Hannah Arendt: Macht und Gewalt. [1970] München, Zürich 2003; Arendt: Vita activa, oder vom tätigen Leben. [1958/1967] München, Zürich 2002, S. 252ff.
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Zwang vonstatten gehen kann.30 Soweit die eine Deutung: Auch Demokratie ist Machtpolitik, muss es sogar sein; genauso wie aber Macht(selbst)kritik ihr immanent sein muss. Die zweite Deutung wird uns von einem engen Fokus auf Kracauers Formulierungen zu einem weiten, heutigen Kontext der Auseinandersetzung mit Faschisierungen führen, in dem es dann um die eben angesprochene Demokratiekritik geht. Nehmen wir nun also zunächst Kracauer beim Wort, zumal bei dem Wort »gar nichts«: Mit »gar nichts« bezeichnet er etwas, das einerseits vom Faschismus unterschieden ist, und das er anderseits auch in einem Atemzug mit dem Faschismus nennt: Er bezeichnet damit nämlich (in dem Lindenpassage-Aufsatz, von dem jedes meiner Kapitel ausgeht) das, was die neutrale Passage der Rationalisierung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Warenökonomie ausbrütet – jene Ladenpassage, die »sich einstweilen völlig neutral verhält und später einmal wer weiß was ausbrüten wird – vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts.«31 Demokratisch-Chaplin’scher und nihilistisch-faschistischer Machtwille herrschen durch Repräsentation von gar nichts bzw. Nichts. Dass die beiden Nichts-Repräsentations-Regimes miteinander verwechselt werden könnten wie die Bärtchen von Hitler und Chaplin, diesen Gedanken wiederum hat Adorno Kracauer 1938 regelrecht untergejubelt; und zwar in Adornos Neufassung von Totalitäre Propaganda, die Kracauer als den Autor dieser Studie so gar nicht beim Wort nimmt, sondern dessen Werk um vier Fünftel kürzt und komplett umformuliert (siehe Kap. 1.3). In dieser Neufassung steht einiges über Persönlichkeit als Reklame-Produkt, und in diesem Kontext meint Adorno, Hitlers »Chaplinbärtchen«, das häufig als ein ebensolches angesprochen wird, sei ein Symptom dafür, dass »[z]uweilen sich die Macht selbst mit den Insignien der Ohnmacht [drapiert]« (Adorno: Neufassung »Zur Theorie der autoritären Propaganda«, TP, S. 295). Hitlers »Chaplinbärtchen« also als eine Insignie der von Faschist*innen oft praktizierten Masche, sich selbst als ohnmächtige, verfolgte Opfer darzustellen: Adornos Deutung erscheint (selbst mir) etwas weit hergeholt. Aber: Wenn wir uns heutigen Problemlagen im Verhältnis von institutioneller Demokratie
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»Bei der Gegenüberstellung von Ideal und Praxis ergäbe sich vielleicht unter anderem, daß der Zwang nur durch Zwang aufzuheben ist; daß also die ungebrochene Ablehnung des Zwangs die Herstellung eines Zustands verhindert, in dem weniger Zwang herrscht als heute.« SK: »Minimalforderung an die Intellektuellen« [Neue Rundschau, Juli 1931] 5.3, S. 604. SK: »Abschied von der Lindenpassage«, S. 332.
5. Unvollständigkeit einrichten: Kracauer’sches Nichts als Rest und Lücke
und Faschisierungsprozessen zuwenden, dann macht Adornos Hinweis auf eine Art Hitler mit quasi-demokratischem Chaplinbärtchen jene Spur, die Kracauer und Chaplin (und auch Deleuze) gelegt haben, noch heißer: die Spur zu dem Gedanken eines Nichts, das an manchen Stellen Faschismus und Demokratie, oder sagen wir vorsichtiger: Faschismus und Formaldemokratie voneinander trennt. Da gibt es eine Nähe; es gibt sie nicht ›einfach so‹, nicht auf Basis von System-Analogien, sondern als in konkreten politischen Situationen hergestellte. Das gilt es als Problem zu bedenken: Die formale, repräsentative Demokratie bürgerlicher Rechtsstaaten32 und einige Realisierungsformen und Wirkungen von Faschismus, sie sind einander vielfach allzu nah (oft nur eine Barthaaresbreite auseinander). Ebendies gibt etwa Simon Strick in seiner Theorie heutiger faschistischer Affekt- und Mobilisierungspolitik zu verstehen: »Die Alternative Rechte« – so lautet eines von Stricks Synonyma für heutigen Faschismus – »greift nicht die Demokratie an, sondern bestimmte Menschen und ihre Lebenswelten. Das sind zum Großteil Menschen, die die Mechanismen der Ausgrenzung und Abwertung schon immer sehr gut kennen, da sie nicht oder nur in eingeschränkter Weise Teil des bürgerlichen Konsens dieser Demokratie sein durften. […] Angegriffensein von ›den Rechten‹ ist Teil der Erfahrung migrantischer, weiblicher, queerer und anders« – etwa antisemitisch und antiziganistisch – »marginalisierter Menschen.« Angesichts dessen habe, so Strick, der »gesellschaftliche Konsens«, bzw. sein staatstragender Diskurs, im Pathos selbstbeschönigender Abgrenzung von der Rechten seine diesbezügliche »Komplizenschaft teilweise verschleiert«: Verschleiert wurde dabei also, wie sehr die Rechte und die ›Mitte‹ Ähnliches wollen und politisch ähnlich agieren.33 Angegriffen wird, wie Strick deutlich macht, nicht ein Abstraktum oder ein Wertgegenstand namens die Demokratie, sondern attackiert und diffamiert werden eben konkrete Leute, die auch ›in der Demokratie‹ durch Gruppenfeindlichkeit marginalisiert oder Bedrohungen ausgesetzt sind. Gerade die »wehrhafte Demokratie« als eine Gegenkraft zur Faschisierung wird vielfach seitens jener beschworen, die fast im selben Atemzug z.B. »wirksamen Außengrenzschutz« in der Festung Europa oder Kürzung von Sozialleistungen
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Sie ist, schon in institutioneller Hinsicht, eine Pseudodemokratie, weil große Teile der Gesellschaft von politischen Grundrechten (Wahlrecht, soziale Teilhabe) ausgeschlossen sind: einst als Frauen oder Arme, heute aufgrund ›falscher‹ oder fehlender Staatsbürger*innenschaft. Simon Strick: Rechte Gefühle, S. 420f.
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fordern und so rassistischen Kampagnen oder einer Zementierung gesellschaftlicher Ungleichheit zumindest zuarbeiten. Ähnlich legt Ewa Majewska nahe, dass (Anti-)Faschismus nicht in einem sterilen Raum situiert ist, in dem Idealtypen politischer Großsysteme ein Match austragen, sondern in einer Gesellschaft, die von Elitismus ebenso wie von massenweiser Prekarisierung geprägt ist: Faschismus sei, so Majewska, nicht reduzierbar auf »threats to democracy as an ideal (abstract) polity cut off from the specifics of uneven distribution on the ground, as liberals would like us to believe.«34 Umso mehr fällt es auf, wenn Yener Bayramoğlu und Maria do Mar Castro Varela in einem aktuellen Buch Demokratie und Faschismus in einer ebensolchen schematisch-abstrakten Weise gegeneinanderstellen; wenn sie, mehr noch, eine drohende »Wiederkehr des Faschismus« als Gefahr für die Stabilität der Demokratie darstellen. Sie tun dies ironischer Weise im Namen der Fragilität als ethisch-politischer Kategorie, wie sie sie in ihrer selbsterklärten Neuen Theorie der Fragilität beschwören.35 Einen drohenden Faschismus machen die beiden Autor*innen, durchaus plausibel, an der Querdenker*innenBewegung und am Grassieren von postfaktischer Politik, Antifeminismus und Transphobie, sowie von antisemitischem Verschwörungsglauben fest; sie verwenden dabei das Faschismus-Label primär als ein Alarmwort bzw. als ein nicht weiter entfaltetes Synonym für Politiken und Ideologien der ostentativen Stärke. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber: Eine politisierende Theorie, die dem Faschismus Fragilität (sowie verwandte vertraute poststrukturalistische Keywords) entgegensetzt, schießt sich ein Eigentor, wenn sie stabile Demokratie – sowie implizit globales politisches Gleichgewicht – als ein Positivum handhabt.36 Ganz abgesehen davon, dass, wenn Demokratie stabil sein soll, 34 35
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Ewa Majewska: »A Bitter Victory? Anti-fascist Cultures, Institutions of the Common, and Weak Resistance in Poland«, Third Text 33:3, 2019, S. 412f. Zusammen mit der »gesellschaftlichen Sorge um eine Wiederkehr des Faschismus« und angesichts rechter Gerüchte- und Hasskampagnen im Netz, so die Autor*innen, »scheint uns die Angst vor einer weiteren Destabilisierung der Demokratie durchaus berechtigt.« Yener Bayramoğlu, Maria do Mar Castro Varela: Post/pandemisches Leben. Eine neue Theorie der Fragilität. Bielefeld 2021, S. 170f. Als »demokratiegefährende Entwicklung« sehen Bayramoğlu und Castro Varela weiters neofeudale Aspekte des »Turbokapitalismus«, der »die Fragilität des globalen politischen Gleichgewichts erhöht« hat. (Ebd., S. 178) Da wäre aber zu fragen: Was für ein globales »Gleichgewicht« wird da als ein gefährdetes politisches Gut zu verstehen gegeben? – »Die Theorie der Fragilität«, heißt es weiter (ebd., S. 183, 186), »stellt Ambiguitäten, Partikularitäten und Verletzlichkeiten ins Zentrum einer Zukunftsanalyse«; es gehe um »Sich-berühren-lassen« und darum, »das Leid, sowie die Verluste der
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dies dem radikaldemokratischen Anspruch zuwiderläuft, Demokratie als gesellschaftliche Öffnung zu vertiefen (zu radikalisieren), sie insofern auch unruhig zu halten, sensitiv gegenüber den Ausschlüssen, die eine existierende demokratische Ordnung vornimmt.
5.4 Paris leert sich gegen Hitler: Nicht-Präsenz und active passivity (Kracauer und Majewska) Zweifellos hat die politisch aufladbare Entgegensetzung von Fragilität zum Faschismus einiges für sich. Faschismus ist in diesem Zusammenhang ein zugespitzter Name für ein Polit-Fantasma der Fülle und der Unverwundbarkeit; im Gegensatz dazu die Anerkennung, Wahrnehmung, von Fragmentarik und Fragilität als politische Faktoren. Zu dieser Entgegensetzung lässt sich Kracauer als eine Frühform (in einer rückwirkend gestifteten Tradition) verstehen. Das betrifft seine Positiv-Bezugnahmen auf ein fragmentiertes, seine Fragmentiertheit und Bedingtheit nicht verleugnendes, Subjekt.37 Und es betrifft, näher am Thema dieses Kapitels, seine Auffassung eines Rest-haften Nichts, das unterscheidet, ohne zur Identitätssubstanz oder zu einem Diskriminierungsmerkmal zu werden. Ein Bindeglied stellen hier Texte dar, in denen Kracauer festhält, wie sehr Faschismus den Tod, die Sterblichkeit (pathetisch gesagt: ›Nichtigkeit‹ im Sinn von Verletzlichkeit und Kontingenz), leugnet. Etwas weiter gefasst, geht es bei dieser Todesleugnung um eine Phobie gegen jegliche Abwesenheit, als ein Merkmal faschistischer Ideologie und Propaganda; es geht um die
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›Anderen‹ anzuerkennen«. So weit, so vertraut aus dem poststrukturalistischen Kanon. Der Eindruck entsteht allerdings, dass Bayramoğlu und Castro Varela die Allgemeinplatz-haftigkeit ihrer Synonyma für Fragilität teilweise durch starke Etikettierungen und durch ein kokettes Drohen mit dem ›verdienten‹ Menschheits-Ende zu kompensieren trachten (etwa im Schlusswort ebd., S. 187: »Die Politik der Starken mit ihren nekropolitischen Folgen kann uns nicht in eine bessere Zukunft führen. Sollte es uns nicht gelingen, Strategien im Umgang mit der allumfassenden Fragilität zu entwickeln, die auf dem Respekt vor anderen Leben beruhen, wäre es wohl nur angemessen, wenn wir uns als Spezies von diesem Planeten verabschieden.«). So etwa 1960 in seiner Theory of Film: Im Film als realistischer Wahrnehmung der Wirklichkeit erscheine die menschliche Gestalt als ein »object among objects«; und Fragmentiert-Sein avanciert im Licht des Films zu nichts weniger als einer Voraussetzung von Erfahrung: »we are free to experience [this world] because we are fragmentized.« (ToF, S. 97, 300)
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dies dem radikaldemokratischen Anspruch zuwiderläuft, Demokratie als gesellschaftliche Öffnung zu vertiefen (zu radikalisieren), sie insofern auch unruhig zu halten, sensitiv gegenüber den Ausschlüssen, die eine existierende demokratische Ordnung vornimmt.
5.4 Paris leert sich gegen Hitler: Nicht-Präsenz und active passivity (Kracauer und Majewska) Zweifellos hat die politisch aufladbare Entgegensetzung von Fragilität zum Faschismus einiges für sich. Faschismus ist in diesem Zusammenhang ein zugespitzter Name für ein Polit-Fantasma der Fülle und der Unverwundbarkeit; im Gegensatz dazu die Anerkennung, Wahrnehmung, von Fragmentarik und Fragilität als politische Faktoren. Zu dieser Entgegensetzung lässt sich Kracauer als eine Frühform (in einer rückwirkend gestifteten Tradition) verstehen. Das betrifft seine Positiv-Bezugnahmen auf ein fragmentiertes, seine Fragmentiertheit und Bedingtheit nicht verleugnendes, Subjekt.37 Und es betrifft, näher am Thema dieses Kapitels, seine Auffassung eines Rest-haften Nichts, das unterscheidet, ohne zur Identitätssubstanz oder zu einem Diskriminierungsmerkmal zu werden. Ein Bindeglied stellen hier Texte dar, in denen Kracauer festhält, wie sehr Faschismus den Tod, die Sterblichkeit (pathetisch gesagt: ›Nichtigkeit‹ im Sinn von Verletzlichkeit und Kontingenz), leugnet. Etwas weiter gefasst, geht es bei dieser Todesleugnung um eine Phobie gegen jegliche Abwesenheit, als ein Merkmal faschistischer Ideologie und Propaganda; es geht um die
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›Anderen‹ anzuerkennen«. So weit, so vertraut aus dem poststrukturalistischen Kanon. Der Eindruck entsteht allerdings, dass Bayramoğlu und Castro Varela die Allgemeinplatz-haftigkeit ihrer Synonyma für Fragilität teilweise durch starke Etikettierungen und durch ein kokettes Drohen mit dem ›verdienten‹ Menschheits-Ende zu kompensieren trachten (etwa im Schlusswort ebd., S. 187: »Die Politik der Starken mit ihren nekropolitischen Folgen kann uns nicht in eine bessere Zukunft führen. Sollte es uns nicht gelingen, Strategien im Umgang mit der allumfassenden Fragilität zu entwickeln, die auf dem Respekt vor anderen Leben beruhen, wäre es wohl nur angemessen, wenn wir uns als Spezies von diesem Planeten verabschieden.«). So etwa 1960 in seiner Theory of Film: Im Film als realistischer Wahrnehmung der Wirklichkeit erscheine die menschliche Gestalt als ein »object among objects«; und Fragmentiert-Sein avanciert im Licht des Films zu nichts weniger als einer Voraussetzung von Erfahrung: »we are free to experience [this world] because we are fragmentized.« (ToF, S. 97, 300)
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terroristische Durchsetzung von Totalität als vollständige Präsenz, in der alles an seinen Platz gestellt ist. Auch in diesem Zusammenhang formuliert Kracauer politische Diagnosen anhand der Gestaltungsweisen von Filmen; konkret von (proto-)nationalsozialistischen deutschen Filmen. Noch am 24. Jänner 1933, fast im Angesicht mit dem Amtsantritt der Regierung Hitler/Von Papen, die ihn alsbald aus Deutschland vertreiben wird, kritisiert Kracauer in seiner FZ-Besprechung von Luis Trenkers Historienepos Der Rebell einen totalitären Zugriff auf Geschichte und auf Wirklichkeit insgesamt: Seine Kritik am völkischen Pathos dieses Films – der eine ›alldeutsche‹ Mobilisierung Anfang des 19. Jahrhunderts feiert: »Tiroler und Bayern« zusammen gegen französische Besatzer – fußt auf seiner Analyse der Art, wie Der Rebell bei der »wirklichkeitsgetreue[n] Wiedergabe« voll aufdreht. Dadurch entsteht gerade nicht Realismus, denn der wäre ja in Kracauers Sinn voller Lücken, Gegenläufigem und Unwägbarem; sondern es entsteht eine Anmutung vollständiger sinnlicher Präsenz, eine Empfindung der »Unmittelbarkeit«, regelrecht Immersion in ein alpines Action-Spektakel. Ebendies fungiert dann als Triebkraft der national-propagandistischen Stimmungsmache. »Es ist nicht der Mangel an Realisierungskunst, der hier verletzt,« schreibt Kracauer, »sondern im Gegenteil, ihr Übermaß«: Trenkers Film, der antinapoleonische Befreiungskämpfe »vollkommen zu vergegenwärtigen« trachtet und so »ein historisches Geschehen […] mit aller Macht dem Heute aufpressen will«, wo doch Geschichte »Abstand« bedeutet, kraft dessen eine vergangene »Wirklichkeit von uns nur gebrochen erfahren werden kann« – dieser Film spielt, so Kracauer, einem »naturalen«, »mythischen«, ultimativ einem völkisch-biologistischen Verständnis von Gesellschaft zu.38 Kracauers Einschätzung eines Erfolgsfilms, der in deutschen Kinos läuft, als Hitler Reichskanzler wird, liegt auf der Linie seiner Kritik des Mobilismus- und Vitalismus-Elements im Nationalsozialismus. Ebendiese Kritik baut Kracauer in seinen Pariser und New Yorker Schriften aus. Über rasante deutsche Kriegspropaganda-Filme nach Art von Sieg im Westen, in denen industrieller Krieg als fröhlich-vitaler Geschwindigkeitsrausch ohne Reibung, ohne Leid, zelebriert wird, schreibt er 1942: »the German victory was also a victory of life over death, of the future over the past«. (NW, S. 297) Sieg der Zukunft über die Vergangenheit: Todesleugnung und UnverwundbarkeitsPhantasma, das fasst Kracauer hier nun zeitlogisch; wobei diese triumphale Zukunft bloß eine totale, verendlosigte Gegenwart ist. Denn: Eine Zukunft, als das 38
SK: »Idyll, Volkserhebung, Charakter« [FZ 24.1.1933] 6.3, S. 134f.
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Offene, radikal Kontingente, kann es in der nationalsozialistischen Weltsicht nicht geben.39 Das schiere Leben erscheint im Nazi-Kino in zwanghafter Vergegenwärtigung: Kracauers Kritik einer »pictorial abolition of death« in diesen Filmen (NW, S. 305) mutet wie ein Stück Postmoderne-Kritik avant la lettre an – als die Diagnose einer geschichtslosen Endlos-Gegenwart.40 Ein zeitgenössischer Parallel-Diskurs zu Kracauers Hinweisen auf ungebrochene Vergegenwärtigung in den Mobilisierungen durch Nazi-Propaganda findet sich in den Bemerkungen Ignazio Silones – in seiner vom Pariser Kracauer oft zitierten Faschismus-Studie von 1934 – über den »politische[n] Aktualismus«, dem Mussolinis Bewegung in philosophisch-ideologischer Hinsicht anhängt: »Das Gewesene ist tot […]. Die Gegenwart ist demnach alles.«41 Das Tote, das Gewesene, somit die Vergangenheit als eigenlogische, nicht restlos zu vergegenwärtigende, das scheuen die Nazis. (Sofern sie dies nicht durch düsteren Todeskult oder durch Anmutungen von Tragik in die Rahmungen einer schicksalshaften Notwendigkeit einspeisen können, wodurch sie die Kontingenz, die der Tod doch bewirkt, durchstreichen.42 ) Was das Weglassen von Toten, von ›Gefallenen‹, in den Kriegsdarstellungs-Panoramen der NaziPropagandafilme betrifft (sehr im Unterschied etwa zu vergleichbaren US-Filmen aus dem Zweiten Weltkrieg), da äußert Kracauer eine Vermutung, die eine ideologiekritische Spekulation ist: Insgeheim, schreibt er, fürchtet die Nazi-Führung ja, dass der Anblick eines toten deutschen Soldaten die Möglich39 40
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Es gibt da eben nur eine »Zukunft«, die keine ist, weil sie laut dem oben zitierten HitlerRede-Satz von 1934, »restlos uns gehört«. Dazwischen – zwischen 1942 und der Postmoderne – anzusetzen wäre der geschichtstheoretische Vorbehalt, den Kracauer Mitte der 1960er Jahre äußert: gegen das »Gegenwarts-Interesse«, aus dem heraus eine Vergangenheit historiografisch angeeignet wird, auf Linie gebracht wird, ohne dass sie eigendynamisch in Beziehungen zu Setzungen und Perspektiven einer Gegenwart treten könnte (H, Kap. 3 »Present Interest«). Ignazio Silone: Der Fascismus. Seine Entstehung und seine Entwicklung. Zürich 1934, S. 264. Mit dem Hang zur Tragik in den nach rechts driftenden deutschen Mittelschichten, zumal in ihren bevorzugten Erfolgsfilmen, hat Kracauer sich ebenfalls auseinandergesetzt. Und er hat, von wegen Todesanblicks-Vermeidung, der bilderreichen Unterhaltungskultur der Angestellten, als Teil der Mittelschichten, 1929 attestiert, dass sie der Erfahrung individueller ebenso wie soziopolitischer Kontingenz fluchtartig ausweicht: dass sie also die Erfahrung der Hinfälligkeit von Jugend, Vitalität und ›Konkurrenzfähigkeit‹ ebenso zwanghaft verdrängt wie die der Hinfälligkeit der bürgerlichen Ordnung; eben darauf bezieht sich Kracauers hochverdichteter Satz »Die Flucht der Bilder ist die Flucht vor der Revolution und dem Tod.« (A, S. 99; siehe Kap. 2.1)
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keit eines deutschen Subjekts in den Raum stellt, das sich nicht mit »Hier!« zum Appell meldet – das eben nicht, wie es die Nazi-Führung gewohnt ist, seine Anwesenheit an der Stelle, an der die totalitäre Macht es platziert hat, per ›Meldung‹ bestätigt, sondern ostentativ abwesend bleibt, unbewegt, nicht hier, nichtig (NW, S. 306). Einmal mehr setzt Kracauer Hoffnung auf einen Rest an Wirklichkeit, der nicht gleichgeschaltet, mobilisiert, ins Herrschaftssystem eingespeist ist – und sei es um den Preis des Tot-Seins, des Nicht-Seins in diesem Sinn. Eben Faschismus oder gar nichts. Und Kracauer geht, anknüpfend an diese Spekulation über Grenzen der allmächtig scheinenden Nazi-Herrschaft, weiter: Hier, am Ende seiner Studie zum Propagandafilm und zur destruktiven Mobilisierungsgewalt des deutschen Faschismus, sucht er interpretierend, dechiffrierend einen Anblick in einem Stück Nazi-Propaganda auf, der in seiner Sicht ›nach hinten losgeht‹. Es ist dies ein bekanntes Stück Deutsche Wochenschau: Es zeigt den morgendlichen Kurzbesuch von Hitler und seiner Entourage 1940 im erst seit wenigen Tagen deutsch besetzten Paris. Kracauer entziffert diesen Anblick in seiner Studie von 1942 nun so: »The Führer is visiting the conquered European capital – but is he really its guest? Paris is as quiet as a grave. […] not a soul to hail the dictator so accustomed to cheering crowds. While he inspects Paris, Paris itself shuts its eyes and withdraws. The touching sight of this deserted ghost city that once pulsed with feverish life mirrors the vacuum at the core of the Nazi system. Nazi propaganda built up a pseudo-reality iridescent with many colors, but at the same time it emptied Paris, the sanctuary of civilization. These colors scarcely veiled its own emptiness.« (NW, S. 306) Der Nationalsozialismus leert die Stadt, das soziale Leben. Auch diese Leere muss wahrgenommen, darf nicht verdeckt werden: Damit knüpft Kracauer ein Stück weit an die Hoffnung auf die Entblößungsfunktion, und damit protokritische Funktion, von Film und Kino an, die er 1926 in seiner Positiv-Konzeption von Zerstreuung geäußert hat.43 Angesichts der Wochenschau-Aufnahmen von Paris, das sich dem Eroberer gegenüber eben nicht mit »Hier!« zur Stelle meldet, sondern sich, so Kracauer, leer und still, wie ein Grab, zeigt, verschiebt sich seine Hoffnung allerdings: Sie verschiebt sich von der Entblößung der Unordnung am urbanen Alltagsbetrieb zur Entblößung von urbaner Wirklichkeit
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SK: »Kult der Zerstreuung. Über die Berliner Lichtspielhäuser« [FZ 4.3.1926] OdM.
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als einem Nichts, als einer Wirklichkeit, die nicht ist; dieses Nichts tritt als Leere bzw. Todes-Imagination zutage. Diesbezüglich schwingt da auch ein Echo von Kracauers Hoffnung auf einen Lapsus bzw. ›Selbstverrat‹ mit, der dem Faschismus unterlaufen könnte: »Hinter dem Tumult der totalitären Propaganda taucht ein Totenkopf auf.« (TP, S. 156) So hatte – nicht unähnlich dem ›Hitler in Paris‹-Ende der 1942er Studie – der Schlusssatz von Totalitäre Propaganda gelautet. Das ist ein fast barock-allegorisches Kipp-Bild, vom Tumult zum Totenkopf. Die Hoffnung richtet sich darauf, dass der Nihilismus und die Entwirklichung an dem totalitären Projekt zutage treten.44 Dies zumal in Gestalt einer Empfindung von Unheimlichkeit oder Schock.45 Allerdings (und wie schon in Kap. 4.2 gesagt): Was, wenn das mit der Entblößung des Nihilismus so nicht hinhaut, weil der Faschismus insbesondere der Nazis solch einer Bloßstellung ja quasi zuvorkommt, weil er seinen Nihilismus und sein Vernichtungsmoment immer wieder auch zynisch offen einbekennt – und damit noch dazu bei vielen auch auf Zustimmung stößt?46 Insofern ist an Kracauers Denk-Raum-Bild von der Pariser Leere unter den Augen Hitlers auch und vor allem ein anderer Aspekt wichtig: Die Massen, die Vielen, sie treten in diesem Bild nicht nur implizit als ein Massenpublikum auf, das dieses Bild, diese Wochenschaubilder, sieht – das sie damals in Kinos, viel später im Geschichtsfernsehen oder online sieht – und das dadurch dann, schematisch gesagt, hoffentlich die verschleierte Leere (veiled emptiness, wie Kracauer schreibt) im Kern des Faschismus erkennt.47 Sondern: Die Massen erschei44
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Der Totalitarismus-Totenkopf ist einer der vielen Totenköpfe in Kracauers Schriften. Im Sinn dieses allegorischen Bildes würde gerade die Totalisierung, das Alles-ganzWollen, der Nazis das Nichts als eine Kehrseite des Alles hervortreten lassen: Kracauer schreibt, »daß sich die Propaganda eben ihres Totalitätsanspruchs wegen im Laufe der Zeit in Antinomien verwickelt und dadurch gezwungen wird, immer mehr die Inhalte abzustreifen und immer nackter den Machtwillen herauszukehren, dem sie entstammt.« (TP, S. 100) Zu dem quasi ängstlichen Weglassen von Leichen in der deutschen Kriegsfilm-Propaganda schreibt Kracauer: »The sight of death, this most definitive of all real facts, might have shocked the spectator […] and thus have destroyed the spell of Nazi propaganda.« (NW, S. 306) So auch bei rechten Hetzkampagnen heute: Das Ausmaß, in dem politische Gewaltdrohungen oder ›Die gehören weg!‹-Forderungen zustimmungsfähig sind, sollte nicht – im Glauben an viel Gutes in vielen Menschen – unterschätzt werden. Wir müssen bedenken: Als diese Wochenschaubilder ab Ende Juni 1940 ihre Verbreitung beginnen, selbst als Kracauer im April 1941 nach New York immigriert, sind die USA – und auch die Sowjetunion – noch im Frieden mit Nazi-Deutschland. Und als er
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nen hier auch im Zeichen eines Kracauer’schen Denk-Raum-Bildes, eines inversen Ornaments der Masse. Damit meine ich: Während Kracauer ab den 1930er Jahren an seiner Begriffsschöpfung Massenornament, die er 1927 zunächst als zwiespältig, zweideutig, angelegt hat, gleichsam verzweifelt, weil die sich versammelnden Massen, die er zu sehen bekommt, ganz eindeutig fast nur noch faschistische sind, fungiert der Anblick des nahezu menschenleeren Paris als eine Insignie der Hoffnung auf eine Eigentätigkeit von Massen – eine Eigentätigkeit, die gerade nicht darin besteht, dass Massen öffentlich versammelt sichtbar und hörbar werden, sondern darin, dass sie ebendies verweigern. Eine Gegenerscheinung zu dem in triumphaler Vollständigkeit sich präsentierenden Volk in Wien 1938, in Berlin 1940: Dieses Pariser Volk erscheint gerade in seiner Verweigerung eines Hier-Seins unter dem musternden Blick des »Führers«.48 Kracauer nennt in seiner Beschreibung von Paris, quiet as a grave, explizit einzelne verstreute Menschen, die im Wochenschau-Bild doch zu sehen sind und die in ihrer Vereinzelung die Nicht-Präsenz der Massen noch mehr bestätigen als dies vielleicht eine gänzlich leergefegte Straße tun würde (die wie eine Machination der Nazi-Besatzer wirken könnte): »a few police-men, a worker and a solitary priest hastening out of sight«.49 Es geht um die Leute und das was sie tun, bzw. was sie durch eine Unterlassung, eine Nicht-Gegenwärtigkeit, tun. Es geht da nicht um das Abstraktum einer Demokratie, die wegen ihrer »Destabilisierung« besorgt oder womöglich gar »wehrhaft« wäre; sondern
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im Frühjahr 1942 diese Zeilen über Hitler in Paris schreibt, kann von einer baldigen Befreiung des deutsch besetzten Europa durch Amerika, wo ein paar Monate zuvor noch isolationistische bis pro-deutsche Gesinnungen propagiert wurden, noch keine Rede sein. Insofern hat die implizite Hoffnung, der die Nazi-Allmacht feiernde Paris-Anblick möge den Nihilismus, der dieser Allmacht innewohnt, entlarven, zum Teil einen propagandistisch-pragmatischen Charakter, denn: Tatsächlich formuliert Kracauer diese Hoffnung ja auch am Ende seiner Expertenstudie zur Nazi-Propaganda, die einen seiner Beiträge zum antifaschistischen war effort der USA darstellt; als solcher fand seine Studie Propaganda and the Nazi War Film im State Department eine gewisse Verbreitung (keine große, aber immerhin). Ganz im Sinn des Nazi-Mobilismus zeigt diese Wochenschau den rasend reisenden »Führer« nur im Auto stehend bzw. wie einen bildungsbürgerlichen Touristen durch Sehenswürdigkeiten hastend (Triumphbogen, Eiffelturm etc.). Ob diese Identifizierungen und ihre Reihenfolge dem faktischen Anblick der Wochenschau im Detail exakt entsprechen (Kracauer hatte ja kein Video der Wochenschau zur Hand), tut für die Interpretation des antifaschistischen Sinns dieser Aufnahmen ebenso wenig zur Sache wie der Umstand, dass sie früh am Morgen gedreht wurden: Paris ist im Sinn des Denk-Bildes nicht empirisch, sondern kategorisch leer.
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es geht um den demos in seiner Zweideutigkeit, hier: seiner Massen-Agency durch Unsichtbarkeit.50 Das Nichts an Pariser Bevölkerung, die leere Stadt, zeigt sich als Hieroglyphe des Un-Ganzen. Insofern Kracauer damit ein Sich-Entziehen des demos beschwört, vollzieht er ein Stück weit eine Verzweiflungsgeste. Aber da ist eben auch ein Moment der Agency von anderen im Spiel: Diese Handlungsmächtigkeit der Vielen, der Nicht-Identischen, lässt sich zumindest anpeilen als ein Teil von Kracauers wiederkehrenden Positiv-Bezugnahmen auf Nichts, auf Leere und Abwesenheit. Wir habe es dabei mit einem Verständnis von Wirklichkeit zu tun, bei dem auch was nicht(ig) ist, was nicht hier ist, doch mit da ist: Nicht im Rahmen Gegebene(s) und nicht Zählende(s) (f)ragen herein, mehr insistierend denn in Präsenz existierend. Das beginnt bei Kracauers frühem Gedanken, dass in einem Streitgespräch über eine universalistische Idee diejenigen, die dieses Gespräch führen, nie nur für sich sind, weil dabei immer auch die Menschenmengen der Gegenwart und Vergangenheit virtuell, gespensterhaft, mitgehen, aufgerufen durch die Allgemein-Idee, hereinschneiend durch deren Hintertür.51 Und es reicht bis zum postkolonial angehauchten Ende seiner Theory of Film 1960: Da gibt der Buch-Autor Kracauer das Schlusswort an einen Leserbrief ab, in dem ein New York Times-Leser davon schwärmt, wie sehr Aparajito, ein auf Festivals gefeierter zeitgenössischer indischer Film von Satyajit Ray, einen Alltag vermittelt (einen Alltag aus Klassenaufstieg, Arbeitsmigration und deren Auswirkung auf eine Familie), der so ähnlich auch in Brooklyn ablaufen könnte – ein Wort-Abgeben, durch das Kracauer seine Exil-Heimatstadt New York mit einem Land, das eben noch westliche Kolonie war, in Beziehung setzt.52 Kracauer verbleibt zwar in einem diskursiven Rahmen, in dem die Wahrscheinlichkeit gering ist (geringer als heute), dass das bürgerlich-weiße linke 50
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Der ambivalente Pariser demos hat Kracauer schon am Beginn seiner Schreibertätigkeit fasziniert: Seine zweite Filmbesprechung ever endet 1921 mit dem Anblick einer ins Bild laufenden aufgewühlten Volksmenge in einem deutschen Drama zur Französischen Revolution: »Das ist das Wertvolle an diesem Film: daß er den Demos zeigt, daß er dieses große ungeschlachte Tier in seiner Feigheit und Tollkühnheit, in seiner Verächtlichkeit und seiner Urkraft selten eindrucksvoll enthüllt.« SK: »Großfilm Danton« ([FZ 1.6.1921] 6.1, S. 11. SK: »Das zeugende Gespräch« [FZ 30.3.1923] 5.1. Generell zieht es seine in den 1950ern verfasste Filmtheorie anhand von italienischem und indischem (Post-)Neorealismus zu einem Kino von geringgradig industrialisierten Ländern, die lange als ›unterentwickelt‹ abgewertet waren.
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Denker-Subjekt auf ein Bündnis mit nichtmännlichen, nichtweißen Akteur*innen hin schreibt. Allerdings wird weißer Rassismus gegen asiatische und Schwarze Menschen in einigen seiner Schriften kritisch angesprochen, anhand von Projektionen und prejudices der Weißen.53 Und er nimmt in seinen Schriften zum Faschismus zwar nicht den Männlichkeitskult, den Antifeminismus und die Homophobie dieser Bewegungen in den Fokus (diese Aspekte werden erst in Faschismustheorien ab den 1970ern umfassend thematisch) – aber: Vor allem seine semi-autobiografischen Romane Ginster(1928) und Georg (fertiggestellt 1934), die eine essayistische, teils Slapstick-hafte Soziologie politischer und intellektueller Milieus in Frankfurt und Berlin entwerfen, diese Romane ventilieren den (Selbst-)Entwurf eines von sozialen und IdentitätsKrisen gebeutelten Subjekts; dieses Subjekt ist dezidiert nicht normativmännlich, sondern bisexuell, psycho-physisch fragmentiert, »object among objects« (ToF, S. 97) und kategorisch nicht ›gesund‹ – der reale Kracauer litt Zeit seines Lebens stark an Stottern und zeitweise auch an seinem Aussehen –, sowie immer wieder dezidiert schwach, gerade darin aber kritisch luzid gegenüber den Stärkebekundungen gesellschaftlicher Machtträger ringsum (seien diese Machtträger nun arbeitshierarchischer, politischer, militärischer, patriarchaler oder expertokratischer Art).54 Auslotungen der Handlungsvermögen von Schwäche und Unvollständigkeit versus Behauptungen von Stärke, Fülle und Unverwundbarkeit: Hier zeigt sich ein Konnex zu heutiger feministischer Faschismuskritik. Laurie Penny wie auch Ewa Majewska steuern in rezenten Schriften eine zentrale Entgegensetzung von intersektionalem Feminismus zum Faschismus an.55 Majewskas 53
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Zu seiner Kritik an weißen Projektionen (Othering) auf Afrikaner*innen in Paris siehe SK: »[N-]ball in Paris« [FZ 2.11.1928] 5.3; zur Kritik an weißen rassistischen Stereotypisierungen von Chines*innen in Weimarer Kulturfilmen siehe CH, S. 143, 193. In Ginster sagt sein Ich als Titelfigur: »›Jeder Mensch, den ich kenne, ist eine Festung.‹« Und gegenüber Subjekten bürgerlicher Durchsetzungskraft macht er Erfahrungen wie diese: »Immer stellten sie etwas vor und vertraten etwas.« (7, S. 132, 139) (Vergleichen wir das mit Chaplin, der, wie zitiert, »gar nichts repräsentiert«.) Und: »Trotz seiner achtundzwanzig Jahre verabscheute Ginster die Notwendigkeit, ein Mann werden zu müssen.« Denn all die Männer mit »symmetrischen Grundrissen« »glichen Ländern mit Grenzen. […] Er selbst wäre zum Unterschied von ihnen gerne gasförmig gewesen […].« »Immerhin gelang es Ginster, sich von der eigenen Anwesenheit zu überzeugen. Sie ließ sich wenig schön an; so allein inmitten der Allgemeinheit.« (7, S. 139f, 215) Laurie Penny 2022 in Sexual Revolution: Modern Fascism and the Feminist Fightback. – Ewa Majewska: »For a Feminist Critique of the Fascism (Not) to Come« in: Ekaterina Degot, David Riff, Katalin Erdödi, Dominik Müller (Hg.): Volksfronten/Popular Fronts. Art and
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Votum ist: »locate [feminism] at the core of politics«. Und: »the analysis of fascism by necessity becomes a feminist analysis«. Und zwar, so legt sie nahe, aus dreierlei Grund: Erstens weil Männerherrschaft antidemokratisch ist, was in rechtsnational regierten Ländern wie Polen heute in spezifischer Weise über staatliche Politik artikuliert ist: Herrschaftlicher Angriff auf reproduktive Rechte (auch in Teilen der USA), Zugriff auf die Körper von Frauen (und, umfassender, FLINTA-Personen), das sei mehr als ein »Exzess an Souveränität«, der im Register politischer Institutionen abliefe; vielmehr, so Majewska, manifestiere sich darin eine gewaltbereite Biopolitik im »desire for absolute power over women and all ›others‹ as well«.56 Wenn zweitens heutige Staatsund Kapitalmachtausübung neufeudale, neoabsolutistische Züge annimmt – was nicht dasselbe ist wie Faschisierung, aber auch nicht himmelweit von dieser entfernt –, dann ist allerdings, so Majewska, die Erfahrung von Feudalherrschaft etwas, das, im mikropolitischen Register von Alltag, für Frauen ohnehin die meiste Zeit über normal war und ist.57 Drittens gilt es, dieses auf Faschismus hin steuernde Männerherrschafts-Kontinuum nicht mit maskulinistisch-heroischem Widerstand kontern zu wollen: Potenz-Huberei in Sachen Helden-Identität sei letztlich dem Nationalismus und Rassismus zu nahe, der doch bekämpft werden sollte. Stattdessen bringt Majewska von der Warte feministischer Antifa aus Walter Benjamins Konzeption einer »schwachen messianischen Kraft« ins Spiel:58 Ein weak messianism, als PathosForm einer »initial weakness«, biete Raum und Kontext für Widerstand. Dies biete der schwache Messianimus sowohl geschichtspolitisch, als ein Gedächtnis vergangener Unterdrückungen und Kämpfe, als auch ontologisch, womit die Frage von subjektiven Seinsweisen mitgemeint ist: also z.B. Stark-seinMüssen versus Schwach-sein-Können. Und das geht bei Majewska schließlich in die Richtung, dass gegenherrschaftliche Politik neu zu konzipieren ist: weg von heroisierenden Losungen wie escape und disruption, hin zu Formen von cooperation und persistence.59
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Populism in an Era of Culture Wars. Berlin 2019. Auch Majewska referiert auf Faschismus-Konzepte bei Reich, Deleuze & Guattari und Klaus Theweleit. Majewska: »For a Feminist Critique of the Fascism (Not) to Come«, S. 88, 94. Ebd., S. 92, etwa: »Absolutism was preserved in gender relations.« Walter Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte« [1940] in: Illuminationen. Frankfurt a.M. 1977, S. 252. Majewska: »For a Feminist Critique«, S. 93; »Bitter Victory«, S. 403, 411. – Ein Querverweis zu Majewskas feministischer weakness: Brynn Tannehill legte eine Liste von 13 (nicht wie bei Eco 14) Charakteristika des Faschismus vor. Neben sozusagen übli-
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Vom geschichtstheoretischen »schwachen Messianismus« Walter Benjamins, der 1940 verzweifelt (und ultimativ in den Suizid) vor den Nazis nach Marseille flüchtet – zur heutigen Kritik am Maskulinismus-Element im Faschismus: Diese Verknüpfung nimmt Majewska vor. Und dazu gibt es ein (quasi kürzeres) Gegenstück bei Kracauer; nämlich die Linie, die sein Denkmotiv einer active passivity an seine Flucht vor den Nazis 1940 aus Paris nach Marseille (und weiter in die USA) rückbindet. Von active passivity schreibt Kracauer im posthumen Buch History (1969; H, S. 84, 92). Seine Geschichtstheorie behandelt Geschichte als realistische Erfahrungsform unvorhersehbarer Neuanfänge, auch in politischer Perspektive, und active passivity ist eine von Kracauers Chiffren für die Subjektivität, die dieser Erfahrung entspricht: Es geht um Passivität – ein nicht herrschaftlich zupackendes Verhältnis zur Wirklichkeit –, an der etwas Aktives unerwartet zutage tritt. Auftauchen von Agency, wo nur Passivität zu herrschen scheint: Ein frühes Beispiel dafür bietet Kracauers Dechiffrierung des demos als Rebus, sein Lesen der Spuren all der Pariser*innen, die sich weigern, sich vor Hitler zu präsentieren. Dieses Spurenlesen erfolgt im Licht der active passivity, einer Aktivität, die sich – wenn auch gerade nicht auf den ersten Blick – an einem Nicht-Tun zeigt.60 Dieses Lesen nimmt Handlungsmächtigkeit wahr, wahrt sie als zunächst unsichtbare gegen ihre Nihilisierung; verdeutlicht ist das anhand des passiven Paris als Kollektivsubjekt von Leuten, die active passivity ausüben. Diese zerstreute, ins Off des Bildes gestreute, Masse handelt durch Besuchs-Boykott, quasi durch Streik – wo es doch normaler Weise darum ginge, dass sie sich dem ›hohen Besuch‹ zumindest als Schaulustige präsentieren (und wo eine öffentliche Gegendemonstration unter Bedingungen der Wehrmachts-Besatzung kaum eine Option ist61 ).
