Film und Kino als Spiegel: Siegfried Kracauers Filmschriften aus Deutschland und Frankreich 9783110705812, 9783110705751

One of the most versatile journalists of the 20th century, Siegfried Kracauer was a passionate cinema-goer who, as a fil

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German Pages 320 [328] Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. Einleitung – Siegfried Kracauer und seine Beschäftigung mit Film
II. Film als Spiegel der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ – Siegfried Kracauer über Karl Grunes Die Straße 1924/1925
III. Film als Spiegel der Gesellschaft – Siegfried Kracauer und die kinobegeisterten „kleinen Ladenmädchen“
IV. Lichtspielhäuser als soziale Spiegel bei Siegfried Kracauer mit einem Exkurs zu Kinos in Gemälden Edward Hoppers
V. Die Dialektik der Aufklärung als Kinderfilmidee – Rationalismuskritik und Schulung der Vernunft in „Dimanche“
VI. Sergei Eisensteins mexikanischer ‚Danse macabre‘ in Siegfried Kracauers „Marseiller Entwurf“ zu einer Theorie des Films 1940/1
VII. Resümee und Ausblick
Farbtafeln
A Verzeichnisse und Abbildungsnachweis
B Weitere Anhänge
C Register
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Film und Kino als Spiegel: Siegfried Kracauers Filmschriften aus Deutschland und Frankreich
 9783110705812, 9783110705751

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Film und Kino als Spiegel

Viola Rühse

Film und Kino als Spiegel Siegfried Kracauers Filmschriften aus Deutschland und Frankreich

Die Druckkosten wurden freundlicherweise von der Axel Springer Stiftung bezuschusst. Die vorliegende Studie stellt eine an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig im Jahr 2020 a­ ngenommene Dissertation zur Erlangung des Grades eines „Doctor philosophiae“ (Dr. phil.) dar.

ISBN 978-3-11-070575-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-070581-2 Library of Congress Control Number: 2021951800 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Lili Kracauer, Ein Kino, Paris, 16.1.1935, Fotografie, 14 × 9 cm, Marbach, Deutsches Literaturarchiv. Cover: Katja Peters, Berlin Satz: Andreas Eberlein, aromaBerlin Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com

Inhalt Vorwort 9 I. Einleitung – Siegfried Kracauer und seine Beschäftigung mit Film 11 Kracauers Filmpassion 11 Allgemeine Tendenzen der Kracauer-Forschung 13 Kracauers Schriften zum Film im Spiegel der Zeit 16 Eine neue Fokussierung von Kracauers Filmschriften bis 1941 17 Film als Spiegel 20 Kurzer Überblick über die Kapitel II–VII 22

II. Film als Spiegel der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ – 27 Siegfried Kracauer über Karl Grunes Die Straße 1924/1925 Die Straße als „roter Faden“ in Kracauers Œuvre 27 Die Straße – Ein konservatives „Aufklärungstraktätchen“ in moderner Manier 30 Kracauers Rezensionen von 1924 37 Kracauers Bezugnahme auf Die Straße 1925 47 „Der einsame Wanderer“ im 21. Jahrhundert – Transzendentale 59 Obdachlosigkeit in dem Film La grande bellezza

III. Film als Spiegel der Gesellschaft – Siegfried Kracauer 65 und die kinobegeisterten „kleinen Ladenmädchen“ Kracauers sozialkritische Filmanalyse 65 Filmhelden als „Propagandachefs der Händler ihrer Nationen“ 67 Satire für kluge Köpfe anstatt für „dumme Herzchen“ 74 Kracauers innovative kritisch-soziologische Deutungsperspektive 79 im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Filmbesprechungen Die zeitgenössische Sicht auf „kleine Ladenmädchen“ 88 Eigene Äußerungen der „Ladenmädchen“ 96 Kracauers marxistische Kritik an den patriarchalen bürgerlichen 97 Familienidealen und dem bourgeoisen Frauenbild Kracauers weitere Auseinandersetzung mit weiblichen Angestellten 98 „Shopgirls’ delight“ heute 100

IV. Lichtspielhäuser als soziale Spiegel bei Siegfried Kracauer 105 mit einem Exkurs zu Kinos in Gemälden Edward Hoppers Kracauer und die Lichtspielpaläste in Berlin 1926 105 Kracauer im Tageskino in der Berliner Münzstraße 1932 129 Exkurs: Edward Hoppers Kinobilder aus den 1930ern – Desillusionierte 161 Platzanweiserinnen und melancholische Filmpalastnostalgie Filmpaläste im 21. Jahrhundert 178

V. Die Dialektik der Aufklärung als Kinderfilmidee – 187 Rationalismuskritik und Schulung der Vernunft in „Dimanche“ Kracauer als Ideengeber und Autor für den Film 187 Kracauers Filmidee „Dimanche“ 189 „Dimanche“ als Film für Kinder 192 „Dimanche“ als Film für Erwachsene 200 „Dimanche“ als unrealisiertes Exilprojekt 213 Ein Sonntagsausflug im heutigen Kinderfilm – Der experimentelle Kurzfilm 219 Sounds of Nature (2013)

VI. Sergei Eisensteins mexikanischer ‚Danse macabre‘ in Siegfried 223 Kracauers „Marseiller Entwurf“ zu einer Theorie des Films 1940/1 Kracauers Beschäftigung mit Film im französischen Exil und auf dem Weg 223 in die USA Eisenstein in Mexiko 229 Kracauer und Eisensteins Szenen des Día de Muertos 236 Der Día de Muertos im zeitgenössischen Film 245

VII. Resümee und Ausblick 255 Kracauers Filmschriften aus Deutschland und Frankreich 255 Kracauers filmisches Realismusverständnis im digitalen Zeitalter 269

Farbtafeln 271 A Verzeichnisse und Abbildungsnachweis 285 A.1 Abkürzungsverzeichnis 285 A.2 Literaturverzeichnis 286 A.3 Abbildungs-, Tafel- und Textnachweis 316

B Weitere Anhänge 317 B.1 „Paul ist leichtsinnig…“ von Erich Preuße 317 B.2 „Dimanche [Sonntag]“ von Siegfried Kracauer 319

C Register 322

Vorwort

Die vorliegende Studie stellt eine an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig im Jahr 2020 angenommene Dissertation zur Erlangung des Grades eines „Doctor philo­sophiae“ (Dr. phil.) dar. Zahlreiche Personen und Institutionen haben mich bei der Arbeit an der Dissertation unterstützt. Ich möchte mich sehr bei Dr. Friedrich Tietjen für die inhaltliche Betreuung, Prof. Dr. Anna Schober-de Graaf für die Übernahme des Zweitgutachtens, Frances Kind für ihre vielen organisatorischen Bemühungen sowie Prof. Dr. Beatrice von Bismarck und Prof. Dr. Dieter Daniels für die Abnahme des mündlichen Qualifikationsnachweises und der Disputation während einer Corona-Welle bedanken. Zu Dank bin ich darüber hinaus Dr. Meinolf Trudzinski sowie Prof. Dr. Oliver Grau, Wendy Jo Coones M.Ed., Mag. ­Martina Schmied, Cornelia Zierlinger, Verena Wagner, Dr. Thomas Veigl, Mag. Michaela Seiser, Mag. Sebastian Haller, Dr. Florian Wiencek, Philipp Hoffmann, Mag. Stefanie Bierbaumer, Mo Daschütz, Prof. Dr. Viktoria Weber, Dr. Eva Stöckler und weiteren KollegInnen an der ­Donau-Universität verpflichtet. Mit den TeilnehmerInnen der bildwissenschaftlichen Studienprogramme an der Donau-Universität gab es manch schönen Austausch zu Aspekten der Dissertation. Meine Beschäftigung mit Siegfried Kracauer hat während eines Erasmus-Semesters Prof. Dr. Friedrich Teja Bach an der Universität Wien angeregt. Bei der Themenwahl der Dissertation war der Rat von Prof. Dr. Christoph Türcke wertvoll. Kapitel V ist durch Prof. Dr. Hartmut Freytags Lehrveranstaltungen an der Universität Hamburg zu Totentänzen inspiriert worden; Dr. Jessica Nitsche hat einen Teil aus diesem Kapitel freundlicherweise in einen Sammelband aufgenommen. Großer Dank geht zudem an meine Mutter, Bernhard Kastner und Familie sowie den Hamburger Franziskanern für die lange Unterstützung. Weiterhin bedanken möchte ich mich bei FreundInnen und UnterstützerInnen – u. a. bei Irmgard Pekarz, Lyza ­Sahertian, Alissa Lange, Anna Jun, Mila Lashkouskaya, Doris Slabschie, Ivana Urbanová, Jeong-Ho Roh, Stefan Schulze, David Assatiani, Sadiq Arbaoui, Sharokh Raeisi, Ximena Useche, Volker Kirschner-Kross, Alexandra Klei, Annika Wienert, Daniela Berendt und Franziska Götze.

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Vorwort

Insbesondere die MitarbeiterInnen des Deutschen Literaturarchivs Marbach  – u. a. ­Sabine Brtnik, Claudia Gratz und Elke Tietz-Allmendinger – waren bei der Forschungsarbeit sehr behilflich. Helmut Maißer und Stefanie Moser haben an den Universitätsbibliotheken in Wien und Krems sehr geduldig zahlreiche Fernleihwünsche erfüllt. Simon Weber sowie ­Tobias Bargmann haben mir sehr informative Materialien übermittelt. Dr. Jan Leichsenring, Mag. Bernadette Schiefer sowie Mag. Bernhard Kastner und Gabriele Kastner haben Auszüge der Arbeit freundlicherweise vor dem Druck gelesen bzw. lektoriert. Mehrere Institutionen haben generös und unkompliziert Abbildungsmaterialien zur Verfügung gestellt. Die Axel Springer Stiftung hat mit einem Zuschuss die Veröffentlichung dieses Buches maßgeblich erleichtert. Gewidmet ist die Arbeit meinen Eltern.

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I. Einleitung – Siegfried Kracauer und seine Beschäftigung mit Film Ich verzichte darauf, einen Generalüberblick zu geben, der doch die genaue Betrachtung nicht ersetzen kann, und nenne statt dessen lieber ein paar Hauptthemen und den einen oder anderen Gegenstand, der sofort ins Auge fällt.1 – Siegfried Kracauer

Kracauers Filmpassion Siegfried Kracauer (1889–1966) war nicht nur einer der vielseitigsten Publizisten des 20. Jahrhunderts, sondern auch ein passionierter Kinogänger.2 Sein Filmhobby professionalisierte er als Filmkritiker und Filmtheoretiker. Darüber hinaus war er als Kultur- und Geschichtsphilosoph, Soziologe, Romancier sowie Journalist mit einem sehr breit gefächerten Themengebiet tätig.3 Erzogen im assimilierten Geist des Reformjudentums absolvierte er erst ein Architekturstudium mit Doktorat. Da er unter einer schweren Sprachbehinderung litt, schien Kracauer diese Berufswahl ein sicheres Auskommen zu ermöglichen.4 Doch er war nur kurz als Architekt angestellt und widmete sich dann philosophischen und soziologischen Abhandlungen. Ab 1920 arbeitete er 13 Jahre als Journalist für die Frankfurter Zeitung, für die er 1930 auch die Leitung des Berliner Feuilletons übernahm.5 Als „Jude und Linksmann“ musste er 1933 vor den Nazis nach Frankreich flüchten, wo er sich jedoch nicht als fest angestellter Journalist etablieren konnte. Er publizierte nur als freier Mitarbeiter einige Artikel in Zeitungen und Magazinen. Darüber hinaus verfasste er eine Biographie zu Offenbach und begann mit einem Buchprojekt zu Geschichte und Ästhetik des Films. 1941 emigrierte er in

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Kracauer 1996, S. 115. Stalder 2003, S. 12. Am Ende seines Lebens war es Kracauer besonders wichtig, in der Öffentlichkeit nicht nur als ein „FilmMann“ vorgestellt zu werden, „sondern eher als Kulturphilosoph[], oder auch als Soziologe[] und als ein[] Poet dazu.“ – Siegfried Kracauer, Brief an Wolfgang Weyrauch, 4. Juni 1962 (Nachlass Siegfried Kracauer, DLA); siehe auch Belke/Renz 1988, S. 118f. Breidecker 1996, S. 141. Abgesehen von einem isolierten Beitrag der Vorkriegszeit verfasste Kracauer ab 1920 erste Texte für die FZ. Ab Januar 1921 erhält er öfters Aufträge als Lokalreporter und wird im August 1921 als fester Mitarbeiter eingestellt (Belke/Renz 1988, S. 34f.).

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I. Einleitung

die USA, wo er neben Auftragsarbeiten für verschiedene Institutionen u. a. zwei wichtige Filmmonographien und eine geschichtsphilosophische Studie vorlegte.6 Mit Film setzte sich Kracauer insgesamt über vier Jahrzehnte in Publikationen auseinander. In den ersten Jahren seiner Tätigkeit für die FZ berichtete er nur sporadisch über Filmproduktionen, ab 1924 regelmäßig. Bis 1926 schrieb er circa einmal pro Woche über Film, anschließend sogar mehrmals pro Woche.7 Insgesamt hat ein Drittel seiner thematisch ansonsten sehr vielfältigen Zeitungsartikel aus der Zeit der Weimarer Republik den Film zum Gegenstand.8 Er behandelte in diesen Beiträgen 740 nationale und internationale Filmproduktionen sowie weitere mit der Kinematographie verbundene Themen wie Kinoarchitektur, Starwesen, einzelne Filmschauspieler, Bücher über den Film, Filmstudios und Kulissen, technische Innovationen und ästhetische Fragen. Auch etablierte er die soziologische Filmanalyse in Deutschland, die seine Reputation als einen der bedeutendsten Filmkritiker in Deutschland förderte.9 Bezeichnend für sein Selbstverständnis als Filmkritiker Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre ist sein Diktum: „Kurzum, der Filmkritiker von Rang ist nur als Gesellschaftskritiker denkbar.“ Dieses äußerte er anlässlich einer Frankfurter Tagung der Lichtspieltheater-Besitzer im Mai 1932.10 Aufgrund ihrer Bedeutung wurden einige seiner Aufsätze zum Film zum Beispiel auch in französischen und österreichischen Magazinen wieder abgedruckt. Im französischen Exil war er als Filmkorrespondent für die Neue Zürcher Zeitung und die Basler National-Zeitung tätig. In dem ersten der in den USA entstandenen Bücher über Film – From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film– analysiert er die deutschen Kinoproduktionen in Zusammenhang mit ihren soziopolitischen Bedeutungen.11 In seiner Theory of Film. The Redemption of Physical Beauty behandelt er den Film als Medium unter besonderer Berücksichtigung seiner spezifischen Affinitäten zur Realität.12 Diese beiden Monographien wurden rege diskutiert und gehören heute zum filmwissenschaftlichen Kanon.13 Kracauers lebenslanges Interesse an Kinematographie war philosophisch und soziologisch bedingt. Der Film war in der Weimarer Republik das modernste Bildmedium und zog die Massen an. Mitte der 1920er Jahre gingen beispielsweise ein bis zwei Millionen Menschen in ca. 3.600 Kinotheatern in Deutschland täglich ins Kino.14 Kracauer widmete  6 Für Rezensionen und Essays blieb Kracauer in den USA nur noch wenig Zeit – Mülder-Bach 2004, S. 579.  7 Später 2016, S. 148, S. 204.  8 Von Kracauers ca. 1.800 Artikeln für die FZ thematisieren ungefähr 580 Filmthemen – Michael 1993, S. 7; siehe auch Hansen 2012, S. 3f.  9 Die Mehrzahl der Schriften Kracauers zum Film wurde ediert – siehe SKW 6. 10 Kracauer 1974, S. 11 (FZ 23.5.1932). 11 Kracauer 1947. 12 Kracauer 1960. 13 Mehrere von Kracauers frühen Filmtexte haben international noch mehr Sichtbarkeit durch die Aufnahme in einen wichtigen englischsprachigen Reader zum Film in der Weimarer Republik bekommen – Kaes et al. 2016. 14 Bei einer täglichen Vorstellung waren es 1925 in den Saisonmonaten (d. h. nicht im Sommer von Juni– September) ca. eine Million Kino-Besucher, bei zwei Vorstellungen am Tag zwei Millionen; mehr Vorstellungen fanden z. B. an den Sonn- und Feiertagen statt und in den Großstädten spielten die Kinos täglich und mehr Vorstellungen als in den kleineren Städten (Jason 1925, u. a. S. 73, S. 36; Später 2016, S. 143).

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Allgemeine Tendenzen der Kracauer-Forschung

sich dem Film, da dieser ihm Erkenntnis über die entfremdete Moderne ermöglichte, die aufgrund ihrer Desintegriertheit sonst schwer fassbar war.15 Zunächst hatte er auch noch die Hoffnung, dass das Kino als alternative öffentliche Sphäre emanzipatorisches Potential entfalten könnte.16 Mit dem Kinomedium solle u. a. die eigene Wirklichkeit der Masse erfahrbar gemacht werden. Dies erfüllte sich jedoch nicht. Kracauers dadurch motivierte ideologiekritische Filmkritik zeichnet sich durch sehr differenzierte Analysen der Filminhalte und eine genaue Kenntnis der ästhetischen Techniken aus.17 Mit seiner Theory of Film repräsentiert Kracauer neben André Bazins Schriften die realistische Tradition der klassischen Filmtheorie.18 Kracauers Realismuskonzept, das seiner komplexen materialen Filmästhetik zugrunde liegt, wurde dabei häufig zu Unrecht als naive Mimesisanschauung unterschätzt.19

Allgemeine Tendenzen der Kracauer-Forschung Die methodische und thematische Vielseitigkeit, der Umfang von Kracauers Schriften, aber auch sein Exil stellen Herausforderungen für die Forschung dar.20 Zudem war er u. a. wegen seiner Sprachbehinderung nicht länger einer Universität zugehörig gewesen.21 So existiert heute kein festes universitär verankertes Zentrum der Kracauer-Forschung. Die Rezeption findet in verschiedenen Disziplinen – neben Literatur-, Geschichts-, Kultur- und Filmwissenschaften auch Philosophie, Soziologie, Urban Studies – und mehreren Ländern statt. Die meisten Forschungsbeiträge kamen bislang aus Amerika, Deutschland, Österreich, Frankreich und England. Im Nachkriegsdeutschland setzte sich Kracauers langjähriger Freund Theodor Wiesengrund Adorno für Kracauers Rezeption ein.22 Er unterstützte z. B. die Publikation von zwei Essaybänden beim Suhrkamp Verlag, vergab Dissertationsthemen zu Kracauer und schrieb eine Geburtstagslaudatio sowie später einen Nachruf. Diese beiden Texte prägten einen einseitigen und teilweise unvorteilhaften Blick, da Adorno Kracauers spezielle Methoden ver-

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Hansen 2012, S. 5; Brodersen 2001, S. 57f. Hansen 2012, S. 55. Witte 1974, S. 274. André Bazins Realismus-Anschauung unterscheidet sich jedoch von der Kracauers – Bazin (1958–1962) 2004. Später 2016, S. 214. Aufgrund der sehr weit verzweigten Kracauer-Forschung werden bei der folgenden Charakterisierung nur einige Schlaglichter gesetzt und es wird auf wichtige Tendenzen verwiesen (siehe dazu ebenfalls die Analyse von Warr 2013, S. 53–107). Der Forschungsstand zu den Themenbereichen dieser Arbeit wird am Anfang der einzelnen Kapitel dargelegt. Wegen seines Handicaps war für Kracauer eine Lehrtätigkeit nicht in Frage gekommen. Darüber hinaus war seine Beziehung zum Institut für Sozialforschung problematisch (siehe u. a. Später 2016, S. 373– 393). In den USA war er von 1952–1958 Research Director und Associate des Bureau of Applied Social Research der Columbia University (Belke/Renz 1988, S. 101; Anon. 1966). Die nicht unproblematische Freundschaft zwischen Kracauer und Adorno lässt sich anhand des 2008 publizierten Briefwechsels nachvollziehen – AKB. Zu dieser siehe auch von Moltke 2009.

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I. Einleitung

kannte bzw. nicht wertschätzte.23 Adornos Perspektive bestimmte zunächst sehr Kracauers Wahrnehmung als Randfigur der Frankfurter Schule. Zudem bestand in der Filmwissenschaft ein größeres Interesse an Kracauer. Mit Karsten Witte sollte ab 1971 auch ein Filmwissenschaftler die Schriften Kracauers herausgeben. Allerdings ging die Edition nur stockend voran und wurde nicht abgeschlossen.24 In den 1980er Jahren förderte die kulturwissenschaftliche Neuausrichtung der Geisteswissenschaften eine Auseinandersetzung mit Kracauer. Angesichts seiner interdisziplinären Ausrichtung und der Breite seiner Interessen war Kracauer hierfür als historische Leitfigur prädestiniert. Er sollte jedoch nicht so bekannt wie z. B. Walter Benjamin werden, der zeitgleich mit ihm mehr Aufmerksamkeit erhielt. Die Resultate wichtiger Grundlagenforschung wurden publiziert, u. a. erschien Inka Mülder-Bachs Studie zu Kracauers Frühschriften und Arbeiten der Weimarer Republik, in der insbesondere die philosophischen Hintergründe erhellt wurden. Anlässlich Kracauers 100. Geburtstag erarbeitete Thomas Y. Levin eine detaillierte Personalbibliographie. Ingrid Belke und Irina Renz erstellten eine Lebenschronik mit vielen kundig ausgewählten und aussagekräftigen Zeitzeugnissen, die eine in Marbach und New York gezeigte Ausstellung begleitete.25 Diese Jubiläumsinitiativen, aber auch der weitere internationale Bedeutungszuwachs der „cultural studies“ führte ab den 1990er Jahren zu einer regelrechten „Kracauer-Renaissance“ in unterschiedlichen Disziplinen und einer genaueren Erforschung der vielen Facetten von Kracauers Werk.26 Bedeutsam war dafür die Veröffentlichung von weiteren Texten Kracauers. In den nächsten beiden Jahrzehnten erschienen zunächst zwei Bände mit Essays in der Schweiz sowie Kracauers Architekturdissertation und mehrere Ausgaben von Briefwechseln.27 Darüber hinaus wurde eine neue und umfangreiche Werkausgabe beim Suhrkamp Verlag von 2004–2012 publiziert. Zu wichtigen Werkaspekten, die zuvor meistens in kürzeren Aufsätzen behandelt worden waren, erschienen nun eigene Monographien.28 Ein Forum für die Präsentation der vielen Forschungsarbeiten boten mehrere aus Konferenzen hervorge-

23 Stalder 2003, S. 9–11. 24 Von der ursprünglich auf neun Bände konzipierten Ausgabe der „Schriften“ Kracauers erschienen nur sieben (SKS 1–5 und 7–8). Einige Publikationen Kracauers sind zudem als Einzelausgaben publiziert worden und wurden so bekannter. 25 Levin 1989; Belke/Renz 1988. – Zuvor war auch Kracauers Briefwechsel mit Walter Benjamin vom Deutschen Literaturarchiv Marbach herausgegeben worden (Benjamin 1987). Anlässlich des 100. Geburtstags von Kracauer wurden zudem zwei Tagungen in Weingarten und New York veranstaltet (Band 1999, S. 8) 26 Der Ausdruck „Kracauer-Renaissance“ wurde u. a. auf der Buchumschlag-Rückseite der englischen Übersetzung von Kochs Einführung in Kracauers Werk verwendet – Koch 2000, hinteres Cover. 27 Kracauer 1996; ders. 1997 und (1915) 1997; Kracauer/Panofsky 1996; Asper 2003; Löwenthal/Kracauer 2003, AKB. 28 SKW 1–9. – U. a. setzten sich in Monographien Helmut Stalder und Henri Band mit Kracauers journalistischen Arbeiten aus der Zeit der Weimarer Republik auseinander (Band 1999; Stalder 2003), Claudia Krebs behandelte Kracauers Beziehung zu Frankreich (Krebs 1998), Dirk Oschmann Kracauers Romane (Oschmann 1999) und Henrik Reeh dessen Straßentexte (Reeh 2004). Tobias Korta untersuchte Kracauers Geschichtskonzeption im Vergleich zu Walter Benjamin (Korta 2001) und Olivier Agard Kracauers Kritik der Moderne (Agard 2000).

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Allgemeine Tendenzen der Kracauer-Forschung

hende Sammelbände.29 Darüber hinaus entstanden drei kompakte Werkeinführungen, die Interessierten den Zugang zu Kracauer erleichtern.30 Die Wertschätzung Kracauers führte Anfang der 2010er Jahre zu der Umbenennung eines Platzes in Berlin-Charlottenburg.31 An der Goethe-Universität in Frankfurt werden zudem seit 2011 „Kracauer Lectures in Film and Media Theory“ veranstaltet.32 2013 stand im Mittelpunkt des Literatur-Festivals „Frankfurt liest ein Buch“ Kracauers erster Roman Ginster aus dem Jahr 1928.33 Seit demselben Jahr wird ein Preis für die beste Filmkritik-Auszeichnung unter seinem Namen in Deutschland vergeben.34 Neben der größeren öffentlichen Anerkennung Kracauers ist diese Dekade in der Forschung durch Rückschau, Revisionen und Aufarbeitung weiterer, bislang wenig berücksichtigter Bereiche geprägt.35 Jörg Später integrierte in seiner 2016 erschienenen, sehr ausführlichen intellektuellen Biographie viele Forschungsergebnisse der letzten Dezennien.36 Bedeutsam war zudem das Erschließen von neuen Kontexten für Kracauers Arbeiten aus der Zeit des amerikanischen Exils z. B. von Johannes von Moltke und Stephanie Baumann.37 Intensiver erforscht wurden zudem beispielsweise die Filmideen oder die Fotografien im Kracauer-Nachlass, die bislang sehr wenig Aufmerksamkeit erhalten haben.38 Einen Überblick über die jüngeren Forschungsarbeiten und -interessen boten 2016 anlässlich des 50. Todestags von Kracauer zwei Symposien in Wien und ein Sammelband, der leicht verspätet 2017 erschien.39 29 Siehe z. B. Despoix/Perivolaropoulou 2001 (basierend auf einem Kolloquium 1996 in Paris); Despoix/ Schöttler 2006 (hervorgegangen aus einem Kolloquium 2003 in Paris); Grunert/Kimmich 2009 (zurückgehend auf eine Tagung in Marbach). – Mehrere Konferenzbeiträge einer Tagung in Birmingham 2002 wurden fünf Jahre später in der Zeitschrift New Formations publiziert (McCracken/Glover 2007), die Vorträge einer Konferenz im Dartmouth College 2008 wurden in Culture in the Anteroom: The Legacies of Siegfried Kracauer (Gemünden/Moltke 2012) veröffentlicht. 30 Traverso 2006, Brodersen 2001 und Koch 1996 (Kochs Einführung in Kracauers Werk wurde auch ins Englische übersetzt – Koch 2000). 31 CD [Kürzel] 2010. – Zu einer Kritik der Inschrift siehe Kaes 2012, S. 239 (mit Anm. 7). 32 Goethe-Universität 2011–2019. 33 Frankfurt 2013. 34 Siehe den Bericht von der ersten Verleihung des Siegfried Kracauer Preises 2013 – VdFk 2013. 35 2013 hatte Nick Warr noch den Eindruck einer „short lived Kracauer renaissance“, der sich jedoch in den weiteren Jahren nicht bestätigt hat – Warr 2013, S. 84. 36 Später 2016. 37 Baumann 2014; von Moltke 2016. – Im Gegensatz zur früheren Forschung sieht von Moltke Kracauers Exil nicht als eine extraterritoriale Sphäre an, sondern untersucht Kracauers Auseinandersetzung mit amerikanischen Wissenschaftlern. Von Moltke hat zuvor auch Kracauers Essays aus dem amerikanischen Exil in der englischen Fassung mit herausgegeben – Kracauer 2012. Zu den weiteren wichtigen Monographien der 2010er Jahre gehören Gilloch 2015 und Agard 2010. 38 Perivolaropoulou 2018; Zinfert 2014. 39 Der Sammelband wurde von Jörn Ahrens, Paul Fleming, Susanne Martin und Ulrike Vedder publiziert (Ahrens et al. 2017). Das erste, von Sabine Biebl, Helmut Lethen und Johannes von Moltke konzipierte Symposium „Errettung oder Erlösung der Wirklichkeit? Film, Geschichte und Politik bei Siegfried Kracauer“ in Wien fand vom 9.–11. März 2016 am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften statt. Das zweite wurde von Drehli Robnik und Vrääth Öhner am 11. und 12.11.2016 u. a. in Verbindung mit dem Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien zu Kracauers Filmschriften mit dem Titel „Wartung und Erwartung. Wahrnehmungen des Films / Wendungen zu

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I. Einleitung

Kracauers Schriften zum Film im Spiegel der Zeit Im amerikanischen Exil gewann Kracauer vor allem mit seinen beiden Büchern über Film öffentliche Aufmerksamkeit und Renommee.40 Allerdings stießen seine soziologischen und philosophischen Ansätze auch auf viel Unverständnis, da man in den USA mit seinen theoretischen Hintergründen nicht vertraut war.41 In Amerika wurde From Caligari to Hitler für seine scheinbare Top-down-Soziologie und die teleologische Argumentation im Zusammenhang mit der Hauptthese kritisiert, dass der deutsche Film von 1918–1933 die in den Nationalsozialismus einmündenden psychologischen Dispositionen der deutschen Nation reflektiere. Kracauers Argumentation war jedoch sehr nuanciert und basierte auf vielen Einzelanalysen.42 Seine Theory of Film würdigte z. B. Rudolf Arnheim als „most intelligent book ever written on the subject of the film“.43 Eine sehr negative und nachwirkende Kritik übte jedoch die amerikanische Filmkritikerin Pauline Kael, die sich u. a. an der „German pedantry“ stieß.44 Ungünstig war zudem, dass sich Kracauers Publikationen der Generierung einer einfach einsetzbaren und verständlichen Methode widersetzen.45 In Amerika fungierte seine Theory of Film in den 1970er und 1980 Jahren als „Prügelknabe“ für die Filmwissenschaft mit ihrem Verdruss über Realismus.46 Sie galt als überholt und wurde nicht sehr viel rezipiert.47 In Deutschland kam From Caligari to Hitler zuerst in einer gekürzten und entpolitisierten deutschen Übertragung heraus, in der laut Kracauer die wichtigsten Analysen fehlten.48 Sie erhielt von jungen Filmkritikern trotzdem viel Aufmerksamkeit. Denn nachdem Kracauer und andere wichtige Filmpublizisten 1933 emigrieren mussten oder die Nazis ihnen die Kritikertätigkeit untersagten, war der Tenor der Rezensionen apologetisch und euphemistisch. Die deutsche Filmberichterstattung war somit gleichgeschaltet worden.49 Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Filmkritik zuerst feuilletonistisch oder literarisch-impressionistisch ausgerichtet.50 Für die Etablierung einer avancierteren ideologiekritischen Filmpublizistik orientierte sich die Gruppe um die ab 1957 erscheinende Zeitschrift Filmkritik daher an Kracauer. Da­ rüber hinaus rezipierte sie Medientexte von Walter Benjamin und Schriften der Frankfurter

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­ ra­cauer“ organisiert. Die Tagungsbeiträge gingen auch in Sammelbände ein (Biebl et al. 2019, Groß et K al. 2018). Darüber hinaus wurde Kracauer in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg auch früh in der Soziologie wieder rezipiert – Stalder 2003, S. 9. Koch 2000, S. 3. Gemünden/Moltke 2012b, S. 8f. Arnheim 1963, S. 291. – Arnheim übte jedoch auch Kritik an Kracauers Ausführungen zum Realismus. Kael (1962) 1966, S. 244. Warr 2013, S. 22. Stam 2000, S. 77; siehe auch Gemünden/Moltke 2012b, S. 9. Tudor 1977, S. 79. Siegfried Kracauer, Brief an Ernst Bloch vom 12.10.1959 (Bloch 1985, S. 393). – Erst 1979 erschien eine vollständige und korrekte Übersetzung von From Caligari to Hitler ins Deutsche (SKW 2). Witte 1974, S. 267. Prinzler 1987, S. 39.

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Eine neue Fokussierung von Kracauers Filmschriften bis 1941

Schule.51 Die deutsche Übertragung der Theory of Film wurde erst in den 1970ern mehr z. B. von Filmschaffenden wie Wim Wenders in Bezug auf den Begriff der Erfahrung wahrgenommen.52 In Amerika versuchte ab den 1980ern ein Kreis von WissenschaftlerInnen um die Zeitschrift New German Critique – darunter Miriam Hansen, Gertrud Koch sowie Karsten Witte – Kracauers Filmschriften als ein durch den Nationalsozialismus nicht in Misskredit geratenes Modell für die Filmkritik zu etablieren. Dies erlaubte einerseits, die deutsche Filmtheorie zu rehabilitieren, andererseits konnte man sich so von den sehr durch französische TheoretikerInnen beeinflussten anglo-amerikanischen „film studies“ absetzen.53 Der Fokus wurde gerade auf die frühen Texte Kracauers gelegt, mit denen die scheinbar naive Realismusvorstellung in seinem Spätwerk neu kontextualisiert wurde. Um die Unterschiede zwischen den Arbeiten aus der Weimarer Republik und den in den USA entstandenen zu erklären, wurden beispielsweise die Konzepte von Trauma und Exil eingebracht.54

Eine neue Fokussierung von Kracauers Filmschriften bis 1941 Mehrere bedeutende jüngere Forschungsarbeiten unterziehen Kracauers amerikanische Filmschriften und ihre Rezeption einer Revision bzw. erweitern das Verständnis.55 In dieser Studie stehen dagegen ausgewählte Schriften Kracauers zum Film aus der Zeit der Weimarer Republik und seines französischen Exils im Mittelpunkt. Kracauers Filmschriften bis 1941 stellen nicht nur wichtige Grundlagen seiner beiden amerikanischen Monographien, sondern auch wichtige filmgeschichtliche und kulturhistorische Zeugnisse der Weimarer Republik und ihrer Kinokultur dar. Die Veränderungen aufgrund der Digitalisierung in den letzten Jahren bei der Produktion, Distribution und Rezeption von Filmen vergrößerten das Interesse an dem Kino und der Filmpublizistik vor dem Zweiten Weltkrieg. Dadurch soll ein Bewusstsein für Kontinuitäten als auch für Veränderungen unterstützt werden.56 Für eine umfassende Kontextualisierung und Aktualisierung war es notwendig, eine gezielte Auswahl der Themenbereiche aus den Filmschriften zu treffen. Es werden neue Deutungen für noch wenig bearbeitete Werkbereiche wie die Filmideen Kracauers vorgestellt. Seit den 1980er Jahren dominierende Deutungsansätze z. B. zu Kracauers Sicht auf die weiblichen Zuschauer werden zudem einer Revision unterzogen. Einige wichtige Texte und Aspekte der Filmschriften Kracauers wie beispielsweise seine Auseinandersetzung mit dem Tonfilm mussten unberücksichtigt bleiben, sind jedoch von anderen Wissenschaftlern in den

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Agard 2000, S. 283. Kracauer 1964b; Rentschler 2012. Warr 2013, S. 57. Ebd., S. 13. Siehe z. B. Moltke 2016; Gilloch 2015 (insbesondere Kapitel 6 und 8); Rentschler 2012. Gemünden/Moltke 2012b, S. 13.

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I. Einleitung

letzten Jahren eingehender behandelt worden.57 Bei der Auswahl der Untersuchungsmaterialien wurde auch darauf geachtet, dass die Vielfalt von Kracauers Textgenres, die nicht nur sein ganzes Œuvre, sondern auch den Werkbereich der Filmschriften bestimmt, deutlich wird.58 So werden Filmrezensionen, Filmarchitekturbesprechungen, Filmessays, Filmideen, ästhetische Abhandlungen mit Filmexempeln und Vorarbeiten zu einer längeren filmhistorischen/-ästhetischen Abhandlung behandelt. Viele dieser Texte zeichnen sich durch kunstvolle Rhetorik und Satire aus. Durch die neue Edition der Werke wurde eine Vielzahl bislang noch nicht wieder publizierter Arbeiten leicht verfügbar gemacht.59 Ausgewählt wurden von diesen bekanntere, aber auch unbekanntere Texte zum Film. Zwei Kapitel widmen sich Arbeiten Kracauers aus dem französischen Exil, die bislang erst wenig beachtet worden sind. Sie sind jedoch bedeutsam in der Exilfilmgeschichte, die in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit erhält. Für meine Analyse habe ich eine kulturhistorische Perspektive anstatt einer primär filmwissenschaftlichen Fragestellung gewählt. Neue Erkenntnisse sollen mit einer interdisziplinär ausgerichteten bildwissenschaftlichen Methodik in enger Verbindung mit Film- und Literaturwissenschaften sowie Kulturgeschichte ermittelt werden. Bildwissenschaften haben sich in den letzten Jahren verstärkt mit Filmthemen auseinandergesetzt.60 Für die wissenschaftshistorische Auseinandersetzung mit Kracauers Schriften sind sie nicht nur wegen des Gegenstandsbereichs der Behandlung von Bewegtbildern sinnvoll, sondern auch methodisch. Denn Kracauer ist ein stark visuell ausgerichteter Intellektueller und zeichnet sich durch ein sehr anschauliches Denken aus, das so noch besser wahrgenommen werden kann.61 Mehrere der behandelten Texte Kracauers weisen eine Nähe zu dessen poetischen Denkbildern auf und sind erhellend für das Verständnis visueller Zeugnisse aus Hochkunst und Massenkultur. In dieser Studie wird dies mit der Einbindung z. B. von Fotopostkarten, Magazin- und Zeitungsillustrationen, Zigarettensammelbildchen, Privat- und Arbeiterfotografien sowie Gemälden der Weimarer Republik und die Berücksichtigung der Ikonographie des Danse macabre verdeut-

57 So hat sich beispielsweise mit Kracauers Behandlung des Tonfilms auch Theodore F. Rippey auseinandergesetzt (Rippey 2012). – In meiner Arbeit wird eine Filmidee Kracauers aus den 1930er Jahren genauer untersucht, mit weiteren hat sich Nia Perivolaropoulou befasst (Perivolaropoulou 2018). 58 Siehe Gilloch 2015, S. 2. 59 Von den zwischen 1921 und 1941 über 740 erschienenen Tageszeitungsbeiträgen Kracauers zum Film waren bis zur neuen Ausgabe seiner Werke nur 170 erneut veröffentlicht worden – Michael 1993, S. 17. 60 Schon Aby Warburg, der als Gründungsvater der Bildwissenschaften gilt, hat sich mit Kinematographie auseinandergesetzt, was von Thomas Hensel herausgearbeitet worden ist (Hensel 2011, S. 103–141). In einer zur Kunstgeschichte ausgeweiteten Bildwissenschaft wird in den letzten Jahren verstärkt auch Filmgeschichte integriert. Institutionell wurde dies beispielsweise am Institut für Kunstgeschichte der Universität Regensburg im Masterstudiengang fest verankert (siehe Red. Mittelbayrische 2017). Ebenfalls stellt Filmwissenschaft einen Schwerpunkt in dem elektronischen Journal IMAGE, Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft dar. Zu den Verbindungen zwischen Filmtheorie und Bildwissenschaften siehe auch Hanke 2016. 61 Gilloch 2015, S. 12. – Auf geistige Überschneidungen und Verbindungen Kracauers zum Warburg-Kreis wurde schon von Volker Breidecker und Detlev Schöttker aufmerksam gemacht (Breidecker 1996; Schöttker 2009).

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Eine neue Fokussierung von Kracauers Filmschriften bis 1941

licht.62 In einem Teilkapitel werden zudem einige Bilder von Edward Hopper behandelt, der mit Kracauer die Kinopassion und ein Interesse an den Phänomenen der Moderne teilte.63 Eine umfassende Untersuchung von Kracauers Filmschriften bis 1941 hat schon Klaus Michael 1993 von einer kulturwissenschaftlichen Perspektive aus vorgelegt. Seitdem konnten in der Kracauer-Forschung und in der Filmwissenschaft neue Forschungserkenntnisse gewonnen werden, die auch für den zu analysierenden Gegenstandsbereich relevant sind. Zum besseren Verständnis der Position von Kracauer soll sich einerseits im Gegensatz zu Michael noch intensiver mit den thematisierten Filmen und ihrer Rezeption seitens anderer zeitgenössischer Filmberichterstatter auseinandergesetzt werden, um Kracauers Position besser einordnen zu können. Andererseits werden noch eingehender Schriften Kracauers zu nicht genuin filmischen Themen zur Erklärung herangezogen. Herausgearbeitet werden ebenfalls noch nicht berücksichtigte Bezüge zu philosophischen und soziologischen Schlüsseltexten. Sie sind wiederum auch für das Verständnis der Filmschriften erhellend.64 Zur Einordnung werden auch Briefe und nicht edierte Materialien im Kracauer-Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach genutzt.65 Darüber hinaus werden noch mehr Vergleichstexte als bislang von Zeitgenossen herangezogen. Die großen Digitalisierungsprojekte von Zeitungen und Magazinen in den letzten Jahren sowohl in Europa als auch in Amerika wurden für diese Arbeit verwendet. So konnten u. a. einige in der Forschung bislang unbekannte Zeugnisse für die Rezeption eines wichtigen kunstwissenschaftlichen Essays Kracauers ermittelt werden. Auch wurden noch nicht wieder neu edierte, aber sehr aussagekräftige Vergleichstexte ausfindig gemacht.66 62 In den Bildzeugnissen der Weimarer Republik in dieser Arbeit werden Freizeitaktivitäten wie Besuche von Revuen, Circus und Lunapark sowie Sonntagsausflüge dargestellt. Ebenfalls werden Darstellungen der Großstadt bei Nacht und des Arbeitslebens thematisiert. 63 Zu Hoppers Kinobegeisterung siehe Doss 2015, S. 17. Zu einer Analyse von Hopper und Kracauer in Zusammenhang mit der Hotelthematik siehe Tallack 1998 und in Bezug auf Kinoarchitektur siehe Breitenwischer 2018, S. 18. Die Interpretation von Breitenwischer wird in Kapitel IV, S. 161 ff. einer Revision unterzogen. 64 Die Trennung der neuen Werkausgabe Kracauers in verschiedene Bereiche wie z. B. in Filmschriften und in weitere Essays ist für das Ermitteln von Bezügen zwischen diesen nicht förderlich. Zu der wechselseitigen Bedingung der verschiedenen Elemente in Kracauers Werk siehe auch Ahrens et al. 2017b, S. 11. – Zu anderen Werkbereichen Kracauers habe ich Vorträge gehalten und einen Aufsatz publiziert (Rühse 2013; dies. 2013b; dies. 2014). 65 Auch wenn mittlerweile mehrere Briefwechsel Kracauers publiziert wurden, sind weiterhin viele Briefe nur in Archiven einsehbar. 66 Für die Analyse berücksichtigt wurden u. a. die bislang digitalisierte historische Presse der deutschen Sozialdemokratie der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung (http://fes.imageware.de/), das Portal Compact Memory mit jüdischen Periodika (http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm), die Digitalisierung wichtiger deutschsprachiger Illustrierter Magazine der Klassischen Moderne (www.arthistoricum.net/ themen/textquellen/illustrierte-magazine-der-klassischen-moderne/), die Media History Digital Library der University of Wisconsin-Madison mit der Suchplattform Lantern (lantern.mediahist.org), der digitalisierte Bestand der historischen österreichischen Zeitungen und Zeitschriften der Österreichischen Nationalbibliothek (anno.onb.ac.at) sowie weitere digitalisierte Quellen im Zeitungsbereich der Europeana Collections (europeana.eu), in ausgewählten deutschen Bibliotheken und im Internet Archive (archive. org, letzter Abruf der genannten Plattformen am 7.1.2020).

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I. Einleitung

Deutlich wird die Qualität selbst kürzerer Beiträge Kracauers, die eigentlich den ‚Pflichtarbeiten‘ eines Tageszeitungsredakteurs zuzurechnen sind, aber auch die besondere Perspektive aufgrund seiner soziologischen, philosophischen und architekturhistorischen Studien vor und neben seiner Tätigkeit für die FZ.67 Es können Parallelen, aber auch Unterschiede zu bekannten und unbekannteren Zeitgenossen Kracauers herausgearbeitet werden, z. B. zu in der Kracauer-Forschung noch nicht näher berücksichtigen sozialdemokratischen und marxistischen Filmkritikern sowie Autoren der sog. „Asphaltliteratur“ Anfang der 1930er Jahre. Neben Kracauers Auseinandersetzung bzw. Austausch mit Georg Lukács, Georg Simmel, Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Ernst Bloch wird seine Position u. a. im Vergleich mit Joseph Roth, Harry Alan Potamkin sowie Béla Balázs in den verschiedenen Werkphasen herausgestellt. Bislang wurde nur auf eine methodische Nähe von Kracauer zur österreichischen Sozialforschung aufmerksam gemacht, aufgezeigt werden können jedoch auch inhaltliche Übereinstimmungen. Durch das Herausstellen der methodischen Entwicklung und Veränderung seiner politischen Überzeugungen kann anhand der Filmschriften Kracauers intellektuelle Entwicklung nachvollzogen werden. Sie fungieren zudem als Spiegel der geistigen und sozialen Umbrüche in der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Darüber hinaus werden Aktualisierungen der Überlegungen Kracauers für jüngere Filmproduktionen – darunter englische und französische Spielfilme, ein schweizerischer Kurzfilm sowie ein Computeranimationsfilm von Disney-Pixar – vorgenommen. Signifikante Korrespondenzen von Kracauers Beobachtungen zu den Kinopalästen der Weimarer Republik sind bei heutigen Luxuskinos zu erkennen. So kann exemplarisch auf die heutige Relevanz von Kracauers Ansätzen verwiesen werden.68

Film als Spiegel Als Konnex für die Einzelanalysen in den verschiedenen Kapiteln wurde die Spiegelmetapher ausgewählt, die auch im Titel dieser Arbeit aufgegriffen wurde.69 Kracauer hat sie in Texten, die in den Kapiteln II und III analysiert werden, selbst zur Charakterisierung des Films verwendet. Dabei verändert sich die Konnotation. 1924/1925 sieht Kracauer Film als philosophischen Spiegel an, der die Gehaltlosigkeit des scheinhaften äußeren Lebens sicht-

67 Insbesondere Adorno hat die Qualität der Zeitungsessays von Kracauer nicht zu würdigen gewusst, was bis heute noch wirksam ist (Stalder 2003, S. 11). Schon am 22.7.1930 hat Kracauer gegenüber Adorno in einem Brief das Niveau seiner Zeitungsartikel herausgestellt: „Und zwar bringe ich es nicht fertig, derartige Sachen mit der linken Hand zu erledigen, sondern schreibe sie mit der gleichen Liebe wie meinen Roman usw.“ (AKB, S. 232). 68 Graeme Gilloch verzichtet selbst auf Aktualisierungen in seiner Monographie, hat aber auf die grundsätzliche Möglichkeit von diesen hingewiesen und bemerkt: „The spiritlessness of his times is not so very different from that of ours.“ (Gilloch 2015, S. 13.) 69 Aufgrund der Bedeutung der Spiegelmetaphorik für Kracauer hat schon Jochen Beyse den Begriff der „Widerspiegelung“ in den Titel seiner 1977 erschienenen Studie zu Kracauers Filmschriften integriert und sich näher mit dieser mit besonderer Berücksichtigung der in Amerika entstandenen Monographien auseinandergesetzt (Beyse 1977, S. 250–257). Zur Kritik an Beyses Ansatz siehe Mülder 1985, S. 181f.

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Film als Spiegel

bar macht.70 1927 versteht er Film als sozialen Spiegel. In der filmischen Durchschnittsware würden die „unterdrückten Wünsche“ der Gesellschaft zum Ausdruck gebracht werden.71 Die soziale Spiegelfunktion ist jedoch keine naive und realistische. Denn „je unrichtiger sie die Oberfläche darstellen, […] desto deutlicher scheint in ihnen der geheime Mechanismus der Gesellschaft wieder.“72 Die Ideologien werden erst durch die kritische Analyse erkennbar.73 Die Spiegelvorstellung bietet sich zudem als konzeptuelle Metapher für die nächsten Kapitel an, auch wenn Kracauer sie selbst in den analysierten Schriften nicht aufgreift. Denn die analysierten Kinoräume spiegeln die Lage der Gesellschaft. Im Exil hat Kracauer eine Filmidee so konzipiert, dass sie als Reflexion seiner Aufklärungskritik fungiert. In dem sog. „Marseiller Entwurf“ zu einer Theorie des Films dient ein wichtiges Filmexempel als Spiegel seines Grundverständnisses von Film als fotografischem Medium und seines Realismuskonzepts. Die Spiegelmetapher ist seit den 1970er Jahren sehr prominent in den „film studies“.74 Ihre vornehmliche Auffassung in diesen unterscheidet sich jedoch sehr von Kracauers Anschauungen. Denn sie wird in erster Linie in der semiotischen Filmwissenschaft mit Bezug auf Jacques Lacan aufgegriffen, der mit ihr Selbsterkenntnis entwicklungspsychologisch verortet.75 So hat beispielsweise der Filmwissenschaftler Christian Metz die Zuschauersituation mit der Situation des Kindes vor dem Spiegel verglichen.76 Jean-Louis Baudry entwickelte die Thesen von Metz weiter und machte den Spiegel als paradigmatische Metapher für die Filmanalyse dienstbar. Laut ihm bestimmt „das kinematographische Dispositiv einen künstlichen Regressionszustand.“77 In den 1970er Jahren galt die Filmmetapher als neu in der Filmwissenschaft, es gab sie jedoch schon in der früheren Filmtheorie.78 Grundsätzlich hat der Spiegel als ästhetische und erkenntnistheoretische Metapher seine Ursprünge in der Antike und wurde in den folgenden Jahrhunderten intensiv weiter tradiert.79 Gerade im 19. Jahrhundert griff man ihn häufig in Verbindung mit der realistischen Ästhetik auf. Dabei wurde die Metapher nicht nur in Zusammenhang mit der Malerei und dem Roman thematisiert, sondern auch mit der Fotografie. So statuierte beispielsweise der Fotograf und Forscher Antoine Claudet 1860 im Photographischen Journal, dass die Photographie als „Spiegel“ in besonderem Maße geeignet sei, „alle Poesie der Natur“ ins Bild zu fassen.80 Die mit der Foto­

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SKW 5:2, S. 233. SKW 6:1, S. 309. Ebd. Ebd., S. 311; siehe auch Schwender 2001, S. 4. Die Rezeption der Spiegelmetapher in den Filmwissenschaften hat Philip Dreher zusammengefasst – Dreher 2014, S. 19–56. Siehe auch Elsaesser/Hagener 2011, S. 84–90. Lacan (1949) 1986. Metz (1975) 2000, S. 44–56. Baudry (1975) 2004, S. 399. Auf die ältere Tradition der Spiegelmetapher wurde von Elsaesser und Hagener hingewiesen – Elsaesser/ Hagener 2011, S. 77; siehe auch Dreher 2014, S. 32. Einen Überblick über die Verwendung der Spiegelmetapher im Lauf der Zeit bieten Holz/Metscher 2005. Claudet 1860, S. 114; siehe auch Plumpe 1990, S. 103–105.

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grafie verbundenen Erkenntnismöglichkeiten für die menschliche Wahrnehmung betonte Eugène Delacroix schon 1850: Die Daguerreotypie ist mehr als die Nachahmung, sie ist der Spiegel des Objekts, bestimmte Details, die in Zeichnungen nach der Natur fast immer vernachlässigt werden, erhalten eine große charakteristische Bedeutung und führen den Künstler so in die vollständige Kenntnis der Konstruktion ein.81

Einige Jahrzehnte später wurde die Metapher auch in Zusammenhang mit der Filmthematik auf verschiedene Weise verwendet. Im Zusammenhang mit Kriegsfilmen betonte der Schriftsteller Johannes Gaulke 1916, dass dem Kinobild „alles Wirklichkeit, ein Spiegelbild der Natur“ sei. Dabei bleibe es jedoch nur ein „armseliges Schattenbild der Wirklichkeit“ und sei für die Kriegsdarstellung nicht geeignet.82 Fritz Lang sah seinen Film Dr. Mabuse, der Spieler als sozialen „Spiegel“ für eine „korrumpierte Zeit“ an.83 Béla Balázs griff die Metapher 1925 im Zusammenhang mit einem Dokumentarfilm zur Verdeutlichung der Möglichkeiten von Selbstkontrolle und Selbstbesinnung mittels Film auf.84 Mit der genaueren Darlegung von Kracauers Verwendung der Spiegelmetapher in den nächsten beiden Kapiteln und ihr Aufgreifen in den weiteren Kapiteln kann auf ihr analytisches Potenzial auch außerhalb der semiotischen Filmwissenschaft hingewiesen werden.

Kurzer Überblick über die Kapitel II–VII In den Kapiteln II–IV werden ausgewählte Schriften Kracauers aus der Weimarer Republik und in den Kapiteln V und VI Arbeiten aus dem französischen Exil behandelt. Mit einem Resümee in Kapitel VII schließt die Arbeit. Im Folgenden wird zur Orientierung ein kurzer Überblick über den Gesamtaufbau der Arbeit gegeben. Im Mittelpunkt von Kapitel II „Film als Spiegel der ‚transzendentalen Obdachlosigkeit‘ […]“ steht Kracauers Auseinandersetzung mit Karl Grunes Film Die Straße85 in insgesamt vier Publikationen 1924 und 1925.86 Die ausgewählten Texte sind repräsentativ für seine frühe, durchaus eigenwillige Filminterpretation, die durch Georg Lukács und Georg Simmel geprägt ist. Die philosophischen Anschauungen, die der Sicht auf den Film zugrunde liegen, werden durch die Berücksichtigung zentraler

81 „Le daguerréotype est plus que le calque, il est le miroir de l’objet, certains détails presque toujours négligés dans les dessins d’après nature y prennent une grande importance caractéristique et introduisent ainsi l’artiste dans la connaissance complète de la construction.“ – Delacroix 1850. 82 Gaulke 1916. 83 Lang (1924) 1990, S. 169. 84 Balázs 1925, S. 3f.: „Der Film der Selbstkontrolle, den das Bewußtsein früher innerhalb des Gehirns laufen ließ, wird auf die Rolle des Apparates gezogen und das Bewußtsein, das bisher in innerer Spaltung sich selbst nur für sich bespiegelte, lässt diese Funktion mit einer Maschine verrichten, die das Spiegelbild auch für andere sichtbar festhält.“ 85 Die Straße, R: Karl Grune, Deutschland 1923. 86 Die genauen Angaben zu den analysierten Texten Kracauers werden in den jeweiligen Kapiteln angeführt.

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Kurzer Überblick über die Kapitel II–VII

Texte von Kracauer wie „Die Wartenden“ und seine Studie über den Detektivroman verständlich. Für die intellektuelle Vita von Kracauer ist gerade der Publikationskontext des ästhetischen Essays „Der Künstler in dieser Zeit“ aus dem Jahr 1925 erhellend. Er erschien in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Der Morgen, einem Prestigeprojekt der Juden in Deutschland. Die Rezeption von Kracauers Aufsatz und die einmalige Mitarbeit sind signifikant für sein damaliges durch theologische Skepsis bedingtes problematisches Verhältnis zu dem Kreis religiöser jüdischer Intellektueller. Dies führte schließlich zu einer Distanzierung von diesen und unterstützte, dass Kracauer sich mehr mit Karl Marx beschäftigte und eine sozialkritische Filmanalyse entwickelte. Interessante Deutungsansätze bietet Kracauers frühe philosophische Filminterpretation z. B. für neorealistische Filme von Federico Fellini und von diesen inspirierte spätere Produktionen wie den Oscar-prämierten Film La grande bellezza aus dem Jahr 2014.87 In letzterem werden religiöse Sehnsucht und die Suche nach Sinn auf signifikante Weise mit dem für Kracauer so wichtigen Straßenmotiv kombiniert. Kracauers soziologische Filmanalyse wird in Kapitel III „Film als Spiegel der Gesellschaft […]“ behandelt. Zentrale ideologiekritische Filmschriften Kracauers werden film- und kulturhistorisch eingeordnet und es wird auf ihre noch wenig genauer erforschte zeitgenössische Rezeption eingegangen. Besondere Berücksichtigung findet die Artikelserie „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ aus dem Jahr 1927. Herausgestellt wird die satirische Konnotation von Kracauers Aufgreifen des Ladenmädchen-Motivs. Die historische Entwicklung und das Aufgreifen von diesem durch Zeitgenossen Kracauers werden erörtert. Darüber hinaus enthält die Serie genau wie spätere Texte auch bislang noch selten thematisierte emanzipierte Aspekte, mit denen das in der Forschung dominante Bild von Kracauers „misogynist tendencies“ teilweise revidiert werden kann.88 Ebenfalls werden anhand eines heute in Vergessenheit geratenen Artikels mit Interviews von Verkäuferinnen aus dem Jahr 1932 diese auch selbst zu ihrem Filmgenuss zu Wort kommen. 2007 haben der kritische Blog und das aus diesem hervorgegangene Buch von Anna Sam über die Situation einer französischen Supermarktkassiererin viel Aufsehen erregt und darauf aufmerksam gemacht, dass die historischen Vorurteile gegenüber jungen Verkäuferinnen teilweise noch immer existieren.89 Die Verfilmung aus dem Jahr 2011 als romantische Weihnachtskomödie schwächt Sams Kritik jedoch ab.90 Exemplarisch kann an dieser aufgezeigt werden, dass Argumente aus Kracauers sozialkritischer Filmkritik heute noch relevant sind. In Kapitel IV werden „Lichtspielhäuser als soziale Spiegel […]“ behandelt. Kracauer setzte sich nicht nur mit den Handlungsmustern von Durchschnittsproduktionen auseinander, sondern auch mit den Räumlichkeiten, in denen Filme präsentiert wurden. 1926 fokussiert Kracauer in zwei Texten die neuen Lichtspielpaläste in Berlin im Kontext der modernen Massenkultur und des gesellschaftlichen Strukturwandels. Dabei nimmt er eine sehr kritische

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La grande bellezza, R: Paolo Sorrentino, Italien/Frankreich 2013. Hake 1987, S. 149; Murdock 2002, S. 50. Sam 2008. Les tribulations d’une caissiére, R: Pierre Rambaldi, Frankreich 2011.

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Position ein, die in der damaligen Presseberichterstattung selten war. Sechs Jahre später sucht Kracauer ein kleines Kino in Alt-Berlin auf, das viele Arbeitslose frequentieren. Allegorisch verdichtet sich in seinem Text zu dem Kientopp die hoffnungslose Lage nicht nur der Arbeitslosen, sondern auch die der Weimarer Republik insgesamt. Kracauers Behandlung der Arbeitslosenthematik weist dabei nicht nur methodische, sondern auch noch nicht in der Forschung thematisierte inhaltliche Parallelen zur österreichischen Sozialforschung auf. Anschließend wird in einem Exkurs untersucht, inwieweit Kracauers Texte zum Verständnis von Edward Hoppers enigmatischen Kinodarstellungen beitragen können. Sowohl Korrespondenzen als auch Unterschiede zwischen Kracauers Texten und den Bildern des amerikanischen Malers werden herausgestellt. Sehr inspirierend ist zudem Kracauers Behandlung der Filmpaläste in den 1920er Jahren für die Auseinandersetzung mit heutigen Luxuskinos. Kapitel V ist mit „Die Dialektik der Aufklärung als Kinderfilmidee […]“ betitelt. Um sich am Ende der Weimarer Republik und im Exil weitere Einkommensquellen zu erschließen, verfasste Kracauer einige Ideen und Exposees für Filme. Seine circa im Mai 1933 entstandene, bislang wenig von der Forschung berücksichtigte Kurzfilmidee „Dimanche [Sonntag]“ über den Sonntagsausflug eines kleinen Jungen mit seinen Eltern zeichnet sich durch eine doppelte Perspektive aus. Einerseits wird die begrenzte Betrachtungsmöglichkeit des Kindes in der Familienfilmidee herausgestellt. Andererseits wird in „Dimanche [Sonntag]“ anhand der Kontrastierung der Sichtweise der Erwachsenen mit der des Kindes deutlich, wie langweilig und konventionell der Sonntagsausflug ist. Auch wird auf die begrenzte erwachsene Rationalität aufmerksam gemacht. Die Filmidee stellt so einen anschaulichen Spiegel von Kracauers rationalismuskritischem Gedankengut dar, das er zuvor u. a. in „Das Ornament der Masse“ zusammengefasst hat. Mit der Vermittlung einer aufgeklärten Wirklichkeitswahrnehmung sollte der Film als Antidot gegen die beginnende ideologische Infiltration durch die nationalsozialistische Kinderfilmproduktion fungieren. Er unterscheidet sich dabei jedoch von anderen, stärker politisch ausgerichteten Kinderfilmprojekten beispielsweise von Béla Balázs in den 1930er Jahren. Die Familienfilmidee ist darüber hinaus ein Beleg für Kracauers Interesse an Kinderpsychologie und Pädagogik, das er mit Walter Benjamin teilte. Auch im jüngeren Filmschaffen wird die Sonntagsausflugsthematik aufgegriffen, z. B. vor einigen Jahren von dem schweizerischen Regisseur Simon Weber in dem mit mehreren Preisen ausgezeichneten Kurzfilm Sounds of Nature.91 Die Naturerkundung bei dem Ausflug aus der Perspektive eines zehnjährigen Jungen ist dabei im Sinne von Kracauers Ideal gestaltet, dass Film als „Discoverer of the Marvels of Everyday Life“ fungiert.92 Webers Konzept von Sounds of Nature ist jedoch nicht wie Kracauers Filmidee durch rationalismuskritisches Gedankengut, sondern durch die Auseinandersetzung mit sowohl schweizerischen Natursagen als auch den Auswirkungen von Unterhaltungselektronik auf das kindliche Bewusstsein geprägt. In Kapitel VI „Sergei Eisensteins mexikanischer ‚Danse macabre‘ in Siegfried Kracauers ‚Marseiller Entwurf‘ zu einer Theorie des Films 1940/1“ wird auf ein weiteres Exilprojekt Kra91 Sounds of Nature, R: Simon Weber, Schweiz 2013. 92 Kracauer 1960, S. xi.

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Kurzer Überblick über die Kapitel II–VII

cauers eingegangen. In den letzten Jahren seines Aufenthalts in Frankreich und während der Überfahrt nach Amerika arbeitete Kracauer an einer „Kulturgeschichte des internationalen Films“, zu der im sogenannten „Marseiller Entwurf“ Aufzeichnungen erhalten sind.93 Erst zwei Dekaden später sollte das Buch mit verändertem Konzept als Theory of Film erscheinen. In dem „Marseiller Entwurf“ greift Kracauer Eisensteins Aufnahmen des Día de Muertos auf, um sein Grundverständnis des Mediums Film zu veranschaulichen.94 Um diese sehr eigenwillige Rezeption Kracauers von Eisensteins Szenen zu verdeutlichen, wird zunächst Eisensteins unvollendetes Filmprojekt näher charakterisiert und in dessen Kontext werden seine Szenen des Tags der Toten erläutert. Anschließend wird Kracauers spezifisches Aufgreifen von Death Day mit Aufnahmen von Eisenstein in dem „Marseiller Entwurf“ behandelt. Bei der Darlegung sowohl von Kracauers als auch von Eisensteins Rezeption wird die in diesem Kontext noch nicht eingehend behandelte Totentanzthematik besonders berücksichtigt. Beide Positionen stellen exzeptionelle sowie kulturhistorisch bedeutsame Bezugnahmen auf die Ikonographie des Danse macabre dar. Sie unterstreichen so die vor allem für das 20. Jahrhundert signifikante „offene Form“ des Genres Totentanz. Kracauers Rezeption von Eisensteins Aufnahmen des mexikanischen Tags der Toten kann dabei als Brennspiegel nicht nur seiner filmtheoretischen Überzeugungen, sondern auch seiner Situation am Ende des französischen Exils fungieren. Am Ende wird auf jüngere Filme eingegangen, die den Día de Muertos global noch bekannter gemacht haben. Anhand Pixars Animationsfilm Coco wird deutlich, dass dabei trotz des Bemühens um Authentizität auf die historisch mit dem Tag verbundene Satire jedoch größtenteils verzichtet wird, die auch Eisenstein inspiriert hat.95 Stattdessen werden gesellschaftsstabilisierende Mythen manifestiert, die Kracauer schon in der Weimarer Republik kritisiert hat. Im letzten Kapitel VII folgt ein Resümee der Untersuchung ausgewählter, in Deutschland und Frankreich entstandener Filmschriften von Siegfried Kracauer. Mit Bemerkungen zu deren Relevanz im digitalen Zeitalter als Ausblick schließt die Arbeit.

93 Siegfried Kracauer, Brief an Richard Biemel, 19.4.1938 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA). 94 Kracauer bezieht sich dabei auf den Kurzfilm Death Day, der von Sol Lesser aus Aufnahmen des unvoll­ endet gebliebenen Filmprojekts „¡Que viva México!“ von Sergei Michailowitsch Eisenstein geschnitten worden ist – Death Day, R: Sol Lesser, Sergei M. Eisenstein, USA 1934; „¡Que viva Mexico!“ (unvollendet), R: Sergei M. Eisenstein, USA/Mexico 1930–1932. 95 Coco, R: Lee Unkrich, Adrian Molina, USA 2017.

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II. Film als Spiegel der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ – Siegfried Kracauer über Karl Grunes Die Straße 1924/1925 […] der Film spiegelt seine Gehaltlosigkeit [die des scheinhaften Lebens] wider. – Siegfried Kracauer1

Die Straße als „roter Faden“ in Kracauers Œuvre In dem am 29.11.1923 in Berlin uraufgeführten Film Die Straße steht ein Biedermann im Mittelpunkt, der aus dem bürgerlichen Heim ausbricht und den Verlockungen der nächtlichen Großstadt wie Glücksspiel und schönen Frauen in Tanzbars anheimfällt. Die Straße ist der bekannteste Film des Regisseurs Karl Grune2 und wird als grundlegend für das sich in den 1920er Jahren entwickelnde Straßenfilmgenre angesehen.3 Filmgeschichtlich wurde er schon von Zeitgenossen als bedeutend erachtet, insbesondere von Intellektuellen erhielt er viel Aufmerksamkeit.4 Für Siegfried Kracauer ist er eine zukunftsweisende „Meisterleistung“, zu der er 1924 nach der ersten Aufführung in Frankfurt zwei Rezensionen in der Frankfurter Zeitung publizierte.5 Ein Jahr später griff Kracauer innerhalb eines Aufsatzes, der in einer jüdischen Zeitschrift allgemeine ästhetische Fragen behandelte, ebenfalls den Film als Exempel auf.6 Aus diesem Beitrag wurden die Passagen, die direkt auf den Film Die Straße Bezug nehmen, 1 2

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SKW 5:2, S. 233. Die Straße, R: Karl Grune, Deutschland 1923. – Karl Grune drehte noch einige weitere Filme in Deutschland und in England, jedoch konnte er mit diesen nicht mehr an den großen Erfolg von Die Straße anknüpfen. Eine Monographie zu dem Regisseur ist seit Längerem ein Desiderat; zu Die Straße siehe u. a. Degenhardt 1994 und Kaes 2005. Kracauer 1960, S. 72. – Die Filme im Genre des Straßenfilms divergieren jedoch inhaltlich sehr voneinander. Kracauer 1947, S. 119. – Aufgrund seiner eindrücklichen Wirkung wurde Grunes Die Straße nach nur vier Jahren in England wieder aufgeführt, auch wenn es schon damals schwer war, eine Filmkopie zu bekommen (Orme 1928). Siegfried Kracauer, Die Straße, in: FZ, 3.2.1924, Stadt-Blatt, wieder in: SKW 6:1, S. 54–56, hier S. 55; ders., Ein Film, in: FZ, 4.2.1924, wieder in: SKW 6:1, S. 56–58. – Die Straße wurde in Frankfurt erst einige Monate nach der Berliner Uraufführung gezeigt, da die neuen Filme nicht überall gleichzeitig zu sehen waren (Mülder-Bach 2004, S. 574). Siegfried Kracauer, Der Künstler in dieser Zeit, in: Der Morgen. Monatsschrift der Juden in Deutschland, Jg. 1 (1925–1926), H. 1 (April 1925), S. 101–109, wieder in: SKW 5:2, S. 232–242 (Nr. 239).

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II. Film als Spiegel der „transzendentalen Obdachlosigkeit“

leicht gekürzt nochmals in der FZ publiziert.7 In späteren Arbeiten thematisierte Kracauer Die Straße erneut, weshalb laut der Filmwissenschaftlerin Miriam Hansen sich Grunes Film wie ein roter Faden durch das Œuvre von Kracauer zieht.8 Es ändert sich jedoch die Deutungsperspektive und nach dem Zweiten Weltkrieg nimmt Kracauer Die Straße kritischer wahr.9 In der ersten Zeit bei der FZ bestehen Kracauers noch seltenere Filmrezensionen vornehmlich aus Handlungswiedergaben sowie Angaben zu SchauspielerInnen und RegisseurInnen.10 Als Kracauer ab 1923/4 regelmäßiger Filmkritiken schreibt, integriert er auch vermehrt allgemeinere Behauptungen zu ästhetischen und medialen Aspekten des Films in seine Texte, die aber kurze Statements bleiben. So äußert er im Dezember 1923 u. a. das Desiderat einer „noch ungeschriebene[n] Metaphysik des Films“.11 Zu einer solchen macht er in der Besprechung von Grunes Die Straße genauere Angaben. Kracauers gesamte Rezension von Grunes Film prägt eine philosophische Perspektive; für ihn bringt der Film eine metaphysische Sehnsucht in der modernen Welt ohne Sinn zum Ausdruck. In einer Rezension desselben Films am darauffolgenden Tag im überregionalen Feuilleton führt Kracauer noch mehr generelle Filmanschauungen an, die er in den vorhergehenden Monaten entwickelt hat. Dabei verbindet er geschichtsphilosophische Äußerungen mit medialen Aspekten. Von der Art und vom Sujet her erachtet Kracauer Die Straße als besonders filmgemäß: Der Film DIE STRASSE, der jetzt auch in Frankfurt vorgeführt wird, ist eines der wenigen Werke moderner Filmregie, in denen ein Gegenstand Gestaltung erfährt, den nur der Film so gestalten kann, und Möglichkeiten verwirklicht werden, die nur für ihn überhaupt Möglichkeiten sind.12

Aufgrund solcher ästhetischen Aussagen gehören die beiden Besprechungen des Films Die Straße zu den ersten bedeutsamen und tiefer gehenden Texten Kracauers über Film.13 1925 bringt er Die Straße als Beispiel für Massenkultur in seinem Aufsatz „Der Künstler in dieser Zeit“ ein.14 Die Passage mit dem Filmexempel erscheint einige Wochen später ebenfalls als kürzerer Artikel in der FZ.15 In dem der Ästhetik zugehörigen Essay „Der Künstler in dieser Zeit“ verortet Kracauer die Probleme des modernen Künstlers in der geschichtsphilosophischen Situation der Gegenwart.16 Die in diesem Zusammenhang geäußerte Formulierung

 7 Siegfried Kracauer, Filmbild und Prophetenrede, in: FZ vom 5.5.1925, wieder in: SKW 6:1, S. 138–140 (Nr. 94).  8 Für Kracauers Bezugnahmen auf Grunes Die Straße siehe SKW 6, Nr. 32, Nr. 94, Nr. 192, Nr. 756; SKW 2:1, Kapitel 10; SKW 3, S. 131; SKW 5, Nr. 239. – Hansen 1991, S. 48.  9 Für die geänderte Perspektive siehe z. B. Kracauer 1947, S. 157. 10 Brodersen 2001, S. 56. 11 SKW 6:1, S. 43. 12 Ebd., S. 56. 13 Michael 1993, S. 84. 14 SKW 5:2, S. 232–242 (Nr. 239). 15 SKW 6:1, S. 138–140 (Nr. 94). 16 Vgl. jedoch Harry Todd Craver, der den Text nicht ganz zutreffend als „a theological polemic that doubles as a film review“ charakterisiert – Craver 2011, S. 148.

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Die Straße als „roter Faden“ in Kracauers Œuvre

„Sie glauben, daß Amerika erst verschwinde, wenn es ganz sich entdeckt [...]“ ist eines der bekanntesten Bonmots Kracauers, das schon Ernst Bloch in den 1920er Jahren aufgriff.17 Anhand „Der Künstler in dieser Zeit“ wird das damalige Weltbild von Kracauer noch deutlicher, das teilweise bereits seine Texte zu Grunes Die Straße von 1924 prägte, ohne in diesen explizit ausgeführt zu werden.18 Es zeichnen sich ebenfalls die Gründe für Kracauers Hinwendung zur Massenkultur ab, aus der sich der Film in den weiteren Jahrzehnten als zentraler Arbeitsgegenstand Kracauers ergibt. Auch wird das frühe Verständnis Kracauers von Film und Hochkunst als ästhetische Spiegel nachvollziehbar. Abgesehen von dem vielzitierten Amerika-Bonmot wird auf die genannten vier Texte, in denen Kracauer auf Grunes Die Straße 1924/1925 eingeht, in der Forschung immer noch weniger Bezug genommen als auf andere zentrale Beiträge Kracauers. Gerade eine eingehendere Zusammenschau von allen vier Texten ist aufgrund der ähnlichen Zeitdiagnose und der übereinstimmenden filmästhetischen Anschauungen sinnvoll.19 Die Texte sind repräsentativ für die philosophische Filminterpretation Kracauers vor seiner ideologiekritischen Beschäftigung mit Film und somit sehr bedeutsam für die Entwicklung seiner Filmanschauungen. Um die besondere Sichtweise von Kracauer auf den Film besser nachvollziehen zu können, wird zunächst der Film Die Straße selbst genauer vorgestellt. Dabei wird auf den bislang noch wenig berücksichtigten Inflationshintergrund der Produktion eingegangen. Nach der Vorstellung der beiden Texte von 1924 wird auf inhaltliche Bezüge zu früheren Filmrezensionen und anderen Texten Kracauers wie z. B. den programmatischen Essay „Die Wartenden“ verwiesen. Ebenfalls wird Kracauer in der Filmkritik der Zeit positioniert. Der programmatische Text „Die Wartenden“ von Kracauer prägt auch „Der Künstler in dieser Zeit“ von 1925, was noch genauer als in der bisherigen Forschung herausgestellt wird. Darüber hinaus können erhellende Bezüge zu seiner Studie über den Detektivroman

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SKW 6:1, S. 139; zur Rezeption von Bloch siehe Ernst Bloch, Die Angst des Ingenieurs (1929), in: Bloch 1977, Bd. 9, S. 347–358, hier S. 352; sowie ders., Die Felstaube, das Neandertal und der wirkliche Mensch [1929], in: ders. 1964, S. 104. – Siehe Mülder-Bach 1987, S. 368. Darüber hinaus wurde eine Formulierung, die in beiden Texten Kracauers zu Die Straße aus dem Jahr 1925 enthalten ist, 2017 als Titel für einen Sammelband verwendet: „Doch ist das Wirkliche auch vergessen, so ist es darum nicht getilgt“ […]. Siehe SKW 6:1, S. 138 und Ahrens et al. 2017 (der Titel wird auf S. 13 erläutert). 18 Einige kleinere Weiterentwicklungen und Pointierungen der Anschauungen Kracauers sind zwischen 1924 und 1925 natürlich zu beobachten. Jörg Später gibt jedoch fälschlicherweise an, dass zwischen den beiden Texten ein zeitlicher Abstand von zwei Jahren liege und dass währenddessen Kracauers Hinwendung zum Profanen stattgefunden habe (vgl. Später 2016, S. 150f.). Diese hat sich jedoch schon vor 1925 vorbereitet und war im Frühling 1925 noch nicht ganz abgeschlossen. 19 Die geringere Rezeption im Vergleich zu anderen Texten aus dieser Werkphase mag auch damit zusammenhängen, dass Kracauer im Gegensatz z. B. zu „Reise und Tanz“ (FZ 15.3.1925; Kracauer 1963, S. 40–49) keinen der angeführten vier Texte in den Sammelband Das Ornament der Masse aufgenommen hat. – Mittlerweile sind auch Übertragungen ins Englische von „Ein Film“ (1924) und „Filmbild und Prophetenrede“ (1925) in dem Sammelband The Promise of Cinema verfügbar (Kaes 2016, S. 389– 392). – Zu den wichtigen Forschungsbeiträgen zu Kracauers Auseinandersetzung mit dem Film Die Straße gehören u. a.: Mülder 1985; Mülder-Bach 1987; Hansen 1991; dies. 2012; Michael 1993, S. 84–90 und Kaes 2018.

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eruiert werden.20 An diesem „Traktat“ arbeitete Kracauer ab Herbst 1923 und schloss es wenige Wochen vor der Publikation von „Der Künstler in dieser Zeit“ ab.21 Außerdem wird diskutiert, warum Kracauers Mitarbeit an Der Morgen auf einen Beitrag beschränkt blieb. Hierfür werden u. a. bislang noch nicht von der Forschung berücksichtigte Ankündigungen der Zeitschrift in der Presse und Rezensionen der ersten Ausgabe analysiert. Ebenfalls wird auf Kracauers Kritik an der Bibelübersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig Bezug genommen. Die Rezeption von Kracauers Aufsatz und die einmalige Mitarbeit sind signifikant für Kracauers damaliges Verhältnis zu dem jüdischen Netzwerk. Sie verdeutlichen zudem die Probleme seiner Position, die Kracauer selbst dazu bewogen haben könnten, sich anschließend intensiver mit Marx auseinanderzusetzen und eine sozialkritische Filmanalyse zu entwickeln. Für die Feuilletonpolitik der FZ ist wiederum die Kürzung von Kracauers Text bei der Veröffentlichung in der Zeitung bezeichnend und macht verständlich, warum die längere Textversion in Der Morgen so erhellend für das Verständnis von Kracauers Filmanschauungen und seine geistige Entwicklung ist.

Die Straße – Ein konservatives „Aufklärungstraktätchen“ in moderner Manier Das Hauptthema der Filmhandlung, der Gegensatz zwischen Bürgertum und städtischen Verlockungen, basiert auf Georg Kaisers expressionistischem Theaterstück Von morgens bis mitternachts und wurde im Expressionismus allgemein intensiv thematisiert.22 Der kleinbürgerliche Ehealltag des Protagonisten (gespielt von Eugen Klöpfer) wird betont als trist und von seiner Frau (Lucie Höflich) behütet charakterisiert. Bei seiner Hingabe an die Verlockungen der nächtlichen Großstadt geht der Mann fast zugrunde, was auch seiner Unerfahrenheit und Unsicherheit geschuldet ist. Zunächst verliert er beinahe beim Glücksspiel einen Schuldschein, der ihm nicht gehört. Als er einer jungen Liebesdame (Aud Egede-Nissen) in ihr Boudoir folgt, wird er fälschlicherweise eines Mordes beschuldigt und gefangen genommen. Kurz bevor er im Gefängnis Selbstmord begehen will, wird der richtige Schuldige überführt. Der Kleinbürger kehrt am Morgen reumütig zu seiner Frau zurück, die ihm seine Eskapaden verzeiht.23

20 Vgl. z. B. Hansen 1991. 21 Der Beginn der Arbeit an Der Detektiv-Roman lässt sich aus Kracauers Briefwechsel mit Leo Löwenthal erschließen (Löwenthal/Kracauer 2003, S. 49). Ein Vermerk in Kracauers Manuskript besagt, dass die Arbeit am 15. Februar 1925 beendet wurde (SKS 1, S. 307). – Kracauers philosophisches Traktat Der Detektiv-Roman blieb lange unveröffentlicht, jedoch kursierte es in seinem Freundeskreis. Ein Kapitel wurde 1963 im Massenornamentband veröffentlicht (Kracauer 1963, S. 157–170). Der gesamte Text wurde erst in der Ausgabe der Schriften einem größeren Publikum zugänglich gemacht (SKS 1). 22 Das Theaterstück war schon zuvor für einen Film adaptiert worden, der aus Zensurgründen jedoch nicht aufgeführt wurde (Von morgens bis mitternachts, R: Karlheinz Martin, Deutschland 1920). Grune führte bei Die Straße nicht nur Regie, sondern schrieb auch das Buch zusammen mit Julius Urgiß nach einem Entwurf von Carl Mayer. – Zur Kritik expressionistischer Künstler am Bürgertum siehe u. a. Köhler 2005, S. 97. 23 Ein detailliertes Sequenzprotokoll des Films findet sich in Degenhardt 1994, S. 408–411.

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Die Straße – Ein konservatives „Aufklärungstraktätchen“ in moderner Manier

Die Schauspieler agieren mit einer besonders expressiven Gestik, so dass auf Zwischentitel verzichtet wird, was damals innovativ war.24 Mit der Körpersprache werden insbesondere die Orientierungslosigkeit und die Überforderung des Protagonisten eindringlich zum Ausdruck gebracht. Der besondere gestische Schauspielerstil wurde von dem Regisseur entwickelt, nachdem er im Ersten Weltkrieg lange neben fremdsprachigen Soldaten lebte und deren Gesten intensiv beobachtete, weil er ihre Sprache nicht verstand.25 Die Betonung der Gestik basiert zudem auf medienästhetischen Überlegungen Karl Grunes. Laut ihm müsse der Film „ein eigenkünstlerisch produktives Ausdrucksmittel“ sein, das sich von einer Romanhandlung unterscheiden und aus einem optischen Alphabet bestehen sollte.26 Daher wählte er auch einen vornehmlich fließenden Handlungsgang.27 Die titelgebende Straße prägt ebenfalls den Film. Laut dem Filmkritiker Willy Haas wäre die Straße zum ersten Mal „nicht bloß als dekoratives Element, sondern als aktiver Mitspieler, als eine Art synthetisch aufgefasste Hauptperson gesehen.“28 Sie fungiert als Pars pro Toto für die Großstadt und das moderne Leben. Besonders hervorgehoben wird die Verführungsmacht der nächtlichen Stadt mit ihren Tanzbars und Ausschweifungen. Sie findet in der Liebesdame ihre Personifikation, wobei die Verbindung von Frau und Stadt durch schnelle Bilderfolgen unterstützt wird. Aufgrund der Bedeutung des Schauplatzes wurde bei dem Film viel Wert auf die Darstellung möglichst lebensechter Straßenszenen und den Bau der dafür notwendigen Kulissen gelegt (Abb. 1). Mit ihnen beauftragte man den bekannten expressionistischen Künstler Ludwig Meidner, der sich mehrere Jahre lang intensiv mit der Großstadtthematik auseinandergesetzt hatte.29 Die Kulissengestaltung ist einerseits von Paris inspiriert, d. h. der Stadt, die im 19. Jahrhundert besonders für ihre urbanen Vergnügungen bekannt war.30 Andererseits wird gerade mit der Atmosphäre des Tanzlokals im Film auf Berlin verwiesen, wo die Vergnügungsetablissements in den 1920er Jahren einen Aufschwung erlebten.31 Geprägt vom Expressionismus ist die Figurengestaltung, die existenzielle Daseinsmöglichkeiten versinnbildlicht.32 Mit verschiedenen Stilmitteln wird eine kleinbürgerliche psychische Disposition zum Ausdruck gebracht, die charakterisiert ist durch verdrängte Wünsche nach Vergnügen und Enthemmung sowie Ängste und Schuldgefühle. Der Zuschauer wird 24 Der Verzicht auf Zwischentitel war jedoch so ungewohnt, dass für Aufführungen in manchen Gebieten einige nachträglich ergänzt wurden. In Frankreich wurde zu dem Film ein „Kinoroman“ mit mehr Ausführungen veröffentlicht. – Siehe Degenhardt 1994, S. 403. 25 Kracauer (1947) 2004, S. 119. 26 Grune 1925, S. 2. 27 Grune 1923. – Die Handlung ist von einigen dramatischen Momenten durchsetzt, aber es fehlt ein großer Spannungsbogen. 28 Haas (1924) 1991, S. 148 (Kursivsetzung im Original). 29 Meidner hat 1914 z. B. eine „Anleitung zum Malen von Großstadtbildern“ verfasst (Meidner 1914). – Zu Meidners Mitarbeit bei Grunes Film siehe Dogramaci 2011. 30 Wadauer 2003, S. 53. – Auf Paris wurde teilweise bei Vorführungen im Untertitel verwiesen (Dogramaci 2011, S. 244). 31 Berlin wurde in den 1920er Jahren mit seiner Zerstreuungskultur in den Medien als junge Metropole mystifiziert (Schlösser 2013, S. 22; Gordon 2006). – Siehe auch Kapitel IV, 125f. dieser Arbeit. 32 Michael 1993, S. 85.

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1  Standfoto einer Straßenszene aus Die Straße (R: Karl Grune, Deutschland 1923), Stiftung Deutsche Kinemathek.

dabei wirkungsvoll in eine ähnliche Seelenlage wie der Protagonist versetzt.33 Die Verführung durch die Großstadt wird durch eine Montage von lächelnden Frauen, Zirkus, Achterbahn, Lunapark und Feuerwerk sowie durch eine futuristische Lichtergestaltung, die von Umberto Boccionis Gemälde La strada entra nella casa inspiriert ist, verdeutlicht.34 Auch die Kreuzfahrtreklame in einem Schaufenster fungiert als Ausdruck der sehnsuchtsvollen Psyche des Mannes.35 Gewarnt wird ebenfalls vor der Gefährlichkeit der Verführung durch die Frau. Eine Nahaufnahme der Liebesdame (Abb. 2), die ostentativ die Augen schließt, wird von einer warnend flackernden Augenlichtreklame bei einem Optikergeschäft (Abb. 3) eingerahmt. Die beiden Szenen stehen offenkundig in Beziehung.36 Das Motiv des richtigen Sehens wird auch an anderer Stelle thematisiert. Beispielsweise wird der blinde Mann von einem unschuldigen Kind geführt. Genau dieses Kind unterstützt später die Aufklärung des Mordfalls.

33 Murphy 2010, S. 96. 34 Umberto Boccioni, La strada entra nella casa, 1911, Öl auf Leinwand, 100 × 100,6 cm, Sprengel Museum Hannover (siehe auch Kaes 2005, S. 81). – Bei der Gestaltung der filmkünstlerischen Details könnte der Kameramann Hans Hasselmann Hilfe von Ludwig Meidner erhalten haben. 35 Sehr wahrscheinlich wird zum ersten Mal im Film eine Schaufenstergestaltung zur Unterstützung der Handlung im Film genutzt – Sudendorf 1991, S. 23. 36 Vgl. die divergierende Deutung von der Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci, die wegen des Kontextes des Motivs in der Gesamthandlung jedoch nicht überzeugt: „Diese Erscheinung könnte in Weiterführung der Simmelschen Diagnostik als Sinnbild der hypersensiblen Wahrnehmung des Großstädters interpretiert werden.“ – Dogramaci 2011, S. 241. Bis auf dieses Detail ist der Aufsatz von Dogramaci sehr aufschlussreich.

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Die Straße – Ein konservatives „Aufklärungstraktätchen“ in moderner Manier

2  Einzelbild aus Die Straße (R: Karl ­Grune, ­Deutschland 1923, 27:47/1:29:25).

Eine weitere viel beachtete Szene ist die Verwandlung des Gesichts der Liebesdame in einen Totenschädel (Abb. 4). Als memento mori steht sie in der Tradition der spätmittelalterlichen Bußikonographie, die zur Abkehr von sündhaften Verhalten anregen soll.37 In der Fin de Siècle-Kultur war das Motiv ebenfalls sehr verbreitet; es diente u. a. als Ausdruck zeitgenössischer misogyner Anschauungen von Destruktion als primitiver Weiblichkeit.38 In Die Straße bezieht sich die Warnung auf die urbanen Ausschweifungen.39 Auf die Gefährdung des Protagonisten verweist auch der unheimlich und bedrohlich wirkende Schatteneinsatz.40 Auf die Oberflächlichkeit des Lichterglanzes und Glitters machen eingeschobene Aufnahmen mit Straßenunrat aufmerksam. Die Vergänglichkeit der nächtlichen Vergnügungen wird gegen Ende des Films mit einem morgendlichen Straßenanblick akzentuiert, bei dem vom Wind bewegte Papierfetzen zu sehen sind (Abb. 5). Sie stehen in deutlichem Kontrast zu dem vorher so wirkungsvoll inszenierten nächtlichen Lichterspiel der Großstadt. Diese Straßenansicht entspricht dabei dem ernüchterten Blickwinkel des Mannes nach seinem Gefängnisaufenthalt. Weiterhin kommen in dem Film Visionsmontage, Rückprojektionen, Mehrfachbelichtungen u. a. zum Einsatz.41 37 Baumstark 2015, S. 59–62. – Die Bildtradition von ‚Tod und Mädchen‘ geht bis ins Spätmittelalter zurück. Im Expressionismus wird die Verbindung von Frau und Tod z. B. bei Schiele wieder aufgegriffen. 38 Dijkstra 1996, S. 221. 39 Sudendorf 1991, S. 20; Petro 1989, S. 163. 40 Stilistisch ist die Schattengebung in Die Straße dem expressionistischen Filmstil geschuldet – Michael 1993, S. 85f. 41 Degenhardt 1994, S. 399–402; Dogramaci 2011, S. 240.

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II. Film als Spiegel der „transzendentalen Obdachlosigkeit“

3  Standfoto der Szene beim Optiker­geschäft aus Die Straße (R: Karl Grune, Deutschland 1923), Stiftung Deutsche Kine­mathek.

Insbesondere wegen dieser wirkungsvollen Stilmittel und des modernen Kulissenbaus wurde der Film als Avantgardeleistung aufgefasst. Von der Narration her ist der Film nicht ganz so überzeugend. Denn die integrierte Kriminalgeschichte wirkt in Hinblick auf die übrige Handlungsfolge, die sich durch ein ‚Nebeneinander‘ von Szenen auszeichnet, inkonsistent.42 Der Inhalt bleibt zudem traditionellen Denkschemata verhaftet. Denn auch wenn das bürgerliche Heim am Anfang bieder und unerfüllend charakterisiert wird, wird es am Ende als sicherer Hafen dargestellt. Im Ufa-Programmheft wird dies folgendermaßen zusammengefasst: D s [!] erschreckende Abenteuer einer Nacht, in das er blind hineingetappt ist, hat einen neuen Menschen aus ihm gemacht, und das Heim, das er am Abend zuvor in wilder Flucht verlassen hat, erscheint ihm in neuem Licht.43

Der bürgerlichen Ehefrau kommt die Aufgabe zu, ihren Mann vor weiteren Eskapaden zu schützen. So stellt sie sich beim Finale vor das Fenster und versperrt dem Biedermann den Blick auf die Straße. Im National Board of Review Magazine wurde die Hauptaussage folgendermaßen pointiert: „Better stay where you are. Life in the haunts you are unused to, is dangerous.“44 42 Degenhardt 1994, S. 396. – Ein Kritiker der Zeitschrift Pictures and Picturegoer merkte auch an, dass das den Kriminalfall lösende Kind gegen Ende des Films ein zu großes Versatzstück sei: „An artist of his rank [Karl Grune’s] should have known better than to hinge the discovery of the murder on the lisping statement of a child in a nightdress. We have seen it so often in American films!“ – The Picturegoing Critique 1924, S. 11. 43 Programm der Ufa-Theater, o. D. [Nov. 1924], Bundesarchiv, FILMSG1/16152 „Die Straße“. 44 Exceptional Photoplays’ Committee 1927, S. 9.

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Die Straße – Ein konservatives „Aufklärungstraktätchen“ in moderner Manier

4  Einzelbild aus Die Straße (R: Karl Grune, Deutschland 1923, 27:47/1:29:25).

Die im Film negativ aufgefasste Liebesdame, deren Sexualität als zerstörerisch charakterisiert wird, basiert auf einem negativen Frauenbild. Indirekt zeugt diese Frauendarstellung von Ängsten gegenüber der neuen Selbstständigkeit der Frauen, denen in der Weimarer Republik u. a. neue Berufsmöglichkeiten eröffnet wurden.45 Der Autor Roland Schacht bezeichnet Die Straße daher in einer zeitgenössischen Kritik als „Aufklärungstraktätchen“ aus einer provinziellen Perspektive.46 Somit ist der Film Die Straße durchaus als ambivalent einzuordnen. Denn auch wenn in diesem eine progressive Filmsprache und -technik verwendet wird, ist die inhaltliche Botschaft sehr traditionell.47 Die forcierte Warnung vor den urbanen Verlockungen ist allerdings in der zeitgeschichtlichen Situation zu situieren, die in der Forschung zu Die Straße bislang kaum thematisiert worden ist. Zwar fand die Uraufführung nach der Währungsreform statt, aber der Film wurde während der Inflationszeit produziert, die Handlung und Gestaltung prägte. Mit größerem zeitlichem Abstand macht Kracauer 1947 selbst auf den „inflation style“ des Nachtclubs aufmerksam.48 Auch wenn der Film „all the gaiety and liberty that a middle-aged man dreams of

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Zuvor hatten viele Frauen im Ersten Weltkrieg schon an der sog. ‚Heimatfront‘ sehr aktiv mitgewirkt. Schacht 1923; siehe auch Sudendorf 1991, S. 20. Degenhardt verweist auf die „vertrackte Modernität“ von Grune – siehe Degenhardt 1994. Siehe Kracauer 1947, S. 119, und die Erwähnung im „Marseiller Entwurf“ in SKW 3, S. 699. – In den zeitgenössischen Kritiken wird auf die Prägung durch die Inflation nicht eingegangen. Wahrscheinlich war man in Deutschland froh, dass eine Zeit der Stabilisierung begonnen hatte, und wollte die Inflation schnell hinter sich lassen. In einigen Ländern verlief die Inflation zudem anders als in Deutschland und wurde wohl deshalb nicht in den Rezensionen erwähnt.

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5  Einzelbild aus Die Straße (R: Karl Grune, ­Deutschland 1923, 1:25:12/1:29:25).

but can never attain“ thematisiert,49 wurde der allgemein größere Drang zu Vergnügungen in der ersten Hälfte der 1920er Jahre einerseits durch die Modernisierungsdynamik, andererseits durch die Inflation verstärkt. Parallel stiegen damals Glücksspiel, Kleinkriminalität und Prostitution (viele Frauen boten sich aus reiner Not an).50 Die Währungsentwertung hatte somit u. a. desorganisierende Wirkungen auf die Moral und verstärkte die Divergenzen zwischen den traditionellen bürgerlichen Vorstellungen und der modernen urbanen Lebensrealität.51 Von dieser Situation ist der warnende Tenor des Films Die Straße geprägt. Die konservative inhaltliche Ausrichtung verminderte unter den Zeitgenossen jedoch nicht die grundsätzlich sehr positive Würdigung. Sie wurde durch geschicktes und gezieltes Marketing von Die Straße als Vorzeigeprodukt der deutschen Filmproduktion unterstützt. Schon vor der Uraufführung wurde das Interesse der Fachwelt durch die Berichterstattung über die besonderen Studiobauten geweckt.52 Das Straßensujet war förderlich für den Erfolg, da es als besonders zeitgemäß gesehen wurde und seine Behandlung mit den realistisch wirkenden Kulissen im Film innovativ war.53

49 The Picturegoing Critique 1924, S. 10. 50 Herzog 2009, S. 1f.; Mommsen 1989. – Allerdings entwickelte sich die Charakterisierung der Inflation als Zeit der Vergnügungssucht sowie Anstieg von Kleinkriminalität, Glückspiel und Prostitution auch zu einem Krisentopos. 51 Geyer 1998, S. 72. 52 Anon. 1929b. – Siehe auch Dogramaci 2011, S. 243. 53 Degenhardt 1994, S. 400; Dogramaci 2011, S. 243f. – Das Straßensujet wurde als passend zu dem schon erwähnten dynamisierten Modernisierungsprozess nach dem Ersten Weltkrieg erachtet.

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Kracauers Rezensionen von 1924

Der Film galt als Highlight des Kinojahres 1923 und wurde von allen wichtigen deutschen Filmkritikern besprochen. Ebenfalls wurde ihm viel Aufmerksamkeit in anderen europäischen Metropolen zuteil. In Paris erzielte er sogar mehr Interesse als amerikanische Filmwerke und in London wurden „spaltenlange anerkennende Berichte der größten Tages- und Wochenblätter“ über ihn veröffentlicht.54 In den USA würdigte man ihn als Beispiel für die aktuelle deutsche Produktion, die sich durch Experimentieren und Forschen auszeichnen würde, während bei amerikanischen Filmen eine Tendenz zur Unterhaltung vorherrschend wäre.55 In der Rückschau merkte Kracauer 1947 an, dass Die Straße als Avantgardefilm besonders viel Beachtung von Intellektuellen erhielt.56 So ist Kracauers intensive Auseinandersetzung mit dem Film sehr verständlich. Darüber hinaus passte Grunes Filmauffassung gut zu Kracauers eigenen filmästhetischen Idealen, die er bei seiner Auseinandersetzung mit Filmen in den vorangegangenen Monaten entwickelt hatte.

Kracauers Rezensionen von 1924 Kracauers erste Rezension von Die Straße im regionalen Stadt-Blatt der FZ In seiner ersten Rezension bestimmt Kracauer als Hauptthema von Grunes Film den modernen Menschen. Er habe sein Ich verloren und weile mit seiner deswegen nach Bedeutung „schmachtenden Seele“ in einer Welt, die sinnentleert und daher unwirklich sei. Kracauer oktroyiert der im Film dargestellten Suche nach erotischen Abenteuern und Gewinnen am Spieltisch somit eine metaphysische Deutung auf. Diese besondere Perspektive prägt seine Nacherzählung des Films, bei der Kracauer das Grauen der inneren Leere für den Menschen, seine Einsamkeit und sein Verlangen nach Existenzerfüllung herausstellt. Im Film wird die bürgerliche Wohnung am Ende als Refugium aufgefasst, wogegen Kracauer die generelle metaphysische Heimatlosigkeit des modernen Menschen betont. Ohne einen höheren Sinn würden die Menschen laut Kracauer nur „Schemen“ sein.57 Diese Wahrnehmung sieht er durch Grunes spezielle Personenauffassung bestätigt. Die bedrohliche Schattengebung, die einige Figuren im Film tatsächlich schemenhaft wirken lässt, soll jedoch – wie auf S. 33 dargelegt – auf die Gefährdung des Protagonisten durch die urbanen Vergnügungen aufmerksam machen. Kracauers besondere Perspektive prägt auch seine Deutung der Details. Die futuristischen Lichter sollen eigentlich das sehr irdische Verlangen des Mannes nach Abwechslung

54 Anon. 1924. – Auszüge aus The Bioscope und Cinema (beide in London gedruckt) werden ausführlich zitiert in: Lichtbild-Bühne, Nr. 23, 1.3.1924. 55 „It seems to be America’s lot to supply the world with the superlatively entertaining films; Germany would appear to have chosen rather to experiment and explore than to tickle the eye and the ribs of their audience.“ – The Picturegoing Critique 1924, S. 10. 56 Kracauer 1947, S. 119. 57 SKW 6:1, S. 54.

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in den städtischen Vergnügungsetablissements veranschaulichen, Kracauer hingegen interpretiert sie als Ausdruck der sehnsüchtigen Seele: Der Film wird hier zur Folge futuristischer Gemälde, er drückt aus, was den Sehnsüchtigen bedrängt, und der darf es ausdrücken, wie nur zerstückelte Bilder noch wie Träume das sich verzehrende schon verlorene Innere erfüllen.58

Das Kind, das im Film u. a. zur Aufklärung des Mordes beiträgt, sieht er nicht als Symbol der Unschuld, sondern als Menschenwesen, das um die Verlorenheit seines Ichs noch nicht weiß. Der Totenschädel, in den sich der Kopf der Frau verwandelt und der im Film als Warnung vor dem sittenlosen Leben dient (siehe Abb. 4), fungiert für Kracauer als eine Personifikation eines Lebens ohne höhere Bedeutung, als „Sinnbild dieser Nichtigkeit, denn durch das Spiel der Schatten verwandelt es sich plötzlich in den Tod. Tot ist alles ringsum, und da die Menschen erstorben sind, gesellen sich die unbelebten Dinge ihnen wie selbstverständlich zu.“59 Diese extrem unheilvolle Charakterisierung der Zeitsituation findet in anderen negativen Formulierungen ihre Entsprechung (z. B. „Grauen der Leere“, „er wandert von Straße zu Straße, verstört und allein“, „der Knoten schürzt sich und entknotet sich wieder, denn alles ist ja nur Schein und bleibt, was es war, ein Nichts“).60 Am Ende schätzt Kracauer Grunes Film als progressive „Meisterleistung“ ein und würdigt die schauspielerischen Leistungen mit dem besonders gestischen Stil.61 Bemerkenswert ist, dass Kracauer trotz seiner idiosynkratischen Deutung die wesentlichen inhaltlichen und stilistischen Aspekte genau wie die symbolischen Details des Films heraushebt. Er macht auf die verschiedenen Perspektiven des Protagonisten und dessen Ehefrau sowie den besonderen Charakter der Handlung als „Nebeneinander“ aufmerksam und weist auf die futuristischen Kunstanleihen hin. In anderen zeitgenössischen Rezensionen wird nicht auf so viele Details des Films aufmerksam gemacht.

Kracauers zweite Rezension von Die Straße im überregional erscheinenden Feuilleton der FZ Für die zweite Rezension von Die Straße, die im überregional erscheinenden Feuilleton der FZ einen Tag nach der ersten Besprechung im Stadt-Blatt gedruckt wird, kürzt und verdichtet Kracauer seine erste Kritik. Zudem ergänzt er allgemeine Aspekte am Anfang. So behandle Grunes Film laut Kracauer mit der Straße einen besonders filmgerechten Gegenstand und setze ebenfalls dem Filmmedium besonders gemäße Gestaltungsmöglichkeiten ein. Letztere bestimmt er ausgehend von der Filmtechnik, nämlich der mechanischen Montage von Einzelbildern ohne Ton, bei deren Abrollen „die unvollkommene Rede optischer Eindrücke Allein-

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sprache“ sei.62 Für das Filmmedium wäre daher als Sujet ein Leben besonders passend, das sich rein in „äußerlichen Begebenheiten erschöpft“ und somit der „Oberfläche“ des Lebens zugekehrt und ohne Substanz sei.63 Die Straße sei mit ihrer Anonymität als charakteristischer Schauplatz der entleerten, durch Zufall beherrschten Welt besonders passend für den Film: Menschen durchkreuzen sie [die Straße], wie der Zufall es will, streifen einander und entfernen sich ohne Gruß. Keine Begegnung der Seelen hat statt, keine sinnvolle, dauernde Verknüpfung umklammert und bindet, nichts Tragisches zwischen ihnen geschieht […].64

Als Beispiele für frühere Gestaltungen der Erfahrung der Sinnlosigkeit der Welt aus dem Kunstbereich verweist Kracauer kurz auf Edgar Allan Poe und auch Georg Kaiser.65 Da der zweite Beitrag über Grunes Film in dem überregional verbreiteten Feuilletonteil der FZ erschien, verzichtet Kracauer auf eine genauere Darlegung der Handlung. Denn der Film war in einigen anderen deutschen Städten mehrere Monate zuvor angelaufen und der Inhalt dort schon bekannt. Kracauer charakterisiert trotz der Kürzungen jedoch eindrucksvoll und genauso negativ wie in seinem ersten Beitrag die sinnlose Zeitsituation, die er mit dem Film zum Ausdruck gebracht sieht. Hierfür nutzt er u. a. atmosphärisch aufgeladene Formulierungen wie „zerfetzte Welt“ und „gefräßige Nachtstraßen“.66 Kracauer lässt ebenfalls detaillierte Angaben zu den SchauspielerInnen fort, allerdings würdigt er diese und ihren gesten- und mimikreichen Stil kurz am Ende des Textes.

Medienästhetische Überlegungen von Kracauer Beachtenswert ist Kracauers Argumentation am Anfang der zweiten Rezension. Im Jahr 1924 gründet für Kracauer die Beziehung zwischen Sujets und Filmmedium darauf, dass zwischen den einzelnen Bildern des Films kein geschlossener Zusammenhang vorliegt. Eine ähnliche Überlegung, die nicht auf die Technik, sondern auf die Handlung bezogen ist, hat Kracauer schon 1923 in einer Rezension über den kurzen Animationsfilm Münchener Bilderbogen gemacht.67 Dessen unwahrscheinliche Handlung entspräche „ganz dem Wesen des Films, der ja, wenn er sein Eigenstes leisten soll, die natürlichen Zusammenhänge unseres Lebens völlig

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SKW 6:1, S. 56. Ebd. Ebd., S. 56f. Kracauer weist jedoch nicht darauf hin, dass ein Theaterstück von Kaiser als Vorlage für den Film diente. Auf Georg Kaiser hat Kracauer in seiner Abhandlung „Über den Expressionismus“ (1918) mehrmals Bezug genommen. Edgar Allan Poes „The Man of the Crowd“ (1840) beeindruckte Kracauer nachhaltig. Er hat es auch 1930 in einem Beitrag über Marseille wieder als Exempel aufgegriffen (SKW 5:3, S. 201). Eine solche Bezugsetzung mit Zeugnissen aus anderen Kunstgattungen wird in „Der Künstler in dieser Zeit“ noch ausgeweitet. 66 SKW 6:1, S. 57. 67 Von 1920 bis 1923 wurde von Möve-Film eine über 30-teilige Serie namens „Münchener Bilderbogen“ produziert. Der genaue Film konnte bislang nicht ermittelt werden – siehe SKW 6:1, S. 35, Anm. 3.

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zerbrechen muss.“68 Die Filmmontage weist für ihn daher eine Affinität zu der fragmentierten Situation seiner Gegenwart auf.69 Bei späteren medienästhetischen Überlegungen argumentiert Kracauer dagegen nicht mehr mit der Filmmontage, sondern mit den photographischen Eigenschaften des Films (siehe Kapitel V).70 Zentral ist der Begriff der „Oberfläche“ bei Kracauers medialer Charakterisierung des Films: „Allein die Oberfläche ist ihm zugekehrt und in dem Treiben existenzloser Larven, dem Durcheinander des Atomgemenges, findet er ganz sich selber wieder.“71 Die Ansicht, dass der Film besonders passend ist, „scheinhaftes Oberflächenleben“ zum Ausdruck zu bringen, hat Kracauer ebenfalls in früheren Rezensionen schon angedeutet.72 Auch die Möglichkeit des Films, die Nichtigkeit der Welt zu entlarven, hat er zuvor bei seiner Besprechung des Films Die närrische Wette des Lord Aldini betont:73 Die tiefere Bedeutung des amüsanten Scherzes besteht darin, daß er die Nichtigkeit einer Welt enthülle, die sich um einer Nichtigkeit willen in Bewegung setzen läßt und das Gelächter über ihren vorher entgifteten Ernst heraufbeschwört. Daß man diese Bedeutung garnicht [!] merkt, ist vielleicht das Beste an dem harmonisch verklingenden Ulk.74

Kracauer hat auch vorher schon darauf aufmerksam gemacht, dass Film sich von Literatur und Theater unterscheide und dass das Wesen des Films einem inneren Zusammenhang entgegenstehe.75 Zudem forderte er, den Stoffen für Filme den Vorzug zu geben, die „wirklich dem Geiste des Films gemäß sind“ und sich von denen von Theaterstücken unterscheiden.76

Einflüsse von Georg Lukács und Georg Simmel Eine solche Zuschreibung medienspezifischer Eigenschaften an den Film ist deutlich von dem Philosophen Georg Lukács beeinflusst.77 Dieser stellte in einem Aufsatz aus dem Jahr 1911, der 1913 nochmals in der FZ erschien, die Eigenschaften von Sprechbühne und Film einander gegenüber. Lukács konstatierte, dass im Stummfilm die physische Präsenz der Darsteller fehle. Der tatsächlich daseiende lebendige Mensch ströme dagegen im Theater seinen „lebendigen Wille[n] […] unvermittelt und ohne hemmende Leitung auf eine geradezu lebendige Menge“

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SKW 6:1, S. 36. Kaes 2016, S. 390; Michael 1993, S. 88. Hansen 2012, S. 10. SKW 6:1, S. 56. In seiner Rezension „Hochstaplerfilme“ am 17.11.1923 hob Kracauer positiv hervor, dass die beiden neuen Betrüger-Filme auf die „Darbietung seelischer Gehalte zugunsten der filmgerechten Wiedergabe scheinhaften Oberflächenlebens verzichten“ würden – SKW, 6:1, S. 37; siehe auch ebd., S. 40. Die närrische Wette des Lord Aldini, R: Luigi Romano, Deutschland 1923. SKW 6:1, S. 43. – In dieser Besprechung hat Kracauer ebenfalls das schon erwähnte Desiderat der „noch ungeschriebene[n] Metaphysik des Films“ geäußert. Ebd., S. 30, 36 und 45f. Ebd., S. 45f. Kaes 2018, S. 142f.; Michael 1993, S. 236.

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aus.78 Auch Kracauer betont den fehlenden lebendigen Kontakt zwischen Darstellern und Publikum. Denn seiner Meinung nach besteht der Film aus „eine[r] stumme[n] Welt, in der kein Wort vom Menschen zum Menschen geht, sondern die unvollkommene Rede optischer Eindrücke Alleinsprache ist.“79 Gegenüber dem Theater würde der Film jedoch eine neue ästhetische Wirklichkeit bieten, in der Zeit und Raum und damit auch die Gesetze der Logik und Kausalität nicht mehr verpflichtend sind. Laut Lukács ist für den Film „ein Leben ohne Seele, aus reiner Oberfläche“ signifikant.80 Neben Lukács’ Prägung ist zudem ein Einfluss des Philosophen und Soziologen Georg Simmel in Kracauers Rezension erkennbar. Von Simmel ist ebenfalls die Straße mit ihren flüchtigen Begegnungen als charakteristischer Ort der Großstadt thematisiert worden. Er klagt zwar nicht über fehlende Seelenbegegnungen wie Kracauer, aber er charakterisiert das zugrunde liegende urbane „Geistesleben“, das u. a. durch Kälte, Reserve, Indifferenz, „unbarmherzige Sachlichkeit“ und „verstandesmäßig rechnende[n] wirtschaftliche[n] Egoismus“ geprägt sei.81 Die Affinität des Films zur Behandlung des Straßenlebens sollte Kracauer auch noch in seinen späteren Schriften vertreten. So statuiert er in seiner 1960 publizierten Theory of Film: And since any medium is partial to the things it is uniquely equipped to render, the cinema is conceivably animated by a desire to picture transient material life, life at its most ephemeral. Street crowds, involuntary gestures, and other fleeting impressions are its very meat.82

Aus der „Generaldirektion des Fürsorgeamts für Transzendental Obdachlose“ Auffällig ist die sehr negative Zeitdiagnostik Kracauers, die er in Grunes Film ausgedrückt sieht. Aufgrund des fehlenden Sinnes führt der einzelne Mensch ein leeres Dasein ohne ­inneren Zusammenhang, das bar von Existenz und Substanz ist. Laut Kracauer ist ein solches Leben „unwirklich“.83 Da seine Seele so zugrunde gehe, ersterbe der Mensch innerlich und sei als verdinglicht anzusehen. Das Fehlen des Sinnes habe auch Auswirkungen auf das Zeitund Raumempfinden, so erscheinen Zeit und Raum leer. Ebenfalls beeinflusse ein fehlender geistiger Zusammenhalt das Zusammenleben der Menschen, zwischen denen keine Begegnung der Seelen möglich sei.84 Von Miriam Hansen ist Kracauers Sicht auf den Film sehr passend als „allegory of the fallen life“ charakterisiert worden.85 Das sinnlose leere Dasein ist für 78 79 80 81

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Lukács (1911/1913) 1992, S. 234. SKW 6:1, S. 56. Lukács (1911/1913) 1992, S. 236. Simmel 1903 – Kracauer nahm in Berlin bei Simmel an einer Vorlesung teil und suchte den persönlichen Kontakt zu ihm. Er verfasste zu Simmel neben verschiedenen Artikeln auch eine Monographie, aus der wegen Papierknappheit 1920/21 nur ein Kapitel in der Zeitschrift Logos gedruckt wurde – Kracauer 1920/1921. Kracauer 1960, S. ix. SKW 6:1, S. 57: „[…] ein gespenstisches, unwirkliches Beisammen unwirklicher Menschen, das die leer fließende Zeit nicht zu erfüllen vermag.“ Ebd. Hansen 1991, S. 58.

