Fitness- und Gesundheitsbewegung – Neuauflage der Diätetik?: Untersuchungen zu einer Philosophie der Gesundheit 9783495817193, 9783495490068


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Table of contents :
Inhalt
1 Zielstellung der Arbeit
2 Material und Methode
3 Gesundheitsverhalten früher
3.1 Was ist Diätetik?
3.1.1 Die Anfänge
3.1.2 Maimonides: Diätetik für den Körper und die Seele
3.1.3 Das Mittelalter: Von Kräutern, Kirche, Kräften und Weisen
Exkurs zum Vegetarismus
Erstens: Die wilden Pflanzen der freien Natur dienten der Ernährung
Zweitens: Die wilden und gärtnerischen Kulturpflanzen dienten als Heilpflanzen
Drittens: Die wilden und traditionellen Gartenpflanzen besaßen sinnhafte Bedeutungen
3.1.4 Hildegard von Bingen: Scivias
3.1.5 Paracelsus: Die Dosis macht’s
3.1.6 Baden und Fasten: Diätetik zwischen Spektakel und Neurose
3.1.7 Die Diätetik der Aufklärung und Goethes »Werther«
3.1.8 Friedrich Nietzsche: Von den Verächtern des Leibes
3.1.9 Turnvater Jahn: Frisch, frei, fröhlich und fromm
3.2 Abschließende Gedanken zum Wesen der Diätetik
4 Gesundheitsaktivitäten heute
4.1 Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten
4.1.1 Gesunde Ernährung
4.1.2 Fitnesssport
4.1.3 Jogging und Walking
4.1.4 Yoga
4.2 Resümee zur Fitness- und Gesundheitsbewegung
5 Offene Fragen der Untersuchung
5.1 Therapeutische Phänomenologie und Einzelfallberichte
5.1.1 Verrückt wird zur Normalität – E-Mail einer Frau, 12.11.2010
5.1.2 Halbierte Ganzheit – Erzählung eines 65-jährigen Mannes, 23.11.2010
5.1.3 Gesundheit oder Wellness – Erzählung eines ca. 50-jährigen Mannes, 16.12.2010
5.1.4 Vom Autositz – E-Mail eines Mannes, 24.1.2011
5.1.5 Natur und Knoblauch – E-Mail eines ca. 25-jährigen Mannes, 21.3.2011
5.1.6 Natürlich glutenfrei – Erzählung einer Ende 20-jährigen Frau, 16.4.2011
5.1.7 Verwirrende Haarwäsche – Brief einer Mitte 30-jährigen Frau, 21.4.2011
5.1.8 Vom Ziegenkäse – Erzählung einer ca. 50-jährigen Frau, 6.5.2011
5.1.9 Wohlgefühl mit Reizstoffen? – Erzählung einer jüngeren Frau, 28.5.2011
5.1.10 Hygiene oder hygieia – Erzählung einer ca. 45-jährigen Frau, 21.6.2011
5.1.11 Von Zittern, Hungern und Stärke – Brief einer ca. 40-jährigen Frau, 2.7.2011
5.1.12 Von den Inhaltsstoffen gesunder Nahrungsprodukte – E-Mail-Wechsel mit einer 51-jährigen Frau, 2.10.–14.12.2011
Abschließende Gedanken zu den Fallberichten
5.2 Beurteilung der Fitness- und Gesundheitsbewegung gegenüber der Diätetik
5.3 Gesamtergebnis der Studie
6 Ausblick
7 Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Gebundene Literatur
Printmedien
Kontaktadressen und Internetseiten
Personenregister
Sachregister
Anhang
Die Fragebögen
Untersuchung zum Fitness- und Gesundheitsverhalten
Gruppe: Bewusste Ernährung
Gruppe: Fitnessstudio
Gruppe: Jogging und Walking (regelmäßig betrieben)
Gruppe: Yoga
Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung
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Fitness- und Gesundheitsbewegung – Neuauflage der Diätetik?: Untersuchungen zu einer Philosophie der Gesundheit
 9783495817193, 9783495490068

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Seele, Existenz und Leben Band 32

Silja Luft-Steidl

Fitness- und Gesundheitsbewegung – Neuauflage der Diätetik? Untersuchungen zu einer Philosophie der Gesundheit

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817193

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B

Silja Luft-Steidl

Fitness- und Gesundheitsbewegung – Neuauflage der Diätetik?

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Seele, Existenz und Leben Band 32 Herausgegeben von Silja Luft-Steidl und Frédéric Seyler Forschungsstelle für jüngere französische Religionsphilosophie, Forschungskreis Lebensphänomenologie, Universität Freiburg i. Br und Department of Philosophy DePaul University, Chicago

https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Silja Luft-Steidl

Fitness- und Gesundheitsbewegung – Neuauflage der Diätetik? Untersuchungen zu einer Philosophie der Gesundheit

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Silja Luft-Steidl Is Dietetics reemerging with today’s Fitness and Health Movement? Studies on a philosophy of health Conceptually forgotten or restricted to the food sector, dietetics referred to people’s deliberations, behaviour, and worries concerning their well-being and health for more than two millennia. In the exchange of the lay, savvy and scholars, the dietary paradigm was concerned with the consciousness of fragile life and the means that provided for integration into the natural and spiritual world. People experienced themselves as a body within the cosmos. Over the past forty years, there has been a change in the behaviour towards one’s health. While it was chiefly the elderly, the sick or those with a particular interest who took care of their own health in the course of the emergence of modern care, now a „fitness and health movement“ is all-present. But the universal sciences of philosophy and theology hardly paid attention to this mass phenomenon and even voiced prejudices against it. The subject deals with the concept of the body or people in their life relationships. Silja Luft-Steidl examines which elements of the fitness movement can and cannot be considered as a continuation of dietetics. This movement, which promises good health, can affect people who suffer negatively by excluding them, as self-reports show. Even more than an admonition to integrate those who require support, this work represents a vision for the healing of the modern breach between mind and nature, thought and life.