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chen Charakteristika – Führerprinzip, Ultra-Nationalismus, Verschwörungsdenken – finden sich darin, gleich als erstes und zweites Charakteristikum, Misognynie, LGBTQIA+-Feindlichkeit und Verachtung für »the weak« hervorgehoben; dies intersektional zusammengedacht mit White Supremacy, mit der Bekämpfung von Arbeiter*innen-Organisationen im Interesse von corporate power als Faschismus-Faktoren. Hinzu kommt Tannehills Fokus auf antiintellektuelle, antiurbane Allianzen der sich faschisierenden Rechten (Trump, Bolsonaro) mit evangelikalen Gruppen und neuem Mystizismus. Brynn Tannehill: »Thirteen Characteristics of Fascism« (24.2.2020) www.bryn ntannehill.com/thirteen-characteristics-of-fascism/ [28.11.2022]. Etwas zeigt sich auf den zweiten Blick – eine bei Kracauer häufige Wendung (siehe Kap. 6.3). Auch hier eine Parallele zu Arendt: Den »passiven Widerstand« fasst die Autorin einer Theorie der Politik duch Handeln als eine nachgerade ironisch zu verstehende Bezeichnung für eine der »aktivsten und wirksamsten Formen des Handelns«. Warum ist
5. Unvollständigkeit einrichten: Kracauer’sches Nichts als Rest und Lücke
»Paris is as quiet as a grave,« wie Kracauer schreibt. Da klingt herein, im Sound, definitiv in der gemeinten Anmutung: Paris est en grève, Paris streikt, zeigt sich nicht zur Stelle, macht im Stillen Blau…62 Kracauer, der so gern und oft nach Paris gereist ist und später die ersten sieben Jahre seines Exils dort verbracht hat, würdigt die Renitenz der Stadtbevölkerung, die nicht im Bild, aber noch dort ist: im Sommer 1940, kurz nachdem er selbst vor den Nazis aus Paris flüchten musste. Und Kracauer, der als Zeitungsautor oft in Sympathie zu Gewerkschaften und kritisch über autoritäre betriebliche Arbeitsregimes (auch über die Arbeitsrechtsreform der Nazis) geschrieben hat,63 würdigt einen Quasi-Streik als eine mögliche Form von schwachem Handeln. So wird Nicht-Tun zu einem Fall von politischer active passivity.
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der passive Widerstand laut Arendt so aktiv und wirksam? Weil durch ihn die Vielen – schwach, aber nicht ohnmächtig – einer Gewalt nicht weichen, sich dabei aber zugleich dem offenen Kampf gegen eine überlegene Stärke nicht stellen. Die Gewalt der Stärkeren gegen die Schwachen würde, so Arendt weiter, durch deren passiven Widerstand zum »organisierten Massenmord« gleichsam genötigt. (Arendt: Vita activa, S. 253) Hier wird die Ironie bitter: Massenmord haben die Nazis 1940 in Paris nicht begangen, hätten dies vielleicht auch im Fall von massenhaftem zivilem Ungehorsam nicht getan. Jedoch: Dem Februarstreik 1941 in der Großregion Amsterdam – der, wenn auch nicht durchgängig von der Intention, so doch von der Manifestation her, einen Moment der Solidarisierung der Mehrheitsbevölkerung mit verfolgten Jüdinnen und Juden bedeutete – begegneten deutsche Besatzungsbehörden mit Gewalt samt einigen Hinrichtungen; ganz zu schweigen von genozidalen Nazi-Repressalien gegen späteren Widerstand in Frankreich und Südeuropa und von den Massenmorden in Osteuropa. Kracauer, der Denker der active passivity, der am Beginn seiner politischen Schreibe für »stilles Warten« und »Nichttun« als Verhalten gegenüber der Entwirklichung der Alltagswelt plädierte (SK: »Die Wartenden« [FZ 12.3.1922] OdM, S. 118) – er legt anhand der Paris-Wochenschaubilder ein ›Tu nicht mit! Bleib daheim!‹ nahe. Diese (implizite) Losung kommt der feministischen Kritik Majewskas an linksheroischem Machismo vielleicht näher als Benjamins »schwache messianische Kraft«; dies, wenn wir bedenken, dass Benjamin seine Schwäche-Anmutung im selben geschichtsphilosophischen Text (»Begriff der Geschichte«, S. 259f) mit Selbstzucht als ›mannhafter‹ Tugend (gegenüber »der Hure ›Es war einmal‹«) zusammendenkt. Siehe Kap. 3.2. – Eine solche Kritik äußert er denn auch in Totalitäre Propaganda im Namen der Leere und Lücke, die den Rest gegenüber der Totalität eines produktivistischen Regimes aufrechterhält: Da könnte die Lücke den Rest gegenüber der Totalität von Einspannung ins Nazi-Arbeitsregime aufrechterhalten – aber nein: Die Durchplanung von Massen-Erholung durch den Nazi-Verband Kraft durch Freude bewirkt, so Kracauer, die »systematische Verstopfung der kleinsten Ferienlücke« (TP, S. 137).
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6. »If you watch closely enough«: Antisemitismus, der Nazi-Holocaust und ihre Alltäglichkeit
Was wird, Kracauers Lindenpassage-Aufsatz von 1930 zufolge, in der Passage, im Übergangszustand, der deutschen Gesellschaft ausgebrütet? – »vielleicht de[r] Fasc[h]ismus oder auch gar nichts«.1 Bald darauf gelangt der nationalsozialistische Faschismus an die Macht; er verübt systematisch gigantischen Massenmord. Faschismus oder auch gar nichts: Nach der militärischen Niederlage der Nazis sieht es lange so aus, als sei doch eigentlich gar nichts passiert – insofern, als der Übergang ins Wirtschaftswunder recht reibungslos funktioniert.2 Was vom Nazi-Massenmord an Jüdinnen und Juden und anderen stigmatisierten Minderheiten bleibt, was an Erinnerungen und Überlebenden bleibt, das scheint diese Passage nicht wirklich zu erschweren, fällt nicht weit ins Gewicht. Vom Faschismus bleibt diesbezüglich beinah gar nichts zurück.3
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SK: »Abschied von der Lindenpassage« [FZ 21.12.1930] OdM, S. 332. In der BRD. In dieser Hinsicht ähnlich in Österreich und – weniger wirtschaftswunderlich, dafür bald mit Mauer rund um ein stalinistisch beherrschtes Mangelwirtschaftsbiotop – in der DDR: in zwei weiteren postnazistischen Gesellschaften, deren Staatsdoktrin jeweils (lange) darauf abzielte, man habe mit den Nazi-Massenmorden kaum etwas zu tun (Mythos vom Staat als »erstes Opfer Hitlers« bzw. vom »antifaschistischen« Staat). Etwas Ähnliches, mit einem anderen Akzent, nämlich auf dem Nichts, das der Zusammenbruch eines faschistischen Staates hinterlässt, äußert Wilhelm Reich anhand des italienischen Faschismus (bei dem Systenatik und Ausmaß von vernichtungsrassistischen Morden weit geringer sind als beim Nationalsozialismus); und zwar schon 1944 – gleich nach Mussolinis Teil-Demontage, während Hitler noch herrscht: »Wir haben es in den letzten 25 Jahren erlebt, daß ein schlechter Journalist das 50-Millionen-Volk der Italiener zu brutalisieren und schließlich ins Elend zu führen vermochte. 22 Jahre herrschte großer Lärm um nichts, einhergehend mit Mord und Totschlag, bis eines
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1958 erschien Kracauers lange Zeit bekanntestes Buch, seine längste Studie zum deutschen Faschismus, in deutscher Übersetzung. From Caligari to Hitler, 1947 in seinem New Yorker Dauer-Exil erstveröffentlicht, erschien in der BRD gut zehn Jahre später in einer Stümmel-Übersetzung, die Teile seiner Analyse eines Faschisierungsprozesses unterschlug. Auf derselben Linie wurde noch dazu im Haupttitel dieser Übersetzung das Zusteuern-auf (quasi das Ausbrüten), also das From-To, das Von Caligari zu Hitler, durch eine lapidare Zeitabschnittsmarkierung ersetzt: Von Caligari bis Hitler, so als sagte man ›Von Dienstag bis Donnerstag‹; als wäre mit Hitlers Kanzlerschaft 1933 nichts passiert, was in Deutschland eine Vorgeschichte hätte – und auch nichts allzu Einschneidendes.4 In den Öffentlichkeiten postnazistischer Gesellschaften der Nachkriegszeit ist der Holocaust kaum Thema; aber nicht nur dort. Gertrud Koch stellt zu Kracauers in den Nachkriegsjahren verfasstem, 1960 erschienenem Buch Theory of Film fest, dass darin die Nazi-Massenmorde und die durch sie aufgeworfenen Fragen von Darstellbarkeit kaum Thema sind. Dies deshalb, weil Kracauers Filmtheorie einer Redemption of Physical Reality (so der Untertitel des Buches) verpflichtet ist, somit einem »Primat des Optischen, der Rettung der Wirklichkeit durch ihr Bild«, schreibt Koch, und sie setzt dies mit einem »Konkretismus der Anschaulichkeit« gleich, an dem Kracauer festhalte. Dieses Anschaulichkeitsgebot stoße jedoch, so Kochs Kritik, »an seine Grenze«, es »sperrt sich von innen her gegen das, was die Massenvernichtung ausmacht«, durch die so viele Leben »sich in Feuer und Rauch aufgelöst haben, ohne eine visuelle Erinnerungsspur ›rettend‹ nach sich gezogen zu haben.« Insofern stelle Kracauer »eine der zentralen Fragen der Ästhetik nach Auschwitz nur nebenbei, auf Umwegen.«5
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Tages der Spuk sang- und klanglos verschwand, sodaß einen das Empfinden überkam: ›Und nichts geschah!‹ Von einem riesenhaften, die Welt in Atem haltenden, viele andere Nationen aus ihrem gewohnten Leben reißenden Lärm blieb Nichts zurück, kein einziger dauerhafter Gedanke, keine einzige nützliche Einrichtung, nicht einmal eine stille Erinnerung.« Wilhelm Reich: Die Massenpsychologie des Faschismus. [1933, 1969] Köln 1986, S. 321. Der Untertitel der 1958er Übersetzung lautete, im Voraus relativierend, Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Films. Die vollständige Übersetzung erschien 1979 unter dem korrekten Titel und Untertitel Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. Gertrud Koch: Kracauer zur Einführung. Hamburg 1996, S. 147.
6. Antisemitismus, der Nazi-Holocaust und ihre Alltäglichkeit
Koch hat in einigem Recht – allerdings nicht zuletzt gegen sich selbst, gegen ihr eigenes Urteil über Kracauer. Das zeigt sich im Licht der Kracauer-Rezeption von Heide Schlüpmann: Teils unter Bezugnahme auf Kochs Interpretation weist Schlüpmann darauf hin, dass Kracauers auf Film bezogener Rettungsgedanke, samt seiner messianistischen Vorgeschichte, in einem Spannungsverhältnis zu jener Rettung gesehen werden muss, die ausgeblieben ist; ausgeblieben ist die Rettung für die Jüdinnen und Juden (und andere von den Nazis stigmatisierte und ermordete Gruppen), schon 1933 und mehr noch in der Vollzugsphase der Massenmorde.6 Die Rede von der Rettung artikuliert hier mit, dass diese faktisch nicht stattfand, schreibt Schlüpmann über Theory of Film, und »Auschwitz« wird für Kracauers Verständnis von Film zentral, kategorisch – gerade auf den von Koch genannten »Umwegen« bzw. auf einem unruhigen, »doppelten«, mehr verratenden Boden: Kracauers »Theorie des Films thematisiert Film nach Auschwitz.« Diese Theorie »ist doppelbödig; sie sieht den Film, und sie sieht im Spiegel des Films das nationalsozialistische Grauen an.«7 Dass Theory of Film eine Theorie des Films nach Auschwitz ist, zeigt sich nicht durch anschauliche Darstellung;8 es zeigt sich durch ein Spuren-Lesen und -Verknüpfen. Doppelter Boden, double take (zweiter Blick): Kracauer gibt uns in seinem Schreiben, wie hier zu zeigen sein wird, die Ausblendung des Holocaust als Bedingung der Einbettung dieses Massenmordgeschehens in Normalität zu verstehen – während seines Ablauf wie auch danach, nach 1945. Dies vor dem Hintergrund von Kracauers langer Auseinandersetzung mit deutschem Antisemitismus.
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»[S]o ist nun die ›Katastrophe‹ eingetreten, ohne daß der Messias angekommen wäre,« schreibt Heide Schlüpmann in »Auf der Suche nach dem Subjekt des Überlebens« in: Ein Detektiv des Kinos. Studien zu Siegfried Kracauers Filmtheorie. Basel, Frankfurt a.M. 1998, S. 107. Ebd., S. 106: Dass Koch Kracauers Erfahrungsbegriff so sehr mit Anschaulichkeit und Visualität engführt, liegt ein kleines Stück weit auch daran, dass sie Theory of Film nach der deutschsprachigen Übersetzung von 1964 zitiert, in der sich – an der neuralgischen Medusaund Holocaust-Stelle, die uns weiter unten ausführlich beschäftigen wird – eine regelrechte Gleichsetzung von »erfahren« mit »erblicken« findet, die so im Original nicht steht; dort ist nur von »experience« die Rede, wie auch sonst häufig bei Kracauer (ToF, S. 306).
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6.1 »Den Geist mit Grauen erfüllen«: Sündenbock, Witzblatt, blutiger Ernst Wie sieht nun Kracauer in seinen Schriften zum Aufstieg der Rechten in Deutschland und zum Nationalsozialismus den Antisemitismus in diesen Bewegungen und in dieser Herrschaftsform? Heute wird der antisemitische Vernichtungsrassismus zurecht als eine zentrale Triebkraft und Auswirkung des Nationalsozialismus gesehen; er gilt auch als wesentliches Alleinstellungsmerkmal gegenüber anderen Faschismen (die weniger Propaganda und Energie in die Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden und von anderen völkisch-puristisch stigmatisierten Bevölkerungen – Sinti, Roma, Slaw*innen, Menschen mit Behinderung, »Asoziale« – investieren). Gemessen an dieser Zentralstellung scheint es zunächst so, als verstehe Kracauer den Antisemitismus der Nazis als etwas Abgeleitetes, als ein Sub- oder Folge-Phänomen.9 So scheint es sich auch bei seiner politisch-soziologischen Diagnose 1933 zur Anfangsphase der nationalsozialistischen Herrschaft zu verhalten: »Man verwirft die Ratio, weil man das Opfer der übereilten Rationalisierung geworden ist und außerdem vor dem Gebrauch des Intellekts zurückschreckt, der das eigene Elend überdeutlich belichtete, man prangert das Judentum an, um einen Prügelknaben zu haben, der für dieses Elend verantwortlich gemacht werden kann. Indem der Nationalsozialismus solche Komplexe der depossedierten Mittelschichten mit einem positiven
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So etwa, wenn er 1938 eine Aussage von Hitler zitiert, wonach es zur »Auslese einer neuen Herrenschicht« kommen soll, die »auf Grund ihrer besseren Rasse das Recht hat zu herrschen«, und diese rassistische Erklärung unter den Nihilismus subsumiert, den er als ein zentrales Wesensmerkmal des Faschismus ausmacht: Dass gesellschaftliche Hierarchie auf das Fundament der »Rasse« gestellt wird, darin sieht Kracauer das Einbekenntnis, dass die Nazis nichts gelten lassen; diese brutale Mythologie, die ›Stärkere‹ zu rechtmäßig ›Herrschenden‹ erhebt, ist in seinen Augen »der hier offen bekannte Nihilismus« Hitlers (TP, S. 28). An anderer Stelle kennzeichnet Kracauer den Antisemitismus als eine Art Auswuchs von etwas Umfassenderem, nämlich des Irrationalismus der Nazis mit seinen Gewalttendenzen. So zitiert er, ebenfalls 1938, den NS-Erziehungswissenschaftler Ernst Krieck: Die »revolutionäre Volksbewegung« des Nationalsozialismus entstamme dem »Acheron der Unterwelt« – Krieck meint eine »seelische Unterwelt« – als »Mutterschoß aller zeugenden und gebärenden Kräfte«. Diese Feier von Urkraft kommentiert Kracauer so: »Der Rassenwahn und der Judenhaß sind die Feuerlilien, die in diesem Urschlamm erblühen.« (TP, S. 43)
6. Antisemitismus, der Nazi-Holocaust und ihre Alltäglichkeit
Vorzeichen versieht, d.h. den Rassenhaß predigt und das Lob des Irrationalen verkündet, umwebt er das dumpfe Fühlen der ihm anhängenden Massen mit einem Glorienschein. Der Antisemitismus, den viele allzu optimistische Bürger zum Schönheitsfehler verkleinerten, ist in Wahrheit ein ideologisches Kernstück der Bewegung. […] Seine eigentliche Mission ist: die Tatsache des Klassenkampfes dadurch zu überdecken, daß man ihn in den Rassenhaß einmünden läßt.« Außerdem sei, so schließt Kracauer diese Diagnose ab, mit den antisemitischen Maßnahmen »zahlreichen Stellenlosen gedient, die jetzt schöne Posten ergattern.«10 (Posten, die durch Entlassungen von Jüdinnen und Juden, vor allem aus dem Staatsdienst, frei werden.) Sehen wir uns Kracauers Zitat aus dem Frühjahr 1933 näher an, nach und nach. Reduziert er etwa das brutale Vorgehen gegen alles, was als jüdisch gilt, auf eine Ablenkungsmaßnahme? Argumentiert er vulgärmarxistisch, im Sinn von: Antisemitismus soll den Klassenkampf, dessen Unumgänglichkeit sonst offen zutage läge, verdecken, in ein ›Ventil‹ leiten? Und soll der Antisemitismus Kracauers Zitat zufolge – von wegen »schöne Posten« – nichtjüdische Deutsche bereichern helfen? (So wie in den Jahren darauf jene, die von »Arisierungen« jüdischen Eigentums profitieren.) Ist es das, was er im Wesentlichen sagt? Nun, Kracauers Einschätzung geht darüber doch hinaus, denn er stellt ja fest, dass die Attacken auf das »Judentum« ein »ideologisches Kernstück« des Nationalsozialismus sind. Sie sind, mit Kracauer gedacht, ein Kernstück im Sinn einer Totalisierung, einer totalitären Politik: Diese strebt eine integrale, homogene Volksgemeinschaft an, so der Positivname der Nazi-Propaganda für eine Gesellschaft ohne Klassen(-Kampf) und andere wirkliche Binnendifferenzen; und sie identifiziert/stigmatisiert dabei eine Gruppe, der sie die Schuld daran aufbürdet, dass diese Volksgemeinschaft (die ja objektiv unmöglich ist)11 noch nicht Wirk-
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SK: »Die deutschen Bevölkerungsschichten und der Nationalsozialismus« [in frz. Übers. in L’Europe Nouvelle 20.5. und 3.6.1933] 5.4, S. 444. Sie it unmöglich; wirklich an ihr sind nur die Effekte gewaltsamer und terroristischer Vereinheitlichung. – Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schreiben 1944, mit auch nicht mehr Anklang von marxistischem Reduktionismus als Kracauer, in »Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung« (Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 1969, S. 194f): »Haben die ökonomischen Machthaber ihre Angst vor der Heranziehung faschistischer Sachwalter erst einmal überwunden, so stellt sich den Juden gegenüber die Harmonie der Volksgemeinschaft automatisch her.«
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lichkeit wurde. Dafür spielt das jüdische Volk als eine traditionell markierte Minderheit die Rolle des Sündenbocks, des »Prügelknaben«, wie Kracauer schreibt. Die Jüdinnen und Juden sind weiters – so legt seine Parataxe »Man verwirft die Ratio […], man prangert das Judentum an« nahe – der Punkt, an dem die Nazis die Ratio, die Vernunft schlechthin, attackieren. Notorisch sind Attacken und Maßnahmen gegen einen Intellekt, der als jüdisch identifiziert und als ›entartet‹, ›überspannt‹, ›zersetzend‹ etikettiert wird. Auch da spielt das Sündenbock/Prügelknabe-Thema herein. Es geht Kracauer aber auch darum, dass es den Nazis allzu sehr gelingt, den Intellekt, die Vernunft, »den Geist mit Grauen [zu] erfüllen.« (TP, S. 74)12 Der Antisemitismus ist in seiner Sicht die Form, in der die Nazis ihren totalitären Anspruch einlösen, in ihrem Herrschaftsbereich die Vernunft, als Erkenntnisform von Gerechtigkeit und Freiheit, zur Gänze außer Kraft zu setzen. 1938 schreibt er: »[D]ie Propaganda [baut] nicht selten ihre Veranstaltungen mit einer Konsequenz aus, die zu grotesken oder lächerlichen Maßnahmen führt, und treibt dann, völlig humorlos, die betreffenden Maßnahmen tief in die Realität hinein. Die Rassenarithmetik ist ein Kabarettscherz, die arische Großmutter eine Witzblattfigur. Aber weit davon entfernt, Entgleisungen zu sein, sind solche Lächerlichkeiten vorsätzliche Demonstrationen, die eine Versteifung der Propaganda bezwecken. Sie sollen nicht nur erhärten, daß der Terror sogar Gewalt über die Lachmuskeln hat, sondern diese Gewalt noch durchgreifender gestalten und ihrerseits die Intelligenz dämonisieren. Ein Witzblatt, das in Wirklichkeit umschlägt, muß den Geist mit Grauen erfüllen.« (TP, S. 74) Das ist vergleichbar mit Kracauers (in derselben Studie Totalitäre Propaganda geäußertem) Gedanken, dem zufolge die Nazi-Herrschaft auch noch die Bloßlegung ihrer eigenen Machinationen dazu nutzt, ihre Machtwirkung noch unentrinnbarer erscheinen zu lassen (siehe Kap. 4.2). Mit den eben zitierten Bemerkungen von wegen »Kabarettscherz« und »Witzblattfigur« gibt er zu verstehen: Auch dort, wo der Nazi-Terror in seinen Zielen und Umsetzungsformen lächerlich anmutet, ja sogar gerade dort, wird er mit unerbittlicher Konsequenz
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Siehe auch die Wissenschaftsfeindlichkeit heutiger rechter Propaganda: von evangelikalen Phobien gegen die Evolutionslehre über Angriffe auf Klimakrisen-Studien bis zum Bashing medizinisch-epidemologischer Covid-Maßnahmen-Empfehlungen.
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praktiziert.13 Gewissermaßen macht ihn ebendies erst zum genuinen Terror, zur Schreckensherrschaft, die den Geist mit Grauen erfüllt. Dieses Grauen hat eine mehr als ›nur‹ instrumentelle Funktion: Diesbezüglich steht Kracauer der Sicht von Hannah Arendt auf totalitäre Herrschaft nahe. Arendt hebt darauf ab, dass Totalitarismus von folgender unerschütterlicher Überzeugung ausgeht: Auf Basis eines Axioms, das als fixe Idee fungiert – Biologie im Nazismus, Geschichtsteleologie im Stalinismus – lässt sich schlichtweg alles konsistent organisieren. Ebendies nun vor den Augen der Welt zu realisieren und somit die Unberechenbarkeit der menschlichen Freiheit wie auch der kontingenten Wirklichkeit massiv, nachgerade auf einer Seins-Ebene, zu nihilisieren – darin besteht Arendts Darlegung zufolge die Praxis totalitären Regierens. Das heißt mithin auch: Wenn eine Minderheit unerbittlich verfolgt wird, geht es um totale Konsistenz des jeweiligen Herrschaftsprojekts; an diesem Punkt betont auch Arendt die schiere Lachhaftigkeit der »rassen«gesetzlichen Einforderung von »Ariernachweisen«: »It was of course a comedy, and even an expensive one, when 80 million Germans set out to look for Jewish grandfathers« – aber die Nazis leisteten sich diesen Spaß bzw. dessen rückhaltloses Ernst-Werden.14 Was sonst nur Humbug wäre, das sollen systematische antisemitische Maßnahmen in der Praxis bewahrheiten, authentifizieren. »Die Rassenarithmetik ist«, so Kracauer 1938 (wie zitiert), »ein Kabarettscherz«: einer, der – immer mehr, zumal in den Jahren, nachdem Kracauer dies schreibt – durch brutale Verfolgung zum blutigen Ernst wird; und der dadurch die Reichweite und Durchschlagskraft einer Schreckensherrschaft effektiv demonstriert 13
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Ein Stück weit können wir uns davon, mit Blick auf jüngere politische Mobilisierungen der Rechten, an die Rolle haarsträubend gruppenfeindlicher, antisemitischer oder rassistischer, Witze in Kampagnen eines Jörg Haider oder Donald Trump erinnert fühlen. (Oder an den Programmpunkt im Landesregierungs-Koalitionspakt der Rechtsparteien ÖVP und FPÖ in Niederösterreich im März 2023, dem zufolge ein Gastronomiebetrieb – »der Wirt« – nur dann Landes-Wirtschaftsförderung erhält, wenn er ein »traditionelles und regionales Speisenangebot« anbietet: eine Schweinsschnitzelverordnung als Kebab- und Veganismus-Verbot – Witzblatt als Wirklichkeit.) Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism. [1951/1967] London 2017, S. 493. Der unmittelbare Kontext dieses Zitats sind Arendts Ausführungen, wonach die Nazis die Initiation in eine secret society auf der Ebene einer Massenorganisation betrieben, eben unter anderem, indem sie von jenen, die dazugehören wollen, »Ariernachweise« verlangten. Arendts Geheimgesellschafts-Vergleich ist seinerseits Teil ihres umfassenderen Gedankens, wonach totalitäre Regimes eine eigengesetzliche, in sich konsistente und restlos durchberechnete (wenn auch irrationale und irrational strukturierte) Welt einrichten und vor der unberechenbaren, heterogenen Wirklichkeit abschotten.
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und erhärtet. Denn: Nicht nur gibt es bei den zunächst (vielleicht) lächerlich anmutenden Maßnahmen nichts zu lachen.15 Sondern: Diese Maßnahmen erfüllen ihre terroristische Funktion, ihre Rolle als Schmiermittel für die Herrschaft; auch gegenüber jenen, die von ihnen, konkret: von den »Nürnberger Rassengesetzen«, nicht unmittelbar, nicht als jüdisch Markierte, betroffen sind.16 In diesem Zusammenhang lässt Kracauer das Blut des blutigen Ernsts auch in einer weniger metaphorischen Bedeutung anklingen, nämlich in der Bedeutung von Blut, das durch physische Gewalt vergossen wird, und von Blut, das durch »Rassengesetze« selektiert wird: Über die Nazi-Propaganda schreibt er, dass diese »bewußt ein Theater aufführt, das offenkundig Theater ist«, und bei dem »sich die Spieler der Scheinhaftigkeit ihres Handelns bewußt sind.«17 In diesem Zusammenhang ist nun »die Bedeutung des Terrors genau die: sowohl den HJ-Leuten [und anderen Gefolgsleuten, DR] wie dem
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Dass bei den Nazis auch etwas, das wie ein Witz erscheint, ernst gemeint ist, vermerkt 1937 Ernst Bloch: »Das ist kein Scherz, es gibt keinen Scherz aus solchem Munde. Man hat gelernt, das Lächerliche ernst zu nehmen.« (Ernst Bloch: »Gauklerfest unterm Galgen« in: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a.M. 1985, S. 81) – Ähnlich heißt es 1942 in dem Hollywood-Propaganda-Klassiker Why We Fight: Prelude to War, zu Archiv-Aufnahmen von Mussolini, Hitler und ihren Gefolgsleuten in skurrilen Monturen, die USA hätten diese Cäsaren-Clowns zu lange als schrullig abgetan: »To us they looked like characters from a musical comedy. But they weren’t comic. They weren’t funny.« – Kracauers Analyse geht, wie hier dargelegt, über ein solches ›Da vergeht dir der Spaß‹-Urteil hinaus. Kracauers Textstelle »Die Rassenarithmetik ist ein Kabarettscherz, die arische Großmutter eine Witzblattfigur.« gehört zu den wenigen, die Adorno 1938 in seine auf ein Fünftel gekürzte, gänzlich umformulierte Neufassung von Kracauers Totalitäre Propaganda übernimmt (die unter seinem, Kracauers, Namen zu veröffentlichen dieser sich verbat; siehe Kap. 1.3). Allerdings zeichnet Adorno den Kreis derer, auf die der Scherz, der blutiger Ernst wird, sich auswirkt, als tendenziell beschränkt auf die unmittelbar von den »Rassengesetzen« geschädigten Menschen mit als jüdisch definierten Vorfahren: »Rassenarithmetik und arische Großmutter gehören ins Witzblatt. Aber ihre Invention ist keine Entgleisung. Dem vergeht das Lachen, den die fünfundzwanzig Prozent die Existenz kosten. Die Witzblattfigur als gesellschaftliche Macht verbreitet offenes Grauen.« (Adorno: Neufassung »Zur Theorie der autoritären Propaganda«, TP, S. 288) Ähnlich Adorno 1967 (in Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Berlin 2019, S. 14) über Nazis und Neonazis: »Dieses Moment des Angedrehten, sich selbst nicht ganz Glaubenden, hat [der Nationalismus] schon in der Hitlerzeit gehabt.« Ähnliches formuliert Adorno 1959 in »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« (in: Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt a.M. 1963, S. 138) und 1966 in »Erziehung nach Auschwitz« (in: Stichworte. Kritische Modelle 2. Frankfurt a.M. 1969, S. 100).
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unbeteiligten Publikum die Überzeugung beizubringen, daß das Spiel mehr als ein Spiel und der Irrsinn die Norm sei«. Das Blut erfüllt seinen Zweck in dieser Erhebung zur Norm: »Ströme des Bluts sollen erhärten, daß die Farce Ernst ist, blutiger Ernst«, und sie sollen helfen, »den atavistischen Glauben zu vertiefen, daß Blut die Wirklichkeit oder die Größe einer Sache garantiere.« (TP, S. 73) Das Blut fungiert unter Bedingungen des Terrors als Mittel zum »Wahrheitsbeweis« (TP, S. 73). Was Kracauer 1938 anhand von »Rassenarithmetik« und »arische[r] Großmutter« als einen Scherz anspricht, nämlich den Zwang zur Erbringung eines »Ariernachweises«, darüber hat er gut zehn Jahre zuvor, als FZ-Autor und noch in Frankfurt, selbst gescherzt; damals in Verteidigung eines Autorenkollegen in der Frankfurter Zeitung, den der Herausgeber der antisemitischen Zeitschrift Deutsches Volkstum öffentlich angegriffen hatte. Kracauer kontert diese Attacke, mitsamt ihrer Äußerung der Vermutung, es handle sich bei dem angegriffenen FZ-Autor wohl um einen Juden: Der »Inkriminierte«, so Kracauer sarkastisch über diesen Fall von, wie er es nennt, »Judenriecherei«, sei »blond und von einwandfrei arischem Geblüt«; die FZ-Redaktion könne dem völkischen Polemiker »gern seine Photographie und Blutproben zur Prüfung« vorlegen.18 18
SK: »Aus ›völkischen‹ Kulturbezirken« [FZ 29.5.1927] 5.2, S. 608. – Kracauers »arische Großmutter« als »Witzblattfigur« und »Rassenarithmetik« als »Kabarettscherz«, das wirft rückblickend ein unheimliches Licht auf eine kanonische Kracauer-Textstelle, die der Autor seinerseits schon auffallend unheimlich aufgeladen hat; nämlich auf das Szenario der Enkelkinder im Aufsatz »Die Photographie« von 1927, die durch alte Jugendfotos ihrer Vorfahren im Familienalbum halb komisch und halb schaurig affiziert sind: »Sah so die Großmutter aus?« – »Sie lachen und zugleich überläuft sie ein Gruseln.« SK: »Die Photographie« [FZ 29.10.1927] OdM, S. 22f. – Einerseits (im Photographie-Aufsatz) also unheimliche Selbst-(Nicht-)Vergegenwärtigung anhand von Fotografien im Familienalbum, die Vergangenes in die Gegenwart holen; anderseits (in der Replik auf »Judenriecherei«) fotografisches Beweismaterial in Sachen ›Blutsverwandtschaft‹: Den Konnex zwischen beiden legt Kracauer selbst uns zeitgleich implizit nahe: 1926 bespricht er als Kulturberichterstatter einen populäranthropologischen Vortrag über Doppelgänger. »Doppelgängertum beruht auf Blutsverwandtschaft«, berichtet er, und im Weiteren ironisiert er diese und andere Thesen des niederländischen Vortragenden J.F. van Bemmelen. Man habe aus diesem Vortrag gelernt: »die meisten von uns stammen gewiß von ihm«, nämlich von Karl dem Großen, »ab (freilich ebenso gewiß auch von seinem Kammerdiener)«. Nach diversen Beschwörungen einer ›edlen‹ Abstammung endete der Vortrag, so Kracauer, mit der Empfehlung, »man möge die Photographien der Verwandtschaft in den Familienalben mit genauen genealogischen Angaben versehen, damit unsere Nachkommenschaft daraus Nutzen ziehe.« Das schreibt er
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6.2 Deutsch-jüdische Verklammerung: Kracauers Zeitungstexte zum Antisemitismus Kracauers sarkastische Replik ist Teil der Auseinandersetzungen mit deutschem Antisemitismus, die er ab 1923 in Zeitungsartikeln führt. Zu Beginn macht er da selbst noch Witze in Entgegnung auf antisemitische Attacken.19 Zunehmend tritt dabei das Sündenbock- bzw. »Prügelknabe«-Thema in den Vordergrund, das er (wie zitiert) 1933 als wesentliches Motiv des Antisemitismus in Deutschland nennen wird; es wird für ihn nachgerade kategorisch. Dabei wird auch zum Thema, wie sehr die Jüdinnen und Juden eine spezifische, auserwählte Opfergruppe des Nazi-Terrors sind. Mehrmals konstatiert Kracauer in den 1920er und frühen 1930er Jahren eine Verklammerung zwischen dem jüdischen Volk und dem nichtjüdischen deutschen Volk: eine enge Verbindung, die sich in einer Art deutschen Sündenbock-Projektion auflöst. Dazu eine gegenwartsbezogene Bemerkung: Verklammerung und Sündenbock-Projektion von nichtjüdischen zu jüdischen Menschen, dem begegnen wir auch bei heutigen rechten Mobilisierungen und Hetzkampagnen, nämlich bei Covid-19-Maßnahmen-Demonstrationen der Jahre 2020–2023, aber in anderer Konfiguration. Denn: Querdenker*innen, die sich durch konspirative Mächte (»Big Pharma«, Bill Gates, George Soros und andere übliche Verdächtige) ihrer Freiheit beraubt und ferngesteuert wähnen, stilisieren sich selbst zu Prügelknaben dieser Mächte; dies zum Teil, indem sie sich als Genozid-Opfer darstellen, gern auch mal als jüdisches Volk unter HolocaustBedingungen – notorisch mit Davidstern samt »Ungeimpft«-Aufschrift in
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ein Jahr vor seinen Überlegungen zur so fremd anmutenden »Photographie« der Großmutter im Familienalbum – und zehn Jahre vor Inkrafttreten jener »Rassengesetze«, die vielen deutschen Familien »genaue genealogische Angaben« abverlangen. (Das ist ein Fall von foreshadowing von NS-Terror in Kracauers Schriften: ein Fall jener Art von Vorahnungen, auf die sein Caligari-Buch 1947 zurückblicken wird; siehe Kap. 1.1) SK: »Das Geheimnis des Doppelgängers« [FZ 28.1.1926] 5.2, S. 343f. So etwa 1923 in seinem Artikel, der darauf reagiert, dass anonyme Antisemit*innen Eisenbahn-Fahrtkarten mit dem Aufdruck »Freifahrt nach Jerusalem« an Frankfurter »Briefkästen, die eine jüdisch klingende Namensaufschrift tragen«, versenden: »Nur aus dem glühenden Wunsch der unbekannten Spender, alle jüdischen Mitbürger loszuwerden, läßt sich ihre geradezu erschütternde Freigebigkeit erklären. […] Und da sage man noch, daß es in Deutschland an Opfermut fehle!« SK: »Freifahrkarte nach Jerusalem« [FZ 11.10.1923] 5.1, S. 709.