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­ racauer das zentrale geistige Problem seiner Zeit.86 Es wurde damals neben anderen sozialen K und geistigen Entwicklungen durch die Inflation verstärkt.87 In der Rückschau merkt Kracauer 1939 selbst an: „[D]ie Inflation ruiniert das kleine und mittlere Bürgertum, und je unaufhaltsamer sie wächst, desto mehr breitet sich ein Gefühl heilloser Lebensunsicherheit aus.“88 Kracauer und mehrere seiner Freunde fühlten sich daher besonders von der Charakterisierung der Moderne als „transzendental obdachlos“ im Vergleich zu einer früheren sinnerfüllten Epoche in Georg Lukács’ Theorie des Romans angesprochen.89 Im Jahr 1923 schickten Kracauer und sein Freund Theodor Wiesengrund Adorno gemeinsam an Leo Löwenthal einen Brief mit der Absenderangabe „[…] Generaldirektion des Fürsorgeamts für Transzendental Obdachlose“.90 Von Lukács oft verwendete Aspekte wie „Traum“ und „Einsamkeit“ werden von Kracauer 1924 in seine Filmrezensionen zu Die Straße integriert.91 Die Figur des „einsamen Wanderer[s]“ bei Kracauer wird ebenfalls schon von Lukács verwendet.92 Georg Lukács ist somit nicht nur für die schon oben erläuterte Filmästhetik Kracauers, sondern auch für seine Zeitdiagnostik prägend.

Bezüge zu Kracauers „Die Wartenden“ Eine Klage über das Fehlen von Normen für das innere Leben aufgrund der durch Materialismus und abstraktes Denken charakterisierten Gegenwart ist schon für Kracauers Schriften vor dem Ersten Weltkrieg kennzeichnend. Mit dem Ersten Weltkrieg verband Kracauer zunächst die Hoffnung, dass dieser Orientierung und Ziele bieten würde. Aufgrund des vielen Kriegsleids änderte er jedoch seine Meinung und suchte stattdessen zunächst in der Religion einen Ausweg. Jedoch nimmt er schon bald eine skeptische Haltung zu dieser ein. Gegenüber Leo Löwenthal äußerte er in einem Brief am 4. Dezember 1921 große Kritik an der Einstellung u. a. von dem frühen Ernst Bloch, der die messianische Erlösungsvorstellung mit marxistischem Gedankengut verband: Es steckt in diesem Messianismus, der die ganze Welt überspringt, ein Krampf, der mir bis ins Innerste fremd ist, und ich möchte darüber Ihr ausgezeichnetes Wort von der ‚blasphemischen Frömmigkeit‘ anwenden. Gott selbst kann diese rasende Wut zu ihm nicht gewollt haben, oder er hat Menschen und Welt in einem Anfall von teuflischer ­Bosheit erschaffen. […] Bloch … ist ein versteinerter Krampf, ein der Bohème entstiegener brünstiger Schreihals, der sich als Prophet aufspielt und seinen dämonischen Wirrwarr ekelhaft literarisch aufzäumt.93 86 Mülder 1985, S. 47. 87 Siehe auch Michael 1993, S. 87. 88 Das angeführte Zitat Kracauers stammt aus einer Passage über den expressionistischen Film – SKW 6:3, S. 267. 89 Lukács (1920) 1994, passim. 90 Löwenthal (1990) 2003, S. 276. 91 Z. B. SKW 6:1, S. 54. 92 SKW 6:1, S. 57; Lukács (1920) 1994, passim; siehe auch Mülder 1987, S. 362. 93 Löwenthal/Kracauer 2003, S. 31–34, hier S. 31f. (Hvh. im Original); siehe auch Später 2016, S. 85–7.

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Eine kritische Position zur Religion prägt auch Kracauers am 12.3.1922 in der FZ publizierten Text „Die Wartenden“. In diesem grundlegenden Essay skizziert Kracauer die Grundlagen eines Arbeitsprogramms, das er in den nächsten Jahren weiterentwickelt.94 Dieser Beitrag ist für Kracauers Sicht auf Grunes Die Straße 1924/1925 sehr erhellend.95 Am Anfang von „Die Wartenden“ charakterisiert Kracauer ebenfalls die entzauberte Realität der rationalisierten und mechanisierten Welt. Dabei verwendet er ähnliche Ausdrücke wie in seinen Rezensionen zu Die Straße 1924. Die geistige zeitgenössische Leere bewirke existenzielle Angst, die auch Kracauers atmosphärische Charakterisierung des Films Die Straße prägt. Denn Formulierungen wie z. B. „schauerlich“ bringen in beiden Rezensionen 1924 einen metaphysischen Horror Vacui zum Ausdruck.96 In „Die Wartenden“ stellt Kracauer drei generelle Arten des Umgangs mit der von ihm skizzierten geistigen Situation der Zeit fest. Eine wäre die des „prinzipiellen Skeptikers“, den er in Max Weber repräsentiert sieht. Bei diesem Typus werde „das Nichtglauben-Können […] zum Nichtglauben-Wollen“, was für Kracauer allerdings keine akzeptierbare Lösung ist.97 Als zweiten Typus statuiert Kracauer den „Kurzschluß-Menschen“, der sich voreilig einer Religion aufgrund „metaphysischer Feigheit“ unterwirft. Für Kracauer stellt dies „mehr Wille zum Glauben als ein Weilen im Glauben“ dar und würde Fanatismus bewirken.98 Als Ausweg dagegen skizziert Kracauer die „Haltung des Wartens“, die er selbst einnimmt. Die „Wartenden“ wählen einen Mittelweg zwischen radikaler Skepsis und vorschnellem Glauben. Denn sie setzten sich mit den konkreten Lebenszusammenhängen als Gegenbewegung zum abstrakten Idealismus auseinander, weisen jedoch ebenfalls ein „zögerndes Geöffnetsein“ für die Möglichkeit einer religiösen Errettung vor.99 Anhand des programmatischen Textes „Die Wartenden“ wird sowohl die Distanzierung Kracauers von seinen Lehrern als auch seine Abkehr von wichtigen aktuellen philosophischen Strömungen deutlich. Seine Position ist allerdings noch durch Unentschlossenheit gekennzeichnet, selbst wenn Kracauer sich nun mehr der sozialen Wirklichkeit zuwendet.100

Verhüllte Erlösungsperspektive Für Kracauers Einlassen auf die konkrete Lebensrealität in Form der zeitgenössischen Massenkultur sind seine beiden Rezensionen des Films Die Straße aus dem Jahr 1924 ein anschaulicher Beleg. In diesem Zusammenhang steht ebenfalls Kracauers Betonung der Affinität des

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Mülder 1985, S. 48. Kracauer 1963, S. 106–119. SKW 6:1, S. 54, S. 57. Kracauer 1963, S. 113. – Für eine kritische Sicht auf Kracauers Interpretation von Max Weber siehe auch Mülder 1985, S. 31–35.  98 Kracauer 1963, S. 114f.  99 Ebd., S. 116–119. Siehe auch Löwenthal/Kracauer 2003, S. 54. 100 Stalder 2003, S. 128.

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Films, die „Oberfläche“ des Lebens zum Ausdruck zu bringen.101 Allerdings lässt er sich erst zögerlich auf diese ein, religiöses Gedankengut ist durchaus noch prägend. Beispielsweise charakterisiert Kracauer die sinnferne Welt mit Tod und Nichtigkeit, was in der Tradition des jüdischen Gnostizismus steht und die Gottesferne verdeutlicht.102 Die Formulierung „bindende[s] Wort“ alludiert auf das „religiöse Wort“.103 Auffällig ist zudem Kracauers Sicht auf die Polizei als Vorsehung.104 Diese wird durch Kracauers Schrift über den Detektivroman besser verständlich, an der Kracauer damals arbeitete. In der Studie bringt er den Detektivroman mit der göttlichen Sphäre in Zusammenhang. Die Merkmale des Detektivromans entziffert er nämlich als paradoxes Gegenbild der göttlichen Sphäre. Jedes Gestaltungselement des literarischen Genres wird als Zerrbild der eigentlichen, von Gott bestimmten Wirklichkeit interpretiert. Im Detektivroman stelle die Ordnung der Polizei laut Kracauer eine Karikatur der wirklichen Ordnung dar und die Hotelhalle sieht er als ein Kehrbild des Gotteshauses an (siehe auch Kapitel IV mit weiteren Erläuterungen dazu).105 Ebenfalls auf Kracauers Studie Der ­Detektiv-Roman verweist in der Rezension von Die Straße die Verwendung eines an Sören Kierkegaard angelehnten religiösen Existenzbegriffs. In Der Detektiv-Roman führt Kracauer hierzu näher aus: [D]er Gesamtmensch, der existenzielle Mensch im Sinne Kierkegaards befindet [...] sich in Spannung, er ist Kreatur, die auf das Göttliche sich ausrichtet, ist Natur, die auf die Übernatur sich bezogen weiß. Zwischen Unten und Oben ist sein Ort. Er hat teil an dem Geschaffenen, Elementarischen, dem nur Seienden, aber er hat auch teil an dem Anderen, dem jenseitigen Wort und den Verkündigungen, und er ist wirklich, insofern er seine Teilhabe an dem Unten und dem Oben in der Existenz bewährt.106

Diese genannten Aspekte verdeutlichen die untergründige religiöse Sehnsucht Kracauers. Die verhüllte Erlösungsperspektive in den beiden Filmrezensionen sollte für Kracauers Werk weiterhin bedeutend sein.

Kracauers Rezension im Feuilleton der FZ In seiner Auseinandersetzung mit Die Straße 1924 verbindet Kracauer Lukács’ filmästhetische Ansätze mit einer philosophischen Deutung des Inhalts, den er als negative Allegorie der Zeit interpretiert. Diese Interpretation muss aus heutiger Sicht als unzutreffend bewertet werden. Das Interesse an einer vertieften inhaltlichen Filmanalyse behielt Kracauer jedoch bei. Aller-

101 Zu Kracauers Einstellung gegenüber der Oberfläche siehe Mülder-Bach 1987 sowie Mülder 1985, S. 86– 95. 102 Hansen 1991, S. 53f. – Hansen betont jedoch, dass der jüdische Gnostizismus Kracauer als Lehre genau wie andere Arten von religiösem Mystizismus suspekt war (Hansen 2012, S. 23). 103 SKW 6:1, S. 58. Siehe auch Kracauer 1963, S. 118. 104 SKW 6:1, S. 55. 105 SKS 1, S. 157f.; Kracauer 1963, S. 159. 106 Ebd., S. 108f. – Zu Kracauers Modifikationen an Kierkegaards Existenzbegriff siehe Mülder 1985, S. 40.

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dings sollte bei dieser ab circa 1926 eine soziologische Ausrichtung bedeutsam werden, für die Kracauer besonders bekannt werden sollte (siehe Kapitel III).107 Auffällig ist natürlich, dass Kracauer die zweite Rezension von Grunes Die Straße im Feuilleton unterbringen konnte, was ihm nur selten möglich war. Aufgrund der damals unterschiedlichen Filmstarttermine in Deutschland fanden die Premieren in Berlin vor denen in Frankfurt statt.108 Daher berichteten meistens über die deutschen Erstaufführungen der wichtigsten Filme auch die Korrespondenten der FZ in Berlin und nicht Kracauer in Frankfurt.109 Generell hatte sich Anfang der 1920er Jahre der Film als Massenunterhaltung sehr etabliert. Die deutsche Filmwirtschaft erlebte damals eine Blütezeit. Die kunstvollen deutschen Filmproduktionen zogen viel öffentliches Interesse auf sich und auch die deutsche Filmkritik konnte mehr Bedeutung gewinnen.110 Ebenfalls förderten die innovativen Filme allgemeine filmtheoretische und filmästhetische Überlegungen. Deswegen war eine Publikation von Kracauers Beitrag im überregionalen Feuilleton wohl einerseits wegen des Gegenstands, andererseits wegen seiner besonderen Perspektive und den allgemeiner gehaltenen ästhetischen Überlegungen möglich. Aufgrund der für Kracauer seltenen Möglichkeit, im Feuilleton eine Filmkritik zu veröffentlichen, werden seine Bemühungen um besonders poetische Formulierungen gerade in Zusammenschau mit der ersten, im Stadt-Blatt erschienenen Besprechung verständlich. Ein direkter Vergleich der beiden Texte bietet einen anschaulichen Eindruck von Kracauers Schreibpraxis. Auch wenn Kracauers Interpretation von Grunes Film aus heutiger Sicht aufgesetzt erscheint, ist damals sein philosophischer Deutungsversuch von Grunes Film avanciert und hebt sich von den anderen Interpretationen des Films sehr ab. Mit ihm stellt Kracauer gleichsam seine Qualifikation für die Übernahme des Filmressorts unter Beweis. Dieses erhielt er in demselben Jahr, in dem seine Rezensionen zu Die Straße erschienen. Zuvor war im Oktober 1923 im Stadtblatt die neue Rubrik „Von den Lichtspielbühnen“ eingerichtet worden, in der Kracauer bis 1930 Filmrezensionen veröffentlichte.111

Kracauers Rezensionen innerhalb der Filmkritik der Zeit Mit der anspruchsvolleren Deutung leistete Kracauer ebenfalls einen Beitrag zur Aufwertung der Filmkritik und der positiveren Wahrnehmung des Films in intellektuellen Kreisen.112 Denn bei einigen Gebildeten war noch immer das Vorurteil der Trivialität gegenüber dem Filmmedium virulent.113 Generell bestanden die meisten Filmbesprechungen in der Tagespresse aus Handlungswiedergaben. Auffällig ist bei einigen FilmkritikerInnen, dass sie zur gleichen Zeit

107 Für Kracauers spätere ästhetische Überlegungen zum Medium des Films, die er an einem Beispiel veranschaulicht, siehe Kapitel. V. 108 Mülder 2004, S. 574. 109 Kilb 2005. 110 Steinitz 2015, S. 70ff. 111 SKW 6:1, S. 33, dort Fußnote 4. 112 Siehe auch Kaes 2018, S. 142. 113 Prümm 1995, S. 247.

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wie Kracauer in der ersten Hälfte der 1920er Jahre begannen, auch allgemeine ästhetische Aussagen in ihre Filmkritiken zu integrieren. Hierzu gehörte beispielsweise der vielseitige Schriftsteller Béla Balázs, der 1924 die wichtige frühe filmtheoretische Studie „Der sichtbare Mensch“ publizierte (zu Divergenzen zwischen Balázs’ und Kracauers Anschauungen siehe S. 51).114 Das Herausarbeiten einer besonderen Filmästhetik von Balázs, Kracauer u. a. unterstützt die weiterhin in Entwicklung befindliche Emanzipation der FilmrezensentInnen von den TheaterkritikerInnen.115 Kracauer ist somit zu den ambitionierten FilmkritikerInnen zu zählen, die damals das Schreiben über Film weiterentwickelten und eine theoretischere Auseinandersetzung zu suchen begannen. Dadurch unterstützten sie die Professionalisierung der Filmkritik.116 An einer anderen Debatte, nämlich der Berücksichtigung der Filmpraxis, die wenig später zwischen Willy Haas und dem Schriftsteller Hans Siemsen intensiv diskutiert wurde, nahm Kracauer jedoch nicht teil.117 Siemsen befürwortete eine von der Industrie unabhängige Kritik und Haas unterstützte eine Kooperation mit der Filmpraxis. Kracauer dagegen war wie Balázs ausschließlich Kinobesucher und berücksichtigte nicht den Entstehungsprozess.118 Exemplarisch konnte aufgezeigt werden, wie Grunes Film Die Straße, der innovativ war, aber auch durch geschicktes Marketing große Aufmerksamkeit erregt hatte, ein besonderes Interesse bei Kracauer weckte. Insbesondere die zweite Rezension zu Grunes Die Straße verfasste er mit detaillierteren ästhetischen Überlegungen ausgehend von seiner besonderen philosophischen Perspektive. Förderlich war zudem die Publikationsmöglichkeit im Feuilleton der FZ, für die Kracauer die allgemeinen Aussagen der ersten Rezension erweiterte. Dabei griff Kracauer offenkundig auf frühere Ansätze von Lukács zurück. Dies verdeutlicht exem­ pla­risch auf eindrückliche Weise, dass der filmästhetische Exkurs vor dem Ersten Weltkrieg von den Filmkritikern in der Weimarer Republik weitergeführt und vertieft wurde. Hans Siemsen polemisierte 1925 allerdings gegen andere Filmkritiker: Sie denken sich alles mögliche aus, sie denken sich mehr aus als alle anderen Kino-Kritiker der Welt. Sie können alle dicke Bücher schreiben über Theorie und Philosophie, über die Aufgaben und die ästhetischen Gesetze des Films. Aber sehen können sie nicht.119

Kracauer nimmt jedoch trotz seiner philosophischen Interpretation sehr viele Einzelheiten von Grunes Film insbesondere in seiner ersten Rezension wahr, weshalb die Kritik von Siemsen auf ihn nur bedingt zutrifft.

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Balázs 1924; s. a. Diederichs 1996, S. 7. – Balázs war später auch als Regisseur tätig. Steinitz 2015, S. 72. Diederichs 1996, S. 7; Kaes 2016, S. 7; Prümm 1990, S. 21. Diederichs 1996, S. 6. Michael 1993, S. 54. Siemsen 1925 (2012), S. 213f.

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Kracauers Bezugnahme auf Die Straße 1925

Kracauers Bezugnahme auf Die Straße 1925 Ästhetische und metaphysische Kontexte Im folgenden Jahr integriert Kracauer Ausführungen zu Grunes Die Straße in die ästhetische Abhandlung „Der Künstler in dieser Zeit“, in der Grunes Film als Exempel für Massenkunst fungiert.120 Im Zentrum des Artikels steht die Auseinandersetzung mit Hochkunst und den aktuellen Problemen der Künstler.121 Grunes Film greift Kracauer dabei als „geschichtsphilosophisches Sinnbild für die Moderne schlechthin“ auf.122 Der Text kreist um die im Folgenden zusammengefassten Hauptinhalte, wobei mehrere Thesen apodiktisch von Kracauer statuiert werden und rational nicht nachvollziehbar sind.123 Laut Kracauer ist die Kunst in einem Zwischenreich zu finden. Dieses ist von den „wirklichen Menschen“ durchwohnt, die sich mit dem Göttlichen verknüpfen und nur so Halt bekommen.124 Der Künstler muss diese Verbindung zum Göttlichen zum Ausdruck bringen, so dass „im ästhetischen Gebilde Welthaftes auf in Wirklichkeit Gemeintes geordnet wird“. So halte das Kunstwerk „der Welt einen Spiegel vor, der sie nicht nur spiegelt, sondern sehend macht.“125 Wenn die Seele um Erlösung bangen muss, würde der Künstler sie leiten können, „damit sie Tragik und Hoffnung allerorten wiederfinde […].“126 Hier ist der Einfluss von Lukács erkennbar, der es in seiner Theorie des Romans als Aufgabe eines großen Kunstwerkes ansieht, die Totalität von Individuum und Gesellschaft wiederherzustellen.127 In ähnlicher Weise sei laut Kracauer die „Mindestleistung der künstlerischen Existentialität“, „daß sie aus den blind umgetriebenen Elementen einer zerfallenen Welt ein Ganzes bildet.“ Eine Bedingung dafür sei jedoch, dass der Künstler die Glaubensaussagen vorfindet, in denen die ästhetischen Formen gründen.128 In der Moderne sei die dafür notwendige Verbindung zu Gott jedoch nicht mehr gegeben, was Kracauer an Grunes Film Die Straße verdeutlicht, der die „entleerte Welt“ darbiete und deren „Gehaltlosigkeit“ spiegele.129 Gezeigt werde im Film die Welt ohne einen Bezug auf das Obere und daher seien die Menschen seelenlos und dem Tod verfallen.130 Die Handlung und Schauspieler werden nicht näher behandelt. In erster Linie wird von Kracauer die Atmosphäre des Films mit der Erwähnung einiger signifikanter Details wie die Lichtreklame oder die morgendlichen 120 Siegfried Kracauer, Der Künstler in dieser Zeit (Der Morgen, April 1925), SKW 5:2, S. 232–242 (Nr. 239). 121 Kracauers nicht genderneutrale Bezeichnung des Künstlers wird hier beibehalten, da sie den originalen Textduktus repräsentiert. 122 Michael 1993, S. 87. 123 Kracauer macht selbst darauf aufmerksam, dass „[d]em Denken nicht zu erschließen ist, wie die Beziehung [zur göttlichen Sphäre] geartet sein müsse, die ihnen Wirklichkeit schenkt; daß sie gelebt und erfahren sei, ist stets und überall gefordert.“ – SKW 5:2, S. 253. 124 SKW 5:2, S. 233. 125 Ebd., S. 234. 126 Ebd., S. 236. 127 Lukács (1920) 1994; s. a. Michael 1993, S. 91. 128 SKW 5:2, S. 234f. 129 Ebd., S. 232f. 130 Ebd., S. 236.

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­ apierfetzen charakterisiert. Dabei sind Übereinstimmungen mit den Rezensionen von 1924 P erkennbar, auch wenn der Aspekt der Sehnsucht nach Sinnerfüllung etwas weniger betont wird.

Bezüge zu „Die Wartenden“ Ähnlich wie in seinem Essay „Die Wartenden“ betont Kracauer zudem in „Der Künstler in dieser Zeit“, dass man sich mit der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ der Moderne abfinden und sich auf das unwirkliche Leben einlassen solle, denn „Amerika [verschwinde] erst …, wenn es ganz sich entdeckt, und [sie] meinen die Nacktheit der Straße auch dort noch zu sehen, wo Zierat und Erker sich idyllisch verkleiden.“131 Trotzdem solle man sich nicht der in dem Text „Die Wartenden“ skizzierten Gruppe der „prinzipiellen Skeptiker“ anschließen, sondern genau wie der Menschentypus der geduldig Wartenden weiterhin „den Anruf erharren, der auf das Göttliche verweist“.132 Dem Künstler bleiben in der Moderne laut Kracauer nur drei Alternativen übrig, die Kracauer an den drei schon vorgestellten Gruppen aus „Die Wartenden“ orientiert hat (siehe S. 43). Dies ist bislang in der Forschung noch nicht herausgestellt worden, es belegt jedoch die Bedeutung des Essays „Die Wartenden“ für Kracauers eigene Schriften in den nächsten Jahren. So könne der Künstler sich wie die „Kurzschluß-Menschen“ in „Die Wartenden“ religiöse Befugnisse anmaßen, die ihm in der Moderne nicht zustehen, wie zum Beispiel der Expressionist Fritz von Unruh.133 Solche künstlerischen Erzeugnisse sind laut Kracauer nicht glaubwürdig. Um dies zu untermauern, verweist er auf den Philosophen Franz von Baader, dessen Gedankengut in seinem Freundeskreis damals sehr präsent war.134 Die „Kurzschluss“-Künstler würden nämlich die Mitte überfliegen, die Baader als Ideal zwischen den Extremen in allen Bereichen ansah.135 Des Weiteren gibt es auch unter den Künstlern „prinzipielle Skeptiker“, die sich ausschließlich der Darstellung der entleerten Welt, der „Oberfläche des Lebens“, widmen, die ebenfalls im Film repräsentiert wird. Laut Kracauer handele es sich dann jedoch nicht um große Kunst. Als Beispiel führt Kracauer u. a. Max Beckmann an. Für die Künstler, die trotz des fehlenden Bezugs auf das Obere im ästhetischen Bereich eine Verknüpfung zu diesem versuchen, beständen eklatante Umsetzungsschwierigkeiten. So würde die „Ironie der Hilf131 Ebd., S. 238. 132 Ebd. 133 Schon am 18.8.1920 hat Kracauer in der FZ in seinem Artikel „Schicksalswende der Kunst“ die expressionistischen Künstler dafür kritisiert, dass diese einen „neuen Geist zwar proklamiert, ihn aber zu Schöpfungen verdichtet [haben], die bar jedes Wirklichkeitsgehaltes sind.“ (SKW 5:1, S. 99). – 1918 hatte sich Kracauer auch schon in einer Abhandlung eingehender mit dem Expressionismus auseinandergesetzt [Kracauer (1918) 2004]. 134 Das Gedankengut Franz von Baaders, der auch als Arzt und Bergbauingenieur tätig gewesen war, war u. a. wegen der Dissertation von Leo Löwenthal im Freundeskreis von Kracauer präsent – Löwenthal 1923. 135 Siehe u. a. Baader 1829.

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losigkeit“ Arnold Schönbergs Pierrot lunaire zum Ausdruck bringen.136 Über dieses Werk hat sich Kracauer mit Adorno ausgetauscht, der 1925 in Wien ein Kompositionsstudium aufnahm.137

Bezüge zu dem Traktat Der Detektiv-Roman Der Essay „Der Künstler in dieser Zeit“ ist ebenfalls von der im Februar 1925 abgeschlossenen Studie Der Detektiv-Roman beeinflusst.138 Durch eine Bezugnahme auf diese werden die metaphysischen und ästhetischen Aussagen von Kracauer in seiner Auseinandersetzung mit dem Film Die Straße 1924/1925 besser nachvollziehbar. Er verwendet in Der Detektiv-Roman ein dreistufiges, von Kierkegaard entlehntes hierarchisches Sphärenmodell. In dieses versucht er sein früheres Modell vom Sinnverlust zu übersetzen.139 Die höhere Sphäre ist der Ort des Göttlichen und der Verkündigung des göttlichen Wortes. Die niedere Sphäre ist dagegen der Ort des nur Seienden und Elementarischen und damit der zeitgenössischen Gesellschaft, die laut Kracauer keine Beziehung mehr zum Göttlichen aufweist. In ihr hat eine vollständige „Entwirklichung“ stattgefunden. Im Raum der Mitte wäre ein Existieren des Gesamtmenschen möglich, der sich zum Göttlichen verhält. Auch wäre ein humanes Miteinander möglich.140 Kracauer präferiert in dieser Werkphase ein mittelalterliches statisches Weltbild mit einer ständischen Ordnung als Ideal,141 das auch seine Ästhetik prägt. Der Künstler soll laut Kracauer Diener Gottes sein. Während Kracauer sich in Der Detektiv-Roman und „Der Künstler in dieser Zeit“ von ästhetischen Autonomiemodellen deutlich distanziert, waren dagegen seine früheren kunsttheoretischen Überlegungen vor 1920 noch von einem lebensphilosophischen Kunstidealismus geprägt.142 In seiner Abhandlung über den Detektivroman stellt er dagegen kritisch heraus, dass der zeitgenössische Künstler generell nicht die Rolle eines Propheten annehmen könne. Damit würde das Ästhetische überbeansprucht und der Künstler an einen falschen Platz gewiesen werden. Für Kracauer ist Hochkunst ein „Spiegel der Vollkommenheit“, da sie im Ästhetischen eine Verknüpfung mit dem Wirklichen durchführe und so den Abglanz der Erlösung zum Ausdruck bringe.143 Genau wie er Film und Jazz in „Der Künstler in dieser Zeit“ von Hochkunst abgrenzt, ist auch der Detektivroman für Kracauer kein Kunst-

136 SKW 5:2, S. 240 f. 137 AKB, S. 33. 138 Jörg Später verweist in seiner Biographie über Kracauer im Zusammenhang mit „Der Künstler in dieser Zeit“ nur sehr kurz ohne genauere Erläuterungen auf Der Detektiv-Roman – Später 2016, S. 150f. Bei anderen Arbeiten Kracauers von 1925/6 gibt es ebenfalls Parallelen zu seiner Studie über den Detektivroman – siehe z. B. Prümm 1994. 139 Siehe Mülder 1985, S. 40; Frisby 1989; ders. 2013, S. 126–134. 140 SKS I, S. 107–121. 141 Mülder 1985, S. 40; Mülder-Bach 1987, S. 363. Klaus Michael hat auf die Prägung durch Max Scheler aufmerksam gemacht – Michael 1993, S. 93. 142 Siehe auch Bäumer 1992, S. 171. 143 SKS 1, S. 202 mit Anm.

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werk. Er vermittelt jedoch trotzdem ein ästhetisches Spiegelbild, allerdings nicht von der göttlichen Perfektion, sondern von der Unordnung der entwirklichten Gesellschaft. Damit erfüllt der Detektivroman dieselbe Funktion wie der Film, der laut Kracauer die Gehaltlosigkeit des scheinhaften äußeren Lebens widerspiegelt.144 Auch wenn für Kracauer massenkulturelle Zeugnisse nicht die Möglichkeit bieten, Kritik zu üben, sei ihre ästhetische Leistung nicht zu unterschätzen. Denn aufgrund ihrer entwirklichten Verfassung könne die Gesellschaft auf direktem Wege kaum noch erkannt werden: In den Sphären minderer Wirklichkeit schwindet mit dem existentiellen Zug das Bewußtsein von der Existenz und den eigentlichen Gegebenheiten, und getrübter Sinn verwirrt sich in dem Labyrinth des verzerrten Geschehens, um dessen Verzerrung er nicht mehr weiß.145

Da das entwirklichte Leben somit die Möglichkeit eingebüßt habe, von sich selbst Zeugnis zu geben, müssten dies nun ästhetische Formen wie Film und Detektivroman übernehmen, die Mittel der Erkenntnis seien: „Ohne Kunstwerk zu sein, zeigt doch der Detektiv-Roman einer entwirklichten Gesellschaft ihr eigenes Antlitz reiner, als sie es sonst zu erblicken vermöchte.“146 Die moderne Massenkultur, die von den vielen Gebildeten in den 1920er Jahren ­immer noch verschmäht wurde, bildete für Kracauer eine notwendige Ergänzung zur philosophischen Erkenntnis.147 Dabei werde laut ihm auch eine Projektion auf die durch die Welt verzerrten wirklichen Gehalte möglich. Im Detektivroman stelle so die entwirklichte Gesellschaft ein „übersetzbares Gegenbild der eigentlichen Wirklichkeit“ dar.148 In diesem Zusammenhang wird eine auf den ersten Blick enigmatische Formulierung in „Der Künstler in dieser Zeit“ verständlich, die auch in der Kurzfassung „Filmbild und Prophetenrede“ zu finden ist. Kracauer statuiert dort nämlich, dass das verneinte Höhere sich indirekt äußern würde: Doch ist das Wirkliche auch vergessen, so ist es darum nicht getilgt, und in dem Grauen über das Vakuum, das zwischen den Sekunden sich dehnt, gibt das negierte Göttliche sich mittelbar kund.149

144 145 146 147 148 149

SKW 5:2, S. 233. SKS 1, S. 115. Ebd., S. 116. Ebd. Ebd., S. 117. SKW 5:2, S. 236f.

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Unterschiede zu Béla Balázs Die größere Bedeutung des Films in den 1920ern Jahren bewirkte auch, dass einige wichtige theoretische Bücher zum Film publiziert wurden. Kracauer selbst begleitete die Filmproduktion allerdings noch mehrere Jahre mit kürzeren Artikeln, bis er eine umfangreiche Studie zu dieser in Angriff nahm (siehe Kapitel VI). Béla Balázs, der von 1922–25 als Filmkritiker für die Wiener Zeitung „Der Tag“ arbeitete, publizierte schon 1924 die Studie Der sichtbare Mensch […].150 Kracauer ging auf sie 1927 in einer Sammelrezension ein, nahm sie aber wahrscheinlich schon vorher wahr. In seiner Besprechung 1927 lobte er die grundlegenden innerästhetischen Beobachtungen von Balázs. Er stimmte ihm jedoch nicht bei seinen welt­ anschaulichen Äußerungen zu, die u. a. die Möglichkeiten des Films gegen die moderne Entfremdung betreffen.151 Balázs betonte zwar die Andersartigkeit des Films gegenüber der traditionellen Hochkunst, allerdings gestand er ihm Kunstcharakter zu: „[D]er Film ist eine neue Kunst […].“152 Balázs verknüpft das genuin Neue des Films also mit dem traditionellen organischen Kunstwerk.153 Schon bei seiner Einzelrezension in Der Tag am 18.3.1924 deklarierte Balázs Die Straße als Kunst: „Wir sehen eine neue Kunst entstehen. Trotz allen Widerstands (…) sehen wir, daß der Film allmählich doch zu einer Kunst wird, würdig des Parnasses und des Pantheons.“154 Kracauer unterscheidet sich von dieser Ansicht; er ordnet den Film in „Der Künstler dieser Zeit“ dezidiert der Massenkultur zu. Für ihn kann ein Film zwar eine „Meisterleistung“ sein, aber diese ist darum nicht als Kunst anzusehen.155 Denn für Kracauer müssen Kunstwerke eine Vision des Höheren erahnen lassen, der Film repräsentiert dagegen für ihn eine entfremdete und sinnferne Welt.156 Laut Balázs gewähre der Film dem Menschen zudem eine neue Sichtbarkeit: „Der Film ist es, der den unter Begriffen und Worten verschütteten Menschen wieder zu unmittelbarer Sichtbarkeit hervorheben wird.“157 Mensch und Seele sind zentrale Begriffe in Der sichtbare Mensch. Kracauer betont demgegenüber, dass der Film eine seelenlose Welt abbilde.158 Auch arbeitet er an einer Ästhetik der Massen­ kultur, während Balázs seine Schrift als Ergänzung der traditionellen Kunstphilosophie sieht.159

150 Balázs 1924. 151 SKW 6:1, S. 370–372. – Vgl. dagegen die nicht überzeugende Ansicht von Jörg Später, dass Kracauer sich u. a. eine ästhetische Grundeinsicht von Balázs einfach zu eigen macht – Später 2016, S. 147. 152 Balázs (1924) 2001, S. 11. 153 Prümm 1995, S. 247; Steinitz 2015, S. 78. 154 Balázs 1924b. 155 SKW 6:1, S. 55. 156 Michael 1993, S. 88. 157 Balázs 2001, S. 19. 158 SKW 5:2, S. 236f. 159 Balázs 2001, S. 9.

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Der Publikationskontext von „Der Künstler in dieser Zeit“ Die Analyse des Publikationskontextes des Aufsatzes „Der Künstler in dieser Zeit“ in Der Morgen ist äußerst aufschlussreich für die Verortung von Kracauers Position in den intellektuellen Netzwerken seiner Zeit. Die zunächst von Julius Goldstein herausgegebene Zeitschrift Der Morgen erschien im Berliner Philo-Verlag ab April 1925 (Abb. 6).160 Bei dem Konzept dieser Zeitschrift orientierte man sich an Carl Muths Zeitschrift Hochland, die mit überkonfessionellen BeiträgerInnen einen Dialog von Katholizismus und modernem Gedankengut fördern wollte.161 Entsprechend dazu wollte man mit Der Morgen die Verständigung zwischen Juden und Nichtjuden unterstützen. So sollte ein Forum auch für säkulare Themen mit den Beiträgen von renommierten jüdischen und nichtjüdischen AutorInnen geboten werden. Zusätzlich zu den AbonnentInnen wurde Der Morgen kostenlos an wichtige VermittlerInnen in christlichen Kreisen geschickt. Die Zeitschrift war eigenständig, jedoch stand sie mit dem „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (C. V.) in lockerer Verbindung.162 Die Zeitschrift Der Morgen war somit ein Prestigeprojekt der Jüdinnen und Juden in Deutschland, das lange von Julius Goldstein geplant und vorbereitet worden war.163 Man könnte es daher als eine besondere Ehre für Kracauer ansehen, dass er zur ersten Ausgabe einen Aufsatz beitragen konnte. Denn mehrere Beiträger waren schon etablierter und älter als er.164 Es stellt sich natürlich die Frage, warum Kracauer für einen Beitrag ausgewählt worden war. Vom Herausgeber der Zeitung scheinen hierzu leider keine Notizen, briefliche Mitteilungen o. Ä. erhalten zu sein.165 Ihm war Kracauer allerdings schon länger bekannt, denn er hatte 1907 zu Beginn seines Architekturstudiums als einziges nichtfachliches Kolleg bei Julius Goldstein die Lehrveranstaltung „Hauptfragen der Ethik“ besucht.166 Allerdings

160 Bis Oktober 1933 wurde Der Morgen als Zweimonatsschrift herausgegeben, dann wechselte man zu einer monatlichen Erscheinungsweise. Die letzte Ausgabe erschien durch den Nationalsozialismus bedingt im Oktober 1938. – Goldstein war bis zu seinem Tod 1929 als Herausgeber der Zeitschrift tätig, anschließend gab seine Frau diese bis 1936 heraus. 161 Darüber hinaus ist auch die 1889 von Israel Abrahams und Claude Montefiori gegründete Jewish Review ein Vorbild für die Zeitschrift Der Morgen gewesen – siehe Zuber 2008a. 162 Der 1883 gegründete C. V. unterstützte die Gleichberechtigung der deutschen Jüdinnen und Juden gegen den steigenden Antisemitismus. – Die Initiative zu Der Morgen wurde auch von dem C. V.-Leiter Ludwig Holländer unterstützt. Sie erschien im Philo-Verlag, der vom C. V. gegründet worden war. Über die Organe des C. V. wurde viel Werbung für die Zweimonatsschrift betrieben. Bislang gibt es zu Der Morgen leider nur wenige Forschungsbeiträge. Derzeit arbeitet Tobias Bargmann an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) an einer Dissertation zu Der Morgen. 163 Julius Goldstein berichtete schon 1922 von dem Zeitschriftenvorhaben – Krah 2016, S. 44. 164 In der ersten Ausgabe von Der Morgen waren alle Beiträger männlich, daher wird hier auch nur die männliche Form gewählt. Erst im dritten Heft zählten zwei Frauen zu den VerfasserInnen der Artikel. 165 Laut Tobias Bargmann, der in seinem Dissertationsprojekt die Zeitschrift Der Morgen behandelt, gibt es keine weiteren Materialien zur Zusammenstellung des ersten Heftes und der einzelnen Beiträge (freundliche Mitteilung von Tobias Bargmann per E-Mail am 23. September 2018). 166 Belke/Renz 1988, S. 7f.

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6  Deckblatt der Zeitschrift Der Morgen, April 1925, J. C. S. Universitäts­biblio­thek Frankfurt a. M, Compact Memory.

war er dabei nicht immer mit Goldstein einer Meinung gewesen.167 Anschließend wechselte Kracauer für das Studium nach Berlin und besuchte keine weiteren Lehrveranstaltungen bei Goldstein mehr. Jener behielt seine früheren Studierenden von der Technischen Hochschule in Darmstadt generell weiterhin in guter Erinnerung, da diese seiner Meinung nach wirklich an den Inhalten interessiert gewesen wären.168 Auf Kracauer trifft dies besonders zu, da er seinen Architektenberuf nur sehr kurz ausführte, dann mehrere theoretische Schriften verfasste und schließlich eine Anstellung bei der FZ fand. Goldstein und Kracauer hatten Gelegenheit, sich mehrere Jahre nach Kracauers Studium persönlich zu treffen. So besuchten sie beide soziologische Tagungen wie z. B. den Soziologentag 1924.169 Weitere Kontaktmöglichkeiten waren möglicherweise auch über das jüdische 167 Kracauer teilte z. B. damals mit anderen Studienkollegen Goldsteins Ansichten über die Reformpädagogin Ellen Key nicht – Belke/Renz 1988, S. 8 mit Verweis auf den Eintrag in Kracauers Studententagebuch am 21.6.1907. 168 Zuber 2008, S. 210. 169 Kracauer und Goldstein besuchten beide beispielsweise den Soziologentag der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Heidelberg vom 28.–30.9.1924 – siehe Zuber 2008, S. 193 sowie Kracauers Bericht „Der

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Netzwerk in Hessen gegeben. Das Haus von Siegfried Kracauers Onkel Isidor Kracauer und seiner Tante Hedwig Kracauer war sehr gesellig und Siegfried Kracauer verkehrte auch in diesem.170 Sein Onkel war zudem für seine regionalgeschichtlichen Veröffentlichungen bekannt. Der erste Band seiner von Hedwig Kracauer postum herausgegebenen Geschichte der Juden in Frankfurt am Main 1150-1824 rezensierte Julius Goldstein in Der Morgen im Dezember 1925 und würdigte ihn als „Meisterwerk“.171 Auch der zweite Band des Hauptwerks von Kracauers Onkel wurde in der April-Ausgabe von Der Morgen 1928172 unter den Neuerscheinungen erwähnt und in der Augustausgabe im selben Jahr besprochen. Der Rezensent Max Dienemann empfahl diesen zweiten Band „[a]us dem Gebiete der jüdischen Geschichtsforschung [...] mit besonderem Nachdruck“.173 Goldstein war ebenfalls mit Franz Rosenzweig und dem Religionsphilosophen Martin Buber bekannt, die in Der Morgen publizierten. Mit Rosenzweig und Buber stand Kracauer 1925 in lockerer Verbindung, auch wenn der Kontakt damals schon schwieriger war. Ein Bruch erfolgte erst 1926 aufgrund Kracauers kritischer Rezension von Bubers und Rosenzweigs Bibelübersetzung. Zuvor nahm Kracauer zwischen 1921 und 1924 an den Aktivitäten des „Freien Jüdischen Lehrhauses“ in Frankfurt teil, einer von Franz Rosenzweig geleiteten Institution für Erwachsenenbildung.174 Eine Dozententätigkeit von Kracauer war wegen seiner Sprachbehinderung jedoch sehr problematisch. Auch war Kracauer gegen die theologischen Lehrinhalte dieser Institution reserviert eingestellt. So richtete sich seine Kritik in „Die Wartenden“ an den „homini religiosi“ indirekt auch an Buber und Rosenzweig.175 Rosenzweig wiederum äußerte sich Anfang Dezember 1922 über Kracauers Mitarbeit am Lehrhaus 1921/22 negativ: Kracauer war auch insofern eine [...] Pleite, weil er infolge eines Sprachfehlers nicht öffentlich sprechen kann [...]. Freilich hatte er ein wörtliches Manuskript mit, das er dann, als es in der letzten Stunde gar nicht ging, mir zuschob, so daß ich’s vorlesen konnte, was dann durch meine eigenen Bemerkungen viel lustiger wurde als die beiden Stunden vorher. Kracauer hat nämlich nur einen Gedanken und noch dazu den, den wir schon vor zehn oder fünfzehn Jahren hatten [...], den er allerdings anscheinend erst seit einem Jahr hat.176

Rosenzweig könnte sich mit der genannten veralteten Ansicht Kracauers u. a. auf Kracauers „Die Wartenden“ oder den Artikel „Autorität und Individualismus“ beziehen.177 Rosenzweig

170 171 172 173 174 175 176 177

Deutsche Soziologentag“ [FZ vom 3.10.1924, in: SKW 5:2, S. 133–141 (Nr. 211)] und Löwenthal/Kracauer 2003, S. 62. Belke/Renz 1988, S. 1f. – Isidor Kracauer starb 1923. Kracauer 1925; Goldstein 1925a. Kracauer 1927; Der Morgen, H. 1, Jg. 4, 1928/1929, S. 106. Dienemann 1928, S. 304. Schivelbusch 1982, S. 35–51. Mülder-Bach 1990, S. 369. Rosenzweig 1979, S. 861; siehe auch Lesch/Lesch 1989. Steinmeyer 2008, S. 163.

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bezeichnete Kracauer auch als „Frankfurter Zeitungs-Schmock“ im Zusammenhang mit dem Essay „Die Wartenden“.178 Wegen seiner Verbindung zur FZ und der Möglichkeit, „die Kreise der Frankfurter Zeitung ins Lehrhaus“ zu ziehen, war Kracauer für das Lehrhaus interessant, auch wenn dieser Plan damals nicht erfolgreich war.179 In ähnlicher Weise war die Möglichkeit von kostenloser Öffentlichkeitsarbeit durch Erwähnung in der FZ wohl für Goldstein ein wichtiges Kriterium, Kracauer für einen Beitrag zu verpflichten. Tatsächlich wurde beim Wiederabdruck des Auszuges aus „Der Künstler in dieser Zeit“ in der FZ in einer Nachbemerkung auch auf Der Morgen verwiesen (siehe S. 59). Mit der FZ konnte man neben den christlichen LeserInnen insbesondere die jüdische Gemeinde in Frankfurt erreichen, die eine der größten in Deutschland darstellte.180 Vom jüdischen Bürgertum wurde die FZ generell bevorzugt gelesen.181 Vielleicht war es dem Herausgeber neben dem strategischen PR-Grund zusätzlich noch ein Anliegen, seinem ehemaligen Studenten eine gute Publikationsmöglichkeit einzuräumen. Auch wenn Kracauer die negative Zeitcharakteristik aus „Die Wartenden“ in „Der Künstler in dieser Zeit“ wieder aufgreift, scheint er in seinem Text zumindest einige wenige Zugeständnisse insbesondere an die religiösen Leser von Der Morgen mit den folgenden Zeilen zu machen: Ist dies die Gegenwart? Gewiß ist sie so nicht allein. Ansätze zu anderem sind in ihr, Gemeinsamkeit wird erstrebt, Gehalte schälen sich halb heraus, und inmitten zertrümmerten Formen und Begriffe findet sich manches Bewahrte noch.182

Trotzdem wird der Text von der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ und Kracauers Position des Wartens dominiert. Letztere war jedoch trotz Rosenzweigs Kritik zunächst vereinbar mit dem Programm des Lehrhauses und war daher auch integrierbar in die Zeitschrift Der Morgen. Denn Goldstein wollte laut seinem Konzept auch kritischere AutorInnen integrieren. So formulierte er in einem Prospekt zu Der Morgen, dass die Zeitschrift um den „religiösen Gedanken“ zu fördern „nicht nur dem alten Wahren, sondern auch philosophischer Kritik das Wort geben [wird]“.183 Goldstein selber gehörte auch nicht zu den in „Die Wartenden“ charakterisierten „Kurzschluss-Menschen“, sondern hinterfragte sein Verhältnis zur Religion.184

178 Rosenzweig 1979, S. 756. – Mit dem aus dem Jiddischen stammenden Wort „Schmock“ wird u. a. ein gesinnungsloser Journalist bezeichnet. Diese Bedeutung geht auf die Benennung eines Journalisten in der 1852 uraufgeführten Komödie Die Journalisten von Gustav Freytag zurück – Freytag (1854) 1977. 179 Ebd. S. 861: „Die Mischvorlesung, die ich auf dem Programm hatte, war für Kracauer eingerichtet. Ich spekulierte so, daß ich dadurch vielleicht die Kreise der Frankfurter Zeitung ins Lehrhaus locken würde wie durch Edinger die Tanten für Frieden und Freiheit. Beides mißlang…“ 180 Todorow 2001, S. 36. 181 Belke 2012, S. 58. 182 SKW 5:2, S. 237. 183 Goldstein 1925. – Der von Goldstein verfasste Prospekt zur Zeitschrift Der Morgen galt lange als verschollen. Ein Scan des Exemplars in Yad Vashem wurde mir von Tobias Bargmann 2018 freundlicherweise digital übermittelt. 184 Krah 2016, S. 44.

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So passte Kracauer mit seiner skeptischeren Sichtweise durchaus zum anfangs intendierten Profil der Zeitschrift. Allerdings wurde sein Beitrag in den Rezensionen der ersten Ausgabe von Der Morgen häufig übergangen.185 Vielleicht verzichtete man auch aus Höflichkeitsgründen auf eine Kritik. In einer bislang in der Forschung nicht berücksichtigten Rezension wurde Kracauers Ausdrucksweise jedoch dezidiert von Adam Röder kritisiert: Ist der Artikel von Kracauer über: „Der Künstler in dieser Zeit“ etwas stark in einem symbolistischen Zierrat gesuchter Sprachlichkeit gehalten, so entschädigen andere Artikel, insbesondere auch der von Loeffler über Geschlechtlichkeit und Sittlichkeit, durch vornehme Form und erschöpfende Sachlichkeit.186

Wegen Kracauers generell komplizierter Diktion wurden anfangs – vor seiner Redakteurstätigkeit – seine eingereichten Aufsätze ebenfalls nicht bei der FZ angenommen.187 Zu einem Beispielkapitel aus der Detektivromanstudie äußerte Hermann Herrigel, ein FZ-Kollege Kracauers, dass es nicht nur vom Stil „reichlich pretiös“, sondern inhaltlich auch zu negativ und repetitiv wäre.188 Die Kritikpunkte der Zeitgenossen an Kracauers Abhandlung Der Detektiv-Roman treffen auf den wenig später verfassten Essay „Der Künstler in dieser Zeit“ ebenfalls zu. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Kracauers Mitarbeit in Der Morgen auf eine Ausgabe beschränkt blieb. Denn es war für Goldstein schwierig, sein ambitioniertes Zeitschriftenkonzept tatsächlich umzusetzen. So merkte Goldstein in seinem Tagebuch an, dass Der Morgen auch provozieren und aktuelle Themen behandeln sollte. Allerdings müsse er auf die Orthodoxie Rücksicht nehmen und die Beiträge dürften nicht zu kritisch sein. Auch sollten sie nicht zu schwer sein.189 Kracauers sowohl stilistisch als auch inhaltlich schwieriger Text erfüllte die genannten Präferenzen der LeserInnen jedoch nicht. Sie musste Goldstein allerdings berücksichtigen, da die Zeitschrift auf AbonnentInnen angewiesen war. In der ersten Ausgabe mit Kracauers Beitrag sei das Konzept von Der Morgen noch nicht final gewesen, was von Goldstein in der zweiten Ausgabe betont wurde und er weiterhin die Leserschaft um konstruktive Kritik bat.190 Signifikant ist zudem, dass in den weiteren Ausgaben Essays zu Literatur und Kunst erschienen, die sich vom Inhalt und vom Stil sehr von Kracauers „Der Künstler in dieser Zeit“ unterschieden. Julius Babs Beitrag in der zweiten Ausgabe behandelte die „Eingliederung jüdischen Menschentums ins Lebensgefühl der Abendländer“ anhand von drei Dramen von Shakespeare, Lessing und Hebbel.191 Durch das 185 Einmal wurde in einer Rezension von Der Morgen Siegfried Kracauer sogar mit seinem Onkel Isidor Kracauer in der Central-Verein-Zeitung verwechselt – Levy 1925. 186 Röder 1925. 187 Belke 2012, S. 39. – Möglicherweise erhielt Kracauer erst durch Fürsprache von Margarete Susman die Möglichkeit, als freier Mitarbeiter bei der FZ Beiträge zu publizieren, die dann schließlich nach einigen Monaten zu einer festen Redakteursstelle führten (siehe ebd. sowie Belke/Renz 1988, S. 34f.). 188 Löwenthal/Kracauer 2003, S.  65.  – Auch Karl Mannheim äußerte sich zu dem Beispielkapitel aus ­Kracauers Detektivromanstudie nicht positiv (ebd., S. 59f.). 189 Zuber 2008, S. 205. 190 Goldstein 1925b. 191 Bab 1925, S. 225.

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ausführlichere Eingehen auf die verschiedenen Beispiele ist der Beitrag weitaus verständlicher und in religiöser Hinsicht weniger provokativ als der Kracauers. Noch fasslicher war Hausensteins Studie zu Max Liebermann in der dritten Ausgabe, die erst eine persönliche Begegnung und dann anschaulich den Lebensweg des Künstlers schildert.192 Die steigende Entfernung Kracauers vom jüdischen Zirkel in den nächsten Monaten dürfte zusätzlich begünstigt haben, dass seine Mitarbeit an Der Morgen einmalig blieb. Kracauer beschäftigte sich in den nächsten Monaten mehr mit Marxismus, was nicht nur die Entwicklung seiner soziologischen Filmanalysen, sondern auch eine sehr kritische Auseinandersetzung mit der Bibelübersetzung von Buber und Rosenzweig unterstützte. In dem Essay „Die Bibel auf Deutsch“ betonte er, dass die Übersetzung im Gegensatz zu der Luthers unzeitgemäß sei: „die Verdeutschung Bubers und Rosenzweigs [biegt] von der Öffentlichkeit unseres gesellschaftlichen Daseins ab ins Private.“193 Laut Kracauer ist das Profane in seiner Entwicklung über die theologischen Kategorien hinausgelangt. Die Wirklichkeit ist nicht mehr gegeben, auf die die biblische Sprache ehemals Bezug nahm.194 Daher statuiert er programmatisch: „[D]er Zugang zur Wahrheit ist jetzt im Profanen“.195 Aufgrund der Kritik beendeten Rosenzweig, Buber und die Schriftstellerin Margarete Susman, die einige Jahre mit Kracauer in enger Verbindung stand, aber auch mit Buber und Rosenzweig befreundet war, endgültig den Kontakt zu Kracauer.196 Dies war ebenfalls ungünstig für etwaige weitere Beiträge Kracauers für Der Morgen, denn Susman war z. B. ab 1926 ständige Mitarbeiterin von diesem Periodikum.197 Es ist so nachvollziehbar, aber natürlich auch zu bedauern, dass Kracauer nur einen einzigen Beitrag in Der Morgen veröffentlichte. Denn dieser gab ihm die Möglichkeit, einem größeren Publikum seine damaligen zentralen Überzeugungen mitzuteilen, während andere wichtige Schriften wie u. a. Der Detektiv-Roman unveröffentlicht blieben. In der FZ blieben die allgemeinen Aussagen Kracauers beispielsweise zur geschichtsphilosophischen Situation der Zeit dagegen häufig sehr kurz und stereotyp.

Abdruck kurzer Auszüge aus „Der Künstler in dieser Zeit“ in der FZ Signifikant in diesem Zusammenhang ist auch der Abdruck von nur einigen wenigen Passagen aus „Der Künstler in dieser Zeit“ in der FZ am 5.5.1925. Man hatte wohl mehrere Wochen nach der ersten Ausgabe von Der Morgen gewartet, bis Platz in der FZ war. Durch die Kürzungen verändert sich der Charakter des Textes, der nun wie eine philoso-

192 193 194 195

Hausenstein 1925. Kracauer 1963, S. 183. Ebd., S. 185; Mülder 1985, S. 54. Kracauer 1963, S. 186. Kracauers Kritik an der Bibelübersetzung ist in der Forschung häufig behandelt worden, siehe u. a. Belke 2012, S. 54–60 und Mülder 1985, S. 51–55. 196 Belke 2012, S. 58. 197 Susman hatte Kracauer schon im April 1925 die Freundschaft gekündigt – AKB, S. 49. Siehe auch Belke 2012, S. 53f.

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phische Miniatur und nicht mehr wie eine längere kunsthistorische Abhandlung erscheint. In dem gekürzten Text dominiert die programmatische Zeitcharakteristik mit dem zentralen Filmbeispiel. Die Ausführungen zur Ästhetik am Anfang von „Der Künstler in dieser Zeit“ fehlen, stattdessen setzt der Text mit dem Herausstellen der Filmthematik als Darstellung der Situation des Menschen ohne Bezug zum Oberen ein. Anschließend wird auf die Atmosphäre des Films eingegangen, wobei wie schon in „Der Künstler in dieser Zeit“ nur einige wenige Details der Handlung hervorgehoben werden.198 Dann erfolgt das Plädoyer für ein Einlassen auf die Wirklichkeit mit dem bekannten Bonmot, dass „[s]ie glauben, daß Amerika erst verschwinde, wenn es ganz sich entdeckt [...]“.199 Der Text schließt mit der Forderung, trotzdem die Sehnsucht wachzuhalten, um für einen möglichen Anruf vom Göttlichen vorbereitet zu sein. Die Botschaft des Oberen sei trotzdem gefordert, denn „sonst klafft zwischen Filmbild und Prophetenrede eine einzige Lücke, und die Mitte bleibt unbebaut, leer das Zwischenreich, das beseelte Welt und welthafte Seele miteinander erfüllen.“200 Die Überschrift „Filmbild und Prophetenrede“ ist von dieser Passage im letzten Abschnitt entlehnt und regt das Interesse an, weil sie zwei normalerweise nicht miteinander verbundene Bereiche zusammenbringt. Die Passagen aus „Der Künstler in dieser Zeit“ wurden sehr geschickt ausgewählt und gekürzt, sodass sie auch ohne die übrigen Ausführungen für sich bestehen können. Indem das Filmbeispiel am Anfang steht, wird der Text besser verständlich. Dies lässt auf einen erfahrenen FZ-Mitarbeiter bei der Endredaktion schließen. Einem hat Kracauer in seinem Roman Georg ein Denkmal gesetzt, für den er einen fiktiven Namen verwendet hat: Auch die Manuskripte, die Georg Herrn Lawatsch vorlegte, füllten sich bei der Durchsicht regelmäßig mit dem Gekritzel, das der Herstellung ihres druckfertigen Zustands diente. In der Mehrzahl allerdings bestanden die angebrachten Verbesserungen aus Strichen. Während Herr Lawatsch sie vornahm, saß Georg dicht bei ihm und verfolgte in der Erinnerung seine eigenen Sätze. Und wie kurz er sich gefaßt zu haben glaubte, von dem Augenblick an, in dem er seine Niederschrift ausgeliefert hatte, merkte er, daß sie viel zu weitschweifig war. Sie begann sich in der Nähe des Lokalredakteurs gleichsam zu dehnen, und auch Georg selber hatte das Gefühl, plötzlich in die Länge geschossen zu sein. Wunderbar war, daß sich unter den redaktionellen Händen Lawatschs jedes Manuskript beträchtlich verkleinerte, ohne darum auch nur im geringsten ärmer an Inhalt zu werden. Aus einem Schloß schrumpfte es zu einer Hütte zusammen; aber das Schloß war in Wirklichkeit ein Trugbild gewesen. Obwohl Georg dem Phantom immer nachtrauerte, erkannte er doch die Korrekturen von Lawatsch an. „Wenn die Herren von der Politik richtig zu redigieren verstünden,“ knurrte der befriedigt aus der Hütte heraus, „enthielte die Zeitung nicht halb so viel Blödsinn“.201

198 SKW 6:1, S. 138. 199 Ebd., S. 139. 200 Ebd. 201 Kracauer (1934) 2013, S. 59. – Das Redigieren in einer Berliner Zeitung thematisiert auch Gabriele Tergit sehr anschaulich in ihrem Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm – Tergit (1931) 2017, S. 9–15.

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Transzendentale O ­ bdachlosigkeit in dem Film La grande bellezza

Aufgrund der rigorosen Kürzungen von „Der Künstler in dieser Zeit“ für „Filmbild und Prophetenrede“ werden natürlich die Aussagen nicht nur konzentriert, sondern auch Inhalt wird fortgelassen. Gerade auf Kracauers Ausführungen einer idealen Beziehung zu Gott wird verzichtet. Dafür dominiert nun sein Plädoyer für ein Einlassen auf die aktuellen Gegebenheiten. Der Text wirkt so säkularer. Auch bei dem Verweis auf die Zeitschrift am Ende des Textes wird der jüdische Hintergrund von Der Morgen zwar erwähnt, jedoch nicht betont oder weiter ausgeführt. Von den damals vom Herausgeber im Prospekt für die nächsten Ausgaben geplanten BeiträgerInnen werden nur fünf namentlich angegeben. Dabei wurden diejenigen ausgewählt, die von allgemeinem Interesse und nicht speziell auf eine besonders religiös interessierte Leserschaft ausgerichtet waren.202 Die religiöse Ausrichtung von Der Morgen wird somit in der FZ beim Wiederabdruck der ausgewählten Passagen aus „Der Künstler in dieser Zeit“ nicht in den Vordergrund gestellt. Dies hing auch mit der Programmatik der FZ zusammen. Denn auch wenn die Eignerfamilie Simon-Sonnemann und ein Teil der Mitarbeiter jüdisch waren, wird z. B. bei anderen Rezensionen, Gratulationen und biographischen Porträts kaum auf die jüdische Herkunft oder jüdische Kontexte hingewiesen.203 Indem auf die Zeitschrift mit Kracauers Beitrag aufmerksam gemacht wird, unterstützt die FZ jedoch trotzdem indirekt das programmatische Anliegen, dem Antisemitismus entgegenzuwirken, ohne auf diese Zielsetzung von Der Morgen näher einzugehen. Kracauers besondere philosophische Sichtweise auf den Film erhielt in diesem Zusammenhang eine weitere Publikationsmöglichkeit im überregionalen Feuilleton der FZ mit dessen größerem Rezipientenkreis.

„Der einsame Wanderer“ im 21. Jahrhundert – Transzendentale ­Obdachlosigkeit in dem Film La grande bellezza In Bezug auf Karl Grunes Die Straße ist Kracauers Interpretation als Allegorie der nichtigen Welt oktroyiert. Sein philosophischer Deutungsansatz wäre wohl passender für vom Existenzialismus beeinflusste Filme nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen.204 Im amerikanischen Exil erregten z. B. italienische neorealistische Filme Kracauers Aufmerksamkeit; auf diese nimmt er in seiner Theory of Film häufig Bezug. Für die Filme von Federico Fellini ist dabei laut Kracauer eine „intense preoccupation with the shelterless individual in quest for sympathy and purpose“ charakteristisch.205 Die „human loneliness“ verbinde Fellini gerade mit Straßenszenen.206 Zentrale Themen aus seiner frühen Filmkritik greift Kracauer somit in seiner späten Filmtheorie wieder auf.

202 SKW 6:1, S. 140, Anm. 2. 203 Todorow 2001, S. 38. 204 Der spätere Existenzialismus divergiert allerdings von dem Kracauers. – Zu Existenzialismus im Film siehe z. B. Pamerleau 2009. 205 Kracauer 1960, S. 310. 206 Ebd., S. 255.

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Wenn Kracauer heute leben würde, wäre sein Interesse wohl besonders von Paolo Sorrentinos La grande bellezza aus dem Jahr 2013 geweckt worden,207 einem Film, der sich u. a. durch Anleihen an Fellini auszeichnet.208 Im Zentrum dieses Films steht Jep Gambardella (Toni Servillo), dessen Romandebüt vierzig Jahre zuvor viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Danach hat Gambardella jedoch kein weiteres fiktionales Buch mehr geschrieben, sondern nur noch Interviews für ein elitäres Magazin verfasst, was er im Film folgendermaßen erläutert: „Ich wollte der König der mondänen Welt sein. […] Ich wollte nicht nur an Partys teilnehmen. Ich wollte die Macht haben, sie zum Scheitern zu bringen.“209 Sein 65. Geburtstag, ein gerade noch abgewendeter Zusammenstoß mit einem Auto sowie zwei Todesfälle in seinem Freundeskreis bewirken, dass Gambardella sein Leben und sein Umfeld reflektiert. Er denkt daran, einen weiteren Roman zu schreiben. Am Ende wird klar, dass der Film dieses Buch ersetzt. Die vielen filmhistorischen Referenzen und die Präsenz der Stadt Rom waren förderlich für den großen Erfolg des Films, der neben mehreren anderen Preisen 2014 auch mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet wurde.210 Durch das Flaniermotiv in den nächtlichen Straßen, die vielen Szenen zum Nachtleben und die Kritik der Vergnügungssucht können Parallelen zu Grunes Die Straße gezogen werden. In La grande bellezza ist jedoch die Suche nach Sinn und eine religiöse Sehnsucht tatsächlich in dem Film selbst angelegt, während Kracauer sie in Grunes Die Straße hereininterpretiert. Die Hauptperson in La grande bellezza ist allerdings kein spießbürgerlicher Jedermann, sondern ein betont feinsinniger Schriftsteller mit dandyhaften Zügen. Kracauer sieht in Die Straße die Nichtigkeit des Lebens besonders betont. Dies ist ebenfalls für La grande bellezza prägend, u. a. werden mehrere ausschweifende Feiern mit wildem Tanz, viel Alkohol, Kokain und sensationsheischenden Kunstperformances ausgiebig im opulenten Stil von Baz Luhrmann mit schnellen Kamerawechseln inszeniert (Abb. 7, Taf. I). Damit wird auf die sogenannten „Bunga Bunga“-Parties von Silvio Berlusconi angespielt.211

207 La grande bellezza, R: Paolo Sorrentino, Italien/Frankreich 2013. 208 Offenkundig ist der Einfluss von La dolce vita (R: Federico Fellini, Italien/Frankreich 1960) auf La grande bellezza durch die ähnliche Charakterisierung der Hauptfigur. In La dolce vita ist diese ebenfalls ein Journalist und Schriftsteller in Rom, der sich nach einem sinnvolleren Leben sehnt. Fellinis Film kam erst einige Wochen nach Beendigung von Kracauers Manuskript The Theory of Film im November 1959 in die Kinos. Das Grundthema der existenziellen Fragen stimmt jedoch mit den früheren Filmen Fellinis überein. 209 „Volevo diventare il rei dei mondani. [...] Io non volevo solo partecipare alle feste. Volevo avere il potere di farle fallire.“ – Sorrentino/Contarello 2013, S. 60. 210 Weitere Einflüsse sind u. a. aus Fellinis Roma und Michelangelo Antonionis La Notte zu erkennen (Roma, R: Federico Fellini, Italien/Frankreich 1972; La notte, R: Michelangelo Antonioni, Italien/Frankreich 1961). – Die Preise, die La grande bellezza zuerkannt wurden, waren förderlich für eine große Medienaufmerksamkeit für den Film. Auch wurden schon bald Forschungsbeiträge zu dem viel diskutierten Film publiziert, bei denen u. a. die Einflüsse von Fellini analysiert wurden – siehe beispielsweise Salvestroni 2017, Martini 2015, Mecchia 2016, Öller 2016 und Vernaglione 2014. 211 „Bunga Bunga“ thematisiert Sorrentino selbst kurz in einem Interview anlässlich des Filmfestes München – Köhler 2013.

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Transzendentale O ­ bdachlosigkeit in dem Film La grande bellezza

7  Einzelbild aus La grande bellezza, Detail (R: Paolo Sorrentino, Italien/Frankreich 2013, 6:25/2:13:19), mit freundlicher Genehmigung von Indigo Film.

Satirisch werden zudem Selfie-Narzissmus, Schönheitsoperationen und die leere Gefühlswelt der römischen Oberschicht dargestellt. Äußerst eindrücklich ist als Symbol der inneren Versteinerung im Film die Platzierung von Menschen direkt neben Statuen (siehe z. B. Abb. 8, Taf. II).212 Zwar kann Gambardella sich nicht von dieser Welt trennen und ein neues Leben beginnen. Jedoch erkennt er deutlich die Nichtigkeit seines Lebens, die auch für Kracauer ein wichtiges Thema war. Gegenüber seiner Hausangestellten bemerkt Gambardella im Film beispielsweise angesichts besonders ausartender Feierlichkeiten: „Diese Leute. Das ist mein Leben. Und es ist nichts. Flaubert wollte einen Roman über das Nichts schreiben und es gelang ihm nicht. Wie sollte ich es schaffen?“213 Jep macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass mit den Nichtigkeiten die „menzogne“ („Lügen“) und „una vita devastata“ („ein zerstörtes Leben“) verdeckt werden sollen.214 Seine Einsamkeit und Unerfülltheit wird in seinen Spaziergängen allein durch Rom zum Ausdruck gebracht (Abb. 9, Taf. III). In enger Verbindung zu dem Aspekt der Nichtigkeit steht derjenige der Todverfallenheit des Daseins. Dieses Thema durchzieht den ganzen Film. So sind die Todesfälle einer Freundin

212 Mit grotesken Elementen, Reminiszenzen an Luhrmann sowie an den Surrealismus geht Sorrentino stilistisch allerdings über Fellinis Neorealismus hinaus. 213 „Quella gente. Questa è la mia vita. Ed è niente. Flaubert voleva scrivere un romanzo sul niente e non c’è riuscito. Come potrei riuscirci io?“ (Sorrentino/Contarello 2013, S. 158.) – Gustave Flauberts Romanprojekt über das Nichts ist ein wichtiger Referenzpunkt für La grande bellezza. Der französische Schriftsteller erwähnt sein Vorhaben in einem Brief an Louise Colet am 16.1.1852 (Flaubert 1974, S. 158): „Was ich schön finde, was ich gerne machen würde, ist ein Buch über das Nichts.“ („Ce qui me semble beau, ce que je voudrais faire, c’est un livre sur rien […].“) 214 Sorrentino/Contarello 2013, S. 80.

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8  Einzelbild aus La grande bellezza, Detail (R: Paolo Sorrentino, Italien/Frankreich 2013, 2:11/2:13:19), mit freundlicher Genehmigung von Indigo Film.

von Gambardella und eines jungen Bekannten prägend für die Handlung. Die Vergänglichkeitsthematik findet ihren Gipfel im Monolog Gambardellas am Ende des Films: Es endet immer so. Mit dem Tod. Zuerst aber gab es Leben. Versteckt unter dem Bla, Bla, Bla. Es ist der Bodensatz unter dem Geschwätz und dem Lärm. Stille und Gefühl. Emotionen und Angst. Die spärlichen, unbeständigen Blitze der Schönheit. Und dann das trostlose Elend und der erbärmliche Mensch. Alles begraben von der Decke der Peinlichkeit, in der Welt zu sein. Bla. Bla. Bla.215

Rom und insbesondere die dortigen Ruinen aus der Antike werden als sinnfällige Kulisse für die Vanitas-Thematik genutzt, die allerdings in christlicher und nicht wie bei Kracauer in jüdischer Tradition steht. Die Wahl von Rom als Filmschauplatz hat Sorrentino folgendermaßen in einem Interview erläutert: „Weil Rom tot ist. Eine außergewöhnliche tote Stadt. Die Integrität der Leiche ist das große ästhetische und mystische Wunder Roms. Sie starb vor zweitausend Jahren und riecht immer noch gut.“216 Die von Kracauer thematisierte Sehnsucht nach einer religiösen Bindung prägt trotz seiner zynischen Äußerungen die Figur des Jep Gambardella, auch wenn sie keine Conversio bewirkt.217 Fasziniert ist er z. B. von einer jungen Ordensschwester in weißem Habit, die

215 „Finisce sempre cosí. Con la morte. Prima, però, c’é stata la vita. Nascosta sotto il bla bla bla. È tutto sedimento sotto il chiacchiericcio e il rumore. Il silenzio e il sentimento. L’emozione e la paura. Gli sparuti, incostanti sprazzi di bellezza. E poi lo squallore disgraziato e l’uomo miserabile. Tutto sepolto dalla coperta dell’imbarazzo dello stare al mondo. Bla. Bla. Bla.“ (Sorrentino/Contarello 2013, S. 217). 216 „Perché Roma è morta. Una straordinaria città morta. È l’integrità del cadavere il grande miracolo estetico e mistico di Roma. È morta duemila anni fa e profuma ancora.“ – Sorrentino 2014. 217 Der Filmkritiker Bert Rebhandl verweist in seiner tiefgehenden Rezension von „La grande bellezza“ ebenfalls auf die „transzendentale Obdachlosigkeit“ – Rebhandl 2013.

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Transzendentale O ­ bdachlosigkeit in dem Film La grande bellezza

9  Einzelbild aus La grande bellezza, Detail (R: Paolo Sorrentino, Italien/Frankreich 2013, 52:03/2:13:19), mit freundlicher Genehmigung von Indigo Film.

unschuldig mit Kindern in einem Nachbargarten spielt. Sehr positiv ist eine an Mutter Theresa angelehnte Figur im Film gezeichnet. Während für Kracauers Empfinden der transzendentalen Obdachlosigkeit der Erste Weltkrieg und die Inflation wichtige zeitgeschichtliche Hintergründe sind, ist in Sorrentinos Film die Darstellung der Nichtigkeit und die Suche nach Sinnerfülltheit durch die Berlusconi-Ära geprägt. Eine Parallele zwischen dem langjährigen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi und dem im Film so betonten nichtigen Dasein zog der italienische Regisseur in einem in der New York Times veröffentlichten Interview: „Berlusconi made a great contribution to this culture of nothing. […] Berlusconi has contributed greatly to this culture of distraction from important issues. He has promoted a culture of escapism.“218 Auffällig ist jedoch, dass der Film in seiner Kritik auf die Leere der Oberschicht beschränkt bleibt und ein sehr idealisiertes Bild von Rom zeigt.219 Die Unterschichten werden fast nicht ins Bild gebracht. Nur die philippinische Haushaltshilfe von Gambardella ist einige Male zu sehen, die mit ihrem Arbeitgeber einen liebevollen Umgang pflegt. In der Realität wird eine solche sehr freundschaftliche Beziehung wohl eher eine Seltenheit sein. Es wird zudem in La grande bellezza kurz auf die Geldsorgen der Adligen eingegangen, andere gravierende soziale Probleme wie die Jugendarbeitslosigkeit in Italien bleiben bei diesem großen filmischen Gesellschaftstableau jedoch auffälligerweise ausgespart.220 218 Rohter 2013. 219 Auf den privilegierten Status und die daher nicht sehr repräsentative Perspektive von Jep Gambardella hat auch Peter Walker hingewiesen (Walker 2014). – Auf das idealisierte Rombild im Film, in dem die Stadt äußerst ordentlich, vollständig restauriert und sauber erscheint, hat Stefanie Öller in ihrer Masterarbeit aufmerksam gemacht (Öller 2016b, S. 96). 220 Ab Jahresbeginn 2011 ist z. B. die Zahl der jungen Arbeitslosen in Italien kontinuierlich gestiegen – APA 2011. Siehe auch Luigi Carmelitanos Erwähnung der Finanzdefizite der Stadt Rom – Carmelitano 2014.

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10  Einzelbild aus La grande bellezza, Detail (R: Paolo Sorrentino, Italien/Frankreich 2013, 1:29:41/2:13:19), mit freundlicher Genehmigung von Indigo Film.

In dem Film wird im Zusammenhang mit den Todesfällen in Gambardellas Bekanntenkreis ebenfalls das Wrack der Costa Concordia, des 2012 an der italienischen Küste havarierten Kreuzfahrtschiffes, gezeigt. Dabei wird mit einer Rückenansicht von Gambardella auf Caspar David Friedrich Bezug genommen (Abb. 10, Taf. IV). Die erhabene Wirkung von dessen Gemälde Mönch am Meer oder des Bildes Das Eismeer mit einem Schiffswrack kann die sonnendurchflutete Meerlandschaft jedoch nicht vermitteln und die Szenerie wirkt zu schön für die Todesopfer, die mit der Costa Concordia in Verbindung stehen.221 In seiner amerikanischen Werkphase hätte Kracauer mit abgeklärter Altersweisheit wohl das Zugeständnis gemacht, dass Paolo Sorrentinos Anliegen einer Kritik der Leere der Oberschicht und der dafür genutzte Stil seine Berechtigung haben. Denn er räumt in seiner Theory of Film mehreren Themen eine Berechtigung im Film ein.222 Das betont ästhetische Abbilden der eskapistischen „Kultur des Nichts“ von Berlusconi mit verhaltener Groteske in La grande bellezza beinhaltet jedoch keine tiefer gehende kritische Analyse der Situation. Darüber hinaus wirkt ein Einbringen der Mutter Theresa ähnlichen Person der „Santa“ mit ihrer Forderung eines Lebens in Armut und ihrem büßerischen Verhalten für einen Ablass nicht unangemessen.223 Denn Italien war Anfang der 2010er sehr verschuldet und hochrangige Politiker pflegten einen hedonistischen Lebenswandel. Die Filmfigur der „Santa“ stellt mit ihrer Askese und ihren Taten der Nächstenliebe ein positives Gegenbild und einen Aufruf zur Mäßigung dar. Für die komplexen ökonomischen und sozialen Probleme des Landes ist der im Film vermittelte Lösungsansatz jedoch sehr plakativ. 221 Caspar David Friedrich, Der Mönch am Meer, Öl auf Leinwand, 1808–1810, 110 × 172 cm, Berlin, Alte Nationalgalerie; Caspar David Friedrich, Das Eismeer, 1823–1824, Öl auf Leinwand, 96,7  × 126,9 cm, Hamburg, Hamburger Kunsthalle. 222 Kracauer 1960, S. 310. 223 Die „Santa“ genannte Frau kriecht am Ende des Films die „Scala Santa“ trotz ihres hohen Alters betend auf Knien herauf.

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III. Film als Spiegel der Gesellschaft – Siegfried Kracauer und die kinobegeisterten „kleinen Ladenmädchen“ Die Filme sind der Spiegel der bestehenden Gesellschaft.1 – Siegfried Kracauer

Kracauers sozialkritische Filmanalyse Im März 1927 erschien in der Frankfurter Zeitung die achtteilige Artikelserie „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“, deren Verfasser Siegfried Kracauer eine für die damalige Filmkritik neuartige sozialkritische Perspektive einnimmt.2 Er analysiert häufig vorkommende Filmmotive ideologiekritisch und macht darauf aufmerksam, dass die populären Sujets als Ablenkung von sozialen Problemen fungieren. Dadurch würden sie die herrschende Ordnung legitimieren und Unrechtsstrukturen verhüllen, was Kracauer als unmoralisch und gegenaufklärerisch erachtet. In seiner drei Jahre später veröffentlichten Studie Die Angestellten greift Kracauer die Hauptaussage seiner früheren Artikelserie zum Film noch mal auf und pointiert sie folgendermaßen: [N]ahezu sämtliche von der Industrie gelieferten Erzeugnisse [würden] das Bestehende rechtfertigen, indem sie seine Auswüchse sowohl wie seine Fundamente dem Blick entziehen; daß auch sie die Menge durch den Similiglanz der gesellschaftlichen Scheinhöhen betäuben. Hypnotiseure schläfern so mit Hilfe glitzernder Gegenstände ihre Medien ein.3

1 2

3

SKW 6:1, S. 308. SKW 6:1, S. 308–322. – „Freie Bahn“ erschien am 11.3.1927 in der FZ, „Geschlecht und Charakter“ am 12.3.1927, „Volk in Waffen“ am 14.3.1927, „Die Weltreisenden“ am 15.3.1927, „Das goldene Herz“ am 16.3.1927, „Der moderne Harun al Raschid“ am 17.3.1927, „Stille Tragödien“ und „Hart an der Grenze“ gemeinsam am 18.3.1927 sowie „Film und Gesellschaft. Schluß der Serie: Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ am 19.3.1927. – In der ersten Publikation in der FZ stellte Kracauer den Teil mit grundsätzlichen Ausführungen ans Ende. Für den Sonderdruck im März 1927 und den Wiederabdruck im Sammelband Ornament der Masse wurde er am Anfang platziert. Die originale Reihenfolge ist abgedruckt bei Erthel / Nixdorff 2015, Bd. 2, S. 291–315. Erst ab der 3. Folge („Volk in Waffen“) wurde der Serie der Titel „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ beigegeben. Kracauer bezieht sich auch in Die Angestellten unter diesem Titel auf die Serie (SKW 1, S. 295). – Siehe Levin 1989, S. 167, Nr. 973; Band 1999, S. 71 mit Anm. 59; vgl. SKW 6:1, S. 322 mit Anm. 23. SKS 1, S. 289.

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III. Film als Spiegel der Gesellschaft

Seinen sozialkritischen Filmdeutungsansatz entwickelte Kracauer sowohl in Einzelrezensionen als auch in Überblicksdarstellungen zum Film und später insbesondere in seiner bekannten und viel diskutierten sozialpsychologischen Geschichte des deutschen Films From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film weiter.4 Bei der Erstpublikation der Artikelserie „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ war besonders frappierend, dass in dieser auch scheinbar harmlose Sujets aus dem Privatbereich wie zwischenmenschliche Beziehungen und Reisen ideologiekritisch analysiert wurden. Sie waren bis dahin nur als kitschig und nichtssagend angesehen worden. Unrealistische Tendenzen führte man ebenfalls bis dato auf das Medium allgemein zurück, ohne ökonomische oder politische Verhältnisse für sie verantwortlich zu machen. Kracauer sieht dagegen die populären Filme nicht als trivial an und macht auf ihre fragwürdige Gesinnung aufmerksam. Angesichts eines kitschigen Operettenfilms untermauert er 1930 seine Intention: Nehme ich den Film zu ernst? Weil kaum einer sich ernsthaft mit der beispiellosen Roheit solcher Machwerke auseinandersetzt, können sie immer wieder produziert werden. Weil fast niemand ihnen entgegentritt, ruiniert ihre Produktion Gewissen und Kunst.5

Theodor Wiesengrund Adorno rühmte Kracauer mehrere Jahrzehnte später postum dafür, mit seinen soziologischen Analysen „die Filmkritik in Deutschland überhaupt erst aufs Niveau“ gebracht zu haben.6 Schon bei den Zeitgenossen u. a. bei seinem Freund Walter Benjamin wurde Kracauers Artikelserie „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ gewürdigt und als innovativ anerkannt: „In jedem Falle: das Zusammenspiel der Phantasie der herrschenden und beherrschten Klassen wie die Filmindustrie es organisiert und wie Sie es darstellen ist nicht nur eine politische Entlarvung sondern eine soziologische Entdeckung.“7 Kracauers neuer Ansatz war sowohl für die Filmkritik im Besonderen als auch für die Massenkulturkritik im Allgemeinen inspirierend. Seine soziologischen Analysen, für die er bis heute besonders bekannt ist, unterstützten seine weitere Etablierung als bedeutender Filmkritiker in Deutschland. Wegen der allgemeineren Thematik erschien der Erstabdruck der Artikelserie „Die kleinen Ladenmädchen ins Kino“ im überregionalen Feuilleton der FZ und nicht nur im Stadtblatt wie viele andere Rezensionen von Kracauer. Die Serie zog viel Aufmerksamkeit auf sich und wurde im Anschluss auch noch als Sonderdruck der FZ unter dem Titel Film und Gesellschaft noch im März 1927 veröffentlicht.8 Aufgrund ihrer Bedeutung wählte Kracauer die Artikelfolge auch für die Publikation in Das Ornament der Masse unter dem ursprünglichen Serientitel „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ aus.9 Diese Überschrift steht in Verbindung mit 4 5 6 7 8 9

Kracauer 1947. SKW 6:2, S. 353. Adorno 1966, S. 20; siehe auch ders. 1964, S. 27: „So hat er [Kracauer] den Film als soziale Tatsache recht eigentlich entdeckt.“ Benjamin 1987, S. 41. Kracauer 1927b. Kracauer 1963, S. 279–294.

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Filmhelden als „Propagandachefs der Händler ihrer Nationen“

den satirischen Schlusspointen, die bis auf den Teil „Film und Gesellschaft. Schluß der Serie: Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ am Ende fast aller Abschnitte erfolgen.10 Denn seine Ausführungen der exemplarischen Filmmotive schließt Kracauer mit exemplarischen Reaktionen junger einfacher Verkäuferinnen auf die Filme wie z. B. „Verstohlen wischen sich die kleinen Ladenmädchen die Augen und pudern sich rasch, ehe es hell wird.“11 Die Pointen weisen jedoch satirische Züge auf und basieren nicht auf einer streng empirischen Studie.12 Der Bezug auf die Ladenmädchen zog auch die Kritik genderbewusster Wissenschaftler­ Innen ab den 1980er Jahre auf sich. Besonders einflussreich war die Kritik von Sabine Hake, die herausstellt hat, dass anhand Kracauers Behandlung der Zerstreuung durch die Massenfilme „the sexism underlying the concept of diversion“ und „the social and political emancipation of women and the identification of the feminine as a threat to the bourgeoisie“ deutlich werde.13 Denn Kracauer gebe mit den „misogynist tendencies“ gerade dem weiblichen Publikum für die schlechte Filmproduktion die Verantwortung.14 Patrice Petro verweist darauf, dass Kracauer in der Ladenmädchenserie „the most dubious aspects of mass culture with passivity and femininity“ zusammenbringt, wenn er auf die „‚stupid little hearts‘ of the shopgirls“ Bezug nimmt.15 Miriam Hansen macht ebenfalls auf die Problematik des Ansatzes von Kracauer „insbesondere im Hinblick auf seine Geschlechterpolitik“ aufmerksam.16 In einer Überblicksdarstellung in einem Handbuch 2003 wird Kracauer so als Beispiel für Ideologiekritik angeführt, der jedoch Frauen als „dupes of prevailing ideology“ ansehen würde.17 Durch die Betonung des Ladenmädchen-Motivs geraten allerdings bei diesem Schlüsseltext die innovativen filmsoziologischen Aspekte aus dem Blickfeld, die Kracauer in die deutsche Filmkritik eingeführt hat.

Filmhelden als „Propagandachefs der Händler ihrer Nationen“ In der Artikelserie „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ zeigt Kracauer anhand exemplarischer Filmhandlungen auf, wie bürgerliche Ideologien – z. B. auf Leistung basierender Erfolg – nun dem Massenpublikum der 1920er Jahre in den Kinos vermittelt werden. In der Realität seien laut Kracauer jedoch die sozialen Schichten sehr undurchlässig und ein Aufstieg allein durch Leistung selten möglich. Anhand von zwei Kriegsfilmen macht er auf das Propa-

10 Dieser Abschnitt stand – wie schon oben erwähnt – bei der Erstpublikation am Ende, bei den weiteren Veröffentlichungen wurde er am Textanfang platziert (die erste Reihenfolge wird nur bei Erthel / Nixdorff 2015 abgedruckt). 11 Kracauer 1963, S. 293. 12 Die Pointen enthalten neben einigen Allgemeinplätzen zu Zuschauerreaktionen wie z. B. das Weinen im Kinosaal wohl auch einige persönliche Beobachtungen von Kracauer, die er jedoch übertrieben dargestellt hat. 13 Hake 1987, S. 148. 14 Ebd., S. 159. 15 Petro 1989, S. 66. 16 Hansen 1991b, S. 146; siehe auch Hansen 1983, S. 176. 17 Murdock 2002, S. 50.

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III. Film als Spiegel der Gesellschaft

gieren von Heroismus und Patriotismus zur Förderung der Militarisierung aufmerksam, womit die ökonomischen Aspekte von Kriegen verdeckt werden.18 Filme mit erotischen Themen, Amüsement oder Reisen würden von ungerechten sozialen Strukturen ablenken.19 Beispielsweise werde das unmenschliche Profitdenken verhüllt, indem die Vertreter herrschender Klassen in privaten Liebesgeschichten dargestellt und so positiv gekennzeichnet werden.20 Die herrschenden Verhältnisse würden darüber hinaus durch die Darstellung privater Opfertode untermauert.21 Die Filmprotagonisten repräsentieren für Kracauer somit Ideologen: „Die Filmhelden aller Länder vereinigen sich zu den Propagandachefs der Händler ihrer Nationen.“22 Kracauer skizziert die Beispielhandlungen, ohne die Filmtitel zu nennen. Die Plots sind jedoch nicht fiktiv, sondern basieren auf Filmen, die zuvor im Kino zu sehen waren.23 Gerade im Vergleich zu seiner Detektivromanstudie, die er zwei Jahre zuvor fertiggestellt hat, ist die größere Empirie in dieser Artikelserie signifikant (s. Kap. II, S. 49f.). Da die Filme bekannter waren, sollten sie auch ohne Titelnennung im Text von zeitgenössischen cinephilen Lesern wiedererkannt worden sein. Kracauer hat die Produktionen, auf die er verweist, zumeist auch selbst schon im Stadt-Blatt der FZ besprochen.24 Auf direkte Filmverweise verzichtete Kracauer gegebenenfalls in der Artikelserie „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“, um mit seinem ersten Artikel mit einer soziologischen Ausrichtung sowie einer besonders kritischen und satirischen Tendenz die LeserInnen nicht zu sehr zu provozieren. Später sollten noch häufiger Einzelbesprechungen Kracauers in grundlegendere Artikel einmünden, wodurch sie empirisch fundiert und „materialgesättigt“ waren. Kracauer hat die exemplarischen Filmsujets sehr passend gewählt, um seine Thesen zu unterstützen; durch sie wirkt die Artikelserie sehr anschaulich und überzeugend. Zudem sind sie repräsentativ für damals wichtige Trends und Genres im Filmbereich. Beliebt und zeitgemäß waren z. B. die „Weltbummelfilme“ wie Der Flug um den Erdball, in denen Ellen Richter um den Globus reist.25 Auf die anhaltende Beliebtheit von Militärfilmen und Produktionen mit „rührselige[n] Wiener Walzermadeln“ hat der Journalist und Schriftsteller Axel Eggebrecht schon im Sommer zuvor aufmerksam gemacht.26 Ebenfalls sollten im Berliner Elends-„Milljöh“ situierte „Zille-Filme“ nach der von Kracauer thematisierten Produktion Die Verrufenen noch häufiger produziert werden.27 18 SKW 6:1, S. 314f. – Kracauer bezieht sich u. a. auf Hotel Stadt Lemberg/Hotel Imperial (R: Mauritz Stiller, US 1926/7) und Volk in Not. Ein Heldenlied von Tannenberg (R: Wolfgang Neff, Deutschland 1925). 19 SKW 6:1, S. 313f., S. 315–317. Kracauer geht z. B. auf Das Mädel auf der Schaukel (R: Felix Basch, Deutschland 1926), Der Flug um den Erdball (Teil I und II, R: Willi Wolff, Deutschland 1924), Mein Freund der Chauffeur (R: Erich Waschneck, Deutschland 1924) und Wien-Berlin ein (R: Hans Steinhoff, Deutschland 1926). 20 SKW 6:1, S. 316f. 21 Ebd., S. 319. 22 Ebd., S. 315 (siehe auch noch S. 77f.). 23 Die Filme sind in den Fußnoten zum Text in der Ausgabe der Werke angeführt – SKW 6:1, S. 321f. 24 Michael 1993, S. 138f. 25 Kalbus 1935, S. 49. 26 Eggebrecht 1926. 27 Rutz 2000, S. 191–194. – „Zille-Filme“ sind in den Berliner Armenvierteln situiert, die von dem Maler Heinrich Zille oft künstlerisch thematisiert worden sind.

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Filmhelden als „Propagandachefs der Händler ihrer Nationen“

Kracauer geht nicht nur wie andere Autoren allgemein auf die Realitätsfremdheit der Handlungen ein, sondern rückt auch die Verhältnisse ins Blickfeld, von denen die Filme mit den populären Filmsujets ablenken sollen. Dabei charakterisiert er prägnant die zeitgenössischen Lebensumstände als entfremdete.28 Unter anderem thematisiert er die Profitausrichtung des herrschenden Wirtschaftssystems und die damit interdependierende rücksichtslose Konkurrenz.29 Laut ihm würden die Filme dazu beitragen, dieses Gesellschaftssystem zu zementieren.30 Da es beinahe schon als naturgegeben angesehen werde, empfinde man die Ungerechtigkeit kaum noch.31 Kracauer verdeutlicht dies ironisch daran, dass Filme, die ungerechte soziale Verhältnisse ungeschminkt darstellen, sogar als verrückt empfunden werden.32 Er räumt jedoch ein, dass wegen der Abhängigkeit von der Filmindustrie z. B. selbst in Charlie Chaplins Film The Gold Rush inhaltliche Kompromisse eingegangen werden mussten.33

Durchschnittsfilmproduktionen als soziologischer Spiegel versus Filmkunst mit ästhetischem Potenzial Kracauer macht ebenfalls darauf aufmerksam, dass in den meisten Filmen nicht die tatsächlichen Verhältnisse, sondern die „Tagträume der Gesellschaft“ vermittelt werden.34 In den Produktionen würden die „unterdrückten Wünsche“ zum Ausdruck gebracht werden. Damit fungieren die Filme als „Spiegel der bestehenden Gesellschaft“, bringen das Wesen der Zeit zum Ausdruck und fördern die Selbsterkenntnis.35 Die soziale Spiegelfunktion ist jedoch keine naive und realistische. Denn „je unrichtiger sie die Oberfläche darstellen […], desto deutlicher scheint in ihnen der geheime Mechanismus der Gesellschaft wider.“ Die Ideologien werden erst durch die kritische Analyse erkennbar.36 Ein solches Spiegelverständnis von Film unterscheidet sich von dem Kracauers in seiner vorherigen Phase, in der er das Filmmedium anhand des Exempels Die Straße von 1923 geschichtsphilosophisch als „Spiegel der transzendentalen Obdachlosigkeit“ aufgefasst hat (siehe Kapitel II). Grunes Film würde laut Kracauer die Gehaltlosigkeit des scheinhaften äußeren Lebens in der Moderne widerspiegeln, aber dabei auch die metaphysische Sehnsucht in der modernen Welt ohne Sinn zum Ausdruck bringen.

28 Das Konzept der Entfremdung bei Kracauer ist durch Karl Marx geprägt – zu Kracauers Rezeption von Marx siehe S. 70ff. und Kap. IV, S. 114ff. 29 SKW 6:1, S. 316: „Er saniert die Firma, die bald wieder gewinnbringend sein wird […].“ 30 Ebd., S. 308: „Daß die Filme in ihrer Gesamtheit das herrschende System bestätigen [...].“ Siehe auch ebd., S. 317: „brutales Benehmen am Telephontisch.“ 31 Ebd., S. 319: „Wenn eine Frau sich umbringt, damit ein Mann in die Höhe kommen kann, so ist die Unabänderlichkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen verbürgt. Sie werden zu dem Rang ewiger Gesetze erhoben, weil Menschen um ihretwillen den Tod erleiden, der an fünfaktige Trauerspiele erinnert.“ 32 Ebd., S. 320f. 33 Ebd., S. 308f. 34 Ebd., S. 309. 35 Ebd., S. 308–311. 36 Ebd., S. 311; siehe auch Schwender 2001, S. 4.

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III. Film als Spiegel der Gesellschaft

Das Verständnis von Film als soziologischem Spiegel aufgrund der Analyse der Hauptmotive fokussiert jedoch filmische Durchschnittsproduktionen, die für Kracauer nicht den Rang von Kunstwerken einnehmen. Kunstwerke dagegen können für Kracauer nur „aus jener Tendenz, die auf die Herstellung einer gültigen menschlichen Ordnung abzielt,“ entstehen. Sie enthalten laut ihm damit echte Gehalte und transportieren nicht nur Ideologien, was Kracauer 1927 in einer Rezension von Pudowkins Film Die Mutter erläutert.37 Solche filmischen Kunstwerke sollen auch immanent-ästhetisch behandelt werden. Im Gegensatz zu Anfang 1925 in „Der Künstler in dieser Zeit“ gesteht Kracauer später den Kunstwerkstatus immerhin einigen Filmen zu, auch wenn solche selten seien.38 Besonders angetan war Kracauer beispielsweise von Panzerkreuzer Potemkin, den er 1926 euphorisch besprach. Im Gegensatz zu den europäischen und amerikanischen Filmen würde Sergei Eisensteins Film „die Wahrheit, um die es zu gehen hat“, thematisieren, und ohne diese wäre „das Künstlerische nur ein Schein“.39 Im Jahr zuvor war Wahrheit für Kracauer noch göttlich thematisiert (siehe Kapitel II). Nun verstand er unter dieser also die Aufklärung der gesellschaftlichen Gegebenheiten und auch die Behandlung der revolutionären Auseinandersetzung der Unterdrückten gegen die Unterdrücker.40 In diesem Zusammenhang ist auch der filmische Aspekt der Darstellung der „Oberfläche“ für ihn neu konnotiert. Diese bringe nicht mehr wie Anfang 1925 die Scheinhaftigkeit des irdischen Lebens, sondern die soziale Wirklichkeit zum Ausdruck und unterstütze so die filmkünstlerische Phantasie, „die um ein Ziel kreist und inhaltliche Gewißheiten hat“ und nicht mehr mit dem Zustand der Gottesferne hadere.41

Kracauers Rezeption des frühen Karl Marx und der „geheime Marxismus“ in der FZ Kracauers Ideologiekritik anhand populärer Filmsujets in „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ bereitet sich in den Einzelbesprechungen von Filmen ab der zweiten Hälfte von 1925 vor, in denen schon kritische Äußerungen zu Filmmotiven zu finden sind.42 Seine Sichtweise der sozialen Bedingtheit von Kinoproduktionen und dass Filme nur harmlos scheinen, aber von politischen Mitteln der Arbeiterschaft und der Möglichkeit einer Revolution ablenken, ist deutlich von seiner intensiveren Beschäftigung mit Karl Marx ab 1925 geprägt.43 Walter Benjamin meinte nach der Lektüre des Sonderdrucks „Film und Gesellschaft“ in einem Brief an Kracauer: „Von rechtswegen hätte diese Folge von Analysen Ihnen das Filmreferat der Roten Fahne verschaffen müssen (worauf Sie wahrscheinlich nun keinen sehr großen Wert legen).“44

37 38 39 40 41 42 43 44

SKW 6:1, S. 335. Siehe auch Michael 1993, S. 176. Siehe zum Beispiel Kracauer 1974, S. 11. Kracauer 1974, S. 73, S. 74f. Ebd., S. 73. Ebd., S. 75. Michael 1993, S. 128. SKW 6:1, S. 310, S. 312, S. 319. Benjamin 1987, S. 41.

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Die Rote Fahne war das Zentralorgan der KPD und Kracauer war tatsächlich nicht an einer Mitarbeit an dieser interessiert. Er sah Marx in der Tradition der sensualistisch-empirischen Tradition der französischen Aufklärung, und in der Nachfolge sei Marx laut ihm entstellt worden.45 Kracauers Anliegen war es den Marxismus, der als Philosophie inaktuell geworden ist und unter den Händen der offiziellen Sowjetphilosophen (von dem einzigen Lenin abgesehen) vollends verdirbt, […] von neuem mit den echten Wahrheitsgehalten zu konfrontieren und damit zu einer grossen revolutionären Theorie zu machen, vor der die europäische Intelligenz zittern muss; zu einer Theorie, die auch der Kirche, wie überhaupt den positiven Bekenntnissen, erst wirklich die böse Stunde bereitet.46

Kracauer setzte sich insbesondere mit dem frühen Marx auseinander, vor allem mit dessen Arbeiten aus der Mitte der 1840er Jahre.47 Gegenüber den späteren Arbeiten mit einer stärkeren ökonomischeren Ausrichtung vertrat der frühe Marx eine moralische Perspektive und fokussierte die Subjektivität.48 Marx kritisierte in diesen u. a. die inhumanen Arbeitsbedingungen, die zur Entfremdung des Menschen führten. In den ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahr 1844 monierte er beispielsweise nicht nur das sinkende Lohneinkommen, sondern auch die Minderung der menschlichen Würde.49 So würde sich neben der ökonomischen gerade auch die moralische Situation des Menschen verschlechtern. Entsprechend dazu macht Kracauer in der Serie „Die kleinen Ladenmädchen […]“ auf die Scheinmoral des herrschenden Gesellschaftssystems aufmerksam, wofür er insbesondere Satire einbringt (siehe S. 74f.).50 Auf die fehlende Humanität weist Kracauer ebenfalls hin: „Manche Gesellschaftsgrößen, die es sich leisten können, fühlen sich während der Ferien in St. Moritz wahrhaft als Menschen; sie sind nur in St. Moritz, um sich darüber hinwegzutäuschen, daß sie keine sind.“51 Dies hängt insbesondere damit zusammen, dass der Mensch allein durch seinen Besitz bestimmt werde: Der echte Harun al Raschid begab sich anonym unter die Menschen, um sie unabhängig vom Besitz zu erkennen, und enthüllte sich zuletzt als ihr Richter. Der moderne Harun al Raschid stellt sich unabhängig von seinem Besitz dar, um in dieser Anonymität als ein Etwas erkannt zu werden, und enthüllt zuletzt das Einzige, das er ist: seinen Besitz.52

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SKS 5:3, S. 309. Bloch 1985, S. 273. – Zum Marx-Verständnis von Kracauer siehe auch Stalder 2003, S. 141ff. Bloch 1985, S. 274. Siehe auch Stalder 2003, S. 141 und Mülder 1985, S. 57. Böhm 1998. – Kracauer plante um 1926 auch eine unvollendete Abhandlung zu dem Begriff des Menschen bei Marx (Bloch 1985, S. 284). Marx/Engels 1968, S. 549 [MEW, Bd. 40]. So dienen laut Kracauer die in den Filmen vermittelten Ideologien auch als „moralische Rückendeckung“ (SKW 6:1, S. 312). Ebd., S. 316. Ebd., S. 318.

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III. Film als Spiegel der Gesellschaft

Der Einfluss von Marx förderte die besonders kritische Perspektive in „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“. Kracauer problematisierte sogar gesellschaftskonforme Elemente in Filmen, die in anderen Medien wegen ihrer sozialkritischen Perspektive gewürdigt wurden. Im sozialdemokratischen Vorwärts wurde die Produktion Die Verrufenen beispielswiese als „ausgezeichneter Film“ gerühmt und angemerkt, dass „der Aufstieg dieses Menschen nicht einen Augenblick unwahrscheinlich ist.“53 Es wäre laut dem Verfasser sinnvoll, dass alle ihn sich ansehen: „Vielleicht spukte dann etwas davon manchmal durch ihre Träume und breitete einen kleinen Schimmer von Nächstenliebe über ihr Handeln am Tage.“54 Kracauer dagegen betonte, dass solche Filme mit einer „Rettung einzelner Personen … auf glückliche Weise die der ganzen Klasse“ verhindern und „ein in den Salon beförderter Prolet … die Fortdauer vieler Kaschemmen gewährleisten“ würde.55 Die ideologiekritischen Bemerkungen in Filmbesprechungen in der zweiten Hälfte der 1925er Jahre verweisen auf Kracauers Hinwendung zum Marxismus. Unüberlesbar waren diese für die LeserInnen der FZ in einem anderen Feuilletonartikel, nämlich seine in Kapitel II schon erwähnte Besprechung von Martin Bubers und Franz Rosenzweigs Bibelübersetzung. Sie stellte damals ein Prestigeprojekt der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland dar.56 Kracauer verweist in seiner am 27. und 28. April 1926 erschienen Rezension jedoch darauf, dass die Bibelübersetzung eine archaisierende Neuromantik darstelle und reaktionär sei, sie würde nur ästhetische Bedürfnisse befriedigen und keinen Wahrheitsgehalt besitzen.57 Die religiösen Aussagen sieht er als Verdrängungserscheinungen und Stabilisierungsversuche des herrschenden Gesellschaftssystems an. In diesem Beitrag werden Kracauers sich schon zuvor ankündigende Hinwendung zum materialistischen Denken und die damit verbundene Distanzierung von seiner früheren theologischen Position unverkennbar. Anfang 1925 waren seine Texte schon durch Skeptizismus geprägt, was die Beschäftigung mit Marx förderte (s. Kap. II, S. 57).58 Darüber hinaus entstand in Frankfurt eine neue Marx-Ausgabe und in der FZ neigten auch einige Kollegen Kracauers dem Marxismus zu.59 Weiterhin unterstützten auch soziale Umstände Kracauers Umdenken. Nach dem Ersten Weltkrieg waren die Ansätze einer Revolution isoliert geblieben und die alten Vorkriegsstrukturen hatten sich nicht grundlegend geändert. So blieben die sozialen Errungenschaften der Republik nur partiell. Mitte der 1920er Jahre entstanden u. a. neue Großkonzerne und ein umfangreiches Rationalisierungsprogramm wurde durchgeführt. Die steigende Arbeitsteilung förderte die Entfremdungserfahrungen. Ebenfalls wurden die soziale Ungerechtigkeit 53 54 55 56 57 58

c. b. [Kürzel] 1925. Anon. 1925e. SKW 6:1, S. 312. Kracauer 1963, S. 173–186. SKW 5:2, S. 380f, S. 383f., siehe auch Mülder 1985, S. 51ff. sowie Stalder 2003, S. 138ff. Auch nach der Hinwendung zu Marx blieb eine religiöse Sensibilität weiterhin bei Kracauer bestehen – Mülder 1985, S. 57. 59 Zunächst wurde in der Forschung gemutmaßt, dass Ernst Bloch Kracauers Auseinandersetzung mit Marx angeregt hat. Mit Verweis auf den Briefwechsel hat Inka Mülder-Bach dies jedoch widerlegt – dies., S. 56.

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und das soziale Elend größer.60 Es fehlte jedoch ausreichender politischer Widerstand, worauf Kracauer in der Serie „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ ironisch mit der Bemerkung hinweist, dass die Masse durch die Revolution nur „noch schwach verseucht“ sei.61 Die Massenkultur könne laut Kracauer ein emanzipatorisches Potenzial entfalten, wenn sie ihre zerstreuende Wirkung nicht mit Rückständen der vergangenen bürgerlichen Kultur verbinden würde, was er auch an den großen Berliner Lichtspielpalästen verdeutlicht (siehe Kapitel IV).62 Ebenfalls werde eine gesellschaftliche Veränderung nicht von den Filmproduktionen intendiert. Denn ab Mitte der 1920er Jahre ist die deutsche Filmwirtschaft durch eine Serienproduktion von günstigen Unterhaltungsmittelfilmen bestimmt, die fast alle das Bestehende rechtfertigen.63 Nach der Währungsstabilisierung waren die Produktionskosten sehr hoch; die Ufa musste Kredite aufnehmen und ging dafür auch Verpflichtungen bezüglich des Kontingents von zu zeigenden amerikanischen Filmen ein.64 Im Feuilleton wurde dies als Krise des deutschen Films wahrgenommen.65 Laut dem oben schon zitierten Schriftsteller und Journalisten Axel Eggebrecht bedeutete dieses „verschärfte Kontingent“ zum Beispiel „eine Prämie auf billigen Schund, genau wie hohe Schutzzölle für minderwertige Textilien.“66 Die schlechte Qualität vieler Filme förderte ebenfalls Kracauers kritische Perspektive. Auch wenn einige andere Kollegen von Kracauer eine politisch linksgerichtete Einstellung vertraten, waren die marxistischen Tendenzen in Kracauers Texten durchaus ungewöhnlich und provozierend für die FZ mit deren „spezifisch bürgerlich[em]“ Tenor (siehe auch Kap. IV, S. 156).67 Der Herausgeber Heinrich Simon war jedoch generell liberal und bot verschiedenen Lagern einen Meinungsausdruck.68 Benno Reifenberg als Kracauers Vorgesetzter hoffte, im Feuilleton auch journalistische Politik betreiben zu können.69 Allerdings war man darum bemüht, in der FZ die marxistischen Aspekte nicht zu offensiv und provozierend zu äußern. In einem späteren Brief an Bloch sprach Kracauer von einem „geheimen Marxismus“.70 Benjamin charakterisierte in ähnlichem Kontext Kracauers Serie „Die kleinen Ladenmädchen […]“ als „ein[en] virtuose[n] Schmuggel größten Stils.“71 In diesem Zusammenhang ist es verständlich, dass Kracauer in „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ nur mit Bedacht marxistisch argumentiert und politische Schlagwörter wie „Revo­lution“ und „Kapitalisten“ seltener verwendet. Stattdessen nutzt er beispielsweise für letztere ­viele Umschreibungen,

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Mülder 1985, S. 185f. (Endnote 36). SKW 6:1, S. 314. Kracauer 1963, S. 311–317. Siehe auch Mülder 1985, S. 68–70. Hermand/Trommler 1978, S. 263ff. Korte/Faulstich 1994, S. 13–47. Hermand/Trommler 1978, S. 263ff. Eggebrecht 1926b. Siehe auch Güll 2009, S. 122–125. Bosch 1976, S. 299. Band 1999, S. 106. Stalder 2003, S. 99ff. Bloch 1985, S. 305. Benjamin 1987, S. 41.

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z. B. „besitzende Kreise“,72 „obere Kreise“,73 „Rolls-Royce-Besitzer“,74 „mächtige Institutionen“,75 „einflussreiche Kreise“, die dem „Materialismus […] huldigen“76 und „Reiche“.77 Auch wenn Kracauer Paraphrasen für das herrschende Gesellschaftssystem nutzt, macht er die Brisanz der in ihrem Dienst stehenden Ideologien deutlich. So bezeichnet er sie als „Vergiftungserscheinungen“.78 Darüber hinaus verwendet er satirische Formulierungen, um damit das herrschende System als defizitär zu desavouieren, wie z. B.: „Mädchen, die sich als Kammerdiener verkleiden, […] kommen nicht auf böse [d. h. gesellschaftsverändernde] Gedanken, die gut sind.“79 Mit der Integration der paradoxen Formulierung macht Kracauer indirekt darauf aufmerksam, dass ein gesellschaftlicher Umsturz positiv wäre. Es wird durch die Sprecherperspektive allerdings auch kritisch darauf verwiesen, wie stark sich die allgemeine Wahrnehmung von marxistischen sozialen Idealen unterscheidet. Denn die Bewahrung des derzeitigen Gesellschaftssystems sei normalerweise als positiv angesehen. Signifikant ist ebenfalls, dass Kracauer mit der Aussage „Die Filmhelden aller Länder vereinigen sich zu den Propagandachefs der Händler ihrer Nationen“ auf den Kampfruf „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ vom Ende des Manifests der kommunistischen Partei anspielt.80 Verwiesen wird so darauf, wie stark die Lebensrealität der Weimarer Republik von marxistischen Idealen entfernt sei.

Satire für kluge Köpfe anstatt für „dumme Herzchen“ „Kleine Ladenmädchen“ als populäre Sozialfigur in den 1920er Jahren Die für den Textduktus prägende Satire wird besonders markant bei den schon erwähnten Schlusspointen eingesetzt, deren satirischer Duktus aber bislang in der Forschung nur selten herausgestellt worden ist.81 Denn am Ende der meisten Teile verweist Kracauer auf besonders unkritische, naive Reaktionen junger Verkäuferinnen auf die Kinofilme.82 Ihre Wahrnehmung wird als besonders naiv und sentimental dargestellt: „Verstohlen wischen sich die kleinen

72 73 74 75 76 77 78 79 80 81

SKW 6:1, S. 313. Ebd., S. 308. Ebd., S. 309. Ebd., S. 310. Ebd., S. 314. Ebd., u. a. S. 319. Ebd., S. 320. Ebd., S. 313. Marx/Engels 1848, S. 23; SKW 6:1, S. 315. So macht z. B. Klaus Michael nicht auf den satirischen Charakter der Schlusspointen mit den „kleinen Ladenmädchen“ aufmerksam, sondern unterstellt Kracauer, dass er den Zuschauer in Gefahr bringt, „für unmündig erklärt zu werden.“ – Michael 1993, S. 142. Kürzlich hat erst Resch auf die „ironischen Wendungen“ deutlicher hingewiesen – Resch 2017, S. 164f. 82 Nur bei dem Teil mit den allgemeinen Äußerungen fehlt das Anführen der Reaktionen der Ladenmädchen. Dieser wird seit dem Sonderdruck 1927 immer am Anfang platziert (s. o.).

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Satire für kluge Köpfe anstatt für „dumme Herzchen“

11  Wilhelm Willinger, Zwei Verkäuferinnen, ca. 1926, Fotografie, Berlin, in: Revue des Monats, 1.1926/7, Heft 7, Mai, S. 677.