The Author: Silja Luft-Steidl holds a doctorate in philosophy and is a registered Protestant theologian. Her specialist areas are corporeality, nature, healing, and curing. Lectureships at the Universities of Erlangen, Freiburg i. Br. as well as freelance educational work.

https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Silja Luft-Steidl Fitness- und Gesundheitsbewegung – Neuauflage der Diätetik? Untersuchungen zu einer Philosophie der Gesundheit Begrifflich vergessen oder auf das Ernährungsgebiet beschränkt, meinte Diätetik mehr als zwei Jahrtausende jedes Bedenken, Verhalten und die Sorgen der Menschen um ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit. Im Austausch von Laien, Kundigen und Gelehrten ging es nach dem diätetischen Paradigma um das Bewusstsein des fragilen Lebens sowie um Mittel, die eine Einbindung in die natürliche und geistige Welt gaben. Der Mensch erfuhr sich als Leib im Kosmos. In den letzten vierzig Jahren ist ein Wandel des Gesundheitsverhaltens eingetreten. Sorgten sich im Zuge moderner Versorgung nur noch Ältere, Kranke oder speziell Interessierte um ihr Gesundheitswohl, ist jetzt eine »Fitness- und Gesundheitsbewegung« allpräsent. Doch die Universalwissenschaften Philosophie und Theologie beachteten dieses Massenphänomen kaum oder verbreiteten sogar Vorurteile darüber. Fachlich geht es um die Begriffe von Leib und Körper bzw. den Menschen in seinen Lebensbeziehungen. Silja Luft-Steidl untersucht, welche Elemente der Fitnessbewegung als Fortsetzung der Diätetik angesehen werden können und welche nicht. Ausgrenzend kann diese Bewegung, die Gesundheit verspricht, auf leidende Menschen wirken, wie es Selbstberichte erhellen. Noch mehr als eine Mahnung zur Integration Bedürftiger stellt diese Arbeit eine Vision dar zur Heilung des modernen Bruches von Geist und Natur, Denken und Leben.

Die Autorin: Silja Luft-Steidl ist promovierte Philosophin und magistrierte evangelische Theologin. Ihre fachlichen Schwerpunkte sind Leiblichkeit, Natur, Heilung, Heil. Lehraufträge an den Universitäten Erlangen, Freiburg i. Br. sowie in der freiberuflichen Bildungsarbeit tätig.

https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49006-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81719-3

https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Inhalt

1

Zielstellung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

2

Material und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

3 Gesundheitsverhalten früher . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Was ist Diätetik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Die Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Maimonides: Diätetik für den Körper und die Seele 3.1.3 Das Mittelalter: Von Kräutern, Kirche, Kräften und Weisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Hildegard von Bingen: Scivias . . . . . . . . . . . 3.1.5 Paracelsus: Die Dosis macht’s . . . . . . . . . . . 3.1.6 Baden und Fasten: Diätetik zwischen Spektakel und Neurose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.7 Die Diätetik der Aufklärung und Goethes »Werther« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.8 Friedrich Nietzsche: Von den Verächtern des Leibes 3.1.9 Turnvater Jahn: Frisch, frei, fröhlich und fromm . 3.2 Abschließende Gedanken zum Wesen der Diätetik . . . .

31 31 31 51

155 174 191 201

4 Gesundheitsaktivitäten heute . . . . . . . . . . . . 4.1 Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten 4.1.1 Gesunde Ernährung . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Fitnesssport . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Jogging und Walking . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Yoga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Resümee zur Fitness- und Gesundheitsbewegung . .

211 211 212 241 271 292 310

. . . . . . .

. . . . . . .

64 100 116 128

7 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Inhalt

5 Offene Fragen der Untersuchung . . . . . . . . . . . . 5.1 Therapeutische Phänomenologie und Einzelfallberichte . 5.1.1 Verrückt wird zur Normalität – E-Mail einer Frau . 5.1.2 Halbierte Ganzheit – Erzählung eines 65-jährigen Mannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Gesundheit oder Wellness – Erzählung eines ca. 50-jährigen Mannes . . . . . 5.1.4 Vom Autositz – E-Mail eines Mannes . . . . . . 5.1.5 Natur und Knoblauch – E-Mail eines ca. 25-jährigen Mannes . . . . . . . 5.1.6 Natürlich glutenfrei – Erzählung einer Ende 20-jährigen Frau . . . . . . 5.1.7 Verwirrende Haarwäsche – Brief einer Mitte 30-jährigen Frau . . . . . . . . 5.1.8 Vom Ziegenkäse – Erzählung einer ca. 50-jährigen Frau . . . . . . . 5.1.9 Wohlgefühl mit Reizstoffen? – Erzählung einer jüngeren Frau . . . . . . . . . . 5.1.10 Hygiene oder hygieia – Erzählung einer ca. 45-jährigen Frau . . . . . . . 5.1.11 Von Zittern, Hungern und Stärke – Brief einer ca. 40-jährigen Frau . . . . . . . . . . 5.1.12 Von den Inhaltsstoffen gesunder Nahrungsprodukte – E-Mail-Wechsel mit einer 51-jährigen Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Beurteilung der Fitness- und Gesundheitsbewegung gegenüber der Diätetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Gesamtergebnis der Studie . . . . . . . . . . . . . . .

322 322 333 334 335 336 336 337 338 340 341 342 343

344 353 359

6

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362

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Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 Personenregiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Fragebögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung . . . . . . . . . 436 8 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

»Die Natur hat uns das Schachbrett gegeben, aus dem wir nicht hinaus wirken können noch wollen, sie hat uns die Steine geschnitzt, deren Wert, Bewegung und Vermögen nach und nach bekannt werden: nun ist es an uns, Züge zu tun, von denen wir uns Gewinn versprechen.« Goethe im Briefwechsel an seinen Freund Zelter