6. Antisemitismus, der Nazi-Holocaust und ihre Alltäglichkeit
Fraktur.20 Die Bagatellisierung des Holocaust endet – wie dieses Beispiel, neben vielen anderen, zeigt – nicht in den Nachkriegsjahrzehnten. (Und auch seine Universalisierung als ein Vergleichsbild, das allen noch so fiesen Selbstviktimisierungen – ich denke an die Stilisierung von Mehrheitsdeutschen und -ösis zu ›Opfern der Geschichte‹ – dankbar offenstehen soll, ist eine Art, den Holocaust für nichtig bzw. gänzlich verflüssigt zu erklären.) Ganz anders – no na – Kracauers Denkbild einer deutsch-jüdischen Verklammerung mitsamt ihrer Sündenbock-Projektions-Auflösung in den 1920er und 1930er Jahren. Dieses Denkbild formuliert er einige Male in einem philosophischen Register, und dabei kommt das jüdische Volk in seiner Spezifik in Betracht, nämlich als spezifisches Zielobjekt, das eine deutsche Aggressivität sich herbeikonstruiert; zumal etwa als ein Schatten – als Zwilling wie auch Verdunkelung –, den ein christlich-idealistischer Erleuchtungsglaube auf sich lasten sieht. So nämlich stellt Kracauer es 1923 in seiner positiven Besprechung des Buches Der Christ und sein Schatten des Publizisten Walter Tschuppik dar: Der Analyse dieses Autors zufolge, so Kracauer, fungiert der »›Jude‹« im mehrheitsdeutschen Geistesleben als »Repräsentant jener vom Idealismus übersprungenen Wirklichkeit, die sich eben doch nicht ganz beiseite drängen läßt, er folgt wie ein ewiger Schatten den Anhängern der ›christlichen‹ Ideen.«21 Das ist, Kracauer-typisch, ein realistisches Statement; es besagt in etwa Folgendes: Dem Versuch, sich ganz an absoluten Ideen zu orientieren, an Ideen, die von gesellschaftlichen Bedingungen entkoppelt sind – dem Idealismus also (im von Kracauer kritisierten Sinn) kommt die Wirklichkeit in die Quere; und zwar grundsätzlich, nicht nur einfach so oder ab und zu. Diese Wirklichkeit lässt sich nicht geringschätzig »überspringen«. Folgen wir diesem Gedanken Kracauers: Als von »dem Juden« repräsentierte kommt die Wirklichkeit, die der Idealismus überspringen will, einem Gewissen dieses Idealismus gleich; aber nicht so sehr in einem moralistisch forcierten Sinn, vielmehr als der genannte Schatten, der die »entfesselte Ratio« zu ihrer Selbstbesinnung zwingt (um es in Kracauers Terminologie zu sagen22 ). Wirklich ist, genauer gesagt: Vom Übersprungen-Werden
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In Kombination etwa mit Plakaten nach Art von »Zwangsimpfung ist Massenmord« (oft auch: »Kindermord«, ein biblisch und christlich-antisemitisch getöntes Motiv). Es kursierten auch Sujets, die das »I can’t breathe!« des an rassistischer Polizeigewalt erstickenden George Floyd mit der Pflicht zum Maskentragen gleichsetzten. SK: »›Der Christ und sein Schatten‹« [FZ 21.9.1923] 5.1, S. 696. SK: »Aufruhr der Mittelschichten. Eine Auseinandersetzung mit dem ›Tat‹-Kreis« [FZ 10./11.12.1931] OdM, S. 87; siehe auch Kap. 4.4.
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bedrohte Wirklichkeit ist, was an der Vernunft mehr ist, was anders ist, besser ist als ›nur‹ die zwanghafte Effizienzsteigerung in der Produktion, somit in der Ausbeutung menschlichen und nichtmenschlichen Lebens (diese Steigerung, dieses Wirtschaftswachstum, ist Sache der »entfesselten Ratio«). Auf dieser Linie der Kracauer’schen Argumentation (einige seiner Gedanken kontrahierend) erscheint »der Jude« als Repräsentationsfigur einer Krisen-Konstellation der Vernunft, nämlich der Möglichkeit, zu sagen, dass der Kapitalismus nicht zu viel rationalisiert, sondern zu wenig;23 und das heißt: dass der Kapitalismus nur das schematisierende, nicht das befreiende, Element der Vernunft entfaltet.24 Wie eine inverse Formulierung dazu (und von der geschichtsphilosophischen Essayistik in die politische Soziologie übertragen) liest sich dann der weiter oben zitierte »Prügelknabe«-Satz; das ist der Satz aus Kracauers Bestandsaufnahme der deutschen Gesellschaft am Beginn der Nazi-Herrschaft: »Man verwirft die Ratio, weil man das Opfer der übereilten Rationalisierung geworden ist und außerdem vor dem Gebrauch des Intellekts zurückschreckt, der das eigene Elend überdeutlich belichtete, man prangert das Judentum an, um einen Prügelknaben zu haben, der für dieses Elend verantwortlich gemacht werden kann.«25 Implizit ist damit die kritisch-realistische Selbstbesinnung mit »dem Juden« als verfolgter Outsider-Figur gleichgesetzt. (Ähnliches machte später auch Theodor W. Adorno an der nationalsozialistischen Ideologie fest.26 ) »Der Jude« wird, so legt Kracauer nahe, zum Feindbildkonstrukt der Nazis als der verhasste Schatten der Selbstbesinnung auf dem von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abgelösten, insofern faszinierenden Ideal – und auf dessen naher Verwandten, der entfesselten Zweckrationalität.27 Dort, wo Kracauer in den Jahren vor Hitlers Kanzlerschaft über die Situation des angefeindeten jüdischen Volkes schreibt, betont er den Aspekt des Verklammert-Seins mit
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Kracauers Wortlaut: Der Kapitalismus »rationalisiert nicht zu viel, sondern zu wenig.« in: SK: »Das Ornament der Masse« [FZ 9./10.6.1927] OdM, S. 57. Vgl. Eva-Maria Ziege: »Das ›jüdische Problem‹ und die Dialektik der Aufklärung« in: Gunzelin Schmid Noerr, Ziege (Hg.): Zur Kritik der regressiven Vernunft. Beiträge zur Dialektik der Aufklärung. Wiesbaden 2019, S. 134. SK: »Die deutschen Bevölkerungsschichten und der Nationalsozialismus«, S. 444. Und zwar anhand der Psychoanalyse: »Der Haß gegen [die Psychoanalyse] ist unmittelbar eins mit dem Antisemitismus, […] weil Psychoanalyse genau in jener kritischen Selbstbesinnung besteht, welche die Antisemiten in Weißglut versetzt.« Adorno: »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«, S. 142. Zum in diesem Sinn Faszinierenden von Ideen im Kontext faschistischer Mobilisierungspolitik siehe Kap. 4.4.
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den Deutschen – als deren Schatten bzw. »besseres Selbst«. Das jüdische Volk als »besseres Selbst« des deutschen Volkes, als Verkörperung deutscher Tugenden, dieser Gedanke nimmt etwa in dem ersten Artikel, in dem Kracauer Hitler und den »deutsch-völkischen Fascismus« erwähnt, die Form eines Bekenntnisses zum Staat an. Das heißt, das deutsche Judentum bekennt sich zum Staat; und dieses Commitment leite sich, so Kracauers FZ-Artikel von Anfang Februar 1923, direkt vom »messianischen Gedanken« des Judentums her. Diese Herleitung umfasst ein egalitaristisches Moment, hält aber dezidiert Distanz zum Sozialismus in dessen kommunistischer Form (etikettiert als »Bolschewismus«).28 Charakterisiert Kracauer in diesem Artikel von 1923 die Nazis als regelrechte ›Vaterlandsverräter‹,29 so vermerkt er 1927, dass durch den deutschen Antisemitismus »niemand schwerer […] geschädigt werde als der deutsche Charakter selbst.« Letzteres schreibt er in seiner Besprechung eines Buches des Schriftstellers Arnold Zweig. Darin kennzeichnet Zweig, angelehnt an Freud, den Antisemitismus als einen »Differenzaffekt« in der Gruppenbildung.30 Damit ist der Antisemitismus in seiner schädlichen Wirkung wohl unterschätzt. Markant aber ist: Kracauer – der Zweig hier zustimmt und ihn paraphrasiert – deutet im Weiteren eine Art Psychoanalyse des Antisemitismus an, und zwar primär mit Blick auf dessen jüdische Opfer und deren Neurotisierung.31 Weiters spricht er hier den Nationalismus als einen mit dem Antisemitismus »psychologisch verwandten« Irrglauben an: Um beide zu
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Kracauer äußert dies in seinem Bericht zum Vortrag des liberalen Rabbiners Max Freudenthal vor dem Zentralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, indem er die Worte des Vortragenden mit Zustimmung wiedergibt; zumal über die »Liebe des Juden zum Staat«, die »den religiösen Grundlehren des Judentums selbst entspringt«, und über den »messianische[n] Gedanke[n], der ebenfalls in seiner letzten Konsequenz Treue dem in Sittlichkeit gegründeten Staat gegenüber fordert.« Insofern aber, als die »Lehre von der Gleichberechtigung aller Menschen, die Forderung eines auf sozialen Grundsätzen aufgebauten Gemeinwesens echt jüdischer Herkunft ist«, insofern also, als damit das Judentum in einer gewissen Affinität zum Sozialismus erscheint, ist es (in Kracauers Wiedergabe) offenbar umso mehr gefordert, dass »der Redner die oft gehörte, lügenhafte Behauptung zurück[weist], daß das Judentum ein Verbündeter des Bolschewismus sei […].« SK: »Judentum und Staat« [FZ 6.2.1923] 5.1, S. 573. Er bezeichnet »das Treiben der Hitlerleute als einen Verrat am Vaterland«, dies wieder in zustimmender Wiedergabe des Rabbiner-Vortrags: ebd., S. 574. SK: »Caliban oder Politik und Leidenschaft« [FZ 29.5.1927] 5.2, S. 605. Der »deutsche Jude« wird durch den Antisemitismus der »Unbefangenheit des Seins« beraubt; »eine neurotische Disposition verfestigt sich in ihm.« Ebd., S. 606.
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bekämpfen, insbesondere »um tendenziöse Falschmeldungen und nationalistische Stimmungsmache zu verhüten«, bedürfe es, so Kracauer (mit Zweig), einer »Beaufsichtigung der Presse« durch einen inter- bzw. supranationalen Presserat.32 Kracauer formuliert hier Nationalismus-Kritik. Dazu drei Kontexte: Erstens kann sich eine Sorge unserer Gegenwart hier im Rückblick wiedererkennen – die virulente Frage, nur so viel hier, nach Strategien gegen Fake News und rechte Hetze. Zweitens spricht Kracauer hier anhand der »Beaufsichtigung der Presse« von seinem eigenen Metier, der Zeitungsschreiberei; in diesem Metier bezieht er selbst ja auch häufig Stellung gegen ebensolche Hetze. Drittens ist der deutsche Nationalismus als solcher gar nicht so häufig ein direktes Zielobjekt von Kracauers Auseinandersetzung mit Rechtstendenzen in der Weimarer Gesellschaft: Dies auch deshalb, weil Kracauer mitunter ansatzweise versucht, den völkischen Nationalismus durch eine Art aufgeklärten Patriotismus zu kontern; so etwa in Zeitungstextstellen, die, schlicht gesagt, den Nazis das Deutsch-Sein streitig machen.33 Wir sollten solche Stellen nicht vorschnell als einen Geradewegs-Ausdruck umfassender kultureller Heimatliebe seitens Kracauers verstehen, zumal dieser erstens in den Jahren, in denen die faschistische deutsche Rechte allmählich die Republik zu Fall bringt, einer internationalistischen, Deutschland-kritischen Gesinnung öffentlich Ausdruck verleiht, nicht nur in seinen Filmkritiken.34 Zweitens haben solche Äußerungen Kracauers, zumal in den Jahren und Monaten unmittelbar vor Hitlers Machtübernahme und seiner Flucht aus Deutschland, eher taktischen Stellenwert; sie dienen dem renommierten linken Feuilletonisten dazu, mit einem 32
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Kracauer nennt den Völkerbund, lässt aber auch ein eher sozialkritisches Gegenmittel gegen Antisemitismus und Nationalismus anklingen, nämlich eine »Art von analytischer Aufklärung« in Verbindung mit einer »vernünftigen Regelung des Gesellschaftslebens« (ebd., S. 606). (Letzterer Vorschlag entspricht zweifellos einer wenn auch lapidar formulierten Maximalforderung: Vernünftig geregeltes Gesellschaftsleben ist ohne radikale soziale und politische Veränderung kaum zu haben. Im Gegenzug ist die Einhegung nationalistischer Hetze in einer unvernünftig, also kapitalistisch, geregelten Gesellschaft schwer zu haben.) Seine oben zitierte spöttische Replik auf antisemitische Polemik und »Judenriecherei« erscheint 1927 am selben Tag im Literaturblatt der FZ wie seine Arnold Zweig-Buchbesprechung, und sie macht der Zeitschrift Deutsches Volkstum ebendieses streitig: »Das steigt aus den Gründen des Deutschen Volkstums auf und behauptet, deutsches Volkstum zu sein.« SK: »Aus ›völkischen‹ Kulturbezirken«, S. 608. Seine kriegspatriotisch gefärbten Frühschriften aus der Zeit des Ersten Weltkrieges wiederum sind ein Kapitel für sich.
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zum Patriotismus neigenden Bildungsbürger*innentum im Gespräch zu bleiben (mitunter auch dazu, Argumente gegen Nazi-Politik auszustaffieren).35 Drittens haben solche Textstellen auch einen performativen Zug: Sie drücken den Wunsch aus, der Antisemitismus möge ›nicht deutsch‹ sein, und das heißt, er möge in Deutschland nicht hegemonial sein, nicht gänzlich ›ausbrechen‹.36 Und viertens sind sie ein Teil der deutsch-jüdischen Verklammerung: Unter anderem anhand dieser Verbindung, an der er selbst als ›assimilierter‹ Jude teilhat, ›begleitet‹ Kracauer zehn Jahre lang, von 1923 bis 1933, publizistischkritisch den Aufstieg der NSDAP (und anderer rechter Bewegungen, die in ihr aufgehen). Von – bis, von – zu, from – to: Von München bis Berlin, vom »Treiben der Hitlerleute« in Bierkellern bis zum Treiben der Hitlerregierung im Reichstag. Dieses Thema der deutsch-jüdischen Verklammerung und der deutschen Sündenbock-Projektion schließt Kracauer im Herbst 1933 explizit ab, in seiner »Bestandsaufnahme«, die in französischer Übersetzung in den Cahiers juifs erscheint. Hitler herrscht seit einem halben Jahr. Über die Liebe der deutschen Jüdinnen und Juden zu Deutschland schreibt Kracauer eingangs, dass »der Liebesbund für den einen Partner nicht selten tragisch endet«, und er resümiert: »Nun trennen sich die Wege.«37 Den Gedanken, wonach die deutsche Vernunftgeschichte – besser gesagt: der deutsche Anteil an einer ambivalenten Wirkungsgeschichte der Rationalität – eine jüdische bessere Hälfte habe, einen Wirklichkeits-Schattens der Selbstbesinnung habe, den die deutsche Rationalität von sich abspaltet, diesen Gedanken formuliert Kracauer hier 35
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Exemplarisch für sein Gespräch mit Bürgerlichen, die intellektuell nach rechts abziehen, ist sein »Aufruhr der Mittelschichten« von 1931; mit Ausstaffieren meine ich z.B., wie Kracauer Ende 1932 die »formale Neutralität« des Rundfunks, als diese nun durch national(sozial)istische Propaganda ersetzt zu werden droht, als etwas zutiefst Deutsches gegen die Nazis verteidigt. (SK: »Gestern – Heute – Morgen. Zum Thema Rundfunk« [FZ 9.11.1932] 5.4, S. 258, 260, 265) Der Gedanke eines Nazi-Antisemitismus, der nicht deutsch sein soll, hat ein Gegenüber in Hannah Arendts Charakterisierung der Nazi-Politik als einer Politik, die »wirklich vaterlandslos, wirklich a- und anti-national ist«; denn der Nationalsozialismus lege seinem Totalitarismus die ›Rassen‹-Biologie, nicht die Nation, zugrunde und erkenne keinen Bestand eines deutschen Volkes jenseits seiner Herrschaft an. Hannah Arendt: »Organisierte Schuld« [1945], S. 4. In: Hannah Arendt Digital. https://hannah-arendt-edition.net/vol_text.html?id=/3p_III-003-organisierteSc huldWandlung.xml [14.3.2023]. SK: »Conclusions [Bestandsaufnahme]« [in frz. Übers. in Cahiers Juifs 5/6, Herbst 1933] 5.4, S. 468, 472.
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nun aus. Er stellt diesen Gedanken von der jüdisch-schattigen besseren Hälfte bereits ins Zeichen der Vernichtung: unter das Vorzeichen der Frage nach einem antisemitischen deutschen »Vernichtungswillen«. Dieser Wille, so Kracauer, übersteige geläufige Zuordnungen, seine Gründe seien »mit psychologischen, ökonomischen oder sozialen Kategorien« nicht zu fassen; also spricht der nach Paris Geflüchtete die »metaphysische Situation des deutschen Volkes« an – dass nämlich »dieses schwierige, große Volk in einer unerträglichen Spannung zwischen begrenzter Wirklichkeit und unendlicher Idee lebt und bisher weder vermocht hat, diese zu verkörpern noch jene transparent zu machen. Vergleichbar aber ist die hier gemeinte Spannung nach Art und Tiefe nur der vom Judentum erfahrenen. Beide Völker begegnen sich annähernd auf derselben Ebene, beiden wird, wenn auch auf grundverschiedene Weise, das Wirkliche zum Problem. Indem nun die Deutschen, vielleicht aus panischer Angst vor ihrer Verflüchtigung, sich vorläufig entschlossen haben, das bloß natürliche rassische So-sein zum obersten Prinzip zu erheben, sind sie freilich dazu gezwungen, den Juden als ihren Gegenspieler auszukonstruieren. Mit ihm allein stoßen sie am Ort ihrer Verzweiflung zusammen, und mythisch verstockt, wie sie sind, hassen sie an ihm ihr von ihnen preigegebenes besseres Selbst.«38 So wie die deutsch-jüdische Verklammerung kommt 1933 auch Kracauers Laufbahn als deutscher Zeitungsautor an ein Ende; auch ihn selbst, als jüdische Verkörperung kritischer, linker Selbstbesinnung, will die deutsche Gesellschaft hasserfüllt weg haben: »Den Juden und Linksmann wollen sie los sein,« schreibt er im April 1933 über sich selbst als langjährigen, nunmehr geschassten Angestellten der Frankfurter Zeitung.39 Mit seiner regelmäßigen Zeitungstätigkeit, sowie mit seinen bald nacheinander publizierten Pariser Zeitschriftenbeiträgen, die das »Judentum« als deutschen »Prügelknaben« nennen bzw. vom Ende jüdischer Verbundenheit mit Deutschland angesichts deutschen »Vernichtungswillens« handeln, damit endet 1933 auch Kracauers kontinuierliche Thematisierung von Antisemitismus. Einer der Pläne rund um seine 1937/38 erstellte Studie Totalitäre Propaganda ist ein »Exkurs über die
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Ebd., S. 470f. SK an seinen Anwalt Selma Spier, 6.4.1933, zit n. Ingrid Belke, Irina Renz: Siegfried Kracauer 1889–1966. Marbacher Magazin 47, 1988, S. 76.
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soziologische Funktion des Begriffs der ›Rasse‹ und der antisemitischen Propaganda.«40 Es bleibt beim Plan (und die ganze Studie bleibt unveröffentlicht). Eine solche Antisemitismus-Analyse mit einem soziologischen – und mehr noch anthropologisch-psychoanalytischen – Begriffshintergrund schreiben dann, salopp gesagt, Adorno und Max Horkheimer: in ihrer 1944 fertiggestellten Dialektik der Aufklärung, in Form des (1947 erweiterten) Kapitels »Elemente des Antisemitismus«. Darin betonen sie nicht zuletzt eine Sündenbockähnliche Rolle, die der antirationale Aufruhr von Mehrheitsbevölkerungen Jüdinnen und Juden aufzwingt: Prügelknabe für zivilisatorisch bedingten Triebverzicht. Dass der Faschismus es erlaubt, sich dumpf und gewalttätig einer triebhaften »Natur« hinzugeben, die ihr Gewaltpotenzial womöglich erst durch ihre rationalistische Geringschätzung und Unterdrückung entfaltet – auf diese Dialektik weist Kracauer bereits in Totalitäre Propaganda hin: So stellt er es regelrecht als einen der vielen bündnispolitischen Fehler linker Politik dar, dass diese ein Bündnis mit der »Natur« der »Triebe« ganz außer Acht gelassen hat;41 und er merkt in psychoanalytisch gefärbter Terminologie an, dass das Imaginarium faschistischer Politik den Massen eine Doppelung von Hinschlagen und Sich-Beugen bietet, beides als lustbesetzte fantasmatische Wirklichkeiten.42 Und auch den »Rassenhaß« der deutschen Mittelschichten charakterisiert er als einen »Komplex«, der durch den Nationalsozialismus regelrecht zum Ehrenzeichen erhoben (»mit einem Glorienschein« versehen) werde; dies schreibt Kracauer schon in dem oben zitierten Pariser Aufsatz vom Frühjahr 1933, der den »Antisemitismus« als »ein ideologisches Kernstück der Bewegung«, weit mehr als ein »Schönheitsfehler«, kennzeichnet. 40 41
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SK: »Exposé. Masse und Propaganda. Eine Untersuchung über die fascistische Propaganda«, Dez. 1936, TP, S. 236. »Die deutschen und italienischen Arbeiterparteien scheiterten zweifellos auch deshalb, weil sie […] die bündnisfähigen Kräfte der Natur unterschätzten […]. Revoltiert im Nationalsozialismus und Faschismus die mißachtete Natur? Indem sich die überantworteten dumpfen Triebe gewalttätig gegen den Geist erheben, bringen sie ihm drastisch bei, daß er die Natur nicht sich selber überlassen darf, sondern mitnehmen muß. Der Geist, der nicht mit der bündnisfähigen Natur wider die meuternde zu paktieren versteht, ist ein denaturierter Geist, aber kein reiner.« (TP, S. 45) Damit meine ich Wirklichkeiten, die fantasmatisch aufgeladen, und Fantasmen, die realisiert werden. Kracauers Wortlaut: »die sadistische Lust, es der blinden Natur gleichzutun, der man ausgeliefert ist, und die masochistische Lust, sich blindlings der Natur auszuliefern, von der man durchwaltet wird.« (TP, S. 75) Er referenziert an dieser Stelle Erich Fromms Beitrag zu den Studien über Autorität und Familie des Instituts für Sozialforschung von 1936.
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6.3 Zweite Blicke auf unsichtbare Alltage – Nazi concentration camps Antisemitismus ist in Kracauers Zeitungspublizistik um einiges präsenter als in seinen späteren umfassenderen Faschismus-Studien.43 Aber dieses Thema bleibt im Augenwinkel präsent, insistierend, so wie nach 1945 seine Schriften, Textstellen, zum Holocaust. Seine Bezugnahmen auf den Massenmord am jüdischen Volk peilen ein Sehen an, das nur versetzt, verzögert, Klarheit schafft. Kracauers Sicht auf den Holocaust nimmt ein Zeitmoment in sich auf: eine Verzögerung, die den Blick spaltet, verdoppelt, zum Double Take, zum zweiten Blick, auf und durch den etwas kenntlich wird. Zunächst: Dieser zweite Blick auf den Holocaust, das ist im Zusammenhang mit Kracauer auch ein zweiter Anlauf zu jener Soziologie des Antisemitismus, die er 1937/38 nicht verfasst hat. Schematisch betrachtet, stellt es sich so dar: Um 1930 konfrontiert er in seinem Schreiben – in soziologischen wie auch philosophischen Registern, jeweils politisiert – immer wieder deutschen Antisemitismus. 1947 knüpft er dann an seine Ideologiekritik der Mittelschichten aus den 1930er Jahren an, nämlich mit From Caligari to Hitler als einer soziologisch gerahmten Massen-Psychoanalyse des deutschen Faschisierungsprozesses: Der Rückblick in diesem rund um das Kriegsende verfassten Buch nimmt den Weg über die Dechiffrierung von Filmen, anhand derer viel vom Nationalsozialismus kenntlich wird – kaum aber dessen Antisemitismus, auch nicht der Massenmord an Jüdinnen und Juden. Wenn Kracauer im CaligariBuch Nazi-Konzentrationslager erwähnt (zweimal, kaum öfter), dann so, dass dies an nichtjüdische, konkret an im Nazi-Sinn »politische«, Lager-Insassen denken lässt.44 Generell – um kurz den Rahmen weiter zu setzen – hält sich ja in der Public History des Holocaust in den Nachkriegsjahrzehnten hartnäckig die Vorstellung, das Lagersystem der Nazis übe seine Gewalt gegen Leute primär ihres ›politischen Bekenntnisses‹ wegen aus; was diese Leute zur Heroisierung im 43
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Gemeint sind Pariser Zeitschriften-Aufsätze und Typoskripte zu Nationalsozialismus und Faschismus 1933 bis 1936, Totalitäre Propaganda von 1938, From Caligari to Hitler von 1947 und einige mit letzterem Band circa zeitgleiche Studien. Auch nicht an den Massenmord an rassistisch als »Zigeuner« stigmatisierten Bevölkerungen. Die Erwähnungen von »German« bzw. »Nazi concentration camps« in diesem Buch von 1947 beziehen sich auf einen »Viennese professor of history« (eine Romanfigur) und auf sadistische Spott-Rituale nach Art der Praktiken der Schulbuben – »born Hitler youths« – in Der blaue Engel (D 1930) (CH, S. 72f, 218).
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jeweiligen Rückblick prädestiniert: etwa für den Antifa-Mythos in der DDR.45 Bei Kracauers Psycho-Sozialgeschichte der Faschisierung anhand des deutschen Films ist es so, dass die »concentration camps« einzig im Kontext des Motivs der dunklen Vorahnungen erwähnt werden (Vorahnungen von Nazi-Gewalt in düsteren Fantasien, die in der deutschen Öffentlichkeit der Jahre vor Hitler kursieren, und denen sich Kap. 1.1 widmet). Mit solchen »dark premonitions« endet das Caligari-Buch auch: »It all was as it had been on the screen. The dark premonitions of a final doom were also fulfilled.« (CH, S. 272) Alles war wie im Film. Ob »a final doom« in Kracauers letztem Satz im Buch den Untergang des Nazi-Reiches meint – wie ihn Weimarer Angstlust-Filme über in den Tod gehende Nibelungen oder nibelungentreue U-Boot-Besatzungen mit heraufbeschworen haben –, oder ob damit die fast völlige Auslöschung des europäischen Judentums im Vollzug der »final solution« mitgemeint ist, bleibt hier halboffen. Es klingt mit. In seinem nächsten Buch, Theory of Film von 1960, vermittelt dann der Epilog »Film in Our Time« etwas vom Holocaust. Einen spezifischen Aspekt am Holocaust; eingebettet in Normalabläufe gelebter Bürgerlichkeit und routinemäßiger Existenzsicherung. Auf alltäglichen Antisemitismus,46 dem Kracauer sich in den Weimarer Jahren als Tageszeitungsautor schreibend entgegenstellt, folgt hier das Massenmorden in seiner Alltäglichkeit, in seiner Einbettung in Alltage, die nicht im Aufmerksamkeitsbereich öffentlicher Blicke liegen. Umso mehr gilt hier ein alles wie im Film: Der zweite Blick, der manchen Filmen immanent ist bzw. der durch Kracauers Entzifferung der betreffenden filmischen Abläufe und Konstellationen erfolgt, der indirekte Blick von Filmen also macht etwas am Holocaust wahrnehmbar. In diesem versetzten Zugang geht ein Aspekt eines – auch Kracauers – psychoanalytisch inspirierten Ansatzes auf, nämlich die Logik der symptomatischen Spur und ihres argwöhnischen Lesens. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Umstandes, dass der Holocaust während der 1950er Jahre (vor dem EichmannProzess) im mehrheitsgesellschaftlichen Rückblick auf die Jahre vor 1945 nicht
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Oder für den Fokus auf »Bekenner des freien Österreich« in letzterem Land; sowie auf Angehörige der dortigen katholischen Kirche als einer Gruppe, die noch im Wiener Mittelschulunterricht Mitte der 1980er Jahre als primäre Opfergruppe von Verfolgung durch die Nazis dargestellt wurde. Wirklich alltäglich, ganz normal: Viele Deutsche (und Ösis) und viele Rechtsgruppierungen, nicht nur die Nazis, sind – damals – antisemitisch.
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zentral und exponiert ist wie heute, geschweige denn ein Paradigma der Public History und der Gedenkkultur wie er es seit der Jahrtausendwende ist47 – vor diesem Hintergrund einer vergleichsweisen Unsichtbarkeit im massenhaften Normalbetrieb arbeitet Kracauer eben diese Unsichtbarkeit des Holocaust und dessen verzögerte Wahrnehmung in sein Schreiben ein. Er moduliert, inszeniert regelrecht dieses allmähliche Dämmern bzw. dieses Kenntlich-Werden auf den zweiten Blick. Er tut dies ausgehend von der oft zitierten Stelle unter der Überschrift »The Head of Medusa« im Epilog der Theory of Film; diese Stelle wird oft ahistorisch rezipiert: in Hinblick auf Schrecken als eine conditio humana schlechthin. Kracauer gibt an dieser Stelle den antiken Mythos von Perseus wieder (in der traditionellen misogynen Ausdrucksweise): Perseus hält dem Schreckens-Anblick der Medusa, der alle anderen versteinert, stand, indem er diese Monstergestalt nur indirekt, in einem Spiegel, betrachtet. In ähnlicher Weise, schreibt Kracauer, ermögliche uns Film indirekte Konfrontationen: Konfrontationen mit der »reflection of happenings which would petrify us were we to encounter them in real life.« (ToF, S. 305). Und er nennt als Beispiel einen damals noch recht aktuellen französischen Film aus dem Jahr 1949, der heute kinohistorisch wie auch als Extremerfahrung mit dokumentarischen Anblicken kanonisiert ist: »Think of Georges Franju’s Le Sang des bêtes, a documentary about a Paris slaughterhouse: puddles of blood spread on the floor while horse and cow are killed methodically; a saw dismembers animal bodies still warm with life; and there is the unfathomable shot of the calves’ heads being arranged into a rustic pattern which breathes the peace of a geometrical ornament.« Ein geometrisches Ornament als Muster, »pattern«: Das Nahezu-Reizwort, das dies im Kracauer-Kontext darstellt, ist eines der letzten Echos seiner Wortprägung »Massenornament« von 1927 in seinem Werk. Dieses Ornament lässt erahnen, dass mehr im Spiel ist: mehr als ›nur‹ der Schreckensanblick von TierTötungs- und -Zerstückelungsabläufen im System der Fleischindustrie. Eine seltsame Beschreibung: Indem Kracauer die unergründliche (»unfathomable«) 47
So schreiben etwa Horkheimer und Samuel H. Flowerman in ihrem »Foreword to Studies in Prejudice« im Jahr 1949: »At this moment in world history anti-semitism is not manifesting itself with the full and violent destructiveness of which we know it to be capable. […] Today the world scarcely remembers the mechanized persecution and extermination of millions of human beings only a short span of years away […].« in: Leo Löwenthal, Norbert Guterman: Prophets of Deceit. A Study of the Techniques of the American Agitator. New York 1949, S. v. – Vier Jahre nach Kriegsende scheint Auschwitz vergessen (scarcely remembered).
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Aufnahme von Kalbsköpfen – soeben vom Rumpf abgehackt, nun in einer Reihe abgelegt – als ein geometrisches Ornament anspricht, lässt er entfernt die Massenornamente, Formationen aus fragmentarisch in Erscheinung tretenden Körpern, anklingen, von denen er ab Ende der 1920er schrieb; insbesondere auch die vom Nationalsozialismus in Reihen aufgestellten Körper-Massen.48 Le sang des bêtes (Das Blut der Tiere): Die filmischen Schlachthof-Anblicke mit dem Konnex von Nationalsozialismus und der Zurichtung von Körpermassen zu verknüpfen, diese Verbindung nimmt bereits Kracauer selbst explizit vor. Nämlich so: Mit seinen Überlegungen zum indirekten Blick vermittels der »mirror reflections« des Films fährt er in einer Satzfolge fort, auf die wir nun nach und nach eingehen: »The mirror reflections of horror are an end in themselves. As such they beckon the spectator to take them in and thus incorporate into his memory the real face of things too dreadful to be beheld in reality. In experiencing the rows of calves’ heads or the litter of tortured human bodies in the films made of the Nazi concentration camps, we redeem horror from its invisibility behind the veils of panic and imagination.« (ToF, S. 306) Kracauer nennt den Film von der Schlachthof-Routine in einem Atemzug mit Filmen von den Nazi-Konzentrationslagern. Gemeint ist wohl Filmmaterial von der Befreiung der Lager bei Kriegsende, das anhand der Anblicke von Leichenbergen und ausgemergelten Überlebenden Rückschlüsse und, weniger nüchtern gesagt, Vorstellungen zu den Routinen dieser Zwangsarbeitswie auch Todesfabriken erlaubt. Oder auch: erzwingt. – Aber: Sagt er damit nun etwa, dass ein Konzentrationslager wie ein Schlachthof ist? Nein. Deutlich wird das nicht zuletzt durch einen Vergleich damit, wie ein neuerer Autor ein solches ›Lager wie Schlachthof‹-Bild sehr wohl ausmalt, und zwar mit Verweis auf Kracauer. Das tut Giorgio Agamben in seiner schiefen Kracauer-Anknüpfung aus dem Jahr 2001: Dem postmarxistischen Theologen und Biopolitik-
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Auf Massen unter dem Zugriff der Nazis reduzierte er sein Wort vom Massenornament in Schriften der 1930er und 1940er Jahre (siehe Kap. 3.1). Auch in Theory of Film versieht er Nazi-Massen mit den Etiketten »ornamental« und »pattern«, nämlich mit Blick auf Triumph des Willens; noch dazu tut er dies in einem Buch-Abschnitt, der von »things normally unseen« und von »Blind Spots of the Mind« handelt (ToF, S. 53f), von abstrakten Konfigurationen wie auch von »garbage« als Wirklichkeiten, die im Alltag nicht gesehen werden – unter diesem Aspekt vergleichbar den Schreckensanblicken aus dem Schlachthof in Franjus Le sang des bêtes.
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Ethiker Agamben werden da »Schlachthausszenen« zum Bindeglied seiner Analogsetzung von »anonymen, nackten Körpern« im »Lager« einerseits mit »abertausend verstümmelten Leichen […] auf den Autobahnen« anderseits.49 Das Lager ist wie die Autobahn-als-Schlachthaus, weil beide durch die ach so unmenschliche Waren-Spektakel-Kultur unserem Blick entzogen sind: Damit liefert Agamben, im Zeichen seiner Trauer um die religiöse Versorgung der leidenden Menschen-Kreatur im Kapitalismus, unversehens fast eine Variation auf das Klischeewort von der Autobahn als der großen/monströsen baulichen Errungenschaft Nazi-Deutschlands – neben den Lagern. (Mit diesen meint Agamben zwar heutige refugee camps mit, verwendet aber das deutsche Wort Lager als einen Eigennamen – und handhabt so eine Nazi-System-Praxis als gänzlich danebene Vergleichsklammer.50 ) Mehr noch, er liefert eigentlich eine Variation auf jenen bitteren »Es war nicht alles schlecht«-Witz, der das Autobahn-Klischee (und ein Klischeebild von ›Öko-Faschismus‹) reflektiert: »An Hitler war nicht alles schlecht; nur das mit der Autobahn hätte er nicht machen sollen.« Darüber hinaus projiziert Agamben die Schuld an der Verdecktheit der leidenden Leiber auf die girls (die aus der »Werbung«) als einem altherrendenkerischen Inbegriff der Warenform: So misst Sexismus die Tiefe des Erbarmens an der Oberfläche gegenderter Erscheinungen.
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Im Kontext und im Wortlaut: In der messianischen Kapitalismus-Apokalyptik seiner Kommenden Gemeinschaft verweist Agamben auf Walter Benjamins Rede vom Verlust des Auratischen und auf Kracauers »Beobachtungen zu den girls«; gemeint ist damit Kracauers »Ornament der Masse« von 1927, und zwar im Sinn einer »über die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise hinausweisenden Prophezeiung«, so Agamben. Ausgehend von der Ambivalenz-Figur eines entauratisierten, metaphysisch entblößten Körpers konstruiert nun Agamben ein pathetisches Szenario der Verdeckung und Enthüllung zu modernen Gewalterfahrungen, von hoher (theologischer) Warte aus betrachtet: »[D]er strahlende Körper der Werbung [wurde] zur Maske, in der der hinfällige, schmächtige Körper des Menschen seine prekäre Existenz führt, und [.] der Glanz der geometrisch angeordneten girls verdeckt die langen Reihen der anonymen, nackten Körper, die im Lager ihrem Tod entgegengehen, und die abertausend verstümmelten Leichen der Schlachthausszenen, die auf den Autobahnen mittlerweile zum Alltag gehören.« Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft. [2001] Berlin 2003, S. 46f, 49f. Denn (um es auch so herum zu sagen): Was »Lager« heute heißt, also das massenweise Einpferchen von unterversorgten Menschen auf ihrer Flucht, ist von sich aus schlimm und skandalös genug; es bedarf nicht seiner Analogsetzung zu Sobibor oder Mauthausen.
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Kracauer hingegen sagt nicht: Ein Konzentrationslager ist wie ein Schlachthof. Er sagt auch nicht primär: Konzentrationslager und Schlachthof werden beide von öffentlich zirkulierenden Bildern verdeckt. Sondern er legt nahe: Filme fordern uns etwas ab – wie eben zitiert: »beckon the spectator to take them in and thus incorporate into his memory the real face of things too dreadful to be beheld in reality« –, nämlich ein Erfahren, »experiencing«, das offenbar anders wirkt, anders nachwirkt als nur das ›Anschauen‹ von Filmen;51 dies zumal in einem körperhaften Inneren des Gedächtnisses (incorporated into memory). Und in eben diesem Gedächtnis, taken in, ermöglicht ein auf seine seltsamen patterns hin entzifferter Schlachthof-Dokumentarfilm, etwas am industrialisierten Massenmorden der Nazis wahrzunehmen. Dies in einer anderen Art als durch ein panisches Zurückschrecken oder durch Vorstellungen, die wir uns machen (noch dazu in den 1950er Jahren) – »behind the veils of panic and imagination«, so Kracauer. Und er leitet seinen Buch-Abschnitt zur filmischen Vermittlung des Schrecklichen mit folgender Überlegung zum Kino als dem Ort der Film-Wahrnehmung ein: »It brings us face to face with the things we dread. And it often challenges us to confront the real-life events it shows with the ideas we commonly entertain about them.« (ToF, S. 304f) Damit ist, sanft aber doch, für das Nachfolgende ein Framework der Kritik eingerichtet, nachgerade der Ideologiekritik, nämlich an gängigen Vorstellungen, die Leute sich von einem Schreckensbetrieb machen. Die Nebeneinanderstellung von Schlachthof-Film und Lager-(Befreiungs-)Filmen überträgt etwas auf den filmisch vermittelten öffentlichen Anblick der Konzentrationslager, auf den Rückblick auf den Nazi-Holocaust. Dieser erscheint nicht nur in seiner Schrecklichkeit, sondern auch in der Unsichtbarkeit dieser Schrecklichkeit; und beide beruhen mit darauf, dass sie Teil einer Normalität, eines Alltags sind. Die »unmerklich[e] Schrecklichkeit« auch dieses »normale[n] Dasein[s]«, dieses »Alltag[s]« – um es mit Kracauers Angestellten-Studie von 1929 zu sagen (A, S. 109) – will wahrgenommen sein. Dazu kommen wir jetzt.
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Das geht auch über die allfällige Synästhetik bzw. Intersensorik von weichen Knien, flauem Magen, trockener Kehle und anderen Empfindungen beim Anschauen hinaus.