Ladenmädchen die Augen und pudern sich rasch, ehe es hell wird.“83 Sie werden zudem so dargestellt, als ob sie nur an Freizeitvergnügen und nicht an tieferen Einsichten interessiert sind, z. B.: „Die armen kleinen Ladenmädchen greifen im dunklen Zuschauerraum nach der Hand ihres Begleiters und denken an den kommenden Sonntag.“84 Laut Kracauer hängen sie illusionären Aufstiegshoffnungen an und verklären aufgrund der Filme die höheren Gesellschaftsschichten, darunter auch ihre Vorgesetzten: „Die kleinen Ladenmädchen aber gelangen zu der Erkenntnis, das ihr glänzender Chef auch inwendig aus Gold ist, und harren des Tages, an dem sie einen jungen Berliner mit ihrem dummen Herzchen erquicken dürfen.“85 Kracauer wählt für die satirischen Schlussbemerkungen die jungen Verkäuferinnen aus, da diese insbesondere in den deutschen Städten einen nicht unerheblichen Teil des Kinopublikums ausmachten. Bei den weiblichen Angestellten stellten sie eine große Gruppe dar.86 Sie waren zudem sehr sichtbar, sowohl morgens und abends auf den Straßen während ihres Arbeitsweges (Abb. 11) als auch während ihrer Tätigkeit in den Kaufhäusern und Läden (Abb. 12–13). Generell repräsentierten sie den Typus der modernen berufstätigen Frau.87 Sie

83 SKW 6:1, S. 320. – „Die kleinen Ladenmädchen hatten sich geängstigt. Nun atmen sie auf.“ (SKW 6:1, S. 294). Mit ihrer Emotionalität unterscheiden sich die jungen Verkäuferinnen auch von der Darstellung der profitorientierten höheren Kreise. 84 SKW 6:1, S. 314. 85 Ebd., S. 317. 86 Der Verkäufer-Beruf wies einen hohen Frauenanteil auf – siehe GDA 1931, S. 245; Suhr 1930 S. 7f. 87 Suhr 1930, S. 3f.

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III. Film als Spiegel der Gesellschaft

12+13  Junge Verkäuferinnen, 1920er Jahre, Fotografien, 9 × 6,5 u. 7 × 10 cm, Frankreich, FotografInnen unbekannt.

galten zudem allgemein als besonders kinobegeistert.88 Allerdings waren die „kleinen Ladenmädchen“ sehr jung, häufig daher noch unerfahren und wenig gebildet. Darüber hinaus standen sie mit ihrem Beruf in besonderer Nähe zum Warenkapitalismus und konnten so auch als populäre Symbolfigur der modernen konsumorientierten Gesellschaft der 1920er Jahre fungieren.89 Sie werden häufiger in den Illustrierten thematisiert, u. a. wird in einem Artikel über Berliner Frauen auch auf die Berliner Verkäuferinnen hingewiesen, unter denen man „[m]anch schöne Gestalt und manch klassisch geschnittenes Gesicht“ finden könne.90 Ebenfalls waren Verkäuferinnen in den 1910er und gerade auch in den 1920er Jahren vermehrt in Filmen als Protagonistinnen zu sehen, deren Geschichten allerdings sehr realitätsfremd sind.91 Noch im selben Jahr der Veröffentlichung von „Die kleinen Ladenmädchen“ wurden drei Filme mit Ladenmädchen fertiggestellt, nämlich It mit Clara Bow als

88 Lex 1931b, S. 12. – Schon im frühen Kino waren Frauen als Zuschauerinnen wichtig – Altenloh 1913, S. 74, 78, S. 88f., S. 91; Hansen 1983, S. 176; Petro 1989, S. 140ff., Haller 2009, S. 112f. Es fehlen allerdings statistische Daten (ebd., S. 103). Siehe zudem Uhu, 9.1932/3, H. 1, Oktober, S. 65, Antwort einer 18-jährigen Verkäuferin zu ihrer bevorzugten Wochenendgestaltung: „Winter oder Sommer ist egal, das Schönste ist und bleibt Kino – vielleicht dazwischen mal Lunapark.“ 89 Kellermann 2017, S. 63. – Eine Alternative wäre für Kracauer gewesen, z. B. Telefonistinnen oder Sekretärinnen herauszustellen, die er 1928 in „Der heutige Film und sein Publikum [Film 1928]“ anführt (SKW 6:2, S. 153). 90 Miketta 1926/7, S. 677 (mit Abb.). 91 Kracauer greift selbst Eine Dubarry von heute (R: Alexander Korda, Deutschland 1926) als Beispiel auf, in dem die Protagonistin ein Ladenmädchen ist, auch wenn Kracauer darauf in seinem Text nicht eingeht – SKW 6:1, S. 320f.

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14  Standfoto mit Clara Bow aus It (R: ­Clarence G. ­Badger, USA 1927).

Kaufhausangestellte (Abb. 14), die die Aufmerksamkeit ihres reichen Chefs erregt, und My best girl mit Mary Pickford als Lagermädchen.92 Sie verliebt sich in den Sohn des Besitzers des Warenhauses, der ihr gegenüber vorgibt, ein Lagermitarbeiter zu sein. Der Film Becky handelt von einer Verkäuferin, die am Broadway auftreten darf.93

Zielpublikum der Artikelserie Kracauers Artikelserie will jedoch nicht vornehmlich junge Verkäuferinnen verunglimpfen oder allein diese zum Ansehen besserer Filme auffordern. Die herausgestellten Reaktionen sind mehr exemplarisch für diejenigen bei einem unkritischen Kinobesuch zu sehen.94 Grundsätzlich richtete sich sein Text an das Kinopublikum allgemein. Aus diesem führt Kracauer neben dem jungen weiblichen Verkaufspersonal auch die männlichen Begleiter sowie zusätzlich „Tippmammsells“ und „dumme Dichter“ an.95 Darüber hinaus bezieht sich Kracauer mehrmals auf die Gesellschaft allgemein und verweist z. B. darauf, dass diese mit den mas-

92 Der Film It basiert auf einer Zeitungserzählung von Elinor Glyn – It, R: Clarence G. Badger, USA 1927; My best girl, R: Sam Taylor, USA 1927. 93 Becky, R: John P. McCarthy, USA 1927. – Weitere Filme mit Verkäuferinnen als Protagonisten in den 1920er Jahren waren z. B. Die kleine Midinette (R: Wolfgang Neff, Deutschland 1921) und Only a Shop Girl (R: Edward LeSaint, USA 1922). 94 Resch 2017, S. 165 mit Anm. 16. 95 SKW 6:1, S. 309.

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III. Film als Spiegel der Gesellschaft

senproduzierten Filmen im dauernden Zustand der Geistesabwesenheit gehalten werde.96 In diesem Sinne wählt er für den ebenfalls 1927 erschienenen Sonderdruck der gesamten Artikelfolge die Überschrift Film und Gesellschaft. Generell gingen in den 1920er Jahren alle Bevölkerungsschichten ins Kino, nicht nur die unteren, sondern auch das Großbürgertum und der Adel zählte zum Filmpublikum. Letzteres wurde ebenfalls durch den Bau prunkvoller Kinos gefördert (zu Kracauers kritischer Analyse der Filmpaläste s. Kap. IV, S. 105-128). Mit den überzogenen Reaktionen der „kleinen Ladenmädchen“ sollen die LeserInnen zu einer kritischen Wahrnehmung der von Kracauer analysierten Filmmotive sowie zur Opposition und Veränderung der ungerechten Gesellschaftsstrukturen aufgerufen werden. Gerade auf die Abnahme der kritischen Fähigkeiten macht Kracauer bei der Analyse der Filminhalte mehrmals aufmerksam.97 Indem Kracauer junge Verkäuferinnen als Vertreterinnen unkritischer Publikumsreaktionen in den Schlusspointen in den Vordergrund rückt, die nicht zu den Hauptleserschichten der FZ gehören, brüskiert er die bürgerlichen LeserInnen weniger mit seinem Text. Die Integration der Ladenmädchen in den Titel der Artikelserie dient auch als Tarnung der im Artikel enthaltenen marxistisch ausgerichteten Gesellschaftskritik. Denn die Überschrift lässt in den 1920er Jahren eher eine amüsante harmlose – ggf. leicht frivole – Anekdotenschilderung vermuten. Nach seinem Wiederabdruck im Sammelband 1963 weckte das Titelmotiv der Ladenmädchen allerdings falsche Erwartungen bzw. unterstützte die Charakterisierung des Textes als einen über Publikumsreaktionen. Kracauer intendierte jedoch eine Motivanalyse und die Kritik an der Öffentlichkeit, die die gegenwärtige Filmproduktion zulässt und damit unterstützt. Die Reaktionen der Ladenmädchen finden nur am Ende und dann ironisch Erwähnung.98 So ist ebenfalls die Kritik unberechtigt, dass Kracauer nicht soziologisch genug sei.99 Unter anderem warf man Kracauer ebenfalls vor, dass er hinter Emilie Altenloh zurückfallen würde, die in ihrer im Jahr 1913 veröffentlichten Dissertation schon empirische Forschung betrieben habe.100 Kracauers Hauptaugenmerk lag jedoch bei der „Ladenmädchen“-Serie auf den Filmhandlungen, erst später setzte er sich mehr mit den Angestellten und ihrem Faible für Massenkultur oder den Arbeitslosen und ihren Kinoasylen auseinander. Dabei verwendete er eine avancierte Methode, die Empirie und Theorie verbindet (siehe Kapitel IV). Auch mit jungen berufstätigen Frauen beschäftigte er sich in einem späteren Artikel, ohne diese satirisch zu verunglimpfen (siehe S. 99f.).

 96 SKW 6:1, u. a. S. 316.  97 Siehe z. B. SKW 6:1, S. 313 („Sie kaufen sich ein Amüsement, das dem Denkorgan zu verduften erlaubt, weil es die anderen Organe voll beansprucht.“).  98 Band 1992, S. 97.  99 Michael 1993, S. 142. 100 Hansen 1983, S. 176; Murdock 2002, S. 50.

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Kracauers innovative kritisch-soziologische Deutungsperspektive im Vergleich

Kracauers innovative kritisch-soziologische Deutungsperspektive im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Filmbesprechungen Wenn man sich nicht durch die Überschrift von der falschen Erwartung einer Rezeptionsanalyse beeinflussen lässt, frappiert Kracauers Text gerade durch seine soziologische und seine besonders kritische Perspektive. Helmut H. Diederichs hat darauf hingewiesen, dass vor dem Ersten Weltkrieg die kulturkritischen Kinoreformer – die im Gegensatz zu Kracauer konservativ eingestellt waren – noch nicht soziologisch, sondern ästhetisch argumentiert hätten.101 In den USA wurde eine linke Filmkritik erst in den 1930er Jahren bedeutender, von der ein besonders bekannter Vertreter Harry Alan Potamkin war (siehe Kapitel IV).102 In Deutschland hielt man sich in vielen Medien wegen Rücksichtnahme auf Anzeigenkunden mit Kritik an Filmen zurück. Einige Filmberichterstattungsorgane gehörten zudem der Filmindustrie an. Kracauer hob deswegen später die Unabhängigkeit seiner Filmkritik in der FZ hervor.103

Filmkritik in politisch linksgerichteten Medien vor Kracauer Auch in der normalerweise kritischeren, politisch linksgerichteten Presse wurde in den 1920er Jahren der ideologische Gehalt von Unterhaltungsfilmen nur sehr selten thematisiert. Die österreichische Arbeiter-Zeitung attestierte dem von Kracauer kritisierten Film „Ihre romantische Nacht“ das Prädikat „kurzweilig“.104 Auf die unpassende Verwendung der Revolution als Hintergrundkulisse für die Verheiratung eines Ladenmädchens mit einem König wurde in Die Rote Fahne kritisch hingewiesen.105 Laut dem Rezensenten wäre die unglaubwürdige Handlung keinen Kinobesuch wert. In derselben Zeitung wird im Zusammenhang mit dem ebenfalls von Kracauer besprochenen Film Hotel Stadt Lemberg zwar Kritik an der Darstellung des Krieges als „lustigste Operettengeschichte, die man sich nur denken kann,“ geübt.106 Es fehlt allerdings Kracauers weiterführender Hinweis auf die ökonomischen Hintergründe von Militär- und Kriegsfilmen in „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“.107 Der schon zweimal angeführte Schriftsteller Axel Eggebrecht publizierte zeitgleich zu Kracauer politische und kritische Filmbesprechungen. Er trat 1925 aus der KPD aus, seine Arbeiten waren jedoch weiterhin politisch linksgerichtet und er schrieb u. a. für die Weltbühne.

101 Diederichs 1996, S. 5. 102 Siehe Robe 2010. – Harry Alan Potamkin war insbesondere durch den Kontakt mit französischen Intellektuellen und Surrealisten sowie durch die Rezeption des auch für Kracauer wichtigen Potemkin-Films sehr geprägt worden. Er starb leider schon mit nur 33 Jahren. Kracauer verweist mehrmals auf Potamkin in Von Caligari zu Hitler – Kracauer 1947, passim. Die Möglichkeit einer frühen Wahrnehmung in Deutschland wurde verhindert, da Potamkin in Arbeiterbühne und Film nur im Mai 1931 einen Beitrag veröffentlichte, der ohne Fortsetzung blieb. 103 Kracauer 1974, S. 9. 104 Anon. 1925f. 105 Anon. 1927b. 106 Anon. 1929c. 107 SKW 6:1, S. 314.

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III. Film als Spiegel der Gesellschaft

Diese setzte sich beispielsweise für den Pazifismus und andere parteilose linke Überzeugungen ein, von Kracauer wurde sie jedoch nicht geschätzt.108 In seinen Filmbesprechungen von 1926/7 berücksichtigte Eggebrecht neben ästhetischen Gesichtspunkten auch filmpolitische und kommerzielle Aspekte.109 In einer Rezension von 1926 über die neuen Filme im Sommer merkt er ebenfalls das Aufgreifen von „Idealen des Kleinbürgers“ an, die er jedoch nicht wie Kracauer genauer in Hinblick auf die aktuelle Situation untersucht. Kracauer ist grundsätzlich analytischer und reflektierter als Eggebrecht, auch wenn er Satire integriert.110 Daher ist Helmut H. Diederichs’ Einschätzung mit Bezug auf Adorno zuzustimmen, dass Kracauer die soziologische Filmkritik „aufs Niveau“ gebracht hat und zudem auch begriffsbildend für diese war.111

Kracauers Weiterentwicklung seiner soziologischen Filmdeutung In Einzelbesprechungen sowie Überblicksaufsätzen sollte Kracauer seinen neuen Filmanalyseansatz in den nächsten Jahren vertiefen und weiterentwickeln.112 1928 veröffentlichte er mit „Der heutige Film und sein Publikum [Film 1928]“ im Feuilleton der FZ erneut eine Überblicksdarstellung.113 Wieder wies er darauf hin, dass die ZuschauerInnen mit den in den Filmen transportierten Ideologien getäuscht würden, die im Dienst der Manifestierung der herrschenden Gesellschaft ständen. Er setzte sich im Gegensatz zu „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ speziell mit der deutschen Filmwirtschaft auseinander, da „das deutsche Elend“ die Leser der FZ „unmittelbarer“ betreffe als z. B. das der amerikanischen Produktionen.114 Kracauers Schwerpunkt liegt in diesem Text erneut auf der Motivanalyse. Die meisten im Jahr zuvor thematisierten Filmmotive greift er erneut auf, setzt sie jedoch in Bezug zu aktuelleren Filmen. Darüber hinaus diversifiziert er 1928 die Filmgenres, da er nun z. B. auch auf dokumentarische Filme, Wochenschauen und Kulturfilme eingeht. Kracauer verteidigt grundsätzlich die Kolportage, was ihn von konservativen KulturkritikerInnen unterscheidet. 108 Güll 2009, S. 52. – Kracauer veröffentlichte selbst in der Weltbühne nur 1920 eine Rezension von Georg Lukács’ Theorie des Romans. Gegenüber Ernst Bloch kritisierte er in einem Brief vom 5.1.1928 die „salonradikale Weltbühnenumgebung“, in der kritische Äußerungen „sofort entgiftet werden“ (Bloch 1985, Bd. 1, S. 290 – siehe auch Nickel 1996, S. 15). 109 Eine genauere Analyse der Filmartikel von Eggebrecht steht noch aus. Einen ersten Überblick ermöglicht Güll 2009, S. 118–133. 110 Eggebrecht 1926. 111 Diederichs 1996, S. 8 (mit Aufgreifen eines zu Kapitelbeginn angeführten Zitats von Theodor W. Adorno). 112 Klaus Michael skizziert für Kracauers soziologischer Filmanalyse in der Weimarer Republik auch eine Entwicklungslinie, die jedoch zu konstruiert und angesichts der Quellen nicht überzeugend ist – Michael 1993, S. 147. 113 Der Text wurde in zwei Teilen am 30.11. und 1. 12.1928 in der FZ publiziert – SKW 6:2, S. 151–166. Er erschien u. a. auch als ein „Sonderdruck aus der Frankfurter Zeitung“ (Frankfurter Societäts-Druckerei o. J.) und wieder unter dem Titel „Film 1928“ in Kracauer 1963, S. 295–310. 114 SKW 6:2, S. 152.

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Er kritisiert jedoch die Scheinmoral, „die aufrechterhalten werden muß, weil sonst der Glaube an die Gesellschaft zu wanken begänne.“115 Die Gesinnung der zeitgenössischen Filme charakterisiert er als „dumm, verlogen und nicht selten gemein“.116 Über die Motivanalyse hinausgehend bringt Kracauer zudem ästhetische Aspekte ein und verweist darauf, dass einige Vorlagen nicht filmgemäß sind. Darüber hinaus würde die stoffliche Rückständigkeit auch eine ästhetische Antiquiertheit bewirken.117 Wie schon 1927 liegt sein Schwerpunkt nicht auf einer empirischen Rezeptionsanalyse. Allerdings beschäftigt er sich durchaus mit der Frage, welches Publikum sich den Filmen aussetzt und diese über den Eintritt finanziert.118 Dabei hebt er die Angestellten hervor, er exemplifiziert das Filmpublikum jedoch nicht wie noch ein Jahr zuvor an jungen Verkäuferinnen in satirischen Pointen und führt diese auch nicht im Titel an.119 Stattdessen wählt er mit „Film und Publikum“ eine allgemeinere und sachlichere Überschrift.

Kracauers Inspirationen für die Filmkritik seiner Zeit Kracauers innovative soziologische Beiträge wie „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ erregten in der deutschsprachigen Filmkritik „großes Aufsehen“ und waren inspirierend.120 Insbesondere in politisch linksgerichteten Medien in Deutschland sollte in den Folgejahren ein sozialer Ansatz bei der Filmkritik dominieren.121 Die Artikel waren dabei mitunter auch von kritischen Illustrationen z. B. über die Rührseligkeit tränenreicher Filme begleitet.122 Sehr deutlich wird Kracauers Einfluss u. a. bei Wolfgang Petzet, was bislang noch nicht herausgestellt worden ist.123 Petzet arbeitete bei der FZ mit und war damit Kracauers Kollege. Aber er publizierte auch in anderen Medien wie beispielsweise in der Deutschen Filmzeitung, in der sich seine kritischen Artikel deutlich von der nationalen Gesinnung der Leitartikel abhoben.124 Laut dem Medienwissenschaftler Helmut Korte ist Petzet „zu Unrecht weniger bekannt“.125 Im Kunstwart monierte Petzet ähnlich harsch wie Kracauer in einem Überblicks­

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Kracauer 1963, S. 298. SKW 6:2, S. 151 Ebd., S. 156ff. Siehe auch Michael 1993, S. 144. SKW 6:2, S. 151. Ebd. Adorno 1964, S. 27. Die Rezeption in anderen Ländern wie z. B. in Frankreich ist noch genauer zu untersuchen. U. a. erschien eine Übersetzung von „Der heutige Film und sein Publikum“ gekürzt am 8.2.1930 in Le Monde (Nr. 88, S. 8f.) unter dem Titel „Le Problème du Sujet dans le Cinéma Allemand“. Als Beispiel für eine satirische Illustration siehe: Anon. 1928, Achtung – Aufnahme die Träne rollt, in: Der Abend, 31.3.1928, Beilage, o. S., abrufbar in dem Portal Historische Presse der deutschen Sozialdemokratie online, http://fes.imageware.de/fes/web/ (Abruf 24.6.2021). Auf den Einfluss von Kracauer auf Petzet kann in diesem Zusammenhang nur kurz hingewiesen werden; ein Artikel dazu ist in Arbeit. Er basiert auf einem Vortrag, der am 16.10.2020 bei der Screening Censor­ ship-Konferenz in Brüssel gehalten wurde. Korte 1998, S. 139. Ebd., S. 51.

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aufsatz zur aktuellen Filmproduktion die verlogene Darstellung der sozialen Welt im Film.126 Auch in dem ebenfalls dort erschienenen Text „Nach altem Muster“ bemängelte er, dass die Welt des Films vollkommen von unserem Dasein getrennt zu sein scheine. Anschließend greift er in dem Beitrag signifikanterweise Kracauers Ladenmädchenbild auf: „Nachdem es nun einmal mit Europa und Amerika so bestellt ist, daß der beste Künstler sich den Berechnungen der großen Konzerne und den Wünschen der kleinen Ladenmädchen zu fügen hat […].“127 Kracauer schätzte Petzet und äußerte sich u. a. positiv über dessen spätere Schrift über die Filmzensur in der Weimarer Republik.128 In den Filmbeiträgen von Felix Scherret – laut dem Historiker Peter Oliver Loew ein „wenig bekannter, jedoch bemerkenswerter Schriftsteller“129 – sind einige Parallelen zu Kracauer zu sehen, es werden jedoch auch Unterschiede deutlich. Wie Kracauer weist Scherret in einem Rundfunkbeitrag 1927 auf die schematisierten Filmhandlungen hin.130 In seinem Beitrag „Bürgerliche Filmwelt“ im Mai 1928 im Vorwärts kritisiert er in deutschen Filmproduktionen speziell die Aufstiegshandlungen, nachdem die Protagonisten erst einen sozialen Abstieg erfahren haben.131 Scherret statuiert: „Der Film ist zu einer Wunscherfüllung des Bürgertums geworden. Er zeigt eine Welt, wie sie der Bürger gerne haben möchte, eine Welt von Eleganz, Luxus und Liebe […].“ Die Ideale des Bürgertums würden dem Publikum vermittelt und dieses würde so dem „Bürgerblock“ widerstandslos gehorsam gemacht.132 Die Handlungsanalyse ist jedoch nicht so detailliert wie bei Kracauer und die Aussagen über das Filmmedium sind nicht so differenziert. Scherret fokussiert zudem nicht wie Kracauer das moderne Massenpublikum, sondern die bürgerlichen Zuschauer. Er plädiert für eine Ausweitung des Stoffkreises noch ausgehend vom Theater, Kracauer dagegen hatte 1925 bei Sujetfragen schon ästhetisch Bezug auf die Charakteristika des Filmmediums genommen (siehe Kapitel II, S. 38ff.).133 Im Januar 1928 kam es darüber hinaus zu der kurzfristigen Initiative des Volksfilmverbandes, der die Qualität der in Deutschland gezeigten Filme verbessern wollte. Er wurde von vielen demokratischen Künstlern und Intellektuellen unterstützt. Der Verein förderte u. a. die Publikation der Zeitschrift Film und Volk. In ihrer ersten Ausgabe statuierte man programmatisch die Ziele, derer man sich annehmen wollte: 126 Petzet 1928. 127 Petzet 1928b, S. 198. 128 Kracauer besprach z. B. zweimal Petzets Schrift über die Filmzensur (Petzet 1931). Die Zensur kritisierte er auch selbst in eigenen Texten – SKW 6:2, S. 565–567; SKW 6:3, S. 137 f. Siehe auch Korte 1998, S. 51, S. 145. 129 Loew 2009, S. 144. – Eine genauere Auseinandersetzung mit Scherrets Filmbeiträgen ist noch ausständig, u. a. müssen hierfür noch die unter seinem Kürzel erschienenen Beiträge zusammengestellt werden. Weiter unten wird ein anderer Feuilleton-Text von Scherret erwähnt („Der Gent und das kleine Mädchen. Zwei moderne Typen“). 130 Tes. 1927. 131 Scherret 1928. 132 Ebd. 133 1929 bezieht sich Scherret jedoch auf die Charakteristika des Filmmediums bei der Sujetfrage – Scherret 1929.

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Hierzu gehört die Förderung der wenigen unverlogenen, echten, dem Volke helfenden, das Volk erschütternden, das Volk erheiternden Filme. Hierzu gehört die Bekämpfung aller anderen Filme, ihrer Produzenten, ihrer Autoren, ihrer Regisseure, ihrer wohlmeinenden Kritiker. Hierzu gehört die Aufklärung der Massen über die Ausbeutung, deren sie noch in ihren kargen Ruhestunden durch eine Filmindustrie ausgesetzt sind, die ihr Klassenfeind, bis heute fast unkontrolliert, beherrscht und finanziert.134

Für einige Zeit konnte der Volksfilmverband trotz Hindernissen Einfluss nehmen, er blieb jedoch singulär.135 Schon ab Ende 1928 wurde er stärker von der Kommunistischen Partei Deutschlands beeinflusst und im März 1930 schließlich mit dem „Arbeiter-Theater-Bund Deutschlands“ verbunden. Gemeinsam gab man die Zeitschrift Arbeiterbühne und Film heraus, die deutlich von der KPD beeinflusst wurde. Man bemühte sich 1930/1 intensiv um eine „proletarische Filmkritik“, mit der jedoch häufig sehr stereotyp „die Schädlichkeit des bürgerlichen Films für die Arbeiterschaft“ herausgestellt wurde.136 Zum Beispiel setzte sich die aktivistische Künstlerin Alice Lex-Nerlinger mit der Wirkung des bürgerlichen Liebesfilms auf kleinbürgerliche Frauen und Haushaltsgehilfinnen, die sie als „kleine Mädchen“ bezeichnet, auseinander.137 Alice Lex-Nerlinger geht nicht genauer auf einzelne Filmhandlungen wie Kracauer ein, sondern bemängelt allgemein, dass Liebesangelegenheiten reicher Gesellschaftsschichten thematisiert werden. Die kleinbürgerlichen Frauen würden ihr Leben den höheren Schichten anzupassen suchen, was ihnen aber nicht gelingt und letztendlich in Unzufriedenheit münden würde: „Das Wirtschaftsgeld, das nicht einmal für die notwendigsten Dinge reicht, reicht erst recht nicht zu Hüten, wie Greta Garbo sie trägt, auch nicht in billigster Ausgabe.“ Auch die Haushaltshilfe würde das „gezierte Wesen der Filmdiven“ annehmen und dann nicht mehr wahrnehmen, dass sie trotzdem „das kleine Dienstmädchen bleibt, die [sic] alle Schmutzarbeit verrichten muß.“ Lex-Nerlingers Aussagen zu dem Filmverhalten basieren nicht auf einer umfangreichen empirischen Erhebung und sind sehr allgemein gehalten. Kracauer verweist in seiner Angestelltenstudie darauf, dass die Angestellten in ihrer ökonomischen Situation den Proletariern gleich sind, sich jedoch dem Bürgertum anzupassen versuchen. Laut Lex-Nerlinger ist dies auch für die kleinbürgerliche Frau gegeben. Sie kritisiert, dass die Filme sie „hindern zu erkennen, daß ihr Platz an der Seite des kämpfenden Proletariats sei.“138 Generell fordert sie ein größeres Klassenbewusstsein und die Unterstützung des Klassenkampfes. Die KPD wollte eine von der Filmindustrie unabhängige Filmkritik etablieren. Ihre Unterstützer wählten einen soziologischen Ansatz aus, der sich jedoch von dem Kracauers unterschied. Ein wichtiger Exponent in diesem Zusammenhang war der politisch engagierte Schrift134 135 136 137

Höllering 1928. Jacobsen et al. 2004, S. 77. Diederichs 1996. In Arbeiterbühne und Film wurde auch die Laienkritik angeregt. Alice Lex-Nerlinger engagierte sich in ihrem Schaffen besonders auch für die Belange der Frauen (Lex 1931b). Sie publizierte noch einen weiteren Artikel in Arbeiterbühne und Film (Lex 1931a). – Siehe auch Beckers 2016, S. 64 f., S. 138. 138 Lex 1931b, S. 12.

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steller und Journalist Franz Carl Weiskopf. Er war seit 1923 in der kommunistischen Partei und übernahm von 1929 bis 1933 die Leitung des Feuilletons der Zeitung Berlin am Morgen, die die Berliner Arbeiterschaft als Zielgruppe hatte. Ähnlich wie Kracauer monierte Weiskopf in seinen Filmbesprechungen den Eskapismus der gängigen Konfektionsfilme Anfang der 1930er Jahre.139 Denn in der Weltwirtschaftskrise nahm die Massenbetäubung mit seichten Filmen in den Kinos zu, die nicht der Aufklärung, sondern ausschließlich der Unterhaltung dienten. Darauf wies Kracauer u. a. in seinem Text „Not und Zerstreuung“ hin.140 Auch Weiskopf beobachtete die fragwürdige Auffassung von sozialem Elend für erheiternde, banale Komödien.141 Ähnlich wie Kracauer sah er als „Aufgabe der Kunst“ die „Widerspiegelung der entscheidenden gesellschaftlichen Konflikte“ an, die er in russischen Filmen ideal verwirklicht fand.142 Für Weiskopf war jedoch dezidiert „die Zeitung eine Stelle im Kulturkampf“. Er integrierte in seine Kritiken, die in einem Parteiorgan erschienen, im Gegensatz zu Kracauer keinen verschleierten Marxismus, sondern eine sehr offensive politische Perspektive. Ebenfalls argumentierte er viel mit kommunistischen Schlagworten. Beispielsweise sah Weiskopf den konventionellen Film als „Verdummung, Vergiftung, ‚Ablenkung‘ der gesunden Klasseninstinkte der ausgebeuteten Massen“ an und forderte dezidiert eine Übernahme der politischen Macht, um anschließend den Film verbessern zu können.143 Weiskopf stellte als seinen Stellvertreter in der Zeitung für die Bereiche Filmkritik und Theaterkritik Wolfgang Duncker, genannt Mersus, ein. Auch dessen Film-Analysen weisen Parallelen zu denen von Kracauer auf, wenn er z. B. an Filmen bemängelt, dass die Kriegsursachen nicht dargestellt werden und das Proletariat romantisiert wird.144 Mersus’ Äußerungen sind jedoch wie die von Weiskopf doktrinärer und offensiver. Kracauer dagegen operierte mehr mit indirekten und satirischen Aussagen sowie Umschreibungen und verwendete, wie oben beispielhaft dargelegt, marxistische Begriffe seltener (siehe S. 73f.). Auch wehrte er sich gegen simplizistische vulgärmarxistische Argumentationen. Um die gestiegene Kritik in die Schranken zu weisen, nahmen die Produktionsfirmen Ende der 1920er Jahre nochmals stärkeren Einfluss auf die Filmkritik. Mit Werbeverträgen versuchte die Industrie auch positive Rezensionen zu erzielen und die Ufa gab mit Die FilmWelt sogar ein eigenes Filmmagazin heraus.145 Darüber hinaus versuchte man kritische Rezensionen zu diskreditieren und den Einfluss von Filmen aus Russland einzudämmen.146 Kracauer sollte mundtot gemacht werden, indem man ihn als Berater für die Ufa zu verpflichten versuchte (siehe Kapitel IV, S. 158). 139 140 141 142 143 144 145 146

Rutz 2000, S. 196. SKW 6:2, S. 519–523; Michael 1993, S. 149f.; siehe auch Kapitel V, S. 149. Rutz 2000, S. 196. Weiskopf 1930; siehe auch Rutz 2000, S. 195. Bislang ist eine Auseinandersetzung von Weiskopf mit Kracauer nur im Bereich der Roman-Literatur bekannt – siehe Jerzewski 1991, S. 196f. Weiskopf 1929. Tischler 2007, S. 25. Murray 1990, S. 139–142. Siehe z. B. Kracauers Beitrag „Eine plumpe Attacke. Filmindustrie gegen Filmkritik“, SKW 6:2, S. 415– 418.

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Die Ufa unterstützte die Zunahme nationaler Tendenzen nicht nur bei den Filmproduktionen, sondern auch bei der Kritik und forderte die Verteidigung von deutschen Filmen im Interesse der Nation.147 In diesem Zusammenhang erarbeitete 1929 die Reichsarbeitsgemeinschaft der deutschen Presse ein Maßnahmenpaket, um die Pressefreiheit vor der Filmin­dus­ trie zu schützen.148 Aus demselben Grund wurde Anfang November 1930 ebenfalls der „Verband der Berliner Filmkritiker“ gegründet, dem neben Kracauer u. a. Herbert Ihering, Fritz Olimsky und Hermann Kesten angehörten. Trotzdem wird bei der Filmkritik allgemein eine steigende konservative Tendenz deutlich. Gegen sie fasst Kracauer in einem am 23.5.1932 erschienenen kurzen Text resümeeartig die Hauptpunkte seiner Filmkritik zusammen. Schon in den Jahren zuvor gab es mehrere Beiträge anderer Filmberichterstatter dazu, was einen Filmkritiker auszeichne.149 Laut Kracauer waren aufgrund eines fehlenden Gehalts Durchschnittsfilme nicht ästhetisch, sondern soziologisch zu beurteilen. Der Filmkritiker habe die Scheinwelt der Durchschnittsfilme der sozialen Realität gegenüberzustellen und ihre sozialen Absichten herauszustellen. Kracauer pointierte dies programmatisch: Kurzum, der Filmkritiker von Rang ist nur als Gesellschaftskritiker denkbar. Seine Mission ist: die in den Durchschnittsfilmen versteckten sozialen Vorstellungen und Ideologien zu enthüllen und durch diese Enthüllungen den Einfluß der Filme selber überall dort, wo es nottut, zu brechen.150

Kracauers Inspiration für die Massenkulturanalyse Kracauer ging auf die wachsende Kritik an der deutschen Filmproduktion von seinen Zeitgenossen auch in dem Essay „Film 1928“ ein. Er vermisste jedoch eine umfassendere Per­ spek­tive und eine grundlegendere gesellschaftliche Kritik: „An eine Analyse des ganzen gegenwärtigen Zustandes ist noch nicht gedacht worden.“151 Laut Kracauer habe die „Leere unserer Filme, ihre Abschnürung gegen jede humane Regung“ ihre Ursache in „jener merkwürdigen Verstocktheit, die seit dem Ende der Inflation in Deutschland herrscht und viele öffentliche Äußerungen bestimmt.“152 Neben den Filmen analysierte er auch die Kinopaläste (siehe Kapitel IV) sowie viele andere massenkulturelle Zeugnisse wie Illustrierte und Revuen ideologiekritisch. In diesem Zusammenhang begann er sich stärker mit den RezipientInnen der Massenkultur auseinanderzusetzen und beschäftigte sich noch intensiver mit Soziologie. 1929/30 widmete er den Angestellten eine längere soziologische Studie und untersuchte in dieser allgemeiner deren Lebensbedingungen und ihren Kulturkonsum, den er als signifikant für die gesellschaftliche Situation seiner Zeit ansah. Die Kulturveranstaltungen fungierten 147 Alfred Hugenberg, seit 1918 in der Deutschnationalen Volkspartei, kaufte 1927 die Ufa auf, die er anschließend auch zur Unterstützung seiner politischen Ziele nutzte – Kreimeier 1999, S. 159. 148 Murray 1990, S. 153. 149 Diederichs 1996. 150 SKW 6:3, S. 63. 151 Vgl. Kracauer 1963, S. 309. 152 SKW 6:2, S. 163.

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für die Angestellten als „Obdachlosenasyle in übertragenem Sinn“, indem sie von kritischen Fragen ablenkten und so ebenfalls zur Manifestierung der gegenwärtigen Gesellschaft beitrugen (siehe auch Kapitel IV, S. 127f.). Für Arbeiten anderer Wissenschaftler über weitere massenkulturelle Themen/Phänomene war Kracauers Artikelserie „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ ebenfalls inspirierend. Adorno griff beispielsweise 1928 in einem Text über Franz Schubert den Ladenmädchentopos auf.153 Adorno bemängelt, dass Schubert als Mensch u. a. in dem biographischen Roman Schwammerl von Rudolf Hans Bartsch in einen „abscheulichen Gegenstand kleinbürgerlicher Sentimentalität“ verwandelt worden sei.154 Durch diesen und die Operette Das Dreimäderlhaus wäre Schubert zu einem „Gelächter für Ladenmädchen unter ihresgleichen und selber ein Stück ihresgleichen in erotischer Hilflosigkeit“ geworden.155 Daran zeigt sich, dass Adorno eine naive Rezeption bürgerlicher Kultur seitens einfacher Menschen als unpassend ansieht, während Kracauer Kolportage grundsätzlich anerkennt. Den Sozialtypus der Ladenmädchen führt Adorno auch in seinen soziologischen Analysen von populären Schlagern 1929 an. Dabei hebt er hervor, dass der Kitsch nur eine Illusion darstelle.156 In der amerikanischen Emigration werden Gedankenfiguren aus den frühen filmsoziologischen Arbeiten Kracauers in Adornos und Horkheimer Die Dialektik der Aufklärung aufgegriffen, z. B. bei der Kulturindustriethematik und den Überlegungen zur „Warenförmigkeit“. In die gleiche Stoßrichtung wie Kracauers soziologische Filmkritik in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre geht Adornos und Horkheimers Einschätzung der Massenkultur. Denn diese sei eskapistisch und einer Opposition würde so vorgegriffen werden.157 Bei Kracauer ist 1927 jedoch noch mehr Hoffnung auf eine gesellschaftliche Änderung enthalten.158

Kracauers Rezeption in der Filmkritik nach dem Zweiten Weltkrieg Dass Kracauer die „kleinen Ladenmädchen“ als populäre Sozialfigur 1963 in die Überschrift des Neuabdrucks der Gesamtserie prominent integrierte,159 förderte durchaus die Bekanntheit des Schlüsseltextes. Kracauers soziologische Methode war schon zuvor anhand der deutschen Ausgabe Von Caligari zu Hitler insbesondere im Kreis der 1957 gegründeten Zeitschrift Filmkritik und deren Redakteur Enno Patalas aufgegriffen worden.160 Damit versuchte man sich gerade von der subjektiven ästhetischen Kritik zu distanzieren, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Filmpublizistik bestimmte, und statuierte bei der Gründung der 153 Adorno 1928. 154 Ebd., S. 3 (über Bartsch 1912). Siehe auch Perrey 2005. 155 Adorno 1928, S. 3. Das Singspiel Das Dreimäderlhaus von Heinrich Berté (UA 1916) beruht auf dem Roman Schwammerl. 156 Adorno (1929) 1997, S. 781. 157 Resch 2017, S. 165. 158 Resch 2017b, S. 40. 159 Zur Beliebtheit von Ladenmädchen als Sozialfigur siehe S. 88–91. 160 Die deutschsprachige Rezeption des Buches Von Caligari zu Hitler war durch eine gekürzte und entschärfte Übersetzung beeinträchtigt worden – Kracauer 1958.

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Zeitschrift: „Nichts ist so überholt, wie die feuilletonistische Kunstkritik, die Eindrücke und Einfälle notiert, statt Strukturen nachzuweisen, die den Film ‚nur als Film‘ sehen will statt im gesellschaftlichen Zusammenhang.“161 Die von Kracauer angeregten ideologiekritischen Ansätze wurden jedoch von Dieter Prokop kritisiert. In seiner Soziologie des Films bemängelt er 1970, dass Kracauer einen „Rückgriff auf empirisch nicht verifizierbare Größen“ gewählt habe.162 Darüber hinaus wäre Kracauers Ansatz für ein postmodernes Spiel mit Ideologien nicht adäquat.163 Prokop selbst untersuchte die Produktionsbedingungen und das Publikumsverhalten empirisch unter Rückgriff auf eine strukturelle Funktionsanalyse.164 Auf die fehlende Empirik machten auch genderbewusste WissenschaftlerInnen wie z. B. Miriam Hansen 1983 aufmerksam. Hansen würdigt Emilie Altenlohs Studie als eine der „most differentiated sources on spectator stratification available“, während Kracauer von „patriarchal ideology“ bei seiner Charakterisierung des „salesgirl – or the typist, the ‚Tippmamsell‘ – as the linchpin of the false correspondence between film and society” geprägt sei.165 Bei einer Bezugnahme 2003 wird Hansens Kritik noch verkürzt und nicht mehr die 1927 sehr innovative filmsoziologische Filmbetrachtung Kracauers genauer gewürdigt.166 Es gibt jedoch auch Tendenzen zu einer Rehabilitation Kracauers im Zusammenhang mit seinem Aufgreifen des Ladenmädchentopos. Resch verwies besonders darauf, dass für Kracauer die Ladenmädchen repräsentativ für alle Zuschauer seien.167 Im Folgenden wird eine mittlere Position in dieser Forschungsdiskussion vertreten. Die negative Konnotation des Ladenmädchentopos wird historisch erläutert. Dabei wird unverkennbar, dass Kracauer durchaus eine patriarchalische und bildungsbürgerliche Position einnimmt, wenn er seine satirischen Pointen auf Kosten einer sehr häufig desavouierten Sozialgruppe macht und damit den Dünkel der LeserInnen der FZ unterstützt. Allerdings wurde der Ladenmädchentopos sehr häufig verwendet und andere Wissenschaftler wie z. B. Adorno dafür nicht so stark wie Kracauer kritisiert. Bislang wurde auch noch nicht genauer darauf eingegangen, dass Kracauer in dem „Ladenmädchen“-Text auch vehemente Kritik gegen bürgerliche Weiblichkeitsvorstellungen äußert. Darüber hinaus ging er später noch sachlicher auf die Lebensverhältnisse von weiblichen Angestellten ein.168

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Redaktion Filmkritik 1957, S. 1. Siehe auch Diederichs 1996, S. 9. Prokop 1970, S. 238. Michael 1993, S. 183. Prokop 1970. Hansen 1983, S. 176. Murdock 2002, S. 50. Resch 2017, S. 165, mit Anm. 16: „Sexismus sollte man ihm [Kracauer] nicht vorwerfen. Es sei den Leserinnen überlassen, die Schlusspointe geschlechtsspezifisch zu variieren. Es könnten auch kleine Buchhalter sein, die von der schönen Schauspielerin in der großen Abendrobe träumen.“ 168 Vgl. Hake 1987, S. 159: „In all his essays Kracauer evaded the impact of an audience of women by pushing it aside through an act of disqualification, as ‘little shopgirls.’“

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Die zeitgenössische Sicht auf „kleine Ladenmädchen“ Bei der Artikelserie 1927 ist die zweifache Herabsetzung der Verkäuferin durch die Bezeichnung „Mädchen“ mit einem Diminutivsuffix, mit der der junge und unverheiratete Status verdeutlicht wird,169 und das zusätzliche adjektivische Attribut „klein“ auffällig. Damit wird die Unbedeutendheit im Ladenbetrieb verdeutlicht. Wesentlich neutraler als diese assoziationsreiche Bezeichnung, die heute als problematisch angesehen wird, wäre in der damaligen Zeit z. B. diejenige als „junge Verkäuferinnen“ gewesen. Kracauers Verniedlichung des jungen weiblichen, in der Firmenhierarchie niedrigstehenden Verkaufspersonals mit „klein“ und dem Ausdruck „Mädchen“ beinhaltet somit eine soziale Diffamierung. Die zeitgenössische Sicht auf „kleine Mädchen“ als weibliche Pendants zu den sogenannten „Gents“ in den 1920er Jahren wird sehr anschaulich in dem heute leider in Vergessenheit geratenen, 1925 im Vorwärts publizierten Feuilletonbeitrag „Der Gent und das kleine Mädchen“.170 In seiner männlich-chauvinistisch geprägten, satirischen Typenstudie charakterisiert Felix Scherret anhand des Beispiels von KontormitarbeiterInnen das „kleine Mädchen“ als „merkwürdigen Kompromiß von Dame und kleinbürgerlicher Unbedeutendheit“. Um trotz der einfachen Herkunft elegant zu erscheinen, würde es die aktuellen Filmstars kopieren, was aber nicht gelinge und gekünstelt wirke. Es wird dem „kleinen Mädchen“ auch ein geringer Intellekt unterstellt: der „letzte Schrei der Mode soll fehlendes Gehirnschmalz ersetzen.“171 Kritisch verwiesen wird am Ende auch auf die Disposition des modernen Massenmenschen, dem persönliche Nuancen fehlen. Generell galten Verkäuferinnen damals jedoch als besser erzogen und hatten mehr Möglichkeiten, gebildete Menschen zu treffen als zum Beispiel Arbeiterinnen. Allerdings waren die meisten Verkäuferinnen sehr jung und viele gaben ihren Beruf auf, wenn sie heirateten.172 Dass Kracauer die Ladenmädchen für den Titel und die Schlusspointen gewählt hat, hängt wohl auch mit ihrer damaligen Beliebtheit als Sozialfigur bei Männern zusammen. Denn schon im 19. Jahrhundert wurden mit Ladenmädchen die Attribute schön und käuflich attestiert. Insbesondere in den großen Warenhäusern war das Aussehen wichtig. Die Verkäuferinnen sollten hübsch und jung sein. Ebenfalls sollten sie über ein angenehmes Wesen verfügen. So sollten sie als erotische Lockvögel gerade auch für die männlichen Kunden fungieren.173 Diese Sichtweise prägt das Gemälde von James Tissots The Milliner’s Shop (1883–1885, Abb. 15, Taf. V), in dem insbesondere die attraktiven weiblichen Körperformen der Verkäuferinnen in einem Modistengeschäft betont werden und Erotik, Mode sowie Konsumkultur

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DWDS o. J. Scherret 1925. Ebd. Suhr 1930, S. 21, S. 9. Auch 1930 galt das jugendliche Aussehen der Verkäuferin als werbewirksam für das Geschäft – Suhr 1930, S. 22.

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Die zeitgenössische Sicht auf „kleine Ladenmädchen“

15  James Tissot, The Milliner’s Shop, 1883– 1885, Öl auf Leinwand, 146,1 × 101,6 cm, Art Gallery of Ontario, Toronto.

zusammenlaufen.174 Eine Mitarbeiterin hält in diesem mit einem freundlichen Blick einem Kunden höflich die Tür auf. Der Betrachter des Bildes nimmt die Position des nicht mehr im Bild zu sehenden Käufers ein, der sich zum Verlassen des Ladens anschickt. Die zweite Verkäuferin holt links im Bild eine Schachtel aus einem Regal herunter. Ihre dabei sehr gut sichtbare Statur lenkt den Blick eines männlichen mittelalten Flaneurs durch das Schaufenster auf sich, den die Verkäuferin zu erwidern scheint.175 Bei Aufnahmen von Verkäuferinnen aus den 1920er Jahren ist ebenfalls auffällig, dass besonders schöne Frauen abgelichtet werden (siehe Abb. 11–13).176 In den Illustrierten der Weimarer Republik sind die Darstellungen des weiblichen Verkaufspersonals zudem häufig erotisch aufgeladen, u. a., indem die Beine prominent platziert werden (Abb. 16, insbeson-

174 James Tissot, The Milliner’s Shop, 1883–1885, Öl auf Leinwand, 146,1 × 101,6 cm, Art Gallery of Ontario, Toronto. – Das Gemälde stammt aus der Serie „Quinze tablau sur la femme à Paris“. 175 Clayson 1991, S. 124. 176 Zu der Wichtigkeit des Äußeren bei den Angestellten allgemein siehe auch Kracauers Äußerungen in seiner Angestelltenstudie – SKS 1, S. 222–224.

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III. Film als Spiegel der Gesellschaft

16  Sorgen und Sehnen des Ladenmädchens, in: Revue des M ­ onats, 4.1929/30, H. 2, ­Dezember 1929, S. 170.

dere rechts).177 Diese waren in Seidenstrümpfe gehüllt, die der Fetischisierung der weiblichen Beine dienten und als Accessoire der „modernen Frau“ par excellence galten. Mit diesen entsprachen die Verkäuferinnen auch dem damaligen „Girl“-Ideal.178 Schon in James Tissots früherem Gemälde schlängelt sich signifikanterweise ein rosafarbenes Band in Herzform auf dem Boden und verbindet symbolisch Liebe mit käuflicher Warenwelt (siehe Abb. 15, Taf. V). Denn das Attestieren der jungen Verkäuferinnen mit Käuflichkeit reicht schon ins 19. Jahrhundert zurück. Dass viele wegen ihres geringen Verdienstes auf einen Freund angewiesen waren, regte die männliche Phantasie an, aber auch Ressentiments seitens konservativer VertreterInnen, dass die Verkäuferinnen dem Luxus und dem geselligen Leben zugeneigt seien. Nachdem sich das Kino als Massenmedium durchgesetzt hatte, galten junge Verkäuferinnen als besonders kinobegeistert und als Rezipientinnen von romantischen Kolportagefilmen mit emotionalen Reaktionen.179 Dies führte wiederum zur Besorgnis von konservativen 177 Anon., Fesseln, die in Fesseln schlagen [Verkäuferin in der Herrenmodeabteilung des K. d. W.], Fotografie, in: Das Kriminal-Magazin, Bd. 2, Mai 1930, S. 134. – Der Illustration eines humorvollen Artikels ist von dem Schriftsteller Otto Eis folgender Begleittext beigegeben worden: „Alle meine Freunde, denen ich dieses Bild zeigte, sagten gleich: „Das ist ja die kleene Blonde vom K. d. W. aus der Herrenmodeabteilung. Trotzdem diese junge Dame so gut getroffen ist, wurde dieses Bild merkwürdigerweise als Paßfoto zurückgewiesen.“ (Eis 1930, S. 134.) Auf derselben Seite sind auch die Beine einer Prostituierten abgebildet. In Verbindung mit Prostituierten wurden Verkäuferinnen schon im 19. Jahrhundert gebracht. 178 HDG 1999, S. 38–45. 179 Milcoy 2017, S. 63, siehe auch Langer 2014, S. 90–93 (aus „Kinotypen“ von 1919) sowie Sanders 2006, S. 182ff.

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Die zeitgenössische Sicht auf „kleine Ladenmädchen“

17  Edward Linley Sambourne, Ladenmädchen in der Kensington Church Street, 8.9.1906, Fotografie, London, Sambourne House, London.

Filmreformern um die moralische Gesundheit der weiblichen Zuschauer, während aus sozialistischer Sicht z. B. von Clara Zetkin 1919 generell bemängelt wurde, dass der Kinogenuss die Kräfte rauben würde, die der Befreiung des Proletariats gehören sollten.180 Die Kritik des Massenkulturkonsums von Frauen ist historisch jedoch schon bis ins 18. Jahrhundert zurückzuverfolgen, in denen die Lesewut von Frauen kritisiert wurde. Im 19. Jahrhundert weitete sich die Kritik auf Kolportageromane aus, die u. a. in Magazinen als Fortsetzungsgeschichten publiziert wurden und gern auch von Verkäuferinnen auf dem Weg zur und von der Arbeit gelesen wurden. In England gehörte dazu z. B. Forget-Me-Not in handlichem A5-Format, das viele romantische Geschichten enthielt.181 Ein Londoner Shopgirl ist ein solches Magazin lesend von Edward Linley Sambourne in Kensington fotografiert worden (Abb. 17).182

180 Zetkin (1919) 1983; siehe auch Rutz 2000, S. 184. 181 Hapgood 2005, S. 124; Sanders 2006, S. 165. 182 Edward Linley Sambourne, Ladenmädchen in der Kensington Church Street, London, 8.9.1906, London, The Royal Borough of Kensington & Chelsea Archives. – Kimpton 2017, S. 99 (mit Abb. S. 103).

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Kracauer integriert in seine Serie 1927 somit eine Sozialfigur, die sowohl in der konservativen Kulturkritik als auch in der Arbeiterbewegung mit Stereotypen besetzt war. Dies war auch durch ihre Mittelstellung zwischen den traditionellen Frauenbildern von Bäuerin, Arbeiterin und bürgerlicher, nicht arbeitender Ehefrau bedingt.183 Die konservativen VertreterInnen nahmen in ihr eine Gefahr für das traditionelle Rollenmodell der Frau wegen ihrer Beschäftigung wahr. Sie sahen sie als oberflächlich und käuflich an und warnten vor einem moralischen Abstieg. VertreterInnen der Arbeiterklasse charakterisierten sie aus anderen Gründen als versnobt und oberflächlich, da sie anstatt politischen Aktivitäten ihr privates Glück zu verfolgen und dabei auch soziale Aufstiegshoffnungen zu hegen schienen.184 In den Massenmedien wurden die sozialen Stereotypen zu den Ladenmädchen lanciert, in der Literatur dominierten z. B. Narrationen einer Heirat mit dem Chef oder einem reichen Kunden. Sie wurden auch in den Magazinen der 1920er Jahre (siehe Abb. 16), Theaterstücken und seichten Unterhaltungsfilmen aufgegriffen.185 Kracauer knüpft an diese Vorurteile an, wenn er satirisch herausstellt, dass die Ladenmädchen für mit sozialem Aufstieg verbundene Heiraten in Filmen empfänglich und auf Freizeitvergnügen fokussiert sind. Er hinterfragt Stereotype in seiner Serie selbst nicht historisch oder soziologisch.186 Denn auch wenn die Ladentätigkeit grundsätzlich sauberer und unfallärmer als Fabrikarbeit war, war sie mit langen Arbeitszeiten verbunden und monoton.187 Die Tristesse der Tätigkeit einer Modistin in einem ärmeren Stadtviertel von New York wurde in der amerikanischen marxistischen Zeitschrift New Masses im Mai 1926 in der Zeichnung Mid-Afternoon von Frederick Stuart Hynd (1905–1965) thematisiert (Abb. 18).188 Das New Yorker „shop girl“ ist vor dem Geschäft in einer leeren Straße in einer ärmeren Gegend in New York zu sehen und unterscheidet sich mit ihrem traurigen, verschatteten Gesichtsausdruck natürlich sehr von den erotisch aufgeladenen Foto-Darstellungen von Verkäuferinnen z. B. in den deutschen Magazinen.189 In den kleinen Geschäften hatte man immerhin noch die Möglichkeit, zwischendurch Tageslicht zu sehen, was dagegen für die Mitarbeiterinnen in den großen Kaufhäusern häufig nicht gegeben war. Sie übten dort vornehmlich mechanische Arbeiten aus, während die Männer für die geistige und organisatorische Leitung zuständig waren.190 Aufgrund der tayloristischen Arbeitsteilung für Effizienz in 183 Lindemann 2015, S. 146f. 184 Cox/Hobley 2014. 185 Becker 2014, S. 281. Mehrere Filme mit Verkäuferinnen als Protagonisten weisen nach meinen Recherchen in den 1920er Jahren einen Komödiencharakter und ein „happy end“ auf – vgl. dagegen die divergierende Einschätzung von Sabine Biebl in Bezug auf Narrationen mit „sales girls“ (Biebl 2008). 186 Erst 1932 ging Kracauer eingehender auf „Mädchen im Beruf“ ein – siehe S. 99f. 187 Benninghaus 1996, S. 257. – Auch in Deutschland waren die Arbeitszeiten der Verkäuferinnen lang – siehe Suhr 1930, S. 25. 188 Frederick Stuart Hynd, Mid-Afternoon, Zeichnung, publiziert in New Masses, Mai 1926, S. 27. – F. S. Hynd war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch Student bei der Art Students League of New York. Die Zeichnung stellte seine erste Publikation dar, später war er u. a. als Lehrer und Leiter der Hartford Art School tätig. 189 Todd 1993, S. 253f. 190 Leichter 1930, S. 38f.

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18  Frederick Stuart Hynd, Mid-­Afternoon, ca. 1926, Zeichnung, in: New Masses, Mai 1926, S. 27.

den 1920er Jahren gab es noch mehr Entfremdung.191 Im deutschsprachigen Gebiet verwies Suhr einige Jahre später darauf, dass weibliche Angestellte allgemein in ihren Berufen durch die schlechten Arbeitsbedingungen verbraucht werden.192 Die Berufswahl der Frauen ist dabei in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit zu sehen. Häufig waren schon beide Elternteile der Verkäuferinnen berufstätig, sodass die Erziehung gering und aufgrund der Notwendigkeit zum frühzeitigen Mitverdienen die Schulbildung zudem kurz war.193 Neben den eskapistischen Massenkulturprodukten gab es wenig aufklärerische Alternativen im Freizeitbereich.194 Man ging davon aus, dass die Verkäuferinnen keine beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten suchten, allerdings passten sie dabei ihre Erwartungen und Wünsche an das Erreichbare auch an.195 Politische Aktivitäten wurden zudem durch lan191 192 193 194 195

Cox/Hobley 2014. Suhr 1930, S. 28, S. 30. Ebd., S. 14f. Zur Unterstützung der Familie siehe auch Benninghaus 1996, S. 180f., S. 183. Sanders 2006, S. 126ff. Auf die fehlenden Aufstiegschancen bei den weiblichen Angestellten macht Susanne Suhr aufmerksam – Suhr 1930, S. 19f.

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ge Arbeitszeiten und Angst vor negativem Auffallen bei ihrem Arbeitgeber und beruflichen Konsequenzen eingeschränkt.196 Kino war für die einfachen Verkäuferinnen eine gutes „Fluchtasyl“,197 da es ein niederschwelliges Vergnügen darstellte. Für Besuche von Theateraufführungen oder Konzerten waren die Frauen häufig zu müde.198 Darüber hinaus stellten Kinobesuche ein sehr populäres und als modern angesehenes Freizeitvergnügen dar. Gerade junge ledige Verkäuferinnen schienen zu solchen noch mehr Gelegenheit zu haben, da ihre familiären Verpflichtungen geringer als die von verheirateten Frauen waren.199 Allerdings weiß man, dass selbst für Kinobesuche die finanziellen Mittel der Verkäuferinnen begrenzt waren.200 Zudem mussten sie in ihrer Freizeit sich noch um ihren Haushalt, Wäsche u. a. kümmern.201 Einigen Frauen war ihre geringe Freizeit zudem für das Kino zu schade.202 Auch wenn nicht alle jungen Verkäuferinnen so häufig ins Kino gingen, wie allgemein angenommen wird, wurden sie aufgrund ihrer historischen Verbindung mit Massenkultur häufig mit Massenfilmproduktionen in den USA und Europa sowohl von den FilmproduzentInnen in der Filmwirtschaft als auch von KritikerInnen in Verbindung gebracht. Einige Jahre nach Kracauer wird dies in dem amerikanischen Magazin Picture Play folgendermaßen zusammengefasst: Often you hear the phrase ‚shopgirl’s delight‘ used to describe sexy, cheap pictures or an obvious, flashy personality. Even producers go so far as to say, in planning their programs, ‚Yes, shopgirls like this-shopgirls don’t like that.‘ The phrase has come to stand for a low level in taste-one of the very lowest levels.203

Im deutschsprachigen Feuilleton werden junge Verkäuferinnen z. B. in Der Abend (Spätausgabe des Vorwärts) 1928 neben Stenotypistinnen als besonders emotionale Filmrezipientinnen von kitschigen Filmproduktionen angeführt: All diese Filmfetzen und fragmentarischen Szenen, die wir kurz beschrieben haben, werden in den nächsten Monaten als fertige Filme ihren geisterhaften Siegeszug durch die Lichtspielhäuser antreten. Kleine Ladenmädchen werden heulen, junge Stenotypistinnen nach den [sic] reichen Freund seufzen, alte Ehepaare sich ihrer verliebten und frühen Jahre erinnern.204

196 Cox/Hobley 2014. Siehe auch Suhr 1930, S. 25. 197 Rühle-Gerstel 1932, S. 86. 198 Altenloh 1913, S. 92. 199 Milcoy 2017, S. 63. 200 Suhr 1930, S. 45f., S. 36. 201 Kracauer 1932, S. 241f.; Suhr 1930, S. 42f. 202 Sanders 2006, S. 70. 203 Red. Picture Play 1932. – In demselben Jahrgang von Picture Play sind weitere signifikante Aussagen zu Ladenmädchen zu finden wie z. B. „They do not appeal to shopgirls, but if the movies are ever to grow up, it will be through these good players.“ – Williams 1932. 204 Anon. 1928. Siehe z. B. ebenfalls das Anführen von Ladenmädchen als unkritische Verehrerinnen von Filmdiven: „Jedes kleine Ladenmädchen sieht im Dasein der Filmdiva den Inbegriff des Glücks, den

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Claire Goll stellt die Ladenmädchen ebenfalls als emotionale Rezipientinnen bei dramatischen Szenen in ihrem humorvollen Beitrag über eine Wochenschau 1923 heraus.205 In einem 1924 in Der Tag erschienenen Artikel über einen Film, der „falsche Verbrecherromantik und detektivische Gefinkeltheit“ aufweise, werden als RezipientInnen „die kleinen Kommis und Ladenmädchen“ angeführt, die „[…] sich noch den Glauben an jene Romantik und Gerissenheit bewahrt haben.“206 Generell wurden Ladenmädchen als unkritische Rezipientinnen von Massenvergnügen und als literarisch ungebildete Sozialgruppe in der Weimarer Republik aufgefasst. Beispielsweise wurden sie 1924 als Schaulustige einer Zeppelinfahrt in der Berliner Volkszeitung wie folgt charakterisiert: „Alle kleinen Ladenmädchen haben für ein paar Augenblicke Feiertag und das Wunder in den Augen.“207 Ende der 1920er Jahre wurden kleine literarische Hefte von einer Tabakwarenfirma den Zigarettenschachteln beigelegt, was von der Neuen Bücherschau moniert wurde, wobei man den Ladenmädchen – neben Lehrern – eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Literatur absprach: Die kleinen Häppchen werden jedem Lehrer und jedem Ladenmädchen die Anregung geben, über Thomas Mann und Döblin, über Hermann Hesse und Walter von Molo mitzuschwatzen, ohne sie gelesen zu haben. Man begnügt sich mit den Häppchen […] und verzichtet dankend auf jede ernstere Beschäftigung mit Literatur.208

Kracauer ist somit eher als ‚Mann seiner Zeit‘ zu sehen, der 1927 nicht misogyner, aber auch nicht reflektierter als zeitgenössische Autoren den Ladenmädchentopos aufgreift. Man würde Kracauer allerdings gerechter werden, wenn die feministischen Filmkritikerinnen ihre harsche Kritik noch historisch situiert und vor allem auf die satirische Prägung des Textes hingewiesen hätten.209

höchsten Ausdruck des Schönen. Tausende, ja Hundertausende von kleinen Angestellten beschäftigen sich mit der Frage: ‚Wie komme ich zum Film?‘“ – Wando 1925. 205 Der Abschnitt in Claire Golls Beitrag lautet folgendermaßen: „In Spanien / Sonne, roter Granatapfel. / Hinter dem Gebüsch der Fächer / Glühen die Frauen / Für El Gallito. / El Gallito, der große Matador, / Im Film zu sterben / Heiß brennt sein Purpur: / Hut, Toreador, mehr Blut! / (Unten im Orchester kreischt Carmen auf.) / (Kleine Ladenmädchen weinen, / El Gallito starb.)“ (Goll 1923.) 206 mb. 1924. – Die Filmkritik ist nicht in den „Schriften zum Film“ von Béla Balázs, der regelmäßig für „Der Tag“ Filmkritiken schrieb, aufgenommen und stammt somit von einem anderen Verfasser (siehe Balázs 1982). 207 Anon. 1924b. – Siehe auch Ralf. 1923: „Das Vestibül aber ist tagsüber […] Luftkurort für Ladenmädchen, die während der Mittagspause dort ihre Courths-Mahler lesen.“ 208 Huth 1929; Wegmann 2012, S. 248f. 209 Vgl. z. B. Hake 1987, S. 159; Petro 1989, S. 66–68.

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Eigene Äußerungen der „Ladenmädchen“ Bezüglich der tatsächlichen Sichtweise der jungen Verkäuferinnen jenseits der Stereotype gibt es wenig Zeugnisse und Studien. Daher ist es schwierig zu beurteilen, wie kritisch sie waren. Es sind einige zeitgenössische Interviews überliefert, die deutlich machen, dass sich die jungen Frauen durchaus nicht wegen der Heiratsmythen in den Filmen für ihren Beruf entschieden haben.210 Stattdessen war ausschlaggebend, dass sie sich über die Arbeit im Alltag ein gutes Bild machen konnten und es sonst wenig andere Ausbildungsmöglichkeiten gab. Allerdings fungierte laut Uwe Lindemann bei jüngeren Verkäuferinnen das Warenhaus durchaus auch als Heiratsmarkt. In den Interviews 1924 wurde jedoch ebenfalls skeptisch geäußert, „ob sie [die Verkäuferin] sich im Haushalt [als Ehefrau] ebenso glücklich fühlt als bei Wertheim?“211 Eine amerikanische Verkäuferin aus Wisconsin wehrte sich in einem Leserbrief an Picture Play 1932 vehement gegen die verunglimpfenden Stereotypen zu dem scheinbaren schlechten Filmgeschmack von Ladenmädchen. Da die Ladenmädchen häufig ins Kino gehen und so mehr Filme sehen, würden sie laut ihr größeres Wissen über Filme haben: […] Just why writers have the impression that shopgirls lack the intelligence to appreciate really fine, clean pictures is beyond my ability to understand. We girls who spend most of our hours behind counters see more pictures and, consequently, know more about them than any other theatergoers. Movies are our one great recreation. I consider it not only unkind, but absolutely untrue, for any one to intimate that shopgirls are incapable of recognizing the worth of a truly excellent picture.212

Aufgrund dieses Kommentars befragte die amerikanische Filmberichterstatterin Margaret Reid für einen Beitrag mehrere Verkäuferinnen in Los Angeles über ihre Filmpräferenzen.213 Ihre Reportage ist in der Filmforschung und in den sozialgeschichtlichen Abhandlungen zu Verkäuferinnen bislang noch nicht berücksichtigt worden. Die Journalistin meinte zwar selbst scherzend, dass ihre Befragung wohl nicht als „the Great Reid Experiment“ in die Kinogeschichte eingehen würde, aber etwas mehr Würdigung als bislang verdient sie durchaus.214 Reid interviewte mit Bedacht ausgewählte Verkäuferinnen, die möglichst repräsentativ für Gesamtamerika sein sollten. Die Interviews verdeutlichten Reid, dass man keine Generalisierungen treffen könne, da der Filmgeschmack bei den befragten Verkäuferinnen sehr unterschiedlich sei. Einige mögen qualitativ hochwertige intelligente Filme, andere dagegen

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Benninghaus 1996, S. 278. Lau 1925, S. 36; siehe auch Lindemann 2015, S. 149. I. K. 1932. Reid 1932. Ebd., S. 20. – Reids Anspruch war „light on a subject long fogged over by popular misconception“ zu geben (ebd.). Generell wäre eine genauere Untersuchung von Reids Filmberichten in Picture Play lohnenswert, da sie besondere Themen aufgreift (neben den Verkäuferinnen zum Beispiel auch die Erfahrungen als „Film Extra“). Bislang werden immer nur Texte vereinzelt von ihr zitiert.

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Kracauers marxistische Kritik an den patriarchalen bürgerlichen Familienidealen

durchschnittliche Massenproduktionen wie z. B. eine Verkäuferin in einem großen Kaufhaus unanständige Liebesgeschichten favorisiert. Eine andere ließ sich jedoch von ihrer ermüdenden Tätigkeit nicht von Filmen mit reichen Leuten ablenken, sondern präferierte Street Scene, die Adaption eines mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten, im New York der „kleinen Leute“ angesiedelten Theaterstückes.215 Eine Verkäuferin in einem Laden mit sehr günstigen Haushaltsprodukten war besonders von Friedrich Wilhelm Murnaus Film Tabu. A Story of the South Seas angetan, dessen Kameramann Floyd Crosby bei den vierten Academy Awards den Oscar für die beste Kamera erhielt.216 Dieser Film wurde für sein künstlerisches Niveau bewundert, finanziell war er jedoch nicht erfolgreich. Eine von Reid ebenfalls angesprochene Kellnerin favorisierte die Marx Brothers, die damals insbesondere auch von Intellektuellen geschätzt wurden. Reid folgerte, dass man keinen Uniabschluss brauche, um die Qualität eines kunstvollen Films einzuschätzen. Sie merkt ebenfalls an, dass man Ladenmädchen nicht für schlechte Filme verantwortlich machen könne. Wenn man einen Film verdammen wolle, sollte man ihn eher als „moron’s delight“ und nicht als „shopgirls’ delight“ bezeichnen.217 Auch wenn die eigenen Aussagen von Ladenmädchen zum Filmkonsum in den 1920er und Anfang der 1930er Jahre begrenzt sind und zudem aus verschiedenen Ländern stammen, verdeutlichen sie, dass Ladenmädchen zu stark mit Stereotypen befrachtet sind.

Kracauers marxistische Kritik an den patriarchalen bürgerlichen ­Familienidealen und dem bourgeoisen Frauenbild Im Folgenden soll noch auf einen weiteren Aspekt eingegangen werden, der in der Diskussion häufig übergangen wurde. Denn Kracauer partizipiert mit „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ zwar an einem junge Verkäuferinnen verunglimpfenden Diskurs, aber er übt in demselben Text auch Kritik an patriarchalischen Denkmustern und traditionellen bürgerlichen Familienvorstellungen aus marxistischer Perspektive. Marx setzt sich zwar nicht mit der Frauenfrage an sich auseinander, in seinen frühen Schriften geht er jedoch auf das Geschlechterverhältnis im Zusammenhang mit seiner Aussagefähigkeit für die gesellschaftliche Entwicklung ein, was im 20. Jahrhundert von FrauenrechtlerInnen und GenderforscherInnen aufgegriffen wurde.218 Kracauer macht beispielsweise satirisch darauf aufmerksam, dass in einem Film die Ehefrau zur „Verwertung im Heim“ erworben werde.219 Dies entspricht der feministischen Sichtweise Anfang des 20. Jahrhunderts, dass die Frau in der bürgerlichen Gesellschaft ans Haus gebunden werde. Die Kleinbürgerin führe laut Rosa Luxemburg dort unbezahlte Haus-

215 Street Scene, R: King Vidor, USA 1931. – Reid 1932, S. 21ff. 216 Tabu: A Story of the South Seas, R: Friedrich Wilhelm Murnau, USA 1931. 217 Reid 1932, S. 72. – Aufgrund des diskriminierenden Charakters sollte man die Bezeichnung „moron’s delight“ allerdings ebenfalls nicht verwenden. 218 Pachinger 2007; Zetkin (1903) 1957. Zu dem Einfluss von Engels siehe auch Delamont 2003, S. 105. 219 SKW 6:1, S. 316.

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arbeit getrennt von der gesellschaftlichen Produktion aus.220 Im Gegensatz dazu könne die bürgerliche Frau jedoch die „Früchte der Ausbeutung“ genießen.221 Clara Zetkin pointiert in dem Artikel „Was die Frauen Karl Marx verdanken“ 1903, dass ohne „seinen rührend-sentimentalen Schleier“ das bürgerliche familiäre Verhältnis ein monetäres sei.222 Kracauer verweist im Zusammenhang mit dem Film Wien-Berlin darauf, dass die verheiratete Frau im Haus „sich nicht ins Wirtschaftsleben“ einmischen könne, d. h. sie verfüge nicht über ökonomische Macht.223 Dies beruht auf der Ansicht, dass Marx und Engels die Hausarbeit als „unproduktive Arbeit“ einstufen.224 Kracauer stellt zudem in der Folge „Stille Tragödien“ heraus, dass in einem Film die Frau sich umbringen müsse. So solle sie nicht dem Glück und der Karriere des Mannes sowie den Interessen der „Machtpositionen der Gesellschaft“ entgegenstehen.225 Dies verdeutlicht ebenfalls, dass die Frau in der bürgerlichen Gesellschaft nicht als wertschaffend und produktiv angesehen worden ist. Neben den anfangs schon skizzierten gesellschaftlichen Entfremdungszuständen, auf die der Text anspielt, statuiert Kracauer zudem, dass die bourgeoisen Gesellschaftsideale, die über die Filme transportiert werden, für die Frauen eine Unterdrückung bedeuten. Aus marxistischer Sicht war eine Änderung hin zur Gleichberechtigung nur möglich, wenn die Frauen an der Produktion partizipieren.226

Kracauers weitere Auseinandersetzung mit weiblichen Angestellten Durch die Weltwirtschaftskrise wurden im Filmbereich stark illusionäre Handlungen im Film tatsächlich unglaubwürdiger. In den Medien waren junge weibliche Angestellte mit realistischeren Ansichten präsent. So wird im Kino-Journal 1931 die Aussage einer Stenotypistin aus Deutschland wiedergegeben. Sie macht deutlich, dass sie zwar anstelle der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen in Filmen Amüsement suche. Jedoch sollten die Handlungen nicht in den reichen Schichten angesiedelt sein: Ich ärgere mich, wenn ich im Film sagenhaft reiche Frauen sehe, die aus lauter Langeweile nicht wissen, was sie mit sich anfangen. Zwar suche ich im Kino Erholung von den Sorgen des Alltags, will kein Elend sehen, und will mir nicht den Kopf über soziale Probleme zerbrechen. Und dennoch: Luxusweibchen, die in einer unwahrscheinlichen Pracht schwelgen, Frauen, die märchenhafte Paläste bewohnen, wirken geschmacklos und aufreizend auf ein Publikum, dessen Mehrzahl schwer um seine Existenz zu kämpfen hat.227

220 Luxemburg (1914) 1973, S. 410. Siehe auch Engels (1884) 1975, S. 157f. 221 Luxemburg (1914) 1973, S. 410f.; siehe auch Haug 1999. 222 Zetkin (1903) 1957. 223 Wien-Berlin, R: Hans Steinhoff, Deutschland 1926. – SKW 6:1, S. 317. 224 Engels (1884) 1975, S. 157f. 225 SKW 6:1, S. 319. 226 Ebd. 227 Anon. 1931b, S. 12.

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Kracauers weitere Auseinandersetzung mit weiblichen Angestellten

Eine realistischere Filmrezeption wurde auch in Filmproduktionen wie z. B. Ich bei Tag, du bei Nacht mit dem Lied Wenn ich sonntags in mein Kino geh’ thematisiert.228 So singt die Hauptdarstellerin, die in einem Maniküre-Salon beschäftigt ist, in einer Strophe: Wenn ich sonntags in mein Kino geh’, Ach ja, und den Himmel voller Geigen seh’, Träum ich noch am Montagfrüh: Einmal leben so wie die! Doch zu so was kommt man nie...229

In seinem Artikel „Mädchen im Beruf“, der 1932 in der Zeitschrift Querschnitt in einer Ausgabe zu dem Thema „Junge Mädchen Heute“ veröffentlicht wurde, diagnostiziert Kracauer ebenfalls die kritischere Haltung der weiblichen Angestellten: Allerdings ist die Spannung zwischen den in den Filmen erzeugten Illusionen und der Wirklichkeit nachgerade so groß geworden, daß die Mehrzahl der weiblichen Angestellten sich nicht mehr so leicht verzaubern lässt. Ich kenne genug berufstätige Mädchen, die sich über den Schwindel auf der Leinwand abfällig äußern. Die Wirklichkeit rückt ihnen buchstäblich auf den Leib und imprägniert sie mit Erfahrungen, die nicht mehr zu beseitigen sind. Auch mehrt sich die aufklärende Literatur, die zum Unterschied von der üblichen Belletristik und den irreführenden Filmen den angestellten Frauen (und Männern) ihre wirkliche Situation bewusst zu machen sucht.230

Anregend für diese erwähnte kritische Literatur war auch Kracauers eigene Studie über die Angestellten gewesen.231 Kracauer unterstützte die aufklärende Literatur darüber hinaus ebenfalls mit positiven Rezensionen.232 In dem Artikel „Mädchen im Beruf“ nahm er zudem neue Erkenntnisse wie diejenigen aus Susanne Suhrs Schrift Die weiblichen Angestellten auf.233 In seiner Artikelserie 1927 stellte er die Reaktionen der jungen Verkäuferinnen auf die Filme übertrieben dar und bezichtigte sie das Hangs zum Amüsement. Dies revidiert er nun, in dem er anmerkt: „Es sitzt bei den Mädchen viel obenauf, was von außen her zugetragen ist und leicht abfällt.“234 Stattdessen interpretiert er die Zerstreuung als charakteristisch für die zeitgenössische Gehaltlosigkeit und den fehlenden Lebensinhalt. Er geht zudem auf die Benachteiligung von Frauen bei der Entlohnung ein. Ebenfalls führt er einige der Aspekte an, die oben aus heutiger Sicht der Forschung für Verkäuferinnen thematisiert worden sind. Sie galten jedoch auch für weibliche Angestellte allgemein und wurden schon Anfang der 228 Ich bei Tag, du bei Nacht, R: Ludwig Berger, Deutschland 1932. 229 Das Foxtrott-Stück Wenn ich sonntags in mein Kino geh’ (Text: Robert Gilbert und Werner Richard Heymann, Musik: Werner Richard Heymann) wurde in der Folgezeit von verschiedenen MusikerInnen interpretiert. 230 Kracauer 1932. 231 Ders. 1930. 232 Siehe z. B. SKW 5:3, S. 269–271 [Rezension in der FZ am 6.7.1930 zu Christa Anita Brücks Roman Schicksale hinter Schreibmaschinen (Berlin: Sieben-Stäbe-Verlag) 1930]. 233 Suhr 1930. – SKW 5:4, S. 96. 234 SKW 5:4, S. 97; Band 1999, S. 192 mit Fußnote 157.

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1930er Jahre diskutiert. So kamen viele weibliche Beschäftigte aus dem Arbeiterstand und circa 90% waren ledig. Die Ehe sei laut Kracauer darüber hinaus eine wichtige Zukunftsperspektive für die jungen Frauen, da es kaum Aufstiegsmöglichkeiten für Frauen gibt und die Tätigkeiten sie gesundheitlich anfällig machen: „Wer keinen Mann findet, und das sind viele, hat von der Zukunft nichts zu erwarten und ist darum gesundheitlichen Schädigungen besonders leicht zugänglich.“235 Kracauer gibt dabei jedoch nicht den jungen Frauen selbst die Schuld an ihren schlechten Lebensverhältnissen, sondern macht auf die gesellschaftliche Bedingtheit ihrer Situation aufmerksam. Er verzichtet auch auf seinen satirisch-herablassenden Duktus gegenüber den weiblichen Angestellten, der die Ladenmädchenserie geprägt hat. Inhaltlich kann Kracauers Text von 1932 als eine Revision der ironischen Bemerkungen über die „Ladenmädchen“ 1927 gesehen werden und sollte noch häufiger mit diesem erwähnt werden.236

„Shopgirls’ delight“ heute Heute bietet sich eine ideologiekritische Analyse natürlich nicht nur für Durchschnittsfilme, sondern auch für Serien an, die im TV und auf Streamingportalen gezeigt werden. Gerade Serien werden mit weiblichen Zuschauern identifiziert und enthalten wichtige Botschaften über Geschlecht und Weiblichkeit.237 Die Blütezeit des Serienformats war in den USA in den 1980ern, als zwei Drittel der weiblichen TV-Zuschauer Serien schauten. In den 1990ern machten in Deutschland Mädchen und Frauen zwei Drittel bis drei Viertel des Publikums aus.238 Heute ist die Zuschauerzahl von Serien geringer, aber der Serienkonsum von Frauen ist statistisch noch häufiger als der von Männern in Deutschland.239 In den letzten Jahrzehnten wurde die Popularität von Serien, insbesondere von Soap Operas, intensiv in verschiedenen Disziplinen erforscht, jedoch ist die Wissenschaft dabei nicht immer gegen das Aufgreifen von Stereotypen gefeit gewesen. Ruth Rosen führt zu Beginn eines vielzitierten Beitrags zu amerikanischen Soap Operas eine junge Kassiererin als Beispiel für eine unkritische Serien-Rezeption an, in der „the world of the soap and their own daily lives begin to blur.“240 Es wird dabei nicht reflektiert, ob die Wahl der Aussage der „cashier in her late teens“ durch die Vorurteile gegenüber Verkäuferinnen mitbestimmt wurde. Viele Soap Operas sind dafür berüchtigt, sehr gesellschaftskonform und oberflächlich zu sein. Seit einigen Jahrzehnten gibt es jedoch auch Soap Operas in Südamerika, Südafrika, 235 SKW 5:4, S. 98. 236 Huyssen 2015, S. 321. – Kracauers Artikel dient darüber hinaus auch als Ergänzung seiner Studie über die Angestellten, in der er weibliche Angestellte als „unreife Dinger“ darstellt und ebenfalls noch einen männlichen und bildungsbürgerlichen Blickwinkel einnimmt (SKS 1, S. 263; siehe Band 1992, S. 168). Darüber hinaus geht Kracauer in „Mädchen im Beruf“ auch auf Arbeiterinnen ein, mit denen er sich zuvor noch nicht auseinandergesetzt hat. 237 Blakemore 2015. 238 Stingl 2006, S. 15. 239 Splendid Research 2017, S. 7; Blakemore 2015. 240 Rosen 1987, S. 43. – Das Beispiel wird auch genannt bei Hall et al. 2003, S. 214.

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„Shopgirls’ delight“ heute

Indien und China, die einen sozialen Wandel unterstützen sollen.241 Ein bekannter Vorreiter in diesem Bereich ist der Mexikaner Miguel Sabido. Er wurde u. a. 1984 nach Indien eingeladen, um mit der Serie Hum Log gegen die mit dem Kastenwesen verbundenen Vorurteile anzugehen und die Emanzipation zu fördern. Die Soap Opera erreichte eine durchschnittliche Zuschauerzahl von mehr als 50 Mio. Ihre Wirkung wäre jedoch noch größer gewesen, wenn es zur Unterstützung noch eine bessere Infrastruktur wie z. B. Frauenorganisationen gegeben hätte, die misshandelten Frauen Hilfe geboten hätten.242 In den letzten Jahren zeichnet sich ein größeres gesellschaftliches Interesse an der Geschichte des Einzelhandels und den dort beschäftigten Personen ab. Zu der Thematik entstanden gerade in den letzten Jahren in England bekannte Serien The Paradise, eine Adaption von Émile Zolas Roman Au Bonheur des Dames (1883) über das erste moderne Pariser Kaufhaus, und Mr Selfridge über das Londoner Luxuskaufhaus Selfridge und seinen amerikanischen Gründer. In Spanien wurde die Serie Galerías Velvet über ein spanisches Modehaus gedreht.243 Diese Fernsehproduktionen sind u. a. durch die Nostalgie in Zeiten eines immer stärkeren Online-Handels, den Veränderungen im Einzelhandel durch große Einkaufszentren und internationale Ketten sowie auch durch die Personaleinsparungen wie z. B. durch die Einrichtung von Selbstbedienungskassen genährt.244

Die heutigen Leiden einer jungen Kassiererin und ihre kitschige Verfilmung Ebenfalls wurden Filme wie Ladies in Black über vier Verkäuferinnen in einem Kaufhaus in Sydney 1959 sowie Les tribulations d’une caissière (Frankreich 2011, R: Pierre Rambaldi) über eine Kassiererin in einem französischen Supermarkt gedreht.245 Der letztgenannte Film basiert auf einem 2007 begonnenen Blog der französischen Kassiererin Anna Sam.246 Sie erregte mit der humorvoll-kritischen Schilderung ihrer Arbeitserfahrungen in den Postings viel Aufmerksamkeit und konnte sie als Buch veröffentlichen.247 Dieses wurde zum Bestseller, in 21 Sprachen übersetzt und als Comic, Musical, Theaterstück sowie 2011 als Film adaptiert.248 241 Brown / Cody 1991. 242 Singhal et al. 1993, S. 12. – Auf der sog. „Sabido methodology“ basieren bis heute Produktionen z. B. vom Popular Media Center (https://www.populationmedia.org/, Abruf am 24.1.2020, siehe auch Barker 2007). 243 The Paradise, 16 Episoden in 2 Staffeln, R: Davis Drury et al., UK 2012–2013 (In der Serie The Paradise wird der Ort des Kaufhauses allerdings entgegen der literarischen Vorlage von Frankreich nach England transferiert – vgl. Zola 1883); Mr Selfridge, 40 Episoden in 4 Staffeln, R: Jon Jones, UK 2013–2016; Galerías Velvet, 55 Episoden in 4 Staffeln, R: Carlos Sedes / David Pinillos, Spanien 2014–2016. 244 Wright 2015, S. 239. 245 Ladies in Black, R: Bruce Beresford, Australien 2018 (basierend auf dem 1993 erschienen Roman The Women in Black von Madeleine St John). 246 Sam 2007 ff. 247 Anna Sams Blog Tribulations d’une caissière – no futur ? hatte in der Hochzeit seiner Popularität bis zu 600.000 regelmäßige Leser – Müller-Lobeck 2009. 248 Ein Comic erschien 2009 (Wol et al. 2009), 2010 arbeitete der französische Regisseur Jackie-Georges Canal an einem Musical basierend auf Anna Sams Buch, im selben Jahr wurde am Theater Bielefeld ein

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III. Film als Spiegel der Gesellschaft

Anna Sams eloquentes Buch ist ein eindrückliches Zeugnis gegen die Vorurteile über Intellekt und Bildung von Verkäuferinnen, die immer noch fortwähren und die von ihr auch thematisiert werden:249 Alors si vous entendez une mère dire à son enfant en vous pointant du dogt: „Tu vois chéri, si tu ne travailles pas bien à l’école, tu deviendras caissière, comme la dame“, rien ne vous interdit d’expliquer que ce n’est pas un sot métier, que vous ne voulez pas rester au chômage […].250

Anna Sam hat jedoch keine Einzelhandelslehre, sondern ein Studium der französischen Literaturwissenschaft absolviert. Nach ihrem Abschluss hat sie allerdings keine Arbeit in dem Bereich ihrer universitären Ausbildung gefunden. Deshalb hat sie ihren Job als Kassiererin beibehalten, mit dem sie zunächst ihr Studium finanziert hat. Die Buchbeiträge sind ethnographisch-essayistisch gehalten und die Artikel sind ähnlich einer Zeitungskolumne verfasst. Einige Aspekte, die Kracauer in „Mädchen im Beruf“ 1932 thematisiert hat, kehren bei ihr mehr als sieben Jahrzehnte später wieder, wie z. B. die fehlenden Aufstiegsmöglichkeiten: „[…] l’évolution d’unse caissière dans l’entreprise et proche de zéro – ouf ! manquerait plus qu’on vous donne des responsabilités).“251 Sams Buch enthält konsum- und sozialkritische Gedanken, eine grundlegendere Änderung der Gesellschaft wird jedoch nicht wie bei Kracauer ins Auge gefasst. Auch integriert die Verfasserin keine tiefergehenden soziologischen oder historischen Überlegungen. 252 Stattdessen plädiert Anna Sam für eine größere Anerkennung von KassiererInnen. Deren Stellen werden jedoch durch die Tendenz zu Selbstbedienungskassen in Zukunft weniger.253 In ihrem Buch fokussiert Sam den Supermarkt als Arbeitsplatz. Bei der Verfilmung hätte die Vorlage zu einem Sozialdrama im Stil der Brüder Dardenne gestaltet werden können, stattdessen kreierte der Regisseur Pierre Rambaldi daraus eine romantische und märchenhafte Weihnachtskomödie.254

Zweipersonenstück zu diesem aufgeführt (krü. 2010). 2011 folgte die Verfilmung (Les tribulations d’une caissiére, R: Pierre Rambaldi, Frankreich 2011). 249 Im Folgenden wird die Buchausgabe von Les tribulations d’une caissière zitiert – Sam 2008. 250 „Falls Sie also hören, wie eine Mutter ihrem Kind weismacht: „Siehst du, mein Liebes, wenn du in der Schule nicht fleißig lernst, dann wirst du einmal Kassiererin wie diese Frau da“ (dabei zeigt sie natürlich mit dem Finger auf Sie), dürfen Sie das Wort ergreifen, um zu erläutern, dass diese Arbeit durchaus Intelligenz erfordert […].“ – Sam 2008, S. 103, deutsche Übersetzung nach Sam 2009, S. 108. 251 „Die Kassiererin muss sich in ihrem Unternehmen nicht entwickeln. Das fehlte noch, dass man Ihnen etwa gar Verantwortung überträgt.“ – Sam 2008, S. 135, die freiere deutsche Übersetzung wird zitiert nach Sam 2009, S. 139, siehe auch Kracauer 1932, S. 240. 252 Sam analysiert beispielsweise nicht tiefer die Entwicklung der Selbstbedienungswarenhäuser oder das Konsumverhalten im Neoliberalismus. 253 Gout 2011, Müller-Lobeck 2009, EHI 2019. 254 Les tribulations d’une caissiére, R: Pierre Rambaldi, Frankreich 2011. – Mit den formalen Anlehnungen des Plakats z. B. die Vogelperspektive auf die mit ausgestreckten Beinen sitzende Protagonistin an dasjenige von Bridget Jones Diary (R: Sharon Maguire, Großbritannien / Irland / Frankreich 2001) wird der Komödiencharakter unterstrichen.

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„Shopgirls’ delight“ heute

Hierfür wurde den in Sams Buch geschilderten Geschehnissen noch eine Liebeshandlung beigegeben und diese in der Adventszeit situiert. Zur Unterstützung der romantischen Atmosphäre werden z. B. die ansonsten vielleicht zu tristen Supermarktszenen mit intensiveren Farben aufgenommen.255 Anna Sam selbst hat sich gegen die Entwicklung von Liebeleien zwischen Supermarktmitarbeiterin und Kunden in ihrem Buch allerdings skeptisch ausgesprochen: „Et le coup de foudre ? Peut-être, qui sait… Mais je vous le rappelle : vous êtes caissière et vous ne vivez pas dans un film américain.“256 In der Verfilmung wird allerdings das Motiv von Liebe auf den ersten Blick integriert. Sie ereignet sich jedoch nicht im Supermarkt, sondern auf der Straße zwischen der auffällig schönen Aschenbrödel-Verkäuferin Solweig und einem reichen „prince charmant“. Die Verkäuferin im Film ist eine einflussreiche Bloggerin, die über ihre Arbeit Posts verfasst, und damit Anna Sam selbst nachgebildet. Spannungsmomente werden integriert, indem die Anonymität der Bloggerin von einer Journalistin aufzudecken versucht wird und die schreibende Verkäuferin zudem von einem Manager bedrängt wird. Die Filmhandlung ist nicht nur durch Stereotypen geprägt, sondern auch sehr unwahrscheinlich aufgebaut.257 Gegenüber dem Buch und Sams Werdegang enthält sie zusätzliche sentimentale Elemente. So kann die Verkäuferin nicht Lehrerin werden, da ihr Vater wegen eines Unfalls im Koma liegt und sie ihren zehnjährigen Bruder versorgen muss. Ein individueller Unglücksfall wird so betont, anstatt die Möglichkeit wahrzunehmen, auf die ungünstige Arbeitsmarktsituation für Akademikerinnen im Film hinzuweisen.258 Kracauer kritisierte schon 1927, dass die Protagonisten, „wenn sie schon unzufrieden sein sollen, ein privates Unglück erlitten [haben], damit das öffentliche sich desto leichter vergißt.“259 Im Buch verwies Anna Sam sehr deutlich auf die allgemeine Arbeitsmarktsituation: J’ai un scoop pour toutes ces personnes bien pensantes: il est loin le temps où avoir fait des études conduit à un emploi de rêve. Aujourd’hui, les diplômés universitaires occupant aussi bien souvent des petits boulots.260

Für einen nicht so lange nach der Weltwirtschaftskrise produzierten Film wäre die Anspielung auf die reale Arbeitsmarktsituation wohl zu unromantisch gewesen. Darüber hinaus werden die kritischen Beobachtungen im Buch im Film reduziert und zudem noch von der kitschigen

255 AFC 2011. 256 „Und die ganz große Liebe? Vielleicht, wer weiß…? Aber vergessen Sie nicht: Sie sind Kassiererin und nicht die weibliche Hauptdarstellerin in einem Hollywoodfilm.“ – Sam 2008, S. 51, deutsche Übersetzung nach Sam 2009, S. 54. 257 Lundegaard 2012, Sotinel 2011. 258 In Frankreich ist – ähnlich wie in Deutschland – die Beschäftigungslosigkeit junger Akademiker zur Zeit des Erscheinens von Anna Sams Buch ein Problem gewesen, das noch heute virulent ist – Frick et al. 2014, S. 44. 259 SKW 6:1, S. 312. 260 „Zum Abschluss eine Durchsage für alle Blauäugigen: Die Zeit, da Universitätsabschlüsse noch auf direktem Weg zum Traumjob führten, sind lange vorbei. Heute können sie sich auch mit Diplom um einen McJob bewerben.“ – Sam 2008, S. 103, deutsche Übersetzung nach Sam 2009, S. 108.

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III. Film als Spiegel der Gesellschaft

Romanze dominiert. In dieser wird Solweig als einzelne Verkäuferin „gerettet“, aber für ihre Freundinnen am Arbeitsplatz bleibt die Situation weiterhin defizitär. Ein ähnliches Verfahren des sozialen Aufstiegs hat Kracauer schon 1927 in seiner Artikelserie „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ kritisiert: Sie ist sehr mitleidig, die Gesellschaft, und möchte sich zur Beruhigung ihres Gewissens des Gefühlsüberschusses entledigen; vorausgesetzt, daß sie bleiben kann, wie sie ist. Aus Mitgefühl reicht sie dem einen oder dem anderen der Versinkenden die Hand und rettet ihn zu ihrer Höhe, die sie für eine Höhe hält. So verschafft sie sich die moralische Rückendeckung, ohne daß die Unterklasse aufhörte, unten zu bleiben, und die Gesellschaft Gesellschaft. Im Gegenteil: die Rettung einzelner Personen verhindert auf glückliche Weise die der ganzen Klasse […]. Daß die Proletarier darum aussterben, ist nicht zu befürchten.261

Es ist bedauerlich und kein Aushängeschild für den französischen Film der 2010er Jahre, dass gerade eine vielversprechende Vorlage wie Les Tribulations d’une caissière mit ihren kritischen Ansätzen bei der Verfilmung mit sehr dominierenden Kolportageinhalten ergänzt wurde. Dies hat der amerikanische Filmkritiker und Redakteur Erik Lundegaard in seiner Rezension des Films pointiert: „Some [French films] are as awful as the worst crap coming out of Hollywood.“262

261 SKW 6:1, S. 312. 262 Lundegaard 2012.

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IV. Lichtspielhäuser als soziale Spiegel bei Siegfried Kracauer mit einem Exkurs zu Kinos in Gemälden Edward Hoppers Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar.1 – Siegfried Kracauer

Kracauer und die Lichtspielpaläste in Berlin 1926 Kracauer setzt sich nicht nur mit Kolportage-Filmhandlungen auseinander (s. Kap. III, S. 70), sondern auch mit den Räumlichkeiten, in denen Filme präsentiert werden. Durch seine Architektenausbildung ist er für solche Analysen prädestiniert. Zudem spielen Räume in Kracauers Œuvre generell eine wichtige Rolle und er behandelt neben urbanen Außenräumen auch Interieurs. So thematisiert er beispielsweise kleinbürgerliche Wohnzimmer, Hotelhallen und Arbeitsnachweise sowie städtische Plätze, Passagen, großstädtische Boulevards, Pariser Proletarierviertel und den Hafenbezirk in Marseille.2 1926 fokussiert Kracauer in zwei Artikeln die neuen Lichtspielpaläste in Berlin, darunter in dem sehr bekannten Text „Kult der Zerstreuung. Über die Berliner Lichtspielhäuser“. Nach dem Ersten Weltkrieg schränkten in Berlin zunächst die Inflation und eine allgemeine Orientierungslosigkeit einige Jahre lang die Investitionen in neue Kinogebäude ein. Ab 1924 begann jedoch u. a. durch neue Kredite ein wirtschaftlicher Aufschwung und die moderne Vergnügungsindustrie expandierte. Unter anderem wurden in Berlin viele neue große Filmpaläste gebaut oder schon bestehende Lichtspieltheater vergrößert. Der sogenannte „neuen Berliner Westen“ rund um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche beim Kurfürstendamm entwickelte sich zu einem richtiggehenden „Kinoviertel“.3 Die eleganten und großen Kinos dort dienten in erster Linie als Uraufführungsstätten.

1 2

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SKW 5:3, S. 250. Siehe Mülder 1985, S. 87f. und Neumeyer 1999, S. 345f. Zentrale Texte sind von Kracauer selbst für den Band Straßen in Berlin und anderswo zusammengestellt worden (Kracauer 1964, siehe darüber hinaus ders. 1997 und 1996). Kracauers Auseinandersetzung mit Interieurs wird behandelt in: Rühse 2014. – Arbeitsvermittlungsstellen wurden im 19. Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts „Arbeitsnachweise“ genannt. A. [Kürzel] 1925.

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IV. Lichtspielhäuser als soziale Spiegel bei Siegfried Kracauer

Kinos im Wandel Im Gegensatz zu diesen prunkvollen Filmpalästen waren die ersten permanenten Kinos Anfang des 20. Jahrhunderts meistens eher klein und schlicht. Größere und elegantere Filmaufführungsstätten entstanden jedoch schon in der zweiten Hälfte der 1900er Jahre in US-amerikanischen und bald auch in europäischen Großstädten.4 Förderlich war dafür die steigende Popularität des Films. Im Zusammenhang mit der längeren Dauer und den anspruchsvolleren Handlungen der Filme wurde auch architektonisch mit komfortableren Aufführungsstätten der Anschluss an die Hochkultur gesucht. So wurde der Film für die mittleren Schichten akzeptabler und konnte sich als Massenmedium durchsetzen.5 In den 1920er Jahren wurden die Lichtspieltheater noch größer und konnten mehrere Tausend Personen fassen. Neben einer Steigerung des Prunks weitete man das Beiprogramm aus.6 In Europa übernahm man amerikanische Entwicklungstendenzen bei der Kinoarchitektur und Filmpräsentation wie z. B. das Aufgreifen von historischen Baustilen. Einflussreich waren in Europa ebenfalls die „Atmospheric Theaters“ von Thomas W. Lamb. Sie waren mit Sternenhimmeln ausgestattet, über die Wolkenformationen projiziert werden konnten. Wirkungsreich war zudem das vielfältige revueartige Präsentationsprogramm von Samuel „Roxy“ Rothafel. Um ein Gegengewicht zur „monotony of the ‚silent stage‘“ zu schaffen, verband er die Auftritte eines Symphonieorchesters und von Einzelkünstlern mit Balletteinlagen, Vaudeville-Darbietungen, dekorativer Beleuchtung sowie farbigen Lichteffekten zu einem harmonischen, auf den jeweiligen Film abgestimmten Rahmenprogramm.7 Die Filmvorführung wurde dadurch zu einer „super show“ ausgeweitet, ihr Unterhaltungswert gesteigert und eine Theateratmosphäre bewirkt. Tatsächlich waren einige Filmtheater nun sogar luxuriöser als Sprechtheater.8 Kino war damit unübersehbar ein gesellschaftsfähiges Freizeitvergnügen geworden, in das man nicht mehr „verstohlen ging“, sondern in das man sich im „Abenddress und Gesellschaftskleid“ durch ein prunkvolles Entree begab (Abb. 19).9 Das Entstehen der neuen Filmpaläste in Berlin wurde überregional und sogar international aufmerksam verfolgt. Daher verwundert es nicht, dass sich Kracauer als Zuständiger für das Filmressort der FZ näher mit den großen Kinoneubauten Anfang 1926 im Kontext der modernen Massenkultur und des gesellschaftlichen Strukturwandels beschäftigte. Für Reisen nach Berlin hatte Kracauer in den ersten Jahren seiner Tätigkeit als Redakteur der FZ seltener Gelegenheit, da das Tagesgeschäft ihn zu sehr beanspruchte: „Die Zeitungsarbeit hält mich eben mindestens 6 Stunden [pro Tag] im Bann; um eine Sinekure handelt es längst nicht mehr.“10 Joseph Roth spottete freundschaftlich: „Dr Kracauer ist ein armes Waserl. Er  4  5  6  7  8  9 10

Altenloh 1913, S. 19f. Korte 1980, S. 13–89, S. 55–56. Slowinska 2005, S. 582. Potamkin (1927) 1998, S. 33; Melnick 2012. Anon. 1926, S. 4. Magnus 1929/1930, S. 967. Kracauer an Löwenthal, 2.11.1924, in: Löwenthal/Kracauer 2003, S. 65 [Ergänzung von den Herausgebern].

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Kracauer und die Lichtspielpaläste in Berlin 1926

19  Situation vor der Premiere in einem Großkino, Ende der 1920er Jahre, Fotografie, Berlin, FotografIn unbekannt.

kann nur einmal in 10 Jahren machen, was ihm gefällt, er kann nur einmal für 3 – 7 Tage nach Berlin fahren […].“11 Ende 1925 reiste Kracauer immerhin für einen mehrtägigen Aufenthalt nach Berlin, den er im Voraus genauer plante.12 Gegenüber Bernard von Brentano, dem Leiter des Berliner Büros der FZ, betonte er: „Die zehn Tage [in Berlin] muss ich jedenfalls sehr intensiv ausnutzen.“13 In der Folge entstanden mehrere Texte über die Hauptstadt, darunter einer über die Silvesterfeierlichkeiten und ein anderer über Neu-Babelsberg. Sehr wahrscheinlich hat Kracauer bei seinem Aufenthalt während des Jahreswechsels zu den Lichtspieltheatern in Berlin recherchiert, über die er Ende Februar und Anfang März zwei Artikel publizierte.14

11 Roth an von Brentano, 19.7.1925, in: Roth 1970, S. 70. 12 Durch die genaue Planung wollte Kracauer möglichen Zeitverlust in Berlin vermeiden [Siegfried Kracauer, Brief an Bernard von Brentano, 14.12.1925 (Nachlass Bernard von Brentano/DLA)]. – Kracauer kannte sich in Berlin schon gut aus, wo er von 1907–1909 studiert und mit einem dort lebenden Onkel die Großstadt erkundet hatte (siehe Belke/Renz 1988, S. 14–17). Zudem verfasste er über Schmiedekunst u. a. aus Berlin seine Dissertation [Kracauer (1915) 1997]. 13 Siegfried Kracauer, Brief an Bernard von Brentano, 21.12.1925 (Nachlass Bernard von Brentano/DLA). – Bernard von Brentano unterstützte Kracauer bei der Vorbereitung der Reisen nach Berlin in Bezug auf die Themenwahl und die zu führenden Interviews (siehe Siegfried Kracauer, Brief an Bernard von Brentano, 14.12.1925, Nachlass Bernard von Brentano/DLA. – Ich danke Frau Sabine Brtnik vom DLA für ihre Unterstützung bei der Einsichtnahme in den Briefwechsel. Siehe auch Rautenstrauch 2016, S. 242.). 14 Es ist wenig wahrscheinlich, dass Kracauer nach dem längeren Aufenthalt in Berlin sich nur einige Wochen später noch einmal für eine Reise in die Hauptstadt freimachen konnte. Im Nachlass von ­Bernard

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IV. Lichtspielhäuser als soziale Spiegel bei Siegfried Kracauer

20  Siegfried Kracauers Artikel „Paläste des Films. Berliner Lichtspielhäuser“ in Das Illustrierte Blatt am 21.2.1926.

Anspruchsvolle Architekturkritik in einer Illustrierten Der erste Artikel Kracauers zu den Kinobauten ist kürzer und wurde mit der Überschrift „Paläste des Films. Berliner Lichtspielhäuser“ in Das Illustrierte Blatt am 21.2.1926 (Abb. 20) publiziert.15 Diese Wochenzeitschrift erschien in der Frankfurter Societäts-Druckerei, d. h. demselben Verlagshaus wie die FZ. Kracauers Artikel war mit drei Aufnahmen der thematisierten Lichtspielhäuser illustriert, bei denen es sich um offizielle Pressebilder handelte.16 Kracauer geht auf zwei zentrale Charakteristika bei den zeitgenössischen Lichtspielpalästen ein, nämlich das Funktionale und das Theaterhafte. Dafür führt er Filmpaläste als Beispiele an, die 1925 und Anfang 1926 besonders viel Medienaufmerksamkeit erhalten haben. von Brentano ist jedenfalls kein Hinweis auf einen weiteren Berlin-Besuch von Kracauer im ersten Quartal 1926 zu ermitteln und in der Kracauer-Forschung ist ein solcher bislang auch nicht bekannt. 15 Siegfried Kracauer, Paläste des Films, in: Das Illustrierte Blatt, 21.2.1926, in: SKW 6:1, S.  204–206 (Nr. 139). 16 Die Aufnahmen des Gloria-Palastes stammen von der bekannten Fotoagentur Zander & Labisch. Die Abbildung zum Ufa-Theater Turmstraße (Abb. 20, Mitte, siehe auch SKW 6:1, Abb. S. 205 unten) erschien beispielsweise auch als Abb. 1 in Wedemeyer 1925a.

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Kracauer und die Lichtspielpaläste in Berlin 1926

Funktionale und theaterhafte Exempel der Lichtspielarchitektur Als Exempel für praktische Zweckbauten zieht Kracauer das Ufa-Theater in der Turmstraße in Berlin heran, das am 19.2.1925 eröffnet wurde.17 Situiert war es im Berliner Westen, im dicht bevölkerten Moabit. Es konnte 1.700 Zuschauer unterbringen und war mit den neuesten technischen Errungenschaften ausgestattet. Kracauer hebt positiv hervor, dass das Publikum beim Herausgehen andere Treppen als die neu eintreffenden Kinogäste verwenden kann. Die getrennten Eingangs- und Ausgangstreppen werden auch in anderen Besprechungen gewürdigt.18 Kracauer macht zudem auf eine allgemeine Tendenz zum Theaterhaften bei zeitgenössischen Kinobauten aufmerksam, die durch die Rezeption von Herrschafts- und Kirchenarchitektur wie z. B. beim Gloria-Palast am Kurfürstendamm bewirkt werde. Dieses einen Monat zuvor eröffnete Filmtheater konnte mehr als 1.200 Zuschauer aufnehmen und war mit einer Orgel, einem Orchesterraum für 40 Musiker, einem Rundhorizont sowie einem Wolkenapparat ausgestattet.19 Durch den theaterhaften Duktus entspricht die Architektur laut Kracauer jedoch nicht ihrem Zweck. Denn Filmgrotesken würden nicht zu dem würdevollen architektonischen Ambiente passen, das nur für traditionelle Hochkultur wie beispielsweise Konzerte von Wolfgang Amadeus Mozart geeignet sei. Diese Ansicht basiert auf Kracauers Überlegungen zu den Eigenheiten des Filmmediums. Schon bei seinen ersten Filmanalysen hat Kracauer die medialen Charakteristika reflektiert und den Film deutlich vom Theater unterschieden. Dem Theater seien sorgfältig gestellte Szenen, ausgefeilte Handlungen und gedankliche Übergänge gemäß. Dem „Geist des Films“ entsprächen dagegen sichtbar sprunghafte Bewegtheit, eine Tendenz zur Oberfläche und Improvisation sowie unwahrscheinliche Begebenheiten.20 Da Kracauer Filmgrotesken besonders schätzt,21 bringt er sie als Argument in seinen Text ein. Amerikanische Slapstickkomödien erachtet er als besonders filmgerecht,22 denn in ihnen werde „[e]ine Welt der Oberfläche … gegeben, die das schwierige Verhältnis des Menschen zu den Dingen komisch aufzeigt.“23 Das moderne mechanisierte Leben werde komisch gezeichnet, genau wie dieses sei die Groteske „ein wenig roh und primitiv“.24 Darüber hinaus 17

18 19 20 21

22 23 24

Als Architekten des „Ufa-Theaters Turmstraße“ fungierten Fritz Wilms und Max Bischoff. Die Ufa übernahm das Lichtspielhaus während der Bauarbeiten von den bankrotten Eigentümern (siehe auch Hänsel/ Schmitt 1995, S. 197f.). – Während des Zweiten Weltkrieges wurde das Ufa-Theater Turmstraße zerstört. Von 1952–1974 bestand erneut auf einem Teilgrundstück ein Kino. Dann wurde das Gebäude bis zu seinem Abriss 2015 für geschäftliche Zwecke genutzt. Siehe beispielsweise D. [Kürzel] 1925. Der Gloria-Palast wurde nach einem Umbau von Max Bremer und Ernst Lessing im Januar 1926 wiedereröffnet. – Für eine detailliertere Beschreibung siehe Frick 1986, S. 50. SKW 6:1, S. 38, S. 46. – Bezüglich weiterer medienästhetischer Überlegungen von Kracauer zum Film siehe auch Kapitel II, S. 39f. Kracauer fordert angesichts der Entwicklung einer regelrechten „Grotesken-Industrie“ in den USA allerdings 1927, dass die Motive in Slapstick-Komödien sich nicht zu häufig wiederholen sollten, da sie sonst abgenutzt wirken würden – SKW 6:1, S. 361. Ebd., S. 39. Ebd., S. 187. Ebd., S. 65.

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IV. Lichtspielhäuser als soziale Spiegel bei Siegfried Kracauer

21  Ufa-Theater Turmstraße, 1925, Berlin, Blick in den Zuschauerraum vom 1. Rang, Fotografie, FotografIn unbekannt, in: Deutsche Bauzeitung, 59. Jg., Nr. 73, 12.9.1925, S. 576 (Abb. 9).

merkt Kracauer an, dass die seitlichen Logen zwar Exklusivität bewirken würden, jedoch wegen ihrer Sicht von der Seite auf die Leinwand nicht förderlich für das Ansehen des Films seien.25 Daher lehnt Kracauer die neuen Filmpaläste aus ästhetischen Gründen ab, auch wenn sie prunkvoll sind. Aufgrund des recht geringen Umfangs ist der Beitrag nicht sehr detailliert. Die laut Kracauer für alle Lichtspielbauten zu beobachtende Tendenz zum Theaterhaften wird so nicht für das zuerst angeführte Ufa-Theater Turmstraße ausgeführt. Dieses wirkt aufgrund der kurzen Charakterisierung als „praktischer Zweckbau“ und der in der Abbildung nur ausschnitthaft gezeigten neoklassizistischen Fassade in Kracauers Artikel funktionaler als es ist.26 Zwar war das Ufa-Theater Turmstraße nicht so prunkvoll wie der am Kurfürstendamm gelegene Gloria-Palast, innen war es jedoch im eleganten Art-déco-Stil gehalten (Abb. 21).27 Oben auf

25 Dorothy Richardson lehnt ebenfalls einen Blick von der Seite von im Halbrund angeordneten Kinoplätzen ab. Sie präferiert daher einen Kinoraum in „garage-shape […] because in it the faithful are side by side confronting the screen […].“ (Richardson 1927, S. 46f.) 26 SKW 6:1, S. 204. – Kracauers Artikel ist nur eine Außenaufnahme des Ufa-Theaters Turmstraße beigegeben worden. Der Gloria-Palast ist dagegen mit zwei Abbildungen vertreten, eine davon zeigt das Innere (siehe Abb. 20 dieser Arbeit). 27 Siehe die detaillierteren Erläuterungen in Wedemeyer 1925a/b.