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1 Zielstellung der Arbeit

Ein Wandel zum Bewusstsein einer allgemeinen Bedrohung der Gesundheit vollzog sich vorrangig ab Ende der 1970er-Jahre aufgrund der zunehmenden Gefahren aus der verschmutzten Umwelt sowie der Probleme durch die industrialisierte Ernährung und die oft ungesunde Lebensweise. Kinder wurden mit Allergien geboren, Vielsitzer in Büros erlitten Obstipationen, Vollkorn und Dinkel vollzogen eine Renaissance, »Joggen« wurde zum neuen Individualsport. Staubsauger-Vertreter schürten Angst vor Partikeln, Begriffe wie »Schadstoffe« und »Emission« wurden weitbekannt, manches Brot verlor seine Konservierungsstoffe, und Reformhäuser, vorher eher Anlaufstellen für ältere und kranke Menschen, lockten nun mit pfiffig verpacktem, »gesundem« Knusperwerk. Die ersten Bioläden entstanden und damit überhaupt, anfangs erst zaghaft, eine Vorstellung vom Begriff »bio«. Noch eineinhalb Jahrzehnte vergingen bis zur Breitenakzeptanz von Gesundheitsverhalten im Hinblick auf »richtige« Ernährung und Bewegung. Natürlich gab es schon in früheren Zeiten Sportliebhaber, die turnten, Fußball spielten oder, eher landschaftsbezogen, in Norddeutschland Wassersport trieben und im Süden Ski liefen, sowie die spezifische deutsche Sportvereinskultur. Während aber rückblickend das Sporttreiben früher ganz bestimmten Menschen aus Begabung und Hobby zugeschrieben wurde, so wie andere musizierten, bastelten oder Briefmarken sammelten, entwickelte es sich mehr und mehr zu einem Lebensstil, den gegenwärtig auch die zunächst Unsportlichsten als Notwendigkeit akzeptieren, annehmen und in unterschiedlichster Weise praktizieren. Inzwischen fungiert Gesundheitsverhalten weit über das Individuelle hinaus als Politikum, oft im Zusammenhang mit ökologischen Normierungen und begleitet von ethischen Appellen. Aber nicht nur das: Gesundheitsverhalten ist ein dominierender Bereich des Konsumverhaltens geworden. Konsum hat in Folge zeitgenössischer 11 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Zielstellung der Arbeit

Wirtschaftsstrukturen nahezu alle Lebensformen durchdrungen; die Marktstrategien der Angebotsseite halten mit stets »gesunden« Anpreisungen den Prozess am Laufen bzw. den Kunden am Kaufen. Fitness- und Gesundheitsverhalten ist ein Kulturphänomen der westlichen Welt geworden. 1 Viele Vorbilder des Westens, von Entertainern über Sportler, Politiker bis zu Monarchen, versuchen, ihre Attraktivität damit zu erhöhen, Fehlgebrauch eingeschlossen. Ein medienträchtiger Meilenstein etwa war der Lauf des deutschen Bundesministers Joschka Fischer gegen das Übergewicht Mitte der 1990er-Jahre. Hans-Georg Gadamer beschreibt Gesundheit in einem prominenten Aufsatz so: »Trotz aller Verborgenheit kommt sie in einer Art Wohlgefühl zutage und mehr noch darin, dass wir vor lauter Wohlgefühl unternehmungsfreudig, erkenntnisoffen und selbstvergessen sind und selbst Strapazen und Anstrengungen kaum spüren – das ist Gesundheit.« 2 Hier kommt zum Ausdruck, dass Gesundheitsund Fitnessverhalten nicht nur allein auf die Unversehrtheit und das tadellose Funktionieren des eigenen Körpers zielt, sondern die eigene Haltung zur Welt und das Streben nach sozialem Austausch, nach Lebensfreude mit einschließt. Möglicherweise hat das alles direkt und indirekt auch mit der immer stärker problematisierten Beziehung des Menschen zur Natur zu tun, mit dem Bewusstsein ihrer massiven Bedrohung durch die Technik und unserer eigenen Bedrohung durch die Wechselwirkungen von Technik und Natur. Fakt bleibt: Fitness- und Gesundheitsverhalten, ein Breitenphänomen und gleichzeitig eine mediale Metapher, spricht heute zahlreiche Menschengruppen an. Unzählige Gebrauchsprodukte des Alltags, vom Autositz bis zum Ziegenkäse, empfehlen sich mit Gesundheitsattributen. Dass aber alle Sport-Treibenden, Bio-Esser und Saunierenden zu bloßen Mitläufern manipuliert werden, wie es die Kritiker im Ergebnis implizieren, ist damit nicht gesagt. Der Satz: »Meine Gesundheit ist mir wichtig« klingt heute als selbstverständlicher, eigenverantwortlich-vorausblickender Ausspruch und Anspruch. Die Philosophie, Kultur- und Geisteswissenschaften haben sich Interessantes Beispiel: In einem Langenscheidt-Französisch-Lehrbuch, Mittelstufe, für Volkshochschulen, wird ein ganzes Kapitel der Gesundheitspflege für Groß und Klein gewidmet. In früheren Sprachlehrbüchern war das nicht üblich. 2 Gadamer, Hans-Georg: Verborgenheit, S. 144. 1

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Zielstellung der Arbeit

nach Erfahrungen der Verfasserin in ihren Überschneidungen zu Medizin und Psychologie dem Gesundheits- und Fitness-Phänomen bisher nicht ernsthaft zugewandt. 3 Sie ignorieren es entweder oder kritisieren es abwertend. Einige Beispiele sollen das zeigen: Bekannt wurde der Arzt, katholische Theologe und Schriftsteller Manfred Lütz durch Kritik in seinen Bestsellern. Sportler und Ernährungsbewusste werden bei ihm durchweg zu neurotischen Masochisten erklärt mit einem gestörten Lebensverhältnis. Von religionsgleicher Quälerei wie bei den »Büßer- und Geißlerbewegungen des Mittelalters« ist bei Lütz die Rede. 4 Auch seriösere Schriften urteilen scharf. Der philosophische Anthropologe Gernot Böhme behandelt unter den zahlreichen Facetten des Bodybuildings nur die ästhetische Seite. 5 Peter Koslowski, philosophischer Ethiker, unterstellt der Fitnessund Gesundheitsbewegung etwas kulturell Degeneratives, ohne offensichtlich Kontakte zu Beteiligten gepflegt zu haben. 6 Im Essay einer vielgelesenen Tageszeitung unterstellt der soeben wie auch im Artikel zitierte Manfred Lütz sogar, die Ausübenden würden nach absehbarer Zeit des Trainings selbst begreifen, dass dieses sinnlos sei. Daher wolle er die Welle nicht ernst nehmen. 7 Im Textzusammenhang der genannten Fundstellen werden den Aktiven pauschal sinistre Motive untergeschoben, ohne auch nur den Beweis ihrer Existenz vorzulegen. Es kommt dabei in den Sinn, ob nicht auch vernünftige Seiten in dem neuen Trend gefunden werden können sowie vernünftige Motive bei den einzelnen Beteiligten. So kann z. B. die wechselDagegen liegt eine umfangreiche sportwissenschaftliche Arbeit vor: Dilger, Erika: Die Fitnessbewegung in Deutschland. Wurzeln, Einflüsse und Entwicklungen, Schorndorf 2008. Hier geht es um den Sport, dabei insbesondere den Fitness-Sport als Synonym für Bodybuilding, aber nicht um das breite Fitness- und Gesundheitsangebot und -verhalten, das z. B. auch die Ernährung, die Qualität verschiedenster Alltagsprodukte u. a. betrifft, S. 37. Die Ausweitung zur Volksbewegung wird von E. Dilger entsprechend konstatiert. Ihr zufolge war in Deutschland die Zunahme der Zivilisationskrankheiten ab den 1950er-Jahren erster Auslöser einer öffentlichen Kampagne »Sport für alle« z. B. mit Volksläufen, Trimm-dich-Pfaden, aus der sich der kommerzielle Markt heutiger Größenordnung allmählich (und rasant ab den 90ern) entwickelt hat: S. 357. Weiterhin gibt es kulturwissenschaftliche Monografien zum Sportbereich von Bernd Wedemeyer (auch: Wedemeyer-Kolwe), der in dieser Arbeit mehrfach zitiert werden wird. 4 Lütz, Manfred: Lebenslust, insbes. S. 11–14, Zitat S. 49. 5 Vgl. Böhme, Gernot: Leibsein, S. 199–202 sowie S. 272–274. 6 Vgl. Koslowski, Peter: Postmoderne Kultur, S. 45–49. 7 Zit. in Scherfenberg, Evelyn: Dein Body wird super, in: NZ 24. 9. 2011, hier Internetversion, S. 2. 3