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6.4 Mordende Familienväter (Kracauer und Arendt, einmal mehr) Drei Kontexte bzw. Film-Konnexe umgeben Kracauers Nebeneinanderstellung von Schlachthof-Film und Konzentrationslager-Filmen. Da ist erstens der Kontext einer quasi-gerichtlichen, insofern investigativen Sicht – nämlich auf Geschichte, sowie auf Franjus Le sang des bêtes als einen Film, der die Geschichtlichkeit von Alltag hervortreten lässt. Unmittelbar vor seinem Medusa/Schlachthof-Film-Abschnitt charakterisiert Kracauer das Kino mit einem Gerichts-Vergleich: »the cinema exhibits phenomena whose appearance in the witness stand is of particular consequence«. Die Überschrift, unter der das steht, lautet »Material evidence« (ToF, S. 304f). Gerade weil das Undenkbare des Massenmordes vollumfänglich eingetreten ist – und das konnte es nur, weil es Teil der Normalität für so viele Täter*innen, Profiteur*innen und Gleichgültige wurde –, rückt es aus dem Blick: Im öffentlichen Nicht-Rückblick nach 1945 ist es verdeckter als im Blick davor; dies, wenn wir bedenken, wie nahe viele der Lager an Ortschaften waren, wie eingebunden ihre Insassen und Abläufe waren in regionale und Nazi-imperiale Ökonomien der Zwangsarbeit und der Totalverwertung von Menschen, ihrer Habseligkeiten und Körper; wie viele Leute auch an Massakern an Jüdinnen und Juden im »Osten« beteiligt waren und durch wie viele Ortschaften »Todesmärsche« bei Kriegsende führten. Mit Le sang des bêtes legt uns Kracauer einen Film nahe, der uns ebensolche Faktoren anträgt: wie nah die Schlachthöfe zur pulsierenden Metropole Paris liegen, wie sie durch Transportnetze (Schiff, Bahn, LKW) erschlossen sind. Franjus Film zeigt, ähnlich einem Auftragsfilm vom Typ Industriefilm, detailliert technische Routineprozesse; er stellt ihnen allerdings eine – in der Rezeption oft als surrealistisch bezeichnete – melancholische Flohmarkt-Sequenz voran: Nahe dem Pferdeschlachthof ist allerlei Trödel zum Verkauf aufgehäuft. All dieses Treibgut einer untergegangen anmutenden Welt ruft unwillkürlich die Vorstellung von Vorbesitzer*innen wach, die nunmehr tot (oder delogiert) sind, und der Film nimmt diese Assoziation in das darauffolgende Panorama der Massentötung und Körper-Totalverwertung mit. Kracauer führt diese Punkte nicht aus, aber er verknüpft Le sang des bêtes auf den letzten Seiten von Theory of Film mit einem weiteren DokumentarKurzfilm von Georges Franju, der ebenfalls den Charakter eines Auftragsfilms hat: Hôtel des Invalides, 1952 für die französische Regierung gedreht. Dabei handelt es sich um eine Art sabotierten Auftragsfilm, nämlich für und über ein militärhistorisches Nationalmuseum: »On the surface, the film is nothing
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but a straight record of a sightseeing tour through the historical building; surrounded by tourists, the guides, old war invalids, proceed from exhibit to exhibit, holding forth on Napoleon, armored knights, and victorious battles. Their worn-out comments, however, are synchronized with pictures which void them subtly of their meaning, so that the whole turns into an indictment of militarism and an insipid hero cult.« (S. 307f) Was Kracauer nicht dazusagt, was er uns aber zu sehen nahelegt (indem er uns überhaupt diesen, so schreibt er, »most consummate« Film ans Herz legt), ist, dass hier eine heroisierende (auch eine Technik-teleologische) Geschichtserzählung gestört wird: Dieses Narrativ wird nicht nur durch Anblicke von grotesk anmutendem Kriegsgerät interpunktiert; es wird auch zunehmend konterkariert durch lapidar auftauchende Kriegsgeschädigte – zitternd im Rollstuhl, auf einer Metallprothese hinkend oder mit einem notdürftig zusammengeflickten, deformierten Gesicht. Diese in ihrer Körperlichkeit exponierten ›Veteranen‹, die ihre Funktion als ›Kanonenfutter‹ im Ersten Weltkrieg knapp überlebt haben, sind ein schwaches Echo der technisch malträtierten (als ›Futter‹ verwerteten) Tierkörper in Franjus Schlachthof-Film. Als solche machen ihre erbarmenswürdigen Anblicke die Schrecklichkeit eines Quasi-Alltags der Geschichte machtstaatlicher Gewalt wahrnehmbar: Diese Schrecklichkeit, die in Schulnarrativen und Musealisierungen noch lange Zeit ›alltäglich‹ und insofern unmerklich blieb, wird hier wahrnehmbar durch ein Aufblitzen schwer anzusehender Irritationen.52 Das sind Brüche – und zugleich Keimformen einer veränderten Geschichtsauffassung; einer, für die erst Ende des 20. Jahrhunderts die Chiffre Trauma, mit den Bedeutungen eines Nachlastens und eines Fokus auf ›Opfer‹, verbreitet wurde; dies mitsamt der Erhebung der Nazi-Massenmorde zu einer kategorialen Form traumatischer Geschichte. 1960 aber, als der Holocaust noch kaum aus den Rahmungen einer nationalstaatlich gerahmten Kriegs-Historie herausgelöst ist, erörtert Kracauer Hôtel des Invalides als einen Querbezugsfilm zu Le sang des bêtes, den er seinerseits in Querbeziehung zu Filmen der »Nazi concentration camps« stellt; er tut dies unter der Überschrift
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Bezeichnender Weise betonte Kracauer in seiner Faschismus-Studie von 1938 die Herkunft der rechten Massenbewegung in Italien und Deutschland aus Soldaten-Milieus des Ersten Weltkriegs; insbesondere betonte er das Unvermögen dieses Gründungspersonals, über die psychisch-moralisch deformierende, eben traumatische, Erfahrung des Krieges hinweg und aus ihr herauszukommen (TP, S. 15).
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»debunking«: So lautet sein Name für das Entlarven falscher Vorstellungen durch Filme; eine Art Mythenkritik.53 Gleich nach Hôtel des Invalides, ebenfalls in expliziter Nahebeziehung zu Franjus Schlachthof-Film, nennt Kracauer als ein prominenteres Filmbeispiel für das Entlarven von Vorstellungen, die Wirklichkeiten verstellen, Charlie Chaplins makabre Killer-Komödie Monsieur Verdoux aus dem Jahr 1947. Darin spielt Chaplin einen biederen Familienvater, der mehrere Scheinehen eingeht, seine Ehefrauen ermordet und mit deren Vermögen das bescheidene Leben seiner echten Kleinfamilie finanziert. Kracauer würdigt diesen Film anhand einer Szene, in der Herr Verdoux eine Ehefrau bei einem Bootsausflug ertränken will: »In Chaplin’s Monsieur Verdoux, a film which revels in debunking, the long shot of the lake with the little boat in it conveys a Sunday photographer’s dream of peace and happiness; but the dream is exploded by the subsequent close shot of the boat itself in which Chaplin as Monsieur Verdoux is just about to murder another victim. If you watch closely enough you will find horror lurking behind the idyll. The same moral can be distilled from Franju’s slaughterhouse film, which casts deep shadows on the ordinary process of living.« (ToF, S. 308) If you watch closely enough…: Dazu ermuntert uns Kracauer anhand dieser ungewöhnlichen Chaplin-Komödie, die, wie der Schlachthof-Dokumentarfilm, finstere Schatten auf den gewöhnlichen Lebensprozess wirft. Dies umso mehr, als Kracauer auf die Ansteckungswirkung, die »contagious power«, solcher »exposures« hinweist (ToF, S. 308). Genau-Hinschauen infiziert den Blick, auch den auf andere Filme und Sachverhalte. Und exposures, Bloßstellungen, des Anteils tödlicher Gewalt am normalen Leben machen diesen ChaplinFilm insgesamt aus:54 Die Eröffnungseinstellung zeigt Verdoux’ Grab auf einem Friedhof, darüber spricht Verdoux’ Stimme: »What follows is history.« Sie holt uns uns von 1947 zurück in die 1930er Jahre, in die Jahre von (nicht
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Aus Franjus Le Sang des bêtes und Hôtel des Invalides stammen die vorvorletzte und die vorletzte Abbildung (Häutung von Rindern bzw. Ritterrüstung mit Tiermotiv) im 61 Einträge umfassenden Bildteil von Theory of Film. Umso mehr auch insofern, als im Plot von Monsieur Verdoux der Mord(-Versuch) im idyllischen Rahmen der konkreten Bootsfahrt so unerwartet nicht kommt; die Einlagerung von Schrecken im Alltag ist, über diese Szene hinaus, eine Strukturlogik der Wirklichkeitsvermittlung dieses Films.
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nur) Verdouxs Morden. Die history beginnt dann mit dem ersten Auftritt der Titelfigur als Tier- und Blumenfreund, der die Leiche einer Ehefrau in einem Verbrennungsofen mit tagelang qualmendem Schlot beseitigt. (Gartennachbarinnen wundern sich über den Rauch, sagen aber nichts.) Spätestens mit Verdoux’ Schlussrede, durch die der zum Tod Verurteilte seine Morde gegen die Massentötungen durch große Kriege abwägt, wird diese Komödie als ein companion film zu Chaplins Vorgängerfilm The Great Dictator kenntlich: Auf den arglosen jüdischen Friseur als Doppelgänger des großen Diktators Hitler folgt nun die Spaltung/Doppelung der Chaplin-Figur zwischen fürsorglichem Familienvater und planendem Mörder.55 Deep shadows on the ordinary process of living: Der um seine Liebsten Besorgte, der um der Sicherung einer bürgerlichen Existenz willen zum kalkulierenden
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Kurz nach 1945 schreibt Kracauer einen Artikel über zeitgenössische Hollywood-Thriller und wie sie verdedeckte Gewaltquellen in idyllisch scheinenden Alltagen auf eine paranoide Weise darstellen: »[C]riminals […] settle down in plain small towns, places where no one would ever dream of meeting a killer in the flesh. Nightmares are seen in bright daylight, murderous traps are sprung just around the corner. Everyday life itself breeds anguish and destruction.« Und: »Sinister conspiracies incubate next door, within the world considered normal – any trusted neighbor may turn into a demon.« Das liest sich, als ginge es um Monsieur Verdoux, um den Kleinstadtalltags-Gartennachbarn als Mörder. Es geht aber um andere Thriller; Chaplins Film ist noch nicht, gerade noch nicht, gedreht, als Kracauer dies 1946 schreibt (in SK: »Hollywood’s Terror Films. Do They Reflect an American State of Mind?« [Commentary 2, 2, Aug. 1946] AW, S. 41). Dennoch stehen diese Thriller-Szenarien in engem Zusammenhang mit Nationalsozialismus und Holocaust. Denn erstens sieht Kracauer sie als Direkt-Nachfolger von Hollywoods Kriegspropagandafilmen über die Welt unter Nazi-Herrschaft, mit ihrem Grauen hinter strahlenden Fassaden (»shining parades that alternated with silent agonies«; ebd., S. 41). Zweitens sagt die Gewalt, die diese Thriller als überall lauernd beschwören, etwas über das Klima in den USA aus: »Hatred of minorities feeds on the fears of the majority […].« (Ebd., S. 46) (Mehr dazu in Kap. 7.1) Drittens handeln die Filme, die Kracauer als Beispiele für Plots mit unerkannt in Kleinstadt-Idyllen unterkommenden criminals nennt, von Nazi-Mördern, die sich bei White Middle Class-Familien einnisten: ein Fanatiker in Sachen Ausrottung unproduktiven Lebens in Shadow of a Doubt (1943), ein als Schweizer Emigrant registrierter KZ-Planungsbürokrat in The Stranger (1946). Kracauer lässt dies ebenso unerwähnt – oder implizit – wie den Umstand, dass The Stranger, wohl als erster Spielfilm überhaupt, Archivmaterial von der Befreiung eines KZ (Buchenwald) enthält. (Siehe dazu auch: Drehli Robnik: »Wenn weiße Männer alles wollen: Gaslighting und Faschismus im Domestic Thriller 1940/2020« in: Robnik, Joachim Schätz [Hg.]: Gewohnte Gewalt. Häusliche Brutalität und heimliche Bedrohung im Spannungskino. Wien 2022)
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Täter wird, entspricht einem Typus von Nazi-Mörder, den Hannah Arendt Ende 1944, in Reaktion auf die Nachrichten von ersten Lager-Befreiungen und Lagerpersonal-Verhören, herausgearbeitet hat: Nicht der Fanatiker, Gangster oder psychisch Kranke, sondern der spießige Familienvater, im Rahmen der NS-Führungsriege exemplarisch verkörpert in Heinrich Himmler, ist der ultimative Tätersubjekt-Typus, den das Massenmord-System der Nazis ins Werk setzt; dies indem es zahllose brave Familienmenschen in die Ablaufsketten seiner Maschinerie einbindet. Darauf zielt Arendts Rede von der durch die NaziApparate »organisierten Schuld«: Dass Leute ihrem Alltag nachgehen, das bezieht sie bereits in den Massenmord ein – in dessen dauerhaftes Funktionieren, das seinerseits Alltagsroutinen ausprägt.56 Arendts Überlegungen zur Verflechtung von spießigem Idyll und Massenmord fließen später in ihre große Totalitarismus-Analyse ein, samt ihrer Negativ-Ontologie des Nazi-Lagersystems (das Konzentrationslager als Ort der Seins-Zerstörung schlechthin). Bei Kracauer verläuft die Holocaust-Theoretisierung – um zunächst dies zu sagen – gleichsam umgekehrt, vom großen zum kleinen Text: Seine Verweise auf den Horror im Idyll, die er 1960 punktuell zu Franju und Chaplin, zum »Haupt der Medusa« und zu Konzentrationslager-Befreiungsfilmen formuliert, folgen auf seine umfangreichen, über zwei Jahrzehnte hinweg (1930–1949) verfassten Analysen zu Faschismus und Nazismus. Zu diesen Analysen, die auf Spießer-Habitus, Ideologie und Mobilisierung der kleinbürgerlichen Mittelschichten fokussierten, sind seine Textstellen zum Holocaust Zusätze, teils mit dem Charakter von Echos. Insofern als uns
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Hannah Arendt: »Organisierte Schuld« [1945]. In: Hannah Arendt Digital. https:// hannah-arendt-edition.net/vol_text.html?id=/3p_III-003-organisierteSchuldWan dlung.xml [Zugriff 27.01.2023]. Über Himmler als exemplarischen Typus des Massenmord-Subjekts schreibt Arendt: »Er ist weder ein Bohemien wie Goebbels noch ein Sexualverbrecher wie Streicher noch ein pervertierter Fanatiker wie Hitler noch ein Abenteurer wie Göring. Er ist ein Spießer mit allem Anschein der Respectabiliy, mit allen Gewohnheiten des guten Familienvaters, der […] für seine Kinder eine anständige Zukunft sichern will.« (Ebd., S. 7) »Daß in dieser Mordmaschine jeder auf diese oder jene Weise an einen Platz gezwungen ist, auch wenn er nicht direkt in den Vernichtungslagern tätig ist, macht das Grauen aus.« (Ebd., S. 5) Und dieses Platz-Einnehmen – einen sicheren Arbeitsplatz in Infrastrukturen und angeschlossenen Ökonomien der Vernichtung – beruht, so Arendt, auf Folgendem: Der »treusorgende Familienvater, der um nichts so besorgt war wie Sekurität, […war] durchaus bereit, um der Pension, der Lebensversicherung, der gesicherten Existenz von Frau und Kindern willen Gesinnung, Ehre und menschliche Würde preiszugeben.« (Ebd., S. 7f)
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diese Echos unvermittelt und mit Anflügen einer irritierenden Rätselhaftigkeit begegnen, geraten sie doch recht laut. Das gilt auch für Stellen, an denen Kracauer die jüdische Erfahrung der Nazi-Massenmorde anpeilt. Wenn er die Möglichkeit, ein Konzentrationslager wahrzunehmen, unter der Überschrift »The Head of Medusa« anspricht, dann ist das auch ein spätes Echo seiner Medusa-Referenz in einem Aufsatz zu Franz Kafka: »Der Mensch, der in das Antlitz der Meduse blickt, wird nach mythologischer Vorstellung versteinert; der Jude Kafka trägt das Entsetzen in die Welt, weil sich ihr das Antlitz der Wahrheit entzieht. Böte es sich: sie müßte irrsinnig werden vor Glück.« Das schreibt Kracauer 1930 über die Anmutung lastenden Schreckens in Kafkas Das Schloß.57 In diesem Zitat tritt die Medusa an die Stelle der Wahrheit: Beides lässt sich nicht ›anschauen‹; die Konfrontation mit der Medusen-gleichen Wahrheit würde den dauermobilen gesellschaftlichen Betrieb unterbrechen (»versteinern«); die Erfahrungen des Entsetzens bzw. des Irrsinnig-Werdens, die Platzhalter der Wahrheit und des Glücks sind, werden »in die Welt« getragen von einem Schriftsteller, der als Jude Teil eines in die Welt verstreuten Volkes ist. Des Volkes, das zum Primär-Zielobjekt des völkischen Vernichtungsprojekts wird, weil seine Existenz in der Sicht der Nazis den Betrieb der lückenlos identitären Totalisierung (der »Volksgemeinschaft«) blockiert. Die Wahrheit, die Wahrnehmbarkeit Medusen-gleicher Anblicke, die, so Kracauer, Filme in die Welt tragen können – so unterschiedliche, aber verwandte Filme wie Lagerbefreiungsfilme, Le sang des bêtes oder Monsieur Verdoux –, trägt ein Moment des Versteinerns, des Erstarrens routinierter Abläufe, in sich: insofern, als das Dämmern dieser Wahrheit festhält, dass die Vernichtungsgewalt ihrerseits auf routinierten Abläufen beruhte. Das Irrsinnig-Werden vor Glück begegnet uns hier in einem Kippbild, nämlich ins Entsetzen gekippt: als das nazideutsche kleine Glück des ordinary living, das auf dem dauerhaften Irrsinn des Mordens beruht; das hat Arendt im Fokus angesprochen – und Kracauer im Kontext.58
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SK: »Das Schloß. Zu Franz Kafkas Nachlaßroman« [FZ 28.11.1926] 5.2, S. 494. Eine andere Kippbild-Erscheinung des Irrsinnig-Werdens vor Glück, das der Welt angesichts der Wahrheit widerfährt, beschreibt Kracauer 1931 – zeitlich nahe seiner eben zitierten Kafka-Textstelle – anhand von Chaplin: Dessen Tramp-Figur verkörpert für ihn einen dauerhaften Exilstatus, ein Nicht-Daheim-Sein in der Welt (der Tramp als Paria gleicht dem jüdischen Volk; dies in Kracauer’scher – und Arendt’scher – Perspektive wie auch in der Propaganda der Nazis). Kracauer schreibt: In der Erfahrung des »Vagabund[en]«, »daß die Welt die Welt ist und die Heimat keine Heimat«, bricht der
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Die Reproduktion der in ihrem Wohlstand gesicherten Existenz ist verstrickt in eine unter Nazi-Herrschaft organisierte Schuld. In Franjus Film Le sang des bêtes aus dem Jahr 1949 sieht der Horrorfilmtheoretiker Adam Lowenstein nicht zuletzt eine Schuld durch Verrat und Kollaboration vermittelt: Mitschuld an den wenige Jahre zurückliegenden Massenmorden.59 Unter den Schrecken der Geschichte, die Franjus Film aus ihrer Betäubung (aus der »anestheticization of historical trauma«) weckt, nennt Lowenstein – explizit ausgehend von Kracauers Holocaust-Verknüpfung – Deportationen, Konzentrationslager, sowie »›traitorous‹ collaborationist guilt.« Auf den Gedanken an Kollaboration mit den Mördern als Form von Verrat bringt Lowenstein eine Szene im LämmerSchlachthof von Le sang des bêtes: Als Teil des reibungslosen Betriebs sehen wir, wie Arbeiter eines der Schafe den anderen Tieren voranführen und es kurz vor der Schlachtbank zur Seite bringen; dieses Schaf, dieser Verräter, »le traitre«, so die Voice-over, kennt den Weg und überlebt als einziges, während die anderen Tiere ihm »wie Menschen« nachtrotten und, eingepfercht, hilflos blöken »wie Geiseln« (»hotages«). Mehr als angedeutet ist hier der Verrat, den viele aus den Mehrheitsbevölkerungen in deutsch besetzten Ländern an jüdischen Mitbürger*innen und Geflüchteten verübten. Was mit Franjus VerräterSchaf-Szene angespurt ist, ist nicht eine patriotische Anklage von ›Landesverräter*innen‹: Im Unterschied zum historiografisch kanonischen, sexistischen Bild der Französin, die Beziehungen mit Besatzungssoldaten einging und dadurch ›ihr Land‹ und ›ihren Mann‹ verraten habe, wofür sie kahlgeschoren und angeprangert wird, und zwar in einem Gewaltakt gegenderter Schuldprojektion und ›remaskulinisierender‹ nationaler Ermächtigung – im Unterschied dazu begeht Franjus als männlich angesprochenes Verräter-Schaf Verrat nicht durch Anbiederung an den Feind, sondern durch Auslieferung von mit dem Tod Bedrohten, und es kommt ungeschoren davon. Auch ohne an GeschichtsKontroversen um die Rolle der von den Nazis festgelegten und zur Kollaboration gezwungenen »Judenräte« bzw. »Judenältesten« zu denken, lässt sich in dem Verräter-Schaf, das aus der homogenen Masse ausgesondert wird, ein inverser Sündenbock sehen, ein zum Überleben verurteilter Stellvertreter. (Sowie ein Echo der christlich-antisemitischen Legendenfigur des Judas, der das Lamm Gottes seinen Schlächtern ausliefert: Tatsächlich ist der Ausdruck »Judasziege«
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Weltstar als Tramp in »jenes Gelächter [aus], das wie ein Blitzstrahl Irrsinn und Glück zusammenschmilzt.« SK: »Chaplins Triumph« [Neue Rundschau, April 1931] 6.2, S. 495. Adam Lowenstein: »Films without a Face: Shock Horror in the Cinema of Georges Franju«, Cinema Journal 37, 4, 1998, S. 40.
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bzw. »judas goat« für diese Art von Lock-Tieren in Schlachthäusern bis ins 21. Jahrhundert in Gebrauch.)60
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Arendt vermerkt 1944 in »Organisierte Schuld« (S. 8), dass »sogar Juden in Himmlers Mordorganisation« mitwirk(t)en. Den Zwangscharakter dieser Mitwirkung erwähnt sie nicht, sondern nennt diese, zusammen mit Täter*innen aus Bevölkerungen unter Nazi-Besatzung (»Letten, Litauer, Polen«; hier ohne lokale Antisemitismen zu erwähnen), als Beleg dafür, dass »kein besonderer Nationalcharakter erforderlich ist, um den neuesten Typ des Funktionärs zum Funktionieren zu bringen«, nämlich im Massenmord. Arendt weist die These zurück, dieses Verbrechen rühre von einem deutschen »Nationalcharakter« her; ihre Zurückweisungen bilden in »Organisierte Schuld« den Rahmen ihrer Charakterbeschreibung des Himmler-Spießer-Typus: »Um zu wissen, welches die eigentliche Triebfeder im Herzen der Menschen ist, durch die sie in die Maschine des Massenmordes eingeschaltet werden, werden uns Spekulationen über deutsche Geschichte und den sogenannten deutschen Nationalcharakter, von dessen Möglichkeiten die besten Kenner Deutschlands vor 15 Jahren noch nicht die leiseste Ahnung hatten, wenig nutzen.« (Ebd., S. 7). Eine Frage nach der »Triebfeder im Herzen der Menschen«, nach Antrieben ihres Verhaltens, wird uns weiter unten begegnen in Kracauers (weiter weg, aber nicht ganz weg, von den Nazi-Verbrechen gestellter) Frage »what makes them tick« (ToF, S. 297). Relevant ist hier nun, dass Kracauer genau der Vorwurf gemacht wurde, er führe (in seinem Caligari-Buch) die Nazi-Gewalt auf einen deutschen Nationalcharakter zurück. Allerdings ist es so, dass Kracauer erstens in seinen Faschisierungsstudien um 1930, also 15 Jahre vor Arendts Text, mehr als nur eine »leiseste Ahnung« von einem deutschen Nationalcharakter hat – nur dass dies eben kein Nationalcharakter ist, sondern ein Klassencharakter, allerdings einer von Nicht-Klassen (also quasi »gar nichts«): Er thematisiert Ressentiments der deutschen Mittelschichten, die ihre Prekarität, also ihren Klassen-Status, verleugnen, sowie die Brutalisierung und die charakterliche Identitätslosigkeit des deutschen Großbürgertums. (Zu Kracauers Diagnosen, etwa 1930 und 1932 zum Bestialischen und Unmenschlichen in deutschen Bourgeoisien, siehe Kap. 3.3). Laut Kracauer fehlt den Deutschen zum Nationalcharakter der Charakter – und laut Arendt das Nationale: Arendt (»Organisierte Schuld«, S. 9) schließt den Rahmen rund um ihre Überlegungen zu Himmlers Organisation damit, dass der »Spießer« als Typus »auf deutschem Boden eine besonders gute Chance des Blühens und Gedeihens hatte«. Denn in wenigen Ländern gebe es so wenig an »Tugenden des öffentlichen Lebens«, auch an »Patriotismus« (trotz »chauvinistischen« Pochens auf »›Vaterlandsliebe‹«), nirgendwo sonst habe die »private Existenz eine so große Rolle gespielt.« Dies ist Teil ihrer Negativ-Einschätzung der Masse, die sich im Zusammenbruch von Klassen(-Identitäten) bildet; bei Kracauer hängt die Diagnostik zu den Nicht-Klassen eher mit seinem Urteil über einen Mangel an Gesellschaft in Deutschland zusammen, das er schon früh (und später noch oft) fällt: Was es in Frankreich gebe, aber »bei uns niemals bestanden hat: etwa eine Gesellschaft,« schreibt er in »Pariser Beobachtungen« ([FZ 13.2.1927] 5.2, S. 545); »Gesellschaft, die es
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Kracauer hat ebendiese antisemitische Projektionsfigur mehrfach erörtert, etwa anhand des Judentums als dem angeprangerten Prügelknaben der Deutschen (wie oben zitiert). Das »Verräter«-Schaf in Franjus Film erwähnt er nicht. Aber er formuliert den Holocaust-Konnex von Le sang des bêtes an anderer Stelle, im Umfeld seiner Filmtheorie, noch einmal; diesmal anhand der Beziehung des Schlachthof-Films nicht zu Filmen von den Nazi-Lagern, sondern zu einem Nazi-Film, der als Propaganda-Vehikel mit zu den Lagern führt. Circa zeitgleich zur Arbeit an den Buch-Epilog-Stellen mit Medusa und Franju schreibt Kracauer program notes für ein Screening des Hetzfilms Der ewige Jude (D 1940), das im November 1958 als Veranstaltung der New Yorker Cinema 16-Film Society stattfindet (eingeleitet von deren Co-Leiter Amos Vogel). Darin listet Kracauer einiges von dem auf, was dieser sich dokumentarisch gebärdende Nazi-Film den Jüdinnen und Juden anlastet: neben Ausbeutung und ›Parasitentum‹ auch das Schächten als Form der Tierschlachtung.61 Und dabei erwähnt er Franjus Film: »The strongest point is made toward the end with a series of alleged documentary shots focusing on the ritual killing of animals by Jews. These pictures are horrifying indeed, but they are not any more gruesome than the images of Franju’s Blood of the Beasts [Le sang des bêtes]. The necessity of having to eat is a bad business after all.«62
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bei uns, strenggenommen, nicht gibt«, schreibt er in »Ein paar Stunden Sklarek-Prozeß« ([FZ 17.10.1931] 5.3, S. 668). »Und wie mit dem Schächten, so hat das nationalsozialistische Deutschland mit dem gesamten Judentum aufgeräumt,« heißt es gegen Filmende auftrumpfend in der Voice-over von Der ewige Jude. Auffallend hoch ist der Stellenwert, den dieser Film auf Schächten und dessen Verbot, somit auf ›Tierleid‹ und dessen Linderung durch die Nazi-Regierung legt. Dieser als Antisemitismus-Vorwand missbrauchte Tierschutz hat entfernte Echos in der Gegenwart von Österreichs größtem Bundesland: Die seit 2023 in Niederösterreich mitregierende FPÖ fordert eine zentale Erfassung aller Bezieher*innen von (koscher oder halal) geschächtetem Fleisch. Da die FPÖ Niederösterreich allerdings (vermittels ihrer Traditionsgastronomie-Prämie, siehe Fußn. 13) auch mit dem Veganismus als unösterreichischer Ernährungspraxis aufräumen will, ist ihr Kampf gegen das Schächten womöglich gar nicht durch Tierschutz motiviert. SK: »[program notes zu The Eternal Jew]« [1958] AW, S. 164. Kracauer setzt hier mit einigem Recht voraus, dass Besucher*innen dieser Vorführung von Der ewige Jude bzw. Mitglieder des Filmclubs Le sang des bêtes kennen oder von Franjus notorischem Film zumindest gehört haben. Es ist zu vermuten, dass er selbst beide, Der ewige Jude und Le sang des bêtes, durch bzw. in Cinema 16 gesehen hat; diese Film Society, der er selbst angehörte, könnte (in einer Zeit, in der Filme kaum zur [Wieder-]Sichtung verfügbar
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Mit letzterem lapidarem Satz zitiert Kracauer nachgerade aus Franjus Film: Einer resümierenden Voice-over in Le sang des bêtes zufolge geht das Schlachthof-Personal beim Töten ohne Wut oder Hass vor; vielmehr pfeift und singt das Personal, weil man ja, so heißt es, jeden Tag essen und den Mitmenschen zu essen geben muss.63 Diese eigentümlich versetzte Referenz lohnt einen genaueren Blick. Wenn Kracauer zu verstehen gibt, dass die schrecklichen Anblicke des Schächtens nicht schlimmer seien als das, was ein Film über nichtjüdische Tiertötungen in Pariser Schlachthöfen zeigt, dann ist das nicht zuletzt Teil des Hauptthemas seiner program notes zu Der ewige Jude: Die Schächt-Sequenz des Films sei, so Kracauer, bereits dessen »strongest point«, und ebendies bringt er als einen Beleg dafür, dass dies ein schwacher Nazi-Propagandafilm ist; schwach im Vergleich zu Filmen, die er selbst 1942 eingehend untersucht hat und die er nun, 1958, als Gegenbeispiel erwähnt, nämlich die »Feldzugsfilme« über deutsche »Blitzkriege« (v.a. Sieg im Westen, 1941; siehe Kap. 4.1). Dem Hetzfilm Der ewige Jude (dem Material nach weitgehend ein Kompilationsfilm) attestiert er, dass darin nur »well-known and worn-out arguments against the Jews« wiederholt werden; und zwar redundant, zu wortreich, in einer Weise, die wenig an Fähigkeit zur Emotionalisierung verrät. Vielmehr ist es laut Kracauer so: »At the bottom of it all lurks despair and fatigue.« Eingangs seiner program notes mutmaßt er, Der ewige Jude müsse zu einem Zeitpunkt entstanden sein, als die Kriegslage bereits ungünstig für Deutschland war, jedenfalls nach den »Feldzugsfilmen« von 1940/41.64 De facto ist es umgekehrt. (Der ewige Jude kam im November 1940 in deutsche Kinos.) Worauf Kracauer damit hinaus will, das ähnelt seiner Annahme, dass im Nationalsozialismus eine Art Dysfunktion zutage tritt; nämlich dort, wo diese
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waren) wie sein Archiv, somit auch als ein Schauplatz seines Verknüpfens von Filmen, fungiert haben. Die Voice-over zitiert mit Autorennennung Charles Baudelaire (aus Les Fleurs du mal): »Je te frapperai sans colère. Et sans haine, comme un boucher«. Die Voice-over in Übersetzung: »›Ich treffe [schlage, DR] dich ohne Zorn, ohne Hass, wie ein Schlächter,‹ sagte Baudelaire. Ohne Zorn, ohne Hass! Mit dem Frohsinn der Schlächter, die pfeifen oder singen, während sie töten. Denn man muss jeden Tag essen und den anderen zu essen geben. Auf Kosten eines sehr mühseligen und häufig gefährlichen Gewerbes.« Am Ende der Voice-over stimmen die Schlachter*innen bei der Arbeit phlegmatisch bis fröhlich Charles Trénets Chanson »La mer« an, im Chor singend und pfeifend, während sie in einem Meer von Tierblut stehen. SK: »[program notes zu The Eternal Jew]«, S. 162f, 165.
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Herrschaft ihre Macht in ihrer Totalität zu realisieren trachtet (siehe Kap. 5.1), bzw. im Kontext von Der ewige Jude dort, wo ihre antisemitischen Hasskampagnen bis zum Äußersten gehen.65 Da greift, so gibt er zu verstehen, die Euphorisierung, die Mobilisierung nicht mehr; stattdessen »lurks despair and fatigue«. Als Kracauer kurz darauf – eben 1960 in Theory of Film – auf Le sang des bêtes zurückkommt, wieder in einem Holocaust-Kontext, da ist seine Diagnose, dass dieses Mordprojekt nicht von Euphorisierung begleitet wird, in folgende implizierte Einsicht übergegangen: Der Euphorisierung bedarf es gar nicht; der beschauliche Normalzustand, das Idyll, dient dem vernichtungsrassistischen Morden als Zusammenhang. Um es schematisch an einer markanten Wortwiederholung aufzuhängen: Kracauer sieht nun anstelle von despair and fatigue lurking vielmehr den horror lurking behind the idyll (ToF, S. 308). Mit einem Szenario auf Basis der von Kracauer eingerichteten Konstellierung – Schlachthof-Film, Lager-Befreiungsfilme, Chaplins Serienmorde in kleinbürgerlich-idyllischem Ambiente – gesagt: Das ständige, massenweise Töten erfolgt vielfach ohne Wut oder Hass, vielmehr pfeifend und singend, denn es gilt, sich und die Seinen täglich wohlversorgt zu wissen: »Denn man muss jeden
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In seiner 1942 für die US-Regierung erstellten Studie zum Nazi-Propagandafilm vermerkt Kracauer, dass die weltweit als Einschüchterungsmittel eingesetzten, groß produzierten »Feldzugsfilme« von 1940/1941 vergleichsweise wenig antisemitische Propaganda enthalten. Er nennt die seltenen Momente in diesen Filmen, in denen solche Propaganda doch vorkommt; und er fährt dann mit der These fort, dass »anti-Jewish activities« und »concentration camps« zwar in Propaganda-Reden und -Druckwerken zirkulieren könnten, dass so etwas jedoch »stubbornly resists pictorial representation. The image seems to be the last refuge of violated human dignity.« (NW, S. 305) Diesen Ausdruck von Vertrauen in das Film-Bild als Zufluchtsort subsumiert Gertrud Koch (in Kracauer zur Einführung, S. 145ff) unter ihre These, Kracauer halte stur am optischen Bild und dessen Rettungskräften fest. Aber Kracauer tut hier auch etwas anderes: Unter der Überschrift vom »image as refuge«, und in einer Zeit (1942) und gegenüber einem Publikum (US-Behörden), das der – gerade voll anlaufende – Nazi-Massenmord am jüdischen Volk nicht sonderlich interessiert, da fügt er, schmuggelt er nahezu, ja doch Hinweise auf die Propagierung und auf die Existenz antisemitischer Verachtung und Massengewalt (auch in »concentration camps«) ein. Mehr noch, er gibt implizit zu verstehen: Eigenartig, dass das nicht größer in den Filmen auftaucht – wo es doch gerade in so großem Umfang geschieht. Gleich darauf bringt er in derselben Studie (NW, S. 307) seine allegorische Deutung eines Paris (»the sanctuary of civilization«), das in der Nazi-Wochenschau von Hitlers dortigem Blitz-Besuch 1940 menschenleer ist: Auch da geht er von Spuren aus – von etwas, das im Film nicht zu sehen ist (siehe Kap. 5.5).
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Tag essen und den anderen zu essen geben.« Arendts Konzept vom bürgerlichen Idyll des treuen Familienvaters, das direkt mit dem Morden verflochten ist, stellt dazu einen Paralleltext dar, Kracauers »The necessity of having to eat is a bad business after all.« eine Paraphrase.66
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Zu Arendts 1944er Deutung des Massenmordens aus einer Sorge um Sicherheit weist Michel Foucaults Analyse der nationalsozialistischen Biopolitik eine zentrale Parallele auf: die Verbindung von Regulierung/Sicherung des Lebens mit einer Macht zum Töten. An Foucaults Zugang zum Vernichtungsrassismus der Nazis fällt jedoch auf, dass er dessen antisemitische Orientierung nicht erwähnt. Foucault spricht von der »vollkommensten Entfesselung der Tötungsmacht«, kraft derer – im Rahmen eines Diskurses der »Rasse« – »der Tod der Anderen die biologische Selbststärkung bedeutet«. Wenn Foucault konstatiert, »im Nazistaat [hat] jedermann das Recht auf Leben und Tod über seinen Nachbarn«, dann lässt er unerwähnt, dass das für bestimmte Nachbar*innen weit mehr als für andere gilt; das Ausrottungsprojekt der Nazis gegen Jüdinnen und Juden und andere verfolgte Minderheiten kommt nicht einem Zustand des homo homini lupus gleich. (Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France [1975–76]. Frankfurt a.M. 2001, S. 305f) Während Foucault sein Verständnis von Nationalsozialismus ganz im Register einer Regierungstechnik formuliert (wobei er das Eindringen des Massenmordes in eine regulierende »Bio-Macht«-Ordnung tendenziell in Kategorien des Krieges und des Strafrechts verkennt), charakterisiert er den Faschismus im Kontext einer antifaschistischen »Lebenskunst« und »Ethik«; er tut dies in seiner Einführung in die US-Ausgabe des Anti-Ödipus von Gilles Deleuze und Félix Guattari. In dieser Skizze spannt er die Faschismus-Metapher weit: Zum Teil überspannt er sie, wenn er den Faschismus gleichsetzt mit dem Denken der Negation und der Repräsentation (entgegen den Positiv-Dynamiken des »Wunsches«); zum Teil ist er mit seinen Einschätzungen dem Postmarxismus (im Umfeld) der Kritischen Theorie, auch dem von Kracauer, näher als er denkt (näher als es sein Pochen auf einen Bruch mit einem von ihm unterstellten marxistischen Diskurs-Kontinuum darstellt): Foucault spricht den Faschismus als eine Totalisierung und als Verliebtheit in Macht als solche an – wie Kracauer in den 1930ern (vgl. Kap. 5.1). Weiters betrachtet Foucault es als nachgerade faschistisch, wenn die »›Rechte‹ des Individuums« fetischisiert werden. Diese These ist kaum nachvollziehbar; dass aber das Individuum – und das ist es wohl, worauf Foucault hier abhebt – ein Macht-Effekt, ein Macht-Konstrukt ist, nun, davon hatten auch Kracauer und andere Frankfurter in ihrer Kritik an der kleinbürgerlichautoritären Anbetung der »Persönlichkeit« mehr als eine Ahnung. Ironisch schließlich, dass Foucault sich in diesem Text zwar pauschal von Wilhelm Reich absetzt, ihn aber fast paraphrasiert, wenn er fragt: »Wie können wir den in unserem Verhalten eingewurzelten Faschismus aufstöbern?« Michel Foucault: »Der Anti-Ödipus – eine Einführung in eine neue Lebenskunst« in: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978, S. 226, 228ff. – Zum Vergleich: Wilhelm Reich schreibt, ebenso Selbsterforschungs-ethisch, in Die Massenpsychologie des Faschismus (S. 15): »Man kann
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Es braucht, so legt Kracauer nahe, nur das übliche – und weit verbreitet hohe – Maß an Massen-Antisemitismus, die üblichen »well-known and worn-out arguments against the Jews«, und eine durchdachte Organisation. Was Kracauer in Entgegnung auf die Nazi-Gräuelpropaganda über das Schächten sagt, gilt ja für alle Schlachtbetriebe: Das ist »a bad business after all«. Wie in Marx’ Text »Zur Judenfrage« ist auch in Kracauers Der ewige Jude/Franju-Kommentar das, was Jüdinnen und Juden – als Prügelknaben einer kapitalisierten Welt – angelastet wird, nichts anderes als jene bürgerliche Existenzweise, die für alle, nicht nur für eine Minderheit, maßgeblich ist, nämlich die Befolgung der Zwänge zum Erfolgreich-Sein, zum (wirtschaftlichen) Sich-Durchsetzen.67 In ihrem Rückblick auf das Vernichtungsprojekt der Nazis betont Arendt 1951, dass die »concentration camps« systematisch nutzlos waren: Sie bezweckten nur Vernichtung, keine wirtschaftliche Produktivität.68 Abgesehen von der Frage, wieviel oder wie wenig an ökonomischem und ›terrorpolitischem‹ Nutzen sie für die SS und das Nazi-Imperium insgesamt ergeben haben, sind die Lager für Arendt radikal sinnlos: Sie vernichteten zahllose Leben, und sie greifen in ihrer Systematik den Sinn der menschlichen Existenz insgesamt an; die-
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den faschistischen Amokläufer nicht unschädlich machen, wenn man ihn […] nicht in sich selbst aufspürt […].« Das Konzept von Jüdinnen und Juden als »Sündenbock« – identifiziert mit der »Zirkulationssphäre« des Kapitals –, dem »das ökonomische Unrecht der ganzen Klasse aufgebürdet wird«, formulieren Horkheimer und Adorno um 1945 aus (in »Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung« in: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 1969, S. 182f). Auch diese Autoren spielen, nicht unähnlich Marx in »Zur Judenfrage«, die antisemitischen Projektionen mit entsprechendem Vokabular zurück: auf das Bürger*innentum im Allgemeinen. Wortlaute: »diese Gesellschaft, in der nicht bloß mehr die Politik ein Geschäft ist, sondern das Geschäft die ganze Politik – sie entrüstet sich über das zurückgebliebene Händlergebaren des Juden und bestimmt ihn als den Materialisten, den Schacherer […].« – »Die Herren als Bürger […] reihten sich unter die Schaffenden ein, während sie doch die Raffenden blieben wie ehedem.« – Der »Fabrikant« gilt als »der wahre Shylock«, »sein Antisemitismus ist Selbsthaß, das schlechte Gewissen des Parasiten.« Die Autoren spielen antisemitische Klischees (von wegen ›gefühlskaltes Kalkül‹) auch auf die Nazis im Besonderen zurück: »Im Bild des Juden, das die Völkischen vor der Welt aufrichten, drücken sie ihr eigenes Wesen aus.«, »Die heulende Stimme faschistischer Hetzredner und Lagervögte […] ist kalt wie das Geschäft.« (Ebd., S. 177, 182, 184, 192) Arendt: Origins of Totalitarianism, S. 582, 587, 597f.