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Kracauer und die Lichtspielpaläste in Berlin 1926

dem Balkon war der Blick auf mehreren Sitzen verzerrt und das nach amerikanischem Vorbild gestaltete revueartige Programm wirkte ebenfalls sehr theaterhaft.28 Verzicht auf panegyrische Superlative Meistens wurden in den deutschen Printmedien die neuen Filmpaläste mit vielen Superlativen gepriesen.29 So soll das Ufa-Theater Turmstraße „von der Presse einhellig als schönstes und modernstes Lichtspieltheater Deutschlands anerkannt worden“ sein.30 Im Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung wurde beispielsweise bestätigt, dass der Gloria-Palast seinem Anspruch, als „Festspielhaus des deutschen Films“ zu fungieren, gerecht geworden sei.31 In der Berliner Börsen-Zeitung würdigte man den Gloria-Palast zudem als „erstklassiges Lichtspielhaus“, das „auf einer Stufe mit den vornehmsten Groß-Kinos der Weltstädte Europas und Amerikas“ stehe.32 Beim Publikum erfreuten sich die neuen Filmpaläste generell ebenfalls großer Popularität, der Besucherandrang war groß.33 Kracauer verzichtet in seinem Illustriertenbeitrag auf eine solche Panegyrik, stattdessen weisen seine Argumente Parallelen zu Beiträgen anderer avancierter Kritiker auf, die – bis auf wenige Ausnahmen – zumeist eher in der Fachpresse erschienen. Kracauers medienästhetisches Argument, dass bei den Bauten die Unterschiede zwischen Kino und Theater berücksichtigt werden sollten,34 wurde schon bei den ersten luxuriöseren Kinos vor dem Ersten Weltkrieg z. B. von Kurt Pinthus – einem der Pioniere der Filmkritik – in Bezug auf eine Kinoeröffnung in Leipzig geäußert.35 Angesichts der Welle von neuen prunkvollen Filmpalästen in den 1920er Jahren thematisiert auch Kenneth Macpherson in der von ihm gegründeten und herausgegebenen Filmzeitschrift Close Up (1927–1933) ein Gesamtprogramm in der von Samuel Rothafel eingeführten Art (siehe oben Kapitel IV, S. ##). Macpherson machte darauf aufmerksam, dass Kino und Theater nicht zueinander passen würden.36 Der amerikanische Filmkritiker Harry Alan Potamkin beschrieb 1927 in seinem Artikel „The Movie Palace“ das Theater als „the traditional intruder into cinema practice“ und betonte: „To many of us, not architects, it seems that the interior arrangement of the ideal cinema must be radically different from that of the theater.“37 28 Siehe auch den Bericht von dem Eröffnungsprogramm – D. [Kürzel] 1925 – sowie zum Beispiel auch eine exemplarische Programmannonce im Vorwärts, 27.2.1925 (Morgenausgabe), Nr. 98, Jg. 42, S. 8. 29 Kreimeier 1999, S. 123f. 30 Anon. 1925, S. 27. 31 Anon. 1926b. 32 F. L. [Kürzel]. 33 Naylor 1987, S. 22. 34 SKW 6:1, S. 204. 35 Pinthus (1913) 1992, S. 366f. 36 Macpherson 1927, S. 13. 37 Potamkin (1927) 1998, S. 33. Potamkin verwies auf positive Beispiele aus Deutschland von Oskar Kaufmann und Hans Poelzig bis 1914 („German ‚kinos‘ remain splendidly severe, but not yet movie houses in their interiors. However, the German architect knows his categories, and is aware that in the ‚kino,‘ at least, ‚the economy of necessity is the economy of beauty.‘“ – Ebd., S. 35). Ihm waren allerdings noch keine neuen deutschen Filmpaläste der 1920er Jahre mit den amerikanisierten Präsentationen bekannt.

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IV. Lichtspielhäuser als soziale Spiegel bei Siegfried Kracauer

Allerdings sind Kracauers Ausführungen nicht so polemisch wie z. B. diejenigen von dem Architekturkritiker Philip Morton Shand, der 1930 eine wichtige Monographie zu den frühen Kinobauten publizierte.38 Shand favorisierte moderne Architektur und kritisierte daher die Reminiszenzen der neuen Filmpaläste an historische Bauten als „gaudy opulence of an already bygone age“.39 Die atmosphärischen Filmtheater in den USA, die auch den Gloria-Palast beeinflussten, verurteilte er und setzte sie zugleich in Bezug zu Groschenromanen. Denn sie seien „nauseating stick-jaw candy, so fulsomely flavoured with the syrupy romanticism of popular novels.“40 Noch feindseliger waren die Äußerungen des Vau­devilleBefürworters William Archer S. Douglas, der die neuen Kinos und ihre Präsentationsweisen als „mammoth sinks of movie imbecility“ kritisierte, die sich zudem zu elitär geben würden („stink with class“). Laut Douglas würden die Filme darüber hinaus nicht den Geist anregen: „George F. Babbitt and his family are lulled into something akin to a hop dream without the pernicious after-effects.“41 Die von Douglas kritisierten amerikanischen Bauten waren allerdings noch opulenter und die Programme umfassten mehr Darbietungen als diejenigen in Deutschland.42 Der Beitrag von Kracauer ist trotz seiner Kürze architekturtheoretisch sowie filmästhetisch tiefgehender. Kracauers Expertise als Architekt und Filmrezensent ist für den Inhalt förderlich. Aufgrund seiner Qualität und der kritischen Perspektive, bei der Parallelen zu anderen Avantgarde-Filmkritikern deutlich werden, ist der Text für die damalige deutsche Presseberichterstattung durchaus ungewöhnlich. Insbesondere für das Illustrierte Blatt mit dessen Hauptschwerpunkten auf Personen- und Ereignisberichten, Rätseln, Humorvollem und Fortsetzungsromanen muss Kracauers fundierte, wenngleich auch kurze Architekturkritik als exzeptionell gesehen werden.43 Addendum: Frappierender Lupenblick auf Leuchtreklamen Bei der Lektüre des kurzen Illustriertenbeitrags fällt Kracauers Eingehen auf die Leuchtreklamen beim Kurfürstendamm ins Auge. Sie würden optisch sogar die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche unspektakulärer erscheinen lassen:

Er starb leider schon 1933. Kracauer sollte in Von Caligari zu Hitler mehrmals auf ihn Bezug nehmen – Kracauer 1947, passim. 38 Shand 1930. – Wie Potamkin gibt auch Shand frühere schlichte deutsche Kinos (bis 1914) als positive Beispiele an, denn die neuen prunkvolleren Filmpaläste z. B. in Berlin kannte er ebenfalls noch nicht. 39 Ebd., S. 17 40 Ebd., S. 19. 41 Douglas 1927, S. 193. 42 Kreimeier 1999, S. 116. 43 Zum Illustrierten Blatt siehe auch Barr 2016. – Kracauer unterwanderte auch in anderen Beiträgen für das Illustrierte Blatt die Erwartungen der LeserInnen, beispielsweise in dem satirischen Beitrag „Berühmte Männer zu Hause“, der am 3.4.1926 veröffentlicht wurde [wieder in SKW 5:2, S. 362–363 (Nr. 276)].

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22  Anon., Kurfürstendamm mit Ufa-Palast am Zoo und Blick auf die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Ende 1920er/Anfang 1930er Jahre, Fotopostkarte, 9,1 × 14,1 cm, Berlin, Verlag Nettke, Berlin.

Der […] Gloria-Palast liegt am Eingang des Kurfürstendamms, dort, wo die Lichtreklamen allabendlich auf die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ein General-Bombardement eröffnen, unter dessen Anprall sie sich zusehends verkleinert.44

Die hellen Lichter des Kurfürstendamms waren für das Stadtbild von Berlin damals sehr prägend. Die Elektrifizierung der Städte galt als Zeichen von Modernität.45 „[D]as abendliche Aufblühen der Lichtwelt“ kennzeichnete Berlin als moderne Großstadt.46 Kracauers Blick kann anhand zeitgenössischer Fotopostkarten mit Nachtansichten vom Kurfürstendamm bzw. der angrenzenden Budapester Straße nachvollzogen werden (Abb. 22–23). Auf diesen ist eine Straßenflucht zu sehen, die im Vordergrund durch moderne Lichtreklamen dominiert wird. Im Hintergrund erhebt sich mittig bzw. links das Berliner Wahrzeichen der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Da das Gotteshaus viel weniger beleuchtet wird als die modernen Kino- und Geschäftsfronten, wirkt der imposante Bau tatsächlich weitaus kleiner und unscheinbarer als bei Tageslicht.

44 SKW 6:1, S. 204. – Kracauer setzte sich häufiger mit Leuchtreklamen auseinander, wobei sich die Konnotationen im Laufe der Zeit veränderten (siehe z. B. Kracauer 1997, S. 19ff.; SKW 5:3, S. 241f.). In seinem Roman Georg sind die Leuchtreklamen apokalyptisch konnotiert, um den Verfall der Weimarer Republik zu symbolisieren – SKS 7, S. 490. 45 Steidle 2011. 46 Vgl. beispielsweise A. M. Hennegays Panegyrik auf die Nächte der Großstadt – Hennegay 1926/1927.

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23  Hans Hartz, Budapester Straße mit Blick auf die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Ende 1920er/­ Anfang 1930er Jahre, Fotopostkarte, 9,3 × 14,2 cm, Berlin, Verlag Hans Andres, Berlin.

Bezeichnend ist Kracauers militärisch-aggressive Formulierung „General-Bombardement“ für die Beleuchtung. Dem elektrischen Licht-Angriff unterliegt gleichsam die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die architektonisch mit ihrem neoromanischen Stil markant an der Vergangenheit orientiert ist. Kracauer alludiert so darauf, dass in Berlin die moderne Lebensart dominiert. Das Bild des neuen Berliner Westens bei Nacht ist allerdings durch seine millionenfache Verbreitung mittels moderner Massenbildmedien in den 1920er Jahren so bekannt gewesen, dass man es sich nicht mehr richtig ansieht.47 Kracauer nutzt es jedoch als – im wahrsten Sinne des Wortes – einleuchtendes Anschauungsmaterial für seine damalige Hauptüberzeugung, dass die Entwicklung der Moderne sehr dominant ist.48

Marxistische Kritik an reaktionärer Massenkultur anhand von Filmpalästen in der FZ Durch die Kürze bedingt legt Kracauer in Das Illustrierte Blatt den Schwerpunkt auf die Architektur und nicht auf das Präsentationsprogramm. Auch geht er nur kurz auf die Zerstreuungsthematik ein, in deren Dienst die Filmpaläste stehen. Diese Aspekte führt Kracauer in

47 Zu Kracauers Thematisieren der modernen Bilderflut siehe u. a. SKW 5:2, S. 313: „Wie die Magazine: lauter Bilder, damit man nichts sieht.“ 48 SKW 5:2, S. 258; siehe auch Kapitel II, S. 58 mit Erläuterung von Kracauers Bonmot „daß Amerika erst verschwinde, wenn es ganz sich entdeckt [...].“

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seinem nicht illustrierten Artikel „Kult der Zerstreuung […]“ in der FZ am 4. März 1926 näher aus.49 In diesem ist Kracauers Ansatz soziologisch noch tiefgehender als in seinem ersten Beitrag und die Lichtspieltheater werden im Kontext der modernen Massenkultur behandelt.50 Als prägend für die neuen Filmpaläste in Berlin erachtet Kracauer den Prunk sowohl bei der Architektur als auch bei den Darbietungen. Als Beispiele für die neuen Filmtheater führt Kracauer neben einigen anderen großen und bekannten Kinos im Berliner Westen im Umkreis der Gedächtniskirche den Gloria-Palast an, den er schon im Illustrierten Blatt behandelt hat.51 Auch verweist er auf das „amerikanische Prinzip der geschlossenen Präsentation“ nach Samuel Rothafel. Dieses war zum ersten Mal in Deutschland im Ufa-Palast am Zoo etabliert worden. Für die Einführung wurden mit Ernö Rapée und Alexander Oumansky Mitarbeiter von Rothafel verpflichtet, der selbst zumindest für einige Tage zur Supervision nach Deutschland reiste. Rapée und Oumansky wirkten anschließend auch noch beim Gloria-Theater mit.52 Schon einleitend charakterisiert Kracauer die Lichtspielpaläste als „Gesamtkunstwerk der Effekte“.53 Die Beigabe des Genitivattributs „Effekte“ ist für Samuel Rothafels Präsentationsweise signifikant. Darbietungen vom Orchester, von Einzelkünstlern, Lichteffekte u. a. wurden zu einem harmonischen Programm zusammengestellt, das „sich dem Sinn und Inhalt des Films“ prologartig anpasse, „um so die Stimmung für das Filmwerk entsprechend vorzubereiten“.54 Laut dem für Rothafel arbeitenden Filmkomponisten und -dirigenten Ernö Rapée mussten dabei „atmosphere and the main character of your picture“ besonders berücksichtigt werden.55 Bei den Eröffnungen der Theater wurde der Film sogar passend zum Architekturstil ausgewählt. Das im Barockstil gestaltete Gloria-Theater wurde beispielsweise mit dem Drama „Tartüff“ (Deutschland 1925) von Friedrich Wilhelm Murnau nach dem Stück Molières eröffnet, dessen Handlungszeit sich mit den Barockstilanleihen des Filmpalastes deckt. Trotz der Abstimmung von Architektur und Aufführung bei den Eröffnungen fehlte jedoch ein höherer Zweck wie bei Richard Wagners Gesamtkunstwerkkonzept. Laut Wagner sollten alle Einzelgattungen der Kunst in dem Gesamtkunstwerk aufgehen und so eine „Dar-

49 Siegfried Kracauer, Kult der Zerstreuung. Über die Berliner Lichtspielhäuser (FZ 4. März 1926), wieder in SKW 6:1, S. 208–213. 50 Insbesondere durch seine Integration in die Essay-Sammlung Ornament der Masse wurde der Text „Kult der Zerstreuung“ sehr bekannt – Kracauer 1963, S. 311–317. Im englischsprachigen Raum wurde dies durch Übersetzungen gefördert [z. B. die englischsprachige Ausgabe The Mass Ornament. Weimar Essays (Kracauer 1995)] und die Integration in The Promise of Cinema. German Film Theory 1907–1933 (Kaes 2016). Zu weiteren Veröffentlichungen und Übersetzungen siehe Levin 1989, S. 150 (Nr. 821). 51 Kracauer führt weiterhin den Ufa-Palast am Zoo, der 1925 maßgeblich von Carl Stahl-Urach erweitert worden ist, das 1925 eröffnete Capitol am Zoo nach Plänen von Hans Poelzig sowie das 1913 in Betrieb genommene Marmorhaus von Hugo Pál an. 52 Melnick 2012, S. 252ff. 53 SKW 6:1, S. 208 (Kursivschreibung im Original). 54 Wedemeyer 1925a, S. 574. 55 Rapée 1925, S. 11, siehe auch ebd., S. 8.

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stellung der vollendeten menschlichen Natur“ ermöglichen.56 Wagner selbst kritisierte die Effekthascherei z. B. von Giacomo Meyerbeer, weil zu deren Erfolgsrezept die Erzielung von „Wirkung ohne Ursache“ gehöre.57 Kracauer bemängelt in seinem Text in ähnlicher Weise, dass die prunkvollen Vergnügungspaläste keine Erbauung und keine Sammlung, sondern nur Zerstreuung und Glanz bieten. Freizeitrefugium für nervöse Großstadtmenschen Kracauer behandelt in „Kult der Zerstreuung [...]“ die zeitgenössischen pompösen Kinos im Kontext der großstädtischen Freizeitkultur. Die moderne Massenkultur sei laut ihm tatsächlich nur in der Großstadt Berlin präsent. Denn in den Provinzstädten dominiere noch das Bürgertum, während in den Industriezentren sich die Arbeiter an der bürgerlichen Kultur orientieren würden. Tatsächlich gab es damals nach zeitgenössischen Statistiken in den Industriestädten noch recht wenige Kinos.58 Hingegen hatte 1926 Berlin 340 Kinos und im bundesweiten Vergleich auch sehr viele Kinoplätze pro Einwohner.59 Laut Kracauer sei die Zerstreuung das notwendige Pendant zu dem entfremdeten Berufsalltag der Menschen in der Großstadt und finde in der gleichen „Oberflächensphäre“ wie die Arbeitswelt statt.60 Unverkennbar ist in diesem Text der Einfluss der Überlegungen zur Nervosität und zum Zerstreuungsdrang des modernen Großstadtmenschen von Georg Simmel, der auch schon andere Ausführungen Kracauers 1924/5 geprägt hat.61 Laut Simmel treibt [d]er Mangel an Definitivem im Zentrum der Seele … dazu, in immer neuen Anregungen, Sensationen, äusseren Aktivitäten eine momentane Befriedigung zu suchen; so verstrickt uns dieser erst seinerseits in die wirre Halt- und Ratlosigkeit, die sich bald als Tumult der Grossstadt, bald als Reisemanie […] offenbart.62

Auf Simmels Beobachtung der „heimlichen Unruhe“ bedingt durch das moderne Leben verweist indirekt auch schon Emilie Altenloh in der ersten soziologischen Untersuchung zum Kino: „Wesentlicher jedoch erscheint mir, daß beide, der Kino und seine Besucher, typische Produkte unserer Zeit sind, die sich durch ein fortwährendes Beschäftigtsein und eine nervöse Unruhe auszeichnen.“63

56 Wagner 1983, S. 28f. Siehe auch die Definition von Bazon Brock: „Von Gesamtkunstwerken wollen wir in allen Bereichen dann sprechen, wenn Individuen ein gedankliches Konstrukt übergeordneter Zusammenhänge als bildliches System oder als politische Utopie entwickelt haben.“ – Brock 1983, S. 23. 57 Wagner (1850–1851) 1914, S. 89. 58 Siehe die Angaben nach „Wirtschaft und Statistik“ in Anon. 1926c. 59 Anon. 1926. 60 SKW 6:1, S. 210. 61 Zu Simmels Einfluss auf Kracauer siehe auch Kapitel II, S. 41 dieser Arbeit. 62 Simmel (1900) 1989, S. 675; siehe auch ders. (1903) 1995. 63 Altenloh 1913, S. 55f.; Simmel (1900) 1989, S. 675. – Siehe auch Wiemer/Zechner 2005.

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Ungenutztes revolutionäres Potenzial Kracauers Behandlung der Zerstreuungsthematik ist darüber hinaus wie seine in Kapitel III erörterten ideologiekritischen Filmanalysen durch seine Marx-Studien in den letzten Monaten geprägt.64 Denn in seinem zweiten Text über die Berliner Lichtspielhäuser beinhaltet die Zerstreuung für Kracauer ein revolutionäres Potenzial. Die früheren Vorstellungen in einfachen Kinos sind für ihn ein „Abbild des unbeherrschten Durcheinanders unserer Welt“.65 Damit fungieren sie gleichsam als Vexierspiegel für den Zerfall der zeitgenössischen Gesellschaft. Dieser bewirke nach Kracauer eine revolutionäre Atmosphäre, da man sich mit der tatsächlichen Verfassung der Gesellschaft auseinandersetzen und sie wandeln könne. Wenn die „Unordnung der Gesellschaft“ den Menschen vor Augen geführt werde, „befähigte sie [dies] dazu, jene Spannung hervorzurufen und wachzuhalten, die dem notwendigen Umschlag vorangehen muß.“66 Diese politische Konnotation der Zerstreuung unterscheidet sich maßgeblich von Kracauers früherer philosophischer Perspektive, die teilweise schon im Zusammenhang mit seinem Eingehen auf den Film „Die Straße“ 1924/5 erörtert wurde (siehe Kapitel II). Seine frühere Sichtweise auf die Zerstreuungsthematik wird beispielsweise anhand des Textes „Langeweile“ deutlich, der am 16.11.1924 in der FZ erschien. In diesem wird das Kino als ein Ort thematisiert, in dem „man … sich im Gaffen [vergisst], und das dunkle Loch belebt sich mit dem Schein eines Lebens, das niemandem gehört und alle verbraucht.“67 Die Langeweile als „innere Unruhe ohne Ziel“ würde demgegenüber zumindest die Möglichkeit einer göttlichen Offenbarung bieten, die Kracauer sehr poetisch ausdrückt: „[…] Menschenbilder neigen sich, die voller Seele sind, und siehe, auch deine Seele schwillt, und du benennst verzückt das stets Vermißte: die große Passion.“68 1926 verhindert der „Kult der Zerstreuung“, der gerade mit den neuesten prunkvollen Lichtspielpalästen und den zur Revue ausgeweiteten Filmvorführungen in Berlin betrieben wird, aus Sicht Kracauers maßgeblich die Entstehung einer revolutionären Atmosphäre.69 Denn da man sich an Theatervorstellungen orientiert und eine Erlebniseinheit von Architektur und Programm schafft, werde laut ihm eine frühere idealistische bürgerliche Kultur scheinbar restituiert. Die bourgeoise Fassade sei jedoch nur vorgegeben und der gesellschaftliche Zerfall werde so durch eine ästhetische Scheintotalität verhüllt. Kracauer erachtet dies als nicht zeitgemäß und wertet es als „Kunstgewerbe“ ab.70 In inhaltlich ähnlicher Weise wie die Filmvorstellungen in den Lichtspielpalästen, nur in einem sarkastischeren Duktus, hat Kracauer am 11.12.1925 in der FZ auch zeitgenössische Revueprogramme kritisiert. Deren 64 Bei seinem Besuch in Berlin Ende 1925/1926 plante Kracauer auch „die eine oder andere Besprechung mit Kommunisten“ – Siegfried Kracauer, Brief an Bernard von Brentano, 14.12.1925 (Nachlass Bernard von Brentano/DLA). 65 SKW 6:1, S. 212. 66 Ebd., S. 211. Laut Inka Mülder-Bach ist diese Ansicht eine „kühne These“, die z. B. auch von Helmut Lethen detaillierter kritisiert worden ist – Mülder 1985, S. 69; Lethen 2000, S. 103–105. 67 Kracauer 1963, S. 322. 68 Ebd., S. 324. 69 Ebd., S. 311, S. 315. 70 Kracauer 1963, S. 317.

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prachtvolle Ausstattung würde von den ungerechten Strukturen ablenken, denn „[w]enn es [das Publikum] sich sammelte, wüßte es nicht, was es anfangen soll; aus Langeweile könnte es Unruhen stiften.“71 Progressive Zerstreuungsanschauung und Bourgeoisiekritik in der FZ Progressiv ist bei Kracauers Eingehen auf die Zerstreuungsthematik Anfang 1926, dass er diese nicht grundsätzlich als minderwertigen Zeitvertreib verurteilt. Stattdessen sieht er sie als zeitgemäß und wichtig als Erholung vom Beruf an.72 In konservativen Kreisen wurde demgegenüber die „übertriebene Vergnügungssucht“ kritisiert.73 Noch 1923 äußerte Kracauer zwar Verständnis in dem Beitrag „Sommerlicher Vergnügungstaumel“ (FZ 2.8.1923) für die Zerstreuung, denn diese würde aus einer „schauerliche[n] innere[n] Leere“ hervorgehen.74 Aus politischen und sozialen Gründen wäre eine Eindämmung jedoch ratsam.75 1926 enthält sich Kracauer solcher Vorschläge gegen die Zerstreuung. Er verweist allerdings darauf, dass die Zerstreuung das Publikum am Nachdenken und am Versinken „ins Bodenlose“ hindere, ohne dies genauer auszuführen.76 Als gewagt anzusehen ist ebenfalls Kracauers Kritik am bourgeoisen Dünkel in „Kult der Zerstreuung“: „Ihr Hochmut, der sich Scheinoasen schafft, drückt die Massen herab und macht ihre Vergnügungen schlecht.“77 Denn schließlich gehörten die von Kracauer kritisierten BildungsbürgerInnen zu den HauptleserInnen der FZ.78 Laut Kracauer hat sich jedoch die ökonomische und soziale Wirklichkeit irreversibel geändert und die bürgerliche Kultur sei nicht mehr zeitgemäß. Eine Orientierung an ihr diene zur Ablenkung von den gesellschaftlichen Schäden.79 Auch die Revuen kritisiert er dafür, dass sie überholtes bürgerliches Bildungsgut auf seichte Weise nachahmen.80 Kracauers Desavouierung der bürgerlichen Kultur auf stilistisch ausgefeilte Weise ist für den Text insgesamt prägend. Neben der schon erläuterten Bezeichnung „Gesamtkunstwerk der Effekte“ nimmt er auf „Draperien“, den „Wagnerschen Nibelungenhort“ und andere Versatzstücke aus der Ära des Historismus Bezug.81 Im Vergleich zu der oben erwähnten harschen Kritik von Philip Morton Shand an der historistischen Filmpalastarchitektur frappiert Kracauers Bewertung, dass der Prunk der Kinoarchitektur im Vergleich zu wilhelminischen Kirchen nicht so groß sei und sogar gewählt erscheint. Dies ist

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77 78 79 80 81

SKW 5:2, S. 313. Ebd. Teuteberg 1990, S. 195. SKW 5:1, S. 670. Ebd., S. 671. Noch häufiger als auf den Aspekt der geistigen Bodenlosigkeit verweist Kracauer auf die ideelle Obdachlosigkeit. In dem kurzen Text „Kult der Zerstreuung“ geht er jedoch nicht ausführlicher auf dieses Thema ein – siehe auch Rühse 2013. SKW 6:1, S. 209. Bachleitner 1999, S. 114; siehe auch Bloch 1985, S. 309. SKW 6:1, S. 211. SKW 5:2, S. 313–317. Kracauer 1963, S 312 (Kursivschreibung im Original), S. 316, S. 311.

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jedoch weniger als eine architektonische Würdigung der neuen Lichtspieltheater, sondern mehr als ein Brüskieren der bürgerlich-historistischen Architektur mit inkludierter Anspielung auf die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu sehen: „Eröffnet aber auch die Architektur Stimmungs-Kanonaden auf die Besucher, so fällt sie doch keineswegs in das barbarische Prangen wilhelminischer Profankirchen zurück […].“82 Filmtempel und pseudosakrale Rituale Auffällig ist Kracauers Integration sakraler Aspekte in seinem zweiten Text über die Berliner Lichtspieltheater; so enthält schon der Titel das Wort „Kult“. Darüber hinaus tendiert der architektonische Kinorahmen zum „Gehobene[n] und Sakrale[n], als umfinge er Gebilde von ewiger Dauer; noch ein Schritt weiter, und die Weihkerzen leuchten“.83 Ähnlich wie dem Volk die Religion laut Karl Marx ein „Opium“ war und nur „illusorisches Glück“ ermöglicht habe,84 setzt sich für Kracauer nun die moderne Großstadtmasse in zur Revue ausgeweiteten Filmpräsentationen Scheinillusionen aus und frönt der Massenkultur religionsartig. Oberflächlich ahmt das großstädtische Publikum damit das Bürgertum nach, dem Kunst und Kultur im 19. Jahrhundert gleichsam als „Ersatzreligion“ dienten. Kult-Assoziationen werden bei den Lichtspieltheatern der 1920er und 1930er Jahre durch ihre Ausstattung mit Orgeln sowie durch sakrale Konnotationen der Innenarchitektur unterstützt.85 In den USA dienen heute so tatsächlich einige alte Filmpaläste als Kirchen.86 Besonders kritisch geht Harry Alan Potamkin 1933 in „The Ritual of the Movies“ auf den Kino­kult und die unkritischen Besucher in den großen modernen „Kathedralen“ der Filmpaläste ein: In the building of these large temples and cathedrals — and I say they are rightly called temples and cathedrals — everything has been done to merchandise the show. The ­money changers are in the temple. What have they done in the last few years? Have they improved the pictures? They have done things to the stage show which is part of the ritual.87

Joseph Roths Filmpalast-Satire Der pseudosakrale Charakter der neuen Lichtspielpaläste in Berlin wurde ca. 2,5 Monate vor der Veröffentlichung von Kracauers „Kult der Zerstreuung“ schon literarisch in Joseph Roths Text „Bekehrung eines Sünders im Berliner Ufa-Palast“ behandelt, der ebenfalls in der

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SKW 6:1, S. 208. Ebd., S. 212, Hervorhebung im Original. Marx 1844, S. 71f. Nach der Einführung des Tonfilms verloren die Kinoorgeln jedoch an Bedeutung. – Zu sakralen Aspekten der Filmtheater in der Weimarer Republik siehe z. B. Schivelbusch 1992, S. 53–56. 86 Beispielsweise wird das ehemalige „Loew’s Valencia Theater“ in New York (Queens, 165-11 Jamaica Avenue, eröffnet 1929) nun als „Tabernacle of Prayer for All People Church“ genutzt. Allerdings wurden nackte Frauenstatuen in Engel verändert und ein weißes Kreuz ist ergänzt worden – Macfarquhar 1999. 87 Potamkin 1933, S. 3.

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FZ erschien.88 Für die FZ war Roth ab Juni 1922 tätig und verfasste zahlreiche Berichte über Berlin und die modernen urbanen Phänomene.89 Im Mai 1925 ging er nach Paris, blieb jedoch weiterhin als Mitarbeiter der FZ tätig und hielt sich zwischendurch in Berlin auf.90 Von den großen Ufa-Kinos in Berlin trugen Ende 1925 nur zwei die Bezeichnung „Palast“ im Namen, nämlich der Ufa-Palast am Zoo und der Ufa-Palast Königstadt; die anderen waren als Theater benannt. Der Text lässt darauf schließen, dass Roth den Ufa-Palast am Zoo behandelt (siehe Abb. 22). Dieser war damals das bedeutendste und größte Premierenkino der Ufa beim Zoologischen Garten in der Nähe der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, für dessen Showprogramm wie oben erwähnt Mitarbeiter von Rothafel aus den USA verpflichtet worden waren.91 Sehr wahrscheinlich besuchte Roth dort eine Vorstellung in der ersten Novemberhälfte, d. h., einige Tage bevor der Text in der FZ erschien. Denn bei dem Film kann es sich eigentlich nur um 1000:1=Harold Lloyd handeln, der ab dem 1.11.1925 erst exklusiv im Ufa-Palast am Zoo lief und erst ab dem 15.11.1925 noch in anderen Berliner Ufa-Kinos gezeigt wurde.92 Joseph Roth erwähnt ein Offenbach-Stück und tatsächlich dirigierte Ernö Rapée zu den Filmaufführungen von 1000:1 = Harold Lloyd im Ufa-Palast am Zoo die Ouvertüre zu Orpheus in der Unterwelt.93 Der Ufa-Palast am Zoo bestand seit 1919 und wurde nach einem Umbau von Carl Stahl-Urach am 25. September 1925 wiedereröffnet. Neben einer Erweiterung auf 3.000 Sitzplätze, einer Ausstattung, in der Rot und Gold dominierten, einem Rundhorizont, Wind-, Regen- und Donnertheatermaschinen sowie der Schaffung indirekter Beleuchtung

88 Joseph Roth, Bekehrung eines Sünders im Berliner Ufa-Palast, FZ, 19.11.1925, wieder abgedruckt u. a. in Roth 1989–1991, S. 512–514. 89 Nürnberger 1995, S. 80. 90 Lunzer/Lunzer-Talos 2009, S. 128f. 91 In der bisherigen Forschung wurde der von Roth besuchte Ufa-Palast noch nicht identifiziert – Roth 2014, S. 331f. Im Ufa-Palast am Zoo wurden damals die besonderen Lichteffekte, die Musik eines großen Orchesters und Ballettaufführungen geboten, die Roth nennt. Der Königstadt-Palast war ebenfalls neu eröffnet worden, die Sitzplatzanzahl war jedoch geringer. Auch bestand das Bühnenprogramm aus Varieté-Auftritten und das von Roth erwähnte Orchester mit Dirigenten trat nicht auf – siehe die Anzeige im Vorwärts, 8.11.1925, Nr. 529, Jg. 42, Morgenausgabe Nr. A270, S. 18 sowie diejenige im Vorwärts, 16.11.1925, Nr. 541, Jg. 42, Morgenausgabe Nr. A276, S. 18. 92 Bislang wurde vermutet, dass es sich bei dem von Roth gesehenen Film mit Lloyd um 1000:1 = Harold Lloyd (Originaltitel: Why worry?, R: Fred C. Newmeyer, Sam Taylor, USA 1923) handelt (siehe Roth 2014, S. 331). Mit dem recherchierten Kinoprogramm kann dies untermauert werden. Der Film 1000:1 lief in der ersten Novemberhälfte exklusiv im Ufa-Palast am Zoo. Anschließend wurde er auch noch einige Tage in anderen Ufa-Kinos in Berlin gezeigt, u. a. auch im Ufa-Palast Königstadt, jedoch ohne Orchesterprogramm (siehe die Ufa-Programmanzeigen im Vorwärts, 1.11.1925, Nr. 517, Jg. 42, Morgenausgabe Nr. A264, S. 18 und S. 19; Vorwärts, 15.11.1925, Nr. 541, Jg. 42, Morgenausgabe Nr. A276, S. 18). Zwar wird der Film in dieser Vorwärts-Anzeige am 8.11.1925 nicht wie von Roth zitiert als der „heiterste Film Amerikas“ angekündigt (Roth 1989–1991, S. 512), aber als besonders humorvoll beworben: „Ganz Berlin lacht“. Am 1.11.1925 wurde der Film folgendermaßen angekündigt: „Der Mann, der Millionen zum Lachen bringt ist mit seiner neuesten Lach-Sensation 1000:1 = Harold Lloyd im UFA-Palast am Zoo!!!!!!!!! Wer einmal richtig lachen will […].“  93 Roth 1989–1991, S. 513; zu dem von Rapée ausgewählten Stück von Offenbach siehe Henzel 2018, S. 103.

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wurde auch eine Lichtorgel mit besonderen Effekten integriert, auf die Roth Bezug nimmt.94 Auch dieser Filmpalast erhielt mit seinem Prunk und seinen Innovationen viel positive Presse und wurde zum „Tagesgespräch der ganzen Stadt“.95 Von panegyrischen Zeitungsberichten unterscheidet sich jedoch Roths Text mit seinem satirischen Charakter sehr. Laut Roth bewirken Ausstattung und Programm eine gottesdienstähnliche Atmosphäre. Insbesondere die geheimnisvollen Lichteffekte mit ihrem raschen Farbwechsel rufen eine große Ergriffenheit hervor, die noch durch das Orgelspiel vergrößert wird.96 Wie im Gottesdienst reagiert der Ich-Erzähler mit Kopfsenken.97 Roth betont die künstliche Atmosphäre („[…] geheimnisvolles Licht, das Gott nicht erschaffen haben konnte und das die Natur in tausend Jahren nicht zustande bringen wird […]“).98 Auch integriert er satirische Brechungen, indem er z. B. darauf verweist, dass statt einem Priester ein Kapellmeister das Programm zelebriert.99 Ebenfalls weist Roth auf die Diskrepanzen zwischen der weihevollen Atmosphäre (dem „tiefen Ernst“) und dem leichten Stück von Offenbach sowie dem „heitersten Film von Amerika“ hin. Über diesen kann der Erzähler nicht mehr lachen, weil die Pseudosakralität einen so großen Eindruck auf ihn gemacht hat. Er beschließt am Textende, Einsiedler in einem Wald zu werden, auch wenn er anfangs auf seine „unfromme Seele“ hingewiesen hat.100 Diese Schlusspointe betont satirisch die Seelenerschütterung des Kinobesuchers. Die künstlichen Effekte, die die sakrale Erhabenheit hervorrufen, wirken auf Roth jedoch bieder. Er charakterisiert sie als „Hauswasserfälle“, die durch das farbige Lichtspiel bewirkt werden: „Es war, als hätte man Wasserstürze in langen Jahren gezähmt und für den Hausgebrauch abgerichtet [...].“ Zudem bestehen sie aus einem kitschigen Effektgemisch: „Die Beleuchtung bestand aus Morgendämmer und Abendröte zugleich, aus Himmelsklarheit und Höllendunst, aus Stadtatmosphäre und Waldesgrün, aus Mondenschein und Mitternachtssonne.“101 Mögliche Inspiration Kracauers durch Joseph Roth Roth weist so literarisch auf die unpassende Kombination der erhaben wirkenden Lichteffekte, die zugleich aber auch spießig seien, und der Vorführung einer Filmgroteske hin. Kracauer dagegen betont in seinem Text im Illustrierten Blatt, dass die herrschaftliche Außenarchitektur nicht zu Slapstickkomödien passt. Auf den sakralen Charakter geht Roth stärker als Kracauer ein. Kracauer ist der Zerstreuung durch Massenvergnügungen gegenüber grundsätzlich aufgeschlossen, Roth bemängelt dagegen die in Berlin herrschende Kulturlosigkeit und verdeutlicht diese an dem neuen Ufa-Palast in Berlin,102 ohne Differenzierungen wie  94 Anon. 1925b, S. 6; Roth 1989–1991, S. 513.  95 Anon. 1925c.  96 Roths detailliertere Schilderung der Lichteffekte ist kulturhistorisch bedeutsam, da diese sonst nur immer kurz in den Presseberichten erwähnt werden.  97 Roth 1989–1991, S. 513.  98 Ebd., S. 512.  99 Ebd., S. 513. 100 Ebd., S. 514, S. 512. 101 Ebd., S. 513. 102 Sternburg 2009, S. 243f.; siehe auch Rautenstrauch 2016, S. 102.

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IV. Lichtspielhäuser als soziale Spiegel bei Siegfried Kracauer

Kracauer vorzunehmen. Auch war Roth gegenüber Film und Kino generell nicht aufgeschlossen eingestellt.103 Roths Text zeichnet sich durch Leichtigkeit, Sprachartistik und viel Spott aus,104 während Kracauers „Kult der Zerstreuung“ allgemeiner und weniger literarisch gehalten ist. Auch ist Kracauers Text soziologisch ausgerichtet.105 Es ist davon auszugehen, dass Kracauer den Bau der neuen Lichtspielpaläste in Berlin im Zusammenhang seiner Arbeit für das Filmressort selbst verfolgt hat. Er hat aber wohl auch als Feuilleton-Kollege Roths Arbeiten in der FZ gelesen, da beide Autoren das Interesse an den neuen urbanen Phänomenen teilten und freundschaftlich verbunden waren.106 Möglicherweise ist Kracauer durch Roths rhetorisch brillanten Text zusätzlich inspiriert worden, selbst ebenfalls Beiträge zu den Lichtspielpalästen zu verfassen. Allerdings unterscheiden sich diese wie dargelegt inhaltlich und stilistisch von dem Feuilleton Roths. Mit Roth hat Kracauer seinen Berlin-Besuch geplant und Arbeitsthemen ausgewählt, unter denen wohl die neuen Filmpaläste waren.107 Auffällig ist natürlich, dass die FZ die kritischen Beiträge, die sich u. a. gegen die damals wichtigen Filmtheaterprojekte der Ufa richteten, sowohl von Roth als auch von Kracauer veröffentlichte. Kritische oder satirische Bezugnahmen auf die Filmpaläste waren sonst eher nur in Fachpublikationen oder besonderen Magazinen vorzufinden. Von Filmpalästen und Hotelhallen Nach Kracauer seien die Lichtspielpaläste wie die Hotelhallen „Kultstätten“ des Vergnügens.108 Diese Bezugnahme auf Hotelhallen in „Kult der Zerstreuung […]“ ist für Kracauer signifikant, insbesondere im Kontext mit Pseudosakralität. Ähnlich wie bei den Kinos handelt es sich bei den Hotelhallen um Durchgangsorte, die Intimität und Anonymität zugleich ermöglichen. In seiner Abhandlung Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat (1923– 1925) setzt sich Kracauer wie schon in Kapitel II erwähnt auch mit Hotelhallen als zentralen Handlungsorten von Detektivromanen auseinander.109 Ein Kapitel überschreibt er mit „Die Hotelhalle“.110 Im 19. Jahrhundert entwickelten sich Hotels von reinen Übernachtungsmöglichkeiten zu gesellschaftlichen Etablissements. Mit dem einsetzenden Massentourismus 103 Ebd., S. 101 mit Anm. 42. 104 Nürnberger 1995, S. 80. 105 Vgl. den Literatur- und Kulturwissenschaftler Jon Hughes, der begrüßt, dass Roths Schreibstil zum Glück weniger theoretisch und akademisch als Kracauers ist – Hughes 2006, S. 144. 106 Wenn Roth in Frankfurt war, ging er abends anscheinend häufiger mit Kracauer essen. Auch unterstützte er Kracauer bei dessen Roman Ginster. Kracauer besprach seinerseits Roths Werke positiv – siehe Später 2016, S. 218–219. 107 In einem Brief an Brentano führt Kracauer nur eine Auswahl von Arbeitsthemen seines Berlin-Aufenthaltes an – Siegfried Kracauer, Brief an Bernard von Brentano, 14.12.1925 (Nachlass Bernard von Brentano/ DLA). 108 SKW 6:1, S. 208. 109 Zu Hotels in Kracauers Œuvre siehe z. B. Katz 1999 und Vedder 2017. 110 Erst 1963 wurde das Kapitel „Hotelhalle“ aus der Detektivromanstudie in dem Sammelband Das Ornament der Masse (Kracauer 1963, S. 157–170) veröffentlicht. Die vollständige Abhandlung wurde schließlich in der Ausgabe der Schriften publiziert.

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wurden sie in den 1920er Jahren häufig in Romanen und Filmen thematisiert. In seiner Detektivroman-Studie interpretiert Kracauer die Hotellobby als Kehrbild des Gotteshauses und unzureichendes modernes Refugium (siehe Kapitel II).111 Das Gotteshaus biete eine religiöse Heimat, dagegen sei das Beisammensein in der Hotelhalle ohne Sinn. Die dortige Lobby fungiert für Kracauer als Reflexionsraum, ähnlich wie 1926 auch die großen Lichtspieltheater.112 Entgegen der zeitgenössischen Statistiken sind für Kracauer Räume aussagekräftiger für die tatsächliche geistige Lage des homogenen „Weltstadt-Publikums“. Bei seinen Raumanalysen wurde er methodisch ebenfalls von Georg Simmel beeinflusst. Simmel war einer der ersten, der sich eingehender damit auseinandersetzte, wie Institutionen ihre „gesellschaftliche[n] Vereinheitlichungen in bestimmte räumliche Gebilde umsetzen.“113 Seiner Meinung nach sind Räume deswegen für soziale Beziehungen aussagekräftig, da sie wesentlich für das gesellschaftliche Miteinander sind.114 In „Kult der Zerstreuung […]“ greift Kracauer die schon in seiner Studie Der Detektiv-Roman praktizierte Ausdeutung sozial relevanter Räume der Gegenwart auf und optimiert sie. Denn die Detektivroman-Abhandlung ist noch sehr im Allgemeinen verhaftet und die literarischen Quellen werden kaum näher thematisiert. Der Schwerpunkt bei den Top-down-Ausführungen ist deutlich metaphysischer und nicht soziologischer Art.115 In dem Text „Kult der Zerstreuung“ geht Kracauer schon detaillierter auf die Lichtspielpaläste ein. Hierfür führte er anscheinend auch Interviews mit im Filmbereich Tätigen durch, denn „[j]e mehr man Einblick erhält, um so konkreter kann man urteilen und schreiben.“116 Räumliche Anforderungen von Film als zweidimensionalem Spiegel Neben den gesellschaftskritischen Überlegungen führt Kracauer auch ein medienästhetisches Argument gegen das Beiprogramm an. Als zweidimensionales Medium brauche das Kino laut ihm keine dreidimensionalen Beigaben, da diese der Illusion des Films zuwiderlaufen würden: „Der Film fordert von sich aus, daß die von ihm gespiegelte Welt die einzige sei; man sollte ihn jeder dreidimensionalen Umgebung entreißen, sonst versagt er als Illusion.“117 Potamkin verwies ebenfalls auf den Mediencharakter gegen die Einführung der Bühnenshow von Rothafel: „Any artist of intelligence will tell you, that if an art is to transcend the medium, it must do so by virtue of the medium’s characteristics.“118 Er vertritt die Idee eines Kinos „which should entertain almost solely with movies.“119 Die Verbindung unterschiedlicher Künste ist im Hochkunstbereich u. a. im Zusammenhang mit dem Gesamtkunstwerkkonzept kontrovers themati-

111 Kracauer 1963, S. 159. 112 Ebd., S. 159–163. – In seiner Abhandlung über den Detektivroman dient die Hotelhalle allerdings dem Gewahrwerden der geistigen Leere gemäß Kracauers damaliger religiös-philosophischer Ausrichtung. 113 Simmel (1903) 2006, S. 307. 114 Simmel 1903b. 115 Seger 2005, S. 308f. 116 Siegfried Kracauer, Brief an Bernard von Brentano, 14.12.1925 (Nachlass Bernard von Brentano/DLA). 117 SKW 6:1, S. 212. 118 Potamkin (1927) 1998, S. 34. 119 Ebd.

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siert worden. Friedrich Nietzsches Ansicht, dass Wagners Gesamtkunstwerkidee dilettantisch sei, ist beispielsweise von Thomas Mann und Theodor W. Adorno aufgegriffen worden.120 Solche medienästhetischen Reflexionen wie von Kracauer und Potamkin fehlen in der zeitgenössischen deutschen Presseberichterstattung zu dem aus Amerika übernommenen Filmpräsentationsprogramm. Dieses wurde von den Filmrezensenten jedoch etwas kritischer aufgenommen als die prunkvolle Architektur. Ernst Blass kritisierte z. B. im Berliner Tageblatt und Handelsblatt, dass das Beiprogramm bei der Eröffnung des Gloria-Palasts zu stark ablenke.121 In der Berliner Börsenzeitung wurde bei der Eröffnung von diesem Kino zudem bemängelt, dass die Programmzusammenstellung zu unterschiedlich für ein elegantes Filmtheater sei: Wenn man ins Theater geht, so begehrt man vor dem Bühnenstück doch auch nicht etwa einen Vortrag über die Relativitätstheorie zu hören, so sehr einen dieses Thema an sich vielleicht interessiert. Was aber der Sprechbühne recht ist, sollte der Filmbühne billig sein.122

Kracauers Kollege Joseph Roth kritisierte auf satirische Weise in der FZ am 4.10.1924 ein „amerikanisiertes“ Rahmenprogramm als zu überzogen und ermüdend. Daher sei es für das Betrachten eines Films nicht förderlich: Die Musik [...] verursachte disharmonische Geräusche, und gleichzeitig begannen einige Scheinwerfer bunte Flammen über den Saal zu speien, rot, blau, orange, gelb wechselten in rasender Folge, die Menschen rissen Mund und Augen auf, über sie war Amerika hereingebrochen, wie eine plötzliche Katastrophe, bei der die Notausgänge nicht funktionieren.123

Mehr Soziologie als Ökonomie Angesichts Kracauers Fokus auf der gesellschaftskritischen Verortung der neuen Berliner Lichtspielpaläste und dem zusätzlichen Einbringen von medienästhetischen Argumenten geraten die ökonomischen Beweggründe für die Großkinos jedoch in den Hintergrund. So erwähnt Kracauer in „Kult der Zerstreuung“ nur knapp in einem Nebensatz, dass sich die Finanzierung der Massenvergnügen in Berlin lohne, weil die Masse dort groß genug geworden sei.124 In Berlin bemühte sich besonders die Ufa um die Etablierung von Premierenkinos nach den neuesten Standards sowie um Rahmenprogramme nach amerikanischen Vorbildern (beispielsweise wie dargelegt im Ufa-Palast am Zoo und im Gloria-Palast mit der Verpflichtung von Ernö Rapée und Alexander Oumansky). Das „Gesamtkunstwerk der Effekte“ sollte auch die finanziellen Schwierigkeiten der Ufa kaschieren.125 Zwar vergrößerte sich die Ufa Anfang der 1920er Jahre und nahm in der Infla-

120 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, Viertes Stück, Richard Wagner in Bayreuth, in: ders., Nietzsche 1969, S. 371; Mann 1933; Adorno 1982. 121 Blass 1926. – Siehe auch die Kritik von Kurt Pinthus am amerikanisierten Beiprogramm (Pinthus 1925). 122 Oly. (Olimsky) 1926. 123 Joseph Roth, Amerikanisiertes Kino, FZ am 4.10.1924, wieder abgedruckt u. a. in Roth 1989–1991, S. 256–259, hier S. 256. 124 SKW 6:1, S. 209. 125 Ebd., S. 208, siehe auch Kreimeier 1999, S. 124f.

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tionszeit keinen so großen Schaden. Mitte der 1920er Jahre geriet das Unternehmen jedoch in finanzielle Schwierigkeiten. Mit kostspieligen Produktionen wie z. B. Die Nibelungen126 wollte die Ufa konkurrenzfähig mit Hollywood bleiben, jedoch waren die aufwendigen Filme nicht rentabel genug. Zusätzlich waren Ende 1925 ungünstige Verträge mit amerikanischen Filmproduktionsfirmen abgeschlossen worden.127 Die Großkinos sollten dagegen positive PR für die Ufa erzielen und den Erfolg ihrer Filmproduktionen durch glanzvolle Premieren unterstützen. Die Lichtspielpaläste mit ihren aufsehenerregenden Architekturen fungierten als medienwirksame „Sensationsmaschinen“.128 Sie galten als „Vorzeigekinos“, zu deren Eröffnung neben Journalisten auch Kinobetreiber aus Paris und London anreisten.129 1924/1925 wurden innerhalb eines halben Jahres 13 neue Lichtspieltheater mit vielen Plätzen von der Ufa gebaut oder erworben. Insgesamt besaß 1925 der Filmkonzern 150 eigene Filmtheater, mit denen er zudem mehr Kontrolle über die Filmaufführungen ausüben konnte.130 Kracauer als „Spielverderber“ Kracauers und Roths kritische Beiträge sind als selten anzusehen, da sie in der deutschsprachigen Presseberichterstattung gegen die Strategie der Ufa opponierten, mit den großen Filmpalästen ein positives Unternehmensbild zu fördern. Die Berliner Lichtspielpaläste erhielten nicht nur in Europa viel Aufmerksamkeit, sondern wurden auch in den USA in der New York Times und im Wall Street Journal wahrgenommen.131 Kracauer und Roth entlarvten den Prunk der Kinos als Pseudoglamour. Von den Erbauern dagegen wurde dieser als Demokratisierung von Luxus propagiert.132 Diese Ansicht vertrat beispielsweise der amerikanische Architekt George Rapp: Watch the bright lights in the eyes of the tired shop girl who hurries noiselessly over carpets and sighs with satisfaction as she walks amid furnishings that once delighted kings and queens. See the war-torn father whose dreams have never come true, and looks inside his heart as he finds strength and rest within the theater. Here is a shrine to democracy where there are no privileged patrons. The wealthy rub elbows with the poor.133

Kracauer desavouiert zudem den damaligen Anspruch von Berlin als modernste und „‚vergnügteste‘ Stadt Europas“,134 wenn er die Zerstreuung in den Berliner Großkinos als reaktionär entlarvt. Denn Kinos fungierten als Symbol für moderne Urbanität.135 Sie trugen so zum Berliner Metropolenflair bei, das in den 1920er Jahren mit täglicher Berichterstattung in den 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135

Die Nibelungen, R: Fritz Lang, Deutschland 1924. Kessler 2001, S. 1179. Sildatke 2010, S. 13. Anon. 1926d. Anon. 1925. Anon. 1929. Naylor 1987, S. 22. Anon. 1968. Siehe Knickerbocker 1932, S. 21. Steidle 2011, S. 15.

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Zeitungen und Illustrierten u. a. aus den Verlagshäusern Scherl und Ullstein weit verbreitet wurde.136 Für Kracauers kritische Einstellung gegenüber den Lichtspielpalästen ist daher eine spätere Charakterisierung Walter Benjamins von Kracauer als „Spielverderber“ sehr passend: Soviel steht immerhin fest: daß dieser Mann nicht mehr mitspielt. Daß er es ablehnt, für den Karneval, den die Mitwelt aufführt, sich zu maskieren […] und daß er sich grobianisch durch die Masse hindurchrempelt, um hie und da einem besonders Kessen die Maske zu lüften.137

Abdruck im österreichischen Kino-Journal Trotz des kritischen Duktus wurde „Kult der Zerstreuung […]“ – was bislang in der Bibliographie Kracauers von Thomas Y. Levin noch nicht angeführt war –138 noch in demselben Monat ebenfalls in dem österreichischen Kino-Journal publiziert.139 Dies überrascht, weil diese Filmzeitschrift insbesondere für ihre unkritischen Filmbesprechungen bekannt ist.140 Ihre Hauptleser waren die KinobetreiberInnen in Österreich, für die es ein „offizielles Organ“ war.141 In der Zeitschrift wurden jedoch auch allgemeine Themen zur Kino-Entwicklung behandelt; die Herausgeber gaben sich Mühe, umfassend über das Filmbusiness zu informieren. Insbesondere war man an der Entwicklung des Filmbetriebs in Deutschland interessiert und thematisierte sie in vielen Beiträgen. Gerade Berlin beneidete man im Kino-Journal für die vielen neuen Lichtspieltheater, denn in Wien war für solche weniger Kapital vorhanden.142 Vielleicht hat man Kracauers Kritik 1926 integriert, damit in Österreich der Neid auf Berlin nicht zu groß wird? Auf jeden Fall verdeutlicht der Wiederabdruck von Kracauers „Kult der Zerstreuung“ – heute international einer der bekanntesten Texte aus seinem Werk – in Das Kino-Journal, dass dessen erste Publikation in der FZ größere Aufmerksamkeit erhalten hat und auch für eine breitere Rezeption in österreichischen Fachkreisen interessant gehalten wurde. Darüber hinaus macht der Wiederabdruck darauf aufmerksam, dass im Kino-Journal neben den neutralen Zusammenfassungen von Filminhalten noch viele weitere und verschiedenartige Beiträge veröffentlicht worden sind – u. a. einen kritischen und anspruchsvollen von Kracauer.143

136 Schlösser 2013, S. 22. 137 Walter Benjamin, Ein Außenseiter macht sich bemerkbar. Zu S. Kracauer „Die Angestellten“ (1930), in: ders. 1972, S. 219–225, hier S. 219f. 138 Vgl. Levin 1989, S. 150 (Nr. 821). – Weitere Abdrucke von „Kult der Zerstreuung […]“ in den 1920er Jahren sind bislang nicht bekannt. 139 Kracauer 1926 (ohne Abb.). – Aus finanziellen Gründen ließen viele Journalisten in der Weimarer Republik ihre Texte mehrmals abdrucken (siehe auch Rautenstrauch 2016, S. 253). 140 Die unkritischen Filmrezensionen sind wohl den Filmverleihern und Anzeigenkunden geschuldet. 141 Eine Ausgabe nach dem Abdruck war das Journal z. B. obligatorisch zu abonnieren von den Mitgliedern des „Landesverbands der Kinobesitzer in Niederösterreich“ (Das Kino-Journal, 3.4.1926, S. 1). 142 Anon. 1925d. 143 Die Auswertung der Beiträge von dem Kino-Journal war auch für diese Arbeit sehr ergiebig.

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Vom „homogenen Weltstadt-Publikum“ zu den Angestellten Bei seiner Verortung der Lichtspielpaläste in der zeitgenössischen Massenkultur tangiert Kracauer Themen wie Lichtreklame, Illustrierte und Revuen, mit denen er sich schon vorher beschäftigt hat. Zu diesen Themen veröffentlichte Kracauer weitere grundlegende Texte – wie z. B. „Die Photographie“ oder „Das Ornament der Masse“ – in den nächsten Jahren.144 Auch die Beschäftigung mit dem zeitgenössischen, in „Kult der Zerstreuung […]“ noch nicht differenzierter betrachteten „homogenen Weltstadt-Publikum“145 sollte Kracauer intensivieren. In seiner Studie Die Angestellten analysierte er die zeitgenössische Arbeitswelt und die urbanen Freizeitvergnügen noch schichtenspezifischer und begab sich dafür 1929 mehrere Wochen nach Berlin.146 Film und Kino erwähnt Kracauer in dieser Publikation allerdings nur am Rande. Stattdessen führt Kracauer zentrale Exempel der Vergnügungsindustrie aus dem Bereich der Erlebnisgastronomie wie das „Haus Vaterland“ an (Abb. 24–25).147 In ­diesem Beispiel für die großen Berliner „Pläsierkasernen“ werden die Angestellten auf ähnliche Weise wie in den großen Lichtspielpalästen zerstreut. Es handelt sich um ein Massenvergnügen, das ebenfalls durch die hochherrschaftliche Umgebung kaschiert wird. Die Angestellten können sich so der Illusion hingeben, der bürgerlichen Gesellschaft anzugehören, auch wenn ihre ökonomische Situation sich kaum von der des Proletariats unterscheidet.148 Kracauers Raumanalysen in der Angestelltenstudie sind jedoch noch stärker am Material als in „Kult der Zerstreuung“ orientiert. Die von Kracauer thematisierte Zerstreuung sollte in der Folgezeit von anderen Vertretern der „Kritischen Theorie“ oder von dieser nahestehenden Intellektuellen behandelt werden wie beispielsweise von Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, auch wenn letzterer Kracauers anfänglich positives Zerstreuungsverständnis nicht teilte.149 Für Ernst Blochs Großstadtsoziologie war Zerstreuung ebenfalls eine zentrale Kategorie.150

144 Die beiden genannten Texte wurden u. a. wieder publiziert in: Kracauer 1963 (S. 21–39 und S. 50–63). 145 SKW 6.1, S. 210. 146 Mit Kracauers Aufenthalt in Berlin sollte die Übernahme der Feuilleton-Redaktion in Berlin durch Kracauer geprobt werden. Die Monographie Die Angestellten wurde vom 8. Dezember 1929 bis 8. Januar 1930 in zwölf Teilen in der FZ publiziert und erschien im Januar 1930 als Buch – Kracauer 1930. 147 Der von der Familie Kempinski geleitete Komplex „Haus Vaterland“ wurde 1927 grundlegend zu einem Amüsiertempel modernisiert. Das sechsgeschossige große Kuppelgebäude (Abb. 24) beinhaltete neben einem Kino und einem Ballsaal u. a. zwölf unterschiedliche, zum Teil sehr prunkvoll gestaltete Themenrestaurants wie zum Beispiel ein bayrisches Lokal und ein türkisches Café (Abb. 25). Bis zu einer Million Besucher im Jahr konnte der Vergnügungspalast anziehen und war ähnlich wie das „Moulin Rouge“ in Paris eine der Haupttouristenattraktionen in Berlin. – Zum „Haus Vaterland“ siehe z. B. Möhring 2012, S. 58–60. 148 Siehe insbesondere das mit der sinnfälligen Bezeichnung versehene Kapitel „Asyl für Obdachlose“ in: Siegfried Kracauer, Die Angestellten, in: ders., SKS 1, S. 282–291. Siehe darüber hinaus Rühse 2013. 149 Siehe z. B. Benjamin (1939) 1991 und Adorno 1938. 150 Bloch 1981; Behrens 2003, S. 708f.

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IV. Lichtspielhäuser als soziale Spiegel bei Siegfried Kracauer

24  Haus Vaterland mit Kammerlichtspiele, ca. 1932, Berlin, Außenansicht, Fotopostkarte, 9,1 × 14,2 cm.

25  Türkisches Café im Haus Vaterland, Ende der 1920er Jahre, Berlin, Fotopostkarte, 9,1 × 14,1 cm.

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Kracauer im Tageskino in der Berliner Münzstraße 1932

Kracauer im Tageskino in der Berliner Münzstraße 1932 „Zahme“ Lichtspielpaläste und „wilde“ Kientöppe Im Gegensatz zu der immensen überregionalen und internationalen Beachtung, die die neuen großen Lichtspielpaläste erzielten, erhielten die kleinen Kinos in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre weitaus weniger Aufmerksamkeit.151 In „Kult der Zerstreuung“ bemerkt Kracauer nur kurz, dass diese „in Alt-Berlin und den Außenstädten noch [sich reihen], wo sie das kleine Publikum versorgen; ihre Zahl nimmt ab.“152 Die kleinen „Kientopps“153 waren zudem nicht prestigeträchtig. Schon bei ihrer Entstehung Anfang des 20. Jahrhunderts waren sie von konservativen Kulturkritikern insbesondere wegen der dort vorherrschenden Dunkelheit als moralisch verwerflich kritisiert worden.154 Alfred Döblin charakterisierte 1909 die Kinos in den Arbeitervierteln als zeitgenössische Variante der plebejischen Vergnügungen im alten Rom: „Panem et circenses sieht man erfüllt.“155 Aber er gestand zumindest zu, dass die Menschen aus den niedrigen Schichten die Betäubung bräuchten und Kino immerhin noch besser als Alkohol sei. Der Schriftsteller Leo Hirsch machte in einem Beitrag für das „Berliner Tageblatt“ am 15.11.1927 darauf aufmerksam, dass die älteren und kleineren Kinos vom Charak­ter ganz anders als die neuen Premierenkinos wären. Die Kinos im neuen Kinoviertel bei der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche bezeichnet er dagegen als „zahm“, sie nennen sich gern Lichtspielhäuser, und wahrhaftig haben sie viel Licht außen und innen. Die wilden heißen schlechthin Kinos, legen großen Wert auf vielerlei Spiel, und anstatt des Lichts strahlen sie von der Grelle ihrer Plakate.156

Von den Kinofronten der großen Lichtspieltheater kursierten damals viele Nachtaufnahmen, auf denen die moderne Außenbeleuchtung besonders gut zur Geltung kam (siehe Abb. 22). Sie prägten maßgeblich das nächtliche Stadtbild Berlins. Im Gegensatz dazu ist die für Kientopps charakteristische Plakatfront bei der „Vorwärts“-Illustration eines kleinen Alt-Berliner Kinos in der Münzstraße bei Tageslicht besonders betont worden (Abb. 26).157 Auf der Zeichnung aus dem Zille-Umkreis wird zudem auf die beim Publikum beliebten Filmgenres wie Kriminal- und Sittenfilme alludiert.158 Deutlich sind zweimal die Reizwörter „Mord“ zu lesen

151 Einige ambitionierte FeuilletonschriftstellerInnen und FilmkritikerInnen widmeten sich trotzdem den kleinen Kinos (siehe Mayr/Omasta 2007, S. 73). 152 SKW 6:1, S. 208. 153 Zur Entstehung der Bezeichnung „Kientopp“ (alternative Schreibweise: „Kintopp“) in Berlin siehe Dettke 1995, S. 121. 154 Treitel 1907; Noack 1913, S. 3. 155 Döblin (1909) 1992, hier S. 154 (Hervorhebung im Original). 156 Hirsch 1927. 157 Anon. (Zille-Umkreis), Tageskino [Pritzkow] in der Münzstraße, publiziert im Vorwärts, Morgenausgabe, 28.4.1929. 158 Der/die KünstlerIn der Illustration konnte bislang noch nicht eindeutig ermittelt werden. – Neben Heinrich Zille waren beispielsweise auch Erich Ohser alias e. o. plauen und Hans Baluschek für den Vorwärts tätig – siehe Korbik 2016.

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26 Anon. (Zille-Umkreis), Tageskino [Pritzkow] in der Münzstraße, Ende der 1920er Jahre, Berlin, in: Vorwärts, Morgenausgabe, 46. Jg., Nr. 198, 28.4.1929.

und ein Paar wird in einer engen Umarmung gezeigt. In Bezug auf das Filmprogramm kritisierte 1923 Fritz Rosenfeld, dass das Filmkapital zwei Arten von Filmen herstellen würde, nämlich „[d]en Prunkfilm für die Lichtspieltheater der Reichen“ und „den verdummenden, verrohenden Sensationsfilm für die Bühnen der Vorstadt.“159

„Continuous performance“ Damit die kleinen Kinos bei den günstigen Eintrittspreisen und der beschränkten Sitzplatzanzahl rentabel sein konnten, mussten sie nicht nur auf den Filmgeschmack ihrer Zuschauer eingehen, sondern selbst an Wochentagen schon tagsüber und nicht nur abends Filme

159 Rosenfeld (1923) 2007, S. 77.

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Kracauer im Tageskino in der Berliner Münzstraße 1932

z­ eigen.160 Diese schon vor dem Ersten Weltkrieg gängige Vorführungsweise in den sogenannten „Tageskinos“ wurde u. a. 1921 vom US-amerikanischen Regisseur und Drehbuchautor D. W. Griffith kritisiert, weil die Zuschauer so auch während der Filme den Vorführungsraum betraten. Dass sie die Filme daher nicht von Anfang bis Ende sehen konnten, wäre laut Griffith insbesondere für die Rezeption künstlerischer Langfilme von Nachteil.161 Die Schriftstellerin und Journalistin Dorothy Richardson sieht die „continuous performance“ dagegen nicht so kritisch wie Griffith und wählte sie als Titel ihrer Kolumne im Avantgarde-Filmmagazin Close Up. Auch würdigt sie besonders kleine, einfache Kinos in ihrem Text „There’s No Place Like Home“ 1927. Sie hebt besonders hervor, dass man in ein einfaches Kino in seiner Alltagskleidung gehen kann, was zudem dem Kinocharakter besonders entspricht: One cannot show off one’s diamonds in the dark. Going to the cinema is a relatively humble, simple business. Moreover in any but the theatre’s more vital spaces it is impossible to appear in an old ulster save in the way of a splendiferous flouting of splendour that is more showy than diamonds. To the cinema one may go not only in the old ulster but decorated by the scars of any and every sort of conflict. To the local cinema one may go direct, just as one is.162

Der Schriftsteller Walter Hasenclever geht in seinem Text „Tageskino“ aus dem Jahr 1928 auf das schon um 11 Uhr geöffnete Berliner Tageskino am Stettiner Bahnhof ein.163 Laut ihm war dieses Kino sehr charakteristisch für Berlin. Denn es sei repräsentativ für den provinziellen Charakter mehrerer Stadtviertel. Diese unterschieden sich sehr von dem „neuen Westen“ Berlins mit den großen Lichtspieltheatern, die von den Medien so häufig thematisiert werden. Indirekt setzt sich Hasenclever mit seinem Text gegen das glitzernde Image der noch jungen Metropole Berlin ab – allerdings auf andere Weise als Kracauer 1926 mit „Kult der Zerstreuung […]“. So würde man laut Hasenclever um den Stettiner Bahnhof herum „Berlin vor vierzig Jahren [antreffen]; überklebt mit modernen Emblemen. Da sind noch dieselben Kellerläden, die gleichen Hinterhöfe, und die nämlichen Frauen stehen an den Ecken.“ In der rückständig wirkenden Gegend in Berlin-Mitte sei auch ein kleines, 1912 eröffnetes Tages­ 160 Burrows 2018, S. 79. – Im Gegensatz zu den Tageskinos gab es in den großen Lichtspieltheatern in Deutschland normalerweise wochentags nur Abendvorstellungen, am Wochenende fanden zusätzlich auch Nachmittagsvorstellungen statt. Z. B. wurden Filme im Gloria-Palast in der Woche um 18 Uhr 45 und 21 Uhr 15 gezeigt – siehe Frick 1986, S. 50. Die Filme in den Ufa-Großkinos in Berlin begannen am Wochenende normalerweise immer um 17, 19 und 21 Uhr sowie wochentags um 19 und 21 Uhr. Bei besonders populären Filmen, zu denen Jugendliche und Familien als Zielpublikum gehörten, gab es mitunter weitere Vorstellungen am Sonntag um 15 Uhr – vgl. die Ufa-Programmankündigung im Vorwärts am 8.11.1925, Nr. 529, Jg. 42, Morgenausgabe Nr. A270, S. 18. 161 Siehe z. B. Griffith 1921, S. 11f.: „I hope the time will come when patrons will not be allowed to enter a theater except at the beginning of a photoplay – that the casual hospitality of the picture theater of today will not exist.“ 162 Richardson 1927, S. 46. 163 Walter Hasenclevers Text „Tageskino“ erschien in mehreren Zeitungen (u. a. in: General-Anzeiger, Frankfurt am Main, Jg. 53, Nr. 188 vom 11.8.1928, S. 4) sowie in Guenther 1929, S. 177f. Für weitere Abdrucke siehe Ackermann 2016.

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IV. Lichtspielhäuser als soziale Spiegel bei Siegfried Kracauer

kino wenig mondän.164 Neben ironischen Spitzen gegen den Filmkitsch und die Filmindustrie macht Hasenclever auf das unrealistische Geschehen auf der Leinwand aufmerksam: „Für sechzig Pfenning rollt auf der Leinwand die Welt vorüber, von der man nur sagen kann, dass sie nicht so ist.“165 In den Metropolen Paris und New York entstanden als Gegenbewegung zu den Großkinos in den 1920er Jahren kleine Kinos, in denen künstlerische und kommerziell weniger erfolgreiche Filme sowie ältere Produktionen gezeigt wurden.166 Gegenüber seiner oben bereits erläuterten Kritik an den großen Filmpalästen setzte Harry Alan Potamkin seine Hoffnung zunächst in diese Little Cinema Movement: „Still I find hope for my ideal of the movie house in the possibilities of the Little Cinema movement [...].“167 Für Kracauers Forschungsarbeit – sowohl für sein Buchprojekt einer „Enzyklopädie des Films“ (siehe z. B. das im Kap. V, S. 236 erwähnte „Studio des Ursulines“) als auch für seine Tätigkeit in New York sollten die kleinen Kinos sehr bedeutsam sein. Dort konnte er sich alte oder neue Avantgarde-Filme ansehen. In der Weimarer Republik besuchte Kracauer während seiner Zeit als Filmkritiker für die FZ von Berufs wegen häufig die großen Premierenkinos. 1940 stellte er sich selbst als passionierten Filmliebhaber dar, der nicht nur zu Filmpremieren ging, sondern, „[v]om Abenteuerdrang der umherschweifenden Kamera beseelt, die gerade das Inoffizielle, Unbeobachtete visiert, liebt auch er es vor allem, auf Geratewohl durch die Kinos zu schlendern und abseits von der Heerstraße seine Entdeckungen zu machen.“168 Schon Anfang der 1930er Jahre machte sich Kracauer daher bei einer Reise in ein Pariser Vorstadtkino auf.169 Eine Passage in seinem autobiographisch inspirierten Roman Georg legt zudem nahe, dass Kracauer wohl wie die Hauptperson als sein fiktionales Alter Ego mitunter rein zur Zerstreuung ins Kino gegangen ist.170

Kracauers Feuilleton „Kino in der Münzstraße“ in Berlin 1932 suchte Kracauer jedoch weder Filmkunst noch Zerstreuung in einem kleinen Alt-Berliner Kino, sondern begab sich aus soziologischem Interesse dorthin. Er wollte dieses eingehend für das in der FZ am 2.4.1932 veröffentlichte Feuilleton „Kino in der Münzstraße“ als Ort studieren, der insbesondere für Arbeitslose ein wichtiges Asyl war.171 Nach einer kurzen Phase

164 Es muss sich um die „Lichtspiele am Stettiner Bahnhof“ in der Invalidenstraße 127 in Berlin handeln – Hänsel/Schmitt 1995, S. 271. 165 Hasenclever 1928. 166 Roberts 2010, S. 43. 167 Potamkin (1927) 1998, S. 35. – Später sollte Potamkin die Little Cinema-Bewegung jedoch sehr kritisieren (Decherney 2005, S. 91). 168 SKW 6:3, S. 310. 169 Ebd., S. 129. 170 SKS 7, S. 428–430. Auch wenn der Roman deutlich von Kracauers eigener Biographie beeinflusst ist, enthält die Handlung signifikante Unterschiede. 171 Siegfried Kracauer, Kino in der Münzstraße, FZ 2.4.1932, S. 47–50 (Nr. 681), wieder in Kracauer 1964, S. 96–98; Sabelus / Wietschorke 2015, S. 135f.; Kaes et al. 2016, S. 175–177 (Übersetzung ins Englische).

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des Aufschwunges und den u. a. durch die Lichtspieltheater verbreiteten Glanz waren infolge der Weltwirtschaftskrise die letzten Jahre der Weimarer Republik durch Arbeitslosigkeit geprägt. Nur wenige Wochen, nachdem die Zahl Beschäftigungsloser im Februar 1932 ihren Höchststand erreicht hatte, ging Kracauer in das einfache Kientopp.172 Im Berliner Büro der FZ war er seit April 1930 als Feuilleton-Leiter tätig.173 Vor dem Kino in der Münzstraße hatte Kracauer schon in anderen Armutsgegenden von Berlin, die besonders stark von der Arbeitslosigkeit betroffen waren, Wärmehallen und Arbeitsnachweise aufgesucht und zu diesen Feuilletons in der FZ veröffentlicht.174 Die Münzstraße, in der sich das von Kracauer besuchte Kino befand, gehört zum Scheunenviertel in Berlin. Dieses galt in den 1920er Jahren als „St. Pauli von Berlin“,175 da sich die ursprünglich gutbürgerliche Gegend zu einem dicht besiedelten und armen Wohnviertel entwickelt hatte. Die Münzstraße befindet sich nordwestlich vom Alexanderplatz; mit ihren vielen günstigen Geschäften und Lokalen wurde sie in der Weimarer Republik als „Korso der Armen“ bezeichnet.176 Darüber hinaus frequentierten sie auch Kleinkriminelle und Prostituierte. Anfang des 20. Jahrhunderts eröffneten in der Münzstraße mehrere Kinos, denn die Nähe von Geschäften und anderen Vergnügungsbetrieben war günstig für sie. Das bekannte Kino Pritzkow in der Münzstraße hatte als Vorläufer beispielsweise ein Abnormitätentheater. In dieses waren wahrscheinlich auch Filmvorführungen integriert, die dann zum Geschäftsmittelpunkt wurden.177 Wie in dem von Hasenclever besuchten Tageskino am Stettiner Bahnhof spürt man in den vier Kinos, die 1932 in der Münzstraße betrieben werden – Zentrum-Theater, Biograph-Theater, Münz-Theater und Pritzkow-Theater (oder Pritzkow-Lichtspiele)  –, wenig Metropolenglanz.178 Sie alle waren sehr klein und wurden häufig von Beschäftigungslosen besucht, denn die Bewohner des Scheunenviertels waren stark von der hohen Erwerbslosigkeit infolge der Weltwirtschaftskrise betroffen. Darauf geht auch Ingeborg Keun literarisch in ihrem Roman Das kunstseidene Mädchen ein, der wie Kracauers Feuilleton 1932 veröffentlicht wurde:

172 Im April 1932 waren in Deutschland 29,9 Prozent Arbeitslose gegenüber 8,5 Prozent im Jahr 1929 gemeldet (Petzina et al. 1978, S. 119). 1932 gab es in Berlin offiziell 636.000 Beschäftigungslose (siehe Ribbe/Schmädeke 1994, S. 291). 173 Belke/Renz 1988, S. 58. 174 Siegfried Kracauer, Über Arbeitsnachweise. Konstruktion eines Raumes, FZ 17.6.1930, SKW 5:3, S. 249– 257 (Nr. 483); ders., Wärmehallen, FZ 18.1.1931, S. 421–426 (Nr. 532). Zusammen mit „Kino in der Münzstraße“ erschienen diese beiden Texte (neben weiteren zu anderen Themen) in dem Sammelband Straßen in Berlin und anderswo (Kracauer 1964). 175 R. E. [Kürzel] 1929. 176 Anon. 1930. 177 Siehe Sabelus / Wietschorke 2015, S. 134. 178 Ebd., S. 137. – Das Zentrum-Theater war Ecke Münzstraße / Neue Schönhauserstraße, das Biograph-Theater in der Münzstraße 8, das Münztheater in der Münzstraße 10 und das Pritzkow-Theater in der Münzstraße 16 gelegen.

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Ich bin in Berlin. Seit ein paar Tagen. Mit einer Nachtfahrt und noch neunzig Mark übrig. Damit muß ich leben, bis sich mir Geldquellen bieten. […] Und ich wohne bei Tilli Scherer in der Münzstraße, das ist beim Alexanderplatz, da sind nur Arbeitslose ohne Hemd und furchtbar viele.179

„Lichtbildkrater“ Mit der Überschrift „Kino in der Münzstraße“ bestimmt Kracauer das von ihm besuchte Kino namentlich nicht näher. Am Anfang geht er zudem allgemein auf die Kinos in der Münzstraße ein, die alle sehr ähnlich waren.180 Eines der bekannteren von diesen war das Pritzkow-Theater (siehe Abb. 26), das dessen Inhaber als ältestes Kino Berlins zu vermarkten versuchte.181 In Anbetracht der von Kracauer geschilderten Raumsituation ist es sehr wahrscheinlich, dass Kracauer dieses besucht hat.182 Kracauer beginnt die Beschreibung seines Besuchs mit Außeneindrücken. Es folgen eine Innenraumcharakterisierung des kleinen Münzstraßenkinos sowie Äußerungen zum Film und zum Pausengeschehen. Am Ende charakterisiert der Verfasser eindrücklich eine vor dem Kino wartende Frauengestalt. Kracauers Beitrag zeichnet sich durch genaue Beobachtungen aus; die Hauptcharakteristika der Münzstraße und des Kinos werden prägnant erfasst, wie ein Vergleich mit anderen Texten zeigt. Der Zuschauerraum wird von Kracauer als „unermeßlich lange[r] Schlauch“ beschrieben, der für die frühen Kinos in Berlin typisch war. Bei den ersten permanenten Kinos wollte man noch nicht das Risiko größerer Investitionen eingehen und legte schnell wieder kündbare Wohnungen oder Geschäftsräume im Erdgeschoss zu einem Zuschauerraum zusammen. Für dessen Form hat der Schriftsteller Leo Hirsch die schöne Formulierung „Lichtbildkrater“ gefunden.183 In Frankfurt war die Situation ähnlich, ein Kino dort charakterisiert Kracauer in seinem Roman Georg mit den Worten: „[I]m Zwielicht [des Kinos] […] schleppten sich die Stuhlreihen an tapezierten Wänden vorbei träg durch den Saal, der gar kein Saal war, sondern ein aus zwei ehemaligen Geschäftsräumen zusammengestoppelter.“184 Wie andere Autoren erwähnt auch Kracauer die schlechte Luft in dem Münzstraßenkino in seinem Beitrag 1932. Im Gegensatz zu den wenigen Ventilatoren in den Münzstraßenkinos gab es 179 Keun 1932, S. 67. – In nicht-fiktionalen Berichten werden ebenfalls die vielen Arbeitslosen beim Alexanderplatz erwähnt (siehe Günther 2010). 180 Auf die Ähnlichkeit der Tageskinos in der Münzstraße wird auch in anderen Quellentexten hingewiesen (z. B. Sabelus/Wietschorke 2015, S. 139). – Leo Hirsch warnt jedoch auch vor Verallgemeinerungen: „Im übrigen sind Regeln natürlich nicht aufzustellen, es gibt wohl 350 Kinos in Berlin, und jedes hat nicht immer das gleiche Publikum.“ (Hirsch 1927.) 181 Laut Sabelus gehörte das Pritzkow-Theater zu den ersten Kientopps in Berlin – Sabelus/Wietschorke 2015, S. 168. 182 Kracauer erwähnt z. B. ein Büffet, das im Pritzkow-Kientopp vorhanden war. Im Münz-Theater gab es dagegen hinten anscheinend einen Erfrischungsraum (siehe Sabelus/Wietschorke 2015, S. 138). Kracauer erwähnt jedoch nicht den zweiten Kinoraum, mit dem das Pritzkow-Theater nach der Anfangsphase erweitert worden war (Hänsel/Schmitt 1995, S. 111). 183 Hirsch 1927. 184 SKS 7, S. 428.

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in den neueren großen Kinos moderne Belüftungsanlagen und zusätzlich ließ man z. B. im Ufa-Palast am Zoo in den Pausen einen elektrischen Zeppelin mit Eau de Cologne durch den Zuschauerraum gleiten.185 Kracauer merkt an, dass die Besucher in „Jacken und dünne Mäntel“ gekleidet sind. Sie behalten diese somit während der Vorführung an. In den großen teureren Kinos sind sie dagegen an der Garderobe abzugeben. Dort wird in den Pausen auch nichts zum Essen angeboten. Im Münzstraßenkino sind jedoch „[s]eine Waren [die des Büfett-Kellners] … stärker erfragt als in den feinen Kinos, die allerdings zu fein sind, um richtige Pausen einzuschalten.“186 Denn in den großen Lichtspieltheatern versuchte man, Pausen zu vermeiden, indem man beispielsweise mit mehreren Projektoren arbeitete.187 Für das leibliche Wohl wurde dort in angrenzenden Restaurants gesorgt. Die vier Münzstraßenkinos hatten sich die Umstellung auf die Tonfilmprojektion Anfang der 1930er Jahre zumindest leisten können.188 Für viele kleine Kinos war eine solche größere Investition zu hoch gewesen und sie mussten schließen. Trotzdem war die Ton- als auch die Bildqualität in dem von Kracauer behandelten Kientopp in der Münzstraße sehr schlecht.189 Der Journalist Erich Preuße macht ebenfalls auf ein die Augen schmerzendes „Regnen“ der Bilder in einem Münzstraßenkino aufmerksam (siehe Anhang B.1).190

Das Kientopp als Wartesaal Laut Kracauer war das Alt-Berliner Kientopp selbst an einem sonnigen Frühlingstag schon gut besucht; im Winter war es noch voller, da es dann auch als „Wärmehalle“ diente.191 Zwar wurde im Gegensatz zu anderen kleinen Kinos während des Films nicht gesprochen, nach Kracauers Ansicht konnte man wegen des Geräuschpegels trotzdem nur in den Pausen schlafen, wenn der Film nicht lief. Dies widerspricht jedoch den Eindrücken mehrerer anderer Autoren, die das Kino als „Schlafstelle“ für diejenigen charakterisieren, die es sich leisten konnten.192 Eine Charakterisierung als Wartesaal passt jedoch besser zu der Hauptintention des Textes von Kracauer. Denn er wollte veranschaulichen, dass das Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess die Beschäftigungslosen zu einer demoralisierenden Wartehaltung auf eine

185 186 187 188 189 190 191 192

Preuße 1932; Hirsch 1927. SKW 6:3, S. 49. Melnick 2012, S. 101. In einem von Erich Preuße besuchten Münzstraßenkino wurde der Tonfilm zwischen Sommer 1931 und Sommer 1932 eingerichtet – Preuße 1931 sowie ders. 1932. Siehe allgemein Bullerjahn 2013, S. 131. SKW 6:3, S. 48. „Der Vorführungsapparat surrt, auf der Leinwand regnet es, daß einem die Augen weh tun beim Hinsehen.“ – Preuße 1932. Fürst 2004, S. 351f. Siehe die Charakterisierung des Münzstraßen-Kinos als „Schlafstelle“ bei R. E. [Kürzel] 1929. Sie verwendet auch der Schriftsteller und Sozialarbeiter Ernst Haffner in einem Roman, der etwas später als Kracauers Feuilleton publiziert wurde – Haffner 2015 (Erstveröffentlichung unter dem Titel Jugend auf der Landstraße Berlin bei Bruno Cassirer in Berlin 1932), S. 127, S. 130. Siehe auch Fürst 2004, S. 352.

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27  Walter Ballhause, Arbeitslose vor dem Arbeitsamt, H ­ annover, 1931, ­Silber­gelatine-Abzug, 23,5 × 34 cm, Walter-Ballhause-­Archiv, Plauen.

nicht abzusehende Wirtschaftsverbesserung drängt. Auf das hoffnungslose Warten der Erwerbslosen hat Kracauer schon in seinen Feuilletons über andere Räume der Arbeitslosen hingewiesen.193 So nimmt er darauf ebenfalls im Münzstraßenkino-Artikel Bezug mit seiner Feststellung, dass das Büfett des Kientopps „den Raum zum Wartesaal stempelt. E[s] hat keine Farbe mehr und gleicht den Sälen der Arbeitsnachweise und Wärmehallen aufs Haar.“194 Bei Kracauers Schwerpunktsetzung auf das Warten lassen sich zudem Parallelen zu sozialkritischen visuellen Zeugnissen der Zeit feststellen. So sind in der Arbeiterfotografie, die einen alternativen Blick zur bürgerlichen Fotografiekultur bieten wollte,195 ebenfalls Darstellungen von wartenden Arbeitslosen zu finden. Mehrmals ist das Motiv beispielsweise von Walter Ballhause abgelichtet worden (Abb. 27).196 Neben dem Motiv des Wartens prägen die von Kracauer erwähnte missmutige Stimmung und die Tristesse des Arbeitslosendaseins auch Karl Hofers Gemälde einer kleinen Gruppe von Arbeitslosen, die sich am Wegesrand zwischen Gestrüpp niedergelassen haben (Abb. 28, Taf. VI). Die Trostlosigkeit wird dort noch 193 Kracauers geht in seinem Text über Arbeitsnachweise z. B. auf das deprimierende Warten der Erwerbslosen ein: „Mir ist nicht eine Örtlichkeit bekannt, in der das Warten so demoralisierend wäre.“ – SKW 5:3, S. 253, siehe auch ebd., S. 471. 194 SKW 6:3, S. 49. 195 Naumann 2013. 196 Ein Beispiel für die Motivbehandlung ist: Walter Ballhause, Arbeitslose vor dem Arbeitsamt, Hannover, 1931, Silbergelatine-Abzug, 23,5 × 34 cm, Plauen, Walter Ballhause-Archiv. – Die Fotografie wurde auch als Einbandmotiv für die Publikation Überflüssige Menschen. Fotografien und Gedichte aus der Zeit der großen Krise (Leipzig: Reclam 1981) gewählt. Weitere Aufnahmen Ballhausens von Wartenden sind zu finden in Wiechers 2016, u. a. S. 84–89.

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28  Karl Hofer, Arbeitslose, 1932, Öl auf Leinwand, 167 × 172 cm © Bild­ recht, Wien 2021.

durch die blätterlosen, scheinbar abgestorbenen Baumzweige verstärkt. Es ist allerdings blanker Hohn, dass dieses Bild von Hofer sehr lange im Speisesaal einer Bank hing, die 80 Jahre nach der Entstehung des Gemäldes eine weitere Weltwirtschaftskrise und das jahrelange Warten Millionen neuer Beschäftigungsloser mit zu verantworten hat.197 Kracauer lenkt schon zu Beginn seines Feuilletons den Blick darauf, dass sich die Arbeitslosigkeit auch körperlich auswirkt. In der Münzstraße sei keine Großstadthektik anzutreffen, sondern die seelische Last der Arbeitslosigkeit führe zu einem langsamen Gang.198 Dies stellt eine Parallele zu der 1933 veröffentlichten Studie über die Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel in dem österreichischen Dorf Marienthal dar. Nach der Schließung einer Fabrik im Jahr 1930 waren im österreichischen Marienthal im Dezember 1931 von 478 Familien 367 ohne Beschäftigung. Bei den Marien­ thaler Beschäftigungslosen wurden ebenfalls eine geringere Gehgeschwindigkeit und ein häufigeres Stehenbleiben beobachtet.199 Kracauer verweist zudem darauf, dass die Beschäftigungslosen keinem unbeschwerten Müßiggang im Kino wie die finanziell besser gestellten Menschen in den Filmpalästen frönen, sondern dass es sich um eine „erzwungene“ Freizeit handelt, die schwer zu ertragen ist.200 Entgegen der Ansicht des Schriftstellers Franz Hessel

197 United States Senate 2011, siehe u. a. S. 330–375, siehe auch Kaiser 2016 – Das Gemälde von Hofer befand sich von 1986–2020 im Besitz der Deutschen Bank (Schreiber 2020). 198 SKW 6:3, S. 47. 199 Jahoda et al. (1933) 2018, S. 83f. 200 SKW 6:3, S. 48.

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29  Paramount-Kino, Ende der 1920er Jahre, Paris, Fotopost­karte, FotografIn unbekannt.

ist somit urbane Flanerie in der Münzstraße 1932 „kein Schatz der Armen“, sondern ein belastendes Ausfüllen freier Zeit.201 Als Beispiel für die großen Filmpaläste, in denen ein freiwilliger Müßiggang gepflegt wird, führt Kracauer ein französisches Prachtkino an – nämlich das „Paramount“ in der Nähe der Pariser Oper (Abb. 29).202 Dieser „lichtübergossene Prunkpalast, der lauter Novitäten bringt und dazwischen bunte Ensembleszenen,“203 wurde im November 1927 in Paris eröffnet. Kracauer fühlt sich an diesen wegen der ähnlichen Öffnungszeiten erinnert.204 Er betont jedoch, dass er wegen der Unterschiede „eigentlich mit den Lokalen und dem Alexanderplatz nicht in einem Atem genannt werden darf“.205 Aufgrund der luxuriösen Ausstattung, eines Orchesters und der 1920 Sitzplätze galt das Paramount-Kino als „Ritz der Pariser Kinos“.206 Beworben wurde es als „le plus beau cinéma d’Europe“.207

201 Hessel 1987, S. 107, vgl. Neumeyer 1999, S. 327. – Zu weiteren Unterschieden zwischen Kracauer und Hessel siehe auch weiter unten. 202 SKW 6:3, S. 48. Das ehemalige Kino „Paramount“ heißt heute „Gaumont Opéra“. 203 Ebd. 204 In Paris und New York waren Filmaufführungen auch in den großen Lichtspieltheatern in den 1920er Jahren lukrativ, da das Kinopublikum dort noch zahlreicher als in Berlin war. 205 Ebd. 206 Anon. o. D. 207 Zeitungsanzeige zur Ankündigung der Eröffnung des Paramount-Kinos, ca. November 1927, Erscheinungsort unbekannt, aufbewahrt in der Bibliothèque historique de la Ville de Paris, Sammlung Online (Paris, théâtre du Vaudeville, 2 boulevard des Capucines. Dossier iconographique, Paris, Sign. 1-EST-

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Kracauer im Tageskino in der Berliner Münzstraße 1932

Kracauers Bezugnahme auf dieses luxuriöse Großkino verdeutlicht indirekt die ungerechte Gesellschaftsstruktur. Denn die Arbeitslosen konnten sich auch die günstigen Massenfreizeitvergnügen nur noch selten leisten. So wurde der Eintritt ins Kino von ihnen sehr gut überlegt, selbst wenn Erwerbslose mit einem entsprechenden Ausweis nur 50 Pfennig bezahlen mussten. Laut der Angaben in einem zeitgenössischen Reiseführer kostete der Kinoeintritt sonst 1 bis 6 Mark, für 2,5 Mark bekam man einen guten Platz.208 Kracauer macht indirekt deutlich, dass sich die Beschäftigungslosen selbst den niedrigen Eintrittspreis von 50 Pfennig regelrecht vom Mund absparen müssen. Denn anstatt eines richtigen Mittagessens würden laut Kracauer einige wohl nur ein Dessert in der Kinopause zu sich nehmen. Auch in anderen Beiträgen wird deutlich, dass der Kinobesuch für Erwerbslose etwas Besonderes war. In Erich Preußes leider zu Unrecht in Vergessenheit geratenem Vorwärts-Beitrag über einen jungen Beschäftigungslosen im Scheunenviertel leistet sich der Protagonist den Kinoeintritt nur übermütig am Zahltag der Wohlfahrtshilfe (siehe Anhang B.1).209 Denn die von ihm bezogene Unterstützung ist generell zu knapp bemessen und an den letzten Monatstagen wird kein Geld für Nahrungsmittel übrig sein.210 Die durchschnittliche Arbeitslosenunterstützung deckte nach der Juni-Notverordnung 1931 nicht einmal die Hälfte des Lebenserhaltungsminimums ab, die Krisenfürsorge und die Wohlfahrtserwerbslosenfürsorge machten davon sogar nur ein Drittel aus.211 Nur kurz nach Kracauers Textpublikation und dem Höhepunkt der Not wurden zudem im Mai 1932 die Arbeitslosenleistungen sowie die Kranken- als auch die Rentenversicherungsleistungen erneut reduziert. Kracauers Analysen der Räume der Erwerbslosen zeichnen sich grundsätzlich durch eine sehr respektvolle Haltung gegenüber den Menschen ohne Arbeit aus. Er verzichtet auf Vorurteile und respektlose Formulierungen in anderen deutschen Zeitungsartikeln wie z. B., dass die Arbeitslosen „zu faul“ wären oder dass sie „dort [herum]bummeln“ würden.212 Aussagekräftig für Kracauers politisch linke Einstellung ist ebenfalls, dass er den gesellschaftlichen Verhältnissen und nicht den Arbeitslosen selbst die Schuld an ihrer Situation gibt. So verwendet er dezidiert eine passivische Formulierung bei der Feststellung, dass sie „ausgebootet“ 02143), https://bibliotheques-specialisees.paris.fr/ark:/73873/pf0002004193/0014/v0001.simple.selectedTab=otherdocs (Abruf 2.6.2019). 208 Chancellor 1929, S. 96. 209 Preuße 1931 (teilweise wird der Nachname auch „Preusse“ geschrieben). – Der kulturhistorisch wichtige Text von Preuße fehlt leider in Esther Sabelus und Jens Wietschorkes Publikation zu den Kinos im Berliner Osten – vgl. Sabelus/Wietschorke 2015. Über Erich Preuße konnten bislang keine Informationen ermittelt werden. Im Berliner Adressbuch ist er nicht verzeichnet. Der Journalist kann nicht identisch mit dem gleichnamigen Verfasser einer juristischen Dissertation sein, denn dieser ist als Referendar in Danzig tätig, legte sein Doktorexamen an der Universität Göttingen ab und nennt in seiner Vita keinen Bezug zu Berlin (siehe Erich Preusse, Die Behandlung des Pfanderlöses, Danzig: Carl Bücker 1932, S. 61). Unter dem Namen konnten bislang nur einige wenige andere Texte im Vorwärts und im Simplicissimus sowie im Sozialdemokratischen Pressedienst ermittelt werden; eine Suche nach Texten unter einem passenden Kürzel ist noch ausstehend. Vielleicht handelt es sich bei dem Namen auch um ein Pseudonym. 210 Ebd. 211 Siehe von Saldern 1992, Anm. 12. 212 R. E. [Kürzel] 1929. – Anon. 1931.

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worden seien.213 Ohne die Beschäftigungslosen zu beleidigen, macht Kracauer zudem auf ihre prekäre Lage aufmerksam. Er kritisiert die ungepflegten alten Räumlichkeiten und die euphemistische Logenplatzbenennung.214 Während er die Arbeitsnachweise als „Rumpelkammer“ enttarnt hat, desavouiert Kracauer das Kino nur in einem Nebensatz als „Stall“, in dem das von ihm personifizierte Büfett „haust“. Damit weist Kracauer weitaus diffiziler auf die Mängel als z. B. der Verfasser eines Vorwärts-Textes über das Berliner Scheunenviertel aus dem Jahr 1929 hin. In Letzterem wird nur das Wort „Vergnügungsstätten“ in Anführungszeichen gesetzt, um infrage zu stellen, ob es sich bei diesen um schöne Freizeitorte handelt.215 Kracauer zeigt konkret auf, dass in dem unzureichenden Refugium in der Münzstraße die beschäftigungslose Menschenmasse ohne genügend Nahrung dahinvegetiert und geistig nur mit sehr dürftiger, leichter Unterhaltungskost versorgt wird. Es ist daher auch bezeichnend, dass Kracauer die Menschen als „Jacken und Mäntel“ verdinglicht. So macht er kritisch darauf aufmerksam, dass die Wirtschaftskrise psychisch und physisch nicht viel mehr als die schlechte abgetragene Kleidung bei dem arbeitslosen Kinopublikum übrig gelassen hat.

Kracauers imaginierte Hans-Albers-Filmhandlung – Journalistisches Fake oder literarisch wertvoll? In der Weimarer Republik unterschieden sich die kleinen Kientopps von den großen Filmpalästen nicht nur durch das Ambiente, sondern teilweise auch durch die gezeigten Filme. Denn in den Uraufführungskinos wurden u. a. Literaturverfilmungen gezeigt, an denen die Gäste der Kinos in Alt-Berlin und den Vorstädten weniger interessiert waren. In den Münzstraßenkinos wurden häufig Verbrecher- und Liebesgeschichten sowie Schauerdramen aufgeführt.216 Die Filme mit Hans Albers waren Anfang der 1930er sowohl in den Lichtspieltheatern als auch in den kleinen Kinos beliebt, wie Kracauer 1947 konstatiert: „Jeder Albers-Film brachte volle Häuser in den proletarischen Vierteln wie auch auf dem Kurfürstendamm. Dieser menschliche Dynamo mit dem goldenen Herzen verkörperte im Film, was jeder im Leben gern wäre.“217 In seinem Text von 1932 über das Münzstraßenkientopp führt Kracauer an, dass ein Film mit Hans Albers gezeigt worden sei, in dem auch Heinz Rühmann mitspielt.218 Damit kann es sich bei dem während Kracauers Besuch des Münzstraßenkinos gezeigten Film eigentlich nur um die Ufa-Filmoperette Bomben auf Monte Carlo (Abb. 30) handeln, denn Anfang der

213 214 215 216 217 218

SKW 6:3, S. 49. Ebd., S. 48f. Vgl. R. E. [Kürzel] 1929. Anon. 1926; Anon. 1930; Sabelus / Wietschorke 2015, S. 139. Kracauer (1947) 1999, S. 224f. Es ist wohl davon auszugehen, dass Kracauer den „schmächtigen Rühmann“ (SKW 6:3, S. 49) eindeutig identifiziert, da dieser durch Die Drei von der Tankstelle (R: Wilhelm Thiele, Deutschland 1930) sehr bekannt geworden war.

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Kracauer im Tageskino in der Berliner Münzstraße 1932

30  Hans Albers in Bomben auf Monte Carlo, Cover des ­Illustrierten Film-Kuriers, Nr. 285.

1930er Jahre drehte Albers keinen anderen Film mit Rühmann.219 Da in seinem Essay der Kinoraum und nicht der Film im Vordergrund steht, äußert Kracauer keine detaillierte Kritik über den Albers-Film. Bomben auf Monte Carlo hat er in der FZ am 10.10.1931 auch schon ausführlich besprochen, da er ihn als exemplarisch für die kommende Ufa-Saison erachtet. Sehr kritisch schätzt Kracauer Albers Rolle und deren Charakterlosigkeit ein, denn mit dieser würde „dem blinden Triebleben de[r] Primat vor der Vernunft“ erteilt werden.220 In dem Text zum Kino in der Münzstraße erwähnt Kracauer nur kurz den „rohen“ Humor des Films, da wie schon angeführt sein Fokus auf dem Kinoraum liegt. Er zeigt allerdings Verständnis, dass die Erwerbslosen in ihrer hoffnungslosen Lage des derben Ulks wie eines „Medikament[s]“ bedürfen.221 Kracauer verändert jedoch die Handlung des Films. Zwar ist eine Badewannenverwendung in damaligen Filmen sehr weit verbreitet222 und im späteren Film Der Mann, der Sherlock Holmes war mit Rühmann und Albers aus dem Jahr 1937 anzutreffen.223 In Bomben auf 219 Bomben auf Monte Carlo, R: Hanns Schwarz, Deutschland 1931, siehe auch SKW 6:3, S. 50 (siehe dort Anm. 2). Die kleinen Alt-Berliner annoncierten anscheinend nicht ihr Programm in Zeitungen. – Erst 1937 kam mit der deutschen Produktion Der Mann, der Sherlock Holmes war (R: Karl Hartl) wieder ein Film in die Kinos, bei dem Rühmann und Albers gemeinsam auf der Leinwand zu sehen waren. 220 SKW 6:2, S. 535. 221 In anderen Texten setzt Kracauer den Vergleich mit einem Medikament sonst ablehnender ein, z. B.: „Wie ein Medikament wird die gute alte Zeit der neuen eingeflößt, der es dadurch sicher nicht besser geht.“ (SKW 6:2, S. 480.) 222 Zur Badewanne in den damaligen Massenmedien siehe auch Rühse 2016, S. 170. 223 Der Mann der Sherlock Holmes war, R: Karl Hartl, Deutschland 1937.

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31  Einzelbild aus Bomben auf Monte Carlo (R: Hanns Schwarz, Deutschland 1931; 5:46/1:40:58).

Monte Carlo ist jedoch keine Badewannenszene integriert.224 Rühmann und Albers fangen in einer Hängematte Streit an und prügeln sich dann an Deck weiter (Abb. 31–32). In der von Kracauer erdachten Szene würde Albers Rühmann untertauchen, was natürlich sehr passend zu der von Kracauer bemängelten unfeinen Komik ist. In Bomben auf Monte Carlo unternimmt Hans Albers am Ende des Films auch keine Autofahrt. Eine solche ist jedoch in dem früheren Film Die Nacht gehört uns mit ihm in einer der Hauptrollen aus dem Jahr 1929 zu finden.225 Mit dem von Kracauer in Anlehnung an einen anderen Film ersonnenen Finale wird der Kontrast zu den auf Arbeit wartenden Beschäftigungslosen im Zuschauerraum und vor dem Kino unterstrichen. Die anscheinend teilweise von Kracauer veränderte Filmhandlung ist gleichsam „idealtypisch“ entworfen und an die Gesamtargumentation angepasst.226 Da die Story zu dem Stil der Filme von Hans Albers passt, würde man sie nicht rigoros als gefälscht kritisieren. Auch hat Kracauer das Münzstraßenkino tatsächlich besucht. Die Vermischung von Journalismus, Soziologie und Literatur ist generell konstitutiv für die Qualität seiner Arbeiten.227 Allerdings hätte man die imaginierte Filmhandlung in dem dokumenta224 Eine Badewannenszene ist zumindest nicht in der heute verfügbaren 101-minütigen DVD-Fassung des Films enthalten (Koch Media 2009). 225 Die Nacht gehört uns, R: Carl Froelich, Deutschland 1929. 226 In der Forschung sind die Abweichungen von der in Kracauers Text wiedergegebenen Filmhandlung zu der 101-minütigen Version bislang noch nicht thematisiert worden. In der neuen Werkausgabe wird nur vermutet, dass es sich bei dem von Kracauer gemeinten Film um Bomben auf Monte Carlo handeln könne, ohne dies weiter auszuführen – SKW 6:3, S. 50 (siehe dort Anm. 2). Diese Annahme wurde übernommen in Sabelus/Wietschorke 2015, S. 135 (mit Anm. 134). In dem Quellenband The Promise of Cinema wird der Film ohne weitere Diskussion als Bomben auf Monte Carlo identifiziert – vgl. Kaes 2016, S. 177 (siehe dort Anm. 4). 227 Siehe u. a. Stalder 2003, S. 203–222; Mülder 1985, S. 115–124.

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32  Einzelbild aus Bomben auf Monte Carlo (R: Hanns Schwarz, Deutschland 1931; 09:22/1:40:58).

rischen, reportageartigen Text nicht erwartet, auch wenn der Kinoraum und nicht der Film im Vordergrund steht. Denn Kracauer hat eine Sammlung detaillierter Aufzeichnungen von Filmhandlungen erstellt, die in seinem Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach bewahrt wird.228 Heute, nach der jüngsten Debatte um die überwiegend oder nur teilweise gefälschten Reportagen von 2010–2018 des Journalisten Claas Relotius, von denen viele im Wochenmagazin Der Spiegel erschienen sind, hätten solche fiktionalen Textelemente wohl keinen Raum mehr in Zeitungsartikeln. In der Wochenzeitung Die Zeit wurde 2018 daher rigoros von dem stellvertretenden Chefredakteur Holger Stark statuiert: „Aber es gibt keinen Borderline-Journalismus, es gibt nur Journalismus oder Literatur. Wer fälscht, der betrügt: den Leser, die beschriebenen Menschen, die Kollegen.“229 Generell ist diese Forderung begrüßenswert, denn Relotius wollte mit seinen schön und gut geschriebenen Fakes beeindrucken und Journalistenpreise einheimsen. Kracauer war es dagegen Anfang der 1930er Jahre ein Anliegen, seine Mitmenschen aus der Zerstreuung aufzurütteln und auf soziale Probleme aufmerksam zu machen. In Kracauers „Kino in der Münzstraße“ profitiert von dem kleinen Schwindel das Hauptthema, da das zermürbende Warten der Arbeitslosen so nochmals herausgestellt werden kann.

228 Ausschnitte aus Kracauers sog. „Kollektion“ von Filmaufzeichnungen wurden 2018/9 bei der Ausstellung Kino der Moderne. Film in der Weimarer Republik präsentiert – Bundeskunsthalle 2018, S. 142 (Kat.Nr. 464); siehe auch z. B. die in Rühse 2015 und in Kapitel VI genannten Filmexzerpte von Kracauer. – Kracauers Aufzeichnungen zu Filmhandlungen für seine „Kollektion“ beginnen allerdings erst in den 1930er Jahren. 229 Stark 2018.

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Eine literarische Melancholia im Jahr 1932 Die Stagnation und Passivität der Beschäftigungslosen betont Kracauer erneut im Schlussbild seines Textes „Kino in der Münzstraße“. Das für den Text zentrale Wartemotiv kulminiert in der von Kracauer eindringlich beschriebenen, vor dem Kinoeingang wartenden Frau.230 Auch in einem anderen Zeitungsartikel werden herumstehende Mädchen erwähnt, die von einem Kavalier mit ins Münzstraßen-Kino genommen werden.231 Kracauer konnotiert die Wartende am Textende nicht als verrucht, wie es zu einigen Frauen, die sonst in der Münzstraße verkehrten, gepasst hätte. In einem anderen Text kritisierte Kracauer, dass so gutbürgerliche Phantasien bedient werden, was er selbst vermeidet. Er betont, dass es sich um eine ganz normale Frau und nicht um eine Prostituierte handelt. Ebenfalls wird die vollkommene Apathie herausgestellt: Vor dem Kinoportal steht eine Frau im imitierten Pelz und kaut. Lautlos kaut sie, sieht weder nach rechts noch nach links und wartet. Sie ist in mittleren Jahren, eine gewöhnliche Frau, die nichts zu tun hat und darum einfach irgendwo am Straßenrand stehen bleibt. Wenn nicht einer kommt und sie ins dunkle Kino mitnimmt, kaut sie sicher noch bis in die Nacht hinein, am selben Fleck, und die Sonne zieht unverrichteter Dinge wieder ab.232

Die Frau wird so gleichsam zu einer Allegorie für die Arbeitslosen, die vorher im Kino beschrieben worden sind, sowie für deren erzwungenen Müßiggang, die Sinnleere, Resignation und stille Verzweiflung angesichts der andauernden Beschäftigungslosigkeit.233 Die Sonnenthematik dient bei Kracauer in anderen Texten u. a. als Ausdruck der Utopie.234 In seinem Text über das Münzstraßenkino symbolisiert das Bild der wirkungslosen Sonne einerseits die fehlende sinnvolle Tagesgestaltung und das vollkommen mangelnde Lebensglück. Andererseits akzentuiert es die fehlende geistige Aufklärung, die den durch die Arbeitslosigkeit verdunkelten Geist der Arbeitslosen nicht erhellt. Damit knüpft Kracauer an die traditionelle Aufklärungssymbolik des ‚Lichts der Vernunft‘ an. Die Lichtsymbolik ist auch in der englischen und der französischen Bezeichnung der Aufklärung enthalten: ‚enlightenment‘ bzw. ‚les Lumières‘. Die Sonne als Aufklärungssymbol ist z. B. daher im Jahr 1791 von Daniel Chodowiecki in seine Radierung Aufklärung eingebracht worden.235

230 SKW 6:3, S. 49. 231 Anon. 1931. 232 SKW 6:3, S. 49. 233 In ähnlicher Weise kritisiert Kracauer, dass „materielle Not, erzwungener Müßiggang, Sinnleere und Unabsehbarkeit eines Wandels“ bei drei arbeitslosen Jugendlichen förderliche Bedingungen für ein Verbrechen gewesen seien – Kracauer 1996, S. 167. 234 Vgl. SKW 6:3, S. 188: „Denn die Sonne des Glücks zerstört alle Konturen.“ 235 Daniel Chodowiecki, Aufklärung [Landschaft mit Sonnenuntergang], 1791, Radierung, 8,7 × 5,1 cm, aus der Folge Sechs grosse Begebenheiten des vorletzten Decenniums (E. 661), erschienen im Göttinger Taschenkalender 1792. – Für weitere Informationen zu dieser Grafik siehe im Hof 1995, besonders S. 11–14.

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Die Frauengestalt am Ende des Kientopp-Textes erinnert auch an ein Feuilleton, das Kracauer 1926 veröffentlicht hat.236 In diesem gestaltete er eine beinahe regungslose weibliche Person vor einem Marseiller Café als „graue Mahnfigur, mit verschränkten Armen“ als Symbol für die dunklen Abgründe der Hafenstadt.237 Eine ähnliche Frauengestalt sollte er mit neuen Konnotationen in das Schlusskapitel seines 1928 veröffentlichten Romans Ginster integrieren, in dem sie als Allegorie der von der Gesellschaft unbewältigten Probleme u. a. durch den Ersten Weltkriegs fungiert.238 1932 wird die Frauengestalt in „Kino in der Münzstraße“ jedoch als Mahnmal der physischen und psychischen Auswirkungen der andauernden hohen Arbeitslosigkeit gestaltet. Sie wirkt wie eine moderne literarische Melancholia-Allegorie. Kracauer hat sich in seinem Werk häufiger von Albrecht Dürers Melencolia I inspirieren lassen,239 wie Manuela Günter aufgezeigt hat: „Als geschichtsphilosophische Figur kehrt – transformiert – Dürers Melencolia I in verschiedenen Texten Kracauers wieder.“240 Albrecht Dürers Grafik war von Walter Benjamin in der Schrift Ursprung des deutschen Trauerspiels besprochen worden, die Kracauer 1928 rezensierte.241 Kracauers Text über das Kino in der Münzstraße ist eine wichtige historische Quelle, da die Besucher in den Arbeiterkinos selten detaillierter behandelt wurden.242 Bislang waren von BesucherInnen der Münzstraßenkinos nur wenige Einzelzeugnisse bekannt, die teilweise aus fiktionalen Texten stammen. Von dem Schriftsteller Max Fürst existiert ein Erinnerungsbericht aus der Retrospektive, in dem er sich an die Kinobesuche während der Weltwirtschaftskrise positiv erinnert: „Abgelenkt von den Vorgängen im Film, die mich einmal nichts angingen, wurde ich wieder hellwach für die Sorgen meiner Freunde.“243 Fürst ist jedoch nicht als repräsentativer Besucher anzusehen, da er zwar arbeitslos, aber durch Parteiarbeit sehr ausgefüllt war und einen höheren Bildungsgrad als die anderen Besucher hatte. In dem sozialkritischem Roman Jugend auf der Landstraße von dem Schriftsteller und Sozialarbeiter Ernst Haffner, der sich gut in dem Milieu auskannte, bietet der Kinobesuch für arbeitslose Jugendlichen eine sehr positive Ablenkung.244 Die Disposition der Jugendlichen und jungen Arbeitslosen unterschied sich allerdings von den älteren Arbeitslosen. In Erich Preußes Text verspürt ein

236 SKW 5:2, S. 464f. („Die Frau vor dem Café“, FZ, 13.9.1926). 237 Ebd., S. 465. 238 Die gespenstische Frau trägt ostentativ „Kriegermedaillen auf der Brust“ von ihrem Sohn oder ihrem Mann (SKS 7, S. 241f.). – Das letzte Kapitel des Romans Ginster wurde von Adorno bemängelt und bei der Neuausgabe des Romans 1963 fortgelassen – Später 2016, S. 558. 239 Albrecht Dürer, Melencolia I, 1514, Kupferstich, 24,1 × 19,1 cm, New York, Metropolitan Museum of Art, Inv.-Nr. 43.106.1. 240 Günter 1996, S. 97. – Günter führt Kracauers „Kino in der Münzstraße“ jedoch nicht als Beispiel an. 241 Benjamin (1925) 1991, S. 319f., S. 326–329; SKW 5:3, S. 35–41. 242 Ein studentischer Mitarbeiter, der für die „Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost“ (SAG) einen Kurzbericht zu den Münzstraßenkinos erstellte, wies darauf hin, dass zur Wirkung der Filme auf die Besucher noch weitere Studien notwendig seien – Sabelus/Wietschorke 2015, S. 139. 243 Fürst 2004, S. 351f. 244 Der Roman erschien 1932 bei Bruno Cassirer in Berlin und erneut 2015 unter dem Titel Blutsbrüder – Haffner 2015, S. 130–132.

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junger Besucher des Münzstraßenkinos anschließend eine undefinierbare Wut. Ein solcher Groll konnte ein Nährboden für politische Propaganda von links, aber auch von rechts sein.