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Zielstellung der Arbeit

seitige Durchdringung medizinischer und unternehmerischer Standards bzw. Praktiken, wie sie sich in der Fitness- und Gesundheitsbewegung offen zeigt, auch eine Chance zur wirksamen Kostendämpfung im Gesundheitswesen sein. Sie kann aber auch die Gefahr eines Sinnverlusts des gesundheitlichen Handelns beinhalten. Eine historische Übersicht über das moderne Sportverhalten schreibt der Sportwissenschaftler Bernd Wedemeyer in dem namhaften anthropologischen Kompendium »Entdeckung des Ich«. Auch hier wird aus kritischer Distanz geurteilt, überwiegend psychologisch. Kein Wort fällt darüber, dass die Betroffenen gesundheitliche Gründe oder positive gesundheitliche Erfahrungen haben könnten. Zu seinem Thema »Individualisierung« würde das aber maßgeblich dazugehören. Am Schluss wird als Problem eingeräumt, dass die Innenperspektive ihre Sache normalerweise anders sieht. 8 Damit bliebe aber zu fragen, warum der Autor nicht die teilnehmende Außenperspektive einnimmt, womit vielleicht auch Beteiligte mit ernsthafter, reflektierender Innenperspektive gefunden werden könnten. Zu konstatieren ist vielfach eine Tendenz in einschlägigen Studien, die menschlichen Dinge distanziert zu behandeln. Gesundheitsverhalten in seiner vielfältigen Ausübung und deren Wirkung ist ein weitgehendes Tabuthema der Geisteswissenschaften. 9 Wer in diesem Inhaltsfeld publiziert, tut es oft aus eingleisiger Sichtweise. Im Ergebnis, auf die gesundheitsbewussten Aktivisten bezogen, wird diesen dabei die Persönlichkeit abgesprochen und ein reines ManipuliertSein unterstellt. Vor allem individuell gesehen kommen plausible Gründe des neuen Gesundheitsbewusstseins in den Sinn, z. B. dass der berufliche Leistungsdruck hoch ist und eine gute gesundheitliche Verfassung verlangt, dass die Menschen älter werden und die staatliche Versorgung Brüche bekommt. So liefe es auf individuelle Vorbeugung gegen Krankheit und Verfall hinaus, was als etwas höchst Vernünftiges und gesellschaftlich Wertvolles zu betrachten wäre und vielleicht differenziert zu behandeln wäre gegenüber den offensichtlichen Kehrseiten der Medaille, über die noch zu sprechen sein wird. 10

Vgl. Wedemeyer, Bernd: Sport und Körper, S. 517–540. Auf den Punkt gebracht, müsste bei den wenig differenzierenden Kritikern der Gesundheitsmotive jeweils erst ein eigenes Krankheitserlebnis wirken, damit mehr Verständnis für das Leiden aufkäme. 10 Vgl. Kapitel 4. 8 9

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Zielstellung der Arbeit

Von den gängigen geisteswissenschaftlichen Bewertungen kann konstatiert werden, dass eine wirkliche Beschäftigung mit dem Phänomen Fitness- und Gesundheitsverhalten bisher ausgeblieben ist. In einer der schon oben zitierten Textstellen wird sogar erst aus vierter Hand geurteilt. Nämlich in einer journalistischen Abhandlung für eine Tageszeitung, als Internetartikel im Ausdruck eineinhalb Seiten lang, geht es um die Untersuchung von Wellness- und Fitnesszeitschriften (zweite Stufe). Diese Zeitschriften beobachteten und beurteilten die Ausübenden (erste Stufe), wobei außerdem Kommentare von Fachleuten wie dem oben angeführten Manfred Lütz (dritte Stufe) hinzugezogen wurden. 11 Außerdem war es mitunter methodisch falsch und fachlich unangemessen, ohne Untersuchungen Ergebnisse, d. h. einfach Meinungen, zu äußern. Besonders schließlich ist es offenbar ungerecht und ungenau, mit Pauschalurteilen die in der Regel differenzierten Motive und Erfahrungen von Individuen zu übergehen. So wurde die Idee zu einer philosophischen Untersuchung von Fitness- und Gesundheitsverhalten geboren. Die vorliegende Arbeit soll dem genannten Desiderat begegnen, indem sie die begrifflichen und begriffstopologischen Grundlagen dieser Bewegung untersucht. Die nun folgenden Betrachtungen dieses Einleitungsteils sollen den diätetischen Gegenstand der Arbeit würdigen. Um eine Untersuchung jener Grundlagen in Gang zu bringen, wird in vorliegender Arbeit die Vergleichsgröße der Diätetik gewählt. Somit geht es philosophisch auch dezidiert um einen ideengeschichtlichen Zugriff, denn »Diätetik« wirkte für zwei Jahrtausende bestimmend auf die abendländische Gesundheitskultur. Dass die heutige Allgemeinheit sie in Inhalten und Begriffsbedeutungen kaum mehr kennt, schmälert ihren Einfluss nicht. Der Verlust ist offensichtlich, da schon das Wort »Diätetik« nicht mehr bekannt und nur noch als »Diät« auf den Ernährungsplan bezogen ist, und das in der Regel »unter erhobenem Zeigefinger«. Geprüft werden soll, ob trotzdem Grundhaltungen der alten Diätetik fortbestehen, heute in modernisierter Form – und ob insofern von »Neuauflage« zu sprechen wäre. Im Gegensatz zur allgemein geringen Berücksichtigung im Alltag ist die Diätetik immer noch ein vielbeachtetes Sujet der Kultur- und Geisteswissenschaften (mit exponiertem Vertreter Heinrich Schipperges, der noch zitiert Vgl. Scherfenberg, Evelyn: Dein Body wird super, in: NZ 24. 9. 2011, Internetversion.