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ser Sinn liegt in der Freiheit zum spontanen, neu beginnenden Handeln, und in ihm keimt die politische Tätigkeit.69 Kracauers Konstellierung wiederum gibt die Lager eher als etwas zu verstehen, das im gesellschaftlichen Normalbetrieb fungiert; dies nicht nur unter dem Aspekt des wirtschaftlichen Nutzens, sondern auch unter dem Aspekt, wie sehr die Lager in gesellschaftliche Routinen und deren idyllische Anmutung eingelassen sind, und wie wenig die weiterlaufenden Routinen der Nachkriegsjahre sich mit dem so kurz zurückliegenden Grauen belasten wollen. Gerade in den bald nach 1945 wirtschaftlich prosperierenden postnazistischen Gesellschaften, deren jüdische Bevölkerung nach Vertreibung und Mord nahezu inexistent ist, ist alles auf den Hochbetrieb von good business eingestellt.
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Die Lager sind ein Angriff auf die Menschheit insgesamt – »the transformation of human nature itself« – und die angesichts dieses Angriffs empfundene shame ist daher kategorisch (wenn auch nicht empirisch) eine gesamtmenschliche: Diesen Gedanken in ihrer Totalitarismustheorie von 1951 hat Arendt bereits formuliert, als die concentration camps noch in Betrieb waren: 1944 schrieb sie (in »Organisierte Schuld«, S. 10) ausgehend von bürgerlichen Familienvätern als Massenmörder-Typus, dass »grundsätzliche Scham«, nämlich dafür, »ein Mensch zu sein«, dasjenige sei, was von einer »Solidarität der Internationalen« nun übrigbleibe. (Insofern setzt dieser Teil ihrer Großtheorie kategorisch bei den nationalsozialistischen Lagern an; die Thematisierung der stalinistischen Lager fügt dem nichts Grundsätzliches hinzu.) 1951 schreibt sie: »The concentration camps are the laboratories where changes in human nature are tested, and their shamefulness therefore is […] the concern of all men.« Arendt: Origins of Totalitarianism, S. 601. – Ein gesamtmenschliches Gefordert-Sein durch die Erfahrung der Schrecken der Lager, nach denen ›es‹ weitergeht: Etwas in dieser Art findet sich bei Kracauer zum einen darin, dass seine Textstellen zu Franjus Schlachthof-Film, Lager-Befreiungsfilmen und Chaplins mordendem Familenvater dem Schlussabschnitt »The Family of Man« in Theory of Film unmittelbar vorangehen. Mehr noch, die postkoloniale – keineswegs idyllische – Family of Man gewinnt an Sinn aus der Konfrontation mit dem massenmordenden family man. Eine andere Arendt-Kracauer-Parallele im Nazi-concentration camps-Kontext, an dieser Stelle nicht weiter zu vertiefen: Oliver Marchart vermerkt in seiner Rekonstruktion von Arendts Politiktheorie, die Lager seien vielleicht nicht zwecklos (sie dienten etwa der Einschüchterung der Massen), aber strikt sinnlos, zumal in ihrer Form als Vernichtungslager: »Dieser Nicht-Ort ist gleichsam das terroristische Negativkorrelat zum (Nicht-)Raum der Welt: zum Zwischen.« (Oliver Marchart: Neu beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung. Wien 2005, S. 103.) Mit einem Nicht-Raum des Zwischen, »a utopia of the in-between« (H, S. 217), endet Kracauers Theorie von Geschichte als einem Andauern der new beginnings.
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6.5 »What makes them tick«: antikapitalistischer Antisemitismus Die Beendigung des Nazi-Herrschaftsapparats 1945 habe von der Nazi-Ideologie, gerade weil diese »so fully ›realized‹« war, fast nichts zurückgelassen: »left almost nothing behind, least of all the fanaticism of believers,« schreibt Arendt.70 (Den Fanatismus aber, so sei mit Arendt ergänzt, brauchte das Morden als Betriebsstoff gar nicht; und zu dem Fast-Nichts, das bleibt, zählt der ganz normale, nicht fanatisch mobilisierte, Antisemitismus und Antiziganismus.) Dass so gut wie nichts bleibt, in diese Richtung denkt Arendt auch in der Frage, ob etwas an gemeinschaftlichen Lehren aus den Erfahrungen der concentration camps zu ziehen sei: »[T]he experiences themselves can communicate no more than nihilistic banalities«; sie können keinesfalls humanitäre, moralische Lehren kommunizieren. Das betrifft für Arendt auch alliierte Re-education Film-Kampagnen, Filme von den Lager-Befreiungen »circulated in Germany and elsewhere after the war«: Der irreal anmutende Schrecken der Lager rufe bei jenen, die ihn auf der Leinwand sehen, letztlich bloß ein Schulterzucken, »skeptical shrug«, hervor.71 Kracauer sieht es anders, bzw. legt er nahe, ähnliche beobachtbare Sachverhalte anders zu sehen, in folgender Perspektive, die sich aus seiner Holocaust-Film-Konstellation ergibt: Filme können sehr wohl etwas vom Holocaust wahrnehmbar machen, nämlich dessen schreckliche Alltäglichkeit und wie diese unkenntlich zu werden droht in einer Alltäglichkeit, die danach weiterläuft, quasi schulterzuckend (mit einem shrug, der weniger skeptisch denn unbekümmert ist). Es geht weiter, als habe die bürgerliche Geschichte als Passage, Übergang, nicht den Faschismus ausgebrütet, sondern »gar nichts« (um
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Arendt: Origins of Totalitarianism, S. 475f. Über diese Filme aus bzw. mit liberation footage der Alliierten schreibt Arendt: »Common sense reacted to the horrors of Buchenwald and Auschwitz with the plausible argument: ›What crime must these people have committed that such things were done to them!‹; or, in Germany and Austria, in the midst of overpopulation, starvation, and general hatred: ›Too bad that they’ve stopped gassing the Jews‹; and everywhere with the skeptical shrug that greets ineffectual propaganda.« Ebd., S. 584. Auffallend ist: Arendt nennt hier explizit »Austria«, und zwar neben (nicht subsumiert unter) »Germany«. Sie nennt das postnazistische Nachkriegs-Österreich. Und das ist – objektiv – ein exemplarisches Soziotop von »general hatred«, aber auch von verschärften UnschuldsSelbstzuschreibungen in tourismustauglicher Idylle. Denken wir kurz an den AusflugsSee (in Chaplins Mörder-Farce) als Schauplatz von Kracauers »horror lurking behind the idyll«-Textstelle.
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es mit Kracauers »Abschied von der Lindenpassage«-Aufsatz zu sagen); als sei mit den vernichtungsrassistischen Massenmorden der Nazis gar nichts Großes passiert. Wie am Ende von Le sang des bêtes wird die Arbeit munter weiter verrichtet, fröhlich pfeifend im ›Wirtschaftswunder‹. Mal ist – um Kracauers Worte zu Franjus Film zu paraphrasieren – das Business schlecht, dann ist es wieder gut. Es bleiben nur nihilistic banalities. Ebendiesen Umstand bringen Filme – manche Filme – nahe, in seiner Unerträglichkeit. Die jüdische Erfahrung des Holocaust – als von den Nazis zur Abschlachtung auserwähltes Volk – lädt einige Bemerkungen auf, die Kracauer rund um den Schlachthof-, Lager-, Familienvater-Mörder-Film-Konnex macht. So etwa seine juridisch getönte Behauptung, das Kino lege bislang unbekanntes Beweismaterial vor und lade bislang zu wenig gewürdigte Subjekte in den Zeug*innenstand (ToF, S. 304f).72 Andere Stimmen vor Gericht, alltäglichere Nazi-Täter*innen, bislang ungehörte jüdische Opfer, Überlebende und Zeug*innen: Das wird im Jahr nach dem Erscheinen von Theory of Film, mit dem EichmannProzess 1961, internationale Öffentlichkeiten – und im Besonderen Arendt – zu beschäftigen beginnen. Kracauer hält, sozusagen: vorerst, in Theory of Film die »deep shadows on the ordinary process of living« (ToF, S. 308) fest, die deplatzierte Film-Ansichten des Holocaust werfen. In seinen Schriften, seinem Schreiben, sind diese Schatten ein Nachbild des jüdischen Schattens einer Selbstbesinnung, den Kracauer in seinen Weimarer Texten zum deutschen Antisemitismus auf das Hochleistungs-Idyll des durchorganisierten, Gesellschaftsbetriebs fallen sah; eines Betriebs, der ungehemmt rationalisiert ist und gerade insofern nur ›halb‹ rationalisiert ist (siehe oben, sowie Kap. 4.4). Und schließlich ist da die eigentümliche Rolle, die der Epilog von Kracauers Filmtheorie Blut zuweist – bei der Erschließung einer noch nicht erfahrenen, sich der Erfahrung entziehenden Wirklichkeit. Zunächst ist da der für Kracauer so zentrale Schlachthof-Film über Das Blut der Tiere: Mit seinem markanten Titel Le sang des bêtes paraphrasiert und verschiebt Franjus Film den BlutAnspruch eines anderen – ebenfalls am Rand des Surrealismus rezipierten, in den Nachkriegsjahren bereits kanonischen – Pariser Films, nämlich Le sang d’un poète bzw. Das Blut eines Dichters (1930). Dieser Film von Jean Cocteau über die Seelenreise eines ›leidenden‹ Poeten zählt zu Kracauers deklarierten Negativ-Referenzen in Theory of Film. Mit der Wendung aber von »un poète« zu »les bêtes«, vom poetischen, symbolischen Blut des aristokratischen Einzel-Genies 72
Unter der Überschrift »Material evidence« schreibt er: »the cinema exhibits phenomena whose appearance in the witness stand is of particular consequence.« (ToF, S. 304f)
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zum fast gleich lautenden, aber so anderen Tierblut, zu Blut in einer ostentativ unentrinnbaren Materialität (gar seiner ›Geistlosigkeit‹: »les bêtes« sind auch »die Dummen«) und Massenhaftigkeit (Franjus Filmende zeigt und besingt ein Meer von Blut) – damit parallelisiert Le sang des bêtes eine konzeptuelle Wendung bei Kracauer; nämlich jene Wendung in der Wirklichkeitserschließung, die er immer wieder vollzieht, programmatisch eben auch hier, am Ende des Epilogs von Theory of Film: Was wirklich ist, bestimmt sich nicht über die VollPräsenz eines privatistischen Macher-Subjekts, sondern im Eingewoben-Sein ins Materielle von Situationen; und daher verweist Blut hier nicht – als Herzblut, gar ›Künstlerschweiß‹ – auf das verkapselte Innen einer Seele, die sich schaffend ausdrückt.73 Sondern auf eine regelrechte »blood transfusion« – in diesem Wortlaut: »In experiencing an object, we not only broaden our knowledge of its diverse qualities but in a manner of speaking incorporate it into us so that we grasp its being and its dynamics from within — a sort of blood transfusion, as it were. It is two different things to know about the habits and typical reactions of a foreign people and really to experience what makes them tick.« (ToF, S. 297) Die Bluttransfusion ist Kracauers am stärksten zugespitztes Sinnbild für ein Naheverhältnis zu Wirklichkeiten, das über bloßes Kennlernen und Bescheidwissen hinausgeht, das unter die Haut geht, ›ans Eingemachte‹. Oder in die ›Eingeweide‹: Letzteres deutet auch Kracauers Rede vom Einverleiben, Inkorporieren, der Welt durch Filme an. Wie ist nun das mit der blood transfusion gemeint? Geht es da um die durch Film vermittelte Empfindung eines ›Ins-Fleisch-der-Welt-gefaltet-Seins‹? Nun, worauf Kracauer abhebt, das ist mehr gesellschaftlich, historisch; aufschlussreich ist das von ihm angeführte Beispiel für die Art von intimer Erfahrung, die sich durch filmische Bluttransfusionen einstellt: das Von-innen-Erfassen des Habitus und der typischen Verhaltensweisen einer Bevölkerung, die dir fremd ist: »really to experience what makes them tick« (wie zitiert). Wie ticken die? Diese Frage geht ›bis aufs Blut‹. Wie ticken die Deutschen (und angeschlossenen Ösis)? Die, denen – so
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Dafür, für die Unterwerfung von Realität unter Seelenwahrheiten, die ihr vorausgesetzt werden (»imposed, not implied«), steht bei Kracauer exemplarisch Cocteaus Sang d’un poète (ToF, S. 190, 279).
6. Antisemitismus, der Nazi-Holocaust und ihre Alltäglichkeit
Kracauer 1938, als er, ein Jude im Exil, diesem Volk bereits nicht mehr angehört – Blut als ein Wahrheitsbeweis und als eine Wirklichkeitsgarantie gilt?74 Kracauers politisches Denken ist realistisch. Sein Realismus geht gerade nicht davon aus, dass Wirklichkeit eine garantierte Fixgrundlage ist. Von der Warte dieses Realismus aus betrachtet, ist es ein Herrschafts-Effekt, wenn eine gesellschaftliche Ordnung sich auf etwas beruft, das sie als Wirklichkeit behauptet – als wirklich im Sinn einer unverrückbar gegebenen Voraussetzung (bis hin zu dem Extremfall einer Ordnung, die Menschen auf der Fixgrundlage ihres ›Blutes‹ identifiziert und einteilt). Wirklichkeit ist für Kracauer nichts Stabiles, das sich durch feste Zugriffe definitiv erfassen ließe. (Aber auch nichts, das gänzlich ›unfassbar‹ wäre.) Auch in diesem Sinn gilt, dass »das normale Dasein in seiner unmerklichen Schrecklichkeit« (A, S. 109) etwas ist, das anders zu vermitteln wäre als durch ein fixierendes Auf-denPunkt-Bringen oder eine sinnfällige Illustration. Zu diesem Realismus in Sachen Alltage, die unmerklichen Schrecken in sich tragen,75 stellen Kracauers Nachkriegs-Gedanken über den Schrecken inmitten des ordinary process of living eine Parallelformulierung dar: »In experiencing the rows of calves’ heads or the litter of tortured human bodies in the films made of the Nazi concentration camps, we redeem horror from its invisibility behind the veils of panic and imagination.« (ToF, S. 306) Was ist, zusammenfassend, damit gesagt? Zum einen geht es bei diesem programmatischen redeeming – für Erretten bzw. Erlösen76 – gerade nicht darum, uns oder die Welt vor dem Schrecken zu erretten oder von ihm zu erlösen: Das wäre ja eine Lesart, die krampfhaft an der Vorstellung einer Wirklichkeit ganz ohne Schrecken, letztlich an der Vorstellung eines Idylls, festhält.77 Den Schrecken, den Horror, gilt es, zu 74 75 76 77
Wie oben zitiert: Die Nazis glauben, »daß Blut die Wirklichkeit oder die Größe einer Sache garantiere« bzw. ein »Wahrheitsbeweis« sei (TP, S. 73). Siehe auch (in Kap. 1.1) Kracauers Mutmaßungen über »Schreie auf der Straße« im gleichnamigen Artikel von 1930. The Redemption of Physical Reality lautet der Untertitel von Kracauers Theory of Film. Ich schreibe das nicht zuletzt deshalb, weil der Kracauer-Biograf Jörg Später mit großem Aufwand auf genau einer solchen Lesart von Kracauers (Film-)realistischem Begriff der redemption/Errettung/Erlösung beharrt. Später ist dazu bereit, Kracauer zu unterstellen, er habe eine bedeutungsverändernde Präposition vergessen, die der Biograf ihm nun hinzufügen muss. Er zitiert nämlich einen Satz aus Kracauers Vorstudien zu Theory of Film in deutscher Übersetzung: Film habe, so Kracauer, die »Mission, uns, mit Leib und Seele, mit unserer Umwelt vertraut zu machen, so daß wir in der Lage sind, sie mitzunehmen und, indem wir sie annehmen, stellvertretend sogar Gewalt und Schrecken zu erretten.« (SK: »Vorläufige Übersicht über ein Buch zur Ästhe-
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erlösen: von der Unsichtbarkeit, nachgerade von uns. Denn zum anderen rührt die Unsichtbarkeit ja, so Kracauer, von Schleiern der Panik und der Imagination, also von ›unseren‹ Vorstellungen her (von mehrheitlichen, hegemonialen, Vorstellungen). Unsichtbar ist der Schrecken, zumal auch der eng mit Alltagen verflochtene Schrecken, nicht zuletzt dadurch, dass Vorstellungen und deren panische Aufladungen kultiviert und in Umlauf gebracht werden: solche Vorstellungen nämlich, die den Schrecken in plakativen Verkörperungen verorten und fixieren. Was heißt das? Betrachten wir kurz jene Stelle von Kracauers Angestellten-Buch von 1929/30, aus der die Rede vom »normale[n] Dasein in seiner unmerklichen Schrecklichkeit« mündet. Kracauer kritisiert an dieser Stelle eine, so schreibt er, vor allem in Berlin tätige »junge radikale Intelligenz […], die in Zeitschriften und Büchern ziemlich heftig und gleichförmig gegen den Kapitalismus auftritt.« Dieser Antikapitalismus, so Kracauers Vorwurf, »macht es sich mit dem Protest zu leicht«, denn zugunsten bloßer »Symptome«, »extreme[r] Fäll[e]« und »auffallende[r] Entartungen«78 verfehlt dieser antikapitalistische Protest »die kleinen Ereignisse, aus denen sich unser normales gesellschaftliches Leben zusammensetzt«, die »Miniaturereignisse« und »winzigen Katastrophen, aus denen der Alltag besteht« (A, S. 56, 109). Das ist nun nicht als ein Votum für ›Aufmerksamkeit auf das Kleine statt auf das Große‹
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tik des Films« [8.9.1949] 3, S. 843) Später korrigiert nun diesen Satz allerdings durch eine Worteinfügung: Der Satz handle, so der Biograf, davon, »unsere Umwelt« zu erretten, nämlich »stellvertretend sogar [vor] Gewalt und Schrecken zu erretten« [sic!]; und er fügt per Fußnote hinzu: »Meines Erachtens fehlt das Wort ›vor‹ in Kracauers Manuskript, denn Gewalt und Schrecken sollen kaum errettet werden.« Ich sag mal: Doch, genau das sollen sie – Gewalt und Schrecken sollen errettet werden, nämlich erlöst von ihrer Unsichtbarkeit. Späters Erörterung erfolgt unter dem Kapiteltitel »Filmästhetik als Kulturwissenschaft«, der meines Erachtens vieles bezeichnet, aber nicht Kracauers Film-Denken: Dieses Denken ist erstens eine »Ästhetik« nur im Modus der Absetzung von diesem Begriff, zweitens keine »Wissenschaft« und drittens schon gar keine von der »Kultur«. (Siehe: Jörg Später: Siegfried Kracauer. Eine Biographie. Berlin 2016, S. 478, sowie S. 671, Fußn. 5) – Zum Gegencheck: Im US-Original der von Später monierten Filmtheorie-Entwurfsstelle schreibt Kracauer (und gehen wir davon aus, dass ihm auch da nicht eine Präposition fehlt), Film habe folgende Aufgabe: »familiarizing us, body and soul, with our environment, so that we may be able to take it with us and, embracing it, to redeem vicariously even violence and horror.« SK: »Tentative Outline of a Book on Film Aesthetics« [8.9.1949] in: Siegfried Kracauer – Erwin Panofsky Briefwechsel 1941–1966. Berlin 1996, S. 91. Er nennt »Krieg«, »krass[e] Fehlurteil[e] der Justiz« und die »Maiunruhen« von 1929.
6. Antisemitismus, der Nazi-Holocaust und ihre Alltäglichkeit
zu verstehen. Vielmehr ist damit problematisiert, dass allgemeine kapitalistische Verhältnisse zugunsten allzu augenfälliger, ›dankbarer‹ Lokalisierungen verkannt werden; und das ist mehr als ein Erkenntnisproblem. Das ist eine grundlegende politische Frage. Denn wenn Kracauer hier anmerkt, »Der Radikalismus dieser Radikalen hätte mehr Gewicht, durchdränge er wirklich die Struktur der Realität.« (A, S. 109), dann fragt er damit nach einer kritischen Auslotung, eben einer Durchdringung strukturierender Grund-Dimensionen von Gesellschaft; er fragt danach umso nachdrücklicher, als dieses Grundlegende keine stabil identifizierbare, sinnfällig evidente Gegebenheit ist. Was Kracauer damit andeutet, ist vergleichbar seinem Hinweis darauf, dass das Judentum den Deutschen als Prügelknabe, Sündenbock, für Auswirkungen der kapitalistischen Rationalisierung dient: Es geht damit perspektivisch um einen Antikapitalismus, der – von rechts, mitunter auch von links – antisemitisch wird, indem er, statt die eben genannte »Struktur der Realität« unter Kapitalverhältnissen, die Systematik dieser Wirklichkeit, zu kritisieren und anzugreifen, Panik-Reaktionen und Ressentiment-Vorstellungen in Bezug auf leicht zu identifizierende und zu stigmatisierende Verkörperungen dieser Verhältnisse in Umlauf bringt.79 Dies insbesondere in Bezug auf die im Alltags-Antisemitismus als ›jüdisch‹ identifizierten Kapitalbereiche der Warenzirkulation und der Finanzialisierung. (Auch in Bezug auf einzelne Wirtschaftsakteure, bei denen ein exzentrischer Habitus nicht patriarchal, ›bodenständig‹ oder macho genug ist, um bewundert zu werden, sondern vielmehr exotisiert oder gleich zur Zielscheibe von Verschwörungsfantasien gemacht wird.) Die phobische Rede von »Parasiten« und »Volksschädlingen« blieb und bleibt nicht auf die völkische Rechte beschränkt; das strukturell antisemitische Vorstellungsbild von
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Mit Blick auf Transfeindlichkeit – und mit Vergleichen zum Nazi-Antisemitismus – fasst McKenzie Wark heute unter dem Label Faschismus eine Art, die Erfahrung von »vulnerability« zu lokalisieren, indem von verletzenden Machtverhältnissen abgesehen und stattdessen ein Sündenbock (scapegoat) für das eigene Verletzt-Sein gesucht wird. Wark stellt die biologistisch aufgeladene Panik weißer Heteromilieus (Angst um Fortpflanzung, Lifestyle-Kontinuierung) als ein Bindeglied dar: zwischen einerseits Rassismus und anderseits Trans- bzw. Homophobie innerhalb faschistischer Einstellungen. Und sie hebt das Moment einer Angstlust an Verletzungsgefühlen (Selbstviktimisierung) und deren Projektion auf minoritäre Auslöser*innen hervor (»the emotional appeal to feel frightened and vulnerable, and to seek a scapegoat«). »One of the pleasures of fascism is feeling vulnerable to civility«; mit »civility« meint sie das, was ein Mehrheitsdiskurs cancel culture nennt und als Bedrohungsbild kultiviert. McKenzie Wark: »On Vulnerability«, Spike Art Magazine 73, 2022, bes. S. 51.
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international agierenden Investmentfonds als »Heuschrecken« (ein Bild, das der Kritik an Gewalttätigkeiten des Kapitals nichts an Erkenntnis oder Schärfe hinzufügt) war um die Jahrtausendwende bei antiglobalistischen Linken und bis hinein in die deutsche Sozialdemokratie gebräuchlich.80 Ausgehend von der Kritik an der Unfähigkeit eines bestimmten Antikapitalismus, Alltagswirklichkeit wahrzunehmen, ist bei Kracauer auch eine Kritik an antisemitischen Gesellschaftsbildern mit in den Raum gestellt; das verläuft komplementär dazu, wie Horkheimer und Adorno vorgehen, indem sie nämlich ausgehend von antikapitalistischen »Elementen des Antisemitismus« zum Thema einer Unfähigkeit, Wirklichkeit wahrzunehmen, gelangen: Die beiden Autoren beginnen mit der Analyse eines Judenhasses, der sich an Phobien gegen die Warenform entzündet, und erweitern diese Analyse dann in ein breit angelegtes Konzept der Erfahrungsunfähigkeit (Unfähigkeit zur Erfahrung von Wirklichkeiten, die nicht schematisiert, sondern different sind). Allerdings hat Adorno schon 1937 seinen Freund Kracauer, als dieser an Totalitäre Propaganda schrieb, darauf hingewiesen, dass es bei der Kapitalismuskritik vorsichtig zu sein gilt: Es gehe nicht an, nur die Kapitalbranchen der Zirkulation, Finanzialisierung und Spekulation negativ zu sehen und das Industriekapital dagegen positiv. Adorno beeinsprucht da eine Unterscheidung, die Kracauer in seiner »Gesellschaftsbiographie« über Jacques Offenbach und
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Gerhard Scheit hat darauf hingewiesen, dass der Antisemitismus, der seinen Hass auf Jüdinnen und Juden als unterstellte Verkörperungen der Tauschsphäre und der Abstraktion richtet, bei den Nazis tatsächlich ein irreduzibles antikapitalistisches Moment enthält: Antisemitismus als »die fetischistische Aufhebung des Kapitals auf der Grundlage des Kapitals«, zugunsten des Konkretismus einer Produktion, die den Wohlstand eines verganzheitlichten deutschen Volkes sichern soll – und bei der die (stigmatisierten) Subjekte der Tauschabstraktion vernichtet sind. Insofern greife, so Scheit (teils mit Verweis auf Moishe Postone), die seitens der Linken kultivierte Auffassung, die Vernichtungslager seien eine »entsetzliche Version einer kapitalistischen Fabrik«, zu kurz, denn: Diese kapitalistische Produktionsstätte habe sehr wohl die Funktion, einen Teil des Kapitalzusammenhangs phobisch abzuspalten und der Liquidierung zu überantworten. Gerhard Scheit: »Bruchstücke einer politischen Ökonomie des Antisemitismus«, Streifzüge 1, 1997, S. 7. https://www.streifzuege.org/wp-content/uploads/2018/ 08/Streifzuege-1-1997-1.pdf [3.3.2023] Bei Kracauer ist es so, dass er nicht das Vernichtungslager als eine Fabrik (Schlachthof) sieht und darstellt, sondern dass er über einen Fabriks-Film, nämlich Franjus Schlachtbetriebs-Doku, vermittelt, wie sehr das Massenmorden der Nazis in einen Alltag eingebettet ist: in einen Alltag, der – um Scheits Gedanken zu folgen – sich idyllisiert, seine Präsenz und sein Selbst-Genießen totalisiert und das Abstrakte aus sich heraus exorziert.
6. Antisemitismus, der Nazi-Holocaust und ihre Alltäglichkeit
das Paris des Zweiten Kaiserreichs einige Male ausformuliert hat, um mit ihr auf eine Art Entwirklichung der Politik und Ökonomie hinzuweisen: Das ist die Unterscheidung, so Kracauer 1937 in seinem Offenbach-Buch, zwischen einerseits »der erdnahen Industrie« und einer »Wirklichkeit […], in der die Arbeit gerecht entlohnt wird«, und anderseits dem »Finanzkapital […], das ins Blaue hinein phantasierte« und vermittels dessen »Geld […] sich im Flug erraffen läßt«.81 Diese Unterscheidung und ihr Vokabular (das der Wirklichkeit unversehens einen Fundament-Charakter zuschreibt, der Kracauers Realismus eigentlich widerspricht) könnten ja, so wirft Adorno ihm zurecht vor, höchstens ironisch gemeint sein; denn das lese sich, als sei es »unmittelbar dem nationalsozialistischen Gedankengut entnommen« (Adorno an SK 13.5.1937, Ado, 356). Dieser Einwand ist bei Kracauer angekommen: Er hat daraufhin wohl von Adorno etwas – nun ja, nicht übernommen, denn das hat er, kraft seiner Auseinandersetzung mit Antisemitismus und mit der Nazi-Variante von (Pseudo-)Sozialismus, wohl vorher schon gewusst, aber: Sich zu hüten vor dem strukturell antisemitischen Bashing von Teilen des Kapitals, die dadurch als Prügelknabe für das abstrakte Gesamt-Kapitalverhältnis dienen, diesen Hinweis von Adorno greift er auf; und so vermerkt er im Jahr darauf in seiner Propagandastudie, dass »die Unterscheidung zwischen ›raffendem‹ und ›schaffendem‹ Kapital« ein gängiges Motiv der Nazi-Propaganda ist (TP, S. 53). Und den Ewigen Juden, diese meist antisemitisch konnotierte Figur aus der christlichen Folklore, der sich der gleichnamige Nazi-Hetzfilm in seiner Anfangssequenz entlang der Unterscheidung zwischen produktiver Wirtschaft und als »jüdisch« dargestelltem Handel (»Wucher«, »Schacher«) nähert – diese jüdische Gestalt, die zum Überleben verurteilt ist und sich müde durch die Geschichte zieht, all deren Wandlungen verkörpernd, im Gesicht tragend, wird Kracauer ebenfalls aufgreifen, allerdings ganz anders: In den Jahren nach seinen 1958er program notes zu Der ewige Jude (ohne dass er noch einmal auf diesen Hetzfilm rekurrierte) – und drei Jahrzehnte, nachdem er am Beginn seiner Flucht vor dem Nationalsozialismus geschrieben hatte, dass »die in die Zerstreuung geschickten Juden zu ewiger Wanderschaft verdammt« seien82 – greift er diese transhistorisch wandernde Gestalt auf: in positiver Wendung zu einer Konzeptfigur des In-der-Geschichte-Seins, der Geschichtlichkeit des
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SK: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. [1937] 8, S. 192ff. SK: »Conclusions«, S. 471.
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Andauerns der »new beginnings«, unter dem Namen Ahasver, der Wandernde Jude (nach dem ein Kapitel seines letzten Buches titelt).83
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Das Kapitel von History. The Last Things Before the Last (1969) heißt »Ahasverus, or The Riddle of Time«. Darin benennt er mit »Ahasverus, the Wandering Jew« ein exemplarisches Erfahrungs-Subjekt der Geschichte und ihrer zahllosen »developments and transitions« (H, S. 157). In History steht auch, dass Geschichte der Bereich von »contingencies« und »new beginnings« ist (H, S. 31).
7. Heute: das Nichts nach dem Faschismus, Faschismen nach dem Nichts (Und doch ›haben uns‹ ein paar menschliche Ideen.) Ferner: die Wahrheit ist allgemein, sie gehört nicht mir, sie gehört allen, sie hat mich, ich habe sie nicht. Karl Marx1
Nähern wir uns dem Faschismus zuletzt noch einmal im Weg von Geschichte. Von Geschichte nun nicht primär (aber auch) unter dem Gesichtspunkt offener Verläufe wie in Kapitel 1; sondern von Geschichte als dem Wieder-insSpiel-Kommen von Kräften und Ideen, derer sich eine hegemoniale Gegenwarts-Ordnung, die nach Totalisierung strebt, entledigen möchte, die sie aber nicht loszuwerden vermag. »Vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts« würde die bürgerliche Passage »ausbrüten«, schrieb Kracauer 1930;2 und ein »gar nichts« hinterlässt der Faschismus nach 1945: im Sinn eines Nichts an Politik und an Ideen von Menschlichkeit. Geschichte durchkreuzt dieses Nichts. Aber – der Reihe nach.
7.1
Nach dem Faschismus ist vor dem Faschismus: Nachkriegslektionen in Italien, Deutschland und den USA
Italien, Deutschland, die USA: In seinen Nachkriegsschriften zum Film als einer Form, Gesellschaft in ihrer Geschichtlichkeit (Kontingenz) zu erfahren, setzt Kracauer die Situation in den beiden großen postfaschistischen Staaten 1 2
Karl Marx: »Bemerkungen über die neueste preußische Zensurinstruktion« [1842] www.mlwerke.de/me/me01/me01_003.htm [29.6.2023] SK: »Abschied von der Lindenpassage« [FZ 21.12.1930] OdM, S. 332.
7. Heute: das Nichts nach dem Faschismus, Faschismen nach dem Nichts (Und doch ›haben uns‹ ein paar menschliche Ideen.) Ferner: die Wahrheit ist allgemein, sie gehört nicht mir, sie gehört allen, sie hat mich, ich habe sie nicht. Karl Marx1
Nähern wir uns dem Faschismus zuletzt noch einmal im Weg von Geschichte. Von Geschichte nun nicht primär (aber auch) unter dem Gesichtspunkt offener Verläufe wie in Kapitel 1; sondern von Geschichte als dem Wieder-insSpiel-Kommen von Kräften und Ideen, derer sich eine hegemoniale Gegenwarts-Ordnung, die nach Totalisierung strebt, entledigen möchte, die sie aber nicht loszuwerden vermag. »Vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts« würde die bürgerliche Passage »ausbrüten«, schrieb Kracauer 1930;2 und ein »gar nichts« hinterlässt der Faschismus nach 1945: im Sinn eines Nichts an Politik und an Ideen von Menschlichkeit. Geschichte durchkreuzt dieses Nichts. Aber – der Reihe nach.
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Nach dem Faschismus ist vor dem Faschismus: Nachkriegslektionen in Italien, Deutschland und den USA
Italien, Deutschland, die USA: In seinen Nachkriegsschriften zum Film als einer Form, Gesellschaft in ihrer Geschichtlichkeit (Kontingenz) zu erfahren, setzt Kracauer die Situation in den beiden großen postfaschistischen Staaten 1 2
Karl Marx: »Bemerkungen über die neueste preußische Zensurinstruktion« [1842] www.mlwerke.de/me/me01/me01_003.htm [29.6.2023] SK: »Abschied von der Lindenpassage« [FZ 21.12.1930] OdM, S. 332.
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zu der in den USA in Beziehung. Einiges von dem, was er in den späten 1940ern in New York über die postfaschistische/postnazistische Erfahrung schreibt, ist nicht nur auf Verhältnisse over there gemünzt. Vielmehr legt er, aus der Darstellung der Spezifik der jeweiligen Situation, auch Schlüsse für die USA nahe: für ›seine‹ Gegenwart am Beginn der Second Red Scare, der antikommunistischen/antidemokratischen Säuberungs- und Einschüchterungskampagnen, die lange als McCarthyismus geläufig waren.3 1948 schreibt Kracauer über den Film Paisà (I 1946; US-Titel: Paisan) von Roberto Rossellini, dessen Roma Città Aperta (I 1945) er bereits zuvor gewürdigt hat. Paisà, ein episodischer Film voller Zufallsgeschehnisse, zeigt Stationen der Befreiung Italiens von Faschismus und Nazi-Besatzung. Über mehrere Seiten beschreibt Kracauer, wie Paisà dabei nicht nur kriegs(gegenwarts)geschichtliche, sondern auch soziale Wirklichkeit in ihrer eigendynamischen Materialität und instabilen Textur vermittelt. Damit bringe dieser Gründungsfilm des Neorealismus es fertig, ein Gespür dafür zu erzeugen, dass Menschlichkeit in kleine Momente und Alltagsformen kultureller Traditionen eingebettet sei.4 Die neorealistischen italienischen Filme machen eine solche Ethik fast stofflich aus dem Alltäglichen heraus greifbar; insofern seien sie, so Kracauer, weitaus prägnanter als Hollywoods geschwätzige, posenhafte Versuche, dem Faschismus – als globalem, in Teilen auch in den USA drohendem – filmisch etwas entgegenzuhalten.5 An diesem Punkt jedoch kommt in diesem Text ein großes Aber: Nachdem Kracauer all dies dargelegt hat, vollzieht er im letzten Absatz des Paisà-Aufsatzes eine veritable Kehrtwendung. Diese betrifft nicht die Würdigung die-
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Im Vorwort zu From Caligari to Hitler (CH, S. v) schreibt er im Mai 1946, er glaube, die »psychological dispositions«, die er an Weimar-Deutschland untersucht habe, seien auch in der »post-Hitler era« relevant, und seine Methode, Gesellschaft anhand ihrer Filme zu untersuchen, tauge auch für »studies of current mass behavior in the United States and elsewhere.« Schon damit stellt er eine Übertragung nicht nur seiner Methode, sondern implizit auch seines Themas – Faschisierung – auf die USA in den Raum. SK: »Paisan« [Typoskr. 7.3.1948] AW. Kracauer schreibt »humanity« und meint damit Menschlichkeit, Humanität. Für die Menschheit verwendet er das Wort »mankind«. – Der Paisà-Aufsatz blieb unveröffentlicht. Zu diesen US-Filmen weiter unten mehr. Paisà, für Kracauer »one of the greatest films ever made«, bezeuge eine Haltung, in der »the humane is not an abstraction, but a selfsufficient reality rich in meaning.« Und das zeige im Gegenzug, »what our American movies are not.« SK: »Those Movies with a Message« [Harper’s Magazine 196, Juni 1948] AW, S. 78f.