Apathie der Beschäftigungslosen Auf die von Kracauer herausgestellte, durch die Arbeitslosigkeit verursachte Depression und Passivität im Münzstraßenkino wurde auch im Jahrbuch des deutschen Metallarbeiter-Verbandes 1932 aufmerksam gemacht.245 Genauer untersucht wurde die soziale Befindlichkeit in der schon angeführten Studie Die Arbeitslosen von Marienthal […]. Insbesondere die Beobachtung der Apathie und des fehlenden Engagements decken sich mit Kracauers Charakterisierung der Arbeitslosen. Damals war dies eine bedeutende Erkenntnis – für die die Studie über die Marienthaler Bevölkerung mit durchführende Sozialpsychologin Marie Jahoda im Rückblick sogar die wichtigste.246 Denn so wurde deutlich, dass von den Erwerbslosen in niedrigen Schichten kein Aufstand und keine radikale Umgestaltung der Gesellschaft mehr zu erwarten war. In ähnlicher Weise verwies 1931 Marie Hirsch schon in den Neuen Blättern für den Sozialismus darauf, dass der Arbeitslose keinen sinnvollen politischen Einsatz mehr leisten kann, da „dem politischen Angriffs- und Gestaltungswillen der Ansatzpunkt fehle.“247 Mit dem Herausstellen der Apathie der Beschäftigungslosen in dem Text über das Münzstraßenkino ergänzt Kracauer so seinen früheren Text über die Wärmehallen. In diesem wurde schon deutlich, dass von den Beschäftigungslosen kaum ein Aufbegehren mehr zu erwarten ist.248 Kracauers Position kann so zu der weiterhin andauernden Forschungsdiskussion beitragen, inwieweit die Arbeitslosigkeit den damaligen Wahlsieg der Nazis unterstützt hat. Der ebenfalls an der Untersuchung der Marienthaler Beschäftigungslosen beteiligte Soziologe Paul Lazarsfeld betonte beispielsweise, dass „die apathisierende Wirkung der totalen Arbeitslosigkeit … rückblickend verstehen [hilft], warum die Führer-Ideologie des heraufziehenden Nationalsozialismus so erfolgreich war.“249 Der Fotograf Walter Ballhause versuchte, diese passive Disposition der Erwerbslosen ins Bild zu bringen. In seiner Aufnahme „Resignation und Diskussion“ wählt er jedoch keine Frau, sondern einen schlecht gelaunt wirkenden Mann als Protagonisten (Abb. 33).250 Hinter diesem sollen sich zur SPD und KPD gehörende Arbeiter über das politisch sinnvolle Vorgehen streiten. Der mürrisch dreinblickende Mann im Vordergrund habe laut dem Fotografen dagegen beschlossen, keine der Parteien mit seiner Stimme weiterhin zu unterstützen.251

245 Metallarbeiter-Verband 1932. Vgl. auch Wiechers 2016, S. 14. 246 Jahoda/Kreuzer 1983, S. 11. 247 Hirsch 1931. 248 SKW 5:4, S. 423f. 249 Paul Lazarsfeld, Vorspruch zur neuen Auflage (1960), in: Jahoda et al. 2018, S. 11–23, hier S. 22f. 250 Walter Ballhause, Resignation und Diskussion, aus der Serie Arbeitslosigkeit, Hannover 1930, siehe Wiecher 2016, S. 15. 251 Ebd.

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33  Walter Ballhause, Resignation und Diskussion, aus der Serie Arbeitslosigkeit, 1930, Fotografie, Hannover, Walter-­ Ballhause-Archiv, Plauen.

Rückfall der Aufklärung in den Mythos Das besonders triste Ende von Kracauers Raumanalyse des Kinos scheint sowohl Kracauers Enttäuschung über die Entwicklung der Weimarer Republik als auch seine Desillusioniertheit angesichts der nicht erfüllten Hoffnung in das Kino als Aufklärungsinstanz zum Ausdruck zu bringen.252 Die immense soziale Not zeigte deutlich, dass die anfänglichen Hoffnungen der Weimarer Republik auf eine gerechtere Gesellschaft unerfüllt geblieben waren. Die Sozialpolitik war zwar verbessert worden, indem u. a. die Arbeitslosenversicherung und die Arbeitsvermittlung gesetzlich geregelt worden waren. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise konnten jedoch nicht mit diesen aufgefangen werden. Auch die Organisationen der Arbeiterbewegung konnten keine realisierbaren Konzepte entwickeln, um die Arbeitslosen vor der Pauperisierung zu bewahren.253 Für Kracauer bestand ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre die Hauptcrux des modernen Aufklärungsprozesses darin, dass sich dieser in einen leeren Formalismus verliere. In dem Aufsatz „Das Ornament der Masse“ (siehe auch Kapitel V.4, S. 210ff.) konstatiert Kracauer 1927, dass der Kapitalismus zwar eingehend, aber nur einseitig – nämlich technisch, industriell und ökonomisch – Rationalisierungsarbeit leiste. Der Mensch werde dabei nicht berücksichtigt, sondern er erstarre und werde verdinglicht. Die Vernunft sei so gleichsam verdunkelt, denn der „Grund des Menschen“ werde nicht berücksichtigt.254 Dem Natürlichen 252 Hansen 2012, S. 71. 253 Hemmer/Hindrichs 1981, S. 412. 254 Kracauer 1963, S. 57.

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werde so wieder Raum gewährt, d. h. Sozialität, zumal als Produktionsprozess, vollziehe sich naturwüchsig als Widerfahrnis und werde als unabänderlich dargestellt. Das mythologische Denken könne sich erneut äußern, u. a. indem die herrschenden Produktionsverhältnisse zu naturhaften verklärt werden. Der Kapitalismus rationalisiere somit „nicht zu viel, sondern zu wenig.“255 Kracauer plädiert dafür, dass das Denken die Natur wieder begrenzen und „den Menschen so herstell[en soll], wie er aus der Vernunft ist.“256 Im Jahr 1931 betont Kracauer ebenfalls in seinem Text „Minimalforderung an die Intellektuellen“, dass grundlegend für eine gesellschaftliche Änderung bislang immer zuerst die Revolution des Intellekts [gewesen sei], der die Gewalten, die das Bild des Menschen verhüllen, solange angreifen und blamieren wird, bis endlich die Menschen sich selber antreffen. Abbau der naturalen Mächte ist seine Mission.257

In seinem Text über das Münzstraßenkino macht Kracauer nur kurz auf ein kognitives Manko der Arbeitslosen aufmerksam, nämlich, dass das Bewusstsein der Nutzlosigkeit ihren Blick trübt und dass sie das Unterscheidungsvermögen verlieren würden. In dem zuvor veröffentlichten Text über die Arbeitsnachweise hat er dies noch ausführlicher beschrieben. Er bemängelt darin besonders, dass die Arbeitslosen die herrschenden Produktionsverhältnisse zu naturhaften verklären und dadurch auch so stark dem Fatalismus anheimfallen würden. Die Arbeitslosigkeit würde von ihnen wie eine Naturgewalt akzeptiert werden.258

Kino als Aufklärungsmöglichkeit vs. filmische Konfektionsware Gegen dieses Anheimfallen an zeitgenössische Mythen verfügt nach Kracauer das Kino über die Möglichkeit, als alternativen öffentlichen Raum den Aufklärungsprozess zu unterstützen.259 Auch 1932 gesteht Kracauer im Beitrag über das Münzstraßenkino den Arbeitslosen noch „geistige[n] Hunger“ zu.260 An anderer Stelle bemerkt er: „Denn die Menschen, die Brot und Arbeit fordern, wollen sich abends nicht nur zerstreuen, sondern auch erfahren, was um sie her vorgeht und lernen, wie sie das Leben anpacken sollen.“261 Signifikant ist in diesem Zusammenhang Kracauers Einbringen eines positiven Vergleichs in dem ansonsten sehr kritischen Text. Inmitten des langsamen Straßenstroms gleichen die Kinos mit ihren Filmankündigungen „schönen Uferpunkten, an denen sich das Publikum staut.“262 Anstatt der negativeren Charakterisierung der in den 1920er Jahren schon zum Stereotyp gewordenen „grellen 255 Ebd., Hervorhebung im Original. 256 Ebd. S. 63. Siehe auch Mülder 1985, u. a. S. 60–64; Steinmeyer 2008, S. 20–24. 257 Siegfried Kracauer, Minimalforderung an die Intellektuellen (Die neue Rundschau, Juli 1931), in: SKW 5:3, S. 601–606 (Nr. 582), hier S. 603 (Hervorhebung im Original). 258 SKW 5:3, S. 252. – Die „Abstumpfung des Unterscheidungsvermögens“ bei den Arbeitslosen führt Kracauer auch in anderen Texten an, z. B. in SKW 5:3, S. 471. 259 Siehe auch Hansen 2012, S. 6 sowie Kapitel III, S. 70. 260 SKW 6:3, S. 48. 261 SKW 6:2, S. 521. 262 SKW 6:3, S. 48.

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­ lakate“ der Berliner Arbeiterkinos263 nutzt Kracauer die freundlichere Bezeichnung „bunte P Bilderwände“ bei der Außenfassade. Von innen ist jedoch weder das Ambiente schön noch ist der Film ein Medikament von längerer Wirkung. Kracauer macht auf die dunklen „Hintergründe“ des Kinos und auf die Mankos des von ihm imaginierten typischen Films aufmerksam. Denn gezeigt werde „rohe[r] Spaß“. Ebenfalls werden bürgerliche Aufstiegsideologien mit der „glänzende[n] Karriere“ von Hans Albers im Film bedient, die jedoch fernab von der Lebensrealität der Beschäftigungslosen sind.264 Damit ist das gezeigte Kinoprogramm ein Paradebeispiel für die dominierende Filmproduktion Anfang der 1930er Jahre, die von Kracauer häufig und intensiv kritisiert worden ist. Insbesondere die Ufa bot damals Filme an, die sich zumeist in der Sphäre der reinen Unterhaltung bewegten und in erster Linie Zerstreuung boten.265 Die soziale Lage und die wirtschaftlichen Probleme wurden kaum thematisiert, Aufklärungsarbeit wurde nicht geleistet.266 An dem Film Bomben auf Monte Carlo bemängelte Kracauer insbesondere die Charakterlosigkeit des Helden, mit der eine unkritische Naturanbetung gefördert werde: Die bloße Natur wird zum Trumpf und ihre unkontrollierbaren Ansprüche erniedrigen die des Rechts. Ein Rückfall ins Mythologische, der vermutlich die weltanschaulichen Bedürfnisse des rechts orientierten Publikums befriedigt.267

Die „Konfektionsware“ in den Kinos war allerdings auch der durch die Weltwirtschaftskrise nochmals erschwerten Lage der deutschen Filmwirtschaft geschuldet. Aufgrund der schon angesprochenen wirtschaftlichen Probleme der Ufa ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre (s. Kap. III, S. 73) standen bei der Spielfilmproduktion kommerzielle und nicht künstlerische oder sozialkritische Interessen im Vordergrund.268 Anfang der 1930 waren Filme wie Bomben auf Monte Carlo besonders auf finanziellen Erfolg ausgelegt, da man in der angespannten ökonomischen Lage keinerlei Risiken eingehen wollte.269 Neben Kracauer bemängelten auch andere FilmrezensentInnen die Kinoproduktionen, wenngleich nicht so tiefgehend wie Kracauer. Der Kritiker Herbert Ihering äußerte zum Beispiel im Berliner Börsen-Courier am 1. September 1931: Aber diese verschwommenen, glibbrigen, gleitenden, schaukelnden Manuskripte müssen auch ihn einmal abstürzen lassen. Albers […], der Menschen dieser Zeit geben müßte: Offiziere, die in andere Berufe verschlagen sind, Proletarier in der Masse, Kleinbürger, die sich nicht zurechtfinden, Gescheiterte und Emporsteigende, Menschen unserer Tage, unseres Schicksals, Entwurzelte und Arrivierte, Arbeiter und Snobs.270 263 Siehe z. B. „Grelle ihrer Plakate“ (Hirsch 1927), „grellbunte Aushängeschilder“ (Preusse 1932) oder „grellfarbige Ausschreiplakate“ (Rosser 1926, S. 3). 264 SKW 6:3, S. 49. 265 SKW 6:2, S. 535. 266 Ebd., S. 520, S. 528. 267 SKW 6:2, S. 536. 268 Kessler 2001, S. 1180. 269 Siehe Görtz/Sarkowicz 2001, S. 116. 270 Ihering 1961, S. 358.

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Desillusioniertheit Kracauers Kracauer macht in seinem Text über das Kino in der Münzstraße deutlich, dass der gezeigte Film mit Hans Albers keine Aufklärung leistet. Ebenfalls biete das Kinoprogramm in der Münzstraße auch kein „Abbild des unbeherrschten Durcheinanders unserer Welt“ dar. Dieses besaß 1926 für Kracauer noch revolutionäres Potenzial (siehe S. 117). So wird der Vorstellung 1932 auch keine utopische Konnotation wie in dem Besuch eines kleinen Kinos in Kracauers 1934 fertiggestelltem Roman Georg beigegeben, aus dem schon in Kapitel II zitiert wurde.271 Bei dem fiktiven Kinobesuch wird das Leinwandgeschehen durch die dazu nicht passende Filmmusik der Wirklichkeit entrückt. Dadurch werden im Roman utopische Potenziale aktiviert: Dank der Tatsache nun, daß die Musik, ihre Unabhängigkeit bewahrend, höchstens zufällig einmal mit den Bildern übereinstimmte, wurden diese ihrer eigentümlichen Geltung beraubt und in Vorgänge verwandelt, die so ungreifbar waren, wie das Verhältnis zwischen Bild und Musik. Ihnen hingegeben, mußte Georg regelmäßig Tränen vergießen, wenn am Ende der letzte Schleier sank und sich das Glück der Liebenden strahlend offenbarte. Denn anstelle dieses Glücks, dessen Verlogenheit er sich keineswegs verhehlte, zog das wahre Glück aus dem Nirgendwo leibhaftig herauf.272

Kracauers komplexe Utopiethematik wird so in Georg mit einem Kinobesuch in ein anschauliches Bild gebracht. Exemplarisch wird deutlich, wie sich aus der Sinnentleertheit bzw. von einem verfälschten Zustand aus gleichsam „ein Umschlag in die Fülle des Seienden“ vollzieht.273 In seinem Text über das Münzstraßenkino verzichtet Kracauer 1932 jedoch auf das Einbringen einer revolutionären oder utopischen Perspektive. Schon 1929 zweifelte er daran, dass der Zusammenbruch der alten Ordnung den Weg für den Aufbau einer vernünftigeren Ordnung bereiten könne.274 Gegenüber Adorno äußert Kracauer im August 1930 sehr deutlich: Es waltet ein Verhängnis über diesem Land, und ich weiß genau, daß es nicht nur der Kapitalismus ist. Daß dieser so bestialisch werden kann, hat keineswegs ökonomische Gründe allein. (Wie sollte ich sie formulieren können? Ich bemerke nur immer wieder in Frankreich, an dem es doch gewiß viel zu kritisieren gibt, was alles bei uns zerstört ist: der primitive Anstand, die ganze gute Natur und mit ihr jedes Vertrauen der Menschen ineinander.) Da aber bei uns eine Revolution nicht, wie in Rußland vielleicht, ein unverbrauchtes ‚Volk‘ ankurbeln würde, glaube ich auch nicht an die Heilkräfte des Umsturzes.275

271 Das besuchte Kino ist im Roman Georg in Frankfurt situiert und die Handlung spielt vor der Umstellung auf den Tonfilm, jedoch ähnelt die Raumerfahrung derjenigen in der Münzstraße. Georg erschien erst postum 1977 in der Ausgabe der Schriften Kracauers (SKS 7, S. 243–490). 272 Ebd., S. 429. 273 SKW 5:2, S. 426. Siehe auch Kracauer an Bloch, 27. Mai 1926, in: Bloch 1985, S. 274. 274 Baumann 2014, S. 194. 275 AKB, S. 246f.

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Kracauer im Tageskino in der Berliner Münzstraße 1932

Dass eine Verbesserung der Gesellschaft generell notwendig ist, erwähnt Kracauer immer wieder. Dies motiviert ihn auch, sich in das triste kleine Kino zu begeben und in andere von den Arbeitslosen frequentierte Räume. Kracauers Skepsis an einer Veränderungsmöglichkeit erklärt jedoch auch das Einbringen der resignierten Frauengestalt am Textende.

Hingabe und Urteilsvermögen zugleich Die kritische Perspektive ist Kracauer insbesondere durch seine distanzierte Position und seine Feinfühligkeit möglich. Damit vertritt er in seinen Texten über die Räume der Arbeitslosen eine Einstellung, die er wenige Monate später bei dem Buch von Albert Lamm lobt, denn dieser verliere nach ihm „über die Fähigkeit zur Hingabe nie das Urteilsvermögen.“276 Kracauer geht in das Kino dezidiert als Journalist und verkleidet sich z. B. nicht wie Alexander Stenbock-Fermor für die Sozialreportage „Deutschland von unten“ als Obdachloser. Entgegen Kracauers Außenperspektive schreibt Erich Preuße seinen Text über einen Besuch des Münzstraßenkinos aus der Sicht eines jungen Arbeitslosen. Dadurch wird die Not noch etwas anschaulicher. So wird in Preußes Text beispielsweise deutlicher, wie schwer das Auskommen mit der geringen Unterstützung ist und dass selbst der Besuch des günstigen Kinos nur einmal im Monat möglich ist. Der Beitrag ist jedoch nicht so reflektiert wie der von Kracauer, da soziologische Ausführungen bei Preuße fehlen. Durch die Allegorie am Ende ist Kracauers Text zudem noch erschütternder als derjenige von Preuße. Auffällig ist jedoch, dass sowohl Preuße als auch Kracauer versuchen, auf Sozialromantik zu verzichten. In einem Vorwärts-Artikel über den Berliner Alexanderplatz betont Preuße dezidiert: „Das Leben der Existenzen an der Peripherie der Gesellschaft ist bar jeder Romantik.“277 Kracauer hat u. a. in „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ (siehe Kapitel III) kritisiert, dass die Gesellschaft „die Elendsstätten mit Romantik [umkleidet], um sie zu verewigen, und schlägt an ihnen ihr Mitleid ab, weil es hier keinen Pfennig kostet.“278 Demgegenüber lobte er den Film Mutter Krausens Fahrt ins Glück 1929, da in diesem Zille-Motive nicht zu kitschigen Zwecken missbraucht worden seien und der Handlungsverlauf „frei von Sentimentalität“ sei.279 In seinen eigenen Texten verzichtet Kracauer ebenfalls auf Kitsch und Verruchtheit. Gegenüber anderen Beiträgen wie zum Beispiel „Kino im Berliner Arbeiterviertel“ von dem Journalisten Helmut Rosser hebt sich dies sehr positiv ab.280 Denn Rosser stilisiert das Arbeiterkino auf übertriebene Weise, laut ihm sei die anfängliche Kinofaszination noch erspürbar: „Hier ist es [das Kino] Zauber, Aufrütteln der verschütteten Seele aus dem dumpfen Alptraum eines schweren, harten Daseins, aus der Ereignislosigkeit des täglichen Lebens.“281 Damit spricht er den Arbeitern, die sich „bezaubern“ lassen, jedoch auch Medi276 SKW 5:4, S. 241. 277 Preuße 1932. 278 Kracauer 1963, S. 283f. 279 SKW 6:2, S. 329. 280 Rosser 1926. 281 Ebd., S. 3.

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enkompetenzen ab. Rosser attestiert dem Arbeiterkino zudem, dass die Kinematographie dort noch in ihrer „primitivsten und darum wohl auch deutlichsten Form“ anzutreffen sei. Da in den kleinen Kinos ebenfalls die neueren Filmproduktionen – nur wenige Wochen nach den Filmstarts in den Uraufführungskinos – gezeigt werden, ist diese Einschätzung Rossers nicht nachzuvollziehen.282 Auch wenn Kracauer auf Sozialromantik verzichtet, zeigt er dennoch Mitgefühl und Interesse. Dies wird gerade an der detaillierten Schilderung der Räumlichkeiten des einfachen Kinos deutlich. Normalerweise werden sonst im Feuilleton nur die prunkvollen Großkinos so ausführlich beschrieben. Die sozialkritischen Schilderungen Albert Lamms hat Kracauer dagegen dafür gewürdigt, dass er mit „jener feinen Genauigkeit, die das Zeichen aktiver Anteilnahme wäre“, die Lage der erwerbslosen Jugend beschreibt.283 Ebenfalls hat Kracauer Lamms „humane Natur“ anerkannt: „Sie, die Empfindung mit Helligkeit vereint, Verständnis für das aktuell Richtige hat und über die Fähigkeit zur Hingabe nie das Urteilsvermögen verliert, bezeugt sich überall selber in diesem Bericht.“284 Lamms Einstellung passt auch zu Kracauers eigenem, einige Monate vorher entstandenen Text über das Kino in der Münzstraße und seine anderen Berichte über die Räume der Arbeitslosen. Durch diese Anteilnahme unterscheiden sich Kracauers Texte von den neusachlichen Reportagen. Dies wird beispielsweise im Vergleich zur Berichterstattung über prekäre Gegenden im Hamburger Correspondenten am 20.10.1929 deutlich. In dem mit mehr Distanz verfassten Text wird der Besuch eines italienischen Außenministers und eines italienischen Korrespondenten, die sich in Berlin einen Eindruck über die dortige Arbeitslosigkeit verschaffen möchten, beschrieben. Die verschiedenen Erscheinungsformen der Not und der Arbeitslosigkeit werden von dem unbekannten Verfasser aufgezählt. Die Äußerungen bleiben aber sehr allgemein und teilweise viel zu ungenau, u. a. auch die kurze Bezugnahme auf die Tageskinos in der Münzstraße: Nicht weit vom Alexanderplatz [...], in der Münzstraße, gibt es Tageskinos. Menschen, die nichts zu tun haben, bummeln dort herum. Für dreißig Pfennig können sie sich im Kino aufhalten, so lange sie wollen. Das Programm kümmert sie nichts, sie wollen warm sitzen und schlafen.285

Ebenfalls wird im Hamburger Correspondenten die physische und psychische Disposition der Menschen weder so anschaulich wie bei Preuße noch so tiefgehend wie bei Kracauer charakterisiert. Kracauer will ähnlich wie Albert Lamm „nicht an der Außenseite haften wie irgendeine gleichgültige Reportage“, sondern die mit der Arbeitslosigkeit „aufgegebenen Probleme“ wirklich angreifen.286 Gegen die „blinde Empirie“ der neusachlichen Reportage opponiert Kracauer auch in seinem Angestelltenbuch: 282 Ebd. 283 SKW 5:4, S. 240. 284 Ebd., S. 241. 285 Anon. 1931. 286 SKW 5:4, S. 241.

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Die Dichter kennen kaum einen höheren Ehrgeiz, als zu berichten; die Reproduktion des Beobachteten ist Trumpf. […] Aber das Dasein ist nicht dadurch gebannt, daß man es in einer Reportage bestenfalls noch einmal hat. [...] Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Gewiss muß das Leben beobachtet werden, damit sie erstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird.287

Ebenfalls differieren Kracauers Texte von den Flaneurberichten z. B. von dem schon erwähnten Franz Hessel sowohl in Tiefgang als auch bezüglich der Kritik.288 Hessel äußert im Vergleich zu Kracauer nur kurze Allgemeinplätze: Wir Berliner sind leidenschaftliche Kinobesucher. [...] Wir haben unsre großen Filmpaläste rund um die Gedächtniskirche, am Kurfürstendamm, in der Nähe des Potsdamerplatzes, in den Vorstädten, und daneben die tausend kleinen Kinos, helle, lockende Lichter in halbdunklen Straßen aller Stadtteile. Oh, es gibt sogar eine Reihe Vormittagskinos, rechte Wärmehallen für Leib und Seele.289

Kinos allgemein seien Anschauungsmaterial für „Kollektivgenuß“ und die Filme würden als „Lebensersatz“ fungieren.290 Harald Neumeyer hat daher pointiert, dass Franz Hessel Großstadtphänomene sammle, Kracauer sie jedoch entziffere.291

Methodische Weiterentwicklung – Räume als „Träume der Gesellschaft“ In Der Detektiv-Roman als auch in „Kult der Zerstreuung“ analysierte Kracauer Räume, um so Rückschlüsse auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu erhalten. In den nächsten Jahren sollte er seine Methode weiterentwickeln. So arbeitete er in der Angestelltenstudie noch näher am Material und brachte kleine Beobachtungen treffsicher mit größeren Kontexten in Zusammenhang. Insbesondere im direkten Vergleich mit „Kult der Zerstreuung“ wird deutlich, wie 1932 in „Kino in der Münzstraße“ die analytischen Passagen noch viel enger mit den Beschreibungen verwoben werden. Kracauers besonderer „Elan zur Realität“, seine „materiale Dialektik“, d. h. das Gewinnen an Einsichten „aus der theoretisch fundierten Betrachtung der Empirie“, werden an dem Text sehr deutlich.292 Gegenüber Bernhard Guttmann, der früher das Berliner Büro der FZ geleitet hatte, äußerte Kracauer in einem Brief am 16.1.1931 die sehr erhellende Selbstcharakterisierung:

287 Kracauer 1971, S. 216. 288 Neumeyer 1999, S. 144. 289 Hessel (1929) 2014, S. 131. 290 Ebd., S. 133. 291 Neumeyer 1999, S. 339. 292 Siegfried Kracauer an Theodor W. Adorno, 25.5.1930, in: AKB, S. 214–217, hier S. 215; s. a. Siegfried Kracauer an Adorno, 23.12.1963, ebd., S. 632–634, hier S. 633.

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Anstelle der früheren philosophischen Interessen sind jetzt mehr und mehr zwei andere getreten, die sich wohl auch behaupten werden: das an der epischen Gestaltung und das an der Durchleuchtung unserer gesellschaftlichen Strukturen zu politischen und moralischen Zwecken.293

Die epischen Interessen hatte Kracauer besonders in seinem Roman Ginster unter Beweis gestellt. „Kino in der Münzstraße“ macht darauf aufmerksam, dass er fiktive und erzählerische Elemente auch in seine dokumentarisch wirkenden Feuilletons übernimmt.294 In den Text zu den Arbeitsnachweisen integriert Kracauer neben soziologischen auch methodische Überlegungen. Er erläutert, dass er mit seinen Analysen der von den Arbeitslosen frequentierten Räume ermessen wollte, „welche Stellung die Arbeitslosen faktisch in dem System unserer Gesellschaft einnehmen.“295 Für Kracauer sind diese Raumanalysen zur tatsächlichen Situation der Arbeitslosen aussagekräftiger als die Analysen der Erwerbslosenstatistiken oder die Parlamentsdebatten, da diese die Wirklichkeit ideologisch verzerren. „Jeder typische Raum“ wird laut Kracauer dagegen durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende Dazwischenkunft des Bewußtseins in ihm ausdrücken. Alles vom Bewußtsein verleugnete, alles, was sonst geflissentlich übersehen wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar.296

Ein dunkles und stickiges Kino kann so als Ausdruck sozialer Ungerechtigkeit und Repression fungieren. Wenn Kracauer die räumlichen „Hintergründe“297 des Kinos in der Münzstraße schildert, werden die sozialen Abgründe deutlich, in denen sich die Erwerbslosen befinden. Die aussichtslose Lage der Arbeitslosen wird in Kracauers Texten insbesondere anhand der Details deutlich, die die Enthumanisierung der Arbeitslosen im Gegensatz zu den sachlichen Statistiken verdeutlichen.298 In dem kleinen Kino wird z. B. der soziale Abstieg in der „schmierigen Schürze“ des Büfettiers, der sie bedient, greifbar und die Not ersichtlich an dem Dessert, das nach der Vermutung Kracauers manchmal eine Hauptmahlzeit ersetzen muss.299 Kracauers luzide Detailinterpretation wurde von Zeitgenossen wie Ernst Bloch sehr geschätzt; dieser würdigt beispielsweise im Text über die Arbeitsnachweise die Analyse eines Raumdetails: „So etwas wie der Schutz der Bänke kommt nur unter Ihrer Lupe heraus. Und das fremde Licht, das aufs Objekt unter der Lupe fällt.“300

293 Siegfried Kracauer an Bernhard Guttmann, 16.3.1931 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA). 294 Siehe Brodersen 2001, S. 86f. 295 SKW 5:3, S. 250. 296 Ebd. 297 SKW 6:3, S. 48. 298 Siehe auch Stalder 2003, S. 178, S. 180. 299 SKW 6:3, S. 49. 300 Bloch 1985, S. 339.

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Übersehene Räume und eine methodische Straßenkreuzung mit Benjamin Die von Arbeitslosen frequentierten Räume, die Kracauer analysiert, sind mitten in Berlin situiert. Allerdings werden sie vom bürgerlichen Publikum gern übersehen. Wie andere gewöhnliche Platzanlagen sind sie selten von Interesse, gleichsam „unsichtbar“ und mit einer „Tarnkappe“ versehen.301 Daher bringt Kracauer diese Räume analog zu Sigmund Freuds Deutungsgegenstand in Bezug zu Träumen.302 Freud entschlüsselt mit seiner Traumdeutung das Unbewusste und unerfüllte Wünsche. Für Kracauer sind Raumbilder eine Möglichkeit, das von der Gesellschaft Verdrängte und soziale Konflikte zu untersuchen. Auch wenn das Spiegelmotiv bei den Raumanalysen nicht explizit eingebracht wird, fungieren die Kinoräume ähnlich wie Filme als soziale Vexierspiegel bei Kracauers Untersuchungen. In dem am 8.11.1931 in der FZ publizierten Feuilleton „Berliner Landschaft“ (in dem Sammelband Straßen in Berlin und anderswo als „Aus dem Fenster gesehen“ veröffentlicht)303 griff Kracauer wiederum das Traummotiv auf. Anhand des „ungestellten Berlins“ sprechen sich „seine Gegensätze aus, seine Härte, seine Offenheit, sein Nebeneinander, sein Glanz. Die Erkenntnis der Städte ist an die Entzifferung ihrer traumhaft hingesagten Bilder geknüpft.“304 Adorno fühlte sich an Benjamin erinnert, wie er in einem Brief an Kracauer deutlich macht. Kracauer interpretiert die Räume jedoch nicht als „Wunschbilder“ eines „kollektiven Unbewußten“305 und erwiderte gegenüber Adorno am 1.8.1930: Gewisse Raumbilder sprach ich als Träume der Gesellschaft an, weil sie das Sein dieser Gesellschaft darstellen, das durch deren Bewußtsein verhüllt wird. Ich begegne mich also mit Benjamin [...] nur im Wort Traum. Das ist, als ob man sich an einer Straßenkreuzung träfe, und nach verschiedenen Richtungen weiterginge. Die Auffassung der Stadt als eines Traumes vom Kollektiv erscheint mir immer noch als romantisch.306

Kombination von soziographischer Untersuchung und Denkbild Kracauer analysierte neben der Architektur auch noch vielfältige andere Materialien in seinen Texten über die Beschäftigungslosen – wie beispielsweise Gespräche und Kleidungsdetails. Aufgrund dieses ungewöhnlichen Ansatzes wurde er schon bei der Angestelltenstudie in die Nähe der experimentellen Soziographie und der teilnehmenden Beobachtung gebracht.307 In diesem Kapitel konnten zudem inhaltliche Übereinstimmungen zwischen Kracauers Texten zu den Räumen der Arbeitslosen und der Marienthal-Studie festgestellt werden. Kracauer gewann seine wertvollen Erkenntnisse über die Situation der Arbeitslosen jedoch ohne 301 SKW 5:3, S. 701. 302 Ebd., S. 250. Siehe Mülder 1985, S. 87f. und Neumeyer 1999, S. 345f. 303 Kracauer (1964) 2009, S. 53–55. 304 SKW 5:3, S. 702. 305 Benjamin 1991b, S. 46f. 306 AKB, S. 240f.; siehe auch Mülder 1985, S. 87f. 307 Wittel 2012, S. 71f.; Niefanger 1999, S. 163.

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quantitative Studien, in sehr begrenzter Zeit und neben seinen vielen anderen Arbeiten für die FZ. Der Marienthal-Studie standen demgegenüber mehrere Monate für die Erhebungen durch ein Team zur Verfügung. Im Gegensatz zu dieser ist Kracauers Stil ebenfalls viel mehr durch Allegorien, Metaphern und Bilder geprägt.308 Signifikant ist auch das Einbringen der Raumsymbolik bei den städtischen Analysen Kracauers wie z. B. die Charakterisierung der Kinoplakatierung als „schöne Uferpunkte“ und dann das Enthüllen der „Hintergründe“ des Kinoinneren.309 Insbesondere durch die eindrückliche Allegorie am Ende und die fiktionale Filmhandlung rücken einige Passagen des auf den ersten Blick reportageartigen Münzstraßenkinotextes so in die Nähe von Kracauers poetischen „Denkbildern“. Der Begriff „Denkbild“ wurde von Walter Benjamin geprägt310 und von Heinz Schlaffer für Texte von Kracauer verwendet. Schlaffer pointierte für das Textgenre: „Jene Doppeltheit von Gedanke und Anschauung kommt darin zum knappsten Ausdruck.“311

„Attentate gegen die Gemütsruhe“ der FZ-Leser Kracauers Texte über die Beschäftigungslosen waren für die bürgerliche Hauptlesergruppe der FZ provokant. Denn z. B. der ‚Asphalt‘ der Münzstraße mit ihren Kinos wurde als Schauplatz in erster Linie in sozialdemokratischen oder kommunistischen Publikationen, insbesondere natürlich den Zeitungen gewählt. In der kommunistischen Presse hatten kritische Reportagen über Erwerbslose eine längere Tradition, denn gerade die Kommunisten setzten sich im Parlament für Armenunterstützung ein.312 Das Scheunenviertel wurde ebenfalls in anderen politisch linksgerichteten Publikationen thematisiert. So ist es auch ein Handlungsort des 1931 veröffentlichten kommunistischen Fortsetzungsromans Die letzten Tage von dem Autorenkollektiv „K. Olectiv“.313 In bürgerlichen Zeitungen, zu denen die FZ gehörte, wurden normalerweise im Feuilleton die prunkvollen Lichtspielpaläste und nicht die kleinen Arbeiterkinos behandelt. In der Berliner bürgerlichen Presse thematisierte man die Münzstraße beispielsweise in erster Linie als Schauplatz für Kleinkriminalität oder im Anzeigenteil bei den Angeboten. Das kritische Potential von Kracauers Beitrag „Kult der Zerstreuung“ ist auf S. 125f. zusammengefassst worden, mit dem er die Erwartungen der FZ-LeserInnen herausgefordert hat.314 Anfang der 308 Hansen 2012, S. 5. 309 SKW 6:3, S. 48. Vgl. die Raumsymbolik in Kracauers „Über Arbeitsnachweise“ – siehe Stalder 2003, S. 177. 310 Benjamin 1991b, S. 578. 311 Schlaffer 1973, S. 142. – Einige Denkbilder Kracauers wie „Das Klavier“ oder „Das Schreibmaschinchen“ wurden in der Publikation Straßen in Berlin und anderswo veröffentlicht, in der auch die Texte über die Räume der Erwerbslosen enthalten sind (Rühse 2013b; siehe auch Stalder 2003, S. 218–222). 312 Lindermann 2013, S. 99. 313 K. Olectiv (1931) 1972. – Bei „K. Olectiv“ handelt es sich um ein Pseudonym von Mani Bruck und Jürgen Kuczynski. 314 Zu weiteren Provokationen der LeserInnen der FZ in Kracauers Arbeiten siehe auch Kap. III, S. 73f.

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Kracauer im Tageskino in der Berliner Münzstraße 1932

1930er Jahre wurden diese erneut provoziert, indem von Kracauer und anderen Autoren in der FZ häufiger die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und der hohen Arbeitslosigkeit thematisiert wurden.315 Kracauer beispielsweise analysierte Stellenangebote und ging auf Wohnungsverkleinerungen bzw. die damit zusammenhängenden Möbeltransporte ein.316 Dass er sich zudem zu den prekären Brennpunkten in Berlin während der hohen Arbeitslosigkeit begab, um über exemplarische Räume der Erwerbslosen zu berichten (auch wenn er dabei weniger ostentativ kritische philosophische Reflexionen integriert), passt zu dem schon erörterten erweiterten Feuilletonkonzept der FZ unter der Ägide von Benno Reifenberg (siehe Kapitel III, S. 73f.). Dieses progressive Feuilleton-Konzept entsprach allerdings nicht unbedingt den Erwartungen der bürgerlichen LeserInnen der FZ, des „Urblatt[es] der Gediegenheit“ (Ernst Bloch).317 Auf einen kritischen Leserbrief zu der FZ-Vorabpublikation von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz – in dem auch die Münzstraßenkinos thematisiert werden – verfasste Kracauer im Namen der Redaktion eine am 24.10.1929 erschienene Entgegnung.318 Sie ist zugleich aussagekräftig für die Integration von Kracauers eigenen Feuilletons über die Arbeitslosen. Denn wie Döblins Roman wollen auch seine Texte „den Sinn für ein Leben eröffnen […], das des Mitgefühls und des Verständnisses wert ist.“319 Man möchte den Lesern „die Augen öffnen über gesellschaftliche Zustände und menschliche Verhältnisse, von denen Sie morgens am liebsten nichts wissen möchten. An diesen Attentaten gegen Ihre Gemütsruhe ist uns allerdings viel gelegen.“320 Die Auseinandersetzung mit den Erwerbslosen ist nach Kracauer zudem wichtig, da gerade die jüngeren den „politischen Rattenfängern Gefolgschaft“ leisten. Um nicht „das Gesamtleben der Gesellschaft“ zu gefährden, sei es zudem notwendig, „die unerträgliche Lage der Erwerbslosen durch geeignete Maßnahmen erträglicher zu gestalten.“321

„Rechtswende“ der FZ Das kritische Feuilletonkonzept war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von „Kino in der Münzstraße“ schon schwerer durchzusetzen. Kracauer war bereits Ende der 1920er Jahre deswegen in Konflikt mit der Zeitung gekommen. 1929/30 hat anscheinend der Ankauf von fast der Hälfte des Zeitungsverlages durch die IG Farben eine ‚Rechtswende‘ der Zeitung zur Folge gehabt, die u. a. in personellen Umbesetzungen ihren Ausdruck fand.322 Kracauer

315 Neben Kracauers Texten in der FZ wurde z. B. auch Albert Lamms Buch Betrogene Jugend mit einem von Kracauer verfassten Vorwort vorabgedruckt – SKW 5:4, S. 160f. 316 SKW 5:4, S. 32–37; Kracauer 1996, S. 60f. 317 Bloch 1985, S. 309. 318 SKW 5:3, S. 157–159. 319 Ebd., S. 158. 320 Ebd., S. 159. – Döblin (1929) 1975. 321 SKW 5:4, S. 161. 322 Mülder 1985, S. 9; Brodersen 2001, S. 84; Stalder 2003, S. 53–66.

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IV. Lichtspielhäuser als soziale Spiegel bei Siegfried Kracauer

ging beispielsweise nach Berlin und übernahm nicht die Leitung des Frankfurter Feuilletons. Im Feuilleton der FZ gab es zwar noch mehr Freiheiten, so dass Kracauer von Berlin aus auf das Elend der Erwerbslosen hinweisen und die „Gemütsruhe“ der LeserInnen der FZ stören konnte. Allerdings war Kracauer stärker Repressalien ausgesetzt, so wurde ihm 1931 eine Gehaltskürzung verordnet und einige seiner Artikel wurden abgelehnt. Auch gab es Versuche, ihn der Ufa als Berater zur Verfügung zu stellen, womit einer der stärksten Kritiker der Produktionen und der Großkinos des Filmkonzerns mundtot gemacht worden wäre. Aus nicht bekannten Gründen konnte dies jedoch abgewendet werden, auch wenn man ihm einen beruflichen Wechsel nahelegte. Kracauer konnte allerdings zunächst noch weiter in der FZ publizieren. Weniger als ein Jahr nach dem Text über das Münzstraßenkino war ihm dies jedoch nicht mehr möglich. Im Februar 1933 floh Kracauer vor den Nazis nach Frankreich, wo ihn wenig später eine verklausulierte Kündigung der FZ erreichte. Die nächsten Jahre verbrachte er zunächst in Hotels in Frankreich, bis ihm die Flucht in die USA gelang. Einige der weiteren in diesem Kapitel erwähnten Schriftsteller und Intellektuellen begingen aus Angst vor den Nazis Suizid wie Walter Benjamin und Walter Hasenclever. Von anderen wie Erich Preuße und Ernst Haffner verliert sich die Spur, wieder andere wie Leo Hirsch starben durch Schikanen der Nazis. Viele der in diesem Kapitel behandelten großen Filmpaläste in Berlin wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Zum Beispiel wurden 1943 das Gloria-Kino und das Lichtspieltheater in der Turmstraße durch Bombeneinschläge stark beschädigt. Das von Hasenclever thematisierte kleine Tageskino am Stettiner Bahnhof wurde ebenfalls zerstört. Das Kientopp Pritzkow in der Münzstraße blieb relativ unbeschädigt und konnte seinen Betrieb bis 1959 noch fortführen.

Lili Kracauers Fotografie eines Pariser Kinos Im französischen Exil ab 1933 waren die Pariser Kinos für Kracauer wie auch für andere EmigrantInnen ein Refugium – sofern sie sich einen Besuch leisten konnten. Zudem waren sie ab Ende 1936 wichtig für Kracauers Arbeit als Filmkorrespondent und für sein geplantes Filmbuchprojekt (siehe Kapitel VI). Visuell geschult durch das Belegen von kunsthistorischen Lehrveranstaltungen im Studium beschäftigte sich 1934 und 1935 seine Frau Elisabeth (genannt „Lili“) Kracauer intensiver mit Fotografie als mögliche Einkommensquelle und nahm am 16. Januar 1935 ein nächtliches Kino von außen auf (Abb. 34).323 Wie vom nächtlichen Berlin (Kapitel III) waren auch Fotografien der Hauptstadt Frankreichs bei Nacht generell sehr beliebt und motivisch vielfältig. Postkarten zierten eher dekorative Aufnahmen von erleuchteten Architekturmotiven. Brassaï fotografierte beispielsweise auch die Halb- und die

323 Lili Kracauer, Ein Kino, Paris, 16.1.1935, Fotografie, 14 × 9 cm, Marbach, Deutsches Literaturarchiv (siehe auch Zinfert 2014, S. 23 sowie dies. 2019, S. 141f.). – Maria Zinfert kommt der Verdienst zu, auf Lili Kracauer und ihre Unterstützung von Kracauers Arbeit für die FZ und als freier Schriftsteller seit 1930 aufmerksam gemacht zu haben.

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Kracauer im Tageskino in der Berliner Münzstraße 1932

34  Lili Kracauer, Ein Kino, 16.1.1935, ­Fotografie, ­Paris, 14 × 9 cm, Marbach, Deutsches Literatur­archiv.

Unterwelt und machte auf die Veränderungen des Pariser Nachtlebens durch die Weltwirtschaftskrise aufmerksam, die der beschwingten Atmosphäre ein Ende bereitete. 324 Mit ihrem Mann, der den Glitzer des Nachtlebens als Talmi entlarvte (siehe Kapitel IV, S. 125f.) und auch die sozialen Auswirkungen der Rezession nicht verdrängte, sondern genau in den Blick nahm, teilte Lili Kracauer eine kritische Perspektive.325 Sie kommt in einigen ihrer Fotografien zum Ausdruck. Anstatt des Blicks in eines der beliebten Cafés im Künstlerviertel Montparnasse oder eine romantische Paarszene auf der Straße wählt Lili Kracauer als Sujet der am 16. Januar 1935 entstandenen Aufnahme Ein Kino eine einsame Frau vor einem mittelgroßen Lichtspieltheater, dem „Montparnasse Pathé“.326 In diesem wird laut der großen Leuchtschrift über dem Eingang New York – Miami (OT: It Happened One Night) mit Claudette Colbert und Clark Gable gezeigt.327 Die Frau scheint zwar interessiert an der Kinoauf324 Schlör 1998, S. 276. 325 Da Lili Kracauer ihren Mann bei seiner Arbeit unterstützte (s. o.), kannte sie seine Schriften sehr genau. 326 Das Kino „Montparnasse Pathé“ (3, rue d’Odessa, Paris) verfügte in den 1930er Jahren über ca. 1.000 Plätze. 327 It Happened One Night, R: Frank Capra, USA 1934. – U. a. mit Rückgriff auf Kinoprogramme in Pariser Zeitungen kann das Kino als das damalige „Montparnasse Pathé“ identifiziert werden (das heutige Multiplexkino „Gaumont Parnasse (côté Parnasse)“. Im „Montparnasse Pathé“ spielte am 16. 1.1935 der Film von Capra (siehe z. B. Le Petit Parisien, 16.1.1935, Jg. 60, Nr. 21/141, S. 8). Der Kinoname stimmt mit der noch etwas deutlicher sichtbaren Kinobezeichnung „arnasse Pathé“ auf anderen Fotografien des Kinos von Lili Kracauer überein, von denen sie jedoch keine Abzüge machen ließ (siehe Zinfert 2019, S. 141 mit Anm. 13). Zinfert identifizierte das Kino fälschlicherweise als das erst 1972 eröffnete

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IV. Lichtspielhäuser als soziale Spiegel bei Siegfried Kracauer

führung zu sein und studiert die Informationen auf dem Klappaufsteller vor der Eingangstür. Sie scheint das Kino jedoch nicht betreten zu wollen, da sie direkt vor den Eingangsstufen stehen bleibt und Distanz zu dem livrierten Türsteher neben dem Aufsteller wahrt. Die Frau ohne Begleitung vor dem Kino unterscheidet sich deutlich von Szenen vor dem Kino von dekorativen Illustrationen wie z. B. A Theater Entrance (1906–1910) von dem frühen ­Edward Hopper,328 bei dem sich ein Paar vor dem Kino trifft. Mit der isoliert stehenden Frau verweist Lili Kracauers Fotografie eher auf Hoppers enigmatische spätere Gemälde (siehe Kapitel IV, S. 161ff.). Die Situation der einsam wirkenden Frau in der Fotografie unterscheidet sich auch von der im Kino gespielten romantischen Komödie, die die Leuchtbuchstaben ankündigen.329 Dass in der Straße und dem Eingangsbereich nicht mehr Menschen zu sehen sind, liegt möglicherweise nicht nur an dem kalten Winterabend, sondern auch daran, dass der Film schon begonnen hat.330 Vielleicht gehört die Frau zu den in Kapitel III näher behandelten Verkäuferinnen, die häufig abends länger arbeiten mussten und daher den Vorstellungsbeginn verpassten. Ggf. kann die dargestellte Frau sich den Kinoeintritt nicht leisten, weil sie als weibliche Angestellte wenig Geld verdient oder gar arbeitslos ist. Generell mussten viele Französinnen und Franzosen in den Jahren nach der Weltwirtschaftskrise sparsam sein.331 Vielleicht sieht Lili Kracauer in der Szene auch ihre eigene Situation als Emigrantin gespiegelt, die wenig oder gar keine Verdienstmöglichkeiten hat und daher auf den Kinobesuch aus pekuniären Gründen verzichten muss.332 Gerade der Januar 1935 war für das Ehepaar Kracauer im französischen Exil eine finanziell sehr schwierige Zeit.333 Auch wenn auf der Straße in Lili Kracauers Fotografie Unrat zu sehen ist, wirkt die Situation mit der modernen Kinofassade und der Lichtsituation noch nicht so trist und hoffnungslos wie z. B. Siegfried Kracauers oben analysierte Schilderung der passiven Frau vor dem Tageskino in der Münzstraße in Berlin.

„Bienvenüe-­Montparnasse“ (ebd.). – Lili Kracauer hat die Aufnahme von einer leicht erhöhten Position aufgenommen, wahrscheinlich ist das Foto von dem alten Bahnhof Montparnasse gegenüber dem Kino entstanden. 328 Edward Hopper, A Theater Entrance, ca. 1909–1910, Tinte und Wasserfarben auf Papier, 49,7 × 37,5, cm, Whitney Museum of American Art, New York. 329 Siegfried Kracauer charakterisierte den Film It Happened One Night 1939 in der Rückschau als „anmutige[s] Lustspiel[]“ (SKW 6:3, S. 271). 330 Am Abend des 16.1.1935 kühlte sich die Temperatur ab (Le Petit Parisien, 16.1.1935, Jg. 60, Nr. 21/141, S. 1); Zinfert 2019, S. 141. 331 Marquardt 1933, passim. 332 Siehe auch ebd. mit Fußnote 14. 333 Belke/Renz 1988, S. 79.

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Exkurs: Edward Hoppers Kinobilder aus den 1930ern

Exkurs: Edward Hoppers Kinobilder aus den 1930ern – Desillusionierte Platzanweiserinnen und melancholische Filmpalastnostalgie In der Hochkunst sind Kinos im deutschsprachigen Raum nicht so häufig wie in den USA als Sujet aufgegriffen worden.334 Allerdings waren auch bei den amerikanischen MalerInnen Tanzbars und Revuetheater noch beliebtere Sujets. Edward Hopper, der bekannt für seine an Filmszenen erinnernden Bildkompositionen ist und viele FilmemacherInnen inspirierte, ging selbst sehr häufig ins Kino.335 Er thematisierte Filmtheater als Ort auch in einigen seiner Arbeiten, insbesondere in der zweiten Hälfte der 1930er, als die Filmindustrie boomte.336 In diese Bilder bringt er ebenfalls die für ihn signifikante großstädtische Einsamkeitsthematik ein. Dadurch unterscheiden sich seine Bildfindungen von weniger melancholischen und geselligeren Darstellungen beispielsweise von Reginald Marsh und John Sloan. Da Hopper und Kracauer das Interesse an den Phänomenen der Moderne wie Großstadtlichtern und urbanen Räumen – darunter Hotellobbys und Büros – teilten, sind die Texte des deutschen Film- und Gesellschaftskritikers zur Analyse von Gemälden des Amerikaners schon herangezogen worden.337 Für die amerikanische Hopper-Forschung wird dies nun auch durch die bessere Zugänglichkeit von Kracauers Texten in Sammelbänden wie The Promise of Cinema. German Film Theory 1907–1933 (2016) gefördert.338 Im Folgenden soll als Exkurs in dieser Arbeit anhand von drei Gemälden Hoppers geprüft werden, inwieweit für deren Interpretation Kracauers Analysen nützlich sein können.

Hoppers New York Movie Für die Analyse von Hoppers Gemälde New York Movie339 (Abb. 35, Taf. VII) aus dem Jahr 1939 hat der Amerikanist Dustin Breitenwischer schon Kracauers Text „Kult der Zerstreuung“ herangezogen. Das von Hopper dargestellte Kino würde laut Breitenwischer jedoch anstatt

334 In deutschen Zeitschriften und auf Postkarten wurden natürlich Illustrationen von Kinos veröffentlicht; einige sind abgedruckt in Sabelus/Wietschorke 2015, für den amerikanischen Bereich siehe McDonnell 2002. 335 Laut seinem Freund Richard Lahey äußerte Hopper in den 1960ern: „You know, Lahey, when I don’t feel in the mood for painting, I go to the movies for a week or more. I go on a regular movie binge!“ – Richard Lahey, „Artists I Have Known: Edward Hopper“, o. D. (Archives of American Art, Smithsonian Institution, Richard Lahey Papers, Mikrofilmrolle 378, Bild 970ff. (S. 3 von 15). Siehe auch Doss 2015, S. 17. 336 Ebd.; Levin 1995, S. 285. 337 Zu einer Analyse von Hopper und Kracauer in Zusammenhang mit der Hotelthematik siehe Tallack 1998. – Von einer direkten Einflussnahme von Kracauer auf Hopper oder vice versa ist in den 1920er und 1930er Jahren nicht auszugehen. Kracauer sah allerdings Hoppers Gemälde The Lighthouse at Two Lights (Öl auf Leinwand, 74,9 × 109,9 cm, seit 1962 im Metropolitan Museum of Art, New York) aus dem Jahr 1929 bei einer Ausstellung in Paris – SKW 5:4, S. 557. 338 Kaes et al. 2016. 339 Edward Hopper, New York Movie, 1939, Öl auf Leinwand, 81,9 × 101,9 cm, Museum of Modern Art, New York (Objektnr. 396.1941).

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Zerstreuung „radikale Selbstbegegnung“ ermöglichen und als „Rückzugsort“ fungieren.340 Bei der kurzen Bezugnahme wird allerdings nicht die zeitliche und lokale Distanz reflektiert und die Platzanweiserin als markante Protagonistin ebenfalls nicht sozialhistorisch analysiert.341 In diesem Zusammenhang ist ein Bezug auf Kracauers Angestelltenstudie bzw. seine späteren Auseinandersetzungen mit weiblichen Angestellten erhellend (siehe Kapitel III). Die in der rechten Bildhälfte in New York Movie situierte Platzanweiserin lehnt in sich versunken an der Saalwand im Gang. Das Kinointerieur basiert auf dem Palace Theater am Times Square, Hopper integrierte jedoch Elemente aus anderen Theatern.342 Die ‚usherette‘ trägt eine damals typische modische Hosenanzugsuniform. Sie stützt ihr Gesicht mit einer Hand, was auf den klassischen Melancholiegestus referiert. In der linken Hälfte des Gemäldes sind einige Kinobesucher von hinten vor einer Kinoleinwand mit einer Bergszene zu sehen. Zwei Reihenabsperrungen fungieren als deutliche visuelle Barriere zwischen dem Bereich der Zuschauer und derjenigen der Angestellten. Mit der traurigen Platzanweiserin wird auch das glamouröse Image der Tätigkeit der ‚usherette‘ dekonstruiert, das u. a. durch Filme wie The Good Fairy mit einer Platzanweiserin als Protagonistin zusätzlich unterstützt wurde.343 Der Arbeitsalltag der Platzanweiserinnen mit den langen Arbeitszeiten sowie dem geringen Einkommen war jedoch hart.344 In den 1930er Jahren wurden die Gehälter der ‚ush­ erettes‘, die in erster Linie aus der Arbeiterklasse kamen, zudem reduziert. Sie assistierten den BesucherInnen nun weniger, stattdessen mussten sie sie in erster Linie kontrollieren.345 Daher lehnt die Platzanweiserin an der Wand, denn sie soll den Kinosaal überblicken. Ein Verfolgen des Films während der Arbeitszeit war den Platzanweiserinnen untersagt.346 Der melancholisch nach innen gehende Blick der ‚usherette‘ in Hoppers Gemälde mag auf die entfremdete und unausfüllende Kontrolltätigkeit der jungen Kinoangestellten aufmerksam machen. Mit ihr wird ebenfalls darauf alludiert, dass hinter dem Kino als Sehnsuchtsort ein ökonomisch agierender Betrieb der Freizeitindustrie steht. Hopper hat die Platzanweiserin mit einer eleganten, schlanken Gestalt und schön frisierten blonden Haaren dargestellt. Auch in realiter waren die Platzanweiserinnen sehr attraktiv; denn es wurden normalerweise für die Tätigkeit besonders gut aussehende junge Frauen ausgewählt.347 1935 fand in den USA sogar ein Wettbewerb statt, mit dem die hübscheste Platzanweiserin ermittelt wurde.348 Die ‚usherettes‘ wurden so von den Kinobetreibern als

340 Breitenwischer 2018, S. 18. – Die folgende Analyse divergiert von derjenigen Breitenwischers. 341 Die Platzanweiserinnen wurden lange von der Forschung vernachlässigt und werden nun verdienstvollerweise grundlegender von Eva Balogh erforscht – Balogh 2017. 342 Foster 2013, S. 124. 343 The Good Fairy, R: William Wyler, USA 1935. 344 Balogh 2017, S. 30f. – Die Arbeitszeiten der Platzanweiserinnen waren insbesondere in den Abendstunden gelegen, was eine ungünstige Wirkung auf ihr Familienleben und ihre soziale Teilhabe hatte. 345 Ebd. und Butsch 2001, S. 110. 346 Balogh 2017, S. 19. 347 Ebd., S. 24. 348 Anon. 1935.

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35  Edward Hopper, New York Movie, 1939, Öl auf Leinwand, 81,9 × 101,9 cm, Museum of Modern Art, New York (Objektnr. 396.1941).

Mediatorinnen von Begehren und Fantasie genutzt, in deren Dienst auch die Filme standen. Damit sollten die ZuschauerInnen zum wiederholten Filmkonsum animiert werden.349 Indem Hopper die Themen des Begehrens und der einfachen Angestellten in den urbanen Vergnügungsetablissements aufgreift, schafft er eine zeitgenössische Variante von Édouard Manets Bar in den Folies Bergère.350 Mit den Werken von Manet setzte sich Hopper schon während seiner Studienzeit an der Chase School auseinander und behielt das Interesse an diesen später bei.351 In Manets Gemälde wird mit der Darstellung des einfachen Barmäd-

349 Balogh 2017, S. 34 350 Édouard Manet, Bar in den Folies Bergère, 1882, Öl auf Leinwand, 96 × 130 cm, The Courtauld Gallery, London. – Siehe Berkow 1996, S. 47. 351 Levin 1995, S. 37. – Hopper nahm künstlerisch schon zuvor auf Manets Bar in den Folies Bergère Bezug (siehe ebd., S. 40). Sein Interesse an Manet behielt er bei (ebd., S. 109 und S. 141). Manets Arbeiten inspirierten auch andere Gemälde Hoppers, z. B. Manets Die Pflaume (ca. 1877, Öl auf Leinwand, 73,6 × 50,2 cm, Washington National Gallery of Art) Hoppers Automatenrestaurant (1927, 71 × 91 cm, Des Moines, Des Moines Art Center).

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chens nach T. J. Clark die soziale Entfremdung zum Ausdruck gebracht.352 Kracauer hat zehn Jahre zuvor in seiner Angestelltenstudie zwar nicht speziell auf die von Manet und Hopper in Gemälden thematisierten Beschäftigten in der Freizeitindustrie Bezug genommen, jedoch generell auf die Wichtigkeit des Äußeren und die Monotonie bei der Angestelltentätigkeit hingewiesen.353 In seinem schon in Kapitel III, S. 99f. angeführten Aufsatz über weibliche Angestellte machte er neben der allgemeinen „Leere des Angestelltenlebens“ auch auf die Schwierigkeit der Frauen, mit ihrem geringen Gehalt auszukommen, aufmerksam.354

Hoppers The Sheridan Theater Zu überlegen ist, ob ein Bezug von Kracauers Text „Kult der Zerstreuung“ auf Hoppers Anfang 1937 fertiggestelltes Gemälde The Sheridan Theater (Abb. 36, Taf. 36) passender ist. Denn in diesem spielt das Innere eines Filmtheaters eine noch prominentere Rolle als in New York Movie.355 Insbesondere eine isolierte Besucherin könnte auf den ersten Blick die von Kracauer angesprochene ideelle Haltlosigkeit in der glänzenden Kulisse des Filmtheaters ausdrücken. Andererseits erscheint die in warmen Tönen gehaltene Lichtführung sehr positiv. Hoppers Gemälde ist darüber hinaus zehn Jahre nach Kracauers Text in Amerika entstanden. Der veränderte damalige soziale Kontext in den 1930er Jahren ist damit für die Deutung des Gemäldes mit seiner überaus ausgefeilten Komposition und mehreren motivischen Brechungen zu berücksichtigen.356 Der Blick des Betrachters geht über eine Balustrade im ersten Stock in eine rotunden­ ähnliche Lobby eines Filmtheaters. Rechts werden neben der Balustrade der Absatz und das Geländer einer Treppe nach unten angedeutet. Links erreicht einen Treppenabsatz ein männlicher Gast, wo eine Platzanweiserin steht, die anscheinend Kinokarten kontrolliert.357 Dahinter wird ein weiterer Kopf angedeutet. Im Gegensatz zu New York Movie ist die Kinoangestellte in The Sheridan Theater jedoch nur eine Nebenfigur. Präsenter ist eine rechts mehr im Vordergrund situierte Frauengestalt, die über die Balustrade blickt und nur von hinten zu sehen ist. Ihr kurvenreicher Körper, die goldblonden Haare und die besonders hohen schwarzen Pumps sind an Mae West angelehnt.358 Wests Filme waren in den 1930er Jahren 352 Clark 1986, S. 295ff., siehe auch Allan 2019, S. 36–38. 353 SKS 1, S. 222, S. 228. 354 SKW 5:4, S. 97, S. 99. 355 Edward Hopper, The Sheridan Theater, 1937, Öl auf Leinwand, 43,5 × 64,1 cm, The Newark Museum, Newark, New Jersey (siehe Levin 1995, S. 292). – Dem Newark Museum wurde bei der Erwerbung ein Preisnachlass von 1/3 gewährt (siehe Edward Hopper, „Artist’s ledger“, Buch II, S. 19, New York, Whitney Museum of American Art, Inv.-Nr. 96.209a–uuu). 356 Zu einer wichtigen Ausstellung im Newark Museum im Jahr 2007, in der Sheridan Theater im Zentrum stand, ist leider kein Katalog publiziert worden (siehe jedoch die ausführliche Rezension in der New York Times – Genocchio 2007). 357 Die Personen im Hintergrund des Gemäldes sind schwieriger zu erkennen. Bei der Person, die die Karten kontrolliert, verweisen die halblangen Haare darauf, dass es sich um eine Frau handelt. Carter E. Foster identifiziert die Angestellte dagegen als Mann – vgl. Foster 2013, S. 145. 358 Hoppers Frau wies darauf hin, dass die Gestalt einen „Mae West effect“ hätte – Levin 1995, S. 292.

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36  Edward Hopper, The Sheridan Theater, 1937, Öl auf Leinwand, 43,5 × 64,1 cm, The Newark M ­ useum, ­Newark, New Jersey.

Publikumsmagneten, die Schauspielerin zählte 1936 zu den zehn größten Box-Office-Stars.359 Mae West trug ein rotes Kleid beispielsweise in dem circa zwei Monate vor Fertigstellung des Gemäldes veröffentlichten Film Go West Young Man (Abb. 37).360 Mit dem Titel The Sheridan Theater verweist Hopper deutlich auf die Inspiration des Sujets, nämlich ein 1921 als „Mark Strand Sheridan Square Theater“ eröffnetes Kino in Greenwich Village (7th Avenue / 12th Street; Abb. 38). Ab 1926 firmierte es unter dem Namen „Loew’s Sheridan Theater“. In der Sekundärliteratur zu Hopper wird das „Sheridan Theater“ als Filmpalast beschrieben, ohne es differenzierter zu charakterisieren und seine Entwicklung von 1921 bis 1937 zu berücksichtigen. Auch nimmt Hopper einige von der Forschung bislang noch nicht genauer herausgestellte signifikante Veränderungen bei der Darstellung vor.361 Das Kino befand sich in der Nähe von Hoppers Atelier am Washington Square Park.362 Bei

359 Watts 2003, S. 218. 360 Go West Young Man, R: Henry Hathaway, USA 1936. – Mae West trug in ihren Filmen häufig weiße Stolen oder z. B. in Go West Young Man auch einen langen weißen Mantel, um ihre feminine Seite zu akzentuieren. 361 Foster 2013, S. 122f. 362 Hoppers Atelierwohnungsadresse war 3 Washington Square North (bei Washington Square East). Das davon 1 km entfernte „Sheridan Theater“ konnte Hopper zu Fuß in weniger als 15 Minuten erreichen.

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37  Werbebild zu Go West Young Man (R: Henry Hathaway, 1936), 12,2 × 9,8 cm.

seiner Eröffnung 1921 war es das erste eigens erbaute Filmtheater jenseits des New Yorker „Theater District“ mit den damals berühmten großen Filmpalästen wie z. B. dem „Rialto Theater“ und dem „Strand Theater“. Die Baukosten des „Sheridan Theater“ beliefen sich auf ca. 700.000 USD; ca. 2.700 Zuschauer fanden in dem Kino Platz. Die Charakterisierung des Gebäudes als „dynamic, exotic space“ von dem Kunsthistoriker Robert Silberman in einem Beitrag zu Edward Hopper ist nicht zutreffend, da keine exotischen Stilrichtungen aufgegriffen wurden, die gerade Ende der 1920er im Lichtspieltheaterbau populär waren.363 Denn die Innenarchitektur ist vom Neorenaissancestil sowie durch georgianische Architektureinflüsse geprägt.364 Die Eleganz und die auch in der Lobby dominierenden Farben von Grün, Elfenbein und Gold hat Hopper in seinem Gemälde aufgegriffen.365 Das „Sheridan Theater“ wurde als „neues Pantheon“ bezeichnet und fungierte Anfang der 1920er Jahre als eines der „schönsten Lichtspieltheater“ im Osten der USA.366 Sogar Kracauer hätte das „Sheridan Theater“, insbesondere im Vergleich zu der von ihm in „Kult der Zerstreuung“ angeführten, zum Sakralen tendierenden Prunkarchitektur, wohl ebenfalls als geschmackvoll gefunden (siehe Kapitel IV, S. 119). Die elegante Innenarchitektur vom „Sheridan Theater“ war auf das Kinopublikum im Künstlerviertel Greenwich Village ausgerichtet. Es wurde vom Eigentümer auch als „National Cinema-Art Theatre of America“

363 Silberman 2002, S. 145. 364 Anon. 1922, S. 18. 365 Siehe Anzeige von Frank Adam Electric Co. in: Exhibitor’s Trade Review, 12.11.1921, S. 1683. 366 The Quill, Oktober 1921, S. 23; Anon. 1922b.

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38  Sheridan Theater, ca. 1921/1922, Fotografie, New York, publiziert in A ­ rchitecture and Building, Februar 1922 Bd. 54, Nr. 2, Tafel 24.

beworben367 und sollte als „resort of both the fashionable set and the aspiring genius“ fungieren.368 Neben den Künstlern wollte man allerdings auch die Pendler von New Jersey und der Bronx sowie die Arbeiter aus dem südlichen Manhattan zu den luxuriösen Vorstellungen mit Orchester und Orgel anziehen.369 Dem ersten Direktor, Edwin T. Emery, gelangen mehrere Marketing-Stunts, aber schon nach circa zwei Jahren verlagerte sich die Aufmerksamkeit des Publikums und der Medien auf die neuen Filmtheater. Um mit diesen konkurrieren zu können, wurde das Sheridan Theater 1927 mit besseren Projektoren, neuen Dekorationen sowie einem größeren Orchester nach einer Übernahme durch die Kinokette „Loew’s Theatres“ im Dezember 1926 ausgestattet.370 1930 galt es nur noch als „neighbourhood theatre“, dessen Betrieb in den nächsten Jahren jedoch profitabel war.371

367 Siehe das Frontispiz des Weekly House Organ Program des Sheridan Theater, New York, Sommer 1923, abgebildet in: Exhibitor’s Trade Review, 21. Juli 1923, S. 313. 368 Exhibitor’s Trade Review, 10. März 1923, S. 720, siehe auch Anon. 1922c. – So schaute u. a. auch der damals in Greenwich Village wohnende Schriftsteller Theodore Dreiser 1923 im Kino vorbei (Dreiser 1982, S. 400). 369 Anon. 1922b. 370 Anon. 1927. 371 Anon. 1930b; Anon. 1934.

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39  Sheridan Theater, ca. 1921/1922, New York, Lobby und Mezzanin-Promenade, Fotografie, publiziert in Architecture and Building, Februar 1922 Bd. 54, Nr. 2, Tafel 26.

Unterschiede zwischen dem realen „Sheridan Theater“ und Hoppers Gemälde Hopper wählte Ende 1936/Anfang 1937 somit als Sujet die vom ersten Stock aus gesehene Eingangshalle eines Kinos, das damals schon 15 Jahre alt war. Im Bild verraten dies die vielen Spuren auf dem Teppich, aber auch der elegante historistische Stil, der mittlerweile nicht mehr en vogue war. Auffällig ist, dass Hopper das Gebäude noch größer gestaltet hat, als es eigentlich war. Denn der Eingangsbereich des „Sheridan Theater“ erstreckte sich eigentlich nur über zwei Stockwerke, nämlich über das Erdgeschoss und den sogenannten Mezzanin­ bereich. Dies ist wie auf einem zeitgenössischen Foto (Abb. 39) und auf einer Skizze von Hopper zu sehen372 sowie auch einer zeitgenössischen Beschreibung zu entnehmen: Above the foyer a well opens through the mezzanine floor which gives a clear ceiling height of thirty five feet above the floor. Extending from both ends of the mezzanine promenade are two wide passages or vomitories with groined ceilings, leading directly to the loges and balcony. From this mezzanine a marble staircase leads directly to standing space at the back of the balcony.373

372 Sheridan Theater, New York, Lobby und Mezzanin-Promenade, Fotografie, ca. 1921/1922; Edward Hopper, Studie für „The Sheridan Theater“, 1936–37, Kreide auf Papier, 11,4 × 18,1 cm, New York, Whitney Museum of American Art, Inv.-Nr. 70.963. 373 Anon. 1922, S. 18.

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40  Edward H ­ opper, The Circle T­ heater, 1936, Öl auf Leinwand, 68,58 × 91,44 cm, Privatsammlung.

Hopper fügte in seinem Bild jedoch über dem Mezzanin noch ein weiteres Stockwerk mit einer Balustrade hinzu, sodass das Theater über zwei Balkonbereiche zu verfügen scheint. Solche sind natürlich aus der Opern- und Theaterarchitektur bekannt.374 Indem Hopper in seinem Gemälde eine weitere Ebene ergänzt, wirkt das Lichtspieltheater imposanter. Zusätzlich erstrahlt der Raum bei Hopper in einem diffizil zwischen Gelb, Orange-Rot und Gold changierendem Licht. Das „Sheridan Theater“ zeichnete sich bei seiner Eröffnung tatsächlich durch ein besonderes Beleuchtungssystem aus, bei dem in erster Linie ein großer, die Farben wechselnde Kronleuchter im Vorführungssaal herausgestellt wurde.375 Die von Hopper akzentuierte Beleuchtung im Foyer wirkt sehr verheißungsvoll, sie ist wärmer und positiver gehalten als die kalte Helligkeit, die für andere Arbeiten des amerikanischen Malers signifikant ist. Zu diesen gehört z. B. auch Hoppers The Circle Theater (1936), das noch genauer besprochen wird (Abb. 40, Taf. IX). 374 Beispiele für Theatergebäude in New York, die Anfang des 20. Jh.s mit zwei Balkonen gebaut wurden, sind „Empire Theater“, „Lyric Theater“ und „Columbia Theater“ – siehe z. B. Hoogstraten 1997, S. 22–27, S. 60–65, 375 Siehe die schon erwähnte Anzeige von Frank Adam Electric Co. in: Exhibitor’s Trade Review, 12.11.1921, S. 1683.

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Der „Mae West effect“ Auffällig sind zudem die Korrespondenzen der rechts stehenden Filmtheaterbesucherin und der Innenarchitektur. Diese werden u. a. durch die Platzierung der Protagonistin als auch durch die Farbgebung erreicht. Hinter der an Mae West erinnernden Frau beginnt ein Gewölbebogen. Die Frau vor der Balustrade wirkt so wie eine Karyatide. Ihr Kopf von hinten ersetzt gleichsam ein Kapitell, zumal die Verzierung an der Säule links auf derselben Höhe neben der Frau in ähnlichen Farben gehalten ist. Die Innenarchitektur bildet generell einen farblichen Widerhall zu der Frauengestalt. So entspricht die Farbgebung der Balustrade derjenigen der Beine der Frau, die rötliche Wandbekleidung und der untere Bereich der Deckenlampen ihrem Rock, der in Hellgold strahlende Deckenbeginn im zweiten Stock dem Blond der Haare. Selbst das Weiß der Jacke findet in dem Deckenbereich noch ein Pendant. Der schwarze Hut der Besucherin ist neben den farblich übereinstimmenden verschatteten Bögen positioniert. Die Körperkurven der Frau finden ebenfalls ein Echo in den gerundeten Architekturelementen. Diese ostentativen visuellen Parallelen scheinen darauf zu verweisen, dass nicht nur Filmdiven wie Mae West die Filmkonsumenten zu einem wiederholten Kinobesuch verlocken sollen.376 Auch die luxuriösen Filmpaläste sollten in ihrer Blütezeit die Fantasie der BesucherInnen anregen und sie zu häufigen Kinobesuchen verführen. Sie waren in den 1920er Jahren wesentlich für die Filmindustrie. Für Marcus Loew, dessen Kino-Kette auch das „Sheridan Theater“ ab 1926 betrieb, galt z. B. die Maxime „We sell tickets to theaters not movies.“377

Hoppers The Circle Theater In den 1930er änderte sich jedoch die Stellung der Kinos, teilweise auch bedingt durch die Wirtschaftskrise. Sie waren im ‚Streamline Moderne‘-Stil gehalten. Auch der Betrieb war weniger elegant.378 Diese neuen Entwicklungen im Kinobereich scheint Hopper in einem anderen Gemälde zu thematisieren, nämlich in dem im Frühjahr 1936 fertig gestellten The Circle Theater (siehe Abb. 40, Taf. IX).379 Dieses Gemälde ist von dem gleichnamigen Filmtheater am Columbus Circle in New York inspiriert (Abb. 41, Taf. X).380 Ursprünglich war es vom Archi­ tekten Charles Chavenaugh 1901 als Vaudeville-Theater gebaut worden. Bis 1936 wurden

376 377 378 379

Kuhn 1985, S. 13. Melnick 2012, S. 82. Butsch 2001, S. 111. Edward Hopper, The Circle Theater, 1936, Öl auf Leinwand, 68,58 × 91,44 cm, Privatsammlung. – Hopper übergab das Gemälde am 18. April 1936 seinem Galeristen (Levin 1995, S. 285). Es wurde erst vom Whitney Museum angekauft, jedoch 14 Jahre später gegen ein anderes Gemälde eingetauscht [siehe Edward Hopper, Artist’s ledger, Buch II, S. 14 (Notizen zu The Circle Theater), New York, Whitney Museum of American Art, Inv.-Nr. WMAA.96.209a–uuu]. 380 „The Circle Theater“, 1825 Broadway bei 60th Street, New York, NY 10023. – Hopper war öfter beim Columbus Circle, u. a. besuchte er dort ein chinesisches Restaurant mit seiner Frau, das er ebenfalls als Sujet für ein Gemälde aufgriff (Edward Hopper, Chop Suey, Öl auf Leinwand, 1929, 81,3 × 96,5 cm, Privatsammlung; siehe Levin 1995, S. 221).

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41  Columbus Circle, ca. 1916, 8,89 × 14 cm, Postkarte verlegt von Leighton and Valentine Co., New York, Museum of the City of New York, Inv.-Nr.: X2011.34.2393 (mit Markierung des „Circle Theater“).

an dem Gebäude mehrere Änderungen vorgenommen. Schon 1906 baute es Thomas W. Lamb nochmals um.381 Nach nur wenigen Jahren wurde es als Kino genutzt.382 Der Zustand 1935 wird von einer Zeichnung von Anthony F. Dumas dokumentiert, die erhellend für einen Vergleich mit dem Gemälde Hoppers ist (Abb. 42).383 Dumas’ Zeichnung kann im Vergleich mit den anderen Darstellungen (siehe z. B. Abb. 41, Taf. X) perspektivisch nicht ganz korrekt sein,384 aber die Details der Front scheinen von ihm genau erfasst worden zu sein.385 Deutlich wird an den Postkarten und Dumas’ Zeichnung, dass Hopper signifikante Änderungen an der Frontseite vorgenommen hat. Denn er bringt in dem Gebäudekomplex rechts und links 381 1939 wurde „The Circle Theater“ zum „Columbus Circle Roller Rink“ umgebaut und 1954 abgerissen – Hoogstraten 1991, S. 53–55. 382 Ebd., S. 54. – Zuerst gehörte das Kino zu der Loew-Kette und wurde im Frühjahr 1926 nochmals neu gestaltet (The Film Daily, 31.3.1926, S. 4). Ab Ende 1932 hatte es andere Betreiber (Variety, 22.11.1932, S. 7), 1935 gehörte es zu „Consolidated Amusement Enterprises“. 383 Anthony F. Dumas, der im Bereich Zierputz arbeitete, erstellte viele Zeichnungen von Theatern. Sie basierten auf Fotos und vielleicht auch auf eigener Anschauung (Davis 2013). Da im August 1935 die Front des „Circle Theater“ bei einem Bombenangriff zerstört wurde (Anon. 1935b), ist nicht sicher, ob es anschließend noch Änderungen gab. Es ist nicht bekannt, ob die Zeichnung von Dumas vor oder nach dem Bombenangriff entstanden ist. Einen Monat nach dem Bombenangriff wurde das Filmtheater verkauft (Hoogstraten 1997, S. 54). 384 Siehe auch Anon., West Side of Columbus Avenue, 1920er Jahre, abgebildet in Stravitz 2004 (ohne Seitenangabe). 385 Der linke Gebäudeteil geht etwas weiter nach hinten, jedoch nicht so viel wie auf Dumas’ Zeichnung.

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42  Anthony F. Dumas, Circle Theater, 1935, Tuschezeichnung, Detail, 25,4 × 35,56 cm (Original), New York, Museum of the City of New York, Inv.-Nr. 75.200.113.

neben dem Kinoeingang andere Geschäfte unter – bei Dumas ist nur ein Painting-Geschäft zu sehen – und verändert die Fassade. Links neben dem Kinoeingang ist in Hoppers Gemälde ein Drugstore, von dem jedoch nur das dreimalige Anpreisen von „Drugs“ und „Soda“ in unterschiedlicher Höhe über dem Eingang zu sehen ist. Darüber hinaus wurde im oberen Bereich noch „Candy“ und im mittleren Bereich mit weniger deutlichen Buchstaben „Horton’s Ice Cream“ beworben. Dieser Eiscremehersteller, ein New Yorker Traditionsunternehmen, konnte mit größeren, stärker mechanisierten Produktionsverhältnissen nicht mehr mithalten und wurde 1928 von einer größeren Firma aufgekauft. Ab 1930 existierte er nicht mehr als unabhängige Marke.386 Rechts neben dem Eingang ist in Hoppers Gemälde ein roter Schaukasten mit goldenen Verzierungen und Filmfotos zu sehen, die auf kommende Kinovorführungen hinweisen sollten. Ein solcher ist auf Dumas’ Zeichnung nicht mehr auszumachen. Die Schaukästen kamen Ende der 1910er Jahre in Mode387 und waren auch beim „Circle Theater“ installiert, das damals zu der Loew-Kinokette gehörte. Vom Stil her unterscheiden sie sich jedoch von dem auf Hoppers Bild. Bei dem kleinen Juwelenladen rechts im „Circle Theater“ ist keinerlei Werbung 386 Anon. 1936; Schneider 2000. 387 Siehe z. B. Moving Picture World, 24.6.1922, S. 742.

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Exkurs: Edward Hoppers Kinobilder aus den 1930ern

neben dem Schmuck in der Auslage zu erkennen. Auch der Geschäftsname ist sehr schlicht gehalten. So wirkt das Geschäft weitaus edler als dasjenige links. Offenkundig ist, dass die Marketingthematik für das Gemälde von Bedeutung ist. Mit dem Drugstore und dem Juwelengeschäft deutet Hopper an, welche Vermarktungsstrategien die Filmtheater generell hatten, nämlich das Bewerben entweder als günstiges oder als ein luxuriöses Vergnügen. Im Zusammenhang mit dem Tonfilm, aber auch beeinflusst durch die ökonomische Krise, veränderte sich das Kinovergnügen in den USA in den 1930er Jahren. In den großen Lichtspielpalästen wurden die Bühnenshows reduziert oder ganz abgeschafft und die Eintrittspreise herabgesetzt. Auch setzte sich neben den Ticketschaltern in der Lobby an sogenannten ‚refreshment stands‘ der Verkauf von Getränken, Popcorn und Süßigkeiten zum Verzehr im Zuschauerraum durch. Diese boten wichtige Zusatzeinnahmen388 und machten den Drugstores und Süßwarenläden Konkurrenz. Gegen die ebenfalls stattfindenden Lohnkürzungen wehrten sich insbesondere die Gewerkschaften der Filmvorführer. So wurden Streiks organisiert, um gegen die langen Arbeitszeiten, die wenigen freien Tage und den fehlenden Urlaub zu protestieren.389 Unabhängig von den gewerkschaftlichen Aktionen wurden aber auch Bombenanschläge gegen „the perceived greed of theatre management“ verübt.390 1935 zerstörte eine Bombe die Front und den Ticketschalter des „Circle Theater“, bei dem es zuvor schon einige Tage lang einen Streik gegeben hatte.391 Dessen Betreiber, die Kette „Consolidated Amusement Enterprises“, befand sich damals im Streit mit den Gewerkschaften wegen der Verminderung des Mindestlohns um 41 %.392

Bedrohliche Atmosphäre In dem Jahr, als Hopper das Bild malte, war das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und den Kinobetreibern besonders angespannt und es wurden noch mehr Bomben gezündet, die auch Kinobesucher gefährdeten.393 Dies könnte Hoppers Beschäftigung mit dem Sujet ausgelöst haben. Denn auf diese Bombengefahr aus dem Untergrund scheint Hopper symbolisch aufmerksam zu machen. So wird der Blick auf den Kinoeingang ostentativ durch einen U-Bahn-Kiosk der Interborough Rapid Transit Company im Beaux-Art-Stil verstellt, der 1904 am Columbus Circle installiert worden waren (Abb. 43, Taf. XI). Tatsächlich gab es einen solchen vor dem Kino (siehe Abb. 41, Taf. X). Aber Hopper scheint ihn noch etwas weiter links platziert zu haben, damit der U-Bahn-Eingang direkt mittig auf Höhe des Kinoeingangs situiert ist und so den Blick auf diesen versperrt. Die grauen Milchglasscheiben des U-Bahn-Kiosks wirken bei Hopper nicht luftig und vom gesamten U-Bahn-Kiosk geht eine bedrohliche Wirkung aus. Dies wird noch durch den leeren Zeitungsstand vor diesem akzentuiert. Indem das Schwarz des Kiosks in dasjenige der 388 Butsch 2001, S. 110. 389 Siehe die Klage über die Arbeitsbedingungen in Anon. 1937. 390 Rhodes 2012, S. 112, S. 117. 391 Anon., Walkout averted in operator dispute, in: Motion Picture Herald, 17.8.1935, S. 32. 392 Anon. 1935b. 393 Rhodes 2012, S. 136–138.

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43  U-Bahn-Kioske der Interborough Rapid Transit Company, ca. 1905, New York, Postkarte, 9 × 14 cm.

Fassaden von Kino und Juwelier übergeht, wirkt der U-Bahn-Eingang noch monumentaler und erinnert an einen Höllenschlund.394 Die beängstigende Atmosphäre wird zusätzlich durch das grünlich-kalte Licht unterstrichen. Der schwarze, gefährlich aussehende U-Bahn-Kiosk und die fremdländisch wirkende Verzierung des pagodenähnlichen Kinoportals, die an den sogenannten Exotic-Revival-Stil angelehnt zu sein scheint, kontrastiert darüber hinaus mit der zierlichen hellen Gebäudefassade und den Säulen mit den ionischen Kapitellen und vergoldeten Stellen.395 Im Zusammenhang mit dem anscheinend die Bombengefahr aus dem Untergrund versinnbildlichenden U-Bahn-Kiosk werden auch die beiden roten Ampeln und der Betrachterstandpunkt vor der ersten im Vordergrund verständlich. Sie sind von der Hopper-Forschung herausgestellt worden, ohne bislang ihre Bedeutung zu klären.396 Die vordere Ampel fungiert sogar repoussoirähnlich für den Betrachter. Die Aufstellung ist klassisch für die damaligen automatischen Ampeln, die sich Mitte der 1920er Jahre in New York durchsetzten und die zuvor üblichen Verkehrstürme mit Polizeiangestellten ablösten. Insbesondere seit 1934 wurden von dem New Yorker Bürgermeister La Guardia besonders viele neue Ampeln installiert.397 Hopper wählt ein schlichteres Ampelmodell mit zwei Signalen in Rot und Grün.398

394 Die New Yorker U-Bahn ist bekannt für den Vergleich mit der Hölle – Brooks 1997, S. 1f., S. 205. 395 Der weiße Wandbereich nimmt in Hoppers Bild mehr Raum als real in den 1930er Jahren ein, da die Juweliergeschäftsfront nicht so hoch aufragt. 396 Siehe z. B. Silberman 2002, S. 139: „One of the most intense elements in the painting is the visual exclamation point presented by the red glow of a traffic light on the lower right […].“ 397 Anon. 1936b. 398 Es gab auch aufwendigere Ampeln mit Merkurstatuen z. B. in der 5th Avenue. Das von Hopper gewählte Ampelmodell kam wohl Ende der 1920er in Gebrauch. Die Ampeln waren schwarz bis auf die Licht-

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Mitte der 1930er Jahre waren Ampeln kulturhistorisch noch ein relativ junges und vieldiskutiertes urbanes Phänomen, was damals auch die größere Anzahl von Leserbriefen zu Ampeln in der New York Times anschaulich belegt. Somit hat Hopper ein besonderes urbanes Warnsignal in sein Gemälde integriert, das zur Entstehungszeit des Gemäldes noch mehr als heute die Aufmerksamkeit der Betrachter auf sich gezogen haben dürfte.399 Einen farblichen Reflex finden die roten Ampeln bei den roten Kreisverzierungen beim Kinoeingang, in dem betont roten Schaukasten mit den Filmankündigungen sowie in den ersten und den letzten Buchstaben des Kinonamens, die hinter dem Kiosk wie eine Warnung in Rot hervorleuchten. Die Ampeln und die weiteren roten Elemente beim Kino dramatisieren die Szene400 und scheinen dezidiert vor dem Kinobesuch angesichts von Schwierigkeiten im Kinotheaterbereich und den Bombenanschlägen in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre zu warnen. Mit den vergoldeten Säulen kann demgegenüber an eine elegantere Ära und eine andere (Kino-) Theaterkultur erinnert werden. Daher werden in Hoppers Gemälde The Circle Theater wohl nicht nur die von Lyriker Mark Strand diagnostizierten Kontraste von Alt und Neu thematisiert.401 Vielmehr soll mit dem bedrohlich wirkenden Kino auf die damaligen Probleme der Filmindustrie aufmerksam gemacht werden, deren „cheapening strategies“ die Kinos damals veränderten und soziale Unruhen bewirkten.402 Hoppers Einbringen der schon während der Bildentstehung nicht mehr existenten Eismarke Horton verweist zudem auf grundsätzlichere Probleme, die durch die von der Wirtschaftskrise verschärften ökonomischen Konkurrenz hervorgerufen wurden. Hopper behandelt somit die Filmindustrie als eine der wichtigsten amerikanischen Freizeitindustrien in seinem Gemälde exemplarisch für den ökonomischen Wettbewerb, der zu inhumanen Verhältnissen führt und soziale Unruhen bewirkt.

Motivische Brechungen in The Sheridan Theater Gegenüber dem bedrohlich wirkenden kleinen „Circle Theater“ wirkt das „Sheridan Theater“ in dem Gemälde von 1936/7 mit der betont höheren Lobby und dem warmen Licht nostalgisch. Hierzu passt auch das Einbringen der Rückenansicht der rechts stehenden Frau, mit der ein klassischer Sehnsuchtstopos aus der Romantik aufgegriffen wird.403 Hopper huldigt mit seiner idealisierten Darstellung des „Sheridan Theater“ der Verführungsmacht der älteren Lichtspieltheater. Die Divergenzen zwischen der Ära der Kinopaläste in den 1920er Jahren und der

signale, in den 1950ern wurden sie jedoch olivgrün gestrichen und nach 1962 gelb. Ampeln mit zwei Signalen wurden 1925 in New York vorgeschrieben. Ab 1955 wurden dreifarbige Ampeln in New York installiert (siehe Gray 2014). 399 Allgemein zu Ampeln siehe McShane 1999, zu Ampeln in New York siehe Gembara 2015. 400 Levin 1995, S. 285. 401 Strand 2001, S. 20f. 402 Butsch 2001, S. 111. 403 Rühse 2013c. – Die romantische Sehnsucht nach göttlicher Erfahrung, die in der Romantik über die Rückenfigur zum Ausdruck gebracht wurde, wird von Hopper jedoch säkular aufgefasst.

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44  Zwei Platzanweiserinnen vor dem Sheridan Theater, 1922, New York, in: Exhibitor’s Trade Review, 25. Februar 1922, S. 909.

Entstehungszeit des Gemäldes in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre klingen jedoch an. Denn mit ihrem modernen Hosenanzug passt die ‚usherette‘ nicht recht zu dem älteren Interieur. Anfang der 1920er Jahre trugen die Platzanweiserinnen im „Sheridan Theater“ beispielsweise längere Samtjacken mit großen Schleifen, die an barocke Männerkleidung angelehnt waren, sowie Malermützen, die auf das Künstlerviertel Greenwich Village ausgerichtet waren (Abb. 44). Darüber hinaus bildet der rote Rock der rechts an der Balustrade stehenden Besucherin einen großen Kontrast zu den dezenteren Tönen der Innenarchitektur. Er ist zwar als Abendgarderobe geeignet, wirkt aber sehr aufreizend und daher auch etwas weniger geschmackvoll. Ebenfalls stützt sich die Besucherin nicht sehr elegant auf die Brüstung auf.404 Die frechen Filme mit Mae West, an deren Aussehen die Besucherin angelehnt ist, unterscheiden sich zudem von der Verfilmung des Romans Jane Eyre,405 mit dem das „Sheridan Theater“ eröffnet wurde und mit der damals ein Kinoprogrammstatement gesetzt wurde. Auffällig ist ebenfalls die Atmosphäre von Isolation und Einsamkeit, die in Hoppers „Sheridan Theater“ durch die Trennung der rechts stehenden Frau von den Personen links bewirkt wird. Darüber hinaus sind keine weiteren Personen zu sehen; der zweite Balkon ist betont leer. Auf die Frequentierung des Kinos machen nur die Fußspuren auf dem Teppich rechts aufmerksam. Mit der so forcierten Leere soll wie auf anderen Bildern von Hopper einer inneren Befindlichkeit des modernen urbanen Lebens Ausdruck gegeben werden, wobei die Wahl des Sujets von den Veränderungen im Kinobereich in den 1930er Jahren angeregt worden zu sein scheint.406

404 Auch die ‚usherette‘ hinten links im Gemälde The Sheridan Theater lehnt nicht sehr elegant an dem Treppengeländer. 405 Jane Eyre, R: Hugo Ballin, USA 1921. 406 Siehe Levin 1995, S. 219; Doss 2015, S. 22.

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Entwicklungen in den 1930er Jahren in den USA Nach der Wirtschaftskrise war nur ein kurzer Einbruch der Kinobesuche zu verzeichnen; 1936 gab es mit 88 Mio. schon fast wieder so viele Kinobesucher wie 1930 (90 Mio.) in den USA.407 Laut einer Zeitungsmeldung von 1934 war das „Sheridan Theater“ auch profitabel.408 Allerdings hielten sich in den 1930er Jahren weniger Besucher auf der Promenade im Mezzanin, in der Lobby und in den übrigen Gesellschaftsräumen auf. Denn man konnte das Kino in den USA nun auch zwischen den Vorstellungen betreten und musste nicht mehr bis zum Beginn des nächsten Films warten.409 Ebenfalls hatten die Filmtheater-Direktoren in den 1930ern weniger Handlungsfreiheit, um Community-Events zu veranstalten, wie sie z. B. von dem ersten Direktor des „Sheridan Theater“ organisiert worden waren.410 Der Kinobesuch war so weniger ein gesellschaftliches Ereignis und stattdessen einsamer, anonymer und kommerzialisierter, was Hopper zu dem Gemälde inspiriert haben könnte.411 The Sheridan Theater, The Circle Theater und New York Movie machen deutlich, dass Hopper das Thema der Einsamkeit nicht nur in simplen Variationen durchspielt,412 sondern dass er kritisch auf aktuelle Belange Bezug nimmt. Seine nostalgisch wirkende Idealisierung des „Sheridan Theater“ unterscheidet sich jedoch maßgeblich von Kracauers Kritik der Berliner Lichtspielpaläste als bürgerliche Attrappen. Laut Kracauer ist die bürgerliche Kultur, an die die Lichtspielpaläste mit ihren Theater- und Opernreminiszenzen angelehnt sind, nicht mehr zeitgemäß und dient nur zur Ablenkung von den gesellschaftlichen Schäden. Bei Hopper wirkt die visuelle Darstellung des Lichtspieltheaters weitaus positiver. Kracauer ist in seiner Angestelltenstudie zwar nicht speziell auf die Beschäftigten in der Freizeitindustrie eingegangen, er hätte Hoppers Aufgreifen der ‚usherette‘, der Dekonstruktion des Glamours und dem Herausstellen der Entfremdung jedoch wohl zugestimmt. Hopper und Kracauer teilen somit nicht nur die Kinoleidenschaft und die Beschäftigung mit der Großstadt, sondern auch die kritische Auseinandersetzung mit der modernen Gesellschaft und den zeitgenössischen Unruhepotenzialen – sei es mit einem kleinen Alt-Berliner Kino in der Wirtschaftskrise oder einem gefährlich wirkenden Lichtspieltheater in der Zeit von Bombenanschlägen in Kinos am Columbus Circle in New York.

407 Butsch 2001, S. 108. 408 Anon. 1934. 409 Butsch 2001, S. 117. 410 Ebd., S. 111. 411 Ebd., S. 119. 412 Vgl. Doss 2015.

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Filmpaläste im 21. Jahrhundert Arbeitslose damals und heute Anfang der 1930er waren Arbeitslose weitaus präsenter im öffentlichen Raum als heute, unter anderem weil damals die Arbeitslosenunterstützung und die Sozialhilfe bar ausgezahlt wurden. Unübersehbar waren die langen Schlangen am Ende der Weimarer Republik vor den Arbeits- und Wohlfahrtsämtern. Teilweise mussten sich die Arbeitslosen sogar täglich oder mehrmals in der Woche auf der ‚Stempelstelle‘ bei den Ämtern melden, denn das Erhalten des Stempels war notwendig für die Auszahlung der Unterstützung. Besonders bekannt ist eine Fotografie einer solchen Schlange vor dem Hannoveraner Arbeitsamt von dem schon angeführten Arbeiterfotografen Walter Ballhause geworden. An einer Wand links oben sind der Schriftzug „Wählt Hitler“ und ein Hakenkreuz zu sehen (Abb. 45).413 Wenn Kracauer circa 80 Jahre später die soziale Situation der Erwerbslosen nach der letzten großen Wirtschaftskrise hätte erkunden wollen, hätte er wohl mehr Privaträume anstatt kleiner Kinos aufsuchen müssen. Denn 2009/2010 waren Fernsehen und Downloadportale ein weitaus günstigerer Ersatz für Kinounterhaltung. Die Qualität illegaler schlechter Downloads und das Ansehen in den kleinen Wohnungen auf den PCs neben Stapeln zurückgeschickter Bewerbungen auf dem Schreibtisch von Beschäftigungslosen war jedoch vielleicht nicht weniger trist als das Münzstraßenkino von innen. Einige Jahre nach der letzten großen ökonomischen Krise können wieder Vergnügungspaläste als repräsentativ für größere Gesellschaftsschichten gesehen werden. In Brooklyn ist für 95 Mio. USD sogar ein Filmpalast von 1929, das „Kings Theater“, renoviert worden. Das ehemalige Großkino dient nun als elegante Live-Aufführungsstätte, um die Gentrifizierung der Flatbush Avenue zu unterstützen.414 Im Filmtheaterbereich sind derzeit Luxuskinos mit Essensmöglichkeit in den Kinosälen in den USA und in England Trendsetter.415 In New York sind zum Beispiel in den letzten Jahren mehrere Dine-in-Cinemas eröffnet worden.416 Sie erregen nicht mehr so viel internationale Aufmerksamkeit wie die Großkinos der Weimarer Republik, in der regionalen Presse werden die Eröffnungen jedoch wahrgenommen. Teilweise werden zwar die hohen Preise und die Ablenkung durch das Essen moniert, generell erhalten sie jedoch positives Feedback. Für eine tiefere kritische Auseinandersetzung mit

413 Walter Ballhause, Arbeitslosenschlange im Hof des Arbeitsamtes Hannover, 1930, Fotografie, 29,4 × 41,1 cm, Deutsches Historisches Museum, Berlin, Inv.-Nr.: Ph 92/104; siehe auch Wiechers 2016, S. 84–86; Weyerer 1997. 414 Adams 2015. 415 Im deutschsprachigen Raum hat sich die Tendenz, Essen im Kinosaal selbst zu servieren, noch nicht richtig durchgesetzt. Ansätze gibt es in Berlin, wo in der Astor Film Lounge am Kurfürstendamm während des Vorprogramms Essen und Getränke an den Platz bestellt werden können (jedoch nicht während des Hauptfilms). 416 Zu den in den letzten Jahren eröffneten Dine-in-Kinos in New York gehören z. B. „Alamo Drafthouse Cinema“ in Downtown Brooklyn, „Metrograph“ in Lower East Side und das „IPIC“ im South-Street-­ Seaport-Viertel.

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Filmpaläste im 21. Jahrhundert

45  Walter Ballhause, Arbeits­losenschlange im Hof des Arbeitsamtes Hannover, 1930, Fotografie, 29,4 × 41,1 cm, Walter-Ball­hauseArchiv, Plauen.

diesen können Kracauers Behandlung der Großkinos in den 1920er Jahren und die Ansichten anderer Filmkritiker sehr inspirierend sein.

Heutige Kino-Paläste der Zerstreuung – Das IPIC-Filmtheater in Manhattan Bemühungen um mehr Luxus im Kinobereich gab es schon während der letzten Jahrtausendwende. So richteten in Australien und den USA einige Kinos verbesserten Service wie die damals noch nicht allgemein in Kinos üblichen Sitzplatzreservierungen und Online-Tickets sowie einen Concierge-Service ein.417 Damit wollte man sich auch von den Megaplexes und deren Abfertigen von möglichst vielen Kinobesuchern in kurzer Zeit absetzen.418 Die kleine amerikanische Kinokette Muvico bot sogar Kinderbetreuung und Parkservice an und verband die Kinos mit Restaurants.419 Schließlich begann man in einigen Kinos auch in den Kinosälen selbst Speisen zu servieren und nicht nur Snacks zur Mitnahme anzubieten. Dies gilt heute als besonders zukunftsweisend in den USA. So erhofft man sich, die Besucher mit Essen und natürlich auch den neuesten Sound- und Projektionstechnologien weiterhin ins Kino zu locken, nachdem die Kinobesucherzahlen seit mehreren Jahren rückläufig sind. Mitverantwortlich für die geringeren Kinobesuche waren zunächst die einfachen Ausleihmöglichkeiten von DVDs per Post und in den letzten Jahren die Online-Videotheken und Streamingdienste.

417 Redstone 2004. 418 Lora 2018. 419 Montalbano 2010, S. 19.

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46 + 47  Kinosaal / Kinosessel im IPIC-Kino im Fulton Market Building, New York, Eröffnung 2016, Fotos: Bernhard Kastner 2019.

Der frühere Geschäftsführer von Muvico, Hamid Hashemi, gründete 2006 die amerikanische Luxuskinokette IPIC. Ende 2020 umfasste sie 15 Kinos in den USA.420 IPIC verbindet das Filmtheater mit einem Restaurant- und Barbetrieb, wobei das Essen und die Cocktails auch in die Kinosäle serviert werden. 2016 eröffnete IPIC ein Kino in dem nach Hurrican Sandy in den letzten Jahren zum Einkaufsviertel sanierten South-Street-Seaport-Viertel in „Lower Manhattan“. Im renovierten „Fulton Market Building“, dessen Fassade im 1980er-Jahre-Stil belassen wurde, umfasst das IPIC-Kino drei Stockwerke. Über einem großzügigen Empfangsbereich im Erdgeschoss sind im ersten Stockwerk die Kinosäle untergebracht. Im dritten Stock findet man neben einer Bar und einem Restaurant Toiletten sowie die Bestelltheke für Popcorn. Letztere ist für diejenigen Besucher gedacht, die keine Premium-Plus-Plätze gebucht haben, an die man Gratis-Popcorn serviert bekommt. Die Kinosäle verfügen über verschiedene Arten von Sitzgelegenheiten aus Leder, nämlich bequeme Einzelsessel, Zweier-Chaiselongues, in denen man liegen kann, und sog. „Pod seats“ (Abb. 46). In diesen Zweierboxen kann man sich strandkorbähnlich und abgeschirmt von den anderen Besuchern zurücklehnen, per Knopfdruck fahren die Sitze zu einem Liegesessel aus. Die Einzelsessel und die Chaiselongues fallen in die günstigere „Premium“-Kategorie. Das Essen muss man sich auf diesen Plätzen im dritten Stock selbst holen. Die „Pod seats“ gehören in die teure Kategorie „Premium Plus“. 2019 kosten sie 30 USD und stellen damit die teuersten Kinoplätze in New York dar.421 Die 420 Im Spätsommer 2019 meldete das IPIC-Unternehmen Konkurs an und im November 2019 wechselten die Besitzer. Die weitere Entwicklung ist noch abzuwarten. Der jetzige Geschäftsführer ist Paul Safran. 421 Lynch 2016. Der durchschnittliche Kinoticketpreis in New York beträgt 16,50 USD (Arkin 2019). Das bei IPIC auf den Premium-Plus-Plätzen inkludierte Popcorn kostet allerdings in anderen Kinos auch schon ca. 10 USD, d. h., wenn man Popcorn konsumiert, ist IPIC nur 4 USD teurer.

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48  Mike Stilkey, Installation (Book Sculpture), 2016, New York, IPIC-Kino, Fulton Market Building, Foto: Bernhard Kastner 2019.

Pod-Sitze sind auch mit Decke und Kissen ausgestattet (Abb. 47). Tatsächlich sind die Decken für Gäste aus Europa in der wärmeren Jahreszeit wegen der New Yorker Klimaanlagen praktisch. Auf die Amerikaner sollen die kuscheligen Wohnzimmer-Accessoires besonders heimelig und komfortabel wirken.422 Denn das IPIC-Konzept besteht darin, den Komfort, den man zu Hause beim Filmstreamen gewohnt ist, im Kino mit weiteren Services zu verbinden. So kann man an den Premium-Plus-Pods Essen und Getränke am Platz bestellen. Via Knopfdruck kommt ein Kellner und nimmt die Wünsche (sowie die Kreditkarte) entgegen. Darüber hinaus soll die Inneneinrichtung edel und hip zugleich wirken. Wände und Böden sind in dunklen Farben gehalten. Viele farbenfrohe und dekorative Urban Art Murals bewirken eine junge Atmosphäre und sind ideal für Instagram-taugliche Fotos (Abb. 48, Taf. XII). Von den Slogans auf weiteren großformatigen Neopop-Kunstwerken geht eine positive Stimmung aus, auch wenn sie mit ihrem affirmativen Duktus nicht sehr tiefgehend sind. Mit dieser betont modernen Dekorationskunst sollen auch die an Streaming besonders gewöhnten Millenials ins Kino gelockt werden. Denn 90 % der IPIC-BesucherInnen sind zwischen 21 und 54 Jahre alt, das Durchschnittsalter ist 33 Jahre.423 Insgesamt fühlt man sich wie in den Räumlichkeiten eines schicken Night Clubs oder eines Design-Hotels. Auch der Ticketschalter und das höflich grüßende Personal erinnern an den Empfang in einem teuren Hotel. Die luxuriöse Atmosphäre soll im IPIC die Menschen zum längeren Verweilen, zu marketingstrategisch günstigen Social-Media-Handyselfies und natürlich zum Konsumieren von Essen und Getränken verführen. Wenn BesucherInnen zuerst doch nur günstige Plätze in 422 Im Hochsommer können die Decken jedoch auch für die Amerikanerinnen in luftigen Sommerkleidchen gegen Frösteln aufgrund der Klimaanlagen hilfreich sein – Hutton 2018. 423 Singh / Hashemi 2018. – Die Zahlen stammen vom Eigentümer, scheinen jedoch realistisch zu sein.

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den Kinosäalen gewählt und während des Films nicht soviel konsumiert haben, können sie dies bei einem anschließenden Restaurantbesuch ein Stockwerk höher nachholen. Zudem kann man Cocktails an der Bar bestellen. Der New Yorker Standort ist günstig gewählt, da es derzeit nicht so viele Alternativen zum Essen und für Cocktails im South-Street-SeaportViertel gibt. Insgesamt macht die IPIC-Kette 70 % Gewinn mit Essen und Trinken und nur 30 % durch Kartenverkauf, während andere Multiplex-Kinos ca. 46 % Profit mit dem Kartenverkauf erzielen.424 Darüber hinaus bieten die IPIC-Kinos auch Live-Events an, für die 100 USD Eintritt verlangt werden. Im IPIC im „Fulton Market Building“ sind diese Veranstaltungen jedoch noch eher selten, da die Konkurrenz für Live-Events in New York sehr groß ist.425

IPIC als „new luxury“ IPIC bezeichnet sich selbst als „America’s premier luxury restaurant-and-theater brand“, was durch den Slogan „Exclusively yours“ im Zusammenhang mit der überarbeiteten Brand Identity seit Frühling 2019 nochmals besonders unterstrichen wird.426 IPIC passt allerdings nicht in das frühere Konzept von Luxus für eine kleinere Gruppe von sehr Reichen. In den letzten Jahrzehnten sind Luxusgüter stattdessen mehr für ein Massenpublikum zugänglich geworden, wobei sich der Charakter von Luxus allgemein ebenfalls verändert hat.427 Insbesondere nach der Wirtschaftskrise ist das Interesse an Luxus zu niedrigeren Preisen wie Parfüms und Accessoires noch größer geworden. Auch bei den Dine-in-Kinos handelt es sich um eine Art des sogenannten „new luxury“ für die Massen. Statt einem eigenen Filmtheater zu Hause wird sich zumindest auf einer komfortablen Lounge für ein paar Stunden ein häuslich anmutendes Kinoerlebnis gesichert. Auch wenn man sich nicht gleich einen Langstreckenflug in der ersten Klasse leistet, gönnt man sich zumindest für wenige Stunden einen Business-Flight-Service. Gern wird das IPIC genutzt, um Geburtstage im kleinen Rahmen mit Partnern und ausgesuchten Freunden zu feiern oder um einen besonderen Abend zu zweit verbringen.428 Einige Besucher kommen auch, um sich nicht einen Film mit vielen Kindern und Teenagern in den Megaplexes ansehen zu müssen. Anstatt eines noch teureren Besuchs eines edlen Restaurants, eines Musicals oder ­Theaters erhält man zumindest ein ähnliches oder sogar noch ein komfortableres Ambiente im Kino. Tatsächlich sitzt man in einigen Broadwaytheatern wesentlich unbequemer als im IPIC-Kino. Aber dafür stehen in einigen Theater-Produktionen Hollywood-Schauspieler live auf der Bühne und die Stücke sind wesentlich anspruchsvoller als die Filme, die man im IPIC zu sehen bekommt. Laut dem damaligen IPIC-Besitzer Hamid Hashemi verfügten 2018 seine Besucher über ein Durchschnittseinkommen von 120.000 USD.429 Sie gehörten damit der 424 Loria 2018; Geiling 2013. 425 Loria 2018. 426 IPIC 2019. 427 Thomas 2007. 428 Lynch 2016. 429 Singh / Hashemi 2018.

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Filmpaläste im 21. Jahrhundert

amerikanischen Mittelklasse an,430 die allerdings Probleme hat, ihren früheren Lebensstandard mit diesem Einkommen zu wahren.431 Schon Hameshis erste Bemühungen bei Muvico um mehr Luxus im Kino wurden von Shari Redstone von „National Amusements“ passenderweise in der New York Times als „upscale moviegoing experience for the masses“ eingeordnet.432 Mit ihrer Glamourfassade und dem bewirkten Zeitvertreib ähneln die heutigen Luxuskinos sehr den von Kracauer analysierten Großkinos der Weimarer Republik.

Biederer Komfort Denn auch wenn sie mit dem luxuriösen Ambiente die Broadway-Theater sogar noch zu übertreffen versuchen, entfernen sich die Luxuskinos durch die Zerstreuung von den traditionellen bürgerlichen Kulturinstitutionen. Ebenfalls konterkariert das Bemühen um Komfort das Luxuskonzept. Die Pods haben zwar einen schickeren Loungecharakter, jedoch handelt es sich im Wesentlichen um Liegesessel in Zweiergruppen. Diese „recliners“ stellten in früheren Jahrhunderten zwar ein Luxusaccessoire dar, haben sich allerdings im 20. Jahrhundert zum Massensymbol von Erfolg und Wohlergehen entwickelt. In den 1950er Jahren waren sie beispielsweise das Attribut des amerikanischen Mittelklassen-„Dads“ vor dem TV.433 Die Kissen und Decken können ebenfalls zu leger für ein luxuriöses Ambiente wirken.434 Auch wenn das Essen besser als in anderen Kinos ist, wird es an den kleinen Tischen im Dunkeln weder fein noch manierlich zu sich genommen.435 Das Besteck und die Salatschüsseln aus Plastik sind nicht luxuriös, dienen aber anscheinend der Geräuschminimierung. Trotzdem verursacht das flüsternde Aufnehmen und Servieren der bestellten Speisen und Getränke Geräusche und Gerüche, die genau wie das Essen vom Ansehen des Films ablenken.436 Bei der minderen inhaltlichen Qualität der gezeigten Filme ist dies natürlich nicht unbedingt schlimm. Das leichtere Einnicken auf den bequemen Liegesesseln kann dann hilfreich sein, die Zeit des Films zu überbrücken. Denn um ein möglichst großes Publikum zu erreichen, zeigen die IPIC-Kinos vornehmlich Hollywood-Blockbuster und nicht inhaltlich tiefergehende Independent/Arthouse-Filme.437 Generell ist die stärkere Ablenkung in den Dine-In-Kinos hinderlich für die Immersion, die das Filmmedium fordert.

430 Dogen 2018. 431 Bowman 2017. 432 Zitiert nach Weber 2005. 433 Edwards 1999; siehe auch D’Costa 2017. 434 Siehe Hutton 2018. 435 Siehe Lynch 2016: „Eating the stuff isn’t exactly relaxing, however, as the seat tray is too far away from your mouth to function as a proper platform, so you have to really lean awkwardly forward or risk having it all fall on your shirt.“ 436 Goldfield 2018. 437 Guida 2015.

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Oberflächlicher Glanz Positiv ist natürlich, dass die Speisen im IPIC zumindest teilweise weniger kalorienreich und gesünder sind als die Snacks in den Megaplexes, die man sich mit in den Kinosaal hereinnehmen kann.438 Das Essen neben dem Film verführt jedoch zu mehr Nahrungsaufnahme als notwendig und unterstützt das große Adipositas-Problem in den USA.439 Nach dem Film wird zudem nochmals die Bewegung minimiert für die Menschen, die nur mit der Rolltreppe ein Stockwerk höher zu fahren brauchen, um ein Abschlussgetränk zu sich nehmen, anstatt sich zumindest ein wenig draußen zu bewegen, um die nächste Bar aufzusuchen. Das Essen im Liegen mag einerseits eine Referenz an die Gelage der alten Römer darstellen. Andererseits erinnern die Bestellungen im Vorführungsraum auch an die Speisemöglichkeit in Music Halls und Cabarets. Von ihnen sind heute einige legendär, von den Zeitgenossen wurden sie jedoch nicht als fein angesehen. Die IPIC-Luxusatmosphäre ist somit kulturhistorisch und sozial eher nur als ein oberflächlicher Dekor anzusehen. Signifikant ist in dieser Hinsicht auch die Installation von dem Künstler Mike Stilkey aus Los Angeles, der ähnliche Arbeiten ebenfalls für andere IPIC-Kinos geschaffen hat (siehe Abb. 48, Taf. XII). Auf an einer Wand gestapelten Büchern in der Gastrolounge im dritten Stock hat er märchenhafte Chimären angebracht. Die Bücher sind so dysfunktional und rein schmuckvoll, bewirken jedoch einen bildungsbürgerlichen Beigeschmack. Einen solchen hat Kracauer seinerzeit als unpassend für die Freizeitindustrie und als aufgesetzt kritisiert.440

Mehr Kinoluxus für die „erregte Gesellschaft“ Einige Elemente der Luxuskinos wie die Liegesessel sind schnell von Multiplexkinos aufgegriffen worden. So hat auch die österreichische Cineplexx-Kette in den letzten beiden Jahren Kinosäle teilweise oder ganz mit komfortablen Ledersesseln neben einer verbesserten Projektionstechnologie ausgestattet, um so u. a. höhere Ticketpreise zu rechtfertigen. Die kleinen Kinos werden bei dieser Entwicklung einer Maximierung von Luxus und Komfort schwer mithalten können. Die damit intendierte Vergrößerung des Konsums und Profits wird erreicht, indem die zeitgenössischen Luxuskinos genau wie die Großkinos der Weimarer Republik als „Sensationsmaschinen“ fungieren.441 Anstatt mit Lichtorgeln sind sie allerdings mit 3D-Urban Art Murals ausgestattet und anstatt eines 80-Personen-Orchesters wird modernste Sound- und Projektionstechnik geboten. Neben den an sich schon sehr effektvollen Hollywood-Blockbustern werden zudem aufsehenerregende Innenarchitektur, Luxushotel­ atmosphäre sowie maximaler Komfort und Service geboten. Mit diesen zeitgenössischen Blickfangstrategien, die laut dem Philosophen Christoph Türcke notwendig sind, um in der 438 Geiling 2013, Ali 2019. 439 Rühse 2019. 440 Es gibt noch mehr Bücherwände im IPIC im New Yorker Fulton Market Building im dritten Stock, die ebenfalls als Dekor gedacht sind. 441 Sildatke 2010, S. 13.