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Zielstellung der Arbeit

werden wird). Damit offenbart sich ein Widerspruch: Die Diätetik als Vergangenheitsparadigma wird reichlich behandelt, sogar gelobt. Die Fitness- und Gesundheitsbewegung dagegen, die aufgrund von Gegenwärtigkeit z. B. empirisch leicht und gründlich behandelbar wäre, wird ignoriert und mitunter sogar pauschal abgelehnt. Es sieht so aus, als seien die heutigen Fitness- und Gesundheitsaktivitäten aus dem traditionellen diätetischen Verhalten hervorgegangen. Diätetisches Verhalten galt über Epochen hinweg als Gesundheitskultur schlechthin, wie der diätetische Abriss 12 es kenntlich machen wird. Dabei verleiht noch die Tatsache der Gesundheitskultur besonderen Wert, dass das Sorgen um das menschliche Wohl den ältesten und stärksten Motivator aller Kulturleistungen überhaupt darstellt. Michel Foucalt spricht in Anlehnung an die altgriechische Gesinnung von der »Sorge um sich« als einer freiheitlichen »Ethik des Subjekts«, die er epemeleia nennt. 13 Schon die Tiere vererbten uns die einfachsten Formen von Vorbeugung und Gesundheitspflege, etwa den Körper durch Spiel zu ertüchtigen oder Verletzungen zu versorgen. Der Mensch ist also, wie noch genauer ausgeführt werden wird, in natürliche Prozesse eng eingebunden. Evolutionsgeschichtlich geht es bei der Gesundheitspflege sicher darum, das Leben zu schützen und zu fördern. Es erscheint daher notwendig, zu ermitteln, wie sich die heutige Fitness- und Gesundheitsbewegung vor dem Hintergrund der diätetischen Tradition versteht. In der damit sich ergebenden Verbindung einer philosophischen (bzw., wie sich zeigen wird, auch philosophisch-theologischen) Seite mit einer empirischmedizinischen Seite wird es in dieser Arbeit zugleich um die Verbindung von Ideengeschichte und Begriffstopologie gehen bis hin zu einer empirisch begründeten Phänomenologie. Im engeren Rahmen der begriffs- und begriffstopologischen Klärungen fällt schon in der sich erst annähernden Perspektive einer Einleitung wie dieser auf, dass die Fitness- und Gesundheitsbewegung und die Diätetik offenbar mit unterschiedlichen Begriffen, also anderen Vorstellungen von Gesundheitsverhalten der Menschen, sprechen. Zum Beispiel legt die ganz einfache Beachtung der Namen aktueller Fitnesseinrichtungen (sie heißen etwa »Corpus«, »BodyFit« u. ä.) nahe, dass sich hier alles um den menschlichen Körper Vgl. Teil 3. Foucault, Michel, hier insbes.: Sorge um sich, in: Sexualität und Wahrheit Bd. 3, S. 26.

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16 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Zielstellung der Arbeit

dreht. Wird damit eigentlich erreicht, was der sorgende Ausspruch manches Zeitgenossen ausdrückt, dass ihm seine Gesundheit wichtig sei (vgl. S. 6)? Oder kann einer solchen Motivation nicht vielleicht besser durch Anschauungen Genüge getan werden, wie sie in den vorangegangenen Absätzen Philosophen wie Hans-Georg Gadamer oder Michel Foucault äußerten? Hiernach umfasst Gesundheit Haltungen wie eine Welteinstellung oder eine ethische Ausrichtung, spielt sich also im organischen Verbundensein mit einer »Mitwelt« 14 ab und betrifft folglich das, was die Philosophie als »Leib« bezeichnet. Dabei geht es zwischen Leib und Körper nicht um Gegenbegriffe, was mit der klassisch gewordenen Wendung Helmuth Plessners, einen Körper »habe« man, Leib »sei« man 15, deutlich ausgedrückt ist, ebenso wenig wie beide nicht gegenständlich voneinander abgrenzbar sind, sondern nur perspektivisch. Das menschliche Leben, das mit Merkmalen wie Subjektivität, Identitätsempfindung und -bildung im Stoffaustausch mit der Umwelt sowie der Kommunikation mit ihr in den mechanischen Parametern eines »Körpers« allein nicht ausgedrückt werden kann 16, verlangt nach einer entsprechenden Perspektive, ebenso wie solches »Leibliche« an die biologische Ausstattung des »Körpers« gebunden ist. 17 Verschiebt sich die Perspektive zur Überbetonung (oder praktisch: Überversorgung) des Körperlichen, so läge das auf der Linie einer »Verdinglichung«, wie sie für die philosophische und kulturgeschichtliche Rezeption der nachcartesianischen Zeit paradigmatisch geworden ist. René Descartes (1596– 1650), der, selber zunächst im philosophischen, ja meditativen Ansatz Meyer-Abich, Klaus M.: Mensch etwas Besonderes?, in: Oldenburger Universitätsreden Nr. 113, S. 18. Durch den Begriff »Mitwelt« möchte Meyer-Abich den eigentlichen Sinn treffen, wie er durch Jakob von Uexküll, Pionier der ökologischen Bewegung, im Begriff »Umwelt« gemeint war. Uexkülls Begriff aus den 1970er-Jahren sei inzwischen anthropozentrisch verschoben worden. – In der phänomenologischen Tradition bringt eine solche Entgrenzung des Individuums Paul Ricoeur zum Ausdruck, vgl.: Selbst als Anderer, bes. deutlich S. 182–188. 15 Vgl. zum Doppelaspekt des menschlichen Lebens Plessner, Helmuth: Augen, S. 12. Zitiert hier auch bei Fuchs, Thomas: Leib und Körper, in: Hähnel, Martin / Knaup, Marcus (Hg.): Leib und Leben – Perspektiven, S. 84. 16 Vgl. Kather, Regine: Der menschliche Leib, ebd., S. 21–25. Vgl. auch dies.: Leben, S. 153–164. 17 Die Phänomenologie seit Merleau-Ponty weist die Verschränkung von Leib und Körper gerne am markanten Beispiel des Phantomgliedes auf, betonend aufgenommen in der gegenwärtigen Phänomenologie durch Waldenfels, Bernhard: Leibliches Selbst, S. 22–30. 14