7. Heute: das Nichts nach dem Faschismus, Faschismen nach dem Nichts
ses Films, sondern die universelle Gültigkeit einer sich selbst genügenden Alltags(kultur)welt, die Paisà affirmativ ausbreitet: einer Welt, die antipolitisch geprägt ist, weil sie nicht nur den Faschismus, sondern sämtliche Formen und Versprechen einer die Gesellschaft bewegenden Politik bzw. deren Ideen hinter sich lassen will. Diese desillusionierte, postpolitische Verabschiedung von geschichtswirkmächtigen Ideen fasst Kracauer zusammen: »Even without ideas they [the Italians, DR] still have much to rely upon. […] – they may well believe that their repudiation of ideas relieves their lives of excess baggage. What remains, in their opinion, is humanity pure and simple. And in their case, as Paisan demonstrates, humanity assumes all the traits of self-sufficient reality.« Und nun kommt der Schlussabsatz mit dem U-Turn, der besagt, dass es sich bei genau dieser Annahme um eine Täuschung handelt: »This is a mirage though, which may appear as more than a mirage only at a very particular moment, such as the Italians are now going through. Paisan is delusive in that it virtually makes the triumph of humanity dependent on a world released from the strain of ideas, or ›causes‹. We cannot feel this way. As matters stand, we know humanity would be irretrievably bogged down if it were unsustained by the ideas mankind breeds in desperate attempts to improve its lot. Whatever their consequences, they hold out a promise to us.« Der Absatz geht noch ein paar Zeilen weiter, ehe Kracauer ihn in diesen paradoxalen Schlusssatz einmünden lässt: »So, if Paisan does not kindle hopes, yet it reassures us of the omnipresence of their sources.«6 Das heißt: Hoffnungen sind nirgends, ihre Quellen jedoch überall; insofern gilt alle Hoffnung diesen Quellen. Die Alltagswelt wird zum Raum einer Hoffnung auf Hoffnungen. Das bereits drückt ein Beharren aus; und noch mehr tut dies Kracauers Wort von den ideas or ›causes‹, ohne die die Menschheit festsitzen, im Schlamm versinken würde (sie wäre bogged down): Kracauer beharrt darauf, dass es ohne Ideen und deren Versprechen nicht geht; auch wenn deren consequences schlimm geraten können wie im Fall der stalinistischen Mutation des Kommunismus.7 6 7
SK: »Paisan«, S. 156. Dieses Beharren auf Ideen im Kontern einer faschistischen Bedrohung findet sich auch in der Studie zu rechten Propagandisten in den USA von Kracauers Freund und Schüler Leo Löwenthal, an der er 1948, im Jahr des Paisà-Typoskripts, als Berater beteiligt war. So heißt es etwa, diese Propagandisten versuchten, eine in der Öffentlichkeit herrschende Desillusionierung noch zu steigern, bis zur »complete renunciation of values
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Die Wiederbekräftigung von Ideen, in ihrer Unverzichtbarkeit und Unloswerdbarkeit, am Ende – als Zusatz, fast Supplement, zu – seiner Darlegung einer soziokulturellen Wirklichkeit: Damit knüpft Kracauer 1948, in der postfaschistischen unmittelbaren Nachkriegszeit, an seine Faschismus-Studie Totalitäre Propaganda an, in der er zehn Jahre zuvor das (Miss-)Verhältnis von Ideen zum Faschismus erörtert hat. Im Gegensatz zu den von gesellschaftlichen Wirklichkeiten entkoppelten, in diesem Sinn faszinierenden Ideen, die die faschistische Propaganda nach Belieben verwerten will (TP, S. 36; siehe Kap. 4.4), sowie auch im Gegensatz zu Welt-entrückten, ›ewigen‹ Idealen spricht Kracauer 1938 und ebenso in seiner Paisà-Kehrtwendung von Ideen, die ans Gesellschaftliche gebunden sind. Gebunden sind sie gerade, weil sie und ihre Sinn-Versprechen in einem Zustand ins Spiel kommen, in dem eine Gesellschaft gänzlich von Ideen entleert zu sein scheint. Es ist nicht so, das Ideen und causes sich einfach in der Geschichte erhalten – dazu sind sie zu prekär; vielmehr kommen sie wieder ins Spiel: erstens trotz allem Anschein ihres Verschwindens aus dem Alltag; zweitens in Notlagen (humanity bogged down); drittens durch ein Zurückkommen-auf, das einer vehementen Geste gleichkommt. Eine solche performt Kracauer regelrecht in seinem Schreiben mit dem abrupten U-Turn am Ende seines Paisà-Typoskripts, der uns (als wär’s ein Plot-Twist in einem Mindgame-Thriller) nahelegt, die Darlegung eines Alltags, der von der Politik gänzlich unbehelligt zu sein scheint, mit einem zweiten, skeptischen Blick zu sehen. Diese Kehrtwendung antwortet 1948 gegengleich, wie im Retourgang, auf eine (auch lebensgeschichtliche) Wendung, die Kracauer zwölf Jahre zuvor wohlwollend durchgedacht hat, und zwar anhand des teils autobiografischen Romans Brot und Wein seines späteren Freundes Ignazio Silone; durchgedacht hat er dabei auch dessen Faschismustheorie (siehe v.a. Kap. 2). Silones Wendung führte damals, 1936, weg vom Parteikommunismus (den er in Italien mitbegründet hat), weg von der Parteiorganisation als Trägerin von Menschlichkeits-Ideen, hin zum Dorf-Alltagsmilieu ›kleiner‹ Leute, in dem der Kommunist wie auch sein Ideen-Gut untertaucht, auf der Flucht vor dem Faschismus, um ihn zu überdauern, dabei ein Fremdbestand in der ländlichen Traditionskultur bleibend…8 Silones Brot und Wein – und Kracauer mit ihm
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and ideals«. Leo Löwenthal, Norbert Guterman: Prophets of Deceit. A Study of the Techniques of the American Agitator. New York 1949, S. 20. SK: »Silone« [Typoskr. 3.12.1936] 5.4. – In seinen Gedanken zu Paisà äußert Kracauer sich kurz skeptisch über Silones Affirmation des italienischen Katholizismus.
7. Heute: das Nichts nach dem Faschismus, Faschismen nach dem Nichts
– besagt 1936 sinngemäß: Ideen von Gerechtigkeit bedürfen der Bindung an Alltagskultur. Kracauers Bemerkungen zu Paisà Ende der 1940er Jahre besagen sinngemäß: Alltagskultur geht nicht ohne Ideen von Gerechtigkeit. Beides jeweils, wenn Menschlichkeit gefordert ist. Zwölf Jahre nach dem Paisà-U-Turn wiederum, 1960 also, hat diese Kehrtwendung ein Echo: Es handelt sich um das Gewahrwerden auf den zweiten Blick – »if you watch closely enough« – eines »horror lurking behind the idyll« (ToF, S. 308). Ebendies wurde hier in Kapitel 6 anhand des Holocaust erörtert – als etwas, dessen hartnäckigen Schatten ein mehrheitlicher Alltag, der sich zunächst als self-sufficient zeigen will, nicht loswird. In dem Text von 1948 suchen Ideen ein Alltagsidyll heim, im Filmtheorie-Buch von 1960 sucht der Schrecken ein Alltagsidyll heim, jeweils eines, das sich selbst zu genügen glaubt. Und schließlich ist da Kracauers posthum 1969 veröffentlichtes letztes Buch History: Darin nennt er »lost causes« und »hisorical ideas« als das, was durch die Geschichte hindurch unloswerdbar immer wieder auftaucht, wiewohl fortschrittsorientierte Geschichtsdarstellungen in Form von »success stories« diese Wirkungen und »unrealized possibilities« auszulöschen trachten (H, S. 97f, 101f, 199, 219; zu historical ideas siehe Kap. 4.4). Das Festhalten von Ideen und causes, die verlorenzugehen drohen, Festhalten auch in der Form eines Wieder-Zurückkommens auf sie, nicht zuletzt denn auch als ein Festgehalten-Werden von Ideen nach Art anhaltender Heimsuchung durch sie, durch Ideen, die ›uns‹ haben (mindestens so sehr wie ›wir‹ Ideen haben) – das ist in der postfaschistischen Leere, nach der Zertrümmerung politischer Ideen und der Delegitimierung von politischem Konflikt, umso wichtiger. (Das betrifft auch unser Heute.)9 9
Kracauer bekräftigt in seinem Paisà-Aufsatz seinen Gedanken einer unauflösbaren Bindung von Ideen an gesellschaftliche Wirklichkeiten; hier allerdings so, dass dies nun verflochten ist mit dem Gedanken einer Bindung der Gesellschaft wiederum an Ideen, die in einer Notsituation den Bestand von Menschlichkeit sichern helfen. In Adornos Sicht hingegen stellt es sich fast umgekehrt dar: Adorno fasst nämlich ein großspuriges Beharren auf Ideen – vermeintliches Heilmittel gegen eine konstatierte Ideenleere – als ein Merkmal des »neuen Rechtsradikalismus« in den postnazistischen Ländern auf. Zwischen den beiden Autoren gibt es allerdings einen Unterschied im Ideen-Verständnis: Für Kracauer kann auch ein postpolitischer Alltag sich den Versprechen von Ideen nicht entziehen; dieser Umstand, dieses regelrechte haunting durch Ideen, hält ein Versprechen von Menschlichkeit als Wahrheit aufrecht. Der von Adorno untersuchte »Rechtsradikalismus« wiederum ist, quasi umgekehrt, auf das »Haben« von Ideen aus (man hat, man besitzt, eine Idee); Adorno spricht von »Vulgäridealismus« in diesem Sinn: »die Idee soll nicht mehr um dessentwillen da sein, weil sie wahr ist, nicht
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Zurück zum Nachkriegskino als Einsichtsschauplatz von Sozialdiagnostik: Was Paisà laut Kracauer vermittelt, ist »a blend of political inertia and stirring humanity«, dies als Ausdruck des »psychological climate of a nation that has seen many ideas come and go, invariably entailing war and misery, and is now suspicious of all ideas and all politics.«10 Ein filmisches Szenario der Entleerung einer Gesellschaft von politischen Ideen erörtert Kracauer zeitgleich zu dem Paisà-Aufsatz auch mit Blick auf den deutschen Faschismus, auf den Nationalsozialismus und dessen Hinterlassenschaft. Eine ähnlich postpolitische, in dieser Weise politikfeindliche, Gesinnung komme nun auch in der nachkriegsdeutschen Gesellschaft zum Ausdruck: Das diagnostiziert Kracauer 1949 in seinem Aufsatz »The Decent German« (in dem er zum Vergleich auch die eben zitierte Einschätzung zu Paisà äußert), und zwar anhand des Filmdramas Ehe im Schatten. Diese DEFA-Produktion aus dem Jahr 1947 erzählt von der Machtübernahme der Nazis und von antisemitischer Segregation und Verfolgung anhand einer Ehe zwischen einem nichtjüdischen Schauspieler und einer jüdischen Schauspielerin, die 1941 in Berlin in den Suizid getrieben werden. Das Protagonist*innenpaar (das auf einem realen Vorbild basiert) ist in Ehe im Schatten Teil eines kulturtragenden bürgerlichen Bildungsmilieus; es dient als Brennpunkt einer bürgerlich-deutschen Sicht auf die jüngste NS-Vergangenheit; einer Sicht, an der Kracauer vehement Kritik übt. In diesen Figuren – sowie in der Anteilnahme an ihnen und an ihrem Milieu, auf die der Film aus ist11 – verkörpert sich, so die Kernthese von »The Decent German«, eine politikfeindliche Sichtweise: »Politics for these people is nothing but a hateful intrusion into their emotional and cultural privacy.«12 Damit werde auch Nationalsozialismus als etwas dargestellt, das gegenüber dem Bürger*innentum, ja, gegenüber allen sich als decent, anständig, fühlenden Deutschen, äußerlich sei, eben eine intrusive Macht von außen. Dagegen urteilt Kracauer (teils kursiv): »Hitler came from within. And it is absurd to pass
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um ihres objektiven Gehalts willen, sondern nur aus dem pragmatistischen Grund, daß man ohne Idee gewissermaßen nicht soll leben können, daß es gut sein soll, daß man eine Idee hat.« Theodor W. Adorno: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus [Vortrag 1967]. Berlin 2019, S. 47. SK: »The Decent German: Film Portrait« [Commentary 7, 1949] AW, S. 157f. Es gibt in Ehe im Schatten habitus- und ideologiekritische Momente, die Kracauer wohl zu leicht gewichtet. Er geht auch wenig darauf ein, dass dieser Film – für Nachkriegskino keineswegs typisch – auch eine jüdische Erfahrung nationalsozialistischer Gewalt verhandelt. SK: »The Decent German«, S. 160.
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off the bulk of his followers among the educated as simple opportunists or hypocrites.«13 Auf einen erweiterten Kontext, auf die Nachkriegsgegenwart, auch in den USA, bezogen, wendet Kracauer sich mit diesem Urteil dagegen, dass ein Film politische Passivität so einfach hinnimmt bzw. sentimentalisiert; dass es nicht kritischer gezeigt/gesehen wird, wenn eine rein private Moral an die Stelle von Impulsen zum öffentlichen Handeln tritt. Damit setzt er seine Kritik am Rückzug des (Klein-)Bürger*innentums in Innerlichkeit (wofür die Warntafel »Soul at Work« angebracht wäre: CH, S. 71) und am politisch wirksamen »Charaktermangel« der deutschen Bildungsbourgeoisie fort, wie er sie 1947 respektive schon 1933 geäußert hat (siehe Kap. 3.3). Kracauer gibt zu bedenken: Dieses Milieu, das so oft als exemplarisches Geschichtssubjekt gilt, nicht nur in seiner Darstellung in Ehe im Schatten, erweist sich dann, wenn es auf politisches Handeln ankäme, als »stunned into passivity.«14 Vor dem Hintergrund der kurz zurückliegenden Zerstörung von Öffentlichkeit durch die Nazis, auch vor dem Gegenwarts-Hintergrund der beginnenden Auslöschung oppositioneller Stimmen durch den Rechtsruck in den USA warnt Kracauer vor Regression ins Private. Summarisch sagt er: »decency comes into its own only if it is acted out on the political scene as well as in private life. And it cannot be fully acted out unless the decent people are guided by concepts which make them grasp the significance of politics, the close interrelation of private and public morals.«15 Eine bürgerliche Nicht-Haltung des Sich-Raushaltens, sie ist das Objekt von Kracauers Kritik der deutschen Gesellschaft im Rückblick. So auch in seiner Faschisierungsgeschichte im Zerrspiegel des Weimarer Films: In From Caligari to Hitler schreibt er über den Film Berlin – Alexanderplatz aus dem Jahr 1931, konkret über die Szene, in der Protagonist Biberkopf erstmals als eloquenter Straßenhändler (peddler) auftritt. Es ist dies eine in der Montage von alltagsdokumentarischen Aufnahmen durchsetzte Szene (neorealistisch avant la lettre). Kracauer fokussiert da nun auf zwei Männer, die in einer halbnahen Einstellung zwei Sekunden lang mit Biberkopfs Verkäufer-Show gegengeschnitten sind: »The first time Biberkopf peddles on Alexanderplatz, he asks several S.A. men in the crowd around him to come nearer – asks them as kindly as if they
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Ebd., S. 159. Ebd., S. 161. Ebd., S. 159.
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were nondescript bystanders. This incident, unimportant in itself, illustrates strikingly the narrow scope of his tumbler attitude. To be sure, his heart is in the right place; but where other people have theirs does not concern him. Let social conditions be what they will, if only he can carry on, a decent peddler.« (CH, S. 224) Kurz vor der Nazi-Herrschaft schrieb Kracauer in seinem Lindenpassage-Aufsatz: »So übte der Durchgang durch die bürgerliche Welt an ihr eine Kritik, die jeder rechte Passant begriff.«16 Nun, kurz nach dem Ende der Nazi-Herrschaft, stellt Kracauers Kritik auf zwei rechte Passanten scharf: auf deren Einkaufsbummel-Durchgang durch die bürgerliche Welt. Kracauer, der jahrzehntelang urbane Durchgangsräume als exemplarische Orte moderner Wirklichkeit und der Einsicht in sie untersucht hat, zumal Straßen als Schauplätze signifikanter Zufallsbegegnungen, er untersucht nun einen bürgerlichen Moment dieser Wirklichkeit anhand einer vergleichsweise zufälligen Begegnung in Berlin – Alexanderplatz: ein »incident, unimportant in itself«. Wie ein ideologisches Symptom ließen sich auch die zwei Sekunden mit den zwei Buben in Uniform und mit dem Zuruf des Protagonisten an sie leicht übersehen/überhören, im Routineablauf eines Filmdramas und vor allem dieser Szene, die bezeichnender Weise ein Marktgeschehen (Reklame-Show eines Händlers) zeigt; aber Kracauer entgeht weder die Einstellung mit den SA-Männern noch die Signifikanz ihres Auftauchens im bürgerlichen Markt-Zusammenhang: In seinem alerten Durchgang durch filmische Wirklichkeits-Wahrnehmung hält er an dieser Hieroglyphe etwas fest, nämlich wie Politik im Alltag zerstreut ist; zerstreut in Form eines ›unpolitischen‹ Verhaltens, das aber unweigerlich objektiv politisch ist, weil es sich entsprechend auswirkt.17 Eine ideologische Operation: Der Kleinbürger, Kleinwarenhändler, Biberkopf, ein »decent peddler« analog zum decent German, sieht in seiner Gleichgültigkeit gegenüber der Politik die Nazis im Berlin von 1931 nicht als Gefahr, sondern als Kundschaft. Also ruft er die beiden Nazi-Paramilitärs, so wie die anderen Passant*innen, zu seiner Waren-Vorführung heran: »Auch die Herren von der Sturmtruppe wer-
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SK: »Abschied von der Lindenpassage«, S. 332. Zerstreut auch durch die proto-neorealistische Gestaltung der Szene, in welcher der virtuose Auftritt des Protagonisten (bzw. des Stars Heinrich George) von den StraßenWirklichkeits-Fragmenten, somit auch vom politischen Alltag im Berlin vor Hitler, förmlich durchlöchert wird.
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den höflich gebeten, an der Feierlichkeit teilzunehmen!«18 Komplementär zu einem privatistischen Selbstverständnis, das Politik bloß als Störung (»hateful intrusion«) sieht, kommt hier zur Geltung, wie ein sich als rein privat-unternehmerisches Subjekt empfindender bürgerlicher Herzensanstand eine Passage durch die Politik nimmt:19 Der Straßenhändler witzelt in seinem VerkaufsSprech über das »erbitterte Volk« und das »Elend« Deutschlands und darüber, dass »der feine Mann« Krawatten binden kann, »der Prolet« aber nicht (weshalb er Biberkopf einen »Schlipshalter« abkaufen soll): Er nutzt also Politisches als bloßes Material für clevere Werbung. In Kracauers Kritik-Perspektive wird wahrnehmbar, wie hier der Markt, der Kapitalismus, die Politik der Faschisierung durchläuft, wie das Bürger*innentum die Nazis zur Teilnahme an der Feierlichkeit heranwinkt, sie zur Beteiligung an Staatsmacht und Staatswürden einlädt – so wie ultimativ 1933 Von Papen und Hindenburg beim Steigbügelhalten für Hitler. (Und so wie später… lassen wir das.) Die filmisch bzw. in dechiffrierender Film-Wahrnehmung durchdrungene Wirklichkeit erweist sich als Raum einer Zufallsbegegnung, die zur politischen Kontingenzerfahrung wird; und das wird sie gerade in der Ausblendung von Politik bzw. im Dennoch-Aufblitzen von Politik, in einem zweisekündigen Fast-»gar nichts« an Politik, hier in Form der öffentlichen Präsenz von Faschismus. Das ist jene Dynamik, der gegenüber der Markt, die kapitalisierte bürgerliche Öffentlichkeit, »sich einstweilen völlig neutral verhält« (ehe der Markt »später einmal wer weiß was ausbrüten wird«, so Kracauer 1930 im Lindenpassage-Aufsatz) – in einer Gleichgültigkeit, die
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Um kurz bei dieser »Sturmtruppe« innezuhalten, und ohne nun Kracauers Etikettierung dieser beiden Männer als SA-Männer allzu spitzfindig kommentieren zu wollen, sei doch angemerkt: Die zwei Uniformierten in der Alexanderplatz-Szene sehen eigentlich nicht so sehr nach SA-Männern aus; wenn auch die Ausdrucksweise in Biberkopfs Zuruf an »Sturmabteilung« (= SA) erinnert. Ihren Jacken, Hemden, Krawatten und Kappen nach zu urteilen, gehören die beiden Männer entweder der sozialdemokratischen Eisernen Front an oder – wahrscheinlicher und dem Sinn der Szene in Kracauers Sicht entsprechend – dem Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten, der paramilitärischen Organisation der mit der NSDAP meistens verbündeten Deutschnationalen Volkspartei. (Es kommt wohl auf dasselbe heraus, und wahrscheinlich bezeichnet Kracauer die beiden Männer als »S.A. men«, um eine Leser*innenschaft, nicht nur in den USA, der Berlin – Alexanderplatz, geschweige denn die DNVP, nicht allzu viel sagt, lieber nicht zu verwirren.) Zu dem von Oliver Marchart geprägten Konzept einer Passage durch die Politik siehe Kap. 2.1.
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äquidistant ist, indem sie sich an der Äquivalenz des Warentauschs orientiert, die auf die Einstellung zur Politik übergreift.20 Bürgerliches Privatleben, dem Politik als Störung gilt, und ein Markt, dem sie gleichgültig ist (so lange sie ihm Optionen bietet): Parallel zu seinen Erörterungen sozialer Schauplätze der Entleerung von politischem Handeln und Sinn verlaufen Kracauers Nachkriegsdiagnosen, die sich auf Geschichte beziehen – etwa darauf, wie Geschichte in einer nihilistischen, antipolitischen Sicht als meaningless dargestellt wird, als ein Bereich sinn- und zielloser Kräftewirkungen; und zwar gerade dort, wo in der Geschichte Massen politisch aktiv auftreten. Einer der Ausgangspunkte des Aufstiegs der völkischen Rechten ist für Kracauer die Zunichtemachung der Revolution von 1918 bzw. ihrer Resultate in der Gesellschaft, und dies macht er in seinem Rückblick nach 1945 u.a. an breitenwirksamen deutschen Historienfilmen der frühen 1920er Jahre fest.21 Da wiederholt sich etwas, gleich in mehreren Registern. Und zwar was? Dass ein Film, verknüpft mit einer gesellschaftlich vorherrschenden Einstellung, politisches Handeln als sinnlos zu verstehen gibt, ebendies in abgeschwächter Form stellt Kracauer ja dann auch 1948 an Rossellinis Paisà fest – nun mit dem Zusatz, dass Ideen von Menschlichkeit dennoch nicht zum Verschwinden aus dieser von politischen Ideen scheinbar entleerten Welt zu bringen sind. Und dieses Beharren Kracauers darauf, dass causes und Ideen nicht einfach ganz verschwinden, auch das ist eine Wiederholung; damit wiederholt er in Teilen seine eigene Diagnose von 1922: Kurz nach dem Ersten Weltkrieg
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Mit einem vielsagenden Wort aus Kracauers »Kult der Zerstreuung« gesagt (SK: »Kult der Zerstreuung. Über die Berliner Lichtspielhäuser« [FZ 4.3.1926] OdM, S. 317): Die Alexanderplatz-Szene in Kracauers Wahrnehmung ist eine Szene des Umschlags eines merkantilen Umschlagplatzes in einen Raum politischen Umschlags. Wobei der politische Umschlag, der sich hier ankündigt (zumal im heutigen Rückblick auf den Anblick rechter Paramilitärs 1931), gänzlich eine Katastrophe ist: Hat Kracauer 1926 mit dem Wort Umschlag letztlich eine egalitaristische Revolution im Sinn, so ist das, was die Nazis als »nationale Revolution« propagierten, das Negativ- und Zerrbild von Revolution, Zerstörung aller gleichheitlichen und demokratischen (Teil-)Einrichtungen. – Helmut Lethen weist auf die Rolle der hegelianischen Denkfigur des »Umschlags« und auf die Straße als »Umschlagplatz« beim Kracauer der späten 1920er hin. Helmut Lethen: »Sichtbarkeit. Kracauers Liebeslehre« in: Michael Kessler, Thomas Y. Levin (Hg.): Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen. Tübingen 1990, S. 216. »They characterized history as meaningless. History, they seemed to say, is an arena reserved for blind and ferocious instincts […] forever frustrating our hopes for freedom and happiness.« (CH, S. 52f; siehe auch Kap. 4.4)
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erschien ihm – damals noch getönt von Trauer um verlorene spirituelle Ordnungen – die zwanghaft rationalisierte Welt, insbesondere nach den Umbrüchen von 1918, als ein »Trümmerfeld der wesenlos gewordenen Realität«, und »nur die Ideen noch, leuchtende Spuren des einst der Welt einwohnenden Sinnes, haben sich erhalten.«22 Nach den Faschismen und den Massenmorden der Nazis (und des Stalinismus, der aber bei Kracauer kaum je Thema ist) setzt er in seinem Paisà-Aufsatz nun allerdings weniger darauf, dass Ideen sich erhalten, als vielmehr darauf, dass sie wieder ins Spiel kommen. Abermals in einem Trümmerfeld, und das heißt nun – heißt nun längerfristig, heißt auch –, in einem ganz auf Alltagskultur und Brauchtum reduzierten Terrain. Durch die Hintertür eines U-Turn kommen Ideen und causes von Menschlichkeit wieder. Die Logik einer Wiederholung, die wiederkehren lässt, gilt nun aber – so legen es Kracauers Schriften unmittelbar nach 1945 nahe – auch für den Zerstörer von Ideen, die Menschlichkeit versprechen, für den Faschismus: Nach dem Faschismus ist vor dem Faschismus. Die Passage namens Gesellschaft, »die später einmal wer weiß was ausbrüten wird – vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts«,23 erscheint in ihrer Eigenschaft als Übergang auch wie eine Übergangszeit zwischen zwei Faschismen. So erscheint es insbesondere mit Blick auf unsere Gegenwart; aber auch schon in den Nachkriegsjahren: Ausgebrütet wird später einmal, nein, zweimal, das zweite Mal gar nicht so viel später… 1946 vermerkt Kracauer eine Präsenz von Faschismus, die sichtbar, fassbar wird durch regelrechte Transfers zwischen politischen und gesellschaftlichen Räumen über eine kurze Übergangszeit hinweg: vom Deutschland der NaziZeit in die USA der Nachkriegszeit. Dazu kommen wir jetzt. Faschisierungssymptome in der Gesellschaft thematisiert er in der Optik, am Einsichtsschauplatz, eines US-Filmtrends um 1945, den er »Terror Films« nennt: »Do They Reflect an American State of Mind?« fragt er im Untertitel seiner im Sommer 1946 veröffentlichten Studie zu »Hollywood’s Terror Films«.24 An diesen Filmen zeigt sich, so Kracauer, ein Transfer: Die Stimmung ständiger Bedrohtheit durch Gewalt und Verfolgung, die während der Kriegsjah-
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SK: Soziologie als Wissenschaft. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung [1922] 1, S. 34. »Was sollte noch eine Passage in einer Gesellschaft, die selber nur eine Passage ist?« lautet der Schlusssatz von »Abschied von der Lindenpassage«, S. 332. SK: »Hollywood’s Terror Films. Do They Reflect an American State of Mind?« [Commentary 2, 2, Aug. 1946] AW; der Aufsatz erschien in gekürzter Übersetzung als »Hollywoods Greuelfilme« Ende 1946 in der NZZ.
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re Hollywoods Anti-Nazi-Thriller vermittelt hatten, um die »oppressive atmosphere of Nazi-conquered Europe« zu kennzeichnen, diese Stimmung finde sich nun als Grundton in Nachkriegs-Filmen wieder, in Psychothrillern oder Films Noir, die mitten im Alltag der USA spielen (z.B. Spellbound oder The Spiral Staircase, beide von 1945): »Thus the weird, veiled insecurity of life under the Nazis is transferred to the American scene.«25 Hollywoods Terror Films überführen die Unsicherheit, die zuvor Filme mit Nazi-Thema beschworen, auf den amerikanischen Schauplatz; dadurch machen sie allerdings symptomatisch lesbar, dass noch etwas, noch mehr, nicht einfach nur ›dort drüben‹ vorhanden ist – in Europa, in Deutschland, quasi an seinem Platz –, sondern auch hier, in den USA: Dieses Etwas ist eine »emotional preparedness for fascism«. In dieser Faschismus-Disposition – mehr als in rechtsextremen »agitators and rabble-rousers« – liege, so Kracauer, die wirkliche Gefahr für die US-Gesellschaft: »the sadistic energies at large in our society at the present moment are specifically suited to provide fuel for fascism. […]. Hatred of minorities feeds on the fears of the majority […].«26 Die betreffenden Hollywood-Filme, die Kracauer in seinem Zugang zu vielsagenden Symptomen macht, schon allein, indem er ihnen anstelle der gängigen Labels Thriller oder horror films den ungebräuchlichen, politisch konnotierten Namen Terror Films gibt, sie erfüllen eine signifikante und tendenziell prognostische Funktion; vergleichbar jener der Weimarer Filme, an denen Kracauer zeitgleich (gleich nach 1945) ein Imaginarium und eine Psychodynamik der deutschen Faschisierung veranschaulicht. Der Minderheitenhass, den er im »Terror Films«-Aufsatz anspricht,27 wird in den Jahren nach diesem Aufsatz, nach 1946, vom Alltags-Antisemitismus und Alltags-Rassismus zur institutionenpolitischen Dynamik avancieren: als eine uneingestandene Triebkraft der antikommunistischen Hexenjagd in den USA, mit ihrem überproportionalen Vorgehen gegen jüdische und Black Civil Rights-Akteur*innen. Angesichts dieser Machinationen, Tribunale und Denunziationskampagnen, die Minderheiten noch mehr als sonst zum Abschuss freigeben, liest es sich ominös, wenn Kracauer Thriller-Plots wie folgt beschreibt: »Sinister conspiracies
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Ebd., S. 41. Ebd., S. 46. Anhand der Erfahrung ständiger Bedrohtheit, die die Thriller beschwören und die Kracauer betont, lässt er eine jüdische Erfahrung unter Bedingungen von Antisemitismus, Flucht und Exil mitschwingen.
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incubate next door, within the world considered normal – any trusted neighbor may turn into a demon«.28 Explizit angesprochen wird die Second Red Scare in Kracauers kurz darauf, 1948, veröffentlichter Studie zu einem Filmtrend, der rechte Tendenzen in den USA kritisiert und dadurch eines von deren Zielobjekten ist.29 Das ist der Hollywood-Trend zu »Movies with a Message«; gemeint sind Filme wie The Best Years of Our Lives (1946) und die Alltags-Antisemitismus anprangernden Gentleman’s Agreement und Crossfire (beide 1947). Wie die Terror Films macht auch der quasi komplementäre zeitgleiche kurze Trend zu linksliberalen Message Movies (nennen wir sie so) faschistische Dispositionen in der Gesellschaft erkennbar, in diesem Fall durch eine sehr direkte Thematisierung.30 Zugleich zeigen die Message Movies grundlegende Unzulänglichkeiten der linksliberalen Gegenkräfte – zeigen sie allerdings, indem sie diese Mängel ausagieren. Wieder deutet sich dabei eine Dreiländer-Konstellation im Zeichen von Film an: Während antifaschistische Filme des italienischen Neorealismus eine Menschlichkeit zur Geltung bringen, die ganz in Alltagspraktiken eingewoben ist (so ganz, dass sie jegliche Ideen preisgeben, was Kracauer wiederum kritisiert, siehe oben), gelingt den Hollywood-Filmen kein vergleichbarer Ansatz zur Gefühlspolitik (eine solche meint Kracauer, auch wenn er das Wort nicht verwendet).31 Dies nicht zuletzt deshalb, weil ihre Protagonisten32 als ostentativ müde (»weary«) oder als farblose Funktionsträger, nicht als kämpferische Figuren, gezeichnet sind; ein solches Urteil fällt Kracauer zeitgleich auch im Rückblick auf manch einen republikanischen Protagonisten in Wei-
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Ebd., S. 41. Hollywood sei verschreckt durch »Congressional unpleasantness« und daher nunmehr, Mitte 1948, auf »›pure entertainment‹« anstelle kritischer Filme konzentriert; sowie auf »anti-Communist films […] to make up for past indiscretions«. Kracauer schreibt das am Beginn seiner Studie; diese ist nicht nur eine Kritik am, sondern auch bereits ein Abschied vom Trend der kritischen Filme (einem kurzen Trend). SK: »Those Movies with a Message«, S. 72. Diese Filme seien »slightly militant« und »progressive, in a vaguely liberal way.« Und: »They expose corruption in domestic politics, middle-class complacency, racial bias, and fascist mentality […].« Ebd., S. 73f. Hollywoods Filme böten »lip-service instead of action«, im Unterschied zu italienischen Filmen, in denen »human dignity is practiced, not merely proclaimed«. Und: »Hitlerism, undermined in an essential sense in Open City, remains virtually undefeated in Hollywood films.« SK: »Hollywood’s Terror Films«, S. 43f. Die von Kracauer erörterten sind durchwegs männlich.
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marer Filmen, die sich dem Rechtsruck der deutschen Gesellschaft und ihrer Filmkultur entgegensetzten.33 Kracauers Vorbehalte tun einzelnen Filmen bzw. Figuren etwas unrecht, doch die Fragen, die er da anschneidet, sind hochrelevant: Fragen einer popularen Vermittlung und affektiven Wirksamkeit von antifaschistisch-demokratischen Sinngehalten. Zumal seine Kritik an den wenig kämpferischen Protagonisten gerade nicht einen Wunsch nach starken Männern bedient, die auf der Leinwand ›ihre‹ Sache durchschlagend vertreten; ein solcher Wunsch wäre ja Führer-mythisch, also gerade nicht antifaschistisch effektiv. Vielmehr wendet sich Kracauer mit diesen Hinweisen dagegen, dass politische Inhalte in ihrer Propagierung bildungsbürgerlich enggeführt werden. Ein Aspekt davon ist der Hang von Hollywoods Message Movies zu erbaulichen Ansprachen. Stärker noch als bei den »freedom and democracy«-Sonntagsreden der Anti-NaziDramen aus der Weltkriegspropaganda zeigt sich in der Redseligkeit, die Kracauer den Nachkriegsfilmen attestiert, eine Art Arbeitsteilung, mehr noch, ein »gulf« – zwischen »talkers« und »doers«. Eine Kluft trennt da also das Reden von – nun, vielleicht nicht vom Tun, aber von einem Gespür für gesellschaftliches Handeln und für Praxisaspekte von Politik; solch ein Gespür fehlt den Message Movies.34 Ebenso ignorant sind sie laut Kracauer gegenüber sozialen Bedingungen der liberalen causes, die sie vertreten, und gegenüber Klassendifferenzen, die sie geradezu bekräftigen – mit ihrer typisierten Konstellation: hier der verwirrte »common man« als »recipient of the liberal gospel«, da der »liberal spo-
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Mit Blick auf Hollywoods Message Movies spricht Kracauer (»Those Movies with a Message«, S. 75) vom Typus des »weary standard-bearer of progress« in einer »mood of resignation«. In einem Brief von 1947 schreibt er, der ostentativ »müde« Ermittler im Antisemitismus-Krimi Crossfire »verfolgt und löst den Fall, aber er tut dies eher in seiner offiziellen Funktion und weniger als ein Kämpfer.« (SK an Leo Löwenthal 5.10.1947 in: Leo Löwenthal, Siegfried Kracauer: In steter Freundschaft. Briefwechsel 1921–1966. Springe 2003, S. 136.) Den gleichen Vorwurf macht Kracauer im selben Jahr in seiner (Film-)Studie zur deutschen Faschisierung rückblickend an der vage republikanisch und dezidiert antikonspirativ agierenden Ermittler-Figur fest, die in Fritz Langs Dr. Mabuse-Thrillern von 1922 und 1932 auftritt: »he is a colorless official and as such unfit to represent a cause involving political issues. His victory lacks broad moral significance.« Dies zeige, wie unzureichend Deutchlands antifaschistisches Kino gegen die »peculiar fascination« der Nazis – bzw. eines konspirativen Film-Schurken, der sie symbolisiert – auftrat. (CH, S. 250) SK: »Those Movies with a Message«, S. 78.
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kesman« in seiner melancholischen Unnahbarkeit (»melancholy aloofness«), die auch mal »blasé« wirkt.35 Letztlich laufen Kracauers Überlegungen zu einem ineffizienten Antifaschismus und einer unzulänglichen Anti-Antisemitismus-Didaktik, wie er sie anhand von Mainstream-Kino formuliert, auf den Einspruch gegen eine Politik, vielmehr Antipolitik, hinaus, die sich gesicherte Fundamente ethischer und expertokratischer Art zuschreibt. Ein politisches Handeln, das davon ausgehen will, dass sein Subjekt immer schon auf der moralisch richtigen, sicher-sauberen Seite ist, immer schon über die Situation Bescheid 35
Ebd., S. 75f, sowie S. 78: »All these fighters for democracy are talkers rather than doers.« Kracauer bezieht sich hier v.a. auf den Polizei-Ermittler, der im Antisemitismus-Krimi Crossfire einem naiven ›Hillbilly‹ per Monolog Lektionen in Toleranz erteilt. Über Crossfire schreibt Kracauer 1947 an Löwenthal, ausführlich und mit einem Vokabular, das Klassenverhältnisse expliziter als in dem veröffentlichten Aufsatz anspricht: »Wenn der Film gegen Antisemitismus gerichtet ist, sollte der Protagonist letztlich mehr Lebendigkeit zeigen.« – »Liberale gehen fehl, wenn sie denken, daß reine Aufklärung und ehrenwertes Denken weiter brächten. […D]ie guten Leute in Crossfire sind ein wenig zu hochgeistig, sanft auftretend und klug.« – Desgleichen unterschlage der Film »die ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen der Antisemitismus gedeiht. […] Das beinhaltet auch die Weise, wie der Faschismus dargestellt wird. Der Mörder erscheint als ein Mensch, zu dem eben Ressentiments und schlechte Impulse gehören. Wir erfahren nichts über seine Umgebung und seine Erziehung. Er haßt einfach die Juden und das ist alles. Das reduziert die Kampagne gegen Antisemitismus auf einen Kampf gegen ungebildete, vielleicht unterprivilegierte Leute, die deshalb so sind, weil sie es nicht besser wissen. Bezogen auf Crossfire heißt das, die Kampagne ist Sache von zivilisierten Menschen – dem Detektiv, dem Sergeanten – gegen die gesellschaftliche Unterwelt. Im gesamten Film gibt es überhaupt keinen Upper-Class Antisemitismus. (Ich denke, das liegt an einem Gentlemen Agreement: einen schönen Film zu drehen.)« (SK an Leo Löwenthal 5.10.1947 in: Löwenthal, SK: In steter Freundschaft, S. 136f) – »Gentlemen Agreement« liest sich wie eine Anspielung Kracauers auf den (fast) so betitelten US-Erfolgsroman von 1946/47 zum Thema »country-club anti-Semitism«, dessen Verfilmung einen Monat nach diesem Brief in New Yorker Kinos startete und dann von Kracauer als ein exemplarisches Message Movie kritisiert wurde. (SK: »Those Movies with a Message«, S. 76) Definitiv auf Gentleman’s Agreement und auf Crossfire gemünzt ist folgender bemerkenswerte Einwand Kracauers (ebd., S. 80): »our sudden interest in the relatively minor problems treated in our postwar films comes from our reluctance to face the major ones« – und das erläutert er so: »The filmmakers have congratulated themselves for their courage in discussing the problem of the Jew, but they have not shown any greater interest in the problem of the Negro.« (Kollektive als Einzelpersonen anzusprechen, sowie das N-Wort, das ist damals auch bei Leuten gebräuchlich, die sich so wie Kracauer gegen Rassismus äußern.)
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weiß und daher zum Sprechen und Predigen befugt ist (und womöglich auch der schnöden Wirklichkeit ein wenig müde ist) – solch ein Handeln kann nur scheitern (oder seinerseits herrschaftlich geraten), gerade in der Auseinandersetzung mit rechten Kampagnen. Mit diesem Urteil knüpft Kracauer implizit an seine Mahnung von 1938 (in Totalitäre Propaganda, TP, S. 13) an, die lautete: In der analytischen wie auch kämpfenden Konfrontation mit faschistischer Politik gilt es, keinesfalls so zu agieren, »als wisse man selbstverständlich schon«; man solle sich hüten vor dem Anspruch, man habe all das, wovon »die Dummen« sich beeindrucken lassen, immer schon restlos durchschaut und verfüge über fixfertige Erkenntnis (siehe Kap. 1.2). Allein: Das Problem, dass Antifaschismus sich als die Positionierung von einigen wenigen ›Wissenden‹ gegenüber einer Masse von ›Ahnungslosen‹ missversteht – auch das kehrt bis heute wieder.