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Filmpaläste im 21. Jahrhundert

heutigen „erregten Gesellschaft“ ökonomisch rentable Aufmerksamkeit hervorzurufen,442 sollen die mittelständischen Kinogeher zum kleinen Luxuskonsum bewegt werden. Im New Yorker IPIC dient dieser Mini-Luxus kurzfristig als Ablenkung von dem anstrengenden Metropolenalltag, den in New York üblichen vielen Arbeitsstunden und der dort besonders spürbaren Entfremdung.443 Laut dem Soziologen W. Peter Archibald ist aufgrund der steigenden Bedeutung von Freizeit und Konsum bezahlte Arbeit subjektiv weniger wichtig für die Individuen und sie empfinden die entfremdenden Effekte nicht mehr so intensiv. 444 Trotzdem werde durch die kommerzialisierte Freizeitkultur die Entfremdung vergrößert. Auffällig ist, dass als heutiges populäres Umfeld die Hotellobbyatmosphäre ins Kino transferiert wird, deren Atmosphäre von Kracauer schon als besonders bezeichnend für die moderne geistige Obdachlosigkeit interpretiert worden ist. Der kleine Luxus eines IPIC-Besuchs kann zwar als Trostpflaster dafür fungieren, dass ein größerer Wohlstand für die heutigen Mittelständler viel weniger erreichbar als für die älteren Generationen ist. Allerdings wird mit Bücherdekorationen und der Kunst wie in den 1920er Jahren eine von Kracauer kritisierte pseudobürgerliche Fassade gewahrt.

442 Türcke 2012. 443 Eindrucksvoll ist die Entfremdung in New York kürzlich von Olivia Laing beschrieben worden – Laing 2016. 444 Archibald 2009; siehe auch Langman/Kalekin-Fishman 2012.

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V. Die Dialektik der Aufklärung als Kinderfilmidee – Rationalismuskritik und Schulung der Vernunft in „Dimanche“ [...] daß sich die Lust an den Babys und den Tieren aus der Infantilität erklärt, die in den Massen vorhanden ist oder ihnen doch angezüchtet wird. Und mit dieser künstlichen Kinderei verträgt sich durchaus die verstockte Naturbefangenheit […]. – Siegfried Kracauer1

Kracauer als Ideengeber und Autor für den Film Am Ende von Kapitel IV, S. 157f. war darauf hingewiesen worden, dass im Zusammenhang mit der ‚Rechtswende‘ der Frankfurter Zeitung Kracauer Anfang der 1930er Jahre Repressalien hinnehmen musste. So wurde u. a. sein Redakteursverdienst gekürzt. Der Verleger der FZ, Heinrich Simon, versuchte, Kracauer darüber hinaus für ein Jahr an die Ufa zu vermitteln. Dies war für Kracauer unannehmbar, denn er hatte die Produktionen der Ufa und auch deren Film-Paläste mehrere Jahre lang kritisiert (siehe Kapitel III und IV). In einem Brief an Bernhard Guttmann, den ehemaligen Leiter des Berliner FZ-Büros, äußerte Kracauer am 1. Januar 1932 verzweifelt: Kein Zweifel, daß sie [die Ufa] das Geld in der Hauptsache darum ausgäbe, um mich während dieser Zeit mundtot zu machen; denn ich habe seit Jahr und Tag gegen die bei ihr herrschenden Tendenzen gekämpft und könnte in der Zeit meiner Beschäftigung bei ihr natürlich keine Filmkritiken schreiben.2

Kracauer konnte schließlich bei der FZ bleiben, jedoch nur noch für eine begrenzte Zeit, denn am 28. Februar 1933 – am Tag der sogenannten „Reichstagsbrandverordnung“ – musste er vor den Nationalsozialisten nach Frankreich fliehen. Dort erreichte ihn wenig später die Kündigung.3 Um weitere Einkommensquellen zu erschließen, versuchte Kracauer sich ab Anfang der 1930er Jahre an einigen Filmideen als unabhängiger Filmautor. Ein solcher ‚Sparten1 2 3

SKW 6:2, S. 554. Siegfried Kracauer, Brief an Bernhard Guttmann, 1. Januar 1932, zitiert nach Belke/Renz 1988, S. 68; siehe auch Baumann 2014, S. 35. Durch die Verordnung „Zum Schutz von Volk und Staat“ wurden mehrere Grundrechte aufgehoben und eine große Verfolgung politischer Gegner begann. Am 5. April 1933 teilte Heinrich Simon Kracauer die verklausulierte Kündigung mit (Belke/Renz 1988, S. 74, S. 76).

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V. Die Dialektik der Aufklärung als Kinderfilmidee

wechsel‘ war damals nicht unüblich. Auch andere Filmkritiker wie z. B. Béla Balázs waren als Filmautoren aktiv.4 Kracauer verfügte neben seinen vielen Kenntnissen im Filmbereich auch über eine poetische Ader, von der seine Feuilletons für die FZ und seine beiden Romane sehr profitierten. Damit brachte er gute Voraussetzungen als Filmautor mit. 1930 hatte er auch mit Hans Richter korrespondiert, der mit ihm einen „Angestellten-Film“ basierend auf Kracauers kurz zuvor erschienener Studie Die Angestellten realisieren wollte.5 Der Film kam jedoch nicht zustande.6 1932 stellte Kracauer mehrere Ideen für Kurzfilme zusammen.7 Anschließend verfasste er wohl im Frühjahr 1933 die Ideenskizze für den ca. 36-minütigen Kinderfilm „Dimanche“.8 Es folgten Exposés zu zwei Langfilmen, nämlich einer in den Alpen spielenden Komödie basierend auf dem Roman Tartarin sur les Alpes von Alphonse Daudet im Oktober 1933 sowie ca. 1938 ein „Motion picture treatment“ zu seiner Biographie über Offenbach.9 Auch wenn alle diese Filmideen Kracauers aus den 1930er Jahren besonders und durchaus erfolgsversprechend waren, fanden sie kein Interesse bei Regisseuren und Produzenten. Daher war Kracauer in den nächsten Jahren seltener als Filmschriftsteller aktiv. 1945 war er in das Projekt „Below the surface“ des Instituts für Sozialforschung involviert.10 Dieser „Testfilm“ war als sozialpsychologisches Experiment gedacht, um antisemitische Tendenzen im amerikanischen Publikum zu untersuchen. Aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten und abnehmendem Interesse wurde dieser ebenfalls nicht realisiert. Im selben Jahr unterstützte Kracauer zudem Hans Richter bei seiner Arbeit am Drehbuch zu Dreams That Money Can’t Buy.11 Richters finales Drehbuch unterschied sich jedoch von der ersten Version. 1960 notiert sich Kracauer bei einer Reise noch mal eine kleine Filmidee in einem Notizbuch.12 Kracauers praktische Filmarbeiten formieren somit einen überschaubaren und marginalen Werkbereich, auch wenn dieser inhaltlich sehr vielseitig ist. Zudem handelt es sich nur um erste und vorläufige Filmideen und nicht um ausformulierte Drehbücher. Deswegen wurden Kracauers Arbeiten als Filmautor sehr lange nicht publiziert und von der Forschung weniger berücksichtigt.13  4 Béla Balázs arbeitete u. a. an dem Drehbuch für die Verfilmung von Brechts „Dreigroschenoper“ mit (siehe Polonyi 2017). Auch Joseph Roth, der viele Filmkritiken geschrieben hatte, verfasste im Exil Treatments, die jedoch laut Jens Priwitzer mehr „Kolportage als Kunst“ seien (Priwitzer 2015). Roths Treatments sind publiziert in: Roth 2014.  5 Zu Die Angestellten siehe Kapitel III, S. 85f..  6 Siehe Asper 2004.  7 SKW 6:3, S. 515–517. Das Exposé zu einer Kurztonfilm-Serie überreichte Kracauer Claude Bonnaire, dem Berliner Repräsentanten von Paramount, im Februar 1932.  8 Ebd., S. 523–526; zur Datierung von „Dimanche“ siehe S. 189.  9 Ebd., S. 518–522; SKW 8, S. 485–502 (zur zeitlichen Einordnung siehe Perivolaropoulou 2018, S. 87 mit Anm. 28). 10 Zu den wenigen detaillierteren Auseinandersetzungen mit „Below the surface“ zählt Gilloch/Kang 2007. Siehe auch von Moltke 2016, S. 120f. 11 Dreams That Money Can’t Buy, R: Hans Richter, USA 1947; siehe Asper 2004. 12 Perivolaropoulou 2018, S. 12. 13 Erst 1996 wurden einige Filmideen Kracauers aus dem Nachlass veröffentlicht in: Volk 1996. Eine eigene Monographie zu den Filmideen Kracauers wurde 2018 publiziert, die gleichzeitig zu der Arbeit an diesem Kapitel vorbereitet wurde – Perivolaropoulou 2018.

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Kracauers Filmidee „Dimanche“

Kracauers Filmidee „Dimanche“ Im Folgenden soll von Kracauers Exposés und Entwürfen zu Filmproduktionen seine Idee für einen 1.000-Meter-Film „Dimanche [Sonntag]“ (siehe Anhang B.2) eingehender untersucht werden. Mit diesem hat Kracauer einen anschaulichen Spiegel seines aufklärungskritischen Gedankenguts geschaffen, welches er zuvor u. a. in dem Text „Das Ornament der Masse“ zusammengefasst hat. Dieser Essay nimmt wichtige Aspekte aus Theodor Wiesengrund Adornos und Max Horkheimers Dialektik der Aufklärung vorweg und gilt als eine der wichtigsten Erkenntnisleistungen von Kracauer.14 Von der Filmidee „Dimanche“ sind eine deutsche und eine französische Fassung im Nachlass überliefert.15 Die deutsche ist handschriftlich datiert mit Anfang Mai und mit der Adresse des Pariser Madison-Hotels versehen, in dem Kracauer von Mitte April 1933 bis Oktober 1936 wohnte.16 Kracauer sendete die Filmidee an Leo Lania am 16.4.1934 mit der Bitte um Vermittlung in England.17 Zuvor versuchte er sie in Frankreich unterzubringen und legte sie u. a. Jean Renoir vor.18 Die Idee muss also vor April 1934, ggf. Anfang Mai 1933 und somit kurz nach Kracauers Ankunft in Paris entstanden sein.19 Die von Kracauer vorgesehene Filmlänge von 1.000 Metern stellte die offizielle Grenze für abendfüllende Filme dar, auch wenn solche normalerweise etwas länger waren.20 „Dimanche“ hätte mit ca. 36 Minuten Dauer noch gut einem anderen Langfilm beigegeben werden können. Bei seinem Entwurf verzichtet Kracauer auf eine damals übliche stichwortartige Darstellung z. B. der Personen.21 Die Handlungspunkte werden mit einem längeren Fließtext

14 Siehe Mülder 1985, S. 66. – Der Titel zu diesem Kapitel V ist ebenfalls im Sinne von Kracauers Vorwegnahme der Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer zu verstehen, deren Erstausgabe erst ein Jahrzehnt später veröffentlicht wurde. 15 Neben der deutschen Version ist auch eine französische Fassung im Kracauer-Nachlass im DLA überliefert. Die deutsche wurde publiziert in: SKW 6:3, S. 523–526. In Perivolaropoulou 2018 wurde nicht die französische Fassung aus dem Nachlass publiziert, sondern eine Übersetzung der deutschen Version von Claude Orsoni (Perivolaropoulou 2018, S. 133–136). Dies mag darauf beruhen, dass die französische Übertragung aus Kracauers Nachlass den deutschen Text mitunter etwas zusammenfasst – siehe Perivolaropoulou 2009, S. 31 mit Anm. 32. 16 SKW 6:3, S. 526 mit Anm. 1. Das Typoskript trägt die Anschrift „Paris (6e), Madison-Hotel, 143, Boulevard St. Germain, Tél: Danton 57–12“. 17 Der Journalist und Schriftsteller Leo Lania begab sich 1932 wegen der politischen Situation aus Deutschland nach Wien. Mitte 1933 übersiedelte er nach Paris aufgrund eines Angebots zur Mitarbeit an einem Filmprojekt und reiste 1934 nach London, um an einem Roman und an Filmideen zu arbeiten – siehe Haarmann/Hesse 2014, Bd. 1, S. 260. 18 „Da Sie mit Filmleuten sicher in Berührung kommen, dachte ich mir, daß es Ihnen vielleicht möglich ist, den einen oder den anderen Produzenten für meine Filmidee zu interessieren. Hier in Paris hatte man Interesse dafür (z. B. Jean Renoir) ohne daß es zur Ausführung kam.“ – Siegfried Kracauer, Brief an Leo Lania, 16.4.1934 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA, auch zitiert in SKW 6:3, S. 526 mit Anm. 1). 19 Etwas unwahrscheinlich, aber möglich ist, dass Kracauer nach der o. g. Sendung der Idee an Lania sie nochmal überarbeitet hat und das Manuskript von Mai 1934, 1935 oder 1936 stammt – siehe SKW 6:3, S. 526 mit Anm. 1. Die Filmidee ist auf jeden Fall 1933/4 entstanden und musste schon so weit gediehen sein, dass sie für eine Vermittlung in England ausreichte. 20 SKW 6:3, S. 526 mit Anm. 1. – Gandert 1993, S. xxi. 21 Vgl. z. B. die Entwürfe in: Jacobsen/Klapdor 2013.

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erläutert. Kracauer erreicht mit dem ausformulierten Text einen erzählerischen Duktus und kann die intendierte Filmatmosphäre sehr gut vermitteln. Die Handlung basiert nicht wie die nächsten Langfilmtreatments Kracauers auf einer literarischen Vorlage, sondern Kracauer hat sie offensichtlich selbst erdacht. Im Mittelpunkt stehen die Erlebnisse eines drei- bis vierjährigen Jungen bei einem Sonntagsausflug mit seinen Eltern. Er fährt mit ihnen im Omnibus ins Grüne. Nach einem Spaziergang kehren sie in ein Waldcafé ein. Der Junge begibt sich dort zunächst auf Erkundungstour unter den Tisch und dann in ein nahes Gebüsch auf einen Erkundungsgang. Hinterher darf er noch Karussell fahren. Als das Kind müde wird und zudem ein Regenschauer kommt, begibt sich die kleine Familie nach Hause. Diese Ereignisse werden zunächst chronologisch erzählt. Der Film beginnt mit dem Aufbruch zu Hause. Es erfolgt bei diesem eine Veränderung des Blickwinkels aus der Erwachsenenperspektive in diejenige des Kindes, so dass der Ausflug zunächst aus dem begrenzten Blickwinkel des kleinen Jungen dem Zuschauer dargeboten wird. Erst das Filmende mit der Ankunft zu Hause wird erneut aus der Betrachtungsweise der Erwachsenen wiedergegeben, die somit einen Rahmen für die Perspektive des Kindes bildet. Das filmische Nachahmen der Wahrnehmung des Jungen war technisch durch die Möglichkeit von Großaufnahmen seit den 1920er Jahren möglich. Vorher wurden kindliche Emotionen nur durch Gestik und Mimik zum Ausdruck gebracht.22 Für den Perspektivenwechsel verwendet Kracauer im Text den Begriff der „Verwandlung“. Dieser ist seit Franz Kafkas gleichnamiger Novelle besonders eindringlich besetzt. Neben der Betonung der veränderten Perspektive soll er vielleicht auch einen Hinweis auf den tieferen Gehalt der Filmidee geben, der im Folgenden genauer erläutert wird.23 Der kleine, nur kurz „Bébé“ genannte Junge kann entsprechend seinem Alter verschiedene Situationen und Begegnungen der Sonntagspartie noch nicht richtig einschätzen. So verwechselt er einen echten Hund beim Spazierengehen zuerst mit einem harmlosen Spielzeug. Anschließend erkennt er nicht, dass ihm der Hund wohlgesonnen ist und flüchtet vor ihm. Später hat er unberechtigt Angst vor einem harmlosen Käfer im Gebüsch und glaubt, dass dieser ihn beißen würde. Den Omnibusschaffner hält er für den Weihnachtsmann und den Bekannten eines Vaters für gefährlich, obwohl sich dieser freundlich mit dem Vater unterhält. Der Raum unter einem Tisch wirkt für ihn wie ein „wunderbarer Urwald“ und die Runden auf dem Karussellpferd kommen für „Bébé“ einem Ritt durch ein Bilderbuch gleich. Durch diese absonderlichen Vorstellungen des Kindes enthält der konventionelle einfache Sonntagsausflug Slapstickqualitäten und Spannungsmomente. Am Ende wird die Wahrnehmung des Kindes mit der der Erwachsenen konfrontiert. Denn als der Vater der daheim gebliebenen Großmutter nach der Rückkehr die Geschehnisse erzählt, werden die Ausflugsszenen in der Rückblende noch mal aus der Perspektive der Eltern wiedergegeben. Kracauer

22 Wiegand 2017. 23 Kracauer hat sich intensiv mit Kafkas Werk beschäftigt und dies mit Rezensionen bekannter gemacht (siehe u. a. Später 2016, S. 263f.). Kracauer bringt als eine weitere kleine Kafka-Referenz auch einen Käfer in die Handlung ein, der das Kind sehr erschreckt – SKW 6:3, S. 524.

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Kracauers Filmidee „Dimanche“

betont, dass dies „wie die Auflösung der Bilderrätsel des Hauptteils wirken“ soll und der „Witz … in der Korrektur der Vorstellungen des Kindes“ bestehe.24 Es ist bedauerlich, dass der Film nicht realisiert worden ist, obwohl Kracauer die Idee in Frankreich und in England an Akteure im Filmbereich zu vermitteln versuchte. Auch wenn sie einen der ersten ausgereifteren Versuche Kracauers zu einer praktischen Filmarbeit darstellt, besitzt die Filmidee eine hohe Qualität und ist exzeptionell. Im Folgenden werden die noch nicht näher in der Forschung berücksichtigten pädagogischen, aufklärungskritischen, filmgeschichtlichen und kulturhistorischen Kontexte von „Dimanche“ herausgearbeitet. Bislang ist die Filmidee nur in Zusammenhang mit Kracauers Essays zu urbanen Themen ausführlicher behandelt worden.25 Dabei konnte insbesondere der markante Wechsel der Perspektive von Bébé und den Erwachsenen noch nicht umfassender erläutert werden.26 Ebenfalls sind weitere Essays von Kracauer sowie die Berücksichtigung der Kinderliteraturforschung hilfreich für das Verständnis des Filmes. Auch ist „Dimanche“ noch in der bislang wenig untersuchten europäischen (Exil-)Filmgeschichte sowie im Forschungsfeld Film und Kindheit zu situieren. Letzteres hat in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit in der Forschung erfahren und wird auch in Ausstellungen thematisiert.27

Idee zu einem Film für Kinder und für Erwachsene zugleich In einem Brief an Lania beschreibt Kracauer seine Idee als die eines Kinderfilmes. In den 1930er Jahren waren Kinderfilme noch nicht so genau definiert wie heute und man bezeichnete Filme mit Kindern als auch Filme für Kinder als Kinderfilme.28 Filme mit Kindern als Protagonisten konnten Erwachsene als Zielgruppe haben. Ein besonders kritisches Beispiel sind die Filme mit Shirley Temple aufgrund sexueller Anspielungen in den 1930er Jahren.29 Die nicht 24 SKW 6:3, S. 526 (Kursivsetzung im Original). 25 Nia Perivolaropoulous frühere Forschungsbeiträge sind in ihre jüngste Monographie eingeflossen – Perivolaropoulou 2018. 26 Tara Forrest geht z. B. auf die Verständnisdefizite des Kindes bei ihrer Thematisierung von „Dimanche“ im Zusammenhang mit der viel späteren Theory of Film nicht ein (Forrest 2007, S. 104–106). Graeme Gilloch behandelt nur kurz den Perspektivenwechsel, der für ihn allgemeine „experiences of contingency and alterity, the quotidian becomes a perpetual terra incognita“ beinhaltet (Gilloch 2015, S. 172f.). 27 Siehe z. B. das von der DFG geförderte Projekt „Filmästhetik und Kindheit“ von Bettina Henzler an der Universität Bremen (2015–2018), aus dem u. a. die folgende Publikation hervorgegangen ist: Henzler/ Pauleit 2017. Vom 29.3.–30.7.2017 war in der Cinémathèque in Paris die Ausstellung „Mômes & Cie“ über Kindheit im Film zu sehen. Parallel zu den Forschungsaktivitäten und der Vermittlung in Filmmuseen sind in den letzten Jahren auch avancierte Filmprojekte zu Kindheit bzw. Erwachsenwerden wie z. B. Kauwboy (R: Boudewijn Koole, Niederlande 2012), Boyhood (R: Richard Linklater, USA 2014), The Florida Project (R: Sean Baker, USA 2017) oder das Kurzfilmbeispiel am Ende dieses Kapitels zu beobachten. 28 Räder 2010, S. 67. 29 Wojik-Andrews 2000, S. 32f. – 1937 bemerkte Graham Greene in seiner Rezension des Films Wee Willie Winkie zu den Bewunderern von Shirley Temple: „Her admirers—middle-aged men and clergymen— respond to her dubious coquetry, to the sight of her well-shaped and desirable little body, packed with enormous vitality, only because the safety curtain of story and dialogue drops between their intelligence and their desire.” (Parkinson 1994, S. 234). Die noch drastischere achtteilige Serie Baby Burlesks

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frivolen Märchenscherenschnittfilme von Lotte Reiniger waren ebenfalls eher für Erwachsene gedacht.30 Kinder zählten aber seit Beginn des Kinos zu eifrigen Filmbesuchern.31 Zum Schutz der Jugend wurde schließlich eine Zensur durchgesetzt.32 Kinder durften generell erst ab sechs Jahren ins Kino gehen und dann nur Filme sehen, die für ihre Altersklasse freigegeben waren. Kracauers „Dimanche“ wäre wohl für Kinder ab sechs Jahren freigegeben worden. Ab Mitte der 1920er Jahre wurden in der Filmwirtschaft Kinder und Jugendliche stärker als Zuschauer berücksichtigt.33 Ein gemischtes Kinopublikum galt allerdings als lukrativer, daher tendierte man zur Produktion von Filmen, die für Erwachsene und Kinder zugleich geeignet waren.34 Erst in den 1930er Jahren – als der Kartenpreis für Kinovorstellungen geringer und somit für Kinder erschwinglicher wurde – entstanden in Europa vereinzelt Filme, die speziell auf Kinder ausgerichtet waren. Parallel wurden jedoch weiterhin Familienfilme gezeigt.35 In den USA dominierte zudem der „family film“.36 Kracauers „Dimanche“ wäre für Kinder und Eltern gleichermaßen geeignet gewesen, da die Filmidee eine „doppelte Lesart“ bietet. Die Grundhandlung ist einerseits für Kinder verständlich und amüsant, andererseits ist der skizzierte Film wegen der satirischen Elemente ebenfalls für Erwachsene interessant.37 Daher ist „Dimanche“ dem Genre des Familienfilms zuzuordnen. Bei Kinderbüchern erachtete Kracauer ebenfalls eine Eignung sowohl für Kinder als auch für Erwachsene als ideal. Sie sah er u. a. bei den Dr. Dolittle-Büchern von Hugh Lofting gegeben.38 Insbesondere für „Dimanche“ als geplanten 1.000-Meter-Film ist eine Konzeption als Familienfilm praktisch, da er so längeren Filmen für ein Publikum jeden Alters im Vorprogramm beigegeben werden konnte.

„Dimanche“ als Film für Kinder Kindgerechte Filmidee Bei der Gestaltung der Handlung von „Dimanche“ hat Kracauer berücksichtigt, dass sie auch für die jüngsten KinobesucherInnen, d. h. die Sechsjährigen, besonders fasslich ist. Sie enthält Elemente, die selbst jüngere Kindern aus ihrem Alltag kennen, wie z. B. den

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36 37 38

(R: Charles Lamont, Ray Nazarro, USA 1932) bewertete Temple selbst in der Rückschau als „a cynical exploitation of our childish innocence“ (Temple Black 1988, S. 16). Räder 2010, S. 42. Ebd., S. 3, S. 34. Ebd., S. 67ff.; Schmerling 2007, S. 4. Räder 2009, S. 21. Räder 2010, S. 64ff. Ein besonders bekanntes Beispiel für einen Film, der speziell auf Kinder ausgerichtet war, ist Emil und die Detektive (R: Gerhard Lamprecht, Deutschland 1931). Für diesen Film wurde allerdings auch Werbung bei Erwachsenen gemacht (Räder 2010, S. 64ff.; Wojik-Andrews 2000, S. 17f.). Wojik-Andrews 2000, S. 17f. Die Eignung von „Dimanche“ sowohl für Kinder als auch für Erwachsene wird unten noch detaillierter erläutert. SKW 5:3, S. 22, S. 747.

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„Dimanche“ als Film für Kinder

49 + 50  Anon., Karussellszenen, Privatfotografien, 8,8 × 6,2 cm u. 5,9 × 6,3 cm, 1920–1930er Jahre, ­Frankreich.

Sonntagsspaziergang. So wurden wegen der leichten Verständlichkeit beispielsweise in zeitgenössischen Erstlesebüchern in Schulen Sonntagsspaziergänge aufgegriffen. Auch in dem beliebten Kinderbuch Lampes Wochenende wird der Familienspaziergang am Wochenende thematisiert, wenngleich mit Hasenprotagonisten.39 Ein anderes kindgerechtes Handlungselement ist das Karussellfahren. Noch heute findet man in Frankreich an vielen öffentlichen Plätzen Pferdekarussells. Die häufige Gelegenheit zum Ringelspielfahren hob Kracauers Kollege und Freund Joseph Roth schon für die französische Hauptstadt in seinem Beitrag „Das Kind in Paris“ in der FZ am 17.3.1929 hervor: „In allen Gärten, auf allen Jahrmärkten, an besonderen Feiertagen auf allen freien Plätzen gibt es Karussells für Kinder.“40 Dies bietet eine Erklärung, warum man bei der Sichtung ausgewählter kommerzieller Fotobestände den Eindruck gewinnt, dass auf französischen Privatfotografien Ringelspielbesuche ein häufigeres Motiv als auf deutschen Aufnahmen zu sein scheinen (Abb. 49–50).41 Roth machte ebenfalls darauf aufmerksam, dass man in Frankreich den Kindern viel Freiheit beim Erkunden der Umgebung lässt.42 Die Angst vor Hunden in „Dimanche“ stellt ebenfalls ein für Kinder nachvollziehbares Handlungsmotiv dar. Bei Literatur für junge Leser­ 39 Peng 1925. 40 Roth 1929. – Vgl. Nia Perivolaropoulou, die auch auf das Gedicht „Das Karussell“ von Rainer Maria Rilke eingeht, das sich vom Inhalt jedoch von der Karussellerfahrung in „Dimanche“ unterscheidet – Perivolaropoulou 2018, S. 41. 41 Anon., Karussellszenen (Privatfotografien), 1920–1930er Jahre, Frankreich. – Die Fotografien wurden bei einem Pariser Fotohändler mit sehr großen Beständen erworben. 42 Roth 1929.

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V. Die Dialektik der Aufklärung als Kinderfilmidee

Innen plädierte Kracauer in vergleichbarer Weise dafür, dass die Themen aus deren Alltag stammen und nachvollziehbar sein sollten. Denn das Kind würde erst später seinen Betrachtungsradius erweitern.43 Darüber hinaus sind die Geschehnisse in der Kinderfilmidee Kracauers phantasievoll, wofür auch Kracauers Freund Walter Benjamin in seinen Beiträgen über Kindermedien plädierte.44 Benjamin forderte wie Kracauer, dass die Themen der kindlichen Vorstellung nachempfunden sein sollen. Auch in den Handlungssequenzen von „Dimanche“ mit den unterschiedlichen Erlebnissen des Kindes werden mehrere Filmgenres aufgegriffen, die bei Kindern damals beliebt waren – wie Slapstick, eine Verfolgungsjagd und eine Expedition – und die sich zudem miteinander abwechseln.45 Durch eine solche vielseitige Gestaltung können Kinder mit ihrer geringeren Aufmerksamkeitsspanne der Handlung gut folgen. Um den kindgerechten Charakter von „Dimanche“ noch zu vergrößern, lässt der Autor das Umfeld des Kindes besonders geborgen erscheinen. So wohnt im Familienhaushalt die Großmutter als weitere Bezugsperson, zu der das Kind ein gutes Verhältnis hat. Natürlich stellt die Großmutter auch ein typisches Märchenmotiv dar. In „Dimanche“ ist sie jedoch nicht nur vornehmlich dekoratives Beiwerk für die Atmosphäre wie in dem nicht realisierten Filmexposé „Dein Kind sieht dein Leben“ von Béla Balázs (1929/30).46 Stattdessen kommt ihr in „Dimanche“ eine sehr wichtige handlungstragende Funktion zu, da ihr die Ausflugsgeschehnisse am Schluss als „Auflösung der Bilderrätsel des Haupt-Teiles“ noch einmal erzählt werden.47 Des Weiteren verfügt das Kind über Spielzeug wie Kinderbücher und einen Wollhund. Es darf am Sonntagsausflug partizipieren, Karussell fahren sowie Kuchen essen. Die Eltern ermöglichen dem Kind Bewegungsfreiheit, behalten es jedoch dabei im Auge. Die Atmosphäre ist somit positiv und behütet, was ideal für Kinderfilme ist.

Überwindung der kindlichen Kurzsichtigkeit Das Alter des Kindes wird von Kracauer dezidiert festgelegt, nämlich „handelt [es] sich um einen drei- bis höchstens vierjährigen Jungen.“48 Dieser Altersgruppe entsprechend sind Fantasie und Spielfähigkeit des Kindes schon weiter entwickelt. Allerdings sind die motorischen Fähigkeiten noch etwas ungeübt und der Junge ermüdet nach einigen Stunden. Kracauer betont zudem die Schwierigkeiten des Kindes bei der Urteilsbildung. So setzt das Kind beispielsweise wie schon angeführt den echten Hund in Bezug zu seinem Wollhund und den Omnibusschaffner hält es für den Weihnachtsmann. Diese Akzentuierung in „Dimanche“

43 SKW 5:2, S. 68. 44 Benjamin 1969, siehe u. a. S. 48. 45 Siehe auch Räder 2010, S. 34, S. 67; Wojik-Andrews 2000, S. 63. (Zu den bei Kindern beliebten Filmgenres gibt es Hinweise in zeitgenössischen Publikationen, jedoch keine empirischen Forschungen.) 46 Béla Balázs, „Dein Kind sieht dein Leben“ [1929/30], in: ders. 1984, S. 326ff. – Balázs’ Exposé war auch in der Zeitschrift Filmtechnik am 21. Februar 1931 veröffentlicht worden. 47 SKW 6:3, S. 526. 48 SKW 6:3, S. 523.

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„Dimanche“ als Film für Kinder

lässt eine intensivere Beschäftigung Kracauers mit der Arbeit von Jean Piaget vermuten.49 Denn Piaget hat besonders darauf verweisen, dass bei kleineren Kindern das Denken noch an die Anschauung gebunden ist und Beziehungen zwischen Gegenständen noch nicht richtig erfasst werden können. Auch bereite dem jüngeren Kind die Unterscheidung zwischen Realität und Phantasie sowie das Hereinversetzen in andere Personen Schwierigkeiten.50 Gerade dieses unlogische – laut Piaget „egozentrische“ – Denken des Kindes ist konstitutiv für dessen Wahrnehmung im Mittelteil von „Dimanche“ und bewirkt die humorvollen Effekte in der Handlung. Auffällig ist auch das Eingehen auf die Überheblichkeit des Kindes in der Streitsequenz, als es glaubt, den vorgeblichen Angreifer abwehren zu können.51 Das kindliche Überlegenheitsphantasma wird u. a. auch in Sigmund Freuds Narzissmusstudie thematisiert.52 Auch in anderen Filmen wird herausgestellt, dass Kinder die Welt um sich herum noch nicht richtig überblicken. Ihre „Kurzsichtigkeit“ stellt generell einen repräsentativen Topos für Kindheit dar.53 Kracauer greift diesen in „Dimanche“ ohne regressive oder idealisierende Tendenzen auf, vielmehr verwendet er ihn in aufklärerischer Hinsicht. Denn die humorvoll dargestellten Ausflugserlebnisse von Bébé können schon etwas ältere Kinder dazu ermutigen, frühere kindliche Anschauungen weiter abzulegen. Ab sechs Jahren, wenn die Kinder ins Kino dürfen, haben sie laut Piaget ein besseres Unterscheidungsvermögen und können Wahrheit und Phantasie besser auseinanderhalten. Es ist ihnen somit möglich, das Verhalten von Bébé in „Dimanche“ als unlogisch einzuordnen, es zu hinterfragen und abzugrenzen. Dies entspricht Kracauers Überzeugung, dass die kindliche Denkweise nicht im primitiven Stadium festgehalten werden und die intellektuelle Weiterbildung gefördert werden soll.54

49 Die generelle Bedeutung von Jean Piaget für den Kreis um das Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS), zu dem Kracauer ebenfalls zählte, auch wenn er nicht an diesem fest angestellt war, bedarf noch einer Erforschung. Piaget wurde beispielsweise als Mitglied der „Société Internationale de Recherches Sociales“ in Genf 1933 angeführt. Diese Gesellschaft sollte die Emigration des Frankfurter IfS unterstützen. Laut Richard Kohler gebe es darüber hinaus jedoch keine weiteren Belege einer Verbindung von Jean Piaget zum IfS (Kohler 2009, S. 122). Zu der problematischen Beziehung von Kracauer zum IfS siehe u. a. Später 2016, S. 373ff. – Der mit dem IfS verbundene Walter Benjamin hat sich 1935 ebenfalls mit Piaget auseinandergesetzt, allerdings mit dessen Sprachsoziologie (Benjamin 1935, S. 264; siehe auch Buck-Morss 1991, S. 262ff.; Hansen 2012, S. 326, Anm. 41). Kracauer wäre ein etwas früherer Beleg für eine Rezeption von Piaget in dem Kreis um das IfS. 50 Piaget (1924) 1972, S. 215. 51 SKW 6:3, S. 525. 52 Freud 1924, S. 22f. – Auf Freuds Narzissmusstudie hat sich ebenfalls Benjamin in seinem Aufsatz „Kolonialpädagogik“ 1930 bezogen (Benjamin 1972, S. 272–274, hier S. 273). 53 Henzler 2017, S. 25. 54 SKW 6:2, S. 123, S. 21. – Auffällig ist, dass Kracauer das Kind beim Essen nicht lächerlich macht, sondern zeigt, wie es sich bemüht, d. h., er nimmt es ernst. Bei Filmen für Erwachsene dienten Szenen mit nicht manierlich essenden Personen oder Kindern einem sehr einfachen Amüsement, das Kracauer u. a. in „Film 1928“ kritisiert hat – Kracauer 1963, S. 295.

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V. Die Dialektik der Aufklärung als Kinderfilmidee

Siegfried Kracauers und Walter Benjamins Beschäftigung mit Kindern Das besonders eindrückliche Nachempfinden der Wahrnehmung des Kindes verweist darauf, dass Kracauer sich gut mit Kinderpsychologie und Pädagogik auskannte, auch wenn er selbst kinderlos war.55 Kindliche Erziehung war u. a. durch die Jugendbewegung zu einem gesellschaftlichen Diskussionspunkt geworden. Sie wurde ebenfalls als politisch relevant angesehen, um die nach dem Ersten Weltkrieg in Politik und Gesellschaft erreichten Neuerungen zu etablieren und fortzusetzen. Walter Benjamin ist besonders bekannt für seine vielen Arbeiten über und für Kinder. Seine erste Prägung erhielt er durch den Reformpädagogen Gustav Wyneken, von dem er zeitweise unterrichtet wurde. 1915 distanzierte er sich jedoch von Wyneken wegen dessen Kriegsenthusiasmus.56 Seit den 1920er Jahren beschäftigte sich Walter Benjamin dann verstärkt mit dem Themenfeld Kindheit, wobei die Gegenstände seines Interesses sehr vielseitig waren. Neben den schon genannten theoretischen Texten verfasste er z. B. auch solche über Kinderspielzeug und Kindertheater und reflektierte seine eigene Kindheit. Bei Beiträgen über Kinderliteratur plädierte er für ein spielerisches Potenzial und Phantasie sowie die Ermöglichung von Selbstverlorenheit. Diese Ideale versuchte er u. a. in Rundfunkvorträgen für Kinder umzusetzen.57 Kracauer beschäftigte sich zwar nicht so intensiv wie sein Freund Walter Benjamin mit dem Thema Kindheit. Jedoch widmete auch er sich insbesondere in der Weimarer Republik Aspekten, die Kinder betrafen, wie beispielsweise Kindermuseen sowie Kinderbüchern. Bei Filmrezensionen hob er Filme, die für Kinder geeignet waren, besonders hervor. So erscheint es nicht ungewöhnlich, dass er die Idee für einen Kinder- bzw. Familienfilm skizziert.

Die Bemühungen der Nazis um die Jugend in Deutschland und in Frankreich Auch den Nationalsozialisten war die Wichtigkeit der jungen Generation sehr bewusst, was durch ihr Selbstverständnis als „junge Bewegung“ gefördert wurde.58 Es passte zu Hitlers Anliegen, die ganze Kultur in den Dienst der Nazis zu stellen. Zudem ermöglichte das Gewinnen der Jugend die Ausübung sozialer Kontrolle und sicherte das künftige Bestehen des Systems. Man nutzte verschiedene Medien, um Kinder und Jugendliche demagogisch zu beeinflussen, Kriegshetze zu betreiben und Chauvinismus zu unterstützen.59 Diese Entwicklung wurde von Kracauer aufmerksam aus dem Exil verfolgt. So publizierte er im August 1933 den Artikel „A propos de la jeunesse allemande“, indem er sich damit auseinandersetzte, inwieweit Hitler die Bedürfnisse der deutschen Jugend erfüllen könne.60 55 56 57 58 59 60

Siehe u. a. Belke 2012, S. 41. Doerr 2018, S. 225f. Als Einführung in den Themenkomplex Benjamin und Kindheit siehe Schiavoni 2006, S. 381. Dudek 1993, S. 311f. Sasse-Schmitt 1985, S. 128; Benner 2015, S. 11. SKW 5:4, S. 456–467; siehe auch Brodersen 2001, S. 98f. Von den anderen deutschen EmigrantInnen blieben diese und ähnliche politische Artikel Kracauers unbemerkt.

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„Dimanche“ als Film für Kinder

1934 folgte ein Artikel Kracauers über die „Jeunesses européennes“, in dem er u. a. auf die Widerstandskraft der französischen Jugend gegenüber dem Faschismus eingeht.61 Denn die Bemühungen um die Jugend der Nazis und natürlich die rechten Bewegungen waren nicht nur auf Deutschland beschränkt. In Frankreich beispielsweise versuchte Otto Abetz, eine Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland über die Jugendbewegung zu unterstützen und organisierte Treffen für die Verständigung.62 Schon am 21. und 22. April 1933 fand eine zweitägige Konferenz in der Redaktion von Notre Temps statt, um „den Kontakt zwischen den Jugendbewegungen in Deutschland und Frankreich wiederherzustellen – ein lockerer Kontakt, geschwächt durch die jüngsten politischen Ereignisse.“63 Die Inhalte waren ideologisch sehr einseitig. Laut der Historikerin Barbara Unteutsch enthielten sie gefährliche Bagatellisierungen, verfälschende Darstellungen und indirekt drohende Äußerungen. Nach der Tagung riefen sie einen öffentlichen Meinungsstreit hervor, den Kracauer wahrgenommen haben könnte.64

„Dimanche“ im Zusammenhang mit den Anfängen des Nazi-Kinderfilms und dem antifaschistischen Kinderfilm Für die Bemühungen um die ideologische Indoktrination der Kinder und Jugendlichen sahen die Nazis auch den Film als wichtig an. Mit diesem konnte der schon erwähnte anvisierte junge Charakter der Partei zusätzlich betont werden und man konnte zudem viele junge Menschen mit ihm ebenfalls international erreichen. Joseph Goebbels hatte schon kurz nach der Machtübernahme als neuer Propagandaminister in seiner Rede im Kaiserhof am 28.3.1933 betont, dass der Film völkische Konturen erhalten und die nationalsozialistische Ideologie verkörpern solle.65 Die Filmindustrie wurde in den nächsten Jahren der staatlichen Kontrolle unterstellt.66 Bereits im Juli 1933 wurde eine temporäre Filmkammer eingerichtet. Die Ufa hatte sich schon vorher bei der NS-Regierung angeworben. Im März gab man so bekannt, den Film Hitlerjunge Quex nach einer Kinderbuchvorlage zu drehen, der schon im September 1933 fertig war (Abb. 51).67 Später bevorzugte Goebbels allerdings eine subtilere Propaganda als diejenige in dem offenkundig nationalsozialistisch geprägten Film Hitlerjunge Quex. 61 SKW 5:4, S. 518–526. 62 Später war Otto Abetz am Kunstraub der Nazis in Frankreich sowie an der dortigen Deportation der Juden nach Auschwitz beteiligt. Ebenfalls war er in die gesamteuropäische Judenvernichtung involviert – Conze et al. 2010. 63 Man wollte „de rétablier le contact entre les mouvements de jeunesse en Allemagne et en France – contact relâché, affaibli par les récents événements politiques.“ Siehe Ray 2000, S. 81f., zitiert nach ebd., S. 81. 64 Unteutsch 1990, S. 272; Ray 2000, S. 84f. 65 Albrecht 1969, S. 439ff. 66 Glogner-Pilz/Föhl 2016, S. 337. 67 Hitlerjunge Quex. Ein Film vom Opfergeist der deutschen Jugend, Regie: Hans Steinhoff, Deutschland 1933. – Die Vorbereitung des Films wurde am 24.3.1933 im Filmkurier und am 28.4.1933 in der Lichtbildbühne vermeldet (Claus 2013, S. 267ff.). Dies passt somit auch zu einer frühen zeitlichen Einordnung von „Dimanche“ im Mai 1933.

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51  Hitlerjunge Quex. Ein Film vom Opfergeist der deutschen Jugend, Regie: Hans Steinhoff, Deutschland 1933, Deckblatt des zugehörigen Illustrierten Film-Kuriers, Nr. 1962.

Als Schutz gegen solche Nazi-Propaganda und der freiwilligen Autoritätsunterwerfung sah Kracauer allgemein eine gute Realitätswahrnehmung an. In Hinblick auf die deutsche Jugend argumentierte er 1934: Die Frage ist, wie eine solche [vom deutschen Idealismus geprägte] Jugend mit dem Leben fertig wird. Sie müßte, um es einigermaßen zu bewältigen, die von der Realität gesetzten Schranken respektieren, sich zu konkreten Tatsachen konkret verhalten und lauter echte Entscheidungen treffen.68

Die Grundlagen für eine solche Realitätsnähe wurden wie dargelegt mit „Dimanche“ für Kinder gefördert. Es ist daher sehr gut möglich, dass Kracauer „Dimanche“ auch als Antidot gegen Ufa-Produktionen wie Hitlerjunge Quex konzipiert hatte, der schon im Frühjahr 1933 in Filmzeitschriften angekündigt wurde und dessen Vorführungen in Frankreich zu erwarten waren.69 Da Kracauer vor seinem Exil einer der schärfsten Kritiker der Ufa gewesen war (siehe Kapitel III und IV), war er im Exil sicherlich an der weiteren Entwicklung des Konzerns interessiert.

68 SKW 5:4, S. 523. Kracauer kritisierte häufig „die Wirklichkeitsfremdheit“ als „Erzübel deutscher Intelligenz“ (z. B. SKW 5:4, S. 401). 69 Die Vorbereitung von Hitlerjunge Quex wurde am 24.3.1933 im Filmkurier und am 28.4.1933 in der Lichtbildbühne vermeldet – Claus 2013, S. 267ff.

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52  Deržis', Karluša! (Karl Brunner), R: Aleksej Masljukov, UDSSR (Ukraine) 1936, Standfoto.

Mit seiner Filmidee ist Kracauer als ein Vorreiter im Exil-Kinderfilmbereich bzw. Exil-Kinderkulturbereich anzusehen.70 Ein aussagekräftiges Vergleichsbeispiel stellt das später entstandene Skript Karlchen, durchhalten! von Béla Balázs aus dem Jahr 1935/6 dar. Balázs emigrierte 1931 in die Sowjetunion und arbeitete dort in verschiedenen Filmstudios.71 Den auf dem Drehbuch basierenden Film Deržis’, Karluša! (Karl Brunner) stellte man 1936 fertig (Abb. 52).72 Er wurde jedoch im Zusammenhang mit den stalinistischen Verfolgungen verboten, weil man glaubte, dass Balázs den Protagonisten nach dem Kind einer Trotzkistin gestaltet habe.73 Im Mittelpunkt der Handlung von Film und Buch stehen der zehnjährige Karl und seine Mutter Hedwig Brunner, die als Widerstandskämpferin aktiv ist. Die beiden werden von den Nazis verfolgt und dabei mehrmals beinahe verhaftet.74 Die enthaltene Anti-Nazipropaganda muss jedoch als realitätsfremd angesehen werden.75 Die dargestellten Widerstandshand70 So wurde beispielsweise die Forderung nach engagierter Kinderliteratur erst in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre in Emigrantenkreisen geäußert – Anon. 1936c; siehe auch Benner 2015, S. 10f. 71 Zipes 2018, S. 206. 72 Deržis’, Karluša! (Karl Brunner), R: Aleksej Masljukov, UDSSR (Ukraine) 1936. – Auf Basis des Filmskripts verfasste Balázs auch ein Kinderbuch und ein Theaterstück (Balázs 1936). Zu den Druckausgaben des auf Karlchen, durchhalten! basierenden Theaterstücks siehe: Deutsche Bibliothek 2003, S. 20. 73 Darüber hinaus konnten viele von Balázs im Film vorgesehene expressionistische Elemente aus Zensurgründen nicht integriert werden – Anon. 2003. 74 Benner 2015, S. 121f. 75 Siehe auch die Kritik gegen ein anderes Kinderbuch von Balázs in Leutheuser 1995, S. 123. – Für nonkonformistische Kinder und Jugendliche richteten die Nationalsozialisten Jugendkonzentrationslager

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lungen waren zudem sehr gefährlich für Kinder. Kracauers Ansatz der Realitätsstärkung in „Dimanche“ war gerade für Kinder angemessener. Als harmlos wirkender Vorfilm hätte er wohl sogar in Deutschland gespielt werden können.76

„Dimanche“ als Film für Erwachsene Gegen Kinder- und Babyverherrlichung Der von Kracauer intendierte Film richtet sich nicht nur an Kinder, sondern auch an Erwachsene, die an kindlicher Wahrnehmung interessiert sind. Indem Kracauer sehr deutlich die beschränkte Wahrnehmung des Kindes mit der doppelten Perspektive herausgestellt, wird eine unkritische Kinderverherrlichung und Regression vermieden. In deren Dienst standen die meisten Baby- und Kinderdarstellungen, die sich Anfang der 1930er Jahre besonderer Beliebtheit erfreuten. Seit ca. Mitte der 1920er waren nämlich wieder Kinder in Filmproduktionen zu sehen. Zuvor hatte man ihre Rollen mehrere Jahre wegen der langen Arbeitszeiten in Hollywood häufiger durch junge Erwachsene besetzt.77 Sehr kleine Kinder waren Anfang der 1930er Jahre auch in Wochenschauen und Illustrierten populär. Als ein Beispiel unter sehr vielen sei dafür die Ausgabe der Münchner Illustrierten Presse vom 23. März 1930 genannt. In dieser werden lachende kleine Kinder beim Kasperletheater mit mehreren Nahaufnahmen abgebildet.78 Die Redaktion der Zeitung hat jedoch eine humorvolle Note integriert. Für das Cover der Ausgabe wurde eine „Kinderstudie aus einem Photo-Atelier“ gewählt (Abb. 53). Mit seinem Weinen scheint das dargestellte Kind sich dem Fotografiert-Werden von dem Wiener Lichtbildner Rudolf Jobst betont zu widersetzen. Dies wird mit der folgenden Abbildungsunterschrift suggeriert: „Nein, ich will nicht photographiert werden …. Huhu!“ Kracauer geht mit der Begeisterung für kleine Kinder zwar etwas weniger humorvoll, dafür jedoch reflektierter als in der Münchner Illustrierten um. Ausführlich befasst er sich mit der Kleinkinder-Euphorie in dem Artikel „Zum Paradies der Babys“, der am 12. September 1931 in der FZ und in französischer Übersetzung im Dezember desselben Jahres auch in

ein, siehe z. B. Guse 2009, S. 100–114. – Zu der problematischen Vorlage von Balázs entstand in der DDR mehrere Jahrzehnte später noch eine Fernsehproduktion: Karlchen, durchhalten! R: Siegfried Hartmann, DDR 1979. Zuvor war es 1956 bei „Verlag Kultur und Fortschritt“ als Kinderbuch herausgegeben worden. 76 Bei einer Realisierung von „Dimanche“ wäre eine Vorführung in Deutschland wohl nur möglich gewesen, wenn der Name von Kracauer bei dem Projekt nicht genannt worden wäre. Kracauer war politisch links eingestellt, Jude und zählte zu den unerwünschten Autoren in Deutschland, seine Monographie Die Angestellten wurde bei den Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 in München, Nürnberg, Königsberg und Leipzig verbrannt – Belke/Renz 1988, S. 77. 77 Schon seit den Anfängen des Films waren Kinder als Stimmungs- und Sympathieträger im Film populär. Das erste 1895 im Pariser Grand Café gezeigte Filmprogramm der Brüder Lumière enthielt beispielsweise mehrere Kinderszenen (La pêche aux poissons rouges, Repas de bébé, Baignade en mer, alle Frankreich 1895; R: Louis Lumière), siehe Henzler 2017, S. 11f. In den 1910er und 1920er Jahren gab es ebenfalls Phasen, in denen Kinderstars besonders beliebt waren. 78 Münchner Illustrierte Presse, 23. März 1930, 7. Jg., Nr. 12, S. 406f.

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53  Münchner Illustrierte Presse, 23. März 1930, 7. Jg., Nr. 12, Deckblatt mit Kinderstudie von Rudolf Jobst und der Bildunterschrift „Nein, ich will nicht photographiert werden …. Huhu!“

La Revue du Cinéma erschien.79 Kracauer bemängelt, dass die Erwachsenen sich in Zeiten wirtschaftlicher Not wieder verstärkt an der „Süßigkeit von Babys wie an Zuckerstangen laben“. Laut Kracauer stelle die „Vorbewußtheit der Kinder“ ein „Asyl“ für die Menschen dar. Sie spiegeln sich in den Kindern und schicken so ihre Imagination in die Zeit zurück, in der die Unreife legitim sei. Anlass sei die Angst der Menschen, „sich über die Verhältnisse, in denen sie leben, Rechenschaft ablegen zu müssen.“80 An anderer Stelle macht Kracauer deutlich, dass dies einer „Mythologisierung des sozialen Lebens“ gleichkommt und „läßt an die Unaufhebbarkeit unserer Einrichtungen glauben und lähmt den auf ihre Veränderung gerichteten Willen.“81 In „Dimanche“ werden die Verständnisdefizite deutlich und so vermieden, dass die Erwachsenen naiv Bébé als Spiegel verwenden können, um dem Unbewußtsein zu frönen.82

Das Verhalten des Kindes als kritischer Spiegel für die erwachsenen Zuschauer Darüber hinaus gibt das Verhalten des Kindes in „Dimanche“ den erwachsenen Zuschauern laut der Filmidee noch mehr Anlass zur kritischen Selbstreflexion. Denn einige hervorgehobene Aspekte bei der beschränkten kindlichen Wahrnehmung bzw. bei dem Verhalten des Kindes verweisen auf infantile Verhaltensweisen von Erwachsenen, die Kracauer in verschie-

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SKW 5:3, S. 636–639. Ebd., S. 638. SKW 6:2, S. 554. SKW 5:3, S. 638.

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denen Essays am Ende der Weimarer Republik kritisiert hat.83 Bis heute verlieren sich nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene gern an Karussells, auch wenn sie im Gegensatz zu kleinen Kindern statt einem Pferderingelspiel z. B. eher sog. „Gebirgsszeneriebahnen“ präferieren (Abb. 54, Taf. XIII). Kracauer hat bei dem Thematisieren der Besuche von Angestellten und ArbeiterInnen in Vergnügungsparkanlagen jedoch kritisch darauf verwiesen, dass die Fahrgeschäfte nur eine temporäre Flucht ermöglichen und die Künstlichkeit der Illusion dabei sehr ersichtlich ist.84 Auffällig ist Kracauers Integrieren von Überheblichkeitsanwandlungen des Kindes. So glaubt der kleine Junge, einen vermeintlichen Angreifer des Vaters abwehren zu können.85 In „Dimanche“ wird die Schwäche des Kindes sehr deutlich, weil dieses noch auf die Eltern angewiesen ist und es gegen den vermeintlichen Feind des Vaters natürlich nichts ausrichten kann. Politisch wurde die Neigung zur Überheblichkeit von den Nazis genutzt. Sie förderten insbesondere Chauvinismus. In Emigrantenkreisen wurde dies häufig kritisch thematisiert,86 stellte der Chauvinismus doch eine fragwürdige Kompensation der eigenen Machtlosigkeit dar. Beachtenswert ist ebenfalls, dass gerade die eingeschränkte Urteilskraft des Kindes so stark herausgehoben wird. Hierbei gibt es ebenfalls eine Parallele zu Kracauers Einschätzung von erwachsenen Personen. So wies er bei seiner Begehung von Arbeitslosenasylen auf das fehlende Unterscheidungsvermögen der Beschäftigungslosen hin (s. Kap. IV, S. 148). Dadurch besteht eher die Möglichkeit, dass sie der nationalsozialistischen Ideologie verfallen. Zwar sah Kracauer die bürgerlichen Schichten in seinem ersten Exilland Frankreich vor dem Faschismus besser gefeit als diejenigen in Deutschland vor dem Nationalsozialismus.87 Einige der französischen Rechten, auch wenn sie häufig anti-deutsch eingestellt waren, begannen den neuen autoritären Geist in Deutschland jedoch zu bewundern.88 Die schwierige ökonomische Situation unterstützte auch in Frankreich einen Zulauf für die Faschisten.89 Die in „Dimanche“ mit der doppelten Perspektive mögliche Schulung einer realistischen Wahrnehmung war laut anderen Texten von Kracauer nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene wertvoll. Denn eine solche würde vor dem Anheimfallen an faschistische Ideologien schützen. Auch wenn sie „vorpolitisch“ sei, stellt für Kracauer „die Kraft, das un-

83 Auf Parallelen zu diesen hat auch Nia Perivolaropoulou hingewiesen – Perivolaropoulou 2009. Ich möchte sie noch in den Kontext der Aufklärungskritik von Kracauer stellen. 84 Siehe Kracauer über die „Berg- und Talbahn“ im Lunapark von Halensee 1928: „Die Arbeiter, die kleinen Leute, die Angestellten, die werktags von der Stadt niedergedrückt werden, bezwingen jetzt auf dem Luftweg ein überberlinisches New York. Sie sind Sieger, die zauberhaft hingepinselten Paläste liegen zu ihren Füßen.“ (SKW 5:3; S. 33–35, hier S. 33). Siehe auch Stalder 2003, S. 264. 85 SKW 6:3, S. 525. 86 Siehe u. a. Nyssen 1974, S. 73, S. 177. 87 SKW 6:2, S. 523; SKW 5.4, S. 487. 88 Mauthner 2017, S. 41. 89 Am 6. Februar 1934 gab es einen bewaffneten Aufmarsch von Faschisten bei der französischen Nationalversammlung, der jedoch durch die Polizei beendet werden konnte – Renken 2001.

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54  Lunapark in Berlin-Halensee, ca. 1910, Ansichtskarte, 9 × 13,9 cm.

verstellte Leben ins Auge zu fassen, eine Vorbedingung echten politischen Handelns“ dar.90 Besonders deutlich forderte Kracauer in seinem programmatischen Essay „Minimalforderung an die Intellektuellen“ 1931 dazu auf, den Abbau des Mythologischen in und um einen herum zu betreiben.91 Im Vergleich mit dem auf Balázs’ Script basierenden Film Deržis’, Karluša! zeigt sich, dass Kracauer auf politisch linksgerichtete Ideologie vollkommen verzichtete. Eine ähnliche Haltung zeichnet auch seinen zeitgleich mit „Dimanche“ entstandenen Roman Georg aus und war ebenfalls in seinen Texten am Ende der Weimarer Republik zu beobachten (s. Kap. IV, S. 150f.). Denn Kracauer bemängelte ab Anfang der 1930er Jahre stärker, dass von den marxistischen Vertretern die Beziehung zu realen Menschen in ihren vielschichtigen Lebenskontexten nicht ausreichend berücksichtigt werde. Die Wirklichkeit werde stattdessen auf abstrakte, rein theoretisch fassbare Größen reduziert.92 In einem Brief an den Juristen und Politiker Otto Klepper kritisierte er später beispielsweise den „marxistischen Katechismus“ und machte deutlich, dass er eine linke Position ohne doktrinären Ton favorisierte.93

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SKW 6:3, S. 99. Den ungenügenden Realitätssinn der Deutschen bemängelte Kracauer häufig. SKW 5:3, S. 601–606. Steinmeyer 2008, S. 161–169. Siegfried Kracauer, Brief an Otto Klepper, 23. Januar 1936 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA); zum Marxismus von Kracauer siehe auch Stalder 2003, S. 148ff.

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55  Familie beim Sonntags­ aus­flug (vllt. Familie Joinville an der Marne), ca. 1930, Fotografie, Frankreich, 8,7 × 6 cm, FotografIn unbekannt. 56  Familie beim Sonntags­ aus­flug, ca. 1930, Fotografie, Frankreich, 11 × 6,7 cm, FotografIn unbekannt.

Die Darstellung der Eltern in „Dimanche“ als kritischer Spiegel für die Erwachsenen Nicht nur das Verhalten des Kindes, sondern auch das der Erwachsenen dient Kracauer als kritischer Spiegel. Um deren kleinbürgerlichen Lebenswandel satirisch darzustellen, eignet sich der sonntägliche Ausflug besonders gut. Denn mit der Sonntagspartie hat Kracauer nicht nur ein kindgerechtes Sujet aufgegriffen, sondern auch ein bürgerliches Familienritual par excellence ausgewählt. Dieses hat seine Wurzeln in dem aristokratischen Lustwandeln in Parkanlagen und wurde im 18. Jahrhundert zu einem bürgerlichen Freizeitvergnügen. Im 19. Jahrhundert wurde das Spazierengehen von den unteren Schichten aufgegriffen, sofern genügend Freizeit und Mittel zur Verfügung standen.94 Genau wie das Karussellmotiv prägt das Sujet des sonntäglichen Ausflugs bzw. Spaziergangs ebenfalls Privatfotografien (Abb. 55–57).95 Kracauer charakterisiert die Familie in „Dimanche“ als kleinbürgerlich, die Eltern sollen z. B. „kleinbürgerlichen Putz“ tragen. Von der Kamera sollen neben dem Rockmuster der Mutter die karierten Hosenbeine des Vaters herausgestellt werden, die auf eine kleinkarierte Mentalität alludieren. Für die Fahrt ins Grüne hat man kein eigenes Auto zur Verfügung, sondern verwendet den Omnibus. Die Vergnügungen sind bescheiden, am Ende der Film­ idee wird darauf hingewiesen, dass der von Bébé verzehrte Kuchen nicht nur klein, sondern auch schlecht war.96 Der Ausflug verläuft mit Spaziergang, Cafébesuch, Konversation und 94 Zum Spaziergang allgemein siehe Gudrun 1996. 95 Bei dem Durchgehen einiger größerer ausgewählter französischer Bestände an Privatfotografien wird deutlich, dass man sich in Frankreich bei Sonntagsausflügen nicht nur beim Spazierengehen, sondern sehr häufig auch beim Picknick ablichten ließ. Die wohlhabenderen Familien posierten zudem noch häufiger bei den Autos, mit denen sie ins Grüne gefahren waren. 96 SKW 6:3, S. 526.

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57  Familie beim Sonn­ tags­spaziergang, ca. 1910, Foto­ grafie, Frankreich, 5,7 × 8,4 cm, Foto­ grafIn unbekannt.

Karussellfahrt sehr vorhersehbar. Die Unterhaltung wird von Kracauer als „ganz fad“ bezeichnet.97 Die Konventionalität und die Langeweile werden im Kontrast mit den spannenderen Abenteuern von Bébé unterstrichen, die ungewöhnlich und abwechslungsreich sind. Zudem nimmt das Kind bei den Erwachsenen „drollige Züge und Dinge“ wahr, so dass diese lächerlich erscheinen. An Büchern für Kinder schätzte Kracauer ebenfalls, wenn sie die Erwachsenenwelt als merkwürdig herausstellen und deren Konventionen in Frage stellen.98 Im Filmbereich ist dafür ein historisches Beispiel die umfangreiche Kurzfilmserie von Louis ­Feuillade, in der der titelgebende Protagonist „Bébé“ genannt wird und in der ebenfalls soziale Konventionen entlarvt werden (Abb.  58).99 Möglicherweise stellt Kracauers Benennung des kleinen Jungen in „Dimanche“ als „Bébé“ eine Reminiszenz an diese Filme Feuillades dar.100 Aufgrund der veränderten Lebenswelt seien laut Kracauer die bürgerlichen Konventionen eigentlich nicht mehr zeitgemäß, trotzdem klammere sich das Kleinbürgertum an diese, um sich vom Proletariat abzugrenzen. Kracauer hat dies häufig in seinen Texten kritisch dargelegt (siehe auch Kapitel III und IV). In diesem Zusammenhang hat er auch Sonntagsausflüge satirisch behandelt. Besonders bekannt ist eine Episode aus dem Roman Ginster.

 97 Ebd.  98 Siehe z. B. Kracauers Rezension von Doktor Dolittle und seine Tiere (SKW 5:2, S. 497f., hier S. 497).  99 Bébé, R: Louis Feuillade, Frankreich 1910–1913 (Serie mit ca. 90 Kurzfilmen); weitergeführt wurde die Filmreihe mit Bout de Zan, R: Louis Feuillade, Frankreich 1912–1916 (Serie mit 62 Kurzfilmen, anfangs entstanden die Folgen parallel zu denen der Bébé-Reihe). Filmtechnisch hat Feuillade in den Serien noch nicht den Blickwinkel des Kindes nachgeahmt, wie es in „Dimanche“ vorgesehen war. 100 In seinen Schriften geht Kracauer jedoch sonst nicht auf die Serien Bébé und Bout de Zan von Feuillade ein, er verweist nur auf dessen Fantômas-Serie [u. a. SKW 6:3, S. 230; Fantômas, R: Louis Feuillade, Frankreich 1913/1914 (fünfteilige Serie)].

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58  Clément Mary, der Darsteller in der Bébé-Serie (R: Louis ­Feuillade, Frankreich 1910–1913), Postkarte aus der Reihe „Principales Artistas Cinematograficos“ (1a, Nr. 29) des Chocolatiers Amatller Marca Luna, Spanien, 13,2 × 7,9 cm.

Von ihm selbst geschrieben, in der autobiographische Züge vermutet werden und die daher häufig in Biographien von Kracauer angeführt worden ist: Der Vater [von Ginster] reiste in Stoffen, feiner englischer Ware, die er selbst nicht trug. Am Sonntagnachmittag ging er mit der Familie spazieren, immer derselbe Spaziergang. Ginster haßte die Straßen am Sonntag. Sie gingen durch das Westend, wo die Villen und Herrschaftshäuser sich in ihre Vorgärten zurückziehen, damit der Asphalt sie nicht streift. […] Die Herrschaften sitzen hinter den Vorhängen oder sind auf dem Land. Der Vater verweilte vor den Villen und schätzte sie ab.101

Walter Benjamin hat die traditionellen Sonntagspartien ebenfalls kritisch angesehen. In seiner Rundfunkgeschichte für Kinder über Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg aus dem Jahr 1930 erwähnte Benjamin, dass die Schüler an Ausflügen der Wandervögel teilnahmen, weil sie genug von den „feierlichen Sonntagsspaziergängen mit den Eltern“ gehabt hatten und nicht immer dieselben „abgegrasten Gegenden“ aufsuchen wollten.102 Auch wollten sie die Ausflugsziele der Berliner Spießbürger vermeiden. Die satirische Behandlung von Sonntagsspaziergängen hat eine längere Tradition und ist auch noch in der Gegenwart anzutreffen. Den bürgerlichen Sonntagsspaziergang hat beispielsweise Carl Spitzweg schon im 19. Jahrhundert satirisch in einem Gemälde 1841 dargestellt (Abb. 59, Taf. XIV). In diesem hat der Ausflug in die Natur Ähnlichkeit mit einem 101 SKS 7, S. 41, zitiert u. a. in Belke/Renz 1988, S. 5f., Später 2016, S. 27. – Zu Ginster siehe auch Rühse 2014. 102 Benjamin 1991c, S. 138f.

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59  Carl Spitzweg, Der Sonntags­ spaziergang, ca. 1841, Öl auf Holz, 28 × 34 cm, Salzburg Museum, Salzburg (­Inv.-Nr. 3/31).

Gänsemarsch. Denn die Familienmitglieder laufen ohne Kommunikation in einer Reihe hinter dem Vater her.103 Im 21. Jahrhundert ist das Sujet in Lübeck in einer Installation im öffentlichen Raum wieder aufgegriffen worden. An einem beliebten Promenaden-Aussichtspunkt wird der Familienspaziergang einer kleinen Familie in einer Skulptur von Claus Görtz als pflichtbewusstes Ritual dargestellt.104 Das gelangweilte Kind streckt dabei die Zunge heraus und die Mutter äußert ihr Missfallen darüber mit gespitzten Lippen.

„Dimanche“ als positiver Spiegel für die Erwachsenen Indem in „Dimanche“ der kleine Junge sich von den Erwachsenen entfernt und die Umgebung erkundet, verhält er sich wie ein kleiner Flaneur, der von der Umgebung noch fasziniert und verzaubert werden kann. Das Flanieren stellt für Kracauer ein positives Gegenbild zum bürgerlichen Spazierengehen dar. Schon in seinem Essay „Einer, der nichts zu tun hat“ hat er es 1929 in Bezug zu kindlichen Streifzügen gesetzt. Dabei betont er jedoch, dass der Erwachsene im Gegensatz zum Knaben falsche Ideologien durchschauen kann: „Doch ich treibe dann nicht mehr aus dem Dunkel ins Licht, das dem Knaben die Gewähr der Seligkeit war, sondern entschlüpfe dem Glanz, der zweifelhaft ist […].“105 103 Carl Spitzweg, Der Sonntagsspaziergang, ca. 1841, Öl auf Holz, 28 × 34 cm, Salzburg, Salzburg Museum, Inv.-Nr. 3/31. 104 Claus Görtz, Der Sonntagsspaziergang, 2008, Installation, Holz, Bronze, Messing, Lübeck (Wohnanlage Wallstraße). 105 SKS 5:2, S. 155; siehe auch Stalder 2003, S. 242.

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Das Flanieren ist zudem ein besonders filmaffines Sujet. Denn der Film kann die Erwachsenen bei der Erneuerung der Wahrnehmung unterstützen. Sie können so der physischen Realität wieder nahekommen, von der sie durch das abstrakte Denken entfremdet worden sind.106 In seiner Theory of Film erinnert sich Kracauer an seinen ersten Eindruck vom Film als Jugendlicher, nämlich dass der Film als „the Discoverer of the Marvels of Everyday Life” fungiere, wozu er eine Abhandlung schreiben wollte.107 Neben der Vielfalt der visuellen Erscheinungsmöglichkeiten nutzte Kracauer auch die Tonmöglichkeiten des Films aus. Dabei sind in „Dimanche“ Geräusche weitaus zentraler als Dialoge. Denn Kracauer macht schon bei der Filmidee auf das Rattern des Omnibusses, das Bellen des Hundes, die Drehorgelmusik und den niederklatschenden Regen aufmerksam.108 Gegenüber dem Tonfilm war Kracauer erst kritisch eingestellt, mit den verbesserten technischen Möglichkeiten erkannte er ihn an. Denn dieser kann laut Kracauer auch diejenigen Geräusche erfassen, die sonst den Sinnen entgehen, und sie mit den Bildern zusammenbringen.109 Einerseits werden in „Dimanche“ die Begrenzungen des Urteilsvermögens des Kindes deutlich, andererseits zeigt sich, dass bei den Erwachsenen mehrere Begabungen des Kindes verloren gegangen sind.110 Neben der Entdeckerfreude und der Nähe zu den Phänomenen verfügen die Kinder über die Fähigkeit der besonderen und phantasievollen Schlussfolgerungen. Dieses Vermögen hat Kracauer positiv im Zusammenhang mit einer Clownvorstellung in dem Artikel „Acrobat – schöön“ herausgestellt.111 Er geht in diesem besonders auf die bekannte Brückenbau-Nummer der Rivel-Clowns ein (Abb. 60, Taf. XV).112 Diese wird von den drei Clowns mithilfe von zwei Pagen gebaut und kommt allerdings nur über Umwege zustande. In diesem Zusammenhang betont Kracauer: Die Andreu-Rivel unterstrichen besonders nachdrücklich die strenge Logik, mit der die kindlichen Einfälle sich folgen. […] Denn die Logik, um die es hier geht, ist nicht die normale, sondern am ehesten die des Märchens.113

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Schroer 2009, S. 182. Kracauer 1960, S. xi. – Siehe ebenfalls Forrest 2007, S. 105f. SKW 6:3, S. 523–526. SKW 6:2, S. 122–125, 434–436; siehe auch Später 2016, S. 213f. Anna Freud hat 1930 ebenfalls auf Defizite bei der konventionellen Erziehung hingewiesen, die das Kind zähmen soll: „Man fragt erstaunt, wo Gescheitheit und Originalität des Kindes eigentlich hingeraten. […] Es ist offenbar nicht so ungefährlich, Kinder zur Bravheit zu erziehen. […] Man opfert […] die Ursprünglichkeit des Kindes gleichzeitig mit großen Stücken seiner Energien und Begabungen.“ – Freud (1930) 1965, S. 40. 111 SKW 5:4, S. 244–249. – Den Text nahm er auch in den Sammelband Straßen in Berlin und anderswo (Kracauer 1964, S. 142–146) auf. 112 Die Rivels bei ihrer Clownnummer „Eine Brücke – eine Brücke!“, ca. 1935, Lithographie, 5 × 6 cm. – Die Abbildung stammt aus dem 1935 gedrucktem Album Varieté und Zirkus der Bergmann-Zigarettenfabrik Dresden (Nr. 42). Ihr war die Unterschrift beigegeben: „Die Clowntruppe „Rivels“, die weltbekannte Artistenfamilie, bei ihrer berühmten und bejubelten Nummer „Eine Brücke – eine Brücke!“. 113 SKW 5:4, S. 247f., Kursivsetzung im Original. – Siehe auch Gilloch 2015, S. 183. Gilloch bringt Kracauers Auseinandersetzung mit der Clownsnummer jedoch nicht in Zusammenhang mit der Filmidee „­Dimanche“, die er an anderer Stelle behandelt.

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„Dimanche“ als Film für Erwachsene

60  Die Rivels bei ihrer Clownnummer Eine Brücke – eine ­Brücke!, ca. 1935, Zigarettensammelbildchen, 5 × 6 cm.

Diese märchenähnliche Logik ruft laut Kracauer die utopische Ahnung einer anderen Wirklichkeit hervor. Ähnlich wie Kracauer hat auch Walter Benjamin in seinem Textstück „Schmetterlingsjagd“ in Berliner Kindheit um neunzehnhundert die Denkweise des Kindes von der instrumentellen Ratio der Erwachsenen abgesetzt.114 Im Zusammenhang mit der Erinnerung an die Schmetterlingsjagd in der Sommerfrische thematisiert Benjamin die mimetische Annäherung des Kindes an die Gegenstände.115 Auch Benjamin weist wie Kracauer auf die Restriktionen der kindlichen Vernunft hin, um herauszustellen, dass die Kindheit selbst noch kein utopischer Ort ist, jedoch einen Vorgeschmack von diesem sein kann. Dies unterscheidet Kracauer und Benjamin unter anderem von Béla Balázs. Letzterer idealisiert z. B. in Der sichtbare Mensch den kindlichen Blick, der die Dinge an sich und nicht wegen ihrer pragmatischen Alltagsanbindung wahrnimmt. Dadurch würde er sich laut Balázs sozusagen in einem Paradies befinden, wovon sich Kracauers Betonung der eingeschränkten Wahrnehmung des Kindes unterscheidet.116

114 Benjamin 1991d. 115 „Und so weit ging der Wunsch mir in Erfüllung, daß jedes Schwingen oder Wiegen der Flügel [der Schmetterlinge], in die ich vergafft war, mich selbst anwehte oder überrieselte. Es begann die alte Jägersatzung zwischen uns zu herrschen: je mehr ich selbst in allen Fibern mich dem Tier anschmiegte, je falterhafter ich im Innern wurde, desto mehr nahm dieser Schmetterling in Tun und Lassen die Farbe menschlicher Entschließung an, und endlich war es, als ob sein Fang der Preis sei, um den einzig ich meines Menschendaseins wieder habhaft werden könne.“ – Benjamin S. 1991d, S. 244. Siehe auch Jornitz 1999. 116 Balázs (1924) 2001, S. 77–79.

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V. Die Dialektik der Aufklärung als Kinderfilmidee

„Dimanche“ als filmisches Denkbild von Kracauers Rationalismuskritik Indem in „Dimanche“ sowohl auf die Begrenzungen der Gedankenwelt des Kindes als auch auf die der Eltern aufmerksam gemacht wird, veranschaulicht der Kurzfilm Kracauers Aufklärungskritik, die u. a. als Vorläufer von Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung gilt.117 Seine Rationalismuskritik hat Kracauer grundlegender in seinem bekannten Essay „Das Ornament der Masse“ dargelegt (siehe auch Kapitel IV, S. 147f.). Er wurde in der FZ am 9. und 10. Juni 1927 abgedruckt. Der Geschichtsprozess sei laut Kracauer als „Prozeß der Entmythologisierung“ zu verstehen.118 Die „Positionen des Natürlichen“ werden dabei immer wieder neu besetzt und müssen erneut abgebaut werden.119 Die Vernunft intendiert die „Einsetzung der Wahrheit in der Welt“.120 Die dadurch mögliche, jedoch kaum vorstellbare Harmonie in der Welt werde vorgeträumt in den Märchen sowie den Clownerien oder wird – wie dargelegt – auch in den Gedankenarabesken sowie den Flanerien von Bébé in „Dimanche“ erahnbar.121 Die analytische Rationalität des kapitalistischen Wirtschaftssystems ermögliche laut Kracauer zwar eine fortgeschrittene Beherrschung der Natur und die moderne Technik. Diese moderne Ratio stellt jedoch für ihn nur eine getrübte Vernunft dar. Sie diene nicht der Einsetzung der Wahrheit in der Welt, denn [s]ie begreift den Menschen nicht ein. Weder wird durch die Rücksicht auf ihn der Ablauf des Produktionsprozesses geregelt, noch baut sich die wirtschaftliche und soziale Organisation auf ihm auf, noch ist überhaupt an irgendeiner Stelle der Grund des Menschen der Grund des Systems.122

Durch die Aufhebung der natürlichen Produktionsmethoden hätte eine Entfesselung der Produktivkräfte stattgefunden und der Ablauf des Produktionsprozesses würde nicht mit Rücksicht auf den Menschen organisiert, genau wie das soziale System diesen nicht in den Mittelpunkt stellt. Daher würden die einzelnen Subjekte verdinglicht erstarren.123 Diese Situation sei der herrschenden Abstraktheit geschuldet und daher sei der Prozess der Entmythologisierung nicht abgeschlossen worden. Mit der Verfestigung dieser Abstraktheit wird der Mensch erneut den Naturmächten untertan. Für eine Änderung dieser Situation ist allerdings ein wesentlicher Wandel des Wirtschaftssystems notwendig. Denn „[d]ie ungebrochene Entwicklung des kapitalistischen Systems … [bedingt] also das ungebrochene Wachstum[] des abstrakten Denkens (oder nötigt das Denken, in falsche Konkretheit zu versinken).“124

117 118 119 120 121 122 123 124

Siehe Mülder 1985, S. 66 sowie Stalder 2003, S. 156. Kracauer 1963, S. 56. Ebd. Ebd., S. 55. Ebd. Ebd., S. 57, Kursivsetzung im Original. Siehe auch Mülder 1985, S. 62. Kracauer 1963, S 58.

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„Dimanche“ als Film für Erwachsene

61  Tiller-Girls, ca. 1930, Fotografie, abgedruckt auf dem Deckblatt der Notenausgabe von „I’m gonna get you“, London: Lawrence Wright 1931.

Das Massenornament stellt für Kracauer eine „Oberflächenäußerung[]“ der kapitalistischen Rationalität dar:125 „Das Massenornament ist der ästhetische Reflex der von dem herrschenden Wirtschaftssystem erstrebten Rationalität.“126 Er sieht es u. a. in den Revuen der Tiller-Girls zum Ausdruck gebracht (Abb. 61), die für ihn als eine Allegorie der kapitalistischen Rationalisierung fungieren.127 Das Tanzensemble der Tiller-Girls war in der Weimarer Republik zwischen Inflation und Weltwirtschaftskrise sehr populär und bekannt für die genauen Bewegungsfolgen der Tänzerinnen.128 Sie bewirkten, dass das Ensemble wie ein unauflöslicher Mädchenkomplex erschien: „Die sechzehn Frauen schweben wie ein Körper über die Bühne. Eine prachtvolle Schule von Exaktheit und Duft.“129 Schon 1925 interpretierte Kracauer die „unerhörte Präzisionsarbeit“ der Tiller-Girls als „entzückende[n] Taylorismus der Arme und Beine, mechanisierte Grazie“.130 1927 betont er, dass mit ihnen Ornamente aus Massengliedern gebildet werden und die Bewegungen genau berechnet werden. Damit seien sie das kulturelle Pendant zur durchrationalisierten Fabrikarbeit. Genau wie diese werden sie aus rationalen Grundsätzen entworfen und finden in der eigenen Perfektion ihr Ziel. Sie dienen dem Selbstzweck und wären daher mit der industriellen Produktion vergleichbar, die nur noch wegen des eigenen Zuwachses betrieben wird.131 Dabei macht er deutlich: „Der kapitalistische Produktionsprozeß ist sich Selbstzweck wie das Massenornament. Die Waren, die er aus sich entläßt, sind nicht eigentlich darum

125 126 127 128 129 130 131

Ebd., S. 50. Ebd., S. 54. Traverso 2006, S. 87. Fleig 2005. Vorwärts, 29.8.1925, Nr. 392, Jg. 42, Abendausgabe Nr. B193. Kracauer 1997, S. 97. Siehe auch Stalder 2003, S. 157.

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V. Die Dialektik der Aufklärung als Kinderfilmidee

produziert, daß sie besessen werden, sondern des Profits wegen, der sich grenzenlos will.“132 Insgesamt betrachtet, rationalisiere der Kapitalismus laut Kracauer nicht zu viel, sondern zu wenig. Daher fordert Kracauer am Ende des Textes, dass das Denken die Natur einschränken müsse und die Vernunft vollendet wird. Damit würde auch das Ornament der Masse verschwinden.133 Auch wenn Kracauer seit 1926/1927 utopisches Gedankengut nicht mehr rückwärts auf die Vergangenheit projiziert (siehe Kap. II, S. 49), ist es weiterhin noch relevant. Kracauer verwendet jedoch nun mit Wahrheit und Vernunft andere Begriffe. Sie sind eschatologisch konnotiert wie früher Sinn und Wirklichkeit bei ihm und verweisen somit auf eine Überwindung der Kluft von Mensch und Welt.134 Dass eine solche erst am Ende der Geschichte durch die messianische Einsetzung der Wahrheit in der Welt vollendet wird, wird mit einem Zitat von Friedrich Hölderlin aus dem Gedicht „Die Linien des Lebens sind verschieden…“ von 1812 am Anfang des Essays alludiert: „Was wir hier sind/ kann dort ein Gott ergänzen/ Mit Harmonien/ und ewigem Lohn & Frieden.“135 Der Text „Das Ornament der Masse“ enthält – wie schon erwähnt – mehrere Überlegungen, die Adorno und Horkheimer für die Dialektik der Aufklärung aufgreifen. Angesichts des Terrors und der Gräueltaten der Nazis wird in der Studie der Umschlag der instrumentellen Rationalität in die Barbarei untersucht.136 Kracauer gesteht jedoch noch etwas mehr Möglichkeit für einen gelingenden Aufklärungsprozess zu. Adorno und Horkheimer sehen dagegen die Aufklärung von Beginn an den Mythos verfallen.137 Entgegen der Dialektik der Aufklärung gibt es bei Kracauer auch keinen unvermeidlichen Ausgang, für ihn sind der Geschichtsprozess und der Widerstreit zwischen Vernunft und Mythos offen. Die von Kracauer integrierte utopische Perspektive ist theologisch geprägt.138 In „Dimanche“ fordert Kracauer die Zuschauer mit dem beschränkten Blickwinkel des Kindes dazu auf, die noch nicht überwundenen Reste der ersten Natur zu hinterfragen. ­Darüber hinaus sollen auch die sekundären Naturmächte, d. h. die anscheinend naturgegebenen gesellschaftlichen Mythen wie die Sonntagsrituale, in Frage gestellt werden. Die ideale Vernunft-Vorstellung wird in der besonderen Logik des Kindes vorweggenommen. Der scheinbar harmlose Film ist theoriegesättigt, die Reflexion wird zudem in diesem anschaulich.139 Damit steht er noch mehr als der Text über das Münzstraßenkino in der Nähe zu ­Kracauers Denkbildern aus der Weimarer Republik. Genau wie in diesen kommt in der Filmidee

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Kracauer 1963, S. 53. Ebd., S. 63. Schröter 1989. Hölderlin 1983, S. 103f., hier S. 104; siehe auch Steinmeyer 2008, S. 82. Adorno bestätigte Kracauer am 12.1.1933 im Zusammenhang mit der Bitte um eine Rezension von Ernst Cassirers Studie Die Philosophie der Aufklärung: „[...] als Du ja von uns zuerst die Probleme der Aufklärung neu in Angriff genommen hast.“ (AKB, S. 298) – Siehe u. a. auch Stalder 2003, S. 160f. 137 Mülder 1985, S. 67. 138 Stalder 2003, S. 61f. 139 Siehe hierzu auch die Ausführungen von Stalder zu den Denkbildern Kracauers – Stalder 2003, S. 220.

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„Dimanche“ als unrealisiertes Exilprojekt

„[j]ene Doppeltheit von Gedanke und Anschauung […] zum knappsten Ausdruck,“140 die Heinz Schlaffer als signifikant für Kracauers poetische Kurztexte wie z. B. „Das Klavier“ ansah und auf die schon in Kapitel IV verwiesen wurde.141

„Dimanche“ als unrealisiertes Exilprojekt Deutlich wurde, dass Kracauers Filmentwurf mit dem scheinbar harmlosen Sujet eines Sonntagausflugs philosophischen Tiefgang besitzt. Er ist weitaus anspruchsvoller als das Treatment „Dein Kind sieht dein Leben“ von Balázs oder die späten Treatments von Roth.142 Der skizzierte Film übertüncht auch nicht den Alltag mit realitätsfernen Wunschträumen wie in vielen von Kracauer kritisierten Ufa-Filmen,143 sondern entlarvt soziale Konventionen und fördert eine realistische Wahrnehmung. Eine solche ist nach Kracauer eine Vorbedingung für das politische Handeln.144 Kracauer behält somit das Niveau seiner Auseinandersetzung mit Film als Kritiker auch bei seinen praktischen Arbeiten bei. Mit dem nicht so langen Familienfilm hat Kracauer eine gute Nische für seinen Versuch gewählt, sich als Filmautor zu etablieren.145 Die 1000-Meter-Länge bot zudem ähnliche wie heutige Kurzfilme besondere kreative Möglichkeiten und Freiheiten. Auch wären Fortsetzungen des Films möglich gewesen, z. B. eine Serie ähnlich wie der schon angeführte historische Vorläufer von „Dimanche“, nämlich die Bébé-Kurzfilmreihe von Louis Feuillade. Mit dem Karussell als Sonntagsvergnügen ist ein eher französisches Element in „Dimanche“ integriert worden. Spaziergänge werden allerdings mehr in Deutschland und England gepflegt, in Frankreich sind Picknicks ein beliebteres Sonntagsvergnügen.146 Generell wäre der Film jedoch in mehreren Ländern vorführbar gewesen.

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Schlaffer 1973, S. 142. Rühse 2013b; siehe auch Stalder 2003, S. 218–222. Balázs (1931) 1984. Zu Roths Treatments siehe die schon erwähnte Rezension von Priwitzer 2015. Nur einige Zugeständnisse macht der Film, u. a. auch um den erwähnten Eindruck eines behüteten Umfeldes für das Kind zu machen. So wirkt es etwas nostalgisch, dass die Großmutter im selben Haushalt lebt, weil dies in der Stadt in den 1930er Jahren nicht immer üblich war. Auch konnten sich damals viele junge Leute nach der Weltwirtschaftskrise nicht unbedingt einen gemeinsamen Haushalt mit Kind leisten, worauf Kracauer in „Zum Paradies der Babys“ hingewiesen hat („Während die Krise Deutschland wie eine Pestilenz heimsucht, […] und die Beschränkung der Geburten zur immer unabweisbareren Notwendigkeit wird […].“ – SKW 5:3, S. 636). In Frankreich war die Situation ebenfalls schwierig. Auch mussten die Menschen bei Ausflügen Ausgaben z. B. für Verpflegung sparen – siehe Marquardt 1933, S. 27. Das hier als Beleg angeführte Buch Die kleinen Leute von Paris von Martha Marquardt rezensierte Kracauer zu Beginn seines französischen Exils, d. h., er arbeitete an der Besprechung ggf. zeitgleich wie an der Filmidee (SKW 5:4, S. 432f.). 144 SKW 6:3, S. 33. 145 Viele Exilanten wählten Nischen, um tätig sein zu können – siehe Heikaus 2009, S. 70. 146 Marquardt 1933, S. 24–27.

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V. Die Dialektik der Aufklärung als Kinderfilmidee

62  Standfoto mit Brigitte Borchert und Christel Ehlers beim Picknick am Wannsee aus ­Menschen am Sonntag (R: ­Robert Siodmak, Rochus Gliese, Edgar G. Ulmer, Deutschland 1930), 16,4 × 21,1 cm.

Verhältnismäßig frühes Reagieren auf Filmtrends „Dimanche“ tangiert zudem zwei Bereiche, die schon eine Zeit lang vor dieser Kurzfilmidee populär geworden waren, nämlich Filme zu Kinderthemen und zur Sonntagsgestaltung. Ihre Beliebtheit sollte in den kommenden Jahren weiterhin anhalten bzw. bei den Kinderthemen sogar noch steigen. Eine Sonntagspartie ist beispielsweise das Thema der kurzen Komödie A Perfect Day (1929) mit dem Komikerduo Stan (Laurel) und „Ollie“ (Oliver Hardy).147 International viel Beachtung hat der deutsche Film Menschen am Sonntag über das Wochenende von jungen Erwachsenen in Berlin gefunden (Abb. 62).148 Dieser späte Stummfilm gehört zu den bekanntesten Filmen der Neuen Sachlichkeit und zeichnet sich durch dokumentarische Elemente und den Einsatz von Laienschauspielern aus.149 Auch in Frankreich wird zu dieser Zeit z. B. in Jean Gourguets Film Un rayon de soleil und in Marcel Carnés Dokumentarfilm Nogent, eldorado du dimanche die Sonntagsgestaltung thematisiert.150 Neben dem Sonntagssujet war in Kracauers „Dimanche“ zudem die Kinderthematik Erfolg versprechend. Mit dieser griff Kracauer einen sehr wichtigen Trend auf. In Deutschland war der Film Emil und die Detektive besonders bekannt, französische Beispiele für Kinder-/ Jugendfilme Anfang der 1930er Jahre sind u. a. Poil de carotte sowie Zéro de conduite.151

147 Perfect Day, R: James Parrott, USA 1929. U. a. aufgrund Autodefekten und Debatten mit Anwohnern ist der Sonntagsausflug in Perfect Day besonders ungewöhnlich und humorvoll. 148 Menschen am Sonntag, R: Robert Siodmak, Rochus Gliese, Edgar G. Ulmer, Deutschland 1930. 149 Kracauer charakterisierte in From Caligari to Hitler den Film Menschen am Sonntag als „one of the first films to draw attention to the plight of the ‚little man.‘“ – Kracauer 1947, S. 188–189, hier S. 189. 150 Un rayon de soleil, R: Jean Gourguet, Frankreich 1929; Nogent, eldorado du dimanche, R: Marcel Carné, Frankreich 1929. 151 Poil de carotte, R: Julien Duvivier, Frankreich 1932 sowie Zéro de conduite, R: Jean Vigo, Frankreich 1933.

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„Dimanche“ als unrealisiertes Exilprojekt

63  Shirley Temple, 2. Hälfte der 1930er Jahre, Fotografie, 13,8 × 8,7 cm.

Filme mit Kindern wurden in den nächsten Jahren noch beliebter, so dass die 1930er heute als „golden age of the childstar movie“ angesehen werden.152 Von den vielen damaligen Kinderstars ist bis heute Shirley Temple besonders bekannt (Abb. 63).153 Kracauer hat somit wichtige aktuelle Tendenzen bei seiner Filmidee „Dimanche“ berücksichtigt. Allerdings konterkariert er diese, indem er wie dargelegt auf die Spießigkeit von Sonntagsspaziergängen aufmerksam macht und in seinem Film eine Verherrlichung von kleinen Kindern nicht fördert.

Schwierigkeiten für eine Realisierung von „Dimanche“ in Frankreich und England „Dimanche“ hat Kracauer in Frankreich unter anderem Jean Renoir vorgelegt, vielleicht schon während eines Treffens im Frühjahr 1933. Dieses wird in einem Brief im Kracauer-Nachlass erwähnt und dessen Terminierung passt gut zu der vorgeschlagenen frühen Datierung der Filmidee Anfang Mai 1933.154 Es kann sein, dass Kracauer mit Renoir im Blick als präferierten

152 Brown 2010, S. 85. 153 Zu den bekannten Kinderstars in den 1930er Jahren gehören neben Shirley Temple u. a. Baby June Hovick, Mickey Rooney, die Parrish-Kinder, Sabu Dagistur, Jane Withers, Deanna Durbin, Jackie Cooper, Judy Garland und Freddie Bartholomew (siehe ebd. sowie Wojik-Andrews 2000, S. 71). Shirley Temple hatte ihre ersten Filmauftritte in der achtteiligen Serie Baby Burlesk 1932 (R: Charles Lamont, Ray Nazarro), die wegen ihrer wie oben schon angemerkten sexualisierten Darstellung von Kindern als sehr kritisch angesehen werden muss (Wojik-Andrews 2000, S. 32f.). Temple drehte anschließend Filme und stand schnell an achter Stelle der bestbezahlten Stars 1933–34 (Anon. 1934b, S. 10). 154 Renoir schrieb Kracauer kurz am 27.4.1933, dass er sich über ein Wiedersehen freuen würde und Kracauer möge bitte einen Termin telefonisch ausmachen – Jean Renoir, Brief an Siegfried Kracauer, 27.4.1933 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA). Weitere Treffen wurden anscheinend ebenfalls am Telefon vereinbart, denn es gibt keine schriftlichen Dokumente in Kracauers Nachlass.

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V. Die Dialektik der Aufklärung als Kinderfilmidee

Regisseur und dessen Stil die Filmidee „Dimanche“ geschrieben hat. Kracauer bewunderte Renoirs Regiekünste sehr. Dessen Film La Chienne über die falsche Verurteilung eines Unschuldigen für einen Mord an einer Grisette hatte Kracauer als den „schönsten Film des Jahres 1932“ wegen seines Realismus gewürdigt: „Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist in ihm unverstellt wiedergeben.“155 Renoir hatte 1928 auch einen Film nach dem Kunstmärchen „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Hans Christian Andersen gedreht, der mit 28 Minuten nur etwas kürzer als die angedachte Länge von „Dimanche“ gewesen war.156 Die junge Schwefelholzverkäuferin schläft im Schnee ein, weil sie sich ohne verkaufte Streichhölzer nicht nach Hause traut. In ihrem Traum von einem Spielzeugladen mit lebendigen Spielsachen wie z. B. Holzsoldaten sind einige phantastische Elemente integriert worden. Für solche ist ebenfalls die Szene mit der Karussellfahrt von Bébé in „Dimanche“ prädestiniert, reitet dieser doch „[m]itten in die Landschaften seiner kolorierten Kinderbücher“ hinein. „Dimanche“ mit seiner Mischung aus Realismus, Phantasie und Poesie sowie Satire des Bürgertums, die La Chienne auszeichnete, hätte insgesamt gut zu Jean Renoir als Regisseur gepasst. Jedoch kam es zu keiner Zusammenarbeit, auch wenn Renoir Kracauer schätzte und er laut Kracauer Interesse an der Filmidee gehabt hatte.157 Die Situation der französischen Filmwirtschaft war 1933 aufgrund struktureller Probleme, der wirtschaftlichen Krise und der großen amerikanischen Konkurrenz generell schwierig. Renoir musste sich zudem auch erst noch mehr etablieren und arbeitete zwischendurch immer wieder an kommerziell erfolgreichen Stoffen, um seine künstlerischen Filme zu finanzieren. Möglicherweise hatte er für „Dimanche“ 1933 nicht die finanziellen Mittel.158 Allgemein war es sehr schwer, für noch nicht etablierte Filmautoren in Frankreich Fuß zu fassen – insbesondere für Emigranten. Denn die ökonomisch schwierige Lage unterstützte Fremdenfeindlichkeit, zudem machten sich die Emigranten gegenseitig Konkurrenz.159 Generell waren die Möglichkeiten für unabhängige Filmautoren begrenzter, da die großen Studios sich zu dem Zeitpunkt effizienter strukturierten und eigene Skriptdepartments mit Autoren hatten. Auch in England war Kracauers Filmidee nicht erfolgreich, wo sie mit Unterstützung

155 La chienne, R: Jean Renoir, Frankreich 1931. – SKW 6:3, S. 129, siehe auch ebd. S. 97f. – Noch 1952 setzte Kracauer La chienne auf eine Liste der zehn für ihn wichtigsten Filme an dritter Stelle – siehe Siegfried Kracauer, Brief an Gavin Lambert (British Film Institute), 28.7.1952 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA). 156 La petite marchande d’allumettes, R: Jean Renoir, Frankreich 1928. 157 Siegfried Kracauer an Leo Lania, 16.4.1934 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA): „Hier in Paris hatte man Interesse dafür (z. B. Jean Renoir), ohne daß es zur Ausführung kam.“ – Auf die Wertschätzung Renoirs der besonderen „geistigen Freundschaft“ mit Kracauer verweist ein Brief Renoirs an Kracauer von 1937 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA). 158 Faulkner 1986, S. 30. – Renoir drehte tatsächlich 1936 einen Film über einen Sommerausflug auf das Land nach einer Novelle von Guy de Maupassant mit sehr geringen finanziellen Mitteln (Une partie de campagne, R: Jean Renoir, Frankreich 1936). Aufgrund der schlechten Wetterlage und wegen eines neuen Projekts musste die Arbeit an dem Film jedoch abgebrochen werden. 159 Einige Autoren arbeiteten in der französischen Emigration wegen der Fremdenfeindlichkeit unter sehr französisch wirkenden Pseudonymen – Engel 2003, S. 62.

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„Dimanche“ als unrealisiertes Exilprojekt

von Kracauers Bekannten Leo Lania angeboten werden sollte.160 Dort entstanden bis 1945 insgesamt nur 38 Exilfilme.161 Neben den generellen Herausforderungen für emigrierte Autoren im Filmgeschäft ist für die fehlende Realisierung von „Dimanche“ wohl noch ein anderer Grund verantwortlich zu machen. Eigentlich war er mit der geplanten Länge von 1000 Meter gut geeignet, um ihn anderen Filmen beizugeben. Während der Weltwirtschaftskrise begannen in den USA jedoch Kinobetreiber, zwei Filme zum Preis von einem aufzuführen.162 Diese sogenannten „Double Features“ waren in den 1930er und 1940er Jahren ebenfalls in Frankreich und England verbreitet.163 Dies könnte unterstützt haben, dass die nächsten beiden Filmideen von Kracauer in den 1930er Jahren auf Langfilme ausgerichtet waren. Allerdings konnten auch sie nicht verwirklicht werden.164

Schwierige Entstehungsbedingungen der Filmidee Die fehlende Realisierung von „Dimanche“ ist aufgrund der Qualität, des philosophischen Tiefgangs, der kritischen Elemente und natürlich auch der Ungewöhnlichkeit zu bedauern. Der leichte, spielerische Charakter dieser Filmidee ist ebenfalls erstaunlich. Denn Kracauer hat sie sehr wahrscheinlich schon zu Anfang seiner französischen Emigration 1933 verfasst. Zu dieser Zeit stellten die Verhandlungen mit der FZ in Bezug auf seine Kündigung und die damit verbundenen persönlichen Enttäuschungen, die Auflösung der Berliner Wohnung von Paris aus sowie die Existenzsorgen im Exil große Belastungen dar.165 Auch waren die Lebensbedingungen von Kracauer und seiner Frau sehr bescheiden. Von außen wirkte ihre damalige Unterkunft, das „Madison Hotel“ in dem bei KünstlerInnen und LiteratInnen beliebten Viertel

160 Leo Lania wollte in England neben einem Roman auch an Filmideen arbeiten. Kracauer bat ihn auch, sich nach Verwertungsmöglichkeiten einiger grundlegender, in der FZ publizierter Artikel zu erkundigen. Da Lania bei der Vermittlung von „Dimanche“ nicht erfolgreich war, forderte Kracauer die Filmidee am 20.12.1934 in einem Brief wieder zurück – Siegfried Kracauer, Brief an Leo Lania, 20.12.1934 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA). 161 Heikaus 2009, S. 70. 162 Hobermann 2019. 163 Hayward 1993, S. 23. 164 Die Verfilmung von Tartarin sur les Alpes ist als „große Filmkomödie“ angelegt (SKW 6:3, S. 518). Das Exposé für den Offenbach-Film enthält 70 Szenen und war somit ebenfalls für einen längeren Film gedacht. 165 Anfang April, d. h. einen Monat nach seiner Ankunft in Paris, erreichte Kracauer die verklausulierte Kündigung. Kracauer bemühte sich aus Paris mit Unterstützung des Frankfurter Anwaltes Selmar Spier um eine ordentliche Entlassung und eine Fortsetzung der noch ausstehenden Gehaltszahlungen. Am 10. Mai 1933 setzten sich dazu Spier und der Anwalt des Verlags der FZ zusammen (Später 2016, S. 309). Kracauer sorgte sich ebenfalls sehr, weil seine vorhandenen finanziellen Mittel nur bis zum 5. Juni 1933 ausreichten und er weder seine Mutter in Frankfurt noch die offenen Mietzahlungen für seine Berliner Wohnung bezahlen konnte (Belke/Renz 1988, S. 77).

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V. Die Dialektik der Aufklärung als Kinderfilmidee

64  Madison Hotel, 1920er Jahre, 143 Boulevard Saint-Germain, Paris, Postkarte, 14 × 9 cm.

Saint-Germain-des-Prés, zwar recht repräsentativ (Abb. 64).166 Das kleine Hotelzimmer war aber insbesondere für zwei Personen sehr beengt.167 In einem Brief an Julius Meier-Graefe macht Kracauer die belastende Situation deutlich: „Ich bin durch wochenlange Korrespondenz über Abfindung, Möbel etc. so auf dem Hund, daß ich kaum an meinem Roman arbeiten kann.“168 Zu Beginn seines französischen Exils schrieb Kracauer aber nicht nur an seinem großen zweiten Roman Georg, sondern auch an einigen Zeitungsartikeln.169 Er bemühte sich zusätzlich, bei verschiedenen Zeitungen kontinuierlich mitzuarbeiten, was jedoch sehr schwierig war. Darüber hinaus versuchte er, andere Arbeitsmöglichkeiten zu finden. Wahrscheinlich zeitgleich bzw. kurz nach der Film­ 166 In dem Madison Hotel übernachteten häufiger Schriftsteller, u. a. Boris Pasternak, André Malraux und Albert Camus. 167 Siehe auch Hanns Ludwig Katz, Bildnis Elisabeth Kracauer-Ehrenreich, 1935, Öl/Karton, 130 × 95 cm, Emden, Kunsthalle, Stiftung Henri Nannen (Inv.-Nr. G 30/1984, abgebildet in Jüdisches Museum Frankfurt 1992, S. 177). – Lili Kracauer hatte ihren Mann ins Exil begleitet. Auf dem Gemälde ihres Schwagers, dem leider immer noch zu wenig beachteten Künstlers Hanns Ludwig Katz, ist sie im Madison Hotel an dem Tisch vor dem Fenster zu sehen, auf dem u. a. Kracauers Pfeife und ein Roman von Balzac platziert sind (die im Fenster zu sehende Kirche Saint-Sulpice, die jedoch nicht direkt gegenüber vom Madison Hotel ist, war Schauplatz in einigen Werken von Balzac). Es zeigt eine Nachtsituation, der Mond ist wolkenverhangen und Lilis Augen sind sehr dunkel. Die bedrückte Atmosphäre ist einerseits durch die Trauer aufgrund des unvorhergesehenen Todes von Lili Kracauers Schwester gezeichnet, aber andererseits wohl auch durch die Miseren im Exil. Interessant ist, dass der Fensterblick auf die Kirche mit den beiden offenen Fensterflügeln wie ein Triptychon sozusagen als „Bild im Bild“ gestaltet ist (zur Entstehungssituation des Gemäldes siehe Jüdisches Museum Frankfurt 1992, S. 65f.). 168 Siegfried Kracauer, Brief an Julius Meier-Graefe, 24.8.1933 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA); siehe auch Später 2016, S. 310. 169 Die Artikel, die Kracauer zu Beginn des französischen Exils verfasst hat, sind aufgelistet in Levin 1989, S. 292ff.

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Ein Sonntagsausflug im heutigen Kinderfilm – Der experimentelle Kurzfilm Sounds of Nature (2013)

idee „Dimanche“ erstellte er z. B. noch einen Vorschlag für die ebenfalls nicht stattgefundene Gründung eines wissenschaftlichen Presseinstituts, den er am 24. Mai 1933 Pierre Viénot übergab.170 Kracauers Versuch, sich mit „Dimanche“ als Filmautor zu etablieren, ist also eines von mehreren gescheiterten Projekten während der Anfangsphase seines französischen Exils gewesen. Die fehlende Realisierung der Filmidee macht auf die schwierige Arbeits- und Lebenssituation der aus Nazi-Deutschland geflüchteten Intellektuellen aufmerksam.171 Selbst für Kracauer mit seinem guten Netzwerk und Freunden, die sich für ihn einsetzten, ist es nicht möglich gewesen, in Frankreich während seines acht Jahre währenden Aufenthalts richtig Fuß zu fassen. Er und seine Frau konnten teilweise nur mit finanziellen Zuwendungen von Bekannten überleben und schließlich in die USA ausreisen (s. auch Kap. VI, S. 223).172

Ein Sonntagsausflug im heutigen Kinderfilm – Der experimentelle Kurzfilm Sounds of Nature (2013) Mit ihrem philosophischen Tiefgang in Verbindung mit einem Kind als Hauptprotagonisten hätte Kracauers Filmidee definitiv keinen der ‚Mainstreamfilme‘ ergeben, wie sie damals von der Ufa produziert wurden. Wenn Kinder in Filme eingebracht werden, sollen sie häufig vornehmlich fotogen sein. Auch mit der Satire des Kleinbürgertums ist die Filmidee bis heute außergewöhnlich, denn normalerweise werden in den Kinder-/Familienfilmen konservative Werte unterstützt.173 Im Independent-Filmbereich sind bis heute eher Erwachsene als Pro­ta­ go­nisten anzutreffen, um größere Zuschauerzahlen zu erzielen.174 Mehr Freiheiten sind im Kurzfilmbereich möglich. Der Schweizer Filmschaffende Simon Weber hat für seinen Kurzfilm Sounds of Nature aus dem Jahr 2013 einen zehnjährigen Jungen als Protagonisten gewählt, der einen Sonntagsausflug mit seinen Eltern in die Natur macht.175 Während Kracauer mit „Dimanche“ eine realistische Wahrnehmung unterstützen wollte, thematisiert Weber die kindliche Wirklichkeitserfassung im Zwiespalt zwischen Computerspielen und Naturerfah-

170 Siegfried Kracauer, Proposition relative á la fondation d’un institut scientifique de la presse, Mai 1933, DLA Marbach (Microfiche-Nr. 005605). – Das von Kracauer konzipierte Institut sollte ähnlich wie das Institut für Zeitungsforschung in Berlin strukturiert sein. In der Kracauer-Forschung ist dieser Vorschlag m. W. bislang noch nie berücksichtigt worden. 171 Dabei hatten am Anfang die Emigranten aus Deutschland noch nicht so viele bürokratische Hürden. Am 22. April 1933 traf die französische Regierung noch großzügige Sonderverordnungen, die allerdings ein halbes Jahr später aufgehoben wurden – Später 2016, S. 290. 172 Siehe Belke/Renz 1988, S. 74–101. 173 Wojik-Andrews 2000, S. 73. 174 Lopate 1997. 175 Sounds of Nature, R: Simon Weber, Schweiz 2013 (7:45 Minuten); Making of „Sounds of Nature“, R: Voltafilm (Corina Schwingruber, Antonia Meile, Matthias Dietiker), Schweiz 2013. – Simon Weber ist in den Bereichen Produktion, Regie und Kamera tätig. Der Film Sounds of Nature wurde im Herbst 2012 beim Gerzensee bei Bern gedreht. – Mein Dank gilt Simon Weber, der mir freundlicherweise das Drehbuch, das Produktionsdossier und die Pressematerialien zu seinem Film Sounds of Nature zur Verfügung gestellt hat. Die Entwicklung der ersten Idee bis zum fertigen Film kann man an diesen Materialien sehr gut nachvollziehen.

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V. Die Dialektik der Aufklärung als Kinderfilmidee

rungen. Diese Thematik ist auch für Erwachsene relevant – es handelt sich also genau genommen um einen Familienkurzfilm.176 Wie Kracauers „Dimanche“ basiert auch Webers Sounds of Nature nicht auf einem Kinderbuch. Bei der Handlung sind allerdings Anleihen an das Jump ’n’ Run-Spiel Super Mario Bros. zu finden.177 Dieser Nintendo-Konsolenklassiker prägt ebenfalls sehr das Sounddesign des Kurzfilms. Denn die Naturgeräusche werden häufig im Film in Konsolenspielgeräusche transferiert. Der Film entstand innerhalb des Projektes „Sagenhaft“ der Schweizer Albert Köchlin Stiftung, mit dem das kreative Potenzial von Sagen und Sagenhaftem der Innerschweiz in den Mittelpunkt gerückt werden sollte.178 Die Mystifizierung der Natur in den Sagen inspirierte einerseits Webers Gestaltung der kindlichen Naturerfahrung, andererseits ist diese auch durch moderne Fantasy-Sujets geprägt.179 Bei einem Sonntagsspaziergang in der Natur wird Finn seine Nintendo-Spielkonsole von seinem Vater fortgenommen. Gelangweilt bleibt Finn an einem Waldsee zurück, während seine Eltern in den Wald weitergehen. Das Geräusch eines untergehenden Steins auf dem Waldsee weckt sein Interesse an der ihn umgebenden Natur und er geht auf Entdeckungsreise. Unter anderem lässt er Steine über den See hüpfen und spielt Harfe mit dem Schilf. Nach dem Ausruhen in einem Bett aus Herbstblättern und auf dem Moos erkundet Finn den angrenzenden Wald.180 Dabei setzt der Protagonist seine Naturerfahrungen mit dem Jump ’n’ Run-Konsolenspiel-Parcours in Verbindung. Dies wird eindrücklich über die Begleitmusik vermittelt, die kunstvoll Sounds insbesondere aus den frühen Super Mario Bros.-Versionen variiert. Auch Wildpilze werden in Bezug zu den „Power Up“-Pilzen im Super Mario Bros.-Spiel gebracht.181 Darüber hinaus ist aus dem modernen Fantasybereich das Motiv lebendiger Bäume entlehnt worden.182 Die Zweige einer Tanne erscheinen Finn wie Arme und das Baumknarren wie eine Drohgebärde, die durch düstere Wolken verstärkt wird. Mit der Tanne beginnt der Junge ein Duell. Die Bewegungen und die Musik sind dabei an das Finale in dem Italowestern C’era una volta il West (Spiel mir das Lied vom Tod) angelehnt, was dem Spannungsaufbau dient.183 Nachdem Finn die Tanne mit einem Zapfen beschossen hat, wehrt sich der Nadelbaum mit einem Zapfenregen. Finn läuft flüchtend zum See zurück und springt in diesen. Es folgt aller176 Der Film wurde passenderweise nicht nur auf Kinderfilmfestivals gezeigt, sondern sowohl in Schweizer Kinos im Vorprogramm für Filme, die eher an Erwachsene gerichtet waren, als auch auf Festivals für Kurzfilme und Independent-Produktionen präsentiert. 177 Super Mario Bros., Nintendo, 1985. 178 Siehe Albert Koechlin Stiftung 2010. 179 Weber 2012a, S. 5. Zu den Fantasy-Elementen siehe unten. 180 Unter anderem läuft der Junge in Sounds of Nature durch den Wald und schlägt mit Stöcken an die Baumstämme. Damit wird eine aggressive Atmosphäre bewirkt. Der Höhepunkt von Finns Walderkundung stellt das Duell mit einer Tanne dar. 181 Die Pilze, die in Super Mario Bros. als „Power Ups“ fungieren, haben allerdings eine andere Farbe. 182 Lebendige Baumgestalten sind u. a. in John R. R. Tolkiens The Lord of the Rings (London: George Allen and Unwin 1955) zu finden (sog. „Ents“). Sie sind ebenfalls im Gaming-Bereich aufgegriffen worden. 183 C’era una volta il West (Spiel mir das Lied vom Tod), R: Sergio Leone, Italien/USA 1968; die deutliche Referenz von Sounds of Nature an C’era una volta il West wird auch im Drehbuch angeführt – Weber 2012b, S. 26.