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Zielstellung der Arbeit

aufgrund der Erschütterungen des Dreißigjährigen Krieges, seinen Leib als Gliedermaschine wahrnahm, ihn mit einem »Leichnam« verglich und als »Körper« bezeichnete, der außerdem die gesamte Weltanschauung in nur zwei Kategorien, betrachtenden Verstand und behandeltes Ding, fasste, leitete, gespeist vom naturwissenschaftlichen Fortschritt der Folgezeit, einen ganzen kulturgeschichtlichen Prozess ein, der für das moderne Bewusstsein und Handeln bestimmend geworden ist. 18 Mit dem cartesianischen Paradigma geht eine Instrumentalisierbarkeit aller Lebensgüter einher, wobei fraglich ist, ob das Gesundheitliche, das immer von Kontingenzerfahrungen (entsprechend den von Viktor von Weizsäcker so genannten »pathischen« Kategorien) begleitet wird 19, instrumentell überhaupt zu behandeln ist oder nicht besser im traditionellen Leibesbegriff angesiedelt bliebe. Wenn dem so wäre, dass Gesundheit und die Bemühungen um sie eng mit dem Leibesbegriff korrelieren, dann hätte die Philosophie viel Wesentlicheres zur Fitness- und Gesundheitsbewegung zu sagen als marginale Pauschalurteile. Dann käme sie als Sachwalterin einer lange andauernden Ideengeschichte zum Einsatz, und dann möchte die vorliegende Arbeit einen Beitrag dazu leisten.

Vgl. hier bei Fuchs, Thomas: Leib und Körper, in: Hähnel, Martin / Knaup, Marcus (Hg.): Leib und Leben – Perspektiven, S. 84. 19 Vgl. ebd., S. 84–87. – Der Arzt und Philosoph Viktor von Weizsäcker (1886–1957) gilt als Einführer des »Subjekts« in die moderne Medizin, d. h. er steht für die Rückbesinnung auf das Individuum als von Natur, Kultur und normativen Voraussetzungen Abhängiges. Das Leben als Abhängiges trage immer »pathische« Züge, auch Kategorien der Stärke. Z. B. jedem »Wollen«, das als starker Lebensausdruck gilt, wohnt ein Mangel inne: Pathosophie (GS 10), insbes. S. 78–84. 18

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2 Material und Methode

Die geisteswissenschaftlichen Fehlurteile über die Fitness- und Gesundheitsbewegung legen es nahe, dass hier massive Vorurteile vorliegen, und zwar jeweils in Bezug auf die Motive der an der genannten Bewegung beteiligten Menschen. Daher ist es geraten, bei einer begrifflichen Untersuchung auch und gerade diese Motive in den Blick zu nehmen. Dazu sind gezielt Menschen zu befragen, idealerweise durch eine statistische Erhebung. Dieses Verfahren ist unüblich in den Universalwissenschaften bzw. wird von ihnen in der Regel bei Bedarf anderweitig entliehen oder delegiert. Doch hat seit alters her die Philosophie eine große Affinität zur Zahl. Die ersten Philosophen waren in ihrer Naturbezogenheit zumeist auch Mathematiker (z. B. Thales von Milet); für die menschenbezogenen Fragen im Gefolge der Sokratiker galt als Hauptthema die fundierte Erkenntnissuche. Das heißt nach Platon, der das gesicherte Wissen von bloßen Meinungen zu trennen lehrte (vgl. das oben definierte Problem), was mithin Wesen und Methodik abendländischer Philosophie und Wissenschaft schlechthin bestimmte, es sollten Parameter wie Existenz, Anzahl, Identität, Unterschied usw. gleichermaßen erfasst werden. 1 Nun liegt aber zwischen dem altgriechischen Zahlenverständnis und der modernen Statistik ein weiter Weg. Angeschnitten wurde am Ende des vorangegangenen Kapitels die moderne Wendung zu einer Erfahrungswissenschaft, die aus der absolut unbeteiligten Außenperspektive erfolgt und eine Objektivität in Form statisch-unveränderlicher Messgrößen anstrebt. Die lebensweltliche Erfahrung mit sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen bliebe danach unberücksichtigt. 2 Vgl. Platon: Theaitetos, insbes. zum Zahlenverhältnis 204c-208b. Heute hat sich die Experimentelle Philosophie zum Ziel gesetzt, Vorurteile durch quantitative Methoden wie etwa Befragungen zu korrigieren. Vgl. dazu: Overgaard, Sören / Gilbert, Paul / Burwood, Stephen: Introduction, S. 87–93. 2 Die Entwicklung zur reinen Erfahrungswissenschaft erfolgte schon seit Beginn der Neuzeit im 15. Jh., mehr als ein Jahrhundert vor Descartes, durch Forscher wie Niko1