7.2 Wiederholungen? Faschistische Farcen von Trump über Österreich bis Meloni The center won’t hold. Sleater-Kinney, 2019 Ein Nichts, das der Faschismus in seiner nihilistischen Auswirkung auf Gesellschaft dauerhaft hinterlässt, ist die tendenzielle Ruinierung jeglicher Politik. Jeglicher Politik, insofern sie über bloße Verwaltung der Kapitalkräfte und Verhaltensroutinen hinausginge; insofern sie kollektiv mobilisierend, zielorientiert, mit Ideen verbunden und konfliktbereit wäre. Auf die Zerstörung von Öffentlichkeiten des Handelns und Ausverhandelns durch die Faschismen folgt (nicht nur in den postnazistischen Staaten) ein dauerhafter massenweiser Rückzug ins Private, samt einer Konzentration auf Alltagskulturelles als Erfahrungsbereich, der alles definiert; wie dies Kracauer (und nicht nur er) schon um 1950 mit Blick auf Italien und Deutschland feststellte (siehe oben). Um die Jahrtausendwende, berief (und beruft) sich ein neoliberaler Diskurs in seinen Anstrengungen bei der Delegitimierung von Politik nicht zuletzt auf einer Art Universalisierung des Holocaust. Das heißt: Die nationalsozialistischen Massenmorde36 fungieren dabei als Referenzpunkt (und eine beliebig
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Diejenigen an Jüdinnen und Juden weit mehr und weitaus ›kategorischer‹ als etwa die an Roma und Sinti.
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Drehli Robnik: Flexibler Faschismus
weiß und daher zum Sprechen und Predigen befugt ist (und womöglich auch der schnöden Wirklichkeit ein wenig müde ist) – solch ein Handeln kann nur scheitern (oder seinerseits herrschaftlich geraten), gerade in der Auseinandersetzung mit rechten Kampagnen. Mit diesem Urteil knüpft Kracauer implizit an seine Mahnung von 1938 (in Totalitäre Propaganda, TP, S. 13) an, die lautete: In der analytischen wie auch kämpfenden Konfrontation mit faschistischer Politik gilt es, keinesfalls so zu agieren, »als wisse man selbstverständlich schon«; man solle sich hüten vor dem Anspruch, man habe all das, wovon »die Dummen« sich beeindrucken lassen, immer schon restlos durchschaut und verfüge über fixfertige Erkenntnis (siehe Kap. 1.2). Allein: Das Problem, dass Antifaschismus sich als die Positionierung von einigen wenigen ›Wissenden‹ gegenüber einer Masse von ›Ahnungslosen‹ missversteht – auch das kehrt bis heute wieder.
7.2 Wiederholungen? Faschistische Farcen von Trump über Österreich bis Meloni The center won’t hold. Sleater-Kinney, 2019 Ein Nichts, das der Faschismus in seiner nihilistischen Auswirkung auf Gesellschaft dauerhaft hinterlässt, ist die tendenzielle Ruinierung jeglicher Politik. Jeglicher Politik, insofern sie über bloße Verwaltung der Kapitalkräfte und Verhaltensroutinen hinausginge; insofern sie kollektiv mobilisierend, zielorientiert, mit Ideen verbunden und konfliktbereit wäre. Auf die Zerstörung von Öffentlichkeiten des Handelns und Ausverhandelns durch die Faschismen folgt (nicht nur in den postnazistischen Staaten) ein dauerhafter massenweiser Rückzug ins Private, samt einer Konzentration auf Alltagskulturelles als Erfahrungsbereich, der alles definiert; wie dies Kracauer (und nicht nur er) schon um 1950 mit Blick auf Italien und Deutschland feststellte (siehe oben). Um die Jahrtausendwende, berief (und beruft) sich ein neoliberaler Diskurs in seinen Anstrengungen bei der Delegitimierung von Politik nicht zuletzt auf einer Art Universalisierung des Holocaust. Das heißt: Die nationalsozialistischen Massenmorde36 fungieren dabei als Referenzpunkt (und eine beliebig
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Diejenigen an Jüdinnen und Juden weit mehr und weitaus ›kategorischer‹ als etwa die an Roma und Sinti.
7. Heute: das Nichts nach dem Faschismus, Faschismen nach dem Nichts
erweiterte Motivik des Traumas fungiert dabei als ein Imaginarium) für eine sich ethisch aufspielende Mahnung, die aufgebaut sein will auf einer Lehre, die aus dem Gedenken der Pogrome und der Lager gezogen sein soll: dass alle politische Mobilisierung und Konfliktaustragung am Ende nur in Hass, Gewaltexzessen und Leichenbergen resultiert. Eine Ethik der unbedingten Begrenzung politischer Unruhestiftung, eine Lehre der unbedingten Vermeidung von Konflikt, nobilitiert Forderungen, die letztlich darauf zielen, nur ja den ausbeuterischen und umweltzerstörerischen Routinebetrieb der Arbeits- und Freizeiten, der Verkehrs- und Kapitalflüsse nicht zu behindern.37 Doktrinen solcher Art tragen nicht primär zum Verständnis der Geschichte des Massenmordes an Jüdinnen und Juden und anderen Minderheiten bei (etwa zum Verständnis massenhafter Verstrickung – in Antisemitismus, Beraubungen, »Vernichtung durch Arbeit« –, die mit Gewinn erfolgte, mit materiellem, Lust- und Status-Gewinn). Solche Doktrinen waren jedoch erfolgreich darin, aus dem Gedächtnis des Holocaust staatstragende Routine-Zeremonielle abzuleiten, bei denen irgendwann auch Vertreter*innen rechtsnational und rassistisch kampagnisierender Parteien in den postnazistischen Staaten gern und gewinnbringend mittun (wollen). Das große »Genug gestritten!« als – behauptete – Lektion aus dem Faschismus:38 Gegenüber dieser jahrzehntelangen ›konsensdemokratischen‹ Entpolitisierung könnten die rechten Mobilisierungen seit den 2010er Jahren – Pegida, die AfD, die Identitären, Gelbwesten, Trumpismus und Rallyes der Alt-Right, Corona-Proteste – als eine Art Repolitisierung von rechts erscheinen. Diesem Anschein gegenüber ist Skepsis geboten. Es heißt zwar, die genannten Bewegun-
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Zu dieser Sichtweise siehe v.a. Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. [1995] Frankfurt a.M. 2002; Rancière: »Die ethische Wende der Ästhetik und der Politik« in: Das Unbehagen in der Ästhetik. Wien 2007; weiterführend: Drehli Robnik: Film ohne Grund. Filmtheorie, Postpolitik und Dissens bei Jacques Rancière. Wien, Berlin 2010. Und aus dem Stalinismus. – »Genug gestritten!« war 2008 der genuin antipolitische Wahlslogan des österreichischen SP-Bundeskanzlers Werner Faymann: Die gänzliche Delegitimierung von öffentlichem Streit erhielt damit eine prägnante Formulierung im Kontext der Politik selbst (einer administrativ verkürzten Politik). In den Jahrzehnten davor hatte sich die »sozialpartnerschaftliche« Konfliktvermeidungsstrategie der österreichischen Sozialdemokratie auf den oft zitierten »Geist der Lagerstraße« berufen: auf den Spirit der Zusammenarbeit zwischen vormaligen Klerikofaschisten und Austromarxisten, der aus jener Versöhnung gekeimt sei, die sie als politische Gefangene in Lagern der Nazis erlebt hätten.
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gen und Parteien würden Bevölkerungen, die zuvor uninteressiert am politischen Handeln waren, zurück zu öffentlichem Engagement verhelfen, zu Parteiorganisationen und Wahlteilnahmen als Formen der ›Beteiligung an demokratischen Prozessen‹ – aber: Die beschworene Repolitisierung von rechts bringt weniger Handeln als Hasskampagnen; weniger eine Reaktivierung von Streit als eine Zunahme von Hetze; und sie zielt nicht auf vertiefte demokratische Teilhabe oder auf erweiterte Spielräume der Konfliktaustragung, sondern ultimativ darauf, dass demokratische Unruhen und Ansätze von Minderheitenrechten verschwinden – im Szenario des charismatisch geführten, ethnisch identifizierten und gereinigten Volkes.39 2016 konnten einige Linke der Wahl Donald Trumps anstelle Hillary Clintons zum Staatsoberhaupt der USA etwas abgewinnen, u.a. weil Trumps rückhaltlose öffentliche Polemiken ihnen als begrüßenswerte Störung der reibungslosen Fortsetzung neoliberaler Antipolitik galten. Solche Fürsprachen unterschätzten, dass sozialstaatliche, migrantische, ökologische und rassismuskritische Agenden es durch Trump schwerer hatten als unter einer Regierung der Demokratischen Partei (mit ihren notwendigen Zugeständnissen an ihre damals schon erstarkte Linke).40 Etwas anders verhält es sich, wenn Dylan Riley 2018 konstatiert »Trump politicizes everything«, und diese Einschätzung im Kontext einer Infragestellung formuliert: Trump ist der Punkt, an dem Riley die oft behaupteten Analogien im Vergleich zwischen Faschismen damals und rechter Mobilisierung heute beeinsprucht. Dass dieser Kandidat und Präsident das rechte Regieren in dem Sinn politisierte, dass er große Teile der bürgerlichen ›Eliten‹ gegen sich aufbrachte, diese Diagnose führt Riley zu der Feststellung: »The question is not why our contemporary politics resembles those of the 1930s, but why it does not.« Er hält es für einen Kurzschluss, Trump vor allem aufgrund seiner (zweifellos drastischen) Verstöße gegen liberale Gepflogenheiten allzu umstandslos mit Führerfiguren der historischen Faschismen zu analogisieren: Der Vergleich hinke nicht deshalb, 39
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Rechtspopulismus bedeute nicht »Wiederkehr des Politischen« von rechts (höchstens als »Albtraum«), schon gar nicht eine Radikalisierung der Demokratie in ihrem Sinn als Öffnung gegenüber rein administrativer Para-Politik, sondern eine fundamentalistische, arche-politische Schließung: Das konstatieren, mit Rancière’schem Vokabular, Robert Feustel und Peter Bescherer in: »Der doppelte Populismus. Konturen eines schwierigen Begriffs«, Berliner Debatte Initial 29, 2, 2018, S. 8f. Das ändert nichts an dem Faktum, dass das neoliberale Establishment der Demokratischen Partei ihrer durch Bernie Sanders mobilisierten Linken die Kandidatur gestohlen hat (2016 wie auch 2020).
7. Heute: das Nichts nach dem Faschismus, Faschismen nach dem Nichts
weil Trump ›nicht so schlimm‹ wäre, sondern weil er, anstatt wie die historischen Faschist*innen-Führer Einheitsparteien durchzusetzen, Konflikte innerhalb des Bürger*innentums verstärkt und generell keine befehlstreue Regierungsorganisation, auch keine straff geführte Kampforganisation, hinter sich hat.41 Insofern sind Rechtsparteien mit antidemokratischer Agenda, die weniger obszön auftreten als Trump, und die daher nachhaltiger, erfolgreicher operieren, ein mindestens ebenso großes Problem. Hier zeigt sich ein weiterer Unterschied zu faschistischen Kampagnen und Regierungen der 1930er Jahre: So wie die für einige Zeit weitgehend, aber nie ganz, auf Trump-Linie gebrachten Republicans in den USA, gehen auch einige der ›mobilistischen‹ Rechtsparteien der 2010er Jahre nicht auf Neugründungen zurück; sie entstanden vielmehr dadurch, dass durchsetzungsstarke Akteure mit dem Pathos von BewegungsFührern jeweils Parteien übernahmen und umgestalteten (regelrecht hijackten), die sich entweder mit einer anderen Ausrichtung gegründet hatten, wie Viktor Orbáns Fidesz oder die AfD, oder bürgerlich-konservative Traditionsparteien (mit gut gepflegten ›rechten Rändern‹) waren. Ein prominentes Beispiel für letzteres Phänomen sind der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz und seine 2017 erfolgreich als Bewegung antretende Neue Volkspartei: Liste Sebastian Kurz, mit neuer Logo-Farbe, Bezeichnung und fokussierter AntiMigrant*innen-Agenda für die christlichsoziale ÖVP.42 Parellel zum Vorstoß rechtsextremer Politik ins sogenannte Zentrum (siehe etwa den Erfolg von Giorgia Melonis Fratelli d’Italia) vollziehen sich Rechts-Ausrichtungen von Parteien, die sich zentristisch geben. Ein weiterer Unterschied zwischen damals und heute liegt darin, dass manche gegenwärtigen Faschismus-nahen oder autoritären Politik-Akteur*innen die historischen Faschismen als eine Negativ-Referenz heranziehen: Wenn etwa Einschränkungen der Verbreitung von Minderheitenfeindlichkeit oder von umweltzerstörendem Verhalten anstehen, geriert sich die disruptive Rechte als demokratische Verteidigerin eines Rechts, nachgerade Grundrechts, auf Hasspropaganda oder auf Autofahren und spricht von
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Dylan Riley: »What Is Trump?«, New Left Review 114, 2018, S. 7, 22, 30, 34. Allerdings (um nun doch kurz historisch zu analogisieren) hat schon Österreichs Bundeskanzler Engelbert Dollfuß 1933/34 die Christlichsoziale Partei für sein halbfaschistisches »Ständestaat«-Projekt durchgriffig adaptiert; unter diesem Aspekt ist Dollfuß’ im Spektrum des damaligen Faschismus atypischer Halb- oder Quasi-Faschismus nachgerade paradigmatisch für einen heutigen Faschismus.
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»Diktatur« und »Linksfaschismus«.43 Die Faschist*innen werden auf der Gegenseite verortet – und nicht dort, wo sie sind. Außerdem werden aktuelle Faschisierungsprozesse manchmal mit dem äußerst kurzsichtigen Hinweis bagatellisiert, dass ihr Erscheinungsbild so gar nicht an Mussolinis oder Hitlers uniformierte Kampfbünde erinnert. Allein, dass Nazis ab einem gewissen Zeitpunkt keine Hakenkreuze mehr tragen, ja, dass vielmehr ihre totalitäre Durchdringung einer Gesellschaft unter anderem gerade anhand der gänzlichen Abwesenheit solcher politischer Kennzeichnungen zutage tritt – das wusste Hannah Arendt schon 1944.44 Und Kracauer wusste es 1946, in seiner Diagnose eines »life under the Nazis […] transferred to the American scene«, wobei das Nazi-Monster eben nicht mehr sofort an seiner Erscheinung zu erkennen ist.45 Ebenso wusste es der bayerische Filmemacher Herbert Achternbusch und brachte es 1986 auf den Punkt, als er in seiner Geschichts-Farce Heilt Hitler! einen 1943 in Stalingrad tiefgefrorenen Wehrmachtssoldaten im München der Gegenwart regelrecht auferstehen ließ, wo der Mann verwirrt durch die Straßen geht und sich über das Fehlen jeglicher Hakenkreuz-Beflaggung wundert: »Sind alle schon so gute Nazis, dass kein öffentliches Zeichen des Nationalsozialismus mehr gebräuchlich ist?« – In einer fast komplementären Verwirrung fand sich 1932 Kracauer bei seiner
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»Öko-Faschismus« wurde 2022 durch »Klima-Terrorismus« als ein Feindbild-Wort der Rechten abgelöst. Deren geopolitisches Idol Wladimir Putin und seine Minister orten zeitgleich »Nazis« in der ukrainischen Regierung und »Endlösungs«-Pläne seitens der NATO. Zukünftige Erfolge nationalsozialistischer Herrschaftsbehauptung hängen, so Arendt in einem Ende 1944 verfassten Text, davon ab, »daß niemand mehr wissen kann, wer ein Nazi ist und wer nicht, daß es keinerlei äußere, sichtbaren Unterscheidungsmerkmale mehr gibt«. (Hannah Arendt: »Organisierte Schuld«. [1945] In: Hannah Arendt Digital. https://hannah-arendt-edition.net/vol_text.html?id=/3p_III-003-organisierte SchuldWandlung.xml, S. 2f [27.01.2023]. Arendt spricht an dieser Textstelle konkret von Möglichkeiten einer Untergrundbewegung im besiegten Deutschland; diese Mutmaßung fügt sich in ihre Sicht des Nationalsozialismus in diesem Text insgesamt ein: Es geht ihr um ein System, das total(itär) ist, weil es die ganze deutsche Gesellschaft in seinen Gewaltbetrieb einzuspannen vermochte – unabhängig von (kriminellen) Neigungen der Einzelnen oder auch von deren Engagement für Ziele der NSDAP. Kracauer vergleicht Kino-Thriller, die für den Nazi-Angst-Transfer in die USA symptomatisch sind, mit älteren Schockern: »The Frankenstein monsters of the past made us shudder at first sight, but the contemporary monster can live among us without being recognized. Evil no longer marks and defines a person’s face or manner.« (SK: »Hollywood’s Terror Films«, S. 41)
7. Heute: das Nichts nach dem Faschismus, Faschismen nach dem Nichts
kurzen Wiederkehr nach ebendorthin – nach München, auf Durchreise in der Stadt seiner Studienzeit. Komplementär ist seine Verwirrung, insofern der Anblick von Hakenkreuzen, die nun, 1932, in der Stadt reichlich vorhanden sind und die es damals, in seiner Studienzeit um 1910, nicht waren, ihn bei seiner zeitlichen Verortung nicht irritiert, sondern ihm hilft, sich wieder zu orientieren: »[D]ie Vergangenheit nahm mich buchstäblich zu sich zurück,« schreibt er, und weiter: »Hatte sich München inzwischen nicht verändert oder gar wieder zurückverändert? […] Das Gestern war nahezu Heute geworden. – Nicht so, als ob ich mich ganz verloren hätte. Ich beobachtete Hakenkreuze, die man seinerzeit noch nicht trug, und wußte wieder ganz genau, welches Jahr man jetzt schrieb.«46 Bezeichnete für Achternbusch die Abwesenheit von Hakenkreuzen ein unentrinnbares Kontinuum – der Nationalsozialismus ist ohne Logo nur umso präsenter –, so bezeichnete für Kracauer die Anwesenheit von Hakenkreuzen ein Heute, das vom Gestern getrennt ist. Und doch ist die Trennung keine strikte: Bezeichnender Weise titelt Kracauers Aufsatz über das in irritierender Weise »nahezu Heute gewordene Gestern« schlicht »Wiederholung«. Das spricht zu ›uns‹. Faschismen und verwandte rechte Politiken von 2020/30 sind anders als die von 1920/30. Zugleich aber ist da ein Eindruck von Wiederholung und Gleichklang schwer zu ignorieren. (Und das historische Pathos von Rückbezügen auf Vergangenes, von Zitat-Effekten und Jahrestagen, lässt sich schwerlich aus der Politik verbannen.) Angesichts heutiger Rechtstendenzen, teils mit Zug zur Faschisierung, geht generell ein Eindruck von Abruptheit einher mit einem Eindruck von Zwangsläufigkeit, mit der etwas folgerichtig, als notwendige Konsequenz, zutage tritt: und zwar aus einer Vorgeschichte oder einer Phase der Unbemerktheit heraus. Das ist wie in Kracauers Lindenpassage-Aufsatz, von dessen Schlusssätzen jedes Kapitel meines Buches seinen Ausgang nimmt:47 Am Ende dieses Aufsatzes steht der »Fascismus«; als Wort taucht er da völlig unvermittelt und lapidar auf, aber zugleich mit einer Zwangsläufigkeit, die ominös erscheint (insbesondere in heutiger rückblickender Sicht);
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SK: »Wiederholung. Auf der Durchreise in München« [FZ 29.5.1932] 5.4, S. 113f. Es ist auch wie in aktuellen Social Horror-Filmen wie Get Out, Hereditary oder Midsommar: Abrupt tritt etwas zutage, das immer schon mit im (sozialen) Raum war. Siehe weiterführend (von Kracauer ausgehend): Drehli Robnik: »›Perhaps Fascism, or Perhaps Nothing at All‹: Political Truths in Pre-Fascist Popular Film Today« in: Ekaterina Degot et al. (Hg.): Volksfronten | Popular Fronts – Art and Populism in an Era of Culture Wars. Berlin 2019.
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oder auch als eine Folgewirkung einer Gewaltgeschichte, die Kracauers Text durch eine Ladenpassage – einen Markt – hindurch verfolgt. Ebenso tauchte Donald Trump als umstrittene Führerfigur der Republicans und US-Präsident gleichermaßen abrupt wie offenbar unvermeidlich auf, ebenfalls aus einem mit Gewaltgesten durchsetzten Marktgeschehen heraus (aus dem urbizidären Immobilienbusiness bzw. der TV-Show The Apprentice mit ihrem Leitspruch »You’re fired!«). Nachträglich glaubten viele Kommentator*innen, darlegen zu können, warum Trumps schockierender Wahlsieg sowieso unvermeidlich war, und boten allerlei sonnenklare Gründe für seinen rückblickend offenbar vorhersehbaren Triumph auf.48 Am Ende seiner (ersten?) Amtszeit erfolgte dann auch der putschartige Sturm seiner Anhänger*innen auf das Kapitol so abrupt wie unvermeidlich; als ein Schock, den aber Trump selbst mehrfach kaum verhohlen angekündigt hatte. Und der Sturm der Bolsonaristas auf das Regierungsviertel in Brasilia am 8. Jänner 2023 erfolgte ebenso mit Ansage, fast auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Kapitol-Sturm und mit ähnlicher Dramaturgie. Speaking of »Wiederholung«. Dem entgegen Nicht-Zwangsläufigkeit als einen Wesenszug von Geschichte und Politik starkzumachen (wie in Kap. 1.3 ausgeführt), das wird umso relevanter, je mehr heutige Faschisierungen ihre eigenen Wiederholungseffekte und Déjà-vus zu erzeugen scheinen (wie im Fall von Bolsonaros Kopie des Putsch-Modells Trump; oder im Fall der sich wiederholenden Absetzungen des AfD-Führungspersonals, wobei diese Partei jedes Mal ›völkischer‹ wird; oder im Fall der von Haider über Strache zu Kickl wiederholten Aufstiege der FPÖ zur – in Umfragen – stimmenstärksten Partei). Dass es nicht so kommen muss, dies festzuhalten, wird umso relevanter auch, je mehr es schlimmer zu kommen scheint als es der böseste Witz ausmalt: Der »Kabarettscherz« wird mit Gewalt in die Wirklichkeit umgesetzt, wie Kracauer 1938 über den Faschismus schrieb (TP, S. 74; siehe Kap. 6.1). Dass Giorgia Melonis Vereidigung zur Ministerpräsidentin Italiens am 22. Oktober 2022, fast auf den Tag genau zum 100. Jahrestag des faschistischen »Marschs auf Rom« stattfand, der Mussolini 1922 ins Ministerpräsidentenamt gebracht hatte, wirkt wie eine gegenüber der Geschichte ironische Vereinbarung: wie ein Witz (Mussomeloni). Bzw. wirkt es wie eine Wiederholung, in Form einer Farce, von etwas, das seinerseits eine
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Er gewann die Mehrheit im Wahlleute-Kollegium, nicht the popular vote. – Manche der für seinen Wahlsieg genannten Begründungen waren minderheitenfeindlich umrahmt (von wegen, die Linke habe zu wenig auf die ›normalen kleinen Leute‹ geachtet und zu viel auf People of Color oder LGBTQIA+-Menschen).
7. Heute: das Nichts nach dem Faschismus, Faschismen nach dem Nichts
faschistische Farce war, die des Cäsaren-Clowns Mussolini – und das ist eine wiederholte Tragödie (auch wenn ihre Protagonistin das Melo[drama] im Namen führt).49 Der Aufstieg von Melonis Fratelli d’Italia von einer Kleinpartei innerhalb der italienischen Rechten zur stimmenstärksten Partei des Landes erfolgte rasch – abrupt und aus einer singulären Oppositionsrolle zumal während der in Italien fatalen Covid-Krise heraus; zugleich erfolgte dieser Aufstieg zuletzt mit einem Anschein von Unvermeidlichkeit, den die Jahrestags-Koinzidenz mit erzeugte. Letztere ist allerdings, in ihrer Zufälligkeit, doch eine symptomatische Signatur für eine historische Herkunft: für den direkten Bezug zum Mussolini-Faschismus (zumal dessen Salò-Spätphase und dessen Nachkriegs-Nachfolge), den die aus dem neofaschistischen MSI (Movimento Sociale Italiano) stammende Meloni und andere Fratelli-Mitglieder aufweisen.50 Natascha Strobl merkte zu ihrem Wahlsieg 2022 an, wer sich ziere, Melonis Partei faschistisch zu nennen, bediene einen »Wunsch zur Verharmlosung« und wiege sich und andere in falscher Sicherheit: Der Zusatz »post« zu »faschistisch« überdecke hier, wie ungebrochen das Nachfolgeverhältnis der Fratelli sei, und bezeichne bloß deren Bereitschaft, sich vorerst an ein paar formaldemokratische Spielregeln zu halten.51
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Karl Marx’ Brumaire-Aufsatz, an dessen Beginn das Wort von der Wiederholung geschichtlicher Ereignisse steht, die einmal als Tragödie und beim zweiten Mal als Farce geschehen, wurde schon in den 1930er Jahren, etwa von Kracauer, zur Interpretation von Eigenheiten faschistischer Bewegungen herangezogen: nicht zuletzt zur Kennzeichnung des farcehaften Mob-Aspekts ihres Kernpersonals (siehe Kap. 3.2). – Die Farce der faschistischen Farce (allerdings mit üblen Auswirkungen für LGBTQIA+ oder Migrant*innen): Auch dafür ist vielleicht schon der Austrofaschismus der 1930er Jahre paradigmatisch, auf fast avantgardistische Art – mit seinen zahlreichen Auftritten, die unfreiwillig komisch anmuten, selbst im zeitgenössischen Kontext von Grotesk-Erscheinungen der europäischen Faschismen. Diese Direkt-Affiliation unterscheidet Meloni und ihre Partei von ihren rechten Koalitionspartnern, von der Lega unter Matteo Salvini und der Forza Italia unter Silvio Berlusconi, die jeweils als separatistische bzw. disruptiv neoliberale Krawall-Organisationen angetreten waren. Lega und Forza Italia erscheinen nun relativ zur faschistischen Tradition der Fratelli, sowie an deren Seite, als bürgerliche Parteien; als solche spielen sie ihre Rolle als Staatsmacht-Ermöglicher (eine in der Geschichte faschistischen Regierens keineswegs neue Rolle). Natascha Strobl: »Die Politik der Fratelli d’Italia: Faschistisch, postfaschistisch oder rechtsextrem? Was heißt das?« (26.9.2022) https://www.moment.at/fratelli-d-italia-f aschistisch-postfaschistisch [20.1.2023].
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Erstaunlich direkte Anknüpfungen zeigen sich schließlich auch an der aus dem christlichsozialen Konservatismus hervorgegangenen Rechtsregierung (seit 2020 mit Grünschmuck) in Österreich. Ähnlich wie der Trumpismus in den USA Donald Trump zu überleben scheint, allerdings in einer gänzlich entfesselten Form,52 überlebt auch der Kurzismus in Teilen den Abgang von Sebastian Kurz; dies allerdings so, dass seine Nachfolger*innen auf traditionellere autoritäre Artikulationsmuster zurückgreifen: Die Silicone Valley- und Lifestyle-libertäre Facette seines Politikstils hat der lange gefeierte Ex-Kanzler Kurz quasi in seine Privatwirtschaftskarriere mitgenommen; also setzt seine Partei ihre Rechtsausrichtung nun in Formen fort, die mehr mit neoprovinzialistischen Retro-Trends korrespondieren (»Mundart«, Brauchtum, Landleben, Küche wie von der Oma – »Conservative Hell«, um es mit einem 2022er Songtitel von Dry Cleaning zu sagen). Ein zentraler Protagonist ruraler Engelbert Dollfuß-Verehrung wurde 2021 Innenminister.53 Dessen Amtsvorgänger Karl Nehammer, im erlernten Beruf Heeresoffizier und Kommunikationstrainer, richtet nun als Kanzler und Parteichef die kurzistische ÖVP je nach Bedarf gruppenfeindlich aus – antimigrantisch, rassistisch und gegen »GenderUnkultur«. Dies orientiert sich ideologisch und in den Kampagnen an der postfaschistischen FPÖ, ist aber im Tonfall – in der Tonalität, wie der Distinktionsvorwand der Konservativen gediegen genannt wird – meist respektabel
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Siehe die Selbstbeschädigung der Republicans durch Hardcore-Trumpist*innen bei den Anläufen zur Wahl des Repräsentant*innenhaus-Sprechers Anfang 2023. Innenminister Gerhard Karner war bis zu seinem Wechsel in die Bundesregierung als Bürgermeister der Gemeinde Texing Schirmherr des dortigen Dollfuß-Museums (»Geburtshaus des großen Bundeskanzlers und Erneuerers Österreichs Dr. Engelbert Dollfuß«). Nach Karners Minister-Vereidigung trat der ›Haus-Politologe‹ des öffentlichrechtlichen Fernsehens ORF, Peter Filzmaier, mit Erläuterungen zur historischen Figur Dollfuß an (Zeit im Bild Sondersendung 6.12.2021); diese mündeten in die Mitteilung, dass Dollfuß bis heute umstritten sei, weshalb, so der Experte, »ein Schuldspruch Historikern nicht zusteht. Tatsache ist, er hat diktatorisch im austrofaschistischen Ständestaat regiert.« Faschismus in der Public History Österreichs: Genügt diktatorisches Regieren in einem faschistischen Staat bei Dollfuß für eine ambivalente heutige Einschätzung, die nur ja nicht zur Verurteilung geraten soll, so diente Dollfuß’ Nachfolger Kurt Schuschnigg, 1934–1938 austrofaschistischer Kanzler, dem ORF zum 80. Jahrestag des »Anschlusses« an Nazi-Deutschland im März 2018 via Archiv-Interviews als legitimer Zeitzeuge mit Beinah-Deutungsmonopol. Sollte keine andere Auskunftsperson zur Zeitgeschichte greifbar oder im Archiv sein: Ein Klerikofaschist findet sich offenbar leicht.
7. Heute: das Nichts nach dem Faschismus, Faschismen nach dem Nichts
(im kleinbürgerlichen ›Was sich gehört‹-Sinn).54 In einem ersten Statement als Bundeskanzler sprach Nehammer 2021 viel über die von allen geforderte Solidarität; er sprach sie als »Sollidarität« aus – als wollte er dadurch markieren, dass es für ihn dabei nicht um die Ermächtigung der Vielen geht, sondern ums Sollen, um (soldatischen) Gehorsam von Untertanen.55 Was aber weiß ein neoliberaler Antidemokrat schon von Solidarität? Eine alte Maxime der kämpferischen Arbeiter*innenbewegung wird für einen Aufruf zum volksgemeinschaftlichen Stillhalten missbraucht. Hier liegt, mit dem Bloch von 1935 gesagt (siehe Kap. 2.2 und 3.2), eine Entwendung, Fälschung und Pervertierung linken Sinns durch rechte Propaganda vor. Oder, mit Kracauer gesagt (TP, S. 36f; siehe Kap. 4.4), eine sinnzerstörende Herauslösung von Ideen-Gehalten aus gesellschaftlichen und politischen Situierungen. Oder auch ein Kabarettscherz.
7.3 Ideen und causes zurückgewinnen: Solidarität, Radikalität, Kritik, Vernunft, Menschlichkeit The noise is coming from inside the house. Laurie Penny56 Zuletzt und an Sollidarität anknüpfend, erfolgt hier ein sanfter Durchgang, eine linde Passage, durch politisch aufgeladene (und in Handlungen zu materialisierende) Ideen und causes. Nämlich solche, die in Zeiten neuer Faschisie-
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Ganz im Sinn der »rohen Bürgerlichkeit« bei Wilhelm Heitmeyer (siehe Kap. 3.3), vergleichbar auch der kultivierten Emulation von AfD-Agenden durch die CDU- und CSUChefs Merz und Söder. – »Gender-Unkultur« attackierten Wiens ÖVP-Chef Karl Mahrer und sein Bundesparteichef, Kanzler Nehammer, in Grundsatzreden Anfang 2023. (Im Juli 2023 griff dann die ÖVP das Ressentiment-Motto Normalität von der AfD auf.) Dies als Forderung in der Corona-Krise wie wohl auch angesichts der Krise seiner von Korruptionsermittlungen gezeichneten Regierungspartei. – Zugestanden aber: Im Land des Kanzlers Dollfuß besteht in politischen Dingen ein Hang zum Doppel-L, den auch die marxistische Linke teilt: Die in der Public History kanonischen Fotos vom Tag der Ausrufung der Republik Österreich (12. November 1918) zeigen vor dem Parlament in Wien eine Massendemonstration mit großem Transparent »Hoch die Soziallistische ›Republik‹« (zusätzlich zum schallenden Soziallismus steht die »Republik« in Anführungszeichen). Laurie Penny: Sexual Revolution: Modern Fascism and the Feminist Fightback. London, Oxford, New York, New Delhi u.a. 2022, S. 210.
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7. Heute: das Nichts nach dem Faschismus, Faschismen nach dem Nichts
(im kleinbürgerlichen ›Was sich gehört‹-Sinn).54 In einem ersten Statement als Bundeskanzler sprach Nehammer 2021 viel über die von allen geforderte Solidarität; er sprach sie als »Sollidarität« aus – als wollte er dadurch markieren, dass es für ihn dabei nicht um die Ermächtigung der Vielen geht, sondern ums Sollen, um (soldatischen) Gehorsam von Untertanen.55 Was aber weiß ein neoliberaler Antidemokrat schon von Solidarität? Eine alte Maxime der kämpferischen Arbeiter*innenbewegung wird für einen Aufruf zum volksgemeinschaftlichen Stillhalten missbraucht. Hier liegt, mit dem Bloch von 1935 gesagt (siehe Kap. 2.2 und 3.2), eine Entwendung, Fälschung und Pervertierung linken Sinns durch rechte Propaganda vor. Oder, mit Kracauer gesagt (TP, S. 36f; siehe Kap. 4.4), eine sinnzerstörende Herauslösung von Ideen-Gehalten aus gesellschaftlichen und politischen Situierungen. Oder auch ein Kabarettscherz.
7.3 Ideen und causes zurückgewinnen: Solidarität, Radikalität, Kritik, Vernunft, Menschlichkeit The noise is coming from inside the house. Laurie Penny56 Zuletzt und an Sollidarität anknüpfend, erfolgt hier ein sanfter Durchgang, eine linde Passage, durch politisch aufgeladene (und in Handlungen zu materialisierende) Ideen und causes. Nämlich solche, die in Zeiten neuer Faschisie-
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Ganz im Sinn der »rohen Bürgerlichkeit« bei Wilhelm Heitmeyer (siehe Kap. 3.3), vergleichbar auch der kultivierten Emulation von AfD-Agenden durch die CDU- und CSUChefs Merz und Söder. – »Gender-Unkultur« attackierten Wiens ÖVP-Chef Karl Mahrer und sein Bundesparteichef, Kanzler Nehammer, in Grundsatzreden Anfang 2023. (Im Juli 2023 griff dann die ÖVP das Ressentiment-Motto Normalität von der AfD auf.) Dies als Forderung in der Corona-Krise wie wohl auch angesichts der Krise seiner von Korruptionsermittlungen gezeichneten Regierungspartei. – Zugestanden aber: Im Land des Kanzlers Dollfuß besteht in politischen Dingen ein Hang zum Doppel-L, den auch die marxistische Linke teilt: Die in der Public History kanonischen Fotos vom Tag der Ausrufung der Republik Österreich (12. November 1918) zeigen vor dem Parlament in Wien eine Massendemonstration mit großem Transparent »Hoch die Soziallistische ›Republik‹« (zusätzlich zum schallenden Soziallismus steht die »Republik« in Anführungszeichen). Laurie Penny: Sexual Revolution: Modern Fascism and the Feminist Fightback. London, Oxford, New York, New Delhi u.a. 2022, S. 210.
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rungsprozesse zunichte gemacht zu werden drohen, und die es umso mehr zurückzugewinnen gilt. Kracauer gibt uns dazu den einen oder anderen Hinweis. Damit passieren nun auch einige der in diesem Buch angesprochenen Punkte noch einmal Revue. Erstens eben Solidarität: Halb Begriff, halb Losung, gilt es, deren Sinn herauszulösen aus ihrer ideologisch mutwilligen oder auch naiven Verwechslung mit Fürsorge samt Volksgemeinschafts-Beigeschmack. Solidarität heißt nicht Füreinander-da-Sein, karitative Mildtätigkeit, »Kitt, der Gesellschaft zusammenhält«, oder gar Kooperation beim »Außengrenzschutz« der Festung Europa.57 Sondern sie hat ihrem Sinn nach etwas Konfrontatives, insofern Politisches; sie steht nicht abstrakt ›für unsere Demokratie‹ ein (die ohnehin so viele ›Andere‹ ausschließt), sie steht nicht gegen schwierige Zeiten, gegen ›die Krise‹, gegen Armut, Alter, Krankheit etc., sondern Solidarität steht, und sie geht an, gegen inegalitäre Machtformationen, in Allianz unter Gleichbetroffenen – aber auch unter Verschiedenen. Es handelt sich dabei um eine Solidarität, die nicht mehr auf einheitlich standardisierten Selbstverständnissen und Alltagshabitus beruht, wie vielfach in der klassisch-modernen Arbeiter*innenbewegung; eine Solidarität, die vielmehr etwa hiesige und migrantische Prekarisierte verbündet, in Kampagnen, die nationale oder ethnisch-kulturelle Gemeinsamkeiten außen vor lassen; eine Solidarität, die Situationen der Verknüpfung einrichtet, durch die etwa die Kämpfe von Ausgebeuteten, von ableistisch Behindert-Werdenden und von LGBTQIA+-Personen punktuell (und immer wieder mal) zusammengehen können. Ebensolch ein post-identitäres Solidaritätskonzept ist auch bei Kracauer in Teilen angedacht.58 Und zwar durchaus in Konfrontation mit Tendenzen der bürgerlichen Schichten nach rechts und mit Tendenzen des Proletariats zur
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Wie im Österreich von 2022/23 jeweils als synonym für Solidarität gesetzt von Bundespräsident Van der Bellen, von Initiator*innen des Opernballs, vom Filmmuseum in Wien und von Innenminister Karner. Und es ist direkter bedacht bei Marchart und Adamczak: »[m]oderne demokratische Solidarität« als Politik einer »Anerkennung der Anderen auf Grundlage der eigenen Selbstentfremdung« in: Oliver Marchart: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin 2010, S. 358, 360. Und Solidarität als eine Beziehungsweise, die die Solidarität Ausübenden nicht heroisiert und die Solidarität in Anspruch Nehmenden nicht idealisiert und somit beide Seiten nicht ethisch überfordert, sowie anstelle einer Aktiv/Passiv-Trennung vielmehr das Zusammensein dieser Teilgruppen starkmacht, in: Bini Adamczak: Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Berlin 2017, S. 263, 274.