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Ein Sonntagsausflug im heutigen Kinderfilm – Der experimentelle Kurzfilm Sounds of Nature (2013)

dings weder eine Unterwasserexpedition wie bei Super Mario Bros. noch ein „Game Over“. Der Film schließt mit der Szene, wie sich Finn am Lagerfeuer wärmt, das seine Eltern inzwischen in der Nähe des Sees im Wald entzündet haben. Angesichts eines tropfend nassen Sohnes als unerwartetes Resultat des Spieleentzugs schaut die Mutter sehr entrüstet den Vater an. Die Auswirkungen von Unterhaltungselektronik auf Kinder und Jugendliche sind in den letzten Jahren intensiv diskutiert worden. Bei Elternabenden in der Schule wird mittlerweile über Möglichkeiten informiert, bei Kindern eine Computerspielsucht zu vermeiden. International besonders viel Aufmerksamkeit bekam das Buch Last Child in the Woods, dessen Autor Richard Louv für mehr Naturerfahrungen von Kindern plädiert.184 Dem Regisseur Simon Weber war es wichtig, eine mittlere Position bei der Thematisierung des Technikkonsums von Kindern einzunehmen: „Weder möchte ich das Rad der Technik zurückdrehen, noch banalisiere ich die Auswirkungen von digitalen Spiel- und Konsumgeräten.“185 In dem Kurzfilm wird deutlich, dass Finn nach dem Konfiszieren seiner Spielkonsole die Natur nicht ohne Phantasie erkundet. Allerdings ist seine Wahrnehmung dabei deutlich von den Gaming-Erfahrungen geprägt. Für den Betrachter des Kurzfilms Sounds of Nature rufen die Aufnahmen durchaus die Schönheit der Natur ins Bewusstsein. Gerade einfache, aber schöne Effekte wie Sonnenreflexe auf dem Gesicht des Kindes werden fokussiert. Auch die haptischen Erfahrungen werden über Bilder und Ton zu vermitteln versucht. Der Kurzfilm kann so dazu inspirieren, beim nächsten Spaziergang die Natur intensiver wahrzunehmen. Sounds of Nature erfüllt so teilweise die Möglichkeit des Films, als „Discoverer of the Marvels of Everyday Life“ zu fungieren.186 Dies hat Kracauer an dem Medium Film besonders geschätzt.187 Zu begrüßen ist, dass die Schweizer Naturaufnahmen nicht kitschig wirken, was u. a. mit dem speziellen Sounddesign erreicht wird. Allerdings ist das Naturbild idealisiert. Gegen die aggressiven Regungen des Jungen mit dem Schlagen von Stöcken gegen die Baumstämme oder das Bewerfen mit einem Zapfen reagiert die Natur relativ harmlos mit einem Zapfenregen. Tatsächlich sind aber die ökologischen Probleme in der Schweiz aufgrund des Klimawandels sehr viel größer.188 Das besondere Sounddesign wirkt für viele Zuschauer ansprechend und der Film wurde auch mit Preisen ausgezeichnet.189 Für Kinder mag die von Computersounds begleitete

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Louv 2005. Weber 2012a, S. 5. Kracauer 1960, S. xi. – Siehe ebenfalls Forrest 2007, S. 105f. Ebd. Gegen den Klimawandel, der sich u. a. in einer Verschlechterung der natürlichen Schneesicherheit, Gletscherschwund, veränderten Temperaturmittelwerten und häufigeren Extremereignissen äußert bzw. äußern wird, werden in der Schweiz seit mehreren Jahren Maßnahmen ergriffen. In Sounds of Nature wird eine betont schöne Naturkulisse gezeigt; der Kurzfilm wurde bewusst im Herbst 2012 gedreht, „um von einer farblich interessanten und stimmungsvollen Wald- und Wiesenatmosphäre zu profitieren“ und „spektakuläre Bilder“ zu erhalten – Weber 2012a, S. 6. 189 U. a. war Sounds of Nature beim „Children’s Film Festival“ in Seattle 2015 der „Audience Favorite“ und beim „Skepto International Film Festival“ erhielten Videoclip und Musik eine „Special Mention“.

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V. Die Dialektik der Aufklärung als Kinderfilmidee

Naturdarstellung zeitgemäßer erscheinen und die Erwachsenen erinnern sich nostalgisch an ihr eigenes Spielen von Super Mario Bros. Aus der Perspektive der Kritischen Theorie kann der Film gerade wegen des Sounddesigns als Filmexempel dafür herangezogen werden, wie stark die kapitalistische Rationalität selbst die imaginierten Freiräume des kindlichen Spielens in der Natur dominiert. Denn Super Mario Bros. unterstützt als Geschicklichkeitsspiel die Schulung zeitoptimierender Reaktion und sensomotorischen Geschicks.190 Damit intendiert das Spiel eine Leistungskonditionierung, die dem herrschenden Wirtschaftssystem dient. Sie ist von der instrumentellen Ratio bestimmt, die Kracauer sowie später Adorno und Horkheimer kritisiert haben.191 Auf ihre Unzulänglichkeit hat Kracauer auch in „Dimanche“ hingewiesen. Heute ist der Verblendungszusammenhang jedoch noch weiter vorangeschritten. Super Mario Bros. wird nur nostalgisch, aber nicht dialektisch in dem Kurzfilm aufgegriffen. Die tatsächlichen Naturgeräusche werden in Sounds of Nature sehr stark von computergenerierten Geräuschen überlagert bzw. teilweise verstärkt. Sie sind zwar elaborierter, aber die Spielesounds reichen nicht an die Qualität und Vielfalt der Naturnachahmung z. B. in Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 6 heran.192 Die scheinbar phantasievolle Naturwahrnehmung des Protagonisten ist so sehr deutlich durch den kommerzialisierten Gamebereich konditioniert. Meines Erachtens wird an Sounds of Nature nicht eine Regeneration der Wahrnehmung, sondern die einseitige Operationalisierung und Mechanisierung der Ratio deutlich.193 Der Sonntagsausflug in Sounds of Nature unterscheidet sich im Hinblick auf die Aufklärungsthematik somit maßgeblich von dem in „Dimanche“. Auch wenn der Film keine kritische Position zu der Debatte von Unterhaltungselektronik und kindlichem Bewusstsein einnimmt, liegt seine Qualität jedoch darin, dass er diese mit kaum achtminütiger Dauer und dem sehr filmgerechten Alltagssujet des Familienspaziergangs auf exzeptionelle und kreative Weise behandelt.

190 Scholz-Wäckerle 2017, S. 180. 191 Zur Rationalismuskritik von Kracauer, Adorno und Horkheimer siehe oben (S. 210ff.). 192 Zu den tonmalerischen Elementen in der sechsten Sinfonie von Ludwig van Beethoven siehe z. B. Geck 2015, S. 109ff. 193 Zu den Einflüssen von Computerspielen auf die menschliche Wahrnehmung siehe auch Oberlechner 2016, S. 75.

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VI. Sergei Eisensteins mexikanischer ‚Danse macabre‘ in Siegfried Kracauers „Marseiller Entwurf“ zu einer Theorie des Films 1940/1 Das Gesicht gilt dem Film nichts, wenn nicht der Totenkopf dahinter einbezogen ist: »Danse macabre«. Zu welchem Ende? Das wird man sehen.1 – Siegfried Kracauer

Kracauers Beschäftigung mit Film im französischen Exil und auf dem Weg in die USA Nach seiner Flucht unmittelbar nach dem Reichstagsbrand Ende Februar 1933 nach Paris konnte Kracauer als politisch links stehender Jude nur noch bis Mai 1933 in der Frankfurter Zeitung Artikel publizieren.2 Im französischen Exil stellte er zunächst seinen zweiten Roman Georg fertig und versuchte darüber hinaus, sich andere Beschäftigungsmöglichkeiten zu erschließen – u. a. auch als Filmautor (siehe Kapitel V).3 Bei in Frankreich herausgegebenen Zeitungen oder Zeitschriften konnte er sich nicht langfristig als Beiträger etablieren, daher pausierte seine Filmberichterstattung für mehrere Jahre. Währenddessen verfasste Kracauer u. a. ein Buch über Offenbach und die Gesellschaft seiner Zeit sowie eine Forschungsarbeit zur totalitären Propaganda für das Institut für Sozialforschung.4 Erst ab dem 22.11.1936 veröffentlichte Kracauer wieder Filmartikel, zunächst für die Neue Zürcher Zeitung und ab August 1938 auch für die Basler National-Zeitung.5

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SKW 3, S. 531 (Kursivsetzung im Original). – Dieses Kapitel basiert auf einem 2015 erschienenen Aufsatz (Rühse 2015), der erweitert sowie stellenweise geändert und aktualisiert wurde. Ihm ging ein Vortrag am 28. April 2012 bei der 18. Jahrestagung der Europäischen Totentanz-Vereinigung in der Kunstuniversität Graz voraus. Die verklausulierte Kündigung erreichte Kracauer am 5. April 1933, am 25. August 1933 wurde ihm die offizielle Kündigung übermittelt (Belke/Renz 1988, S. 76f.). Siehe auch Mülder-Bach 2004, S. 577. Kracauers Roman Georg konnte vollständig erst postum im Zusammenhang der Schriften Kracauers publiziert werden (SKS 7). – Ein weiterer nicht realisierter Plan war die Gründung eines Presseinstitutes (Siegfried Kracauer, Proposition relative á la fondation d’un institut scientifique de la presse, Mai 1933, Nachlass Kracauer / DLA, Microfiche-Nr. 005605). SKW 8; Kracauer (1938) 2013. In der Basler National-Zeitung erschien auch ein Vorabdruck von Kracauers Buch über Offenbach (Belke/ Renz 1988, S. 90). – Einige zeitkritische Artikel Kracauers wurden unter Pseudonym in L’Europe nouvelle aus Rücksicht auf noch in Deutschland lebende Familienmitglieder publiziert (Belke/Renz 1988, S. 77).

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VI. Siegfried Kracauers „Marseiller Entwurf“ zu einer Theorie des Films 1940/1

Wenig später nach der wieder aufgegriffenen Auseinandersetzung mit Film begann Kracauer intensiver den Plan eines Filmbuches und entsprechenden Förder- sowie Publikationsmöglichkeiten zu verfolgen.6 Schon Anfang der 1930er Jahre hat sich der in Frankfurt tätige belgische Sozialpsychologe Hendrik de Man erkundigt, ob Kracauer nicht ein Buch über Filmsoziologie verfasst hätte.7 Jedoch nahmen erst 1937/8 die Planungen für ein Filmbuch konkretere Gestalt an. In den Jahren zuvor hatte Kracauer jedoch schon kürzere grundsätzliche Texte zum Film sowie seit 1927 immer wieder Rezensionen zu anderen Filmpublikationen verfasst (siehe Kapitel II und III).8 Bei Letzteren werden Kracauers Desiderata, aber auch die möglichen Gründe deutlich, warum er sich im Vergleich mit anderen Zeitgenossen wie Béla Bálazs selbst erst noch Zeit mit einer längeren Abhandlung zum Film gelassen hat. 1927 weist er in einer Rezension darauf hin, dass bei einer materialen Ästhetik des Films mit einer Berücksichtigung seiner historisch bedingten Aspekte ein „abschlusshaftes System“ nicht möglich ist.9 Anfang November 1929 statuierte Kracauer in einer Rezension von zwei Filmbüchern: „Die Filmkunst ist noch zu jung, als daß der Versuch zu einer Typologie oder Inventarisierung ihrer Erzeugnisse aussichtsreich wäre. Diese steigen in die Gegenwart und fallen in Vergessenheit; historische Dokumente sind sie einstweilen nicht.“ Das Buch Film-Photos wie noch nie (Bucher/Kindt 1929) bezeichnet er daher auch als „Vorstudie eines zukünftigen Filmmuseums“ [Hvh. im Original] und heißt die Systemlosigkeit der Materialiensammlung gut, „denn wo es gilt aufzubewahren und dem Gedächtnis zu übermitteln, käme die strenge Jury zu früh.“10 Rudolf Arnheims Buch Film als Kunst lobt er sehr für die fruchtbare Herangehensweise, nämlich das systematische Aufweisen der Formgesetzlichkeiten des stummen Films unter Rückgriff auf moderne Experimentalpsychologie und frühere Erkenntnisse unter anderem von Balázs, Wsewolod Illarionowitsch Pudowkin und Léon Moussinac.11 Er verweist jedoch darauf, dass „manche Auskünfte über die Konkretionen“ zu allgemein bleiben und die filmischen Durchschnittsproduktionen noch tiefer gehend soziologisch analysiert werden sollten.12 Bei der langen Studie Wesen und Dramaturgie des Films von Ernst Iros bemängelt Kracauers dessen „Systematisierungssucht“ und dessen idealistische Denkweise, die „den Schein der Allgemeingültigkeit mit dem formalen Charakter seiner Begriffe erkauft.“13 Die verwendeten Kategorien würden den spezifischen Charakteristika des Films nicht gerecht

 6 Ein erster Hinweis auf den Plan eines Filmbuches ist in einem Brief von Kracauer an Karl Mannheim am 2. November 1933 zu finden (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA) – siehe auch Michael 1993, S. 220.  7 Brief von Siegfried Kracauer an Hendrik de Man vom 21. Mai 1932 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA; siehe auch Michael 1993, S. 143).  8 Siehe die Übersicht von Kracauers Rezensionen über filmtheoretische/-historische Publikationen bei Michael 1993, S. 158f.  9 SKW 6:1, S. 370. – Kracauer macht zudem deutlich, dass trotz der neuen Publikationen sowohl eine ästhetische Theorie als auch eine materiale Ästhetik des Films noch aussteht. 10 SKW 6:2, S. 288f. 11 SKW 6:3, S. 17 zu Arnheim 1932. 12 SKW 6:3, S. 139. 13 Ebd., S. 287 zu Iros 1938.

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Kracauers Beschäftigung mit Film im französischen Exil und auf dem Weg in die USA

werden.14 Bei der historisch ausgerichteten Darstellung Histoire de l’art Cinématographique von Carl Vincent lobt er u. a. den Reichtum an „wesentlichen Filmanalysen“, kritisiert jedoch, dass die sozialen Verhältnisse nicht berücksichtigt worden seien, die die geschichtliche Entwicklung des Films beeinflussen.15 Im „Marseiller Entwurf“ ist Kracauer um Begrifflichkeiten bemüht, die für das Medium besonders zutreffen. Er macht jedoch auch zu Anfang deutlich, dass der Film sich noch weiterentwickele und der Stummfilm noch zu aktuell sei, um eine verbindliche Geschichte des Films zu schreiben.16 Um seinen eigenen Überblick zu verbessern und genaue Aussagen treffen zu können, begann Kracauer ab 1938 mit der Zusammenstellung einer umfangreichen Sammlung von Inhaltsskizzen und weiteren Notizen zu Filmen, die er selbst im „Marseiller Entwurf“ und in Briefen als „Kollektion“ bezeichnet.17 Hierfür sah er sich viele Filme noch mal an. Dies wurde dadurch gefördert, dass in Pariser Kinos Ende der 1930er Jahre ältere Filme erneut gezeigt wurden.18 Darüber hinaus besuchte Kracauer häufig den 1935 u. a. von Henri ­Langlois gegründeten „Cercle du cinéma“ und die aus diesem hervorgegangene Cinémathèque ­française in Paris. In dieser wurden z. B. nach den ersten Kriegsmonaten jede Woche ältere Filme erneut aufgeführt. Seine Filmkorrespondententätigkeit für die beiden schweizerischen Zeitungen nutzte Kracauer auch für Artikel zu allgemeineren filmhistorischen Themen. Ebenfalls versuchte er im Herbst 1938 bei der von Maximilian Vox herausgegeben Monatszeitschrift Micromégas einen Vorschlag für eine Ausgabe zum Kino einzureichen. Sie sollte von ihm redaktionell betreut werden, was aber nicht realisiert wurde. Eigentlich hatte er geplant, für diese Ausgabe ebenfalls allgemeinere filmgeschichtliche Beiträge zu verfassen.19 Tatsächlich verfolgte Kracauer ab der Hälfte der 1930er Jahre zwei Filmbuchprojekte konkreter, die verschiedene Themenschwerpunkte aufwiesen, nämlich ein soziologisch ausgerichtetes über den deutschen Film und ein weiteres über Film allgemein mit einem ästhetischen Fokus. Bei dem ersten Vorhaben handelt es sich um ein Buchprojekt, für das sich eine Stelle als „special research assistant“ an der Film Library des Museum of Modern Art in New 14 15 16 17

Ebd. SKW 6:3, S. 311 zu Vincent 1939. SKW 6:3, S. 523 und 525. Zu Beginn des „Marseiller Entwurfs“ macht Kracauer darauf aufmerksam, dass das Memorieren eines Films für die Analyse generell schwierig ist, was angesichts der damaligen Filmsichtungsmöglichkeiten nachvollziehbar ist (SKW 3, S. 523). Die Arbeit an seiner „Kollektion“ setzte Kracauer im amerikanischen Exil fort. Er versuchte diese u. a. auch für eine Beratertätigkeit für Filmproduzenten in den USA zu nutzen. Diese wollte er z. B. bei der Findung von Motiven, Szenen und Gags für Filmideen unterstützen, was aber nicht realisiert wurde – Siegfried Kracauer, Exposé. Vorschläge, in Filmen wirklich Neues zu schaffen. Motive, Gags, Ideen. 4 Bl., davon 2 Bl. Durchschl. 72.3585 / Kasten 744 (ca. 1941, Nachlass Siegfried Kracauer/DLA). 18 SKW 6:3, S. 251. 19 Für einen anderen Artikel hatte er Henri Langlois vorgesehen. – Siegfried Kracauer, Plan pour un numéro CINEMA de “Micromé gas” [sic], ca. 1938/1939, MPF A: Kracauer – S. Kracauer – Prosa – Versch. Konvolute – Teil 1 – Fiche-Nr. 005575 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA). Das Typoskript trägt kein Datum, jedoch ist der handschriftliche Entwurf auf den 13. September 1938 datiert. Klaus Michael identifiziert das Konzept irrtümlicherweise als ein neues Filmbuchprojekt von Kracauer, ihm stand aber anscheinend nicht das leichter zu entziffernde Typoskript im Nachlass zur Verfügung – vgl. Michael 1993, S. 221f.

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VI. Siegfried Kracauers „Marseiller Entwurf“ zu einer Theorie des Films 1940/1

York ergab und Kracauer die Emigration in die Vereinigten Staaten ermöglichte.20 Den ersten Hinweis auf diese Option in New York erhielt Kracauer von Max Horkheimer in Mai 1937 und im Juli 1938 konnte Kracauer John E. Abbot, den Direktor der Film Library, persönlich in Paris treffen.21 Es dauerte allerdings bis Juni 1939, bis in New York die Finanzierung der Publikation sichergestellt werden konnte.

Buchprojekt zur „Kulturgeschichte des internationalen Films“ Währenddessen arbeitete Kracauer schon an einem ursprünglich für den Allert de Lange Verlag vorgesehenen „Standard-Buch für das gebildete Publikum“ über die „Kulturgeschichte des internationalen Films“, in dem „historische, ästhetische und soziologische Betrachtung stetig ineinandergreifen“ sollten.22 Dieses wurde von Walter Landauer betreut und sollte ursprünglich bis 1. Oktober 1939 fertiggestellt werden. Aufgrund der finanziellen Sorgen und den Emigrationsbemühungen in die USA konnte Kracauer diesen Abgabetermin nicht einhalten.23 Einige Wochen nachdem er die offizielle Einladung an die Film Library des MoMA erhalten hatte, begann zudem der Zweite Weltkrieg. Kracauer wurde für fast zwei Monate interniert, denn auch die Emigranten wurden als feindliche Deutsche angesehen.24 Nach monatelangen Bemühungen um die Ausreiseformalitäten floh das Ehepaar Kracauer angesichts des deutschen Vormarsches am 11. Juni 1940 nach Marseille. Nach vielen weiteren Kalamitäten konnten die Kracauers am 15. April 1941 schließlich auf dem überfüllten Schiff „Nyassa“ von Lissabon in die USA gelangen.25 Trotz der sehr schwierigen Lebenssituation bemühte sich Kracauer, 1940 und 1941 an dem geplanten allgemeinen Filmbuch weiter zu arbeiten, selbst als die Niederlande von den Nazis eingenommen worden waren und eine Publikation im Allert de Lange Verlag sich dadurch erübrigte.26 Kracauer hatte aber wohl die Hoffnung, das Buch mit seiner allgemeinen Thematik noch später veröffentlichen zu können. Auch schien ihm die Arbeit daran einen inneren Halt in der schlimmsten Phase seiner Emigration zu geben.27 Unter anderem erstellte 20 Belke/Renz 1988, S. 94f. 21 Ebd., S. 91–93. 22 Siegfried Kracauer, Brief an Richard Biemel, 19.4.1938 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA); Siegfried Kracauer: Ideenskizze zu meinem Buch über den Film. In: SKW 3, S. 807–809, hier S. 809. 23 Später 2016, S. 388, S. 390. Für die USA waren die Ausreisequoten 1938 vorerst ausgelastet. Darüber hinaus bemühte sich Kracauer im selben Jahr noch vergeblich darum, seiner Mutter und Tante Hedwig und Rosette Kracauer eine Ausreise nach Frankreich zu ermöglichen (Belke/Renz 1988, S. 92f.). 24 Belke/Renz 1988, S. 95. 25 Ebd., S. 94–101. 26 Siegfried Kracauer, Brief an Egidius und Hedy Streiff, 25.1.1940 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA). – Der Allert de Lange Verlag wurde im Juni 1940 aufgelöst. Der Leiter Walter Landauer wurde 1943 verhaftet und starb im KZ Bergen-Belsen am 20. Dezember 1944 an Unterernährung. 27 Walter Benjamin deutete Kracauers Arbeit an dem Filmbuch als Zeugnis des besonderen Überlebenswillens – siehe das Gesprächszitat Benjamins in Soma Morgensterns Brief an Gershom Scholem am 21.12.1972 (auszugsweise abgedruckt in Puttnies/Smith 1991, S. 202f.). Siehe auch Mülder-Bach 2005, S. 848–850.

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Kracauers Beschäftigung mit Film im französischen Exil und auf dem Weg in die USA

er Exzerpte aus philosophischen sowie filmhistorischen und -theoretischen Publikationen.28 Darüber hinaus begann er während der verzweifelten Ausreisebemühungen in Marseille am 16. November 1940 mit einem recht detaillierten Entwurf des Filmbuches, das als Grundlage für die ausführliche Niederschrift dienen sollte.29 In mehreren parallelen Kolumnen notierte er handschriftlich in drei Din-A-5-Heften die Hauptargumentation, Bemerkungen, Beispiele und weitere Ergänzungen.30 Die ersten beiden Hefte sind wahrscheinlich überwiegend in Marseille, das dritte Heft ist auf der Überfahrt nach New York entstanden.31 Nach der Ankunft in den USA brechen die Aufzeichnungen ab, in der Folgezeit fügt Kracauer nur noch einige Marginalien hinzu und nutzt die „Cahiers“ als Materialiensammlung.32 Es handelt sich um ein sehr detailliertes Strukturgerüst, das auf Vorarbeiten beruht, die aber nicht überliefert sind.33 Auf der Flucht aus Marseille konnten Kracauer und seine Frau nur kleines Handgepäck mitnehmen, daher sind die Vorstudien wohl nicht überliefert.34 Kracauer hatte während der Flucht nicht nur wenig eigene Filmliteratur zur Hand, sondern auch keinen Bibliothekszugang. So merkte er zwischendurch an, dass Thesen noch verifiziert und mit Beispielen illustriert werden müssen.35 Dafür suchte Kracauer aber den Austausch mit anderen im Filmbereich tätigen oder filminteressierten Exilanten wie z. B. Eugen Schüfftan, der mit ihm auf der „Nyassa“ nach New York fuhr und ihm einige Informationen mitteilte.36 Kracauers „Marseiller Entwurf“ ist zwar unvollendet, stellt jedoch einerseits ein wichtiges Zeugnis des Exils dar, andererseits ist das Skript mit seiner durchgeplanten Struktur auch in Hinblick auf den Schaffensprozess von Kracauer interessant. Kracauer gibt sich selbst beispielsweise „Regieanweisungen“ und erarbeitet ein sehr plastisches Gedankengerüst.37 In den ersten drei Kapiteln beschäftigt sich Kracauer mit den geschichtlichen Voraussetzungen der Entwicklung des Films, in den zwei Kapiteln darauf mit Filmtechnik und materiellen Phänomenen. In den Kapiteln 6–8 unterscheidet er den Spielfilm von anderen Filmgenres. In dem letzten skizzierten Kapitel geht er auf Entwicklungsphasen des Films ein. Seinen schon erwähnten mehrdimensionalen Ansatz einer Verbindung von Geschichte, Ästhetik und Soziologie bei der Auseinandersetzung mit Film setzt er in dem Entwurf um und distanziert 28 SKW 3, S. 780 (mit Anm. 9). 29 SKW 3, S. 521–804. 30 Kracauer hat jede gegenüberliegende Doppelseite mit einem Spaltenschema versehen, das sich in allen drei Heften durchzieht. Die Kolumnen sind von links nach rechts betitelt worden mit „Wohin?“, „Bemerkungen“, „Beispiele“, „Stichworte“, „Komposition“, „Zu erledigen“. U. a. hat Kracauer auch einige Zeitungsausschnitte eingeklebt. Teilweise verwendete er Kurzschrift. 31 Michael 1993, S. 225. 32 Ebd. 33 So fügt Kracauer am Rand z. B. „[g]estrichene Formulierungen“ an, die offensichtlich aus nicht überlieferten früheren Aufzeichnungen stammen – SKW 3, S. 592. 34 Belke/Renz 1988, S. 127; Später 2016, S. 399. – Nur die oben erwähnten Notizen aus Filmbüchern sind für diese Entwurfsphase zu Kracauers „Marseiller Entwurf“ erhalten. 35 SKW 3, S. 703, S. 721. 36 Ebd., S. 540, S. 542. Mit Schüfftan blieb Kracauer auch nach der Schiffspassage in Kontakt – siehe Asper 2003. 37 SKW 3, S. 639, S. 645.

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sich anfänglich auch dezidiert von einer immanenten Geschichte des Films.38 Ebenfalls setzt er sich von einer ideologischen Vereinnahmung des Mediums wie z. B. durch Béla Balázs ab.39 Im Gegensatz zu diesem sieht er Einfachheit als ästhetisches Charakteristikum nicht als Opposition gegen den feudalen und bürgerlichen Geist, sondern als passend zum Medium an.40 Dass Kracauer die Aufzeichnungen des sog. „Marseiller Entwurfs“ nicht fortsetzte, war u. a. dadurch bedingt, dass er zunächst für das MoMA die in erster Linie soziologisch ausgerichtete Studie über den deutschen Film schrieb, die 1947 unter dem Titel From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film veröffentlicht wurde.41 Auch dauerte es mehr als ein Jahrzehnt, bis er sich in den USA etabliert hatte.42 Anschließend verzögerten immer wieder Auftragsarbeiten die Weiterarbeit an einer allgemeinen Studie über den Film, die Kracauer erst 1960 unter dem Titel Theory of Film. The Redemption of Physical Reality veröffentlichen konnte. Während der über 20 Jahre vom ersten Vorhaben dieses Buches in den 1930er Jahren bis zu seiner Publikation verändern sich die Sprache, die Gliederung, Akzentsetzungen, Begrifflichkeiten sowie partiell auch die historische und philosophische Stoßrichtung aufgrund neuer Erfahrungen und der Ereignisse in den Kriegs- und Nachkriegsjahren.43 Auf den „Marseiller Entwurf“ wurde insbesondere durch Miriam Hansen aufmerksam gemacht, die mit diesem die Verwurzelung von Kracauers Theory of Film in der Zeit vor dem amerikanischen Exil verdeutlichte.44 Seit 2005 ist der Text in der neuen Ausgabe der Werke verfügbar.45 Hansen forderte in ihrer postum 2012 erschienenen Studie Cinema and Experience, den „Marseiller Entwurf“ als eigenes Zeugnis und ihn nicht nur ausgehend von der Theory of Film wahrzunehmen.46 Die Bezugnahmen auf ihn sind bislang jedoch noch kurz und seltener, auch weil die Unvollständigkeit und Vorläufigkeit des Exilzeugnisses die Rezeption erschweren.47 Hansens Augenmerk fiel 1993 auf eine Passage am Ende der Einleitung des „Marseiller Entwurfs“, die auf den Kurzfilm Death Day eingeht und aus der sie ein Zitat ihrem Aufsatz als Motto voranstellt.48 Death Day ist von Sol Lesser aus Aufnahmen 38 39 40 41 42 43 44 45

46 47 48

Ebd., S. 525; vgl. Michael 1993, S. 226. SKW 3, S. 572. Ebd. Kracauer 1947. Belke/Renz 1988, S. 101. Zu Kracauer in den USA siehe auch die grundlegende Studie von Johannes von Moltke – von Moltke 2016. Hansen 1993 sowie Hansen 1997, xvi. Darüber hinaus ging auch Klaus Michael sowohl in seiner Dissertation als auch in einem Aufsatz auf ihn ein – Michael 1992 und ders. 1993. Sabine Biebl bemühte sich sehr um die Publikation des „Marseiller Entwurfs“ in der Ausgabe der Werke Siegfried Kracauers – SKW 3. Der Anmerkungsapparat zu diesem ist sehr detailliert und die Erkenntnisse wurden auch in dem Nachwort aufgegriffen (Mülder-Bach 2005). Dadurch wurde auch meine eigene Auseinandersetzung mit dem „Marseiller Entwurf“ in Zusammenhang mit der Totentanzthematik angeregt. Hansen 2012, S. 255. Agard 2010, S. 287–289; ders. 2000, S. 298 ff. Baumann bezieht sich auf den „Marseiller Entwurf“ im Kontext des Spätwerks von Kracauer, siehe u. a. Baumann 2014, S. 112ff. Hansen 1993.

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des unvollendet gebliebenen Filmprojekts „¡Que viva México!“ von Sergei Michailowitsch Eisenstein geschnitten worden.49 In diesem werden hauptsächlich die eindrücklichen Szenen des mexikanischen „Tages der Toten“ ohne die vielen weiteren Aufnahmen aus Eisensteins umfangreichem Filmvorhaben exponiert. Eisensteins Aufnahmen des Día de Muertos greift Kracauer auf, um sein Grundverständnis des Mediums Film zu veranschaulichen. Damit nimmt Death Day als Exempel eine ähnliche Rolle ein wie Die Straße für Kracauers frühe filmästhetische Anschauungen und fungiert gleichsam als Spiegel für diese (siehe Kapitel II). Den Kurzfilm sollte Kracauer als zentrales Filmbeispiel ebenfalls noch in den ersten Entwürfen seiner bekannten Theory of Film integrieren. Eisensteins sozialutopische Konnotation der Szenen sind für den Filmtheoretiker bei seinen Bezugnahmen auf Death Day jedoch weniger relevant.

Eisenstein in Mexiko 1929 bekamen Eisenstein, sein Assistent Grigori Alexandrow und sein Kameramann Eduard K. Tissé von Josef Stalin die Erlaubnis für einen längeren Aufenthalt im Ausland, um dort ihre Filmkunst zu vermitteln und den Tonfilm zu studieren. Da in Hollywood aus kommerziellen und politischen Gründen eine Zusammenarbeit Eisensteins mit der Produktionsfirma Paramount nicht zustande kam, schlug der Maler Diego Rivera dem Regisseur als Alternative einen Film über Mexiko vor.50 Riveras Heimatland erhielt damals nicht nur aus länderkundlichen und kulturtouristischen Gründen Aufmerksamkeit, sondern zog auch das Interesse linker Intellektueller und Künstler aufgrund der Revolution von 1910 bis circa 1920 und der Absetzung des diktatorischen Präsidenten Porfirio Díaz auf sich. Auch Eisenstein hatte sich mit den Ereignissen in Mexiko zuvor schon auseinandergesetzt und war sehr an einem Filmprojekt über Mexiko interessiert.51 Als Geldgeber für Eisensteins Film konnten der sozialkritische Schriftsteller Upton Sinclair und dessen Frau, die Schriftstellerin Mary Craig Sinclair, gewonnen werden. Upton Sinclair sympathisierte mit dem Sozialismus und schien daher für die Zusammenarbeit mit dem Regisseur des Revolutionsfilms Panzerkreuzer Potemkin besonders geeignet zu sein.52 Eisenstein musste dem Ehepaar Sinclair jedoch versichern, dass der Film über Mexiko unpolitisch und nicht sozialkritisch sein würde. Offiziell sollte der Film nach dem ersten Grobkonzept die Vielfalt der Menschen, der Landschaft und der Sitten in Mexiko thematisieren. Die unterschiedlichen Gegenden Mexikos waren damals durch verschiedene zivilisatorische Entwicklungsstände geprägt; im tropischen Tehuantepec lebten die Menschen beispielsweise fast gänzlich unberührt von der modernen Zivilisation, während in Tula die hochmoderne 49 Death Day, R: Sol Lesser, Sergei M. Eisenstein, USA 1934; „¡Que viva Mexico!“ (unvollendet), R: Sergei M. Eisenstein, USA/Mexico 1930–1932. 50 Bulgakowa 1997, S. 149. – Ernest Lindgren vermutete zuvor, dass Mexiko als Filmthema von dem Filmstudenten Agustín Aragón Leiva vorgeschlagen worden war (s. Lindgren 1951, S. 9). 51 Seton 1978, S. 187; Gillespie 2008, S. 6f. 52 Panzerkreuzer Potemkin (Броненосец Потёмкин), R: Sergei Eisenstein, Russland 1925.

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Tolteca-Zementfabrik situiert war.53 Inspiriert von dem Film Intoleranz von David W. Griffith wollte Eisenstein verschiedene historische Epochen anhand unterschiedlicher Landschaften thematisieren.54 Behandelt werden sollten das Leben der indigenen Völker Mexikos, der Kolonialherren und der Arbeiter auf den Haziendas sowie das Revolutionsgeschehen. Eisensteins detaillierteres Filmkonzept mit insgesamt vier Episoden und einer Rahmenhandlung entstand erst vor Ort in Mexiko, als sich das Filmteam besser mit dem Land vertraut gemacht hatte.55 Aufgrund der von den Produzenten gewünschten unpolitischen Thematik und der mexikanischen Zensur war das offizielle Drehbuch bewusst poetisch und sehr komprimiert gehalten. Denn die mexikanischen Machthaber wünschten eine positive Darstellung ihres Landes, und Eisenstein musste mit ihnen kooperieren, um das Filmprojekt umsetzen zu können.56 Die realisierten Aufnahmen Eisensteins sind trotzdem durchaus sozialkritisch und politisch: Das Leben der relativ von moderner Kultur isoliert dargestellten indigenen Bevölkerung in Mexiko gestaltet der sowjetische Regisseur als paradiesartig. Im Kontrast dazu stellt Eisenstein das Leben der kolonialen Oberschicht als sehr dekadent dar und prangert die Grausamkeit der Grundbesitzer gegenüber den Landarbeitern während des Porfiriats an. Anhand kritischer Darstellungen kirchlicher Zeremonien moniert Eisenstein ebenfalls die christliche Legitimierung der Kolonialherrschaft. So unterstreicht Eisenstein die Bedeutung der seiner Ansicht nach unverzichtbaren Revolution in Mexiko. Eisenstein verband mit dem Projekt „¡Que viva México!“ außerordentliche künstlerische Ambitionen; er suchte lange nach den richtigen Schauplätzen und wiederholte häufig Aufnahmen. Darüber hinaus trugen widrige Umstände wie schlechte Witterung, Krankheiten und Organisationsschwierigkeiten dazu bei, dass die Dreharbeiten statt der ursprünglich geplanten drei- bis viermonatigen Dauer auch nach fast einem Jahr noch nicht abgeschlossen waren.57 Daher brach das Ehepaar Sinclair die unvollendeten Dreharbeiten ab und beauftragte mit der Postproduktion der Aufnahmen Sol Lesser. Dieser war mit Eisensteins innovativer Montagekunst, die konstitutiv für das Filmschaffen des sowjetischen Regisseurs war, allerdings nicht vertraut und berücksichtigte beim Schneiden nur partiell Eisensteins Drehbuch. In dem längeren Film Thunder over Mexico verwendete er beispielsweise nur die Aufnahmen der Episode der kolonialen Repressionen zusammen mit Rahmenszenen und in dem Kurzfilm Death Day vornehmlich die Szenen des Epilogs.58 Trotz des Schnittes aus fremder Hand und

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Salazkina 2009, S. 56–60, S. 163–167. Intolerance, R: David W. Griffith, USA 1916, s. Lindgren 1951, S. 10, S. 12. Seton 1978, S. 194, S. 197. Ebd., S. 212. Lindgren 1951, S. 14–15. Thunder over Mexico, R: Sergei M. Eisenstein, bearb. von Sol Lesser, USA 1933. – Da Sinclair Geld brauchte, um seinen Wahlkampf für die Kandidatur als Gouverneur von Kalifornien 1934 zu finanzieren, ließ er vor Death Day 1933 schon den Kurzfilm Eisenstein in Mexico von Sol Lesser aus Eisensteins Aufnahmen schneiden (USA 1933). Die Originalnegative von Thunder over Mexico und Death Day wurden später durch Feuer in Hollywood vernichtet – siehe Specovius 1963, S. 524. Die Kopie von Death Day in der Cinémathèque française in Paris wurde 1950 von Kenneth Anger weiterbearbeitet (siehe MacDonald 2006, S. 24f.). – Sinclair ließ zudem die Bell & Howell Company sechs Erziehungsfilme über

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der Abwesenheit von Starnamen wurden Lessers Filmversionen wegen der beeindruckenden Aufnahmen gelobt und erhielten viel Publikum. Eisenstein, der nach Moskau zurückreisen musste, litt jedoch sehr unter der Entscheidung des Ehepaars Sinclair und kritisierte immer wieder, dass seine eigentlichen Intentionen in Lessers Produktionen kaum deutlich werden würden.59 Die noch erhaltenen Aufnahmen von „¡Que viva México!“ sowie spätere Texte und Bemerkungen Eisensteins ermöglichen heute immerhin eine recht gute Annäherung an das ursprünglich geplante Konzept. Trotz der Vorgaben seitens der Produzenten und der mexikanischen Regierung wird an den erhaltenen Materialien Eisensteins politische Kritik erkennbar, die sich auch auf das zeitgenössische Mexiko bezog. An den für den Filmschluss gedachten Aufnahmen mit dem mexikanischen ‚Danse macabre‘ wird zudem deutlich, dass der sowjetische Regisseur Mexiko als ein besonders ideales Exempel für seine politische und soziale Utopie ansah.

Eisensteins Darstellung von Mexiko als politische und soziale Utopie Eisenstein bezieht sich auch in seiner Autobiographie auf das Projekt „¡Que viva México!“. In dieser stellt er heraus, dass die Freiheit des Menschen nur durch soziale Taten und revolutionären Kampf gegen destruktive Kräfte möglich sei. Die zerstörerischen Kräfte werden von dem sowjetischen Regisseur mit dem Tod assoziiert, die positiven sozialen Taten dagegen ermöglichen ihm zufolge einen Sieg über den Tod. Eine solche Unsterblichkeit ist nach Eisenstein natürlich nicht Christus geschuldet, sondern allein dem Menschen.60 Seine säkulare Soteriologie hat Eisenstein in den Aufnahmen über den Día de Muertos besonders eindrücklich zum Ausdruck gebracht. Die symbolische Darstellung der sozialen Überwindung des Todes am Ende von „¡Que viva México!“ sollte dabei die Prologszenen einer traditionellen mexikanischen Beerdigung als Ausdruck der Unterwerfung unter den biologischen Tod kontrastieren. Die lebensfrohen Feierlichkeiten am mexikanischen Tag der Toten stehen in großem Kontrast zu dem traditionell stillen Totengedenken Anfang November in den Kirchen und auf Friedhöfen in Europa. Die mexikanischen Riten sind durch den alten Volksglauben geprägt, nach dem die Seelen der Verstorbenen an diesen Tagen zu ihren Familien zurück­

Mexiko schneiden, von denen fünf auch als Feature mit dem Titel Mexican Symphony (USA 1941) gezeigt wurden. Aufgrund ihrer künstlerischen und symbolischen Gestaltung eigneten sich die mexikanischen Aufnahmen Eisensteins für solche didaktischen Filme aber eigentlich nicht. Erst mehrere Jahre später entstanden Rekonstruktionen, bei denen man sich genauer mit Eisensteins ursprünglichen Absichten auseinandersetzte. Beispielsweise produzierte Marie Seton Time in the Sun (USA 1940) und Paul Leyda gab Eisenstein’s Mexican Film. Episodes for Study (USA 1958) heraus. Von Eisensteins ehemaligem Assistenten Grigori Alexandrow, der in Mexiko eng an der Regie und am Drehbuch beteiligt war, wurde die Version Que viva México – es lebe Mexico! (Russland 1979) erarbeitet. Alexandrows Filmversion wird heute häufig bei Bezugnahmen auf Eisensteins mexikanisches Filmprojekt präferiert. Aus politischen Gründen wurden darin jedoch zum Beispiel Aufnahmen einer modernen Fabrik fortgelassen (Salazkina 2009, S. 163). 59 Zur Kritik Eisensteins an Sinclair siehe z. B. Eisenstein (o. J.) 1978, S. 511f. 60 Siehe Eisenstein 1984, Bd. 2, S. 797–803.

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65  José Guadalupe Posada, Remate de calaveras alegres y sandungueras […], Detail mit Calavera de la Catrina, ca. 1910.

kehren.61 Aufgrund der traditionellen Aufhebung der Zensur am mexikanischen Tag der Toten wird zudem viel gesellschaftliche Kritik in satirischer Form geäußert. Besonders bekannt sind die sarkastischen makabren Darstellungen von José Guadalupe Posada aus der Zeit der 1910 beginnenden mexikanischen Revolution (Abb. 65). Posada prangert die Verfehlungen der kolonialen Oberschicht in Verbindung mit europäischer Memento-mori-Ikonographie an.62 Da diese gesellschaftskritischen Darstellungen für die Revolutionspropaganda nicht unerheblich waren, konnte Posada posthum von den mexikanischen Muralisten zu ihrem Vorgänger und zum Revolutionskünstler stilisiert werden.63 Eisenstein bewunderte Posadas makabre Satire sehr,64 konnte er darin doch seine Vorstellung des siegreichen revolutionären Prinzips des Lebens par excellence gespiegelt sehen. Unter Berücksichtigung der mexikanischen Kultur und Ästhetik stilisierte der Regisseur die rasanten Szenen der Fiesta am Día de Muertos zu einem Denkmal des seiner Meinung nach 61 Siehe Brandes 2007, S. 23; Westheim 1987; Paz 1990, S. 59–69. – Von der UNESCO wurde der Día de Muertos auf Grund seiner Bedeutung für die indigenen Gemeinschaften Mexikos in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. 62 Einen ersten Überblick über das Œuvre Posadas bieten Jähn 1997 und Cortez 2002. 63 Salazkina 2009, S. 141; Brenner 2002, S. 185–198. 64 Salazkina 2009, S. 23, S. 141–143.

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Eisenstein in Mexiko

weiterhin wachsenden und alle Hindernisse überwindenden revolutionären Mexikos. Den mexikanischen Sieg über den Tod betonte Eisenstein zum Beispiel anhand von Tanzszenen junger Männer mit Totenmasken. Die sehr sinnlich wirkenden Tänzer engagierte Eisenstein aus den damals berüchtigten mexikanischen Cabarets. Ihre vitalen und erotischen Tanzbewegungen vermitteln Lebendigkeit, die in betontem Kontrast zu den starren Totenmasken steht. Formal sind die Darstellungen Eisensteins inspiriert von den wilden Tänzen in spätmittelalterlichen Totentanz-Darstellungen.65 In dem Danse macabre des ausgehenden Mittelalters fungiert der Tanz als Symbol der lasterhaften Weltverfallenheit.66 Eisensteins Tanzaufnahmen am Día de Muertos fungieren jedoch als positiver Ausdruck der Lebensfreude und der befreienden Kraft der Mexikaner gegen die Macht des Todes.67 Vorbereitet wurde dies schon zuvor in der Filmhandlung mit Darstellungen der Hochzeitstänze der mexikanischen indigenen Bevölkerung, deren Sinnlichkeit von Eisenstein als positiv gegen die dekadente koloniale Oberschicht abgesetzt wurde. Eisenstein filmte auch Grafiken des Stechers Posada, um sie in die Totentagsszenen einzubringen. Darüber hinaus gestaltete der Regisseur für den Höhepunkt des Epilogs eigene satirische Skelettfiguren in Anlehnung an Posadas „calaveras“ (siehe Abb. 65), mit denen der mexikanische Künstler politische Kritik übte. Eisenstein lieh sich aus der medizinischen Schule in Mexiko-Stadt Skelette aus68 und verkleidete die Gerippe als Vertreter der vorrevolutionären, aber auch der zeitgenössischen mexikanischen Gesellschaft, z. B. als Haziendero, Bankier und General (Abb. 66). Die verkleideten Skelette wurden wie die feiernden Menschen am Día de Muertos ebenfalls mit Totenmasken ausgestattet. Am Ende des Films enthüllen die beweglichen Knochenmänner ihre Totenschädel hinter den Totenmasken. Eisenstein wollte so herausstellen, dass diese exemplarischen Personen als „Leichen einer sozial toten Klasse“69 den Tod versinnbildlichen. Als Kontrast zu den entmaskierten „calaveras“ gestaltete Eisenstein die Maskenabnahme von Arbeitern und Kindern. Sie enthüllen ihre lächelnden und lachenden Gesichter als symbolische Geste für Eisensteins Vorstellung der „Unsterblichkeit durch Kampf für das revolutionäre Ideal der Freiheit“70. Die verkleideten Skelette sind deutlich inspiriert von der besonderen Ironie am mexikanischen Tag der Toten, der „vacilada“. Zudem stellen Eisensteins „calaveras“ eine künstlerisch überaus gelungene Ergänzung seiner makabren Tanzaufnahmen dar. Denn die Auswahl repräsentativer Protagonisten der zeitgenössischen mexikanischen Gesellschaft weist eine formale Analogie zur europäischen Totentanztradition auf, nämlich zu den bewusst ausgewählten Ständevertretern und der Ständesatire in den makabren spätmittelalterlichen Reigendarstellungen. Der spätmittelalterliche Totentanz stand allerdings im Dienst der Ständedidaxe. Gemäß den damaligen 65 Eisenstein (o. J.) 1978, S. 509. 66 Hammerstein 1980, S. 84. 67 Auf die inhaltlichen Unterschiede seiner Epilogaufnahmen zur europäischen Ikonographie des Danse macabre macht Eisenstein in seiner Autobiographie aufmerksam – Eisenstein 1984, Bd. 2, S. 801. 68 Seton 1978, S. 212. 69 Eisenstein (o. J.) 1978, S. 511. 70 Eisenstein 1984, Bd. 2, S. 797.

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66  Standfoto eines Skeletts mit Kleidung (Haziendero) aus „¡Que viva Mexico!“ Unvollendetes Filmprojekt von Sergei M. Eisenstein, USA/Mexico 1930–1932.

kirchlichen und sozialen Reformvorstellungen sollte die gesamte Gesellschaft unter Androhung des Verlustes des ewigen Lebens zur Buße und zu einem besseren Leben aufgerufen werden.71 Im Spätmittelalter war damit gerade kein revolutionärer Umsturz intendiert; im Gegenteil, die sich damals allmählich auflösende Ständegesellschaft sollte gefestigt werden. Bei Eisensteins Skelettdarstellungen dagegen fehlt die christliche Buß-Symbolik gänzlich; mit ihrer betont negativen Charakterisierung wird ein revolutionärer Umsturz legitimiert. In den übrigen Filmepisoden stellt Eisenstein ebenfalls heraus, dass seiner Meinung nach von der kolonialen Oberschicht keine Besserung der sozialen Verhältnisse zu erwarten gewesen sei und die Revolution somit unumgänglich war. Mit ihrem fröhlichen Triumphduktus über den Tod unterscheiden sich Eisensteins Filmszenen auch von modernen Totentänzen in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die europäischen Darstellungen sind zwar ebenfalls säkular ausgerichtet, sie gemahnen aber meistens melancholisch an den Verlust der alten Gesellschaft oder kritisieren die Grausamkeit des Ersten Weltkriegs.72 71 Rühse 2006, S. 81–88. 72 Siehe z. B. Schulte 2003; Guthmann 2000.

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Eisenstein wollte zunächst offizielle Aufnahmen des mexikanischen Generals Plutarco Elías Calles und des Erzbischofs von Mexiko aus seinen Auftragsarbeiten für die mexikanische Regierung mit den Totentagsszenen in eine sarkastische Parallelmontage bringen. Diese Aufnahmen wurden in den bisherigen Filmrekonstruktionen jedoch nicht eingesetzt73 und trotz gegenteiliger Quellenlage sogar als profaschistisch gedeutet.74 Damit wird unterminiert, dass Eisenstein durchaus auch am zeitgenössischen Mexiko faschistische und diktatorische Tendenzen herausstellte, die auf die damalige internationale Politik, insbesondere die in mehreren Ländern zunehmenden faschistischen Bewegungen verweisen sollten.75 Mit seinem ungewöhnlichen ‚Danse macabre‘ wollte Eisenstein wohl gerade angesichts der kritischen weltpolitischen Lage zur weiteren Unterstützung des Sozialismus anhand des nachrevolutionären „neu wachsenden Mexikos“76 aufrufen. Insbesondere für Rezipienten außerhalb Mexikos sind Eisensteins Szenen zum Día de Muertos besonders eindrücklich, da der Tod in der westlichen Kultur seit der Neuzeit tabuisiert wird.77 Dabei ist auffällig, dass sich die Lebensfreude und Sinnlichkeit in Eisensteins Aufnahmen deutlich von dem Puritanismus der stalinistischen Moral unterscheiden.78 Während Eisenstein sich in Mexiko intensiv um eine progressive ästhetische Gestaltung der Filmaufnahmen bemühte, wurde das künstlerische und soziale Leben in der Sowjetunion immer stärker von Staat und Partei kontrolliert. Immer mehr wurde das avantgardistische Experimentieren unterbunden, das nach der Revolution von der offiziellen sowjetischen Kulturpolitik zunächst unterstützt worden war.79 Bertolt Brecht kritisierte die starke emotionale Erschütterung, die Eisenstein den Zuschauer zumutet, da diese ihr analytisches Vermögen vermindere.80 Kulturhistorisch mag Eisensteins Schock-Ästhetik bei dem mexikanischen ‚Danse macabre‘ jedoch die brisante soziale und politische Situation der modernen Gesellschaft indizieren, die u. a. durch einen florierenden Faschismus Anfang der 1930er Jahre gekennzeichnet war. Schon mit der drastischen Buß-Ästhetik der spätmittelalterlichen Totentänze wurde auf eine forcierte Krisensituation im Übergang zur neuzeitlichen Gesellschaft reagiert, die auch bestimmt war durch die auf nominalistischen Erkenntnisproblemen basierende Heilsangst und die Auflösung der damaligen Ständegesellschaft.81

73 Bulgakowa 1997, S. 165. 74 Seton 1978, S. 212 mit Anm. 1. 75 Zu anderen bislang häufig übergangenen Aufnahmen Eisensteins mit Kritik am zeitgenössischen Mexiko siehe Goodwin 2000, S. 552–553; Eisenstein 1984, Bd. 2, S. 801. 76 Eisenstein (o. J.) 1978, S. 87. 77 Ariès 2005. – Simone du Beauvoir beschreibt zum Beispiel in einem Brief an Jean-Paul Sartre am 3. Fe­ bruar 1940 das „komische Totenfest“ in Eisensteins Film als „ganz merkwürdig und lustig“ – de Beauvoir 1997, S. 97. 78 Gillespie 2008, S. 6. 79 Eisenstein wurde über die Situation in der UdSSR über Briefe informiert – siehe Bulgakowa 1997, S. 158. 80 Ebd., S. 176. 81 Rühse 2006, S. 85–86.

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VI. Siegfried Kracauers „Marseiller Entwurf“ zu einer Theorie des Films 1940/1

Kracauer und Eisensteins Szenen des Día de Muertos Mit Eisenstein setzt Kracauer sich seit der Frankfurter Aufführung von Panzerkreuzer Potemkin 1926 auseinander.82 Diesen Film lobte Kracauer in seiner Rezension sehr und stellte ihn als Vorbild dar. Wichtig war ihm dabei vor allem, dass Eisenstein einen revolutionären „Kampf der Unterdrückten gegen die Unterdrücker“ thematisiere anstelle den in Europa und Amerika z. B. vorherrschenden „historischen Ausstattungsstücken, privaten seelischen und mondänen Belanglosigkeiten.“83 Er hob hervor, dass damit „Herr Eisenstein … mit den Mitteln des Films zum ersten Male vielleicht eine Wirklichkeit dargestellt“ habe.84 Wie schon in Kapitel III erläutert, gestand er dem Film Potemkin deshalb auch den Status eines Kunstwerkes zu, da er „die Wahrheit, um die es zu gehen hat“, thematisiere.85 Daher würde es sich seiner Meinung auch nicht um Propaganda oder „Tendenzkunst“ handeln.86 Darüber hinaus macht er noch auf Eisensteins kunstvolle Regie und seine Ausnutzung der Möglichkeiten des Filmmediums aufmerksam.87 In den nächsten Jahren verfolgte Kracauer weiterhin die Arbeiten und Schriften des sowjetischen Regisseurs. Zu dem aus Eisensteins mexikanischen Aufnahmen produzierten Film Death Day machte er sich während der Aufführung im Pariser Avantgardekino „Les Ursulines“ im Januar 1940 ausführliche Notizen und Skizzen für seine oben genannte „Kollektion“.88 Bis 1955 räumte Kracauer dem Kurzfilm Death Day in den überlieferten Entwürfen seines Filmbuches eine besondere Bedeutung ein. Der Filmtitel sollte als Bezeichnung des Schlusskapitels dienen, in dem mit Bezug auf den Kurzfilm nicht nur das Buch zusammengefasst, sondern auch letzte Schlussfolgerungen formuliert werden würden.89 Das abschließende Kapitel wurde im sogenannten „Marseiller Entwurf“ der Filmtheorie jedoch nicht mehr skizziert, da Kracauer die Aufzeichnungen vorher abbricht. Als Vorgriff auf das Schlusskapitel bezieht sich Kracauer allerdings schon am Ende des Einleitungsentwurfes auf Death Day. Hier führt er den französischen Filmtitel Kermesse funèbre unter den „Stichworten“ an und geht in den Notizen zur „Komposition“ auf eine damit in Verbindung stehende Thematik ein. Schon in der Rohskizze ist dieser Abschnitt bewusst „vordeutend“ und „geheimnisvoll“ mit bildlichen Formulierungen in Anlehnung an den Stil von Kracauers „Denkbildern“ aus der Zeit der Weimarer Republik formuliert worden:90

82 Für die Rezension von Eisensteins Film Panzerkreuzer Potemkin siehe Siegfried Kracauer, Die Jupiterlampen brennen weiter. Zur Frankfurter Aufführung des Potemkin-Films, in: SKW 6:1, S. 234–237 (Nr. 159). Außerdem sei auf Miriam Bratu Hansens aufschlussreiche Bemerkungen zu dieser Filmbesprechung hingewiesen – Hansen 2012, S. 38. 83 Kracauer 1974, S. 73. 84 Ebd., S. 75. 85 Ebd., S. 73, S. 74f. 86 Ebd. 87 Ebd., S. 73, zu späteren Bezugnahmen siehe auch Band 1999, S. 76. 88 Von Kracauers Notizen während dieser Kinovorführung des Kurzfilms Lessers unter dem französischen Titel Kermesse funèbre sind die Blätter 1 und 6 als Faksimile abgedruckt in SKW 3, S. 515–516. 89 Hansen 2012, S. 265. 90 Zu Kracauers „Denkbildern“ siehe auch Kap. IV, S. 156 und Kap. V, S. 212f.

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Kracauer und Eisensteins Szenen des Día de Muertos

Der Film verwickelt die ganze materielle Welt mit ins Spiel, er versetzt zum ersten Mal – über Theater und Malerei hinausgreifend – das Seiende in Umtrieb. Er zielt nicht nach oben, zur Intention, sondern drängt nach unten, zum Bodensatz, um auch diesen mitzunehmen. Der Abhub interessiert ihn, das, was da ist – am Menschen selber und außerhalb des Menschen. Das Gesicht gilt dem Film nichts, wenn nicht der Totenkopf dahinter einbezogen ist: „Danse macabre“. Zu welchem Ende? Das wird man sehen.91

Kracauers Hauptansichten zum Filmmedium 1940/41 Kracauer fasst in dieser Passage sehr verdichtet seine Hauptansichten zum Medium Film zusammen, die seinem Buchprojekt zugrunde liegen. Für Kracauer fungiert der Film als ein besonderes Medium, da dieser im Unterschied zu den traditionellen bildenden und darstellenden Künsten wie Malerei und Theater die materielle Welt unvoreingenommen erfassen könne. Denn der Film nimmt nach Kracauer die lebendigen Phänomene gleichberechtigt mit den ‚toten‘ der niedrigen Regionen der Existenz auf. Diese schließen Intentionalität und Interpretation aus, weshalb der Film „nach unten“ dränge. Möglich ist dem Film dies, da er für Kracauer ein fotografisches Medium darstellt, d. h. im Grunde als eine Erweiterung der Fotografie fungiere. Wie das Medium Fotografie habe der Film „eine ausgesprochene Affinität zur sichtbaren Welt“, was Kracauer auch 1960 in seiner Theory of Film herausstellt.92 Schon 1927 hat er in seinem bekannten Essay „Die Photographie“ pointiert formuliert, dass zum ersten Mal in der Geschichte sich durch die Fotografie „die Totenwelt in ihrer Unabhängigkeit vom Menschen“ vergegenwärtige.93 Denn es „ist die Aufgabe der Photographie, das bisher noch ungesichtete Naturfundament aufzuweisen. Zum ersten Mal in der Geschichte treibt sie die ganze naturale Hülle heraus […].“94 Denn die Fotografie könne das Gegebene als ein räumliches oder zeitliches Kontinuum erfassen, während im Vergleich dazu Gedächtnisbilder lückenhaft und auf den Sinn bezogen seien. Dies verdeutlicht Kracauer an der Fotografie einer Großmutter von 1864, an die die Erinnerungen – d. h. das Gedächtnisbild – schon zu unsicher geworden sind.95 Da die Fotografie von Kracauers eigener Großmutter im Nachlass anscheinend nicht überliefert ist, kann als Anschauungsmaterial nur die Aufnahme einer anderen Frau von 1864 herangezogen werden (Abb. 67).96

91 SKW 3, S. 531. – In der mit „ZU ERLEDIGEN“ betitelten Spalte neben dem Eintrag hat Kracauer als Stichwörter für den Charakter der finalen Fassung notiert: „Thesenhaft. geheimnisvoll spannend kurz.“ (Ebd.) 92 SKW 3, S. 17. 93 Siegfried Kracauer: Die Photographie, in: SKW 5:2, S. 83–98, hier S. 96. Der Essay „Die Photographie“ erschien erstmals in der FZ am 28.10.1927 und wurde in den Sammelband Das Ornament der Masse aufgenommen (Kracauer 1963, S. 21–39). 94 SKW 5:2, S. 96. 95 Ebd., S. 83f. 96 Zu den Verlusten u. a. von Familiendokumenten aufgrund der Flucht Kracauers und der Ermordung seiner Mutter und Tante Hedwig und Rosette Kracauer durch die Nazis siehe Belke/Renz 1988, S. 127. Die Beispielfotografie aus dem Jahr 1864 (Abb. 67) stammt allerdings nicht von einem Hoffotografen, auch scheint die Dargestellte eher Ende als Mitte 20 zu sein.

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67  Jean Klauer, Unbekannte Frau, 1864, Offenbach a. M., Fotografie im Visitformat, 6,5 × 9 cm.

Für Kracauer stellt die großmütterliche Kleidung einen „abgeworfenen Rest“ dar.97 Bei der Aufnahme einer zeitgenössischen Filmdiva auf der Titelseite einer illustrierten Zeitung sei der unmittelbare Bezug zum Original noch gegeben. Kracauer identifiziert dabei weder die Diva noch die Illustrierte näher, die auch in der Forschung bislang nicht genau ermittelt werden konnten. Vielleicht bezieht er sich auf Dolores Costello, die am 17. September 1927 24 Jahre alt wurde. Ein zugehöriges Illustriertentitelblatt wurde jedoch noch nicht ermittelt. Ein Film von Constance Talmadge war in Venedig mit Nähe zu dem von Kracauer erwähnten Lido situiert.98 Talmadge war im September 1927 jedoch schon 26 Jahre alt. Es kann sein, dass Kracauer die Diva in seinem Text bewusst mit Merkmalen wie Ponyfrisur und markanten Wimpern ausgestattet hat, die auf viele (Film-)Stars und weibliche Models der Zeit zutrafen.99 97 SKW 5:2, S. 91. U. a. in seinem Spätwerk nimmt Kracauer nochmal Bezug auf die Wahrnehmung der Großmutter und verweist auch auf seinen Fotografie-Aufsatz (SKW 4, S. 94). 98 Venus of Venice, R: Marshall Neilan, USA 1927. 99 Siehe z. B. auch die Umschlagabbildung der Revue des Monats von September 1927, die dortige Dargestellte wird jedoch nicht namentlich genannt. – Zu anderen Bestimmungsversuchen der von Kracauer angeführten Diva siehe auch Pfeifer-Duwe 2009.

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Walter Benjamin nahm u. a. in „Eine kleine Geschichte der Photographie“ 1931 auf Essays von Kracauer direkt wie auf das „Ornament der Masse“, aber auch indirekt auf „Die Photographie“ Bezug. Insbesondere den frühen Fotografien attestiert er viel enthusiastischer eine magische Anziehung aufgrund der Technik, denn damals hätte man etwas „Neue[s] und Sonderbare[s]“ in der Fotografie im Gegensatz zur Malerei sehen wollen.100 Der Betrachter würde automatisch den Zwang fühlen in solchem Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchsengt hat, die unscheinbare Stelle zu finden, in welcher, im Sosein jener längstvergangenen Minute das Künftige noch heute und so beredt nistet, daß wir, rückblickend es entdecken können.101

Statt eines gleichsam messianischen Funkens ist für Kracauer bei den Fotografien „[d]ie gespenstische Realität unerlöst“ und die Fotografie enthüllt die Sterblichkeit: „Wir sind in nichts enthalten und die Photographie sammelt Fragmente um ein nichts.“102 Während die Kunst die Bedeutung des Gegenstandes erfassen könne, würde die Fotografie Ähnlichkeit erzielen und das Aussehen des Gegenstandes darstellen.103 Kracauer macht warnend auf die zeitgenössische Bilderflut aufmerksam und führt als Beispiel u. a. die Vielzahl von illustrierten Magazinen an.104 Von deren Fülle geben beispielsweise die Auslagen der damaligen Zeitungskioske ein anschauliches Beispiel (Abb. 68). Aufgrund ihrer Masse können die Fotografien in der Gegenwart laut Kracauer keine Gedächtnisstützen darstellen. Er verweist darauf, dass „der Ansturm der Bildkollektionen“ so gewaltig sei, „daß er das vielleicht vorhandene Bewußtsein entscheidender Züge zu vernichten droht.“ Grundsätzlich ermögliche jedoch das fotografische Archiv die Auseinandersetzung mit der sonst nicht mehr erkennbaren entfremdeten Realität. Insbesondere die gestalteten Filmwerke haben ebenfalls ein solches Potenzial, d. h., sie können als Spiegel der Erkenntnis fungieren.105 Diese Sicht greift Kracauer im „Marseiller Entwurf“ wieder auf, so würde laut ihm der Film die Elemente der materiellen Welt aufzeichnen und mitnehmen.106 Der Begriff des „Abhubs“ am Ende der Einleitungsnotizen des „Marseiller Entwurfs“ verweist auf den Freud’schen Terminus des „Abhubs der Erscheinungswelt“107. Sigmund Freud verwendete die Bezeichnung für seine Hinwendung zu den zuvor wenig gewürdigten alltäglichen psychologischen Phänomenen wie Fehlleistungen, Träumen und neurotischen Symptomen des Menschen. Schon der Fotografie hat Benjamin 1931 das Potential zugesprochen, dem Menschen erstmals das „Optisch-Unbewußte“ zu vermitteln, und sie in Ana-

100 101 102 103 104 105 106 107

WBS 2:1, S. 370. Ebd., S. 371; siehe auch Hansen 1993, S. 455f. SKS 5:2, S. 91 (Kursivsetzung im Original), S. 92. Ebd., S. 88. Ebd., S. 92 f. Ebd., S. 96 f.; siehe auch Hansen 1997, S. xvi sowie Kapitel V dieser Arbeit. SKW 3, S. 531; Hansen 1993 S. 457. Freud (1915–1917) 1960, S. 20.

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68  Anon., Kiosk für Zeitungen und Ansichtskarten in Berlin (Monumentenstraße 19), ca. 1933, Fotografie, 13,7 × 8,7 cm.

logie zur Aufdeckung des „Triebhaft-Unbewußten“ der Psychoanalyse gesetzt.108 Kracauer erachtete ähnlich wie Theodor Wiesengrund Adorno Freuds „Auskonstruktion kleiner und intentionsloser Elemente“ gerade für die Philosophie als wichtig.109 Ähnlich wie Adorno sieht auch Kracauer in der gegenwärtigen Epoche die Dominanz des wissenschaftlichen Interesses an den Zusammenhängen der kleinsten Elemente und die zunehmende Aufhebung der Empfänglichkeit der Menschen für absolute Ideen.110 Kracauer schätzte das Filmmedium besonders, weil es gerade der Zeit zugehörig ist, „in der die alte ‚long-shot‘ Perspektive, die in irgendeiner Weise das Absolute zu treffen meint, durch die ‚close-up‘ Perspektive ersetzt wird, die das mit dem Vereinzelten, dem Fragment, vielleicht Gemeinte anstrahlt.“111 Kracauer nimmt an anderer Stelle im „Marseiller Entwurf“ direkt Bezug auf Walter Benjamin, unter anderem auf dessen Studie Ursprung des deutschen Trauerspiels.112 Diese 108 109 110 111 112

WBS 2:1, S. 371. Adorno (1931) 1973, S. 336; Wiggershaus 2006, S. 36. AKB, S. 444. Ebd., S. 445. SKW 3, S. 683; siehe auch SKW 5:2, S. 119–124; Hansen 1993, S. 444.

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war 1928 von Kracauer rezensiert worden. Benjamin sah in ihr die Epoche des Barocks geschichtsphilosophisch als bedeutsam für die Entwicklung der Todverfallenheit der Natur an. Nach Benjamin prägt sich die Geschichte mit all ihrer Unzeitigkeit und ihrem Leid – bedingt durch den religiösen Sinnverlust – in einem Totenkopf aus und wird unter dem Blick des Melancholikers zur Allegorie. Nach Kracauer kann im Filmmedium das Seiende besonders gut akzentuiert werden, es kann im Film aufgezeichnet und erforscht werden.113 An die allgemeine Todverfallenheit des Seienden können Eisensteins Aufnahmen zum mexikanischen Día de Muertos mit den Totenmasken tragenden Menschen sowie besonders auch den vielen weiteren makabren Requisiten des Films wie Spielzeugskeletten und Totenköpfen aus Zuckerguss besonders eindrücklich gemahnen. Mit dem langjährigen Freund Benjamin ist Kracauer während der Vorarbeiten des „Marseiller Entwurfs“ im August und September 1940 häufig zusammengekommen.114 Benjamin wählte dieselbe Fluchtroute wie das Ehepaar Kracauer über die Pyrenäen nach Spanien. Nachdem er von den Spanien zurückgeschickt wurde, nahm er sich am 26. September 1940 in Port Bou das Leben. Der Bezug auf Benjamin in dem „Marseiller Entwurf“ findet somit im Gedenken an Benjamin statt. In Eisensteins mexikanischen Aufnahmen zum Día de Muertos ist mit der ausgelassenen Fiesta auch ein Motiv integriert, das nach Kracauer der Charakteristik des Films, „das Seiende in Umtrieb“ zu versetzen, besonders entspricht, da der Mensch bei Volksfesten „in die Tiefen des Körperlichen“ einkehre.115 Am Tanz werde zudem die „FREUDE an der BEWEGUNG um ihrer selbst willen“ deutlich.116 Das für ihn sehr wichtige Bewegungsmotiv plante Kracauer anhand des Motivs „Pferdegalopp“ noch genauer auszuführen, welches er stichwortartig am Ende der Einleitung des „Marseiller Entwurfs“ vermerkt.117 Die Wiedergabe von Bewegung hat Kracauer neben dem Primat des Optischen auch schon in Texten über Film Ende der 1930er Jahre als auszeichnende Charakteristika des Filmmediums herausgestellt.118 Kracauer lässt am Ende seiner Einleitung im „Marseiller Entwurf“ zunächst rhetorisch wirksam in der Schwebe, ob eine Hinwendung zur ‚Schädelstätte‘ des anscheinend in vollkommen sinnlose Trümmer und Bruchstücke zerfallenden Seienden in der Moderne119 mittels des Filmmediums einen höheren Zweck ergeben könne. Signifikanterweise benutzt Kracauer beim Verweis auf Eisensteins Filmaufnahmen am Schluss seiner Einleitung auch nicht mexikanische Begrifflichkeiten wie etwa den Día de Muertos, sondern die französische Bezeichnung „danse macabre“ aus der europäischen Totentanzikonographie. Dieses im Spätmittelalter entstehende Sujet ist – wie oben erläutert – bei seiner Rezeption im Europa des 20. Jahrhunderts vornehmlich mit Melancholie verbunden. Gegenüber dem durch den Sozialismus

113 114 115 116 117 118 119

SKW 3, S. 543, 683. Michael 1993, S. 228. Ebd., S. 539, 605. Ebd., S. 541 (Kursivsetzung im Original). SKW 3, S. 503; zum Pferdegalopp siehe u. a. ebd., S. 535. Michael 1993, S. 191. Die Formulierung benutzt auch der von seinem früheren Mentor und Freund Kracauer sehr geprägte Adorno 1932 – siehe Adorno (1932) 1973, S. 365.

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geprägten utopischen Konzept einer ‚Wende zum neuen Leben‘, das Eisenstein in den Epilogaufnahmen seines mexikanischen Filmprojektes thematisiert, zeigt sich Kracauer also skeptisch. Die Schriften des jungen Marx hatten großen Einfluss auf Kracauer (siehe auch Kapitel III und IV). Anfang der 1930er Jahre distanzierte er sich jedoch sehr dezidiert von der vulgärmarxistischen Weltbetrachtung in der Sowjetunion, da diese „vielleicht für die Verwirklichung des russischen Fünfjahresplanes von Nutzen ist, aber [...] mit Marxismus kaum noch etwas zu tun hat.“120 In Deutschland musste er zudem selbst das Scheitern der Weimarer Republik miterleben. Der „Marseiller Entwurf“ wurde darüber hinaus in einer Zeit begonnen, die die „dunkelste Zeit dunkler acht Jahre“121 während Kracauers Exil als linker jüdischer Intellektueller aufgrund des Nationalsozialismus darstellte. Denn nach dem Einmarsch der Deutschen waren seit den Sommermonaten 1940 deutsche Emigranten auch in der unbesetzten südlichen Zone nicht mehr sicher. Diese konnten laut dem Waffenstillstandsabkommen auf Verlangen an die Deutschen ausgeliefert werden. Deshalb versuchten viele Emigranten von der Hafenstadt Marseille aus nach Übersee zu gelangen, die Hauptfluchtroute verlief über Spanien und Portugal. Die Bemühungen um die nötigen Dokumente – Visa, Transitvisa und Schiffpassagen – waren jedoch schwierig und aufreibend.122 Kracauer verdeutlicht aber in den weiteren Aufzeichnungen im „Marseiller Entwurf“, dass der Film es vermöge, ‚leere Ideologien‘ aufzudecken.123 Die Natur der „fotografischen Momentaufnahmen“ im Film kann allerdings zur Bereicherung der normalen konventionellen bzw. eingeschränkten Wahrnehmungen beitragen, was Kracauer praktisch mit seiner Kurzfilmidee „Dimanche“ demonstrieren wollte (s. Kap. V, S. 207 ff.).124 Daher charakterisiert Kracauer das Filmmedium auch als „Sancho Pansa …, der die Donquichoterien hohler Ideologien und intentionaler Konstruktionen bloßstellt.125 Insbesondere Anfang der 1930er Jahre hatte er sich selbst besonders bemüht, das „Maskenarsenal der politischen Reaktion“126 in seinen Filmanalysen kritisch zu entlarven, ohne damit den Erfolg der nationalsozialistischen Partei in Deutschland mindern zu können. Kracauer betont im „Marseiller Entwurf“ ebenfalls die Verpflichtung zum Weiterleben trotz widriger Umstände.127 Diese Verpflichtung interpretiert Siegfried Kracauer als möglichen Sinn der Tendenz des Films zur Endlosigkeit und führt dabei das Ende von Charlie Chaplins Modern Times (R: Charlie Chaplin, USA 1936) als Beispiel an. Eisensteins mexikanischer ‚Danse macabre‘ weist große Ähnlichkeiten mit den Sensa­tionseffekten, dem absurden Humor und der Jahrmarktstradition des grotesken 120 SKS 5:2, S. 308–311; Stalder 2003, S. 141–152. 121 Siegfried Kracauer, Brief an Max Horkheimer, 11. Juni 1941 (Nachlass Max Horkheimer/Archivzentrum der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main). 122 Ein anschauliches literarisches Zeugnis über die furchtbare Situation der Emigranten in Marseille stellt z. B. Anna Seghers’ (d. i. Netty Reiling) 1941/42 verfasster Roman Transit dar – Seghers (1941/2) 1993. Siehe u. a. auch Fry 2009. 123 SKW 3, S. 621. 124 Ebd., S. 561. 125 Ebd., S. 621 (Kursivsetzung im Original). 126 SKW 6:2, S. 356; Hansen 2012, S. 6. 127 Siehe SKW 3, S. 707 und S. 789 (mit Anm. 205).

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­ enres auf.128 Bei den Grotesken hebt Kracauer insbesondere die Abwendung der Kata­ G strophe im letzten Augenblick als Hoffnungszeichen hervor.129 Dies scheint durch Kracauers eigene Situation geprägt zu sein. Nur wenige Wochen vor Beginn des „Marseiller Entwurfs“ versuchte Kracauer vergeblich über denselben Fluchtweg wie Walter Benjamin nach Spanien zu gelangen. Auch Kracauer sei der „Gedanke an Selbstmord“ in dieser Zeit gekommen, aber er gab die Hoffnung im Gegensatz zu Benjamin nicht auf.130 Tatsächlich glückte ihm noch die Ausreise nach Spanien. Zwar handelte es sich nicht um eine Rettung in letzter Minute, aber um eine nur wenige Wochen bevor Jüdinnen und Juden nicht mehr aus Frankreich ausreisen durften.131 Eisenstein selbst bemerkte mehrmals, dass die Epilogszenen aus „¡Que viva México!“ ausschließlich als Finale der übrigen Episoden die von ihm intendierte symbolische Wirksamkeit entfalten könnten. Besonders kritisierte Eisenstein die Verwendung seiner Aufnahmen zum mexikanischen Tag der Toten in dem von Lesser geschnittenen Kurzfilm Death Day.132 Dass Kracauer jedoch bei den Vorbereitungen seines allgemeinen Buches über den Film bis 1955 ausschließlich auf die Totentanzszenen in dem Kurzfilm Death Day Bezug nahm, kann als signifikant für seine Rezeption von Eisensteins Œuvre angesehen werden.133 Zwar distanzierte Kracauer sich zwar Anfang der 1930er Jahre dezidiert von einem Marxismus stalinistischer Prägung. Die frühen Revolutionsfilme Eisensteins lobte er jedoch weiterhin aufgrund der in diesen besonders ideal erkundeten „Welt der Tatsachen“, welche zugleich auch noch große symbolische Kraft besitze.134 Die späteren Filme und Schriften Eisensteins kritisierte Kracauer jedoch wegen eines zu häufigen Gebrauchs der Montage, eines zu gekünstelten Symbolismus und totalitärer Inhalte.135 Gerade die von Kracauer kritisierten kompositionellen Absichten und oktroyierten Symbolgehalte prägen auch schon Eisensteins mexikanische Filmaufnahmen.136 In dem von Kracauer angeführten Kurzfilm, der von Eisenstein weder 128 Siehe ebd., S. 609–611. 129 Siehe ebd., S. 609. Ebenfalls hebt Kracauer bei Komödien die individuelle Rettung im letzten Augenblick hervor (ebd., S. 707). 130 Siegfried Kracauer, Brief an Max Horkheimer, 11. Juni 1941 (Nachlass Max Horkheimer/Archivzentrum der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main); Siegfried Kracauer, Brief an E. und Friedrich Traugott Gubler, 27. Juli 1947 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA). 131 Ab dem 20. Mai 1941 sollten Jüdinnen und Juden nicht mehr aus Frankreich ausreisen – Rother 2001, S. 111. 132 Eisenstein 1984, Bd. 2, S. 803; Eisenstein (o. J.) 1978, S. 511 (mit Anm. 1). 133 1938 erwähnt Kracauer in einem Artikel auch eine Wiederaufführung von Eisensteins Mexico-Film in Paris, der von dem Herausgeberteam als Thunder over Mexico spezifiziert worden ist – SKW 6:3, S. 225–226 (mit Anm. 18). Die Hinrichtungsszene in Thunder over Mexico führt Kracauer mit Nennung des französischen Titels Tonnerre sur Mexique im „Marseiller Entwurf“ an – SKW 3, S. 607; editorische Erläuterungen fehlen zu diesem Filmbeispiel. Dies ist von den Herausgeberinnen des Bandes im Anmerkungsapparat zu Kracauers Rezeption von Death Day übersehen worden (siehe ebd., S. 783, Anm. 47). Es kann davon ausgegangen werden, dass Kracauer bei der Abfassung seines „Marseiller Entwurfs“ nicht nur Death Day, sondern auch Thunder over Mexico kannte. 134 SKW 6:3, S. 400; SKW 6:1, S. 234–237; SKW 6:2, S. 548; SKW 3, S. 641. 135 SKW 6:3, S. 319–320, Anm. 3; SKW 3, u. a. S. 80, 165, 328–329, 347. 136 Vgl. ebd., S. 322.

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selbst beauftragt noch geschnitten worden ist, werden sie allerdings weniger deutlich. Bei der Bezugnahme auf Eisensteins mexikanischem ‚Danse macabre‘ in Death Day kann dieser gemäß seinen ästhetischen Filmidealen daher ausschließlich auf deren „Grundschicht und die intentionale Dimension“ eingehen, „ohne die eine um der anderen willen preiszugeben“.137 Nur so können Eisensteins Aufnahmen des Día de Muertos als Spiegel von Kracauers filmtheoretischen Grundüberzeugungen fungieren, die sich jedoch maßgeblich von Eisensteins politischen und sozialutopischen Intentionen beim Drehen der Totentagsszenen unterscheiden. Ende der 1940er Jahre ersetzt Kracauer in den vorbereitenden Aufzeichnungen seines geplanten Filmbuches den Hauptbegriff der „materiellen Welt“ mit dem der „physischen Realität“, um noch prägnanter die besondere Eignung des Films bei der Aufzeichnung und Erkundung der „Natur im Rohzustand [...], sowie sie unabhängig von uns existiert“ erfassen zu können.138 In Kracauers im November 1954 erarbeiteter Gliederung zu seinem Filmbuch dient Death Day aber weiterhin als geplanter Schluss.139 Ab der 1955 erstellten detaillierten Inhaltsübersicht entfällt jedoch der Verweis auf diesen Kurzfilm und auch im finalen Schlusskapitel wird er nicht mehr aufgegriffen.140 Die Entscheidung zum Verzicht auf Death Day könnte durch ein Gespräch Kracauers mit dem Filmhistoriker und Eisenstein-Schüler Jay Leyda am 6. Januar 1955 über Einzelheiten zu Eisensteins mexikanischem Filmprojekt gefördert worden sein.141 Auf der Flucht hatte Kracauer 1940/41 kaum Möglichkeiten für Recherchen zu Details.142 Mit Eisensteins Filmen und theoretischen Ansichten setzt sich Kracauer in der 1959 abgeschlossenen Theory of Film intensiver, aber auch viel kritischer als im nicht vollendeten kurzen „Marseiller Entwurf“ auseinander.143 Darüber hinaus unterscheidet sich Kracauers Theory of Film in der Endfassung von Vorgängerversionen wie dem „Marseiller Entwurf“ in vielen Aspekten.144 Dies prägt ebenfalls den Epilog, so dass Eisensteins mexikanischer ‚Danse macabre‘ in dem aus fremder Hand geschnittenen Kurzfilm Death Day Kracauer wohl insgesamt als Exempel nicht mehr passend erscheinen mochte. Bezüglich eines höheren spirituellen Zweckes bleibt Kracauer auch im Epilog seiner Theory of Film weiterhin sehr zurückhaltend. Grundsätzlich würde die physische Realität im Film es in erster Linie ermöglichen, die im Leben vorherrschende Abstraktheit zu verringern. Kracauer macht aber darauf

137 Ebd., S. 717. 138 Ebd., S. 52. Den Begriff der „physical reality“ übernahm Kracauer wahrscheinlich von Erwin Panofsky – siehe Panofsky (1947) 1995, S. 122. Hierauf hat Volker Breidecker zum ersten Mal aufmerksam gemacht (Breidecker 1996, S. 168). 139 Siehe das Faksimile des Gliederungsblattes vom November 1954, abgedruckt in SKW 3, S. 520; siehe zudem Mülder-Bach 2005, S. 861–862. 140 Hansen 2012, S. 265–266; Mülder-Bach 2005, S. 862. 141 Siehe die späteren Anmerkungen von Kracauer auf seinem Gliederungsentwurf von 1954. Als Faksimile abgedruckt in SKW 3, S. 520. Jay Leyda erstellte u. a. eine Studienversion aus Eisensteins mexikanischen Filmaufnahmen am MoMA (s. o.). 142 Michael 1993, S. 227. 143 Hansen 2012, S. 268. 144 Ebd., S. 253–279; Mülder-Bach 2005, S. 853–867.

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Der Día de Muertos im zeitgenössischen Film

aufmerksam, dass eine vergleichende Darstellung dieser alltäglichen physischen Realität an ganz unterschiedlichen Orten auf der Welt die ‚Völkerfreundschaft‘ unterstützen könne.145 Wie schon in seinem „Marseiller Entwurf“ formuliert Kracauer jedoch in der Theory of Film in erster Linie eine Medientheorie und keine Sozialutopie wie Eisenstein in seinem Filmprojekt „¡Que viva México!“. Bezeichnenderweise hob Kracauer, der den doktrinären Marxismus der „offiziellen Sowjetphilosophen“ und das „terroristische totalitäre Regime“ in der Sowjetunion kritisierte,146 schon in seinem „Marseiller Entwurf“ nicht wie Eisenstein einen politischen Umsturz, sondern den „Einbruch des Materiellen“ als „[r]evolutionäres Faktum“ hervor.147 Nach Siegfried Kracauer sollten damit ebenfalls versteinerte Verhältnisse, die unter dem Emblem des Totenkopfes stehen, zum Tanzen gebracht und ihre Errettung so gefördert werden.

Der Día de Muertos im zeitgenössischen Film Der Día de Muertos wird weiterhin in Mexiko gefeiert und zudem auch stärker in anderen Ländern in den letzten Jahrzehnten begangen, da mexikanische und lateinamerikanische AuswanderInnen die Tradition in der Diaspora verbreitet haben.148 Zum Beispiel wurde der Día de Muertos in den 1960er und 1970er Jahren durch die Chicano-Bürgerechtsbewegung in den USA bekannt gemacht, die damit ihre eigenständige mexikanisch-amerikanische Identität verdeutlichte.149 In den letzten Jahren ist eine Vermengung mit Halloween-Traditionen sowohl in den USA als auch in Mexiko zu bemerken, allerdings kam es durch diese bislang nicht zu der anfangs befürchteten Verdrängung des Día de Muertos. Gerade Filme trugen in den letzten Jahren zu seiner noch größeren Popularität bei. In dem James Bond-Film Spectre, der 2015 in die Kinos kam,150 ist zu Beginn eine sehr große Parade am „Tag der Toten“ mit 1.500 Statisten in Mexiko-Stadt zu sehen. Sie bildet eine besonders spannungsgeladene Ouvertüre mit einem sowohl gruseligen als auch exotischen Charakter für den ebenfalls an anderen spektakulären Schauplätzen situierten Agenten­ thriller. Die Filmschauplätze stellen touristisches Kapital dar, weshalb Mexiko-Stadt den Film mit 14 Mio. USD förderte und dafür auch Bedingungen für eine positive Darstellung stellen konnte.151 Denn der Tourismus hat in den letzten Jahrzehnten für Mexikos Wirtschaft sehr an Bedeutung gewonnen; viele private Reisende kommen insbesondere Ende Oktober für den Día de Muertos nach Mexiko.152

145 146 147 148 149 150 151 152

SKW 3, S. 475–476; siehe auch von Moltke 2016, S. 170–173. Siegfried Kracauer, Brief an Ernst Bloch, 17.05.1926. In: Bloch 1985, S. 273; siehe zudem SKW 3, S. 347. Ebd., S. 589. Medina 2016, S. 378. Vidaurri 2017. Spectre, R: Sam Mendes, Großbritannien 2015. Chevrier/Huvert 2018. Brandes 2007, S. 10.

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69  Día de Muertos-Parade, 29.10.2016, Mexico City, Fotografie von Joe Giampaoli.

Eine Día de Muertos-Parade gab es bis dahin jedoch noch nicht in Mexiko-Stadt; sie wurde erst von den Filmemachern erfunden.153 Als touristische Attraktion realisierte man sie im nächsten Jahr mit einigen Filmrequisiten, um die vom Film zusätzlich angezogenen Besucher der Stadt nicht zu enttäuschen (Abb. 69, Taf. XVI).154 Für die überbevölkerte Stadt stellt die Parade ebenfalls eine gute Unterhaltungsmöglichkeit dar.155 Allerdings verlagert sich durch den Festzug der Fokus der Feierlichkeiten vom privaten und familiären hin zu einem öffentlichen und performativen Charakter. Eisenstein filmte zwar die Kirmesaktivitäten am Tag der Toten mit ihrem speziellen symbolischen Charakter, die von Kracauer besondere Aufmerksamkeit erhielten. In dem Film Death Day wurde jedoch ebenfalls betont, dass das Herz der indigenen Bevölkerung in der Kirche bzw. auf den Friedhöfen sei.156

153 Seit 2000 gab es im Staat Oaxaca schon einige Prozessionen und Paraden – Agren 2016; siehe auch Modenessi 2019, S. 38. 154 Auch 2018 und 2019 wurden Paraden anlässlich des Día de Muertos organisiert, 2019 sogar zwei – Red. Mexico Daily News 2019. 155 Modenessi 2019, S. 38. 156 Siehe den Zwischentitel: „But the heart of the Indian on Death Day is at the Church or in the churchyard.” – Death Day, R: Sergei Eisenstein, bearbeitet von Sol Lesser, USA 1934, 12:20 von 15:17 min.

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Der Día de Muertos im zeitgenössischen Film

70  Werbeaufsteller zu Coco (R: Lee U ­ nkrich, Adrian Molina, USA 2017), fotografiert von Limwongse Sarunyu in Bangkok.

„Totentanz der guten Laune“ in Disney-Pixars Coco (2017) Neben Spectre wurde der Día de Muertos in den letzten Jahren insbesondere in Animationsfilmen thematisiert. Dabei war er noch wichtiger für die Haupthandlung als in Spectre. Zum Beispiel The Book of Life (R: Jorge R. Gutierrez, USA 2014) muss am „Tag der Toten“ ein Stierkämpfer im Reich der Toten Abenteuer bestehen, um wieder zu den Lebenden zurückkehren zu können. Bei einem Budget von 50 Mio. USD spielte The Book of Life 99,8 Mio. USD ein und erhielt viele Preisnominierungen u. a. die für den „Golden Globe Award for Best Animated Feature Film“. Bei den 42. „Annual Annie Awards” wurde ihm der Preis für „Character Design in an Animated Feature Production“ verliehen. Noch erfolgreicher war der bei Disney-Pixar produzierte Animationsfilm Coco aus dem Jahr 2017 (Abb. 70, Taf. XVII).157 Er handelt von dem zwölfjährigen Miguel, der sich im Familienunternehmen als Schuhmacher verdingen soll. Er möchte jedoch Musiker werden, allerdings stellt Musik in seiner Familie 157 Coco, R: Lee Unkrich, Adrian Molina, USA 2017. Weitere Animationsfilme, die am Tag der Toten spielen, sind z. B.: La Leyenda de la Nahuala, R: Ricardo Arnaiz, Mexiko 2007; Día de Muertos, R: Carlos ­Gutiérrez, Mexiko 2019.

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ein Tabuthema dar. Bei seinem Versuch am Día de Muertos, sich eine Gitarre für einen Wettbewerb auszuleihen, gelangt der Junge in die Stadt der Toten. Um aus dieser wieder zurückzukehren, muss er dort seinen Urgroßvater finden. Coco wurde u. a. mit zwei Oscars sowie einem Golden Globe 2018 ausgezeichnet. Bei einem Budget von 175 Mio. USD spielte der Film 807 Mio. USD ein.158 Als rein digital erstellter Animationsfilm unterscheidet er sich jedoch ästhetisch sehr von Eisensteins realistischen Aufnahmen, die Kracauers Filmideal eher entsprechen. Kracauer gesteht Animationsfilmen trotzdem eine Berechtigung zu und äußert sich grundlegender zu diesen u. a. im „Marseiller Entwurf“ sowie in seinem ersten Aufsatz in den USA zu Disneys Dumbo.159 Aus seiner Sicht sollen Animationsfilme jedoch nicht den Gesetzen der Kamerarealität folgen, sondern ihren eigenen medialen Eigenschaften gerecht werden und ihren eigenen Richtlinien in ähnlicher Weise wie z. B. Slapstickkomödien nachkommen. Als Beispiel führt Kracauer die Xylophon-Szene in der ersten „Silly Symphony“ The Skeleton Dance von Disney an, die sich rein aus „den Beziehungen zwischen Formen oder Bewegungen“ ergibt und nicht aus psychologischen Impulsen.160 Er schätzt zudem das unbekümmerte Zerstören vertrauter Zusammenhänge. Sie seien legitim, da sie dezidiert „die Verfügungsgewalt des Künstlers über sein Material“ demonstrieren.161 Er erachtet demgegenüber in den Langfilmen Disneys als „[p]roblematisch das Bestreben …, seine imaginierte Welt der realen immer mehr anzugleichen und die Kamera die imaginierte materielle Dimension genauso durchschweifen zu lassen wie die reale.“162 Coco als Langfilm zeichnet sich durch eine wohlüberlegt aufgebaute Handlung mit einem Spannungsbogen aus.163 Insbesondere die Welt der Lebenden in dem fiktiven Dorf Santa Cecilia ist sehr realistisch an Santa Fe de la Laguna angelehnt.164 Durch die avancierte Technik von Pixar wirken gerade einige Nahaufnahmen wie ein Realfilm. Ähnlich wie bei den von Kracauer behandelten Disneyfilmen unterstützt auch bei Coco die Kameraführung den Eindruck eines Realfilms.165 Darüber hinaus legte Disney-Pixar besonderen Wert auf eine realistische Soundscape. Die jenseitige Welt in Coco ist jedoch wesentlich fantasievoller gestaltet. Einige Gags aus The Skeleton Dance wie sich einzeln bewegende Skelettknochen und abnehmbare Schädel sind mit Variationen auch in Coco zu finden.166 Sie entsprechen 158 Der Erfolg in Mexiko – 43,1 Mio. USD für Karteneinnahmen in den ersten 19 Tagen Spielzeit – wurde auch gefördert von der positiven Geschichte, die nach einem Erdbeben 2017 besonders willkommen war – rad [Kürzel] 2017. In den USA war der Film ebenfalls sehr bei den Hispanics beliebt, die derzeit die größte Minderheitengruppe in den USA darstellten. 159 Dumbo, R: Ben Sharpsteen, USA 1941. – Kracauer ging in der Theory of Film auf die Animationsfilmthematik ebenfalls ein (SKW 3, S. 156). 160 The Skeleton Dance, R: Walt Disney, USA 1929; SKW 6.3, S. 334, S. 333. 161 Ebd., S. 334. 162 SKW 3, S. 647; Kursivsetzung im Original. Siehe auch Leslie 2002, S. 200–207. 163 Molina/Aldrich 2017. 164 Es gibt sehr viele Anlehnungen an reale Bauwerke und Orte in Coco. 165 SKW 3, S. 156. 166 In The Skeleton Dance sind z. B. sich einzeln bewegende Fußknochen (bei 5:21/5:31 Min.) und in Coco sich einzeln bewegende Handknochen (bei 31:42/100:00 Min.) zu sehen.

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Kracauers Animationsfilmideal. Durch die humorvollen Elemente und die betont freundliche Gestaltung der Skelette, denen Augen und Kleidung beigegeben worden sind, wird das Todessujet kindgemäß aufgegriffen und regt auf nicht verstörende Weise zu einer Auseinandersetzung mit dem Tabuthema Tod an.167 Neben den Gags mit den Skeletten wird ebenfalls eine sehr humorvolle Persiflage auf Frida Kahlos Malerei integriert. Dadurch zeichnet sich Coco stellenweise durch den von Kracauer ebenfalls präferierten Slapstickcharakter aus, in dem „das Zufällige über das Planmäßige siegt und unerwartete Zwischenfälle fast die Regel sind.“168 Von Oliver Kaever wurde das Totenreich in Coco passenderweise auch als „Totentanz der guten Laune“ charakterisiert und von Filmkritikern wie Andreas Platthaus besonders gewürdigt.169 Im Gegensatz zu Death Day eignet sich Coco nicht als Exempel für Kracauers Grundverständnis des Mediums Films, dafür ist er jedoch ideal für eine Aktualisierung von Kracauers sozial- und kulturkritischem Analyseansatz. Eine Entmythologisierung des Films von Disney-Pixar mit diesem ist durchaus möglich, so statuierte ein Regisseur dieser Animationsstudios: „We make high-tech mythology, but it’s still mythology.”170 Die realistische Wirkung der Welt der Lebenden profitierte zusätzlich davon, dass Pixar sehr um einen authentischen Charakter bemüht war. Dies war von Andreas Platthaus ebenfalls sehr gelobt worden,171 ohne dabei jedoch auf einen Vorfall in der Anfangsphase der Filmentstehung einzugehen. Der ursprüngliche Titel sollte „Día de los Muertos“ lauten und Disney wollte sich diesen rechtlich schützen lassen. Da der Día de Muertos jedoch zum immateriellen Kulturerbe von Mexiko gehört und als solches von der UNESCO bei der Erhaltung unterstützt wird, regte sich Widerstand. Unter anderem äußerte der bekannte Cartoonist Lalo Alcaraz seine Kritik mit einer einem Kinoplakat nachempfundenen Comiczeichnung von einem skelettierten Mickey-Maus-Monster. Diese „Muerto Mouse“ bedroht ähnlich wie Godzilla eine Stadt. Überschrieben ist die Darstellung in Rot mit der Warnung: „IT’S COMING TO TRADEMARK YOUR CULTURA!“172 Der mit dem fiktiven Plakat beworbene Film würde am „DÍA DE LOS MUERTOS“ starten.173 Disney-Pixar entschied sich aufgrund der Kritik anschließend für Coco als Titel. Um dem Vorwurf der kulturellen Aneignung und des „whitewashing“ zu entgehen, ließ man sich u. a. von dem zuvor angeführten Cartoonisten Lalo Alcaraz sowie von Marcela Davison Avilés, die lange Präsidentin der Mexican Heritage Corporation war, und dem Schauspieler 167 168 169 170

Platthaus 2017. SKW 3, S. 116. Kaever 2017; Platthaus 2017. Äußerung von Brad Bird in dem Bonusmaterial der Blu-ray-Version (2011) von The Incredibles (R: Brad Bird, USA 2004), siehe auch Uva 2017, S. 135. 171 Andreas Platthaus verwies insbesondere auf den Beitrag von Adrian Molina, dessen Familie aus Mexiko kommt – Platthaus 2017. 172 Alcaraz 2013. – Zu Godzilla siehe Hauser 1998. 173 Für seine Kritik der kulturellen Appropriation verwendet Alcaraz bewusst die amerikanische Bezeichnung „Día de los Muertos“ – d. h. auch diejenige, die geschützt werden sollte – anstatt der mexikanischen „Día de Muertos“.

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Octavio Solis beraten.174 Auch unternahmen Mitarbeiter von Disney-Pixar weitere Reisen nach Mexiko.175 All dies unterstützte einen glaubwürdigen Charakter des Inhalts, was besonders von mexikanischen oder den mexikanischstämmigen RezipientInnen sehr geschätzt wurde und die Zuschauerzahlen in diesen Publikumssegmenten gefördert hat.176 Man würdigte gerade die positive Darstellung von Mexiko, das sonst im internationalen Film häufig auch in Zusammenhang mit dem Drogenhandel/Drogenkrieg und Gewalt thematisiert wird.177 Ein solches Bemühen um Authentizität ist für einen Film aus dem Hause Disney bis dahin ungewöhnlich. Denn gegen Disney sind häufiger Rassismus-Vorwürfe laut geworden, sobald in seinen Produktionen andere Kulturen oder ethnische Minderheiten behandelt wurden.178

Familienideologie Trotz dieser positiven Entwicklung ist auffällig, wie traditionell die Handlung ist, da der Familienzusammenhalt so zentral für diese ist. Gerade die Narrationen von Disney-Pixar-Filmen haben sich einige Jahre lang durch eine Stärkung des Subjekts ausgezeichnet, während in allein von Disney produzierten Filmen der Wert der Familie im Vordergrund stand. In Coco ermöglicht die Familie dem Jungen Miguel am Ende seine individuelle Selbstentfaltung als Musiker zwar zu, jedoch ist er vorher bereit, auf diese für die Familie zu verzichten. Auch wird im Laufe der Handlung die Familie sehr häufig thematisiert.179 Mit Aussagen der Großmutter wie „Ah, Migue... You have your family here to guide you...“180 wird die Rolle der Familie herausgestellt. Darüber hinaus wird die Notwendigkeit des Zeigens von Präsenz für die Familie gefordert: „Ay, Dios mío... Being part of this family means being HERE for this family...“181 Zur Veranschaulichung des Familienzusammenhalts werden sowohl die noch lebenden Familien-

174 Kaever 2017; Cavna 2017. 175 Die Mitarbeiter von Disney-Pixar studierten sowohl die Bräuche als auch die Menschen in Mexiko. Die Vorbilder der Filmprotagonisten wurden jedoch nicht von den Filmemachern namentlich genannt, auch erhielten sie keine Entlohnung – Red. Mexico News Daily 2018. 176 Exemplarisch für die positive Rezeption von Coco ist z. B. die Interview-Aussage von Jacobo und Maria Angeles, deren Volkskunst als Inspiration für den Film diente: „Mexico is alive, that Mexico isn’t just sensationalized headlines. That Mexico has a lot of sweetness, and, of course, a lot of love.“ – Betancourt 2018; siehe auch Vidauri 2017. 177 Garcia 2018. Seit den 1990ern hat der Einfluss der mexikanischen Drogenkartelle zugenommen und diese haben insbesondere eine zentrale Rolle für das für die USA bestimmte Kokain inne (Hoffmann 2009). Zu den Filmen, die in den letzten Jahren auf das Drogenkartell in Mexiko Bezug nahmen, gehören z. B.: Sicario, R: Denis Villeneuve, USA 2015; The Counselor, R: Ridley Scott, USA 2013; Traffic, R: Steven Soderbergh, USA 2000. 178 Cußler 2018. 179 In den Dialogen und den Liedern kommen die Wörter „family“ und „familia“ sehr häufig vor, nämlich insgesamt 70 Mal – Molina/Aldrich 2017. 180 Ebd., S. 23. 181 Ebd., S. 16 (Großschreibung im Original). – Der Junge Miguel wendet sich zuerst gegen seine Familie, da er Musiker und nicht Schuhmacher werden möchte. Dies entspricht der Einstellung seines Sänger-Idols de la Cruz, die auch gegen das im Film zum Ausdruck gebrachte Familienideal gerichtet ist: „You and I, we are artists, Miguel! We cannot belong to one family. The world is our family!” (Ebd., S. 89.)

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mitglieder als auch die verstorbenen Verwandten in der Welt der Toten häufig zusammen in Gruppenszenen gezeigt. Zusätzlich ist mehrmals der Altar mit den „ofrenda“ und den Fotos der Verstorbenen zu sehen. Bei dem Día de Muertos wird das familienverbindende Element im Film auch mit Aussagen seitens der Großmutter betont wie: „It’s Día de los Muertos – no one’s going anywhere. Tonight is about family“ und „We made all this food – set out the things they loved in life, mijo. All this work to bring the family together.“182 An dem Día de Muertos ist neben der Familienthematik auch der Gedächtnisdiskurs relevant, der sich in den letzten zwei Jahrzehnten gleichsam als „Pathosformel“ etabliert hat.183 Man kann von einem „memory boom“ ab Ende des 20. Jahrhunderts sprechen und laut Andreas Huyssen ist „the emergence of memory as a key concern in Western societies“ als „one of the most surprising cultural and political phenomena of recent years.“184 Aufgrund der Möglichkeit der Thematisierung von diesem hat sich der Regisseur Unkrich bewusst für den Día de Muertos als Handlungsfolie entschieden: Most folks outside Mexican culture are not aware that the core of the celebration, its very reason for being, is to actively remember those who came before us. It’s imperative to pass along their stories in order to keep their memories alive. It was this notion that made me realize the potential for telling an emotionally resonant story set against Día de los Muertos.185

Cruz Medina betont, dass das gewürdigte Familienideal am Día de Muertos ein antiimperialistisches und dekoloniales Potential habe.186 Er sieht den Imperialismus durch Konsum und Angst vor dem Nachleben bestimmt. Demgegenüber attestiert er dem Día de Muertos ein überzeitliches erlösendes Potenzial von dieser Mentalität. Medina geht jedoch nicht darauf ein, wie zentral der Familienmythos ebenfalls für die amerikanische Gesellschaft ist und insbesondere in Familienfilmen thematisiert wird.187 Das Sujet wurde somit nicht nur im Hinblick auf das mexikanische, sondern auch auf das amerikanische Publikum gewählt. Das Familienideal stellt dabei nicht nur ein Regulativ zum Leistungsdenken dar, sondern ist wesentlich für die amerikanische Identität.188 Schon im 18. Jahrhundert waren Rasse und Nation mit dem Familienbegriff verbunden. Während und nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) stellte die (Weiße) Familie das Symbol der nationalen Zugehörigkeit dar.189 Durch die Verlagerung an den mexikanischen Schauplatz erhält das traditionelle amerikanische Familienideal in Coco für das amerikanische Publikum einen globalen, interkulturellen Charakter. Von

182 183 184 185 186 187

Ebd., S.15. Radonic/Uhl 2016, S. 7. Huyssen 2000, S. 21. Unkrich 2017. Medina 2016, S. 370. Brown 2010. – Gerade in Disney-Produktionen wird die Familienthematik häufig aufgegriffen (Seeßlen 2009). 188 Uva 2017, S. 141f. 189 Dallmann 2016, S. 119.

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dem Literaturwissenschaftler Alfredo Michele Modenessi wurde Mexiko als „current pet of globalism“ bezeichnet.190 Kracauer hat schon in den 1920ern das bürgerliche Familienideal mit Bezug auf Marx kritisiert (s. Kap. III, S. 97f.).191 Gerade in den letzten Jahrzehnten ist in den USA das klassische Familienmodell seltener anzutreffen. So ist die Zahl von bei einem unverheirateten Elternteil aufwachsenden Kindern seit 1968 von 13 % auf 32 % gestiegen.192 Trotzdem steigt die Tendenz in Amerika, das traditionell Familienideal nostalgisch zu verklären,193 was den Erfolg von Coco wohl begünstigt hat.

Globalismus und Mexicanidad Mit Mexiko als Schauplatz kann Disney-Pixar einen scheinbaren Beitrag zur Diversifikation leisten. Zumal haben die dortigen Día de Muertos-Bräuche einen spektakulären Charakter. Mit der Farbenfreude und der exotischen Wirkung ist Mexiko gerade für Animationsfilme eine inspirierende Kulisse.194 Allerdings ist der Día de Muertos als Hauptthema von Coco und anderen in Mexiko situierten Filmen in den letzten Jahren sehr dominierend in Kinoproduktionen, auch wenn er nur an wenigen Tagen im Jahr gefeiert wird.195 Eisenstein bemühte sich bei seinem Filmprojekt „¡Que viva México!“ um ein noch vielschichtigeres Bild von Mexiko. Ebenfalls ist auffällig, dass das kritische Potential der traditionell am Día de Muertos kursierenden bissigen Satire in dem Film Coco im Vergleich zu Eisensteins Filmprojekt nur sehr reduziert aufgegriffen wird. So enthält Coco für die erwachsenen Zuschauer nur einige kritische Anspielungen auf die soziale Kluft zwischen Arm und Reich, die Celebritykultur sowie sehr dezent auch auf Ausreiseschwierigkeiten. Diese Themen werden signifikanterweise anhand der Welt der Toten mit einem geringeren Realitätsbezug thematisiert.196 Im Zusammenhang mit Armut bzw. sozialer Ungleichheit wird auch nur das Vergessen seitens der Angehören und der ewige Tod behandelt, allerdings nicht der mit Armut in Mexiko zusammengehörende Komplex der Emigration und der Landflucht. Die Welt der Lebenden wird ohne Armutsleid oder Verfall dargestellt. So übt Miguels Familie ein Handwerk aus und gehört nicht zu der reichen Bevölkerung, jedoch leidet sie auch keine Not. In Oaxaca, einem der Orte, der die Disney-Pixar-Mitarbeiter z. B. für den Schuhladen und die Seelenführertiere

190 Modenessi 2019, S. 38f. 191 Siehe auch Rühse 2014. – Eine ältere Übersicht verschiedener theoretischer Auseinandersetzungen mit der Familienthematik bietet Poster 1978. 192 Livingston 2018; Pew Research Center 2015, S. 15 ff. 193 Coontz (1992) 2016. 194 Seinen Ursprung als Ausdruck der Mexicanidad hat der Día de Muertos schon in der postrevolutionären Zeit – siehe u. a. Paz (1950) 1998, S. 23. 195 Garcia 2018. 196 Der kritische Blick auf die Celebritykultur in Coco wurde von Peter Debruge gerade in Hinblick auf Kinder als RezipientInnen gewürdigt (Debruge 2017). Erst nach Start der Filmarbeiten begann die stärkere politische Abschottung der USA von Mexiko unter Donald Trumps Präsidentschaft. Das positive Bild von Mexiko steht zu ihr in Kontrast, auch wenn dies nicht von den Filmemachern intendiert wurde (siehe auch Platthaus 2017).

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in Coco sehr inspiriert hat, ist Armut trotz der bunt gekleideten besser situierten Einheimischen und der Touristen jedoch sehr gegenwärtig.197 So bemerkte ein Reisender: „The shiny veneer of trendy bars and cafes, fancy restaurants, and well-dressed locals and tourists only barely camouflage the poverty of Oaxaca.”198 Im 20. Jahrhundert und Anfang des 21. Jahrhunderts gehörte Oaxaca zu den ärmsten Staaten von Mexiko.199 Cruz Medina geht ebenfalls davon aus, dass die Día de Muertos-Thematik nicht vom Konsum bestimmt sei.200 In der Kulturindustrie wird sie jedoch gerade in dessen Dienst aufgegriffen, beispielsweise für rigoroses Marketing in zeitlicher Nähe bzw. während des Tags der Toten.201 Darüber hinaus werden viele Produkte wie Kostüme, Dekoartikel sowie Kleidung mit Día de Muertos-Motivik vertrieben, die am Tag der Toten verwendet werden oder an diesen erinnern sollen. 2019 wurde sogar eine Día de Muertos-Barbiepuppe von Mattel herausgebracht, die rasch ausverkauft war.202 Neben Frida Kahlo ist der Día de Muertos somit ein sehr prominenter und bedeutender Exportartikel. Aufgrund der besonderen und spektakulären Thematik können den Día de Muertos thematisierende Filme sehr erfolgreich sein. Darüber hinaus regen sie auch den Tourismus nach Mexiko an. Vom Fremdenverkehrsverband und einem Reiseveranstalter in Mexiko wurden in Absprache mit Disney 2018 Reisetouren angeboten.203 Der Tourismus stellt jedoch keine Hilfe für die ärmsten Einwohner in Dörfern fernab von Städten und Resorts dar. Darüber hinaus ist die Tourismusbranche von weiteren Faktoren abhängig. 2019 ging der Tourismus in vielen Gegenden u. a. wegen der hohen Mordrate und Sicherheitswarnungen zurück, 2020 stellte Covid-19 den Tourismus vor weitere große Herausforderungen.204 Eisenstein hatte dagegen bei seinem Aufgreifen der Feierlichkeiten am Día de Muertos geplant, nicht nur das Land authentisch darzustellen, sondern auch Kritik an damaligen diktatorischen Tendenzen zu üben. Von Disney-Pixar wird das mit dem Día de Muertos verbundene satirisch-kritische Potenzial jedoch nicht intensiver genutzt, sondern es werden stattdessen gesellschaftsstabilisierende Mythen manifestiert, die Kracauer seinerzeit in Filmen entschlüsselte und kritisierte.

197 Der Schauplatz von Coco ist fiktiv, verschiedenste Orte in Mexiko waren jedoch für die Gestaltung inspirierend – Stocking 2018. 198 Thomae 2014. 199 Erst in den letzten beiden Jahren ist die Armutsrate in Oaxaca durch Initiativen eines neuen Bürgermeisters zurückgegangen – Red. Dimensions 2019. 200 Medina 2016, S. 370. – Gerade zwischen den ländlichen und den urbanen Gebieten gibt es ein großes soziales Gefälle. 201 Agren 2019. 202 Garcia 2019. 203 Rigg 2018. 204 In Oaxaca hielt die günstige Tourismusentwicklung zunächst jedoch noch an – Anon. 2019.