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Material und Methode

Genau in diesem Sinne aber wurde am Ende des Teils 1 für den Gesundheitsbereich, der immer mit dem Leibesbegriff zusammenzuhängen scheint, der instrumentelle Zugriff, wie ihn die statistische Methode nahelegt, in Frage gestellt. Doch muss man sehen, dass die erst relativ spät, nämlich in Verbindung mit den bürgerlichen Gesellschaftsformen des 18./19. Jh. aufgekommenen, modernen Sozialwissenschaften, die die empirisch-naturwissenschaftliche Grundeinstellung übernahmen, thematisch das Grenzfeld zu sinnlich wahrnehmbaren Fragen und geistigen Überzeugungen eng berühren. Der prinzipielle Unterschied zu Geisteswissenschaften, dass diese eher Sinn und Verstehen der Lebensäußerungen anstreben, dagegen Sozialwissenschaften deren Erklärung, war von Anfang an mehr eine graduelle als eine kategoriale Differenz. In der Gegenwart weicht diese Differenz durch die allgemeine Ausrichtung ins Interdisziplinäre und das verstärkte Interesse an Fragen der Grenzgebiete zunehmend auf. 3 In der empirischen Sozialforschung trägt man seit den letzten zwanzig Jahren der Tatsache Rechnung, dass es die rein objektive Untersuchung nicht gibt und dass die interessantesten Studien z. B. aus einer gewissen Involviertheit der Studien-Initiatoren zustande kommen oder aus einer Tiefenschürfung in persönlichen Parametern wie Motiven, Neigungen und Befindlichkeiten der Zielpersonen. Erhebungen im Bereich der Medizin, Psychologie, Heilkunde oder Seelsorge verwenden solche Parameter heute gerne. 4 So wurde der Begriff der empirisch-personenbezogenen Studie geschaffen, um die unhaltbare Vorgabe des strikt Objektiven verlassen zu können und dabei trotzdem intersubjektiv vermittelbar zu bleiben. 5 Für die vorliegende Arbeit käme von diesen Voraussetzungen her die empirisch-perlaus Cusanus und später Francis Bacon, die allerdings eine Eigenständigkeit der natürlichen und lebendigen Sphäre noch anerkannten. Motiviert von der Verbesserung der Lebensumstände, merkte Bacon gleichwohl, »Wissen ist Macht«, ein Postulat, das sicher in Abhängigkeit zum Umgang mit dem Wissen steht. Vgl. zu den geistesgeschichtlichen Grundlagen sowie zur Macht des Wissens in der aktuellen Biotechnik (z. B. deren Veränderungen am pflanzlichen Erbgut, das Firmen Patente sichert und damit irreversibel biologische Gefüge umformt): Kather, Regine: Leben, S. 44–47, 204–213. 3 Vgl. Acham, Karl: Sozialwissenschaften I.1., in: TRE Bd. XXXI, S. 572 f. 4 Vgl. Bühner, Markus: Einführung, S. 46. 5 »Empirisch« meint dabei, dass theoretische Vorannahmen an der Wirklichkeit überprüft werden nach bestimmten Regeln – im Gegensatz zu »empiristisch«, welches Regeln ignoriert. Vgl. Attesländer, Peter: Methoden, S. 4–6.

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sonenbezogene, statistische Untersuchung in Frage. Dabei steht auch in Überlegung, bei der Auswertung der Daten ein strikt numerisches Vorgehen im ursprünglichen Sinne mehr ins Interpretative zu erweichen durch Berücksichtigung von Begleitwahrnehmungen und -gedanken. Was die Menge des verwendbaren Datenmaterials anbetrifft, so würde allein zum Widerlegen der eingangs von Teil 1 beschriebenen Vorurteile nach den Regeln der Logik eine einzige Gegenstimme genügen. 6 Jedoch wirkt zahlreiches Datenmaterial bei einer Breitenerscheinung wie der Fitness- und Gesundheitsbewegung als äußerst verlockend. Man kann damit das Gewicht der Antwortdaten besser vergleichen als mit weniger Material, wie es durch phänomenologisch ermittelte Daten verfügbar wäre. Letztere hätten natürlich die Stärke, nicht durch Fragestellungen vorgeformt zu sein, wohingegen sich aber in einer Arbeit wie dieser enge Grenzen in der Anzahl der Befragungen ergäben. Die Verfasserin kam schließlich zu der Entscheidung, die Untersuchung in der Art einer empirisch-personenbezogenen Studie durchzuführen. Für manche Geisteswissenschaftler, die unbeteiligte Zeitpunkt-Erhebungen aus Gründen ihres oben angeschnittenen Methodikverständnisses ablehnen, dürfte die empirisch-personenbezogene Studie eine Brücke in Richtung Sozialforschung schlagen. In dieser Arbeit kann sie vielleicht sogar eine Möglichkeit sein, besondere Lebensnähe zu gewinnen, wie sie bei den bisherigen Pauschalurteilen nicht erkennbar war. Ob die Methode wirklich für die gestellte Thematik taugt oder nicht bzw. im Rahmen philosophischer Fragestellungen Grenzen erweist, kann sich nach allen diesen Überlegungen erst in oder nach ihrem Vollzug ergeben. Die »empirisch-personenbezogene Untersuchung« erlaubt die Einbringung menschlicher Seiten auch der Fragesteller, in diesem Fall die Tatsache, dass die Verfasserin sachlich involviert ist. Zur Formulierung möglichst sachdienlicher Fragen, wie es der Erfolg des Vorhabens sowie die Regeln verlangen, ist wiederum Vorkenntnis der Materie wichtig. Auf die sozialwissenschaftlichen Anforderungen soll aber erst weiter unten eingegangen werden. Zunächst, nach dem Entschluss, diese Arbeit auf eine statistische Erhebung zu stützen, taten sich durchführungstechnische Fragen auf:

6

Vgl. Popper, Karl: Vermutungen, S. 348–350.

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Material und Methode

1.

2.