7. Heute: das Nichts nach dem Faschismus, Faschismen nach dem Nichts
Uniformität: Dass im disziplinierten Kollektivismus der Gewerkschaften »jede Abweichung […] mit dem Bann belegt« und »aus der Not der Uniformierung eine Tugend« gemacht wird, kritisiert Kracauer 1929/30 in seiner AngestelltenStudie; und in demselben Buch konstatiert er »Die zu trennen, deren Bund sie bedrohen könnte, ist von jeher ein Grundsatz der Machthaber gewesen.« (A, S. 86, 115) Damit meint er konkret die Spaltung zwischen Arbeiter*innen und Angestellten, die letzteren Distinktion (kleinbürgerliche Aufstiegs-Fantasien) einräumt – und der Kapitalseite die Herrschaft erleichtert. Bis heute. Auch die Nazis hatten es in der Machtdurchsetzung leichter durch die (vor allem stalinistisch verordnete) Feindschaft zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Lohnabhängigen und Wähler*innen; Kracauer schreibt über die dadurch nicht zustandegekommene »solidarity of the worker masses« (CH, S. 247) – im Rückblick kurz nach dem Beginn und kurz nach dem Ende der Nazi-Herrschaft. Zweitens wären auch das Konzept und die Praxis politischer Radikalität gegenüber antipolitischen Verzerrungen zurückzugewinnen. Meint Radikalität sinnvoller Weise ein politisches Auf-den-Grund-Gehen, auf den instabilen Problemgrund sozialer und politischer Situationen, so ist sie im MainstreamWissen negativ angeschrieben: entweder missverstanden als »extrem« und »rücksichtslos«;59 oder auf politisches Handeln gemünzt, wenn dieses mit physischer Gewalt(-Drohung) einhergeht, so z.B. im Mediendiskurs über Querdenker*innen-Aktionen gegen Corona-Maßnahmen.60 Nun ist aber an Querdenker*innen (übrigens auch an Djihadist*innen, die, wie es heißt, »deradikalisiert« werden sollen) nichts radikal: Covid-Impfgegner*innen, die »Impfzwang« oder aber dessen Abschaffung zum Kriterium dafür machen, ob sie ihrer »Grundrechte« beraubt oder aber in »Freiheit« sind, geben sich letztlich tröstlichen Illusionen hin – darüber, wie leicht Freiheit angeblich herzustellen ist. Bei den ab 2020 erfolgreichen Mobilisierungen von rechts kommt später, mit abflauender Corona-Konjunktur, die Ablehnung von Sanktionen gegen Putins Angriffskrieg hinzu; oder auch (da wird – Stand Juni 2023 – Großdemo-Tauglichkeit noch getestet) die Ablehnung von »Gender-Wahn« und »Klima-Terrorismus«. Diese Feindbild-Inszenierungen gehen aber keinerlei Verhältnissen auf ihren Grund; sie sind nicht radikal, sondern bloß
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Definition der Kreuzworträtselantwort »radikal« in der österreichischen Boulevardzeitung Krone Bunt im Herbst 2022. Diese wurden »radikal« genannt, wenn dabei medizinisches Personal oder Journalist*innen körperlich attackiert wurden.
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extrem. Dies in dem Sinn, in dem etwa schon Hannah Arendt unterscheidet: zwischen totalitärem Extremismus – als Fixiertheit auf Totalanspruchs-Axiome und Feind-Typologien – und dem Wahrheitspotenzial eines politischen Radikalismus.61 Bei Kracauer gibt es um 1930 eine Kritik des politischen Radikalismus, die eben im strengen Verständnis eine Kritik, keine Zurückweisung, ist: Es geht ihm um den Sinn für prekäre Wirklichkeiten; dieser Sinn ist eine Bedingung dafür, dass eine radikale Analyse wirklich auf den Grund, in die Strukturdimension, einer Gesellschaft geht (»Der Radikalismus dieser Radikalen hätte mehr Gewicht, durchdränge er wirklich die Struktur der Realität.« A, S. 109). In dieser Auffassung ist es ein »Ehrenname« und kein Vorwurf, wenn eine politische Position als radikal gekennzeichnet wird; nur muss diese Grundsätzlichkeit eben mit der Wahrnehmung von Wirklichkeit vermittelt sein.62 Das fordert 61
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Arendt spricht vom »famous extremism of totalitarian movements, far from having anything to do with true radicalism«: Arendt: The Origins of Totalitarianism. [1951/1967] London 2017, S. 627. – Für jenen Bankrott von politischem Sinn, der in der Gleichsetzung von Radikalität mit Extremismus besteht, bietet heute Julia Ebners Massenradikalisierung. Wie die Mitte Extremisten zum Opfer fällt (Berlin 2023) ein Beispiel. Die im Talk-Fernsehen omnipräsente Journalistin Ebner fetischisiert »die Mitte« (sei’s die »gesellschaftliche« oder die »politische«: ebd., S. 28, 32, 282) als zu behütendes Wertobjekt und führt einen der Therapie-Psychologie entlehnten Diskurs der Warnung vor massenhafter Anfälligkeit (gar Vulnerabilität) für »Ideen von den radikalsten Rändern« bzw. »extreme Ideen« bzw. »radikale Ideen« (ebd., S. 28f, 34). Dem entgegen ist Vertrauen in etablierte administrative Institutionen (parallel zur Therapiediskurs-notorischen Resilienz) bei ihr positiv besetzt – im Sinn von Einschwörung auf wohltemperierte, NATO-konforme Liberalität. Als Konzept bedenklich ist dabei auch Ebners Bereitschaft, der rassistisch-misogynen Rechten den Begriff und Gehalt von Ideen zu konzedieren (als gingen von QAnon oder »Querdenker«-Kampagnen Ideen aus). Eine verbreitete Bereitschaft zur »Verwechslung der nationalsozialistischen Illusionen mit Idealen«, mithin zur Ruinierung der politischen – emanzipatorischen, vernünftigen – Sinnpotenziale von Ideen, monierte Kracauer anno 1930 (S.K.: »Der bejubelte Fridericus Rex« [FZ 23.12.1930] 6.2, S. 433). Dies ergibt sich etwa aus Kracauers Auseinandersetzung mit einem Vortrag des linken Radikalpazifisten Kurt Hiller 1923. Sein Einwand ist, dass Hiller »mit seinen radikalen Leitsätzen […] die Wirklichkeit gleichsam als ein Nichts ansah, das man einfach so wegpusten könne. Wobei ihm im übrigen, was sich ja von selber versteht, keineswegs der Radikalismus zum Vorwurf zu machen ist, vielmehr lediglich die Untiefe und Oberflächlichkeit seines obersten Grundsatzes von der Unantastbarkeit des Lebens um jeden Preis.« Die Radikalismuskritik wendet sich hier also gegen eine Nihilisierung von Wirklichkeit; und Wirklichkeit versteht Kracauer wiederum als etwas, das im engen Kontakt zu Ideen steht (in diesem frühen Text noch: von einer kantischen Ethik be-
7. Heute: das Nichts nach dem Faschismus, Faschismen nach dem Nichts
Kracauer mit Nachdruck Ende 1932 in seiner nichts weniger als Konfliktpolitiktheoretischen Interpretation der Arbeitslager: Dieses gerade im Faschismuskontext negativ beladene Wort meint hier allerdings Sommercamps, in denen um 1930 deutsche Jugendliche aus verschiedenen Milieus und politischen Parteien (auch NSDAP und KPD) einige Wochen mit gemeinnütziger Arbeit und diverser Freizeit verbringen.63 Für Kracauer ist das Arbeitslager – halb Allegorie, halb analytisch dechiffriertes Milieu – nachgerade eine Einrichtung zur Wahrnehmung in Gegenseitigkeit und vor allem in Gegner*innenschaft (siehe Kap. 2.3). Das heißt, in einer oft an den Rand des Bürgerkriegs geratenden, mit unverhandelbaren Feindbildern verschärften Situation, die eine rein »imaginäre politische Welt« darstelle (»Und was in ihr geschieht, ist selber imaginär; wie blutig immer es sein mag.«), da kann das Arbeitslager dabei helfen, »aus Phantomen, die sich bekämpfen, Gegner zu machen, die wirklich sind.«64 Vier Monate vor Hitlers Kanzlerschaft ist dies Kracauers versuchsweiser Beitrag dazu, gegenüber einer Politik, die im Antagonismus zur Gewaltkonfrontation eskaliert (worauf sich die die künftigen rechten Machthaber am besten verstehen), das agonale Moment von Politik starkzumachen, das Moment des austragbaren Konflikts.65 Mit entscheidend daran ist, dass Kracauer nicht auf Milderung politischer Auseinandersetzung abhebt, sondern auf deren Wirklichkeit: »die Gegensätze in ihrer Wirklichkeit herauszustellen und echte politische Kämpfe zu ermöglichen.« Ähnliches gilt hier auch für die Radikalität: Die Arbeitslager sollen ihre Teilnehmer*innen gerade nicht (quasi durch harte Arbeit an der frischen Luft) abschleifen, sollen sie »nicht von jenem entschiedenen Denken abbringen, das den Ehrennamen des radikalen verdient«, sondern: »statt die Radikalität aufzuheben, sollen sie ihr zu Wurzeln verhelfen.«66
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herrscht ist). Kracauers Realismus; sein Beharren darauf, dass dieser ohne Ideen nicht auskommt; seine Offenheit für politischen Radikalismus; und schließlich seine Vitalismus-Skepsis kommen hier zusammen, wenn er ausführt, der genannte Grundsatz Hillers sei »bestenfalls halbrichtig, denn nicht dem Leben überhaupt, sondern allein dem sinnvollen, dem vom kategorischen Imperativ beherrschten Leben wohnt ein höchster Wert inne«. SK: »Aktiver Pazifismus« [FZ 14.3.1923] 5.1, S. 584. SK: »Über Arbeitslager« [FZ 1.10.1932] 5.4. Ebd., S. 210ff. Zur radikaldemokratisch-hegemoniepolitischen Unterscheidung von Antagonismus und Agonismus vgl. Chantal Mouffe: On the Political. London, New York 2005. SK: »Über Arbeitslager«, S. 208, 211. Bemerkenswert ist, wie Kracauer – politische Straßenkämpfe und Nazi-Wahlerfolge vor Augen – sich hier gegen die antipolitische Doktrin eines Einschwenkens in die neutralistisch (miss-)verstandene Mitte ausspricht; und wie er mit seiner Mitte-Skepsis zugleich seinen Arbeitslager-Gedanken gegen die
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Drehli Robnik: Flexibler Faschismus
Eine Kritik (nicht Pauschal-Aburteilung) von Radikalität in Konfrontation mit dem Faschismus formulieren heute etwa Ewa Majewska mit ihrem Votum für ein Radikalismus-Verständnis, das dezidiert nicht maskulin-heroisch, disruptiv, sondern an intersektionaler Kooperation orientiert ist; oder Simon Strick, der der reflexartigen Gleichsetzung von Radikalisierung mit einer Tendenz zur extremen Rechten entgegenhält, dass es ja auch andere »Radikalisierungsformen« gibt, solche, die Sinn machen – Schwarze, queere, feministische, antirassistische oder postsozialistische.67 Drittens sollten Begriffe und implizite Positivbewertungen wie Kritik und Theorie von der Rechten zurückgewonnen werden. Kritik und Theorie hat die Rechte sich weniger angeeignet (sie fängt damit so viel nicht an) als dass der liberale Diskurs sie ihr in einem nihilistischen Gestus förmlich nachschmeißt: Die rassistische Hetze eines Salvini, Orbán oder Kickl wird als »migrationskritisch« nobilitiert, und das Online-Gefasel von jüdischen Urhebern der CovidKrise oder von Hillary Clintons Kindermissbrauchs-Kerker unter einer Pizzeria gilt als »Verschwörungstheorie«. Im Kontext einer Behauptung des Sinns von Kritik wäre denn auch eine radikaldemokratisch (oder auch anarchistisch) inspirierte Staatskritik zu reaktivieren. Diese Staatskritik ist etwas ganz anderes als neurechte deep state-Phantasmen, Parlaments-Verhöhnungen und AprioriRessentiments gegen formaldemokratische Institutionen. Diese Staatskritik steht aber sehr wohl gegen einen gelehrten Diskurs, der »Misstrauen« gegenüber Staatsmacht-Institutionen und »Eliten« schnell mit der »querdenkenden« Neuen Rechten assoziiert (und damit ein undemokratisches Konzept wie »Elite« gegen Einwände immunisiert).68 Faschisierungsprozesse
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politische Reaktion in Stellung bringt, der das uneingeschränkte Vermeiden jeglicher Radikalität nützt – und somit gegen die antidemokratische Rechte. Damit gibt er seiner Interpretation der die Extreme zusammenbringenden Arbeitslager (publiziert in einer nicht mehr liberalen bürgerlichen Zeitung) einen implizit linken Spin. Im Wortlaut: Sollten die Arbeitslager dahingehend missverstanden werden, dass sie »junge, revolutionär gesinnte Leute« mit divergierenden Loyalitäten in einen »Zustand« versetzen, »in dem die eine Radikalität so wenig wie die andere gilt«, dann fördere dies die »politische Stagnation«, das »Einschwingen in eine höchst problematische Mitte«, und gerate so zum »Werkzeug der nach rückwärts gerichteten Mächte« (ebd., S. 208). Ewa Majewska: »A Bitter Victory? Anti-fascist Cultures, Institutions of the Common, and Weak Resistance in Poland«, Third Text 33:3, 2019, S. 411 (siehe auch Kap. 5.5); Simon Strick: Rechte Gefühle. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus. Bielefeld 2021, S. 458. Siehe etwa das Dossier »Vergemeinschaftung durch Misstrauen?« des Instituts für Sozialforschung 2022: Misstrauen als skeptische »Gegenmacht« zu formaldemokrati-
7. Heute: das Nichts nach dem Faschismus, Faschismen nach dem Nichts
in Gesellschaften, die von Ausbeutung, Abschottung und Heteronormativität geprägt sind, sind nichts, was durch ›mehr Vertrauen‹ in deren etablierte Machtstrukturen zu beantworten wäre. Und das Etikett »Staatsverweigerer«, wie die »Reichsbürger«-Szene in Österreich genannt wird, trifft das faschistische oder monarchistisch-autoritäre Moment dieser Netzwerke so gar nicht: schen Institutionen versus ein heute »querdenkerisch« beanspruchtes Misstrauen, das Kritikprozesse und Spielraum-Erweiterungen letztlich torpediert und das zu fragen vorgibt, aber ohnehin schon weiß – diese Unterscheidung von Jeannie Moser, sowie ihr Einwand, das »querdenkende« Misstrauen zehre parasitär vom ethisch-politisch nobilitierten Status des skeptischen Misstrauens, ist erhellend. Aber: Die Unterscheidung ist hier ganz staatstragend, nicht radikaldemokratisch, unterbaut. So benennt Moser mit »Antipolitik« ein Demokratie-Problem; sie meint damit allerdings gerade nicht die Delegitimierung politischen Konflikts (im Sinn von Rancières Antipolitik-Konzeption, siehe oben), sondern massenhaftes »Misstrauen gegenüber den Regierenden, den traditionellen Eliten und Institutionen« (S. 80). Und Eva Marlene Hausteiner wirft den von Verschwörungsnarrativen getriebenen Kampagnenpolitiken (»Querdenker«, QAnon, »Reichsbürger«) vor, dass sie »demokratiepolitisch […] nicht nachhaltig« und »demokratischer Stabilität« abträglich seien, insofern diese Politiken »institutionelles Vertrauen und Elitenvertrauen [untergraben]« (S. 89, 91, 93). Dass Obrigkeiten nicht mehr vertraut wird und die Stabilität flöten geht, scheint für die beiden Autorinnen ein solches Skandalon zu sein, dass ihnen für Leute, die von rechter Verschwörungshetze betroffen sind (gewaltbedrohtes medizinisches Personal; Geflüchtete, die George Soros zwecks »Great Reset« ins Land geholt haben soll), kein Platz zur Erwähnung bleibt. Einleuchtend ist allerdings Hausteiners Vorschlag, das Etikett »Verschwörungstheorie« für Erzählungen, die nichts erklären oder abwägend beweisen (wollen), fallen zu lassen; ob die in sich vielstimmigen bis widersprüchlichen Unterstellungen, die online und analog-öffentlich in Umlauf gebracht werden, mit »Verschwörungsgerücht« besser benannt sind, sei dahingestellt. Dass Hausteiner den hohen Emotionalisierungsgrad dieser Erzählungen als ein grundsätzliches Problem versteht, resultiert mit aus ihrer implizit Intellektuellen-paternalistischen, behutsamkeitspädagogischen Sicht auf die anfälligen Vielen (die einst »Masse« hießen): Die Autorin empfiehlt politische Gegenstrategien (etwa einen »Republikanismus des Dissenses«, der, wiewohl er nach Rancière’schem Unvernehmen klingt, einem deliberativen Demokratie-Verständnis die Treue hält) u.a. als eine »therapeutische Perspektive«, und sie rät den ansonsten zum Antagonismus verführten Leuten zu mehr Vereinsleben zwecks »gelingender Gemeinschaftsbildung« (S. 94). (Das erinnert an die Vorstellung von ›mehr Gemeinschaftserlebnis an der frischen Luft als Extremismustherapie‹, auf die Kracauer mit seiner konflikttheoretischen Lesart der Arbeitslager gerade nicht hinauswollte.) Jeannie Moser: »Das Misstrauen der ›Querdenker‹-Mesalliance«; Eva Marlene Hausteiner: »Demokratische Dynamik oder ideologische Verführung? Verschwörungsgerüchte auf dem politiktheoretischen Prüfstand« in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 19, 2, 2022.
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Drehli Robnik: Flexibler Faschismus
Verweigert wird hier nicht ›der Staat‹, sondern der demokratische Abbau von Herrschaft (sei diese staatlich, personal oder kapitalförmig verfasst). Ebenso soll Kritik an Macht-Effekten, die mit Wissen(schaft) verbunden sind, nicht pauschal entsorgt werden – nicht in Reaktion auf verschwörungsgläubige alternative facts-Kampagnen, auch nicht durch (Wieder-)Befestigung von expertokratischen Hierarchien: Wir sollten nicht so tun, als wäre alle Kritik am früheren »Götter in Weiß«-Status von Ärzten (männlichen zumal) oder an der Pharma-Industrie »querdenkerisch« oder esoterisch motiviert. Und auch klassisch-moderne analoge Medien – mit ihrer Rolle im Erzeugen/ Verbreiten von Fakten als einer gesellschaftlich, und sei’s im Streit, geteilten Referenz – sind nicht dadurch von Kritik ausgenommen, dass digitale Plattformen (noch mehr als die Analogmedien) für Hasskampagnen genutzt werden; ihre Produktions- und Distributionsbedingungen von Wissen und Wirklichkeitsreferenzen bleiben ja weiterhin inegalitär, geprägt von KapitalmachtEffekten und abgeschlossenen Milieus.69 ›Qualitätszeitungen‹ und öffentlichrechtliche Fernsehanstalten nicht dahingehend zu hinterfragen, das kann nicht die Reaktion auf die Zerstörung von Streit-Öffentlichkeiten durch den Antirealismus der entfesselten Rechten sein. Für diesen Antirealismus ist das im Trump- und Brexit-Schock 2016 etablierte Label »postfaktisch« ein misnomer, denn es geht bei diesem Post ja nicht um ein Verhältnis, das problembewusst, in reflexiver Absetzung, Kontakt zu den Fakten hält.70 Vielmehr setzt die alternative Rechte ihre Sicht der Dinge an die Stelle von Fakten, die sie ja nicht radikal auf ihre Anteile an Geteiltheit, 69
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»Die kritische Medienbildung wurde gewissermaßen von rechts gekapert, bevor sie überhaupt angefangen hat«, schreibt Strick; und wiewohl er auf Basis des Kernthemas seiner Analysen mit dem Unheilvollen von rechten Fake News-Kampagnen vertraut ist, spricht er der im »Slogan ›Fake News‹« mit ausgedrückten Medienskepsis eine grundsätzliche Berechtigung nicht ab. (Strick: Rechte Gefühle, S. 453) Wie z.B. beim Verhältnis des Poststrukturalismus zum Strukturalismus oder der Postdemokratie zur Demokratie, jeweils quasi haunted von dem, gebunden an das, was sie und wovon sie sich absetzen. Oder selbst noch beim Verhältnis des Postfaschismus zum Faschismus (zumal in Enzo Traversos Darstellung; siehe Kap. 4.3), eben als ein reflexives Verhältnis. – Ähnliches gilt für den im Englischen gebräuchlichen Ausdruck post-truth für »postfaktisch«, auch das eine irreführende Bezeichnung: Der rechte Antirealismus lässt Wahrheit als Konzept weder hinter sich noch reflektiert er es; das ist keine Doktrin, die Nietzsches Wahrheitskritik durch die Optik der Foucault’schen Macht-Analyse rezipiert. Vielmehr geht es postfaktischen Kampagnen darum, jeweils eigene, bevorzugte oder tief im identitären Fleisch gefühlte, Wahrheiten – beispielsweise das notorische, rassismusempfängliche ›Sicherheitsempfinden‹ – an die Stelle
7. Heute: das Nichts nach dem Faschismus, Faschismen nach dem Nichts
Gegebenheit und Gemachtheit hin befragt, sondern deren Nimbus eines unhinterfragbaren Fundaments – bzw. Restbestände eines solchen Nimbus – sie dankbar nutzt und ausstaffiert. Der grundsätzlich, immer schon, mehrwissende rechte Diskurs verabschiedet nicht das Faktische, sondern dessen Verflochtenheit in demokratisches Handeln; dies zugunsten der fundamentierenden Präsenz von »Volk« in »Freiheit« (Freiheit verstanden als eine von allem Bezug auf andere entfesselte Selbstdurchsetzung der Stärkeren). Und auch zugunsten der Vorstellung einer Hierarchie zwischen, so der Jargon, »Red Pillers«, die über Total-Durchblick verfügen, und »Mainstream-hörigen Schlafschafen«. Da kommt es, selbstwidersprüchlich, zu Massenverachtung (samt der alten elitistischen Schafs-Metapher) seitens einer Propaganda, die sich anti-elitär gibt (genauer: die jeweilige Feindbild-Gruppen mit dem Stigma ›Elite‹ versieht). Etwas in dieser Art stellte Kracauer 1938 an der NaziIdeologie fest (siehe Kap. 3.1); ebenso wie er die – letztlich expertokratische – Pose der Immer-schon- und Kategorisch-Besserwissenden im Verhältnis zum Faschismus und dessen Selbstinszenierungsformen ablehnte (siehe oben und Kap. 1.2).71 Viertens: Vernunft. Den Anteil von Empfindungen im politischen Geschehen anzuerkennen, das Emotionale nicht als einen Defekt oder Makel von Politik zu sehen, das tut der Wertschätzung für Vernunft keinen Abbruch. Im Gegenteil: Vernunft ist als politischer Sinn und Wert zurückzugewinnen – und das heißt eben genau nicht, dass Emotionalisierung nüchternheitspolizeilich therapiert werden soll. Ein erster Zugang hieße hier, vernünftig als ein Stand-in (oder in der Nähe von) gerecht und frei von Herrschaft in Stellung zu bringen; dabei sehr wohl auch die Gewalt bedenkend, die eine auf Machbarkeit und Effizienz verkürzte Rationalisierung ausübt. Auch das lässt sich mit Kracauer
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ausverhandelter oder kritisch ausgeloteter Wahrheiten und deren Dokumentationen zu setzen. Die Wissens-Avantgarde-Pose als ein Merkmal rechter Kampagnenpolitik kritisierte auch Adorno 1946: »[This] propaganda functions as a kind of wish-fulfillment. […] People are ›let in‹, they are supposedly getting the inside dope, taken into confidence, treated as of the elite who deserve to know the lurid mysteries hidden from outsiders.« Adorno: »Anti-Semitism and Fascist Propaganda« [1946] in: The Stars Down to Earth and Other Essays on the Irrational in Culture. New York 1994, S. 220. – Von einem durch verschwörungsgläubige Online-Kommunikation »›souveränisiert[en]‹« Selbst, das »Avantgardebewusstsein« und den »Anschein eines parrhesischen, eines rückhaltlos wahrsprechenden Subjekts« für sich reklamiert, spricht heute Moser: »Das Misstrauen der ›Querdenker‹-Mesalliance«, S. 79f.
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bekräftigen: Orientierung von Politik auf »eine vernünftige menschliche Ordnung« (A, S. 109); Kritik an der Verstümmelung von Vernunft durch Machtdiktate ökonomischer Rationalisierung;72 und Realismus im Wahrnehmen des Ausmaßes, wie sehr das, was vernünftig ist, kontingent ist – wie es exponierter Weise bezogen ist auf die Alltäglichkeit von Kräften, die außerhalb seiner wirksam sind und die nicht vernünftig sind, oft sogar dezidiert anti-vernünftig sind. Das heißt mithin: Politisch verstanden, ist Vernunft nicht etwas Triumphales, sondern prekär.73 Und der Gewalt-affine politische Irrationalismus ist nicht etwas Exotisches, das sich wegprojizieren, hygienisch fernhalten ließe – nach Art der cordons sanitaires gegen europäische Rechtsparteien, als Ersatz für die politische Auseinandersetzung mit ihnen, in den 1990er Jahren; oder nach Art jenes durch Projektion externalisierenden »So sind wir nicht!«, mit dem Österreichs liberaler Bundespräsident 2019 auf das Ibiza-Video reagierte. Das war das Video, auf dem die damalige FPÖ-Parteiführung Machtübernahme-Fantasien jener Art öffentlich werden ließ, wie sie die nunmehrige FPÖParteiführung womöglich bald Wirklichkeit werden lässt.
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Vgl. Kracauers kanonischen Satz: Der Kapitalismus »rationalisiert nicht zu viel, sondern zu wenig.« in: SK: »Das Ornament der Masse« [FZ 9./10.6.1927] OdM, S. 57. Zu seiner Kritik der entfesselten Ratio im Kontext des bürgerlichen Rechtsrucks um 1930 (einer Kritik, deren Spuren sich unacknowledged durch die Dialektik der Aufklärung ziehen) siehe Kap. 4.4. – Ernst Bloch schreibt seinem Freund Kracauer am 1.6.1932, ihrer beider publizistische Tätigkeit sei in Ergänzung wie auch in Unterscheidung zu einer ökonomisch enggeführten, rein Planwirtschafts-orientierten, Zielsetzung des Parteikommunismus zu verstehen – nämlich als eine Erweiterung der Vernunft: »Unser Amt scheint mir, andre Etagen der Vernunft bewohnbar zu machen, nach Maßgabe der überschaubaren Tendenzen.« (Ernst Bloch: Briefe 1903–1975. Erster Band. Frankfurt a.M. 1985, S. 364) Dieser ideologischen Problematik widmet sich Kracauer in seiner Kritik an der selbstgerechten Wirklichkeitsvergessenheit von linksliberalen Message Movies: Diese Hollywood-Filme sind umso sentimentaler, gibt er zu verstehen, appellieren umso mehr ans gute Herz (»the heart«, »good nature counts more than good thinking«), je mehr sie darauf vertrauen, dass die Vernunft ohnehin regiert, dass sie ohnehin keiner Sorge und Pflege, keiner Umstände bedarf, sondern sich von alleine bzw. mit geschichtlicher Notwendigkeit durchsetzt. Das bezeuge einen überkommenen »optimism, with its naive belief in the appeal of reason and the virtual nonexistence of all that withstands it« – auch das ein Fall von Ignoranz gegenüber den »winzigen Katastrophen, aus denen der Alltag besteht« (A, S. 56); und dieser antirealistische Optimismus mache die Aufklärung und Sozialkritik dieser Filme so wirkungslos, so »anemic«. SK: »Those Movies with a Message«, S. 77, 80.
7. Heute: das Nichts nach dem Faschismus, Faschismen nach dem Nichts
Dass »wir« nicht so sind, hinge davon ab, eben darauf nicht zu setzen. (Nicht davon auszugehen, dass »wir« sowieso immun gegen das wären, was Schmuddelnazis oder besoffene Rechtspolitiker in die Welt rufen.) Nicht so zu sein wäre vielmehr die Sache eines Vollziehens von Brüchen: eines Bruchs in Form der Desidentifizierung mit einem sich als gut imaginierenden, patriotisch angerufenen nationalstaatlichen Wir (sprich: sich nicht als decent Austrians zu fühlen, ähnlich den decent Germans, die nach 1945 »So sind wir nicht!« sagten, und die Kracauer daran erinnert hatte: »Hitler came from within.«, siehe oben, Kap. 7.1).74 Gut täte auch ein Bruch in polemischer Orientierung, wie jener, den Laurie Penny in den Raum stellt, wenn sie Vernunft, reason, als zu verteidigende Position markiert; gegen die »emotionale Inkontinenz« weißer Männer (Incels, White Supremacists, Heteronormativitäts-Fanatiker, ressentimentale Libertäre), die jedes Quantum Gerechtigkeit, das ihren habituellen Narzissmus, ihre Selbstentfesselung und ihre Privilegien antastet, mit wehleidigem Selbstviktimisierungs-Geschrei und ultimativ mit Gewalt quittieren. Hier die mitreißenden Abschnitte aus Pennys Kampfschrift von 2022 gegen den Modern Fascism (und im auffälligen Kontrast zu der Gefühlsseligkeit in manchen aktuellen linken Lifestyles): »In this [alt-right] narrative, straight white men are uniquely the victims of the emergence of identity politics.« Und weiter: »These men are not telling it how it is – they are telling it how it feels. In a culture held hostage to the psychic fragility of whiteness and the hysteria of straight masculinity, feelings apparently matter more than objective truth. […] The further the new right drifts from the realm of reason, the more it loses control of its own emotions, the more it insists that its every tremor of feeling be treated as sacred fact.« Ihr Fazit: »toxic masculinity […] has made emotional incontinence a moral good.«75 Every tremor of feeling is sacred: Die Selbstbehauptung männlicher Gefühle über Wirklichkeit und Wahrheit zu setzen, dazu bedarf es nicht notwendig eines groben Machismo à la Trump, Putin oder Bolsonaro. Dazu genügt der glatte Schwiegersohn-Tonfall eines Sebastian Kurz.76 Österreichs Ex-Kanzler schwingt sich dazu auf, das eigene Fühlen über Institutionen demokratischer Konfliktaustragung zu stellen. In einem TV-Interview-Rückblick auf seine
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Zur Desidentifizierung mit einer vorherrschenden Wir-Subjekt-Position vgl. Rancière: Das Unvernehmen, S. 148. Laurie Penny: Sexual Revolution, S. 201, 259f. Um es mit einem Wortspiel aus Guillermo del Toros Pinocchio von 2022 zu sagen, war Kurz weniger Il Duce als Il Dolce.
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Amtszeiten meinte Kurz – jahrelang auf Kriegsfuß mit der institutionellen Gewaltenteilung –, er habe das Parlament »als einen Ort extremer negativer Energie wahrgenommen.« (ZiB2, 14.10.2022) Eso-Energetik enthemmter Exekutivgewalt: Extrem ist hier – wenn etwas, dann – das schlechte Deutsch. 100 Jahre vor diesem Rückblick auf einen rechten Aufstieg begann mit einem Ausblick auf solche Aufstiege Kracauers politische Essayistik, konkret: mit einer Diagnose zu irrationalistisch-esoterischen bürgerlichen Krisen-Ideologien.77 Fünftens und letztens wäre es gut, Menschlichkeit zurückzugewinnen. Zurückzugewinnen von einer Sonntagsredens-Bedeutsamkeit, die Verhältnisse vernebelt. Und sicherlich in einem humanitären Verständnis von Menschlichkeit, wie es durch Strateg*innen der Sozialleistungskürzung und der Festung Europa (oder der »Festung Österreich«: FPÖ-Slogan 2023) nachgerade illegalisiert wird – illegalisiert als Praxis, bald wohl auch als Diskurs. Menschlichkeit ist bei Kracauer »ohne Anführungsstriche« gemeint (wie Bloch über ihn meinte);78 und das heißt, in historische und begrifflich-ideelle Konstellationen gerückt, mit politisierten Zusatzgedanken aufgefasst – als eine Sache und eine Frage von gesellschaftlichen Ordnungen und deren Erstreitung oder Veränderung. So etwa in Kracaues Angestellten-Studie von 1929;79 diese endet mit dem Votum dafür, »daß Menschen die Institutionen ändern.« (A, S. 115) Wohlgemerkt: Kracauer fordert nicht, dass die Institutionen sich ändern oder dass sie geändert werden – das wären letztlich rein institutionell eigendynamische bzw. technokratische oder bürokatische Prozesse, die die Veränderung um ihren 77
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SK: »Die Wartenden« [FZ 12.3.1922] OdM. Kracauer kritisiert darin (S. 109f, 112, 117) u.a. vitalistisches Denken, in dem »das ›Leben‹ als letzte Absolutheit« gesetzt wird, weiters die Anthroposophie, messianische Apokalyptik, »Mystik«, »Sektenbildung«, sowie Zufluchten zu den »Lehren des Ostens« und in »esoterische Zirkel«. In würdigender Auseinandersetzung mit seinem »Arbeitslager«-Text, sowie mit Verweis auf Führungspersonen der Frankfurter Zeitung bzw. auf die aktuellen deutschen Kanzlerdiktaturen schreibt Bloch am 24.9.1932 an Kracauer: »mit der ›Menschlichkeit‹, die Sie ohne Anführungsstriche sind und meinen, machen Reifenberg und bald schon Welter klassenkampffeindliche Geschäfte. Die Zeitung hat das Stichwort von Ihnen aufgenommen und versteht darunter Papens Kultiviertheit (gegen Nazi, aber auch Proleten), Schleichers verbindliche Manieren.« (Bloch: Briefe. Erster Band, S. 371) Kracauer sieht, hier sehr zurückhaltend formulierend, die »Aufnahme richtiger menschlicher Beziehungen« als abhängig von der »Heraufkunft einer gehörigen menschlichen Ordnung«; wobei das eine deutlich andere Ordnung als die gegebene sein muss, da es für ihn unwahrscheinlich ist, dass im herrschenden Wirtschaftssystem »das Menschliche« »gemeint« ist (und nicht, wenn überhaupt, ein bloßer »Nebeneffekt« der Gewinnorientierung) (A, S. 107f).
7. Heute: das Nichts nach dem Faschismus, Faschismen nach dem Nichts
Sinn bringen. Dieser nämlich liegt im menschlichen Moment: in der Eigentätigkeit, im Veränderungshandeln. Ändern ist menschlich.80 Kracauer ist sich dessen bewusst, dass im Institutionen-bezogenen, Gesellschafts-bezogenen Veränderungshandeln das Menschliche stets exponiert ist, in Frage gestellt, sicherlich auch schutzbedürftig. Revolutionen, als Zuspitzungsformen politischen Veränderungshandelns, enthalten Unmenschliches, das ist ihnen (ihren Akteur*innen) ein Problem; Faschismus ist unmenschlich, das ist ihm wesentlich.81 Anders als das antipolitische, liberale, menschelnde oder nihilistische Denken glaubt, tut es dem Menschlichen keinen Abbruch, wenn es an Wahrheiten geknüpft wird, die mit einer »Theorie« und mit einer politisch-ideologischen »Tendenz« bzw. deren Wahrheitsfähigkeit einhergehen. »Menschen [können] sich durchaus darauf beschränken, das Sprachrohr von Wahrheiten zu sein, ohne darum an Menschlichkeit einzubüßen; im Gegenteil.«82 Den Wahrheiten, die das Menschliche tragen, wie dies der eben in den Marxismus eingestiegene Kracauer 1927 schreibt, entsprechen die ideas und causes, von denen der aus dem Marxismus nicht wirklich ausgestiegene (bloß anders formulierende) Kracauer 1948 schreibt: »humanity would be irretrievably bogged down«, das Menschliche wäre am Sand, »if it were unsustained by the ideas mankind breeds in desperate attempts to improve its lot.« (Wie oben zitiert.83 ) Dieses breeding ideas konterkariert jenes andere breeding,
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Kracauers Textschlüsse: Sein Buch-Ende mit den ändernden Menschen hat 1960 ein fernes Echo in der postkolonialen Family of Man am Ende seiner Theory of Film; bzw. ist diese Familiarität der Menschen miteinander etwas, das Kracauer als eine Bezogenheit der Menschen aufeinander (Kontingenz zueinander) charakterisiert, von Indien bis Brooklyn (ToF, S. 311) – ohne dass sie einander dazu besonders gern mögen müssten. (Ist ja in Familien auch nicht so.) Politisches, Allzumenschliches… 1930 schreibt Kracauer: »Wenn es nicht gelingt«, den »Massen« – ihrem »Sehnen« – anstelle faschistischer und nationalistischer Euphorisierung vielmehr »gute, menschenwürdige Ziele zu geben, werden ihre Explosionen fürchterlich sein.« (S.K.: »Der bejubelte Fridericus Rex«, S. 433) – Über die Gewalt der Revolution, der Französischen nämlich, schreibt er: »Die Freiheit führte dieses Volk; darum waren noch seine dunkelsten Ausbrüche von menschlicher Art.« SK: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. [1937] 8, S. 24. Kracauer schreibt dies 1927 über Jack Londons Roman-Dystopie The Iron Heel. SK: »Die eiserne Ferse« [FZ 28.8.1927] 5.2, S. 651. Ebd. auch: »Die Theorie unterbaut das Buch nicht nur, sie spricht sich in ihm aus.« Und: »[N]icht jede Tendenz [ist] eine Tendenz, sondern es gibt auch Wahrheiten, die nur aus Gehässigkeit fälschlich als Tendenz bezeichnet werden […].« SK: »Paisan«, S. 146.
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das Kracauer ebenfalls kurz nach der Niederlage der großen faschistischen Regime diagnostiziert, nämlich das Heranzüchten und Ausbrüten von Angst und Destruktivität im alltäglichen Leben: eine Alltags-Ausbrütung, die sich womöglich politisch ausformen lässt, und zwar zum Alptraum einer Demokratie; und diese ist – nicht nur in den USA – von ihrer ökonomischen Ordnung her out of joint, in Schieflage, ungerecht; ihr Alptraum ist, Kracauers Diagnose nach, eine Faschismus-Ausbrütung, die sich als politische Lösung ausgibt.84 Was geht dagegen an? Konterkariert wird ebendies durch ein Sich-Sammeln um menschliche Ideen, die die Leute haben; das Haben geht hier in beide Bedeutungsrichtungen: Es heißt, dass Ideen nicht ein Besitz der Leute, sondern vielmehr deren Heimsuchung sind; Massen werden heimgesucht durch etwas doch nicht loszuwerdendes Ideelles – das allerdings durch sie und zwischen ihnen, in ihren Interessens-, Not- und Konfliktlagen, entsteht, umgeht, wiederkommt (nicht vom Himmel fällt). Breeding ideas, eingebunden in soziale Verhältnisse und politisch-konflikthafte Instituierungen, in denen Ideen und causes sich auswirken: Das steht, geht, gegen jenes »gar nichts«, das postfaschistische Ordnungen ausbrüten, wenn sie – nämlich ohne dass Menschen Institutionen ändern – so weiter machen; ein Nichts, das manchmal vielleicht faschistisch ausfällt.
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»Everyday life itself breeds anguish and destruction. […] Sinister conspiracies incubate next door, within the world considered normal […].« – »Democracy, with its individual freedom, seems economically out of joint, so that it must resort to makeshifts and breed nightmarish dreams of fascist pseudo-solutions […].« SK: »Hollywood’s Terror Films«, S. 41, 46. (Die NZZ-Übersetzung gibt »incubate« mit ausbrüten wieder.)
Siglen und Verzeichnis der zitierten selbständigen Werke von Siegfried Kracauer
SK
Siegfried Kracauer
1, 3, 5.1, 5.2, 5.3, 5.4, 6.1, 6.2, 6.3, 7, 8
Siegfried Kracauer: Werke in neun Bänden. Berlin: Suhrkamp. Band 1 (2006): Soziologie als Wissenschaft. Der Detektiv-Roman. Die Angestellten. Hg. von Inka Mülder-Bach unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel. Band 3 (2005): Theorie des Films. Hg. von Inka Mülder-Bach unter Mitarbeit von Sabine Biebl. Band 5.1, 5.2, 5.3, 5.4 (2011): Essays, Feuilletons und Rezensionen. Hg. von Inka Mülder-Bach unter Mitarbeit von Sabine Biebl, Andrea Erwig, Vera Bachmann, Stephanie Manske. Band 6.1, 6.2, 6.3 (2004): Kleine Schriften zum Film. Hg. von Inka MülderBach unter Mitarbeit von Sabine Biebl, Mirjam Wenzel. Band 7 (2004): Romane (Ginster; Georg) und Erzählungen. Hg. von Inka Mülder-Bach unter Mitarbeit von Sabine Biebl. Band 8 (2005): Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Hg. von Ingid Belke unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel.
A
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Ado
Theodor W. Adorno, SK: »Der Riß der Welt geht auch durch mich«: Briefwechsel 1923–1966. Hg. von Wolfgang Schopf. Frankfurt a.M. 2008.
AW
SK: Siegfried Kracauer’s American Writings. Hg. von Johannes von Moltke, Kristy Rawson. Berkeley, Los Angeles, London 2012.
CH
SK: From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film. [1947] Princeton 2004.
H
SK: History. The Last Things Before the Last. New York 1969.
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NW
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OdM
SK: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt a.M. 1963.
Straßen
SK: Straßen in Berlin und anderswo. [1964] Berlin 1987.
ToF
SK: Theory of Film: The Redemption of Physical Reality. [1960] Princeton 1997.
TP
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