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VII. Resümee und Ausblick

Was den Film betrifft, so war er mir immer nur ein Hobby, ein Mittel, um gewisse soziologische und philosophische Aussagen zu machen.1 – Siegfried Kracauer

Kracauers Filmschriften aus Deutschland und Frankreich Thema und Methode Im Fokus dieser Arbeit stand die Auseinandersetzung mit den Filmschriften Siegfried Kracauers aus der Zeit vor seinem amerikanischen Exil. In dem einleitenden Kapitel I „[…] Siegfried Kracauer und Film“ wurde ein Überblick über dessen Filmarbeiten und die Forschungsgeschichte gegeben sowie der eigene Ansatz und die Kapitelstruktur wurden erläutert. In Deutschland publizierte Kracauer bis 1933 viele Beiträge im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für die Frankfurter Zeitung. Besondere Aufmerksamkeit wurde zudem auf die während seines Exils in Frankreich entstandenen Arbeiten gelegt, die er als freier Schriftsteller verfasste und die bislang noch weniger von der Forschung berücksichtigt worden sind. Bei der Auswahl der Texte wurde darauf geachtet, dass sie besonders aussagekräftig und repräsentativ für die verschiedenen Werkphasen Kracauers sind. Darüber hinaus sollte die Vielfalt von Kracauers Filmschriften deutlich werden. So wurden neben Besprechungen einzelner Filme auch Essays zu Schwerpunktthemen, ästhetische Abhandlungen, Auseinandersetzungen mit Kinoarchitektur, Filmideen und die Vorstudien zu einer längeren filmtheoretischen Abhandlung berücksichtigt. Die Filmschriften wurden im Zusammenhang mit der allgemeinen Entwicklung von Kracauer analysiert und in einem „close reading“ erhellende Parallelen zu seinen anderen Beiträgen z. B. mit ästhetischer, soziologischer oder philosophischer Ausrichtung herausgearbeitet. Gerade Kracauers Schlüsseltexte aus anderen Werkbereichen haben seine Filmschriften geprägt. Auch konnten Erkenntnisse zu seiner Schreibpraxis gewonnen werden. Deutungsansätze aus Texten seiner journalistischen Tagesarbeit – die im Vergleich zu anderen in dieser Arbeit herangezogenen Zeitungsbeiträgen eine hohe Qualität aufweisen – griff er später für 1

Siegfried Kracauer, Brief an Wolfgang Weyrauch, 4. Juni 1962 (Nachlass Siegfried Kracauer, DLA), siehe auch Belke/Renz 1988, S. 118f.

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VII. Resümee und Ausblick

Essays mit allgemeinerer Thematik auf, die wiederum in seine längeren Studien eingingen. Für die Entstehung seiner Buchprojekte ist besonders die Textarchitektur des „Marseiller Entwurfs“ zu einer Theorie des Films interessant, die von seiner Beschäftigung sowohl mit Baukunst als auch mit Film geprägt ist. Denn der Entwurf stellt ein sehr plastisches Gedankengerüst und Drehbuch dar, in der Kracauer sich selbst „Regieanweisungen“ für die spätere Fassung gibt.2 Ebenfalls wurden Kracauers Filmtexte filmgeschichtlich und kulturhistorisch verortet. Neben der genaueren Analyse bekannter Einflüsse wie z. B. von Joseph Roth wurden auch bislang weniger bekannte Einflüsse und Prägungen aufgezeigt – beispielsweise der Asphaltliteratur oder das Aufgreifen von Kracauers soziologischer Analyse durch andere politisch links stehende Publizisten. Hierfür war die Berücksichtigung bislang wenig bekannter oder heute unbekannter Vergleichstexte förderlich, die aufgrund der in den letzten Jahren durchgeführten Digitalisierungsprojekte von Zeitungen und Magazinen der Zwischenkriegszeit besser verfügbar sind. Neben bereits edierten Texten wurden zudem Archivquellen herangezogen. Mittels kulturhistorisch diachroner Vergleiche wurden Aktualisierungsmöglichkeiten ausgehend von den behandelten Themen vorgestellt. So wurde exemplarisch das Potenzial von Kracauers Schriften für die heutige Kulturanalyse verdeutlicht.3 Für diese breite Kontextualisierung mit einer nicht nur rein filmwissenschaftlichen oder einer werk- bzw. autorzentrierten Interpretation, sondern auch mit einer Verbindung von diesen zusammen mit einer kulturhistorischen Perspektive war ein interdisziplinärer bildwissenschaftlicher Analyseansatz prädestiniert. Dieser ist für die Auseinandersetzung mit den Filmschriften Kracauers und den von ihm thematisierten Filmen besonders gut geeignet. Aufgrund des hohen Anschaulichkeitsgrads der Analysen Kracauers boten sich Verweise auf eine Vielzahl von Bildquellen aus der Zwischenkriegszeit, aber ebenfalls aus anderen Epochen an. Sie stammen sowohl aus der Massenkultur als auch aus der Hochkunst und reichen von Zigarettenbildchen und Postkarten über Magazinillustrationen und Fotografien bis hin zu Gemälden von Karl Hofer und Edward Hopper. Dadurch kann auf die Relevanz von Kracauers Schriften für die Bildwissenschaften aufmerksam gemacht werden, in denen er bislang noch immer eine Randfigur ist.4 Mittels der umfassenden Perspektive und der transdisziplinären Methodik konnten bisherige Deutungen zu Kracauers vor dem amerikanischen Exil verfassten Filmschriften vertieft und neue Erkenntnisse gewonnen werden. Sie werden im Folgenden zusammengefasst.

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SKW 3, S. 639, S. 645. Bislang wurden Kracauers Schriften meistens zur Analyse von Kunst und Kultur der Weimarer Republik herangezogen. Auf geistige Überschneidungen und Verbindungen zum Warburg-Kreis wurde schon von Volker Breidecker und Detlev Schöttker aufmerksam gemacht – Breidecker 1996; Schöttker 2009.

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Kracauers Filmschriften aus Deutschland und Frankreich

Kracauers Filmästhetik während des Wartens auf eine göttliche „revelatio“ in der metaphysischen Obdachlosigkeit Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erlebte die deutsche Filmproduktion eine Blütezeit. Es wurden sehr innovative Filme gedreht, die auch die Filmkritik und Filmtheorie inspirierten. Kracauer arbeitete Mitte der 1920er Jahre zwar noch nicht an einer längeren Filmabhandlung, wie sie z. B. 1924 Béla Balázs mit Der sichtbare Mensch vorgelegt hatte. Kracauer band ein Filmbeispiel jedoch in eine allgemeine ästhetische Studie ein und integrierte in seine Filmrezensionen generellere Äußerungen. Besonders bedeutsam war für ihn Karl Grunes Film Die Straße. Aufgrund seiner besonders realistischen Straßenkulissen und modernen Stilmittel z. B. bei der Lichtführung galt er als Avantgardeleistung. Die Botschaft des Films war jedoch konservativ. Denn mit diesem sollte vor den Ausschweifungen des großstädtischen Lebens gewarnt werden, denen der kleinbürgerliche Protagonist anheimfällt. Die Analyse von vier Veröffentlichungen der Jahre 1924/1925, in denen Kracauer auf diesen Film eingeht und die bislang noch seltener von der Kracauer-Forschung berücksichtigt wurden, stand im Zentrum von Kapitel II „Film als Spiegel der ‚transzendentalen Obdachlosigkeit‘ […]“.5 Kracauer sah Mitte der 1920er Jahre Die Straße als zukunftsweisende „Meisterleistung“ 6 an. Zunächst verfasste er einen kürzeren Beitrag für das Stadtblatt der FZ, in dem der Film im Mittelpunkt stand. Das Verlangen des kleinbürgerlichen Protagonisten in Die Straße nach Abenteuern in der nächtlichen Großstadt interpretiert er eigenwillig als metaphysische Sehnsucht in der modernen Welt ohne Sinn. In einem zweiten Beitrag über Grunes Film für das überregionale Feuilleton integrierte er allgemeine Anschauungen zum Filmmedium im Zusammenhang mit geschichtsphilosophischen Ausführungen, die von Georg Lukács film­ ästhetischen Überlegungen vor dem Ersten Weltkrieg geprägt sind. Mit dem Straßensujet werde ein besonders filmgerechter Gegenstand behandelt. Auch werden dem Filmmedium besonders gemäße Gestaltungsmöglichkeiten eingesetzt. Letztere bestimmt Kracauer ausgehend von der Filmtechnik, nämlich der mechanischen Montage von Einzelbildern ohne Ton und der Betonung der Optik. Damit sei Film als Ausdruck für die fragmentierte Situation der Gegenwart besonders geeignet und für die Darstellung der scheinhaften „Oberfläche“ des Lebens sehr passend – einem „Leben, das sich rein in äußerlichen Begebenheiten erschöpft“.7 Beeinflusst von Georg Simmel stellt für ihn die großstädtische Straße mit ihrer Anonymität einen besonders filmaffinen Schauplatz dar. Zur Erhellung der geschichtsphilosophischen Anschauungen Kracauers bietet sich das Heranziehen eines circa ein Jahr später in der jüdischen Zweimonatsschrift Der Morgen publizierten Beitrags „Der Künstler in dieser Zeit“ an. In gekürzter Fassung erschien er auch 5

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Aufgrund des zusammenfassenden Charakters dieses Schlusskapitels finden sich die genauen Angaben zu den in Kapitel VII.1 angeführten Texten von Kracauer und anderen Autoren sowie der zugehörigen Forschungsliteratur in den jeweiligen Kapiteln. Im Folgenden werden nur die direkten Zitate und die Filmbeispiele nachgewiesen. SKW 6:1, S. 55. Ebd., S. 56.

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VII. Resümee und Ausblick

in der FZ. Kracauer behandelt darin die gestalterischen Probleme des Künstlers in der geschichtsphilosophischen Situation der Gegenwart und führt in diesem Zusammenhang Grunes Die Straße als Exempel für Massenkunst an.8 Film wird so in einem größeren ästhetischen Kontext behandelt, was sehr erkenntnisreich in Hinblick auf Kracauers Medienverständnis ist. Ähnlich wie in seinem Schlüsseltext „Die Wartenden“ aus dem Jahr 1922 betont er, dass man sich mit der transzendentalen Obdachlosigkeit der Moderne abfinden und sich auf die Gegenwart einlassen solle. Diese Haltung überträgt er auf den Künstler, für den sie allerdings problematisch sei. Denn er könne so nicht mehr dem Anspruch gerecht werden, den Abglanz der Erlösung zum Ausdruck zu bringen. Für Kracauer ist Hochkunst nämlich ein „Spiegel der Vollkommenheit“ Gottes.9 Sowohl seine Zeitdiagnose als auch die ästhetischen Anschauungen sind in dieser Zeit stark von Georg Lukács beeinflusst worden. In seinem Traktat Der Detektiv-Roman macht Kracauer anhand eines populären literarischen Genres deutlich, dass Massenkulturzeugnisse für ihn in dieser Werkphase keinen Kunstwerkstatus einnehmen. Sie können jedoch trotzdem ästhetische Spiegelbilder vermitteln, allerdings nicht von der göttlichen Perfektion, sondern von der Orientierungslosigkeit der säkularen Gesellschaft der Gegenwart. Die Darstellung der „entleerten Welt“ und „Gehaltlosigkeit“ in Grunes Die Straße fungiert für Kracauer so als ein Gegenbild der eigentlichen Wirklichkeit.10 Da das säkulare Leben jedoch laut Kracauer die Möglichkeit eingebüßt hat, von sich selbst Zeugnis zu geben, müsste dies nun von der Massenkultur übernommen werden. Diese stellt so laut Kracauer eine notwendige Ergänzung zur philosophischen Erkenntnis dar. Auch wenn Kracauers inhaltliche Deutung von Grunes Film oktroyiert war, gehört er mit seiner philosophischen Filmkritik zu den ambitionierten Filmrezensenten in Deutschland, die die Filmkritik weiterentwickelten und eine Professionalisierung von dieser ermöglichten. Kracauer unterschied sich dabei von Kritikern wie Willy Haas, die auch die Filmpraxis bzw. den Entstehungsprozess der Filme berücksichtigten. Wie Balázs war er ausschließlich Kino­ besucher. Die bislang noch nicht berücksichtigte zeitgenössische Rezeption von Kracauers Aufsatz in Der Morgen ist signifikant für Kracauers Wahrnehmung und seinen geistigen Zwiespalt in der damaligen Zeit. Mit seiner Redakteurstätigkeit in der FZ konnte er Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen, allerdings war sein Stil bei ästhetischen Abhandlungen mit einem „symbolistischen Zierrat gesuchter Sprachlichkeit“ schwer zu verstehen.11 Inhaltlich war seine Position für das damalige intellektuelle jüdische Netzwerk zu skeptisch. Einige Monate später sollte er sich von dem Kreis um das Jüdische Lehrhaus in Frankfurt auch mit seiner Kritik der Bibelübersetzung von Buber und Rosenzweig distanzieren. Für die existenzphilosophischen Kreise war er wiederum zu religiös.12  8 Kracauers nicht genderneutrale Bezeichnung des Künstlers wird hier beibehalten, da sie den originalen Textduktus repräsentiert.  9 SKS 1, S. 202. 10 SKW 5:2, S. 232f. 11 Röder 1925. 12 Mülder 1985, S. 39.

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Kracauers Filmschriften aus Deutschland und Frankreich

Interessante Deutungsansätze bietet Kracauers frühe philosophische Filminterpretation für vom Neorealismus (z. B. von Federico Fellini) inspirierte Produktionen. Dies wurde exemplifiziert an dem Oscar-prämierten Film La grande bellezza aus dem Jahr 2014. In ihm werden die Suche nach Sinn und religiöse Sehnsucht angesichts der Nichtigkeit und Todverfallenheit des Daseins passenderweise mit dem für Kracauer so wichtigen Straßenmotiv kombiniert. Rom und insbesondere die dortigen Ruinen aus der Antike werden als sinnfällige Kulisse für die Vanitas-Thematik genutzt, die allerdings in christlicher und nicht wie bei Kracauer in jüdischer Tradition steht. Das für Kracauer wichtige Motiv der „Oberfläche“ des Daseins ist ebenfalls für La grande bellezza wie in Grunes Die Straße prägend – u. a. in Verbindung mit der Darstellung von Tanzvergnügen. Ausgespart bleiben in Sorrentinos Film jedoch gravierende soziale Probleme im heutigen Italien bzw. die im Film thematisierten Lösungsperspektiven für einige gesellschaftliche Missstände sind sehr plakativ und unrealistisch.

Kracauers Marxrezeption und seine soziologische Filmanalyse In den Monaten nach „Der Künstler in dieser Zeit“ setzte Kracauer sich intensiver mit Karl Marx auseinander. Dessen Ideologiekritik aktualisierte er in seiner soziologischen Filmkritik. Ein Schlüsseltext ist „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“, der als Artikelserie in der FZ im März 1927 veröffentlicht wurde und im Mittelpunkt von Kapitel III „Film als Spiegel der Gesellschaft […]“ steht. Kracauer kritisierte in dieser Artikelfolge, dass Filmsujets in Durchschnittsproduktionen häufig soziale Ideologien vermitteln. Mit diesen würden u. a. Machtverhältnisse verschleiert; von profitorientiertem Denken und rücksichtsloser Konkurrenz würde abgelenkt und das herrschende Gesellschaftssystem legitimiert werden. Film versteht Kracauer in diesem Kontext als „Spiegel der bestehenden Gesellschaft“, der das Wesen der Zeit zum Ausdruck bringe und die Selbsterkenntnis fördere.13 Eine solche soziale Spiegelfunktion ist jedoch nicht als naiv anzusehen. Denn „je unrichtiger sie [die Filme] die Oberfläche darstellen […], desto deutlicher scheint in ihnen der geheime Mechanismus der Gesellschaft wieder.“14 Die Ideologien werden erst durch die kritische Analyse erkennbar. Dieses Spiegelverständnis des Films unterscheidet sich von dem in Kracauers vorheriger Phase, in der er das Filmmedium anhand des Exempels Die Straße von 1923 geschichtsphilosophisch als Reflexion der transzendentalen Obdachlosigkeit aufgefasst hat (s. Kap. II, S. 41f.). 1924/1925 war Wahrheit für Kracauer auch noch göttlich konnotiert. 1927 verstand er unter dieser die Aufklärung der gesellschaftlichen Gegebenheiten und auch die Behandlung der revolutionären Auseinandersetzung der Unterdrückten gegen die Unterdrücker.15 In diesem Zusammenhang wurde der filmische Aspekt der Darstellung der „Oberfläche“ mit einer neuen Deutung versehen. Diese bringe nicht mehr wie Anfang 1925 die Scheinhaftigkeit des irdischen Lebens, sondern die soziale Wirklichkeit zum Ausdruck. Den Filmen, die 13 SKW 6:1, S. 308. 14 Ebd., S. 311. 15 Kracauer 1974, S. 73.

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wie Pudowkins Mutter und Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin „aus jener Tendenz, die auf die Herstellung einer gültigen menschlichen Ordnung abzielt“, entstehen, räumt er nun auch den Status eines Kunstwerks ein.16 Zu einer soziologischen Filmkritik gab es schon vor Kracauers Ladenmädchen-Serie Ansätze, z. B. in der kommunistischen Presse. Diese waren jedoch nicht so reflektiert, beispielsweise fehlten Kracauers weiterführende Hinweise auf ökonomische Hintergründe. Außergewöhnlich war zudem Kracauers kritische Deutung scheinbar harmloser Sujets aus dem Privatbereich wie Romanzen und Reisen. Sogar Filme, die in anderen Rezensionen wegen ihrer sozialkritischen Perspektive gerühmt wurden, bemängelte Kracauer, da für ihn aus marxistischer Sicht ihre Kritik nicht tiefgehend genug war. Daher wird Kracauer als maßgeblicher früher Vertreter der soziologischen Filmkritik in Deutschland angesehen, die er in den nächsten Jahren weiterentwickelte. Dass er seine Texte mit ihrer marxistischen Prägung in einer bürgerlich-liberalen Zeitung publizierte, wurde von Walter Benjamin als „ein virtuoser Schmuggel größten Stils“ gewürdigt.17 Kracauer war mit seinem soziologischen Ansatz einflussreich auf andere Filmkritiker. Die sehr unterschiedliche Rezeption wurde exemplarisch an heute weniger bekannten Filmkritikern der Weimarer Republik wie Wolfgang Petzet und Felix Scherret herausgestellt. Ebenfalls sind Unterschiede zu stärker parteikommunistisch orientierten Filmkritikern wie Franz Carl Weiskopf und Wolfgang Duncker (genannt Mersus) oder auch zu einem heute sehr wenig rezipierten Text der Künstlerin Alice Lex-Nerlinger zum Kinobesuch von Frauen herausgestellt worden. Inspirierend war Kracauers Ansatz zudem z. B. für Theodor Wiesengrund Adornos Musikanalysen und dessen spätere, gemeinsam mit Max Horkheimer verfasste Massenkulturanalysen. Seitens der feministischen Filmwissenschaft wurde bei der Rezeption von „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ seit den 1980er Jahren unproportional viel Augenmerk auf das Ladenmädchen-Motiv gelegt. Dieses prägt die Schlusspointen der einzelnen Folgen, in denen Kracauer satirisch Reaktionen von jungen Verkäuferinnen anführt. Auch griff er es für den Serientitel auf. Kritisiert wurde nicht nur, dass Kracauer die Ladenmädchen so desavouiert, sondern auch, dass er keine empirische Zuschauerforschung durchführt. Letztere war allerdings nicht sein Fokus. Zudem gerieten angesichts der feministischen Kritik die innovativen filmsoziologischen Aspekte Kracauers in den Hintergrund. Die Sozialwissenschaftlerin Christine Resch meinte kürzlich verteidigend, dass für Kracauer die jungen Verkäuferinnen repräsentativ für alle Zuschauer seien.18 Ich habe bei meiner Analyse eine mittlere Position vertreten. Dargelegt wurde, dass bislang die satirische Prägung der Ladenmädchen-Schlusspointen kaum berücksichtigt worden ist. Es wurde belegt, dass Kracauer auf eine unkritische Rezeption bei den Kinobesuchern hinweisen will. Mit einer Herausarbeitung der historischen Konnotation des Ladenmädchenmotivs wurde deutlich, dass er durchaus eine patriarchalische und bildungsbürgerliche 16 SKW 6:1, S. 335. 17 Benjamin 1987, S. 41. 18 Resch 2017, S. 165 mit Anm. 16.

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Position einnimmt, wenn er seine satirischen Pointen auf Kosten einer sehr häufig desavouierten Sozialgruppe macht. Generell waren Ladenmädchen eine beliebte Sozialfigur in der Weimarer Republik. Andere Intellektuelle erhielten für ihre Äußerungen von Ressentiments zu jungen Verkäuferinnen allerdings nicht so viel Kritik wie Kracauer. Gegen die Vorurteile gegenüber den Ladenmädchen wendete sich 1932 jedoch ein heute in Vergessenheit geratener Artikel von Margaret Reid. Sie wies anhand von Interviews darauf hin, dass der Filmgeschmack amerikanischer Verkäuferinnen sehr unterschiedlich sei und man daher keine Generalisierungen treffen könne. Allerdings wurde noch nicht genauer darauf eingegangen, dass Kracauer in den Ladenmädchentext ebenfalls vehemente Kritik gegen bürgerliche Weiblichkeitsvorstellungen integriert, die Parallelen mit Argumenten von Clara Zetkin und Rosa Luxemburg aufweist. Dies müsste von der feministischen Filmwissenschaft stärker berücksichtigt werden. Darüber hinaus beschäftigte sich Kracauer später noch sachlicher mit den Lebensverhältnissen von weiblichen Angestellten in seinem Text „Mädchen im Beruf“. Dieser Artikel kann indirekt auch als eine Revision der ironischen Bemerkungen über die Ladenmädchen 1927 angesehen werden. Auch heute existieren noch Vorurteile gegenüber Verkäuferinnen sowohl in der Filmwissenschaft als auch in der Gesellschaft allgemein. 2007 haben der kritische Blog und das aus diesem hervorgehende Buch von Anna Sam über die Situation einer französischen Supermarktkassiererin viel Aufsehen erregt. Deutlich wird an ihnen, dass die historischen Stereotypen zu Ladenmädchen teilweise noch immer existieren. Bei der Verfilmung des Blogprojekts als romantische Weihnachtskomödie 2011 wurde Sams Kritik jedoch abgeschwächt. An dem Film kann zudem exemplarisch aufgezeigt werden, dass Argumente aus Kracauers Ladenmädchen-Artikelserie heute noch relevant sind. Denn in Pierre Rambaldis Les tribulations d’une caissiére verhindert wieder die „Rettung einzelner Personen … auf glückliche Weise die der ganzen Klasse“.19 Nur für die Bloggerin als Hauptdarstellerin verbessert sich die Situation, für ihre Freundinnen am Arbeitsplatz bleibt die Lage weiter defizitär.

Kracauers soziologische Kinoarchitekturanalysen Kracauers Auseinandersetzungen mit den Räumlichkeiten, in denen Filme präsentiert wurden, werden in Kapitel IV „Lichtspielhäuser als soziale Spiegel […]“ behandelt. Für solche Raumanalysen war Kracauer als Architekt natürlich prädestiniert. Sein am 21.2.1926 veröffentlichter Beitrag „Paläste des Films. Berliner Lichtspielhäuser“ ist trotz seiner Kürze architekturtheoretisch sowie filmästhetisch durchaus tiefgehend, was insbesondere für den Erscheinungsort Das Illustrierte Blatt und die damalige deutsche Presse ungewöhnlich ist. Aufgezeigt werden konnten Parallelen u. a. zu anderen progressiven Filmkritikern wie Kenneth Macpherson und Harry Alan Potamkin in den USA und England. Besonders herausstechend ist Kracauers frappierender Blick auf die vielen Leuchtreklamen, die beispielsweise auf 19 SKW 6:1, S. 312.

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sehr vielen Postkarten von Berlin zu sehen sind. Mit ihnen stellt Kracauer sinnfällig heraus, dass in Berlin die moderne Lebensart dominiert. In seinem am 4. März 1926 erschienenen Artikel „Kult der Zerstreuung. Über die Berliner Lichtspielhäuser“ ist sein Ansatz soziologisch noch tiefgehender und die Lichtspieltheater werden im Kontext der modernen Massenkultur behandelt. Kracauer aktualisiert und erweitert dabei Georg Simmels Ansatz für die Raumanalyse und dessen Studien des großstädtischen Lebens in Hinblick auf besonders aktuelle Phänomene wie den Bau großer Kinopaläste in Berlin. Dabei ist seine Perspektive wie bei den in Kapitel III behandelten soziologischen Filmanalysen durch Marx geprägt. Die prunkvollen Lichtspielpaläste mit ihrem Revueprogramm werden für Kracauer zu einem Vexierspiegel für die reaktionären Tendenzen in der modernen Großstadtgesellschaft, die vor der Revolution und der Sinnleere in Scheinwelten flüchtet. Bestätigung und wohl auch Inspiration für die Auseinandersetzung mit den Lichtspielpalästen erhielt Kracauer von Joseph Roth, selbst wenn ihre Stile und Methoden sich voneinander unterschieden. In der Forschung zu Kracauer wird davon ausgegangen, dass die Zeitungstätigkeit generell für Kracauers Auseinandersetzung mit der Massenkultur inspirierend war. Aber insbesondere der Kontakt zu Kollegen wie Roth dürfte diese unterstützt haben. Kracauers kritische Architekturanalysen unterscheiden sich maßgeblich von den panegyrischen Besprechungen der Großkinos in anderen Zeitungen. Sogar in kinematographischen Fachmagazinen waren die soziologischen Ausführungen nicht so tiefgehend wie diejenigen Kracauers. Kracauers Eingehen auf ein kleines Kino in Alt-Berlin 1932 steht in Zusammenhang mit seinen anderen Beiträgen zu den von den Arbeitslosen frequentierten Räumen Anfang der 1930er Jahre. Bei der Auseinandersetzung mit diesen Räumen bestehen Parallelen zu anderen sozialkritischen Schriftstellern und Journalisten. Sie weisen eine ähnliche Einstellung von kritischem Urteilsvermögen gepaart mit Anteilnahme auf, die auch Kracauer in seinen Texten vertrat. Bei einem Vergleich mit anderen Zeugnissen, z. B. mit zwei heute in Vergessenheit geratenen Texten von Erich Preuße über Tageskinobesucher in der Zeit der Weltwirtschaftskrise, zeichnete sich deutlich ab, dass Kracauer bei der Analyse des Kinos besonders auf die Erniedrigung der Menschen und ihr fatalistisches Warten aufmerksam macht. Entgegen der bisherigen Forschungsmeinung werden in Kracauers Texten aus dieser Zeit nicht nur methodische, sondern auch inhaltliche Parallelen zur 1933 veröffentlichten Studie über die Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel in dem österreichischen Dorf Marienthal deutlich. Das Motiv des Wartens ist auch in der Arbeiterfotografie und in sozialkritischen Gemälden der Zeit thematisiert worden. Am Ende des Textes charakterisiert Kracauer eine vor dem Kino wartende Frau als moderne literarische Melancholia-Allegorie. Im Vergleich mit „Kult der Zerstreuung“ zeigt sich zudem, dass er 1932 seine Methode der Raumanalyse verfeinert hat. Gleichzeitig wendet sich Kracauer von einer radikaleren politischen Einstellung ab, wofür ihn Ernst Bloch kritisiert. Edward Hoppers Bilder sind schon zuvor mit Texten Kracauers analysiert worden, da in beiden moderne urbane Phänomene thematisiert werden, unter denen auch Kinos sind. Zu berücksichtigen sind jedoch unterschiedliche Kontexte, die u. a. durch die unterschiedlichen

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Entstehungsländer und -zeiten bedingt sind. Hoppers Darstellung eines Lichtspielpalastes in The Sheridan Theatre ist 1936/1937 nostalgisch und unterscheidet sich von Kracauers Kritik in „Kult der Zerstreuung“. Hoppers Perspektive ist von den Veränderungen der amerikanischen Filmindustrie in den 1930er Jahren geprägt. Diese wurde im Zusammenhang mit Hoppers The Circle Theatre näher erläutert. In seinem Gemälde The New York Movie wird die Aufmerksamkeit auf eine Platzanweiserin gelenkt. Die bildliche Darstellung weist dabei Parallelen zu Kracauers Angestelltenstudie auf. Sehr erhellend ist Kracauers kritischer Blick auf die Großkinos der Weimarer Republik für die Auseinandersetzung mit heutigen Luxuskinos. Statt mit Lichtorgeln sind sie allerdings mit 3D-Urban Art Murals ausgestattet und anstatt eines 80-Personen-Orchesters wird modernste Sound- und Projektionstechnik geboten. Neben den an sich schon sehr effektvollen Holly­ wood-Blockbustern werden zudem Aufsehen erregende Innenarchitektur, Luxushotelatmosphäre sowie maximaler Komfort und Service geboten. Der kleine Luxus eines IPIC-Besuchs kann zwar als Trostpflaster dafür fungieren, dass ein größerer Wohlstand für die heutigen Mittelständler weitaus weniger erreichbar als für die älteren Generationen ist. Trotzdem wird wie in den 1920er Jahren mit Bücherdekorationen und Kunst eine pseudobürgerliche Fassade gewahrt, die schon von Kracauer als nicht zeitgemäß kritisiert und als Illusion eingeordnet worden ist.

Kracauers Filmidee „Dimanche“ – Aufklärungskritik für eine Immunisierung gegen faschistische Ideologien am Anfang seines französischen Exils Um sich am Ende der Weimarer Republik und im Exil weitere Einkommensquellen zu erschließen, verfasste Kracauer einige Ideen und Exposés für Filme. Dieser Werkbereich hat erst in den letzten Jahren von einigen wenigen WissenschaftlerInnen Aufmerksamkeit erhalten. Im Mittelpunkt von Kapitel V „Die Dialektik der Aufklärung als Kinderfilmidee […]“ steht die ca. im Mai 1933 entstandene, bislang wenig genauer behandelte Kurzfilmidee „Dimanche“ über den Sonntagsausflug eines kleinen Jungen. Kracauer greift zwei populäre Trends in seiner Filmidee auf ungewöhnliche Weise auf, nämlich die Themen von Kinder- bzw. Familienfilm und Sonntagsgestaltung.20 U. a. konnte die Filmidee in dieser Arbeit noch genauer in die Forschungsfelder „Exilfilm“ sowie „Kindheit und Film“ eingeordnet werden, die in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen haben. Einerseits wird in „Dimanche“ die begrenzte Betrachtungsmöglichkeit des drei- bis vierjährigen Jungen in der Familienfilmidee herausgestellt. Ältere Kinder werden so bei ihrer aufgeklärteren Wirklichkeitswahrnehmung bestätigt. Andererseits wird anhand der Kontrastierung der Sichtweise der Erwachsenen mit der des Kindes deutlich, wie langweilig und konventionell der Sonntagsausflug ist. Außerdem wird auf die begrenzte erwachsene Rationalität aufmerksam gemacht. Da in dem Film sowohl die noch nicht überwundenen 20 Kracauer bezeichnete „Dimanche“ als Kinderfilm. Heute würde man ihn jedoch als Familienfilm einordnen, da er wegen seiner satirischen Elemente auch für Erwachsene interessant ist.

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Reste der ersten Natur als auch die sekundären Naturmächte – d. h. die anscheinend naturgegebenen gesellschaftlichen Mythen wie Sonntagsrituale – in Frage gestellt werden, wird Kracauers Aufklärungskritik auf anschauliche Weise thematisiert. Sie hat er zuvor z. B. in seinem bekannten Essay „Ornament der Masse“ dargelegt. Von seinem Charakter ist „Dimanche“ ein ideales Beispiel von Kracauers filmischen Idealvorstellungen. Kracauer war wie Walter Benjamin an Pädagogik interessiert und hat sich bei der Gestaltung der Hauptfigur des kleinen Jungen anscheinend an Jean Piagets Pädagogik angelehnt. Dabei bringt er auch den in Filmen mit Kindern häufig anzutreffenden Topos der Kurzsichtigkeit ein, jedoch ohne die häufig mit diesem verbundenen regressiven oder idealisierenden Tendenzen. So wird unterbunden, dass die Erwachsenen das Kind naiv als Spiegel des Unbewussten verwenden, da das eingeschränkte Urteilsvermögen des Kindes deutlich gemacht wird. Kracauers Darstellung unterscheidet sich von der unkritischeren Verherrlichung der kindlichen Wahrnehmung durch Béla Balázs. In Kontrast zu dem biederen Sonntagsausflug alludieren die kindlichen Streifzüge auf das von Kracauer als positiv verstandene Flanieren. Er sieht es als ein besonders filmaffines Sujet an, da der Film laut ihm wie das Flanieren eine Annäherung an die Realität ermöglicht. Die phantasievollen Schlussfolgerungen des Kindes stellen den Vorschein einer Alternative zur instrumentellen Vernunft der Erwachsenen dar. Hierbei sind Bezüge zu Walter Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert festzustellen. Eine aufgeklärte Wirklichkeitswahrnehmung hatte 1933/4 eine politische Relevanz für Kracauer, denn sie stellte für ihn ein Schutzschild sowohl gegen faschistische als auch linke Ideologien dar, die auch in Frankreich kursierten. 1933 versuchte zudem Otto Abetz, in der französischen Jugendbewegung Sympathie für die Nazis zu wecken. Der Film „Dimanche“ war von Kracauer ebenfalls sehr wahrscheinlich als Antidot gegen die beginnende ideologische Infiltration durch die nationalsozialistische Kinderfilmproduktion gedacht. Er unterscheidet sich jedoch von Balázs’ 1935/6 verfassten Drehbuch zu dem Film Deržis’, Karluša! (Karl Brunner) mit einer offensiveren Anti-Nazipropaganda. Möglicherweise hat Kracauer die Filmidee mit ihrer Mischung aus Realismus, Phantasie, Poesie sowie Satire des Bürgertums in Hinblick auf eine Realisierung durch Jean Renoir geschrieben. Diesen schätzte er sehr und war mit ihm persönlich bekannt. Wohl wegen der schwierigen Situation der Filmwirtschaft in Frankreich kam es zu keiner Realisierung. Zudem setzten sich in den 1930er und 1940er Jahren mehr Double Features durch, weshalb der Bedarf an kürzeren Filmen sank. Auch in England konnte Kracauers Bekannter Leo Lania die Filmidee nicht unterbringen. Auf die nicht produzierte Filmidee folgt noch eine Reihe weiterer nicht realisierter bzw. nicht erfolgreicher Projekte im französischen Exil, was auf die schwierige Lebenssituation Kracauers aufmerksam macht. Noch heute sollen Kinder im Film vornehmlich fotogen sein. In Familienfilmen werden zudem meistens konservative Werte unterstützt, anstatt dass wie in Kracauers Filmidee bürgerliche Rituale in Frage gestellt werden. Allerdings sind in Kurzfilmen mehr Freiheiten möglich. Vor einigen Jahren wurde die Sonntagsausflugsthematik von dem Schweizer Regisseur Simon Weber in dem mit mehreren Preisen ausgezeichneten Kurzfilm Sounds of

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Nature aufgegriffen. Die Naturerkundung bei dem Ausflug aus der Perspektive eines zehnjährigen Jungen ist dabei im Sinne von Kracauers Ideal gestaltet, dass Film als „Discoverer of the Marvels of Everyday Life“ fungiert.21 Webers Konzept von Sounds of Nature ist jedoch nicht wie Kracauers Filmidee durch aufklärungskritisches Gedankengut, sondern durch die Auseinandersetzung mit schweizerischen Natursagen und mit den Auswirkungen von Unterhaltungselektronik auf das kindliche Bewusstsein geprägt. Die Naturerfahrungen des Kindes werden als ein Jump ’n’ Run-Spielparcours gestaltet. Beim Sounddesign des Films wurden viele Computerspielgeräusche aufgegriffen. Die scheinbar phantasievolle Naturwahrnehmung des Kindes ist so vom kommerzialisierten Gamebereich bestimmt.

Eisensteins Szenen des mexikanischen Día de Muertos als Exempel für Kracauers Verständnis des Mediums Film am Ende seines französischen Exils Am Ende seines französischen Exils arbeitete Kracauer trotz seiner widrigen Lebenssituation und der Angst vor einer Auslieferung an die Deutschen an einem Buchprojekt zur Geschichte und Ästhetik des Films. Zu diesem sind im sogenannten „Marseiller Entwurf“ Aufzeichnungen aus den Jahren 1940/1 erhalten. Dabei handelt es sich um ein sehr detailliertes Strukturgerüst für mehrere Kapitel. Nach der geglückten Flucht in die USA führte Kracauer es nicht mehr fort. Ein allgemeines Buch zum Film sollte mit seiner Theory of Film erst zwei Dekaden später mit einem veränderten Konzept erscheinen. Der Kurzfilm Death Day, der von Sol Lesser aus den Szenen zum Día de Muertos aus Sergei Eisensteins unvollendet gebliebenem Filmprojekt „¡Que viva México!“ geschnitten worden ist, nimmt eine zentrale Rolle in diversen Vorentwürfen der Theory of Film ein. Anhand des „Marseiller Entwurfs“ wird deutlich, dass Kracauer ihn als Brennspiegel seines Verständnisses des Filmmediums verstand. Dies wird in Kapitel VI „Sergei Eisensteins mexikanischer ‚Danse macabre‘ in Siegfried Kracauers „Marseiller Entwurf“ […]“ dargelegt. Für Kracauer fungiert der Film als ein besonderes Medium, da dieser im Unterschied zu den traditionellen bildenden und darstellenden Künsten wie Malerei und Theater die materielle Welt unvoreingenommen erfassen könne. Denn der Film nehme nach Kracauer die lebendigen Phänomene gleichberechtigt mit den ‚toten‘ der niedrigen Regionen der Existenz auf. Diese schließen Intentionalität und Interpretation aus – daher dränge der Film „nach unten“.22 Möglich sei dem Film dies, da er für Kracauer ein fotografisches Medium darstelle, d. h. im Grunde als eine Erweiterung der Fotografie fungiere. Wie das Medium Fotografie habe der Film „eine ausgesprochene Affinität zur sichtbaren Welt“, was Kracauer auch 1960 in seiner Theory of Film herausstellt.23 Dies unterscheidet sich von Kracauers in Kapitel II skizziertem Mediumsverständnis in seinen frühen Schriften zum Film.

21 Kracauer 1960, S. xi. 22 SKW 3, S. 531. 23 Ebd., S. 17.

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Schon 1927 hat er in einem bekannten Essay „Die Photographie“ pointiert formuliert, dass zum ersten Mal in der Geschichte sich durch die Fotografie „die Totenwelt in ihrer Unabhängigkeit vom Menschen“ vergegenwärtige.24 Denn es sei „die Aufgabe der Photographie, das bisher noch ungesichtete Naturfundament aufzuweisen.“25 Die Natur der „fotografischen Momentaufnahmen“ im Film kann jedoch zur Bereicherung der normalen konventionellen bzw. eingeschränkten Wahrnehmung beitragen, was Kracauer praktisch mit seiner Kurzfilmidee „Dimanche“ demonstrieren wollte (siehe Kapitel V).26 Kracauer übernimmt aus Walter Benjamins Studie Ursprung des deutschen Trauerspiels die Anschauung der „Todverfallenheit“ der Natur. Als deren Ausdruck fungieren für ihn in Eisensteins Aufnahmen die Totenmasken tragenden Menschen sowie besonders die vielen weiteren makabren Requisiten des Films wie Spielzeugskelette und Totenköpfe aus Zuckerguss. Bei Eisenstein ist mit der ausgelassenen Fiesta zudem ein weiteres Motiv integriert, das nach Kracauer der Charakteristik des Films, „das Seiende in Umtrieb“ zu versetzen, besonders entspricht, da der Mensch bei Volksfesten „in die Tiefen des Körperlichen“ einkehre.27 Kracauers Aufgreifen von Eisensteins Aufnahmen zur Illustration seiner Grundanschauungen des Mediums Film unterscheidet sich jedoch maßgeblich von Eisensteins politischen und sozialutopischen Intentionen beim Drehen der Szenen des Día de Muertos. Sie wurden ebenfalls mit Berücksichtigung des gesamten Filmkonzepts und der Schriften des Regisseurs herausgearbeitet. Eisenstein stilisierte die rasanten Szenen des Volksfestes am Tag der Toten zu einem Denkmal des seiner Meinung nach weiterhin wachsenden und alle Hindernisse überwindenden revolutionären Mexikos. Den mexikanischen Sieg über den Tod betonte Eisenstein zum Beispiel anhand von Tanzszenen junger Männer mit Totenmasken, die die „Unsterblichkeit durch Kampf für das revolutionäre Ideal der Freiheit“ versinnbildlichen sollten28. Damit unterscheidet sich Eisensteins „danse macabre“ auch von der spätmittelalterlichen Totentanzikonographie, die der Ständedidaxe diente. Im Spätmittelalter war gerade kein revolutionärer Umsturz intendiert; im Gegenteil, die sich damals allmählich auflösende Ständegesellschaft sollte gefestigt werden. Möglicherweise wurden Eisensteins Intentionen Kracauer bei einem Gespräch mit dem Filmhistoriker und Eisenstein-Schüler Jay Leyda am 6. Januar 1955 mitgeteilt. Dies könnte dazu geführt haben, dass er darauf verzichtete, das Exempel in seine Theory of Film zu integrieren. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Popularität des mexikanischen „Tags der Toten“ noch gestiegen. Seine globale Bekanntheit wurde in den letzten Jahren gerade durch Filme wie zum Beispiel Disney-Pixars Coco gefördert. Dieser Computeranimationsfilm unterscheidet sich natürlich sehr von Eisensteins Szenen zum Día de Muertos. Jedoch sind für ihn Kracauers ästhetische Aussagen zum Animationsfilm relevant. Ebenfalls eignet sich Coco für eine Aktualisierung von Kracauers sozial- und kulturkritischem Analyseansatz im Kontext 24 25 26 27 28

SKW 5:2, S. 96. Ebd. (Kursivsetzung im Original). SKW 3, S. 561. Ebd., S. 539, 605. Eisenstein 1984, Bd. 2, S. 797.

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kultureller Aneignung. Eine Entmythologisierung des Films mit Kracauers ideologiekritischen Ansätzen ist durchaus angebracht; so statuierte ein Regisseur von Disney-Pixar: „We make high-tech mythology, but it’s still mythology.“29 Zwar bemühte sich Disney-Pixar nach anfänglicher Kritik wegen des Versuchs, im Zusammenhang mit dem Film Markenrechte für den „Día de Muertos“ zu erhalten, besonders um Authentizität bei der Darstellung von Mexiko. Auffällig ist jedoch, wie traditionell das Hauptthema des Familienzusammenhalts in Coco ist. Der Literaturwissenschaftler Cruz Medina hat der Familienhuldigung am Día de Muertos ein antiimperialistisches und dekoloniales Potential attestiert. Damit unterschätzt er jedoch maßgeblich die Kommerzialisierung der Feierlichkeiten beispielsweise für Tourismus und für Produktmarketing. In Coco wurde das Sujet nicht nur im Hinblick auf das mexikanische, sondern auch auf das nordamerikanische Publikum gewählt. Das Familienideal ist wesentlich für die amerikanische Identität und wird in den letzten Jahren zunehmend nostalgisch verklärt, was den Erfolg von Coco wohl begünstigt hat. Von Disney-Pixar wird das mit dem Día de Muertes geschichtlich verbundene kritische und satirische Potenzial jedoch nicht intensiver genutzt. Stattdessen werden gesellschaftsstabilisierende Mythen manifestiert, die Kracauer seinerzeit u. a. schon in Filmen entschlüsselte und kritisierte.

Wechselverhältnis von Filmschriften und intellektueller Vita Anhand der vielen Parallelen zu anderen soziologischen und philosophischen Beiträgen wurde deutlich, dass Kracauers intellektuelle Vita in engem Wechselverhältnis mit seinen Filmschriften steht. Seine Schlüsseltexte mit Filmthemen lassen komplexe Anschauungen wie seine Zeitdiagnose der metaphysischen Obdachlosigkeit und sein eigenes Leiden an dieser zu Anfang der 1920er Jahre fasslich werden. Insbesondere seine Aufklärungskritik wird an seiner Filmidee „Dimanche“ besonders anschaulich und einprägsam. Deutlich wurde auch, wie sich sein Gebrauch der Spiegelmetapher im Zusammenhang mit Film im Lauf der Zeit ändert. Film spiegelt zunächst die „Gehaltlosigkeit“ und Unordnung der säkularisierten gottesfernen Gesellschaft der Gegenwart wider.30 Anschließend gebraucht er die Spiegelmetapher nicht in philosophischer, sondern in soziologischer Hinsicht. In den Filmen würden somit die „unterdrückten Wünsche“ zum Ausdruck gebracht werden, die ideologiekritisch entlarvt werden können.31 Die Kinoräume vermitteln ebenfalls Illusionen. Seine eigene Film­ idee hat Kracauer als Spiegel seiner Aufklärungskritik gestaltet. Der Kurzfilm Death Day mit Aufnahmen von Sergei Eisenstein, die von Sol Lesser geschnitten worden sind, fungiert als Spiegel von Kracauers Medienverständnis und seiner Auffassung der Todverfallenheit des unerlösten Seienden.

29 Äußerung von Brad Bird in dem Bonusmaterial der Blu-ray-Version (2011) von The Incredibles (R: Brad Bird, USA 2004); siehe auch Uva 2017, S. 135. 30 SKW 5:2, S. 233. 31 SKW 6:1, S. 309–311.

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Auch nachdem Kracauer sich ab Mitte der 1920er Jahre mehr der Gesellschaftskritik zuwandte, distanzierte er sich nicht vollständig von seinen früheren metaphysischen und gnostischen Auffassungen. Gegenüber Ernst Bloch betonte er, dass die Theologie sich auf Dinge bezieht, die unabhängig vom ökonomischen Unterbau zu sehen sind.32 Wenn er sich auf die Nichtigkeit des Daseins bezieht, gibt es allerdings Verschiebungen. 1924/1925 bezieht sich die Wahrnehmung der Nichtigkeit auf das sinnferne Moderne. 1932 bringt das besonders triste Ende von Kracauers Auseinandersetzung mit dem Kino in der Münzstraße sowohl seine Enttäuschung über die Entwicklung der Weimarer Republik als auch seine Desillusioniertheit angesichts der fehlgeschlagenen Aufklärungsinstanz des Kinos zum Ausdruck. Das besondere Betonen der Todverfallenheit der Natur am Anfang des „Marseiller Entwurfs“ scheint auch durch seine schwierige Exilsituation geprägt zu sein. Anhand der Filmschriften zeichnen sich ebenfalls Veränderungen seiner politischen Einstellung ab. 1927 verweist er beispielsweise zumindest indirekt in „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ noch auf die Notwendigkeit einer Revolution. 1932 verzichtet Kracauer jedoch auf das Einbringen einer revolutionären oder utopischen Perspektive in dem Text über das Münzstraßenkino, da er daran zweifelte, dass der Zusammenbruch der alten Ordnung dem Aufbau einer vernünftigeren Ordnung den Weg bereiten könne. Ebenfalls werden Veränderungen seiner Methodik deutlich. So war 1924/1925 seine philosophische Deutung von Grunes Die Straße aufgezwungen, auch wenn er auszeichnende Charakteristika des Films treffend herausgestellt hat. In den Texten der nächsten Jahre sollte er sich noch intensiver mit der Empirie auseinandersetzen und dabei wichtige Erkenntnisse gewinnen, die beispielsweise in der österreichischen Sozialforschung nur von einem Team über einen viel längeren Zeitraum ermittelt wurden. Kracauers Texte zeichnen sich durch eine hohe Anschaulichkeit aus und weisen Parallelen zu seinen Denkbildern auf. Diese Materialnähe prägt ebenfalls noch seine in den USA entstandenen Studien, denen zu Unrecht der Vorwurf einer Top-down-Analyse gemacht worden ist.33 Wegen seiner großen Materialkenntnis wäre er sicherlich ideal geeignet als Filmberater gewesen.34 In Deutschland wollte er jedoch nicht für die Ufa arbeiten, weil er deren Filmpolitik kritisierte, und in den USA fand er als Filmberater keine Anstellung Seine Empiriegebundenheit erlaubte es Kracauer, auf wichtige Entwicklungen im Filmbereich und in der Gesellschaft früh kritisch zu reagieren. Daher sind seine Schriften so aussagekräftig für Film- und Kulturgeschichte zugleich. Einige von ihm thematisierte Filmsujets haben heute noch Nachfahren und seine Überlegungen zu jenen können als Anknüpfungspunkte dienen. Bei den Aktualisierungen von Kracauers Ansätzen in dieser Arbeit waren insbesondere Kracauers filmsoziologische Analysen sehr inspirierend und wertvoll. Auf Kracauers Bedeutung für die Verbindung von Film- und Gesellschaftskritik hat kürzlich der Soziologe Carsten Heinze hingewiesen: 32 Bloch 1985, S. 367. 33 Gemünden/Moltke 2012b, S. 20. 34 Sein enzyklopädisches Filmwissen erlangte Kracauer erst als Filmkritiker für die FZ und ab 1938 durch die Zusammenstellung einer umfangreichen Sammlung von Inhaltsskizzen und weiteren Notizen zu Filmen, seiner sogenannten „Kollektion“.

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Kracauers filmisches Realismusverständnis im digitalen Zeitalter

Filmsoziologie wird zu einer Form von kritischer Aufklärungsarbeit über den Zusammenhang von Gesellschaft und Filmkultur, die sich jedoch nicht in der bloßen (willkürlichen) Interpretation des Filmmaterials erschöpft, sondern erst über die Diskursivierung und soziologische Einordnung filmischer Thematiken und ihrer Darstellungen Relevanz gewinnt.35

Kracauers Position dient dabei als wichtige Ergänzung der heutigen neoformalistischen und filmtheoretischen Debatten. Allerdings hat Heinze auch darauf aufmerksam gemacht, dass das Publikum noch genauer als kritische Instanz der Filmaneignung in den Blick genommen werden müsste.

Kracauers filmisches Realismusverständnis im digitalen Zeitalter Sein mit Eisensteins Día de Muertos-Szenen exemplifiziertes Realismusverständnis greift Kracauer in seinem Spätwerk Theory of Film wieder auf. Als photographisches Medium gebe der Film die physische Realität mechanisch und damit besonders unverfälscht wieder. Die daraus resultierende realistische Tendenz des Films ist laut Kracauer dadurch bestimmt, dass die vielfältigen materiellen Erscheinungen nicht nur registriert, sondern beispielsweise durch Nahaufnahmen mitunter auch erst enthüllt werden. Die realistische Tendenz erachtet er für den Film als charakteristisch, in Opposition zu dieser stehe dagegen bei der formgebenden Tendenz des Films das Rohmaterial der Wirklichkeit nicht im Vordergrund.36 Bei einer oberflächlichen Rezeption attestierte man Kracauer einen naiven Realismus. Den zu Grunde liegenden Medienessenzialismus kritisierte man, da er zu restriktiv sei und nicht berücksichtige, dass Film durch mehr Elemente als durch seine photographische Natur bestimmt wird.37 Auf die lange ästhetische Tradition des Medienessenzialismus wie z. B. Gotthold Ephraim Lessings Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und P ­ oesie (1766) oder die für Kracauer besonders einflussreiche Theorie des Romans von Georg Lukács und die Fortsetzung beispielsweise bei Clement Greenberg wird von den Kritikern jedoch nicht eingegangen. Im digitalen Zeitalter schien Kracauers Ansatz einer „photographic nature of film“ zudem als unpassend, da mit der digitalen Technologie Bilder und Ton unabhängig von der materiellen Welt generiert bzw. maßgeblich weiterbearbeitet werden können. Traditionelle Deutungsmodelle der Repräsentation seien so durch die Simulation und binäre Codes ersetzt worden. 38 Der Medientheoretiker Lutz Koepnick hat in einem 2012 publizierten Aufsatz jedoch gegen diese weit verbreitete, seiner Meinung nach naive Sichtweise und gegen eine rein histo-

35 Heinze 2018, S. 30. 36 Im Gegensatz zur realistischen Tendenz dominieren bei der formgebenden Tendenz formale Beziehungen und zielbewusste Kompositionen; auch werden menschliche Erfahrungen und diskursives Denken – d. h. die geistige und nicht die materielle Realität – vermittelt. 37 Siehe zum Beispiel die prominente Kritik von Noël Caroll – Carroll (1985) 2000, S. 51. 38 Hansen 1997, S. viii.

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VII. Resümee und Ausblick

rische Sicht auf Kracauers Medienverständnis Widerspruch eingelegt.39 Auch wenn es heute fundamentale Differenzen gebe, seien Aktualisierungen möglich.40 Zwar wird das digitale Bild durch die fehlende Indexikalität, die fehlende physische Spur auf dem Filmnegativ bestimmt. Generiert wird es allerdings häufig weiterhin durch den physischen Einfluss von Licht, das mit einem elektronischen Sensor in Kontakt kommt.41 Darüber hinaus werden digital viele analoge Praktiken von Fotografie und Film imitiert. Selbst stark manipulierte Bilder halten an der Linearperspektive und verschiedenen Fokuszonen fest.42 So befinden sich die Betrachter von digitalem Film selten in einem dematerialisierten Zustand der „post-indexicality“.43 Unter anderem, um jungen Filmemachern „access to the tools and materials that were the building blocks of that art form“ zu gewährleisten, plädieren Filmemacher wie Martin Scorsese für ein Bewahren der analogen Aufnahmetechnik.44 Diese hat Scorsese auch für Teile von seiner Produktion The Irishman (USA 2019) genutzt.45 Mehrere Filmproduktionsfirmen in Hollywood haben sich 2014 zudem dafür eingesetzt, dass Kodak weiterhin analoges Filmmaterial herstellt.46 Koepnick hat besonders darauf verwiesen, dass Kracauer das Medium der Fotografie mit Berücksichtigung seiner historischen Entstehung definiert habe. Dies war von seinem Ansinnen bestimmt, dass die Ästhetik über den Zustand der Entfremdung Aufschluss geben kann, denn das Medium ist von diesem auch bestimmt.47 Gleichzeitig bietet das Medium die Möglichkeit, den Betrachter von der entfremdeten Welt zu distanzieren und so Aspekte der materiellen Welt wahrzunehmen, die sonst im Verborgenen bleiben, insbesondere das Sensorische, Ungeformte und Unbestimmte. Dies beinhaltet für Kracauer ein emanzipatorisches Potential und die Möglichkeit von Sinngebung. Auch die digitale Bildtechnologie kann in den Prozess der Rationalisierung eingeordnet werden und ermöglicht eine Distanzierungsmöglichkeit. Durch die Aktivierung des Sensorischen widersetzt sie sich gegen die Dematerialisierung der Natur und die Rationalisierung.48 So kann Kracauers Ästhetik für die digitale Filmpraxis durchaus aktualisiert werden. Besonders relevant ist sie natürlich für digital produzierte Filme, die der ‚(neo-)neorealistischen Strömung‘ zugeordnet werden – z. B. von Kelly Reichardt, den Gebrüdern Dardenne, Lenny Abrahamson oder von Paolo Sorrentino, dessen La grande bellezza in Kapitel II analysiert wurde.49

39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49

Koepnick 2012. Ebd., S. 113. Ebd. Ebd., S. 122. Ebd., S. 114. Scorsese 2014. The Irishman, R: Martin Scorsese, USA 2019. Fritz 2014. Koepnick 2012, S. 117f. Ebd., S. 121. U. a. mit Bezug auf Kelly Reichardts Film Wendy and Lucy (USA 2008) plädierte der Cheffilmkritiker der New York Times, Anthony Oliver Scott, angesichts der Wirtschaftskrise für filmischen Realismus (Scott 2009). Lenny Abrahamson gilt als „Irish Realist“; zu seinem Film Garage (Irland 2007) siehe Monahan 2008. Zu den Gebrüdern Dardenne siehe Mohr 2012.

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Farbtafeln

Farbtafeln

I  Einzelbild aus La grande bellezza, Detail (R: Paolo Sorrentino, Italien/Frankreich 2013, 6:25/2:13:19), mit freundlicher Genehmigung von Indigo Film.

II  Einzelbild aus La grande bellezza, Detail (R: Paolo Sorrentino, Italien/Frankreich 2013, 2:11/2:13:19), mit freundlicher Genehmigung von Indigo Film.

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Farbtafeln

III  Einzelbild aus La grande bellezza, Detail (R: Paolo Sorrentino, Italien/Frankreich 2013, 52:03/2:13:19), mit freundlicher Genehmigung von Indigo Film.

IV  Einzelbild aus La grande bellezza, Detail (R: Paolo Sorrentino, Italien/Frankreich 2013, 1:29:41/2:13:19), mit freundlicher Genehmigung von Indigo Film.

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Farbtafeln

V  James Tissot, The Milliner’s Shop, 1883–1885, Öl auf Leinwand, 146,1 × 101,6 cm, Art Gallery of Ontario, Toronto.

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VI  Karl Hofer, Arbeitslose, 1932, Öl auf Leinwand, 167 × 172 cm © Bildrecht, Wien 2021.

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Farbtafeln

VII  Edward Hopper, New York Movie, 1939, Öl auf Leinwand, 81,9 × 101,9 cm, Museum of Modern Art, New York (Objektnr. 396.1941).

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Farbtafeln

VIII  Edward Hopper, The Sheridan Theater, 1937, Öl auf Leinwand, 43,5 × 64,1 cm, The Newark Museum, Newark, New Jersey.

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Farbtafeln

IX  Edward Hopper, The Circle Theater, 1936, Öl auf Leinwand, 68,58 × 91,44 cm, Privatsammlung.

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Farbtafeln

X  Columbus Circle, ca. 1916, Postkarte verlegt von Leighton and Valentine Co., New York, 8,89 × 14 cm, Museum of the City of New York, Inv.-Nr.: X2011.34.2393 (mit Markierung des „Circle Theater“).

XI  U-Bahn-Kioske der Interborough Rapid Transit Company, New York, ca. 1905, Postkarte, 9 × 14 cm.

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Farbtafeln

XII  Mike Stilkey, Installation (Book Sculpture), 2016, New York, IPIC-Kino, Fulton Market Building, Foto: Bernhard Kastner 2019.

XIII  Lunapark in Berlin-Halensee, Ansichtskarte, ca. 1910, 9 × 13,9 cm.

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Farbtafeln

XIV  Carl Spitzweg, Der Sonntagsspaziergang, ca. 1841, Öl auf Holz, 28 × 34 cm, Salzburg, Salzburg Museum, Inv.-Nr. 3/31.

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Farbtafeln

XV  Die Rivels bei ihrer Clownnummer Eine Brücke – eine Brücke!, ca. 1935, Zigarettensammelbildchen, 5 × 6 cm.

XVI  Día de Muertos-Parade, Mexico City, 29.10.2016, Fotografie von Joe Giampaoli.

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Farbtafeln

XVII  Werbeaufsteller zu Coco (R: Lee Unkrich, Adrian Molina, USA 2017), fotografiert von Limwongse Sarunyu in Bangkok.

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A Verzeichnisse und Abbildungsnachweis

A.1 Abkürzungsverzeichnis a. M. a. N. Abb. Anm. Anon. Aufl. Bd. bearb. bzw. C. V.

am Main am Neckar Abbildung Anmerkung Anonym Auflage Band bearbeitet[e] beziehungsweise Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens ca. circa d. h. das heißt d. i. das ist ders. derselbe dies. dieselbe DLA Deutsches Literaturarchiv Marbach erg. ergänzt(e) erw. erweitert(e) et al. et alii f. und die folgende Seite ff. und die folgenden Seiten FN Fußnote FZ Frankfurter Zeitung H. Heft Hgg. HerausgeberInnen Hrsg. HerausgeberIn hrsg. (v.) herausgegeben (von) Hvh. Hervorhebung IfS Institut für Sozialforschung Jg. Jahrgang Jh. Jahrhundert Kap. Kapitel km Kilometer KPD Kommunistische Partei Deutschlands KZ Konzentrationslager

LeMO Lebendiges Museum Online Mass. Massachusetts Mio. Million/en MoMA Museum of Modern Art m. W. meines Wissens Nr. Nummer NY New York o. Ä. oder Ähnliches o. D. ohne Datum o. g. oben genannt(en) o. J. ohne Jahr o. S. ohne Seitenangabe(n) o. T. ohne Titel OT Originaltitel R Regie Red. Redaktion rev. revidierte s. siehe S. Seite SDK Stiftung Deutsche Kinemathek Sp. Spalte Taf. Tafel u. und u. a. und andere(s) u. v. m. und viel mehr UA Uraufführung Ufa Universum Film AG UNESCO United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization USA United States of America USD US-Dollar vgl. vergleiche v. von vllt. vielleicht vs. versus z. B. zum Beispiel

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A Verzeichnisse und Abbildungsnachweis

A.2 Literaturverzeichnis A.2.1 Kurzsiglen für Briefwechsel und Werkausgaben AKB Theodor W. Adorno, Siegfried Kracauer, Briefwechsel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. SKS 1  Siegfried Kracauer, Schriften, Bd. 1: Soziologie als Wissenschaft. Der DetektivRoman. Die Angestellten, hrsg. v. Karsten Witte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971. SKS 2  Siegfried Kracauer, Schriften, Bd. 2: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, hrsg. v. Karsten Witte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979. SKS 3  Siegfried Kracauer, Schriften, Bd. 3: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, hrsg. v. Karsten Witte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973. SKS 4  Siegfried Kracauer, Schriften, Bd. 4: Geschichte – Vor den letzten Dingen, hrsg. v. Karsten Witte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971. SKS 5  Siegfried Kracauer, Schriften, Bd. 5: Aufsätze, 3 Teilbände (I: 1915–1926; II: 1927– 1931; III: 1932–1965), hrsg. v. Inka-Mülder-Bach, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990. SKS 7  Siegfried Kracauer, Schriften, Bd. 7: Ginster – Georg, hrsg. v. Karsten Witte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973. SKS 8  Siegfried Kracauer, Schriften, Bd. 8: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Eine Gesellschaftsbiographie, hrsg. v. Karsten Witte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976. SKW 1  Siegfried Kracauer, Werke, hrsg. v. Inka Mülder-Bach u. Ingrid Belke, Bd. 1: Soziologie als Wissenschaft. Der Detektiv-Roman. Die Angestellten, hrsg. v. Inka Mülder-Bach unter Mitarbeit v. Mirjam Wenzel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006. SKW 2.1  Siegfried Kracauer, Werke, hrsg. v. Inka Mülder-Bach u. Ingrid Belke, Bd. 2.1: Von Caligari zu Hitler, hrsg. v. Sabine Biebl, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2011. SKW 2.2  Siegfried Kracauer, Werke, hrsg. v. Inka Mülder-Bach u. Ingrid Belke, Bd. 2.2: Studien zu Massenmedien und Propaganda, hrsg. v. Christian Fleck u. Bernd Stiegler unter Mitarbeit v. Joachim Heck u. Maren Neumann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012.

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SKW 3  Siegfried Kracauer, Werke, hrsg. v. Inka Mülder-Bach u. Ingrid Belke, Bd. 3: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Mit einem Anhang Marseiller Entwurf zu einer Theorie des Films, hrsg. v. Inka Mülder-Bach unter Mitarbeit v. Sabine Biebl, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. SKW 4  Siegfried Kracauer, Werke, hrsg. v. Inka Mülder-Bach u. Ingrid Belke, Bd. 4: Geschichte – Vor den letzten Dingen, hrsg. v. Ingrid Belke unter Mitarbeit v. Sabine Biebl, Frankfurt a. M. 2009 SKW 5:1–4  Siegfried Kracauer, Werke, hrsg. v. Inka Mülder-Bach u. Ingrid Belke, Bd. 5.1–4: Essays, Feuilletons, Rezensionen, hrsg. v. Inka Mülder-Bach unter Mitarbeit v. Sabine Biebl, Andrea Erwig, Vera Bachmann u. Stephanie Manske, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2011. SKW 6:1–3  Siegfried Kracauer, Werke, hrsg. v. Inka Mülder-Bach u. Ingrid Belke, Bd. 6.1–3: Kleine Schriften zum Film, hrsg. v. Inka Mülder Bach unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel u. Sabine Biebl, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. SKW 7  Siegfried Kracauer, Werke, hrsg. v. Inka Mülder-Bach u. Ingrid Belke, Bd. 7: Romane und Erzählungen, hrsg. v. Inka Mülder-Bach unter Mitarbeit von Sabine Biebl, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. SKW 8  Siegfried Kracauer, Werke, Bd. 8: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, hrsg. v. Ingrid Belke, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. SKW 9  Siegfried Kracauer, Werke, hrsg. v. Inka Mülder-Bach u. Ingrid Belke, Bd. 9: Frühe Schriften aus dem Nachlaß, 2 Teilbde., hrsg. v. Ingrid Belke unter Mitarbeit v. Sabine Biebl, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. WBS 2  Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II (in zwei Teilbänden), hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977.

A.2 Literaturverzeichnis

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Siegfried Kracauer, Brief an Gavin Lambert (British Film Institute), 28.7.1952 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA). Siegfried Kracauer, Brief an Wolfgang Weyrauch, 4.6.1962 (Nachlass Siegfried Kracauer, DLA). Siegfried Kracauer, Exposé. Vorschläge, in Filmen wirklich Neues zu schaffen. Motive, Gags, Ideen, ca. 1941, 4 Bl., davon 2 Bl. Durchschl. 72.3585 / Kasten 744 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA). Siegfried Kracauer, Plan pour un numéro CINEMA de „Micromé gas“[sic], ca. September 1938, MPF A: Kracauer – S. Kracauer – Prosa – Versch. Konvolute – Teil 1 – Fiche-Nr. 005575 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA). Siegfried Kracauer, Proposition relative á la fondation d’un institut scientifique de la presse, Mai 1933, DLA Marbach (MicroficheNr. 005605). Richard Lahey, Artists I Have Known: Edward Hopper, o. D. (Archives of American Art, Smithsonian Institution, Richard Lahey Papers, Mikrofilmrolle 378, Bild 970 ff. (15 Seiten). Materialien zu Die Straße (1923), Bundesarchiv, FILMSG1/16152 „Die Straße“. Jean Renoir, Brief an Siegfried Kracauer, 27.4.1933 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA). Jean Renoir, Brief an Siegfried Kracauer, 1937 (Nachlass Siegfried Kracauer/DLA).

A.2.3 Weitere Literaturangaben A. [Kürzel] 1925  A. [Kürzel], Baufieber in Berlin, in: Neues Berliner Journal, 6.11.1925, S. 7. Ackermann 2016  Gregor Ackermann, Walter Hasenclever. Einige Hinweise zur Überlieferung seiner Werke, JUNI ONLINES, Nr. 1, Mönchengladbach 2016, http://www.junimagazin.de/wp-content/uploads/2016/07/JUNIONLINES-1-Gregor-Ackermann-HasencleverBibErg-2016.pdf (Abruf 29.4.2019). Adams 2015  Nathaniel Adams, A Return to the Wonder Years, in: New York Times (New YorkAusgabe), 18.1.2015, S. MB1. Adorno 1928  Theodor W. Adorno, Schubert, in: Die Musik, Erster Halbjahresband, H. 1, XXI. Jg., Oktober 1928, S. 1–12.

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A Verzeichnisse und Abbildungsnachweis

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Intolerance, R: David W. Griffith, USA 1916. Von morgens bis mitternachts, R: Karlheinz Martin, Deutschland 1920. Münchener Bilderbogen, von Möve-Film produzierte Serie, Deutschland 1920–1923. Jane Eyre, R: Hugo Ballin, USA 1921. Die kleine Midinette, R: Wolfgang Neff, Deutschland 1921. Only a Shop Girl, R: Edward LeSaint, USA 1922. 1000:1 = Harold Lloyd [Why worry?], R: Fred C. Newmeyer, Sam Taylor, USA 1923.

A.2 Literaturverzeichnis

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Ich bei Tag, du bei Nacht, R: Ludwig Berger, Deutschland 1932. Poil de carotte, R: Julien Duvivier, Frankreich 1932. Eisenstein in Mexico, R: Sergei M. Eisenstein, bearb. von Sol Lesser, USA 1933. Hitlerjunge Quex. Ein Film vom Opfergeist der deutschen Jugend, R: Hans Steinhoff, Deutschland 1933. Thunder over Mexico, R: Sergei M. Eisenstein, bearb. von Sol Lesser, USA 1933. Zéro de conduite, R: Jean Vigo, Frankreich 1933. Death Day, R: Sergei M. Eisenstein, bearbeitet von Sol Lesser, USA 1934. It Happened One Night, R: Frank Capra, USA 1934. The Good Fairy, R: William Wyler, USA 1935. Deržis’, Karluša! [Karl Brunner], R: Aleksej Masljukov, UDSSR (Ukraine) 1936. Go West Young Man, R: Henry Hathaway, USA 1936. Modern Times, R: Charlie Chaplin, USA 1936. Une partie de campagne, R: Jean Renoir, Frankreich 1936. Der Mann, der Sherlock Holmes war, R: Karl Hartl, Deutschland 1937. Time in the Sun, R: Sergei M. Eisenstein, bearb. von Marie Seton, USA 1940. Dumbo, R: Ben Sharpsteen, USA 1941. Mexican Symphony, R: Sergei M. Eisenstein, bearb. von Bell & Howell Company, USA 1941. Special Film Project 186, United States Army Air Forces (USAAF), Juli 1945 (Washington, National Archive). Dreams That Money Can’t Buy, R: Hans Richter, USA 1947. Que viva México, R: Sergei Eisenstein, bearb.von Kenneth Anger, Frankreich 1950. Eisenstein’s Mexican Film. Episodes for Study, R: Sergei M. Eisenstein, bearb. von Paul Leyda, USA 1958. La dolce vita, R: Federico Fellini, Italien/Frankreich 1960. La notte, R: Michelangelo Antonioni, Italien/ Frankreich 1961. C’era una volta il West [Spiel mir das Lied vom Tod], R: Sergio Leone, Italien/USA 1968. Roma, R: Federico Fellini, Italien/Frankreich 1972. Karlchen, durchhalten! R: Siegfried Hartmann, DDR 1979. Que viva México – es lebe Mexico! [Да здравствует Мексика!], R: Sergei M. Eisenstein, bearb. v. Grigori Alexandrow, Russland 1979. Traffic, R: Steven Soderbergh, USA 2000. Bridget Jones Diary, R: Sharon Maguire, Großbritannien/Irland/Frankreich 2001.

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A Verzeichnisse und Abbildungsnachweis

The Incredibles, R: Brad Bird, USA 2004. Garage, R: Lenny Abrahamson, Irland 2007. La Leyenda de la Nahuala, R: Ricardo Arnaiz, Mexiko 2007. Wendy and Lucy, R: Kelly Reichardt, USA 2008. Les tribulations d’une caissiére, R: Pierre Rambaldi, Frankreich 2011. Kauwboy, R: Boudewijn Koole, Niederlande 2012. The Paradise, 16 Episoden in 2 Staffeln, R: Davis Drury et al., UK 2012–2013. The Counselor, R: Ridley Scott, USA 2013. La grande bellezza, R: Paolo Sorrentino, Italien/ Frankreich 2013. Making of „Sounds of Nature“, R: Voltafilm (Corina Schwingruber, Antonia Meile, Matthias Dietiker), Schweiz 2013.

Sounds of Nature, R: Simon Weber, Schweiz 2013. Mr Selfridge, 40 Episoden in 4 Staffeln, R: Jon Jones, UK 2013–2016. The Book of Life, R: Jorge R. Gutierrez, USA 2014. Boyhood, R: Richard Linklater, USA 2014. Galerías Velvet, 55 Episoden in 4 Staffeln, R: Carlos Sedes/David Pinillos, Spanien 2014–2016. Sicario, R: Denis Villeneuve, USA 2015. Spectre, R: Sam Mendes, Großbritannien 2015. Coco, R: Lee Unkrich, Adrian Molina, USA 2017. The Florida Project, R: Sean Baker, USA 2017. Ladies in Black, R: Bruce Beresford, Australien 2018. Día de Muertos, R: Carlos Gutiérrez, Mexiko 2019. The Irishman, R: Martin Scorsese, USA 2019.

A.2.5 Verwendete digitale Rechercheplattformen (in Auswahl) Internet Archive: archive.org (letzter Abruf 7.1.2020). Digitalisierte historische Presse der deutschen Sozialdemokratie der Bibliothek der FriedrichEbert-Stiftung: http://fes.imageware.de/ (letzter Abruf 7.1.2020). Digitalisierter Bestand der historischen österreichischen Zeitungen und Zeitschriften der Österreichischen Nationalbibliothek: anno.onb. ac.at (letzter Abruf 7.1.2020).

Digitalisierung wichtiger deutschsprachiger „Illustrierter Magazine der Klassischen Moderne“: www.arthistoricum.net/themen/ textquellen/illustrierte-magazine-der-klassischenmoderne/ (letzter Abruf 7.1.2020). Media History Digital Library der University of Wisconsin-Madison: lantern.mediahist.org (letzter Abruf 7.1.2020). Portal „Compact Memory“ mit jüdischen Periodika: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm (letzter Abruf 7.1.2020). Zeitungsbereich der Europeana Collections: europeana.eu (letzter Abruf 7.1.2020).

A.3 Abbildungs-, Tafel- und Textnachweis Art Gallery of Ontario, Toronto: Abb. 15 ; Taf. V. Art History, Bd. 41, Nr. 4, S. 747: Abb. 40, Taf. IX. Bayrische Staatsbibliothek, München: Abb. 52. Bernhard Kastner, Wien: Abb. 46–48; Taf. XII. Bildrecht Wien: Abb. 28; Taf. VI. Deutsches Literaturarchiv Marbach: Vordere Cover-Abb., Abb. 34. Filmarchiv Austria, Wien: Abb. 66. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn: Abb. 26. Google Arts and Culture: Abb. 36; Taf. VII. Indigo Film, Rom: Abb. 7–10; Taf. I–IV. Internet Archive, San Francisco: Abb. 2, 4, 5, 31, 32, 44. J. C. S. Universitätsbibliothek Frankfurt a. M., Compact Memory: Abb. 6. Marxists Internet Archive, Kalifornien: Abb. 18.

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Museum of the City of New York, New York, Collections Portal: Abb. 42; Taf. X. Preußischer Kulturbesitz, Berlin (IberoAmerikanisches Institut): Abb. 65. Salzburg Museum, Salzburg: Abb. 59; Taf. XIV. Sambourne House, London: Abb. 17. Shutterstock, New York: Abb. 69, 70; Taf. XVI–XVII. Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin: Abb. 1, 3. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.: Anhang B.2 Viola Rühse, Wien: Abb. 11–14, 16, 19, 20, 21–25, 29–30, 35–37, 40, 42, 43, 49–51, 53–58, 60–64, 67, 68; Taf. XI, XIII; XV. Walter-Ballhause-Archiv, Plauen: Abb. 27, 33, 45. Wikimedia Commons, San Francisco: Abb. 35, 38–39; Taf. VII.

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B.1 „Paul ist leichtsinnig…“1 von Erich Preuße Der Kassierer ruft Paul auf und zahlt ihm 50 Mark aus. Paul nimmt das Geld vorsichtig in Empfang, er greift mit beiden Händen danach, die vor dem Kassenschalter Wartenden gucken gierig zu… 50 Mark! Es sind zwei Zwanzigmarkscheine und zwei Fünfmarkstücke. Paul glättet die Scheine und steckt sie mit den Münzen in die Westentasche. Er nimmt zitternd das Geld wieder heraus, fühlt nach, ob die Tasche heil ist und versenkt sein Kapital in die andere Westentasche. Er geht die Treppe hinunter und fühlt nochmals nach, ob das Geld nicht verschwunden ist. Er nimmt es hervor, knüllt die Scheine zusammen und verbirgt, Schein und Münzen in der geballten Faust haltend, alles in der Hosentasche. 50 Mark sind für Paul ein Vermögen. Mit 50 Mark muss Paul einen Monat haushalten, Miete, Essen und alles, was zum Lebensunterhalt benötigt wird, davon bestreiten. Diese 50 Mark zahlt ihm das Wohlfahrtsamt: 39 Markt Richtsatz und 11 Markt Mietzuschuß. Wenn er seine 50 Mark verlöre oder wenn sie ihm gestohlen würden, dann wäre Paul erledigt: er könnte stehlen oder betteln gehen. Seltsam, wie ein Mensch sich ändert, sowie er Geld hat! Ist das noch der gedrückte, verschüchterte Paul, der vor kurzem mit vielen anderen von Sorge und Elend gezeichneten Menschen in dem ein wenig nach Karbol riechenden, nüchternen Flur des Wohlfahrtsamtes hockte? Sein Benehmen hat sich geändert: er geht stolz aufgerichtet und sieht die Vorübergehenden herausfordernd an: Seht her, ich habe Geld! Seine Faust umspannt die Scheine und seine Finger streicheln liebkosend die fettigen Fünfmarkstücke […]. Er lässt sich im Strom des Fußgängerverkehrs willenlos treiben, er hat Zeit. […] Dann schlendert er die Münzstraße entlang. Ein Publikum, bestehend aus Leuten mit Wochenbärten und eingefallenen Wangen, in zerlumpte Kleider gehüllt, Einkäufe machenden Hausfrauen, Zuhältern, Strichmädchen, eiligen Geschäftsreisenden und dienstfreien Beamten

1

Der Text folgt dem Abdruck in der Zeitung „Vorwärts“ vom 23.8.1931 (Preuße 1931). Nähere Informationen zu dem Feuilletonartikel finden sich in Kapitel IV dieser Arbeit.

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flutet auf Paul zu. Vor den Kinos stehen Ausrufer und kündigen den Beginn einer neuen Vorstellung an. Paul bleibt stehen. Er ist des Herumlaufens müde […]. Paul betritt ein Kino. Irgendwelche Sensationsfilme werden vorgeführt. Der lange, niedrige Zuschauerraum mit den unbequemen Holzbänken ist überfüllt. Die wenigen Ventilatoren bemühen sich vergeblich, die dumpfe, von billigem Parfüm und menschlichen Ausdünstungen durchsetzte Luft zu erneuern. Auf den Holzbänken sitzt, an den Wänden lehnt das merkwürdigste Publikum der Welt: schlafende Vagabunden, zärtliche Liebespaare, Dirnen, Zuhälter, Verbrecher – Leute, die nichts anderes zu tun haben, als im Kino zu sitzen. Der Vorführungsapparat summt, die Leinwand flimmert, daß einem beim Hinsehen die Augen zu schmerzen beginnen, der Musikapparat stampft alle Schlager. Wenn der Held auf der Lein[w]and einen gefährlichen Kampf zu bestehen hat und die wenigen Zuschauer, die ihre Aufmerksamkeit den Bildern zuwenden, vor Erregung auf den Sitzen hin- und herrutschen, dann spielt der Leierkasten höchst gemütlich: „Wenn ich die blonde Inge – nach Hause bringe…“ Von Zeit zu Zeit ertönt ein Glockenzeichen. Das ist das Signal für Schläfer und Liebesleute, hoch- und auseinanderzufahren. Das Licht flammt auf. Ein Eisverkäufer brüllt seine Ware aus. Sitzplätze werden frei, werden gestürmt. Abblendender Vorführungsapparat surrt, der Leierkasten trommelt. Die Filme sind uralt, blödester Kitsch. Aber die Besucher bewundern die Filmhelden, die das Leben meistern, Geld und Liebe erobern –, Dinge, die das Leben erst lebenswert machen. Es ist sehr heiß. Der Schweiß rinnt in Strömen von den Körpern. Aber die Menschen verschaffen sich hier eine Illusion des Glücks, das sie wahrscheinlich nie heimsuchen wird. – – Paul geht. Seine Augen blinzeln in dem auf ihn einflutenden Tageslicht. Der Verkehr brandet hoch, die Busse brummen und lassen Qualmschwaden hinter sich, die Taxen flitzen[,] die Straßenbahnen kreischen in den Kurven. Paul geht langsam heimwärts. Du bist leichtsinnig gewesen, denkt Paul und überrechnet die heutigen Ausgaben. Er hat genau 3 Mark ausgegeben. Von diesen ihm verbliebenen 47 Mark muss er 30 Mark Zimmermiete zahlen. Mit 17 Mark muss er 29 Tage haushalten. 29 Tage Alltag mit Schmalzstullen, die den Leib aufblähen, aber nicht sättigen, und hin und wieder eine Mittagsmahlzeit in der Volksküche… Kaum dass sich ein Päckchen billiger Tabak erübrigen lässt… Rasierseife und Zahnkreme sind auch alle, rechnet Paul. Und er denkt mit Grauen an die kommenden 29 Abende. Die Luft wird schwül sein, das Blut von Sehnsucht vergiftet, von Sehnsucht nach einem unerhörten Ereignis wird Paul von peinigender Unruhe getrieben im Hain umherstreifen… Oder er wird sich im Bett wälzen, ohne Schlaf zu finden… Und die letzten Tage wird er wieder nichts zu beißen haben, und eine brennende Wut auf alles und alle wird ihn beherrschen. Und dann wird der Zahltag kommen, an dem Paul sich reich fühlt und wieder „leichtsinnig“ sein wird, – für einen Tag…

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B.2 „Dimanche [Sonntag]“ von Siegfried Kracauer

B.2 „Dimanche [Sonntag]“ von Siegfried Kracauer Ideen-Entwurf zu einem Kurzfilm Einleitender Teil: Blick ins Wohnzimmer einer bürgerlichen Wohnung. Man sieht eine Familie, die zum Sonntagsnachmittag-Spaziergang aufbricht. Vater und Mutter in kleinbürgerlichem Putz. Es muß dafür gesorgt werden, daß sich die karierten Hosenbeine des Vaters und der Rock der Mutter einprägen. Während das Kind gerade fertig angezogen wird, spielt es mit einem Wollhund. Anwesend ist auch die Großmutter, eine gütige Märchenfigur, die in ihrem Lehnstuhl thront. „Verabschiede Dich von der Großmutter,“ sagt der Vater ungeduldig. Das Kind klettert der Großmutter auf den Schoß und küßt sie. Im selben Augenblick ereignet sich die Verwandlung

Sie besteht darin, daß fortan alles aus der Perspektive des Kindes aufgenommen wird. Der Lehnstuhl wächst, die Großmutter wird immer größer und winkt langsam dem Kind nach, das über die Treppenstufen abwärts geht.

Haupt-Teil: Im Haupt-Teil wird die Sonntagsnachmittag-Partie so gezeigt, wie das Kind sie erlebt. Sie setzt sich aus einer Reihe teils furchtbarer, teils herrlicher Abenteuer zusammen, die natürlich vom Standpunkt der Erwachsenen aus gar keine Abenteuer sind, sondern nur dem Kind so erscheinen. Der Film gibt nun die Eindrücke des Kindes wieder, bildet die kindlichen Vorstellungen genau ab.

Die Handlung verläuft wie folgt: 1. Omnibusfahrt: Bébé – es handelt sich um einen drei- bis höchstens vierjährigen Jungen – hat nur Sinn für den Schaffner, der mit seinen blinkenden Knöpfen wie ein guter Weihnachtmann aussieht. Der Weihnachtsmann verzieht sein Gesicht zu einem breiten, großartigen Lachen, das immer stehen bleibt. Das Kind folgt ihm aufgeregt mit den Blicken, klatscht entzückt in die Hände, sobald er in der Nähe auftaucht und will andauernd nach seiner Billettasche greifen, in der es Pfeffernüsse und dergleichen vermutet. Der Omnibus rattert. 2. Hund: Bébé geht in Gesellschaft der väterlichen Hosenbeine und des mütterlichen Rocks über einen Wiesenpfad, entfernt sich aber rasch von seiner Begleitung, um auf eigene Faust weiterzutrippeln. Plötzlich steht ein Hund vor ihm, den es für seinen Wollhund hält und strahlend begrüßt. Der Hund, der nicht gewaltig genug dargestellt werden kann,

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B Weitere Anhänge

bewillkommnet Bébé mit lautem Gebell. Das Kind, an solche Geräusche nicht gewöhnt, glaubt, daß das Bellen böse gemeint sei, erschrickt und flieht in rasender Eile. Der Hund setzt ihm nach – eine Verfolgungsszene, die filmisch ausgebaut werden muß. Zum Glück zeigt sich am Ende die Mutter. 3. Waldcafé: Bébé sitzt vor einem Stück Kuchen, dessen Bewältigung keine geringe Aufgabe ist. Man beobachtet den angespannten Kampf des Kindes mit dem Kuchen, der nie richtig auf den Löffel will. Während Bébé sich plagt, pflegen die Eltern der Unterhaltung. Gelangweilt von ihren Gesprächen, kriecht das Kind unter die Tafel und vergnügt sich zwischen den Tisch- und Menschenbeinen wie in einem wunderbaren Urwald. Nach und nach kommen immer mehr Beine hinzu, die sich komisch bewegen. Wildes Stimmengebraus ertönt über der phantastischen Untertischlandschaft. 4. Gebüsch: Bald hat Bébé von ihr genug und läuft fort, immer weiter, wie auf einer Expedition. Es verliert sich zwischen Baumstämmen. Hinter einem Gebüsch stolpert es über eine Wurzel oder über einen Stein, fällt hin und blickt unwillkürlich in die Höhe. Oben sitzen Vögel auf den Ästen und singen. Die Umgebung verzaubert das Kind. Riesige Blätter rauschen ringsum, und auf dem Boden kriechen lauter Käfer. Wie schön ist die Welt. Aber wehe, ein gefährlicher Käfer mit Zangen krabbelt heran und setzt sich auf Bébés Finger. Ein Untier. In der Meinung, daß das Geschöpf beißen wolle, läuft das Kind mit vorgestrecktem Arm zurück. 5. Die Gesellschaft: Es findet seine Eltern in einer Gruppe erwachsener Personen, die es alle zu trösten versuchen. Die Erwachsenen müssen komisch geschildert werden. Nicht so, als ob das Kind sie komisch fände, aber es sieht doch lauter drollige Züge und Dinge. Wie der eine Onkel wichtig tut, wie ein anderer Onkel kuriose Laute ausstößt, wie die Brosche einer Tante wackelt, sobald diese in regelmäßigen Abständen trocken hustet: das alles wirkt lächerlich. Schließlich stehen sämtliche Personen, denkmalshaft im Kreis angeordnet, um Bébé herum und bewundern es. Aber Bébé denkt noch an den Käfer und hat gar keine Lust, sich mit den Erwachsenen gemein zu machen. 6. Karussell: Zur Entschädigung für die erlittene Unbill darf es Karussell fahren. Schöne gesattelte Pferde harren seiner. Es reitet unter faszinierender Drehorgelmusik davon und vergißt alles um sich her vor Abenteuerlust. Mitten in die Landschaften seiner kolorierten Kinderbücher reitet es hinein. Manchmal hat es die Vision von Vater und Mutter, aber diese bleiben dann regelmäßig zurück, und es will sie auch gar nicht sehen. Zu seiner grenzenlosen Verwunderung erwarten sie es dann doch am Ziel der Reise. Bébé ist noch völlig konfus von den unerhörten Eindrücken, die es gehabt hat. 7. Streit. Nach Hause: In seiner Verwirrung beobachtet es, daß ein Fremder, irgend ein Onkel, auf seinen Vater zugeht, ganz zornig oder doch laut mit ihm spricht und ihn schlägt. Es möchte den Angreifer abwehren, es weint… „Das Kind ist müde,“ sagt die Mutter in die Höhe. Regenwasser klatscht nieder. Alles zieht die Mäntel an, öffnet die Schirme und eilt zum Omnibus. Bébé wird auf den Arm genommen und in einer Kapuze geborgen. Dunkel. Rattern, aus dem undeutlich der Weihnachtsmann auftaucht. Treppenstufen wie Gebirge. Das freundlich glänzende Zimmer zu Hause.

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B.2 „Dimanche [Sonntag]“ von Siegfried Kracauer

Verwandlung

Schluß-Teil: Das Zimmer verkleinert sich und alles erscheint wieder in normaler Einstellung. Im Zimmer sitzen Vater, Mutter und die Großmutter. Diese fragt aus dem Lehnstuhl heraus, wie der Spaziergang verlaufen sei. Der Vater beginnt zu erzählen. Und nun gleiten die im Haupt-Teil vorgeführten Szenen noch einmal vorbei; aber diesmal aus der Perspektive der Erwachsenen. Der Witz besteht in der Korrektur der Vorstellungen des Kindes. Was diesem als Abenteuer entgegentrat, entpuppt sich als ein alltägliches Geschehen; was es je jauchzend oder weinend erfuhr, wird von den Erwachsenen überhaupt nicht bemerkt oder bagatellisiert. Prinzip: Die Wiederholung des Spazierganges muß wie die Auflösung der Bilderrätsel des Haupt-Teiles wirken.

Man sieht: der Omnibusschaffner, ein gleichgültiger Mann, lächelt das Kind flüchtig an. Der Hund bellt aus Freude über das Kind. Die Kuchenportion ist in Wahrheit schlecht und klein. Die Unterhaltung über dem Tisch, die unter dem Tisch so aufgeregt klingt, ist ganz fad. Das Kind, das hinter dem Tisch außer Sehweite zu sein wähnt, wird vom Tisch aus fortwährend beobachtet. Die Erwachsenen, die sich zu den Eltern gesellen, sind in Wirklichkeit lauter harmlose Leute wie auf Familienporträts. Während das Karussell fährt, macht das Kind starre, unbeteiligte Augen. Der fremde Mann, den Bébé vertreiben will, ist ein alter Bekannter des Vaters und klopft diesem freundschaftlich auf die Schulter. Und so weiter. Nach der Erzählung gehen die Eltern und die Großmutter auf den Zehenspitzen noch einmal ins Kinderzimmer und beugen sich zärtlich über das schlafende Kind, das seinen Wollhund im Ärmchen hält.

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Register

A Abbot, John E.  226 Abetz, Otto  197 m. FN 62, 264 Abrahams, Israel  52 m. FN 161 Abrahamson, Lenny  270 m. FN 42 Adorno, Theodor Wiesengrund  13 m. FN 22, 14, 20 m. FN 67, 42, 49, 66 m. FN 6, 80 m. FN 111, 81, 86, 87, 124, 127, 145 m. FN 238, 150, 153, 155, 189, 210, 212 m. FN 136, 222, 240, 241 m. FN 119, 260 Agard, Olivier  14 m. FN 28, 15 m. FN 37 Ahrens, Jörn  15 m. FN 39, 29 m. FN 17 Albers, Hans  140–142 m. FN 219, 149f.

Alcaraz, Lalo  249 Alexandrow, Grigori  229, 231 Altenloh, Emilie  78, 87, 116 Andersen, Hans Christian  216 Angeles, Jacobo und Maria  250 Anger, Kenneth  230 m. FN 58 Antonioni, Michelangelo  60 m. FN 210 Aragón Leiva, Agustín  229 m. FN 50 Archibald, W. Peter  185 Arnaiz, Ricardo  247 m. FN 157 Arnheim, Rudolf  16 m. FN 43, 224

B Baader, Franz von  48 m. FN 134 Bab, Julius  56 Badger, Clarence G.  77 m. FN 92 Baker, Sean  191 m. FN 27 Balázs, Béla  20, 22, 24, 46 m. FN 114, 51, 95 m. FN 206, 188 m. FN 4, 194 m. FN 46, 199f. m. FN 72f. u. FN 75, 203, 209, 213, 224, 228, 257f., 264 Ballhause, Walter  136 m. FN 196, 146f., 178f. Ballin, Hugo  176 Balogh, Eva  162 m. FN 341 Baluschek, Hans  129 m. FN 158 Balzac, Honoré de  218 m. FN 167 Band, Henri  14 m. FN 28 Bargmann, Tobias  52 m. FN 162 u. 165, 55 m. FN 183 Bartholomew, Freddie  215 m. FN 153 Bartsch, Rudolf Hans  86 Baudry, Jean-Louis  21

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Baumann, Stephanie  15, 228 m. FN 47 Bazin, André  13 m. FN 18 Beauvoir, Simone du  235 m. FN 77 Beckmann, Max  48 Beethoven, Ludwig van  222 m. FN 192 Belke, Ingrid  14 Benjamin, Walter  14 m. FN 25 u. 28, 16, 20, 24, 66, 70, 73, 126f., 145, 155f., 158, 194f. mit FN 49 u. 52, 196, 206, 209 mit FN 115, 226 m. FN 27, 239–241, 243, 260, 264, 266 Beresford, Bruce  101 Berger, Ludwig  99 Berlusconi, Silvio  60, 63f. Berté, Heinrich  86 m. FN 155 Beyse, Jochen  20 m. FN 69 Biebl, Sabine  15f. m. FN 39, 92 m. FN 185, 228 m. FN 45 Biemel, Richard  25 m. FN 93, 226 m. FN 22 Bird, Brad  249 m. FN 170, 267 m. FN 29

Register

Bischoff, Max  109 m. FN 17 Blass, Ernst  124 Bloch, Ernst  16 m. FN 48, 20, 29 m. FN 17, 42, 72f. m. FN 59, 80 m. FN 108, 127, 154, 157, 262, 268 Boccioni, Umberto  32 Bonnaire, Claude  188 m. FN 7 Bow, Clara  76f. Brassaï (Halász, Gyula)  158

Brecht, Bertolt  188 m. FN 4, 235 Breidecker, Volker  244 m. FN 138, 256 m. FN 4 Breitenwischer, Dustin  19 m. FN 63, 161f. Bremer, Max  109 m. FN 19 Brentano, Bernard von  107, 122 m. FN 107 Brock, Bazon  116 m. FN 56 Brück, Christa Anita  99 m. FN 232 Bruck, Mani  156 m. FN 313 Buber, Martin  30, 54, 57, 72, 258

C Calles, Plutarco Elías  235 Canal, Jackie-Georges  101 m. FN 248 Capra, Frank  159 m. FN 327 Carné, Marcel  214 Caroll, Noël  269 m. FN 37 Cassirer, Bruno  135 m. FN 192, 145 m. FN 244 Cassirer, Ernst  212 m. FN 136 Chaplin, Charlie  69, 242 Chavenaugh, Charles  170

Chodowiecki, Daniel  144 Claudet, Antoine  21 Colbert, Claudette  159 Colet, Louise  61 m. FN 213 Cooper, Jackie  215 m. FN 153 Costello, Dolores  238 Courths-Mahler, Hedwig  95 Crosby, Floyd  97

D Dagistur, Sabu  215 m. FN 153 Dardenne, Jean-Pierre und Luc  102, 270 Daudet, Alphonse  188 Davison Avilés, Marcela  249 Debruge, Peter  252 Delacroix, Eugène  22 m. FN 81 Díaz, Porfirio  229 Diederichs, Helmut H.  79f., 83 Dienemann, Max  54 Dietiker, Matthias  219 m. FN 175 Disney, Walt  248

Döblin, Alfred  95, 129, 157 Dogramaci, Burcu  32 m. FN 36 Douglas, William Archer S.  112 Dreiser, Theodore  167 m. FN 368 Drury, Davis  101 m. FN 243 Dumas, Anthony F.  171f. m. FN 383 u. 385 Duncker, Wolfgang (genannt Mersus)  84, 260 Durbin, Deanna  215 m. FN 153 Dürer, Albrecht  145 Duvivier, Julien  214 m. FN 151

E e. o. plauen (Ohser, Erich)  129 m. FN 158 Egede-Nissen, Aud  30 Eggebrecht, Axel  68, 73, 79f. mit FN 109 Ehrenreich, Elisabeth (Lili) siehe Kracauer (-Ehrenreich), Elisabeth (Lili)

Eis, Otto  90 m. FN 177 Eisenstein, Sergei  24f. m. FN 94, 70, 223, 229– 236, 241–246, 248, 252f., 260, 265–267, 269 Emery, Edwin T.  167 Engels, Friedrich  74, 97 m. FN 218, 98

F Fellini, Federico  23, 59–61 m. FN 208, 210 u. 212, 259 Feuillade, Louis  205f. m. FN 99, 213 Flaubert, Gustave  61 m. FN 213 Fleming, Paul  15 m. FN 39 Fontane, Theodor  206 Forrest, Tara  191 m. FN 26

Foster, Carter E.  164 m. FN 357 Freud, Anna  208 Freud, Sigmund  195 m. FN 52, 239f. Freytag, Gustav  55 Friedrich, Caspar David  64 Froelich, Carl  142 Fürst, Max  145

323

Register

G Gable, Clark  159 Garbo, Greta  83 Garland, Judy  215 m. FN 153 Gaulke, Johannes  22 Gilbert, Robert  99 m. FN 229 Gilloch, Graeme  15 m. FN 37, 20 m. FN 68, 188 m. FN 10, 191 m. FN 26, 208 m. FN 112 Gliese, Rochus  214 Glyn, Elinor  77 m. FN 92 Goebbels, Joseph  197 Goldstein, Julius  52–56

Goll, Claire  95 m. FN 205 Görtz, Claus  207 Gourguet, Jean  214 Greenberg, Clement  269 Greene, Graham  191 m. FN 29 Griffith, D. W. (David Wark)  131 m. FN 161, 230 Grune, Karl  22, 27–47, 59f., 69, 257–259, 268 Günter, Manuela  145 Gutierrez, Carlos  247 Guttmann, Bernhard  153f., 187

H Haas, Willy  31, 46, 258 Haffner, Ernst  135 m. FN 192, 145, 158 Hansen, Miriam Bratu  17, 28, 41, 44 m. FN 102, 67, 87, 228, 236 m. FN 82 Hardy, Oliver (Ollie)  214 Hartl, Karl  141 m. FN 219 Hartmann, Siegfried  199f. m. FN 75 Harun al Raschid  65 m. FN 2, 71 Hasenclever, Walter  131–133 m. FN 163, 158 Hashemi, Hamid  180, 182 Hasselmann, Hans  32 m. FN 34 Hathaway, Henry  165f. Hausenstein, Wilhelm  57 Heinze, Carsten  268f. Hennegay, A. M.  113 m. FN 46 Hensel, Thomas  18 m. FN 60 Henzler, Bettina  191 m. FN 27 Herrigel, Hermann  56

Hesse, Hermann  95 Hessel, Franz  137f., 153 Heymann, Werner Richard  99 m. FN 229 Hirsch, Leo  129, 134 m. FN 180, 149 m. FN 263, 158 Hirsch, Marie  146 Hofer, Karl  136f., 256 Höflich, Lucie  30 Hopper, Edward  19 m. FN 63, 24, 160–177, 262f. Horkheimer, Max  86, 189, 210, 212, 222, 226, 260 Horton, James Madison  172 Hovick, June (“Baby June”)  215 Hugenberg, Alfred  85 m. FN 147 Hughes, Jon  122 m. FN 105 Huyssen, Andreas  251 Hynd, Frederick Stuart  92f. m. FN 188

I Ihering, Herbert  85, 149

Iros, Ernst  224f.

J Jahoda, Marie  137, 146, 262 Jobst, Rudolf  200f.

Jones, Jon  101

K K. Olectiv siehe Bruck, Mani und Kuczynski, Jürgen Kael, Pauline  16 Kaever, Oliver  249 Kafka, Franz  190 Kahlo, Frida  249 Kaiser, Georg  30, 39 Katz, Hanns Ludwig  218 m. FN 167 Kempinski, Moritz und Berthold  127 m. FN 147 Kesten, Hermann  85 Keun, Ingeborg  133 Kierkegaard, Sören  44, 49

324

Klepper, Otto  203 Klöpfer, Eugen  30 Koch, Gertrud  14 m. FN 26, 17 Koepnick, Lutz  269f. Koole, Boudewijn  191 m. FN 27 Korda, Alexander  76 m. FN 91 Korta, Tobias  14 m. FN 28 Korte, Helmut  81 Kracauer(-Ehrenreich), Elisabeth (Lili)  3, 158–160, 217, 218 m. FN 167, 219

Register

Kracauer, Hedwig  54, 226 m. FN 23, 237 m. FN 96 Kracauer, Isidor  54, 56 m. FN 185 Kracauer, Rosette  217 m. FN 165, 226 mit FN 23, 237 m. FN 96 Kracauer, Siegfried  Passim Kracauer, Siegfried - Die Angestellten  65, 78, 83, 85f., 89 m. FN 176, 99f. m. FN 236, 126f. m. FN 137, 152f., 155, 162, 164, 177, 188, 200 m. FN 76, 202, 263 Kracauer, Siegfried - Der Detektiv-Roman  23, 29f., 44, 49f., 56f., 58, 122f., 153, 258 Kracauer, Siegfried - „Filmbild und Prophetenrede“  28f. m. FN 19, 50, 57–59 Kracauer, Siegfried - From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film  12, 16f., 66, 79 m. FN 102, 86, 228 Kracauer, Siegfried - Ginster. Von ihm selbst geschrieben  15, 122 m. FN 106, 145, 154, 205f. Kracauer, Siegfried - Georg  58, 113 m. FN 44, 132, 134, 150, 203, 218, 223 Kracauer, Siegfried - „Der heutige Film und sein Publikum [Film 1928]“  76 m. FN 89, 80f. m. FN 121 Kracauer, Siegfried – „Jacques Offenbach. Motion Picture Treatment“  188, 217 m. FN 164 Kracauer, Siegfried - Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit  11, 188, 223

Kracauer, Siegfried – „Kino in der Münzstraße [Text über das Münzstraßenkino]“  24, 129–160, 178, 212, 268 Kracauer, Siegfried - „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino [Film und Gesellschaft]“  23, 65–104, 151, 259–261, 268 Kracauer, Siegfried - „Der Künstler in dieser Zeit“  23, 27 m. FN 6, 28–30, 39 m. FN 65, 47–59. 257f. Kracauer, Siegfried - „Marseiller Entwurf“ zu einer Theorie des Films  21, 24–25, 223–229, 236–245, 248, 256, 265, 268 Kracauer, Siegfried – „Minimalforderung an die Intellektuellen“  148, 203 Kracauer, Siegfried - „Das Ornament der Masse“  127, 147, 189, 210–212, 264 Kracauer, Siegfried - „Die Photographie“  127, 237–239, 266 Kracauer, Siegfried - Theory of Film. The Redemption of Physical Reality  12f., 16f., 25, 41, 59, 64, 208, 228f., 237, 244f., 265f., 269 Kracauer, Siegfried - „Über Arbeitsnachweise. Konstruktion eines Raumes“  105 m. FN 2, 133, 136 m. FN 193, 140, 148, 154 Kracauer, Siegfried – „Wärmehallen“  133, 146 Kracauer, Siegfried - „Die Wartenden“  23, 29, 42–43, 48, 54f., 258 Krebs, Claudia  14 m. FN 28 Kuczynski, Jürgen siehe K. Olectiv

L La Guardia, Fiorello  174 Lacan, Jacques  21 Lahey, Richard  161 m. FN 335 Laing, Olivia  185 m. FN 443 Lamb, Thomas W.  106, 171 Lamm, Albert  151f., 157 m. FN 315 Lamont, Charles  191f. mit FN 29, 215 m. FN 153 Landauer, Walter  226 m. FN 26 Lang, Fritz  22 Langlois, Henri  225 m. FN 19 Lania, Leo  189, 191, 216f., 264 Laurel, Stan  214 Lazarsfeld, Paul  137, 146, 262 Lenin, Wladimir Iljitsch  71 Leone, Sergio  220 LeSaint, Edward  93 Lesser, Sol  25 m. FN 94, 228–231, 236 m. FN 88, 243, 267 Lessing, Ernst  109 m. FN 19 Lessing, Gotthold Ephraim  56, 269

Lethen, Helmut  15 m. FN 39, 117 m. FN 66 Levin, Thomas Y.  14, 126 Lex(-Nerlinger), Alice  83, 260 Leyda, Jay  244, 266 Leyda, Paul  231 Liebermann, Max  57 Lindemann, Uwe  96 Linklater, Richard  191 Lloyd, Harold  120 Loew, Marcus  170 Loew, Peter Oliver  82 Lofting, Hugh  192 Louv, Richard  221 Löwenthal, Leo  42, 48 m. FN 134 Luhrmann, Baz  60f. m. FN 212 Lukács, Georg  20, 22, 40–42, 44, 46f., 80 m. FN 108, 257f., 269 Lumière, August und Louis  200 m. FN 77 Lundegaard, Erik  104 Luxemburg, Rosa  97f., 261

325

Register

M Macpherson, Kenneth  111, 261 Maguire, Sharon  102 Man, Hendrik de  224 Manet, Édouard  163f. Mann, Thomas  95, 124 Mannheim, Karl  56 m. FN 188 Marquardt, Martha  213 m. FN 143 Marsh, Reginald  161 Marx Brothers (Chico, Groucho, Gummo, Harpo und Zeppo)  97 Marx, Karl  23, 30, 69–74 m. FN 28, 97f., 117, 119, 242, 252, 259, 262 Masljukov, Aleksej  199f. Maupassant, Guy de  216 m. FN 158 Mayer, Carl  30 m. FN 22 McCarthy, John P.  77 Medina, Cruz  251, 253, 267 Meidner, Ludwig  31f. m. FN 34 Meier-Graefe, Julius  218 Mendes, Sam  245

Mersus siehe Wolfgang Duncker Metz, Christian  21 Meyerbeer, Giacomo  116 Michael, Klaus  19, 49 m. FN 141, 74 m. FN 81, 80 m. FN 112, 224 m. FN 8, 225 m. FN 19, 228 m. FN 44 Modenessi, Alfredo Michele  250f. Molière (Jean-Baptiste Poquelin)  115 Molina, Adrian  247–250 Molo, Walter von  95 Moltke, Johannes von  15, 228 m. FN 43 Montefiori, Claude  52 m. FN 161 Moussinac, Léon  224 Mozart, Wolfgang Amadeus  109 Mülder(-Bach), Inka  14, 29 m. FN 19, 44 m. FN 101 u. 106, 72 m. FN 59, 117 m. FN 66, 228 m. FN 45 Murnau, Friedrich Wilhelm  97, 115 Mutter Theresa  63f.

N Nazarro, Ray  191f. m. FN 29, 215 m. FN 153 Neff, Wolfgang  68 m. FN 18, 77 m. FN 93 Neilan, Marshall  238 m. FN 98

Neumeyer, Harald  153 Newmeyer, Fred C.  120 m. FN 92 Nietzsche, Friedrich  124

O Offenbach, Jacques  11, 120f., 217 m. FN 164, 223 Öhner, Vrääth  15 m. FN 39 Olimsky, Fritz  85

Oschmann, Dirk  14 m. FN 28 Oumansky, Alexander  115, 124

P Pál, Hugo  115 m. FN 51 Panofsky, Erwin  244 m. FN 138 Parrish, Robert, Beverly und Helen  215 m. FN 153 Parrott, James  214 Patalas, Enno  86 Perivolaropoulou, Nia  18 m. FN 57, 188 m. FN 13, 189 m. FN 15, 191 m. FN 25, 193 m. FN 40, 202 m. FN 83 Petro, Patrice  67 Petzet, Wolfgang  81f., 260 Piaget, Jean  194f., 264 Pickford, Mary  77 Pinillos, David  101

Pinthus, Kurt  111, 124 m. FN 121 Platthaus, Andreas  249 Poe, Edgar Allan  39 Poelzig, Hans  111 m. FN 37, 115 m. FN 51 Posada, José Guadalupe  232f. Potamkin, Harry Alan  20, 79, 111f. m. FN 38, 119, 123f., 132, 261 Preuße (Preusse), Erich  135, 139, 145f., 151f., 158, 262, 317f. Priwitzer, Jens  188 m. FN 4 Prokop, Dieter  87 Pudowkin, Wsewolod Illarionowitsch  70, 224, 259f.

R Rambaldi, Pierre  23, 101f., 261 Rapée, Ernö  115, 120, 124 Rapp, George  125 Redstone, Shari  183

326

Reeh, Henrik  14 m. FN 28 Reichardt, Kelly  270 Reid, Margaret  96f., 261 Reifenberg, Benno  73, 157

Register

Reiniger, Lotte  192 Relotius, Claas  143 Renoir, Jean  189, 215f., 264 Renz, Irina  14 Resch, Christine  74 m. FN 81, 87, 260 Richardson, Dorothy  110, 131 Richter, Ellen  68 Richter, Hans  188 Rippey, Theodore F.  18 m. FN 57 Rivel, Charlie, Polo und René  208f. Rivera, Diego  229 Robnik, Drehli  15 m. FN 39

Röder, Adam  56 Romano, Luigi  40 Rooney, Mickey  215 m. FN 153 Rosen, Ruth  100 Rosenfeld, Fritz  130 Rosenzweig, Franz  30, 54f., 57, 72, 258 Rosser, Helmut  151f. Roth, Joseph  20, 106f., 119–122, 124f., 188 m. FN4, 193, 213, 256, 262 Rothafel, Samuel „Roxy“  106, 111, 115, 120, 123 Rühmann, Heinz  140–142

S Sabido, Miguel  101 Sam, Anna  23, 101–103, 261 Sambourne, Edward Linley  91 Sartre, Jean-Paul  235 m. FN 77 Schacht, Roland  35 Scheler, Max  49 m. FN 141 Scherret, Felix  82, 88, 260 Schiele, Egon  33 m. FN 37 Schlaffer, Heinz  156, 213 Schönberg, Arnold  49 Schöttker, Detlev  18 m. FN 61 Schubert, Franz  86 Schüfftan, Eugen  227 Schwarz, Hanns  141–143 Scorsese, Martin  270 Scott, Ridley  250 m. FN 177 Sedes, Carlos  101 m. FN 243 Seghers, Anna (d. i. Netty Reiling)  242 m. FN 122 Servillo, Toni  60 Seton, Marie  230f. m. FN 58 Shand, Philip Morton  112, 118 Sharpsteen, Ben  248 Siemsen, Hans  46 Silberman, Robert  166 Simmel, Georg  20, 22, 32 m. FN 36, 41, 116, 123, 257, 262

Simon, Heinrich  59, 73, 187 Sinclair, Mary Craig  229, 230f. Sinclair, Upton  229, 230f. Siodmak, Robert  214 Sloan, John  161 Soderbergh, Steven  250 m. FN 177 Sorrentino, Paolo  23, 60–64, 259, 270 Später, Jörg  15, 29 m. FN 18, 49 m. FN 138, 51 m. FN 151 Spier, Selmar  217 m. FN 165 Spitzweg, Carl  206f. Stahl-Urach, Carl  115 m. FN 51, 120 Stalder, Helmut  14 m. FN 28 Stalin, Josef  199, 229, 235, 243 Stan & Ollie siehe Laurel, Stan u. Hardy, Oliver (Ollie) Stark, Holger  143 Steinhoff, Hans  68 m. FN 19, 98, 197f. Stenbock-Fermor, Alexander  151 Stilkey, Mike  181, 184 Strand, Mark  175 Streiff, Egidius und Hedy  226 Suhr, Susanne  93 m. FN 195, 99 Susman, Margarete  56 m. FN 187, 57

T Talmadge, Constance  238 Taylor, Sam  77 m. FN 92 Temple, Shirley  191f. m. FN 29, 215 Tergit, Gabriele  58 m. FN 201 Thiele, Wilhelm  140 m. FN 218

Tiller-Girls  211 Tissé, Eduard K.  229 Tolkien, John R. R.  220 m. FN 182 Trump, Donald  252 m. FN 196 Türcke, Christoph  184f.

U Ulmer, Edgar G.  214 Unkrich, Lee  25, 247, 251 Unruh, Fritz von  48

Unteutsch, Barbara  197 Urgiß, Julius  30 m. FN 22

327

Register

V Vidor, King  97 Viénot, Pierre  219 Vigo, Jean  214

Villeneuve, Denis  250 m. FN 177 Vincent, Carl  225 Vox, Maximilian  225

W Wagner, Richard  115f., 118, 224 Walter Ballhause  136, 146f., 178f. Warburg, Aby  18 m. FN 60, 256 m. FN 4 Warr, Nick  15 m. FN 35 Weber, Max  43 Weber, Simon  24, 219–222, 264f. Weiskopf, Franz Carl  84, 260 Wenders, Wim  17

Z Zeisel, Hans  137, 262 Zetkin, Clara  91, 98, 261 Zille, Heinrich  68 m. FN 27, 129 m. FN 158, 151 Zinfert, Maria  158–160 m. FN 323 u. 327 Zola, Émile  101

328

West, Mae  164–166, 170, 176 Wilms, Fritz  109 m. FN 17 Withers, Jane  215 m. FN 153 Witte, Karsten  14, 17 Wolfgang Duncker, genannt Mersus  84, 260 Wyler, William  162 Wyneken, Gustav  196