7

Jede statistische Erhebung muss aus praktischen und finanziellen Gründen im Vorfeld eingeschränkt werden. Im Fall dieser Arbeit war klar, dass sie sich national auf Deutschland beschränken musste und regional auf die Heimatregion der Verfasserin, Mittelfranken, insbesondere den Großraum Nürnberg-FürthErlangen sowie die Landkreise Roth und Erlangen-Höchstadt. Dass dieses Gebiet eng und sozial vielfältig bevölkert ist sowie dicht ausgestattet mit Gesundheits- und Fitnesseinrichtungen, kommt einer breiten Streuung in Bezug auf die zu befragenden Personen entgegen. Weitere Fragen stellten sich im Vorfeld, noch unabhängig von den wissenschaftlich-methodischen Vorschriften. Welche Akteure sollten befragt werden, d. h. welche Bereiche erscheinen sinnvoll, insofern sie als auffällig für das neue Fitness- und Gesundheitsverhalten erscheinen – und ist deren Untersuchung praktisch durchführbar? Bei diesen Überlegungen und darauf bezogenen Recherchen wurde beschlossen, den typischen Vereinssport außen vor zu lassen, weil hier in der Regel die Fitnessund Gesundheitsorientierung nicht Primärmotiv für Beitritt und Teilnahme ist, sondern es sind vielmehr Wechselbeziehungen aus persönlicher Neigung, sozialer Identifizierung und Erlebnistrieb zu vermuten. 7 Dass heute manche auf Fitness- und Gesundheit ausgerichtete Aktivitäten ebenfalls in Vereinen oder Vereinssparten eingerichtet sind, folgt überwiegend organisatorischen Gründen. Im Fall von Praktiken wie dem Jogging, das man als anhaltenden Klassiker der Fitness-Bewegung dieser Studie unterziehen sollte (mitsamt der aktuellen Form des »Walking«), ist unbedingt eine vereinsartige Organisation für die Befragung aufzusuchen, denn wie erreicht man sonst Jogger? Gesunde Ernährung als weiterer Bereich sollte ebenfalls untersucht werden. Sie präsentiert sich heute als Thema für alle. Die Praktizierenden sind leicht zu finden und anzusprechen – beim Einkaufen in Bioläden und Reformhäusern. Ferner erschien das Bodybuilding als wichtig, eine relativ neue und inzwischen höchst auffällige Einrichtung des Individualsports. Mittlerweile handelt es sich um einen Wirtschaftszweig mit spezifischen Qualitätsmanagement-Normen.

Vgl. Buhl, Johannes: Identität und Verein, S. 4–8.

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Material und Methode

Interessant hierzu, wie das Wort »Fitness(sport)« ein Synonym allein für Bodybuilding geworden ist: »Fitnessbekleidung«, »Fitnessgeräte«, »Fitnessdrinks« – sie beziehen sich in der Regel auf das Bodybuilding. Heute zählen auch begleitende Disziplinen aus dem Cardiobereich dazu. Außerdem markiert das Fitnessstudio wie kein anderes die Wende zur Volksbewegung, seit Bodybuilding ein gängiger Frauensport geworden ist, während dies vorher im Amateurbereich verpönt war. Überhaupt wurde die muskulöse Erscheinung früher nur Arbeitertypen zuerkannt. 8 Somit waren Ernährung, ein Konditionssport und ein Kraftsport als Untersuchungsfelder entschieden – ein »sanfter Sport« mit Berührung des Psychisch-Mentalen erschien in der Untersuchungsanlage ebenfalls als notwendig, da beliebt im heutigen Fitnessverhalten. 9 Hier bot sich Yoga an, erreichbar in zahlreichen Yogakursen allerorten. Die vier Gruppen von Fitness- und Gesundheitsverhalten, die zur Untersuchung nunmehr ausgewählt wurden, werden nachfolgend aufgelistet (Reihenfolge entsprechend der Behandlung in 4.1 ff. und der Diagramme im Anhang): • Gesunde Ernährung • Fitnessstudio (Sportart Bodybuilding) • Jogging und Walking • Yoga 3.

Wie viele Personen sollten interviewt werden? Nach Vorüberlegungen wäre eine Befragungskapazität von maximal 500 Personen möglich gewesen. Nun, mit den 4 Gruppen, erschien eine Struktur von je 100 Befragten, also 400 insgesamt, für eine überschau- und bewältigbare Größenordnung. 10

Vgl. Dilger, Erika: Fitnessbewegung, S. 106, auch 406 f. Interessant noch, dass der Buchmarkt heute überwiegend Frauen anspricht mit Bodybuilding-Ratgebern. Dies ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie die erwähnte Angebotsdurchdringung mit »Gesundem« darauf beruht, dass Fitnessverhalten anschlussfähig wird. Akteure brauchen plötzlich oder sollten brauchen: Ratgeber zum Thema, vitaminschonendes Kochgeschirr, ergonomische Sitzmöbel, harmonische Leuchtmittel usw. – so viel nochmals zur kommerziellen Seite. 9 »Fitness« ist hier wieder im weiteren Sinn gemeint wie überall, wenn nicht anders betont. Zum neuen Sporterleben »auf die sanfte Tour« vgl. Dilger, Erika: Fitnessbewegung, S. 378. 10 Es ist eine vergleichsweise hohe Anzahl in einer Untersuchung wie dieser, vgl.: Bortz, Jürgen / Schuster, Christof: Statistik, S. 9 f. 8

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Material und Methode

Im oben beschriebenen örtlichen Umkreis sind Einrichtungen dieser Gruppen reichlich zu finden, sodass für jede Gruppierung mehrere Orte besucht werden konnten. In Auflistung waren es: – – – –

Bioläden und Reformhäuser in Nürnberg, in Erlangen, in 90530 Wendelstein, in 91154 Roth; Fitnessstudios in Nürnberg, in Erlangen, in Wendelstein, in 91161 Hilpoltstein, in 91180 Heideck; Jogging-Organisationen in Nürnberg, in Erlangen, in Roth, in 90584 Allersberg; Yogakurse in Erlangen, in 91074 Herzogenaurach, in Allersberg, in Hilpoltstein.

Genaueres zur Kontaktierung und Befragung wird weiter unten erklärt werden. Angestrebt wurde eine möglichst breite Ortsstreuung, dies auch in Vermutung unterschiedlicher Ansichten zum eigenen Fitnessverhalten je nach städtischer oder ländlicher Umgebung. Denkbar waren Unterschiede z. B. wegen anderer Lebensmittel- oder Atemluftqualität. Daher wurde jede Gruppe in »Land«-Befragte und »Stadt«-Befragte aufgeteilt, eingeschlossen die Annahme, dass die betreffenden Aktivitäten möglichst wohnortnah ausgeübt werden. Jede Einrichtung erhielt möglichst die gleiche Anzahl von Fragebögen bzw. die Stadt-Land-Verteilung wurde genau hälftig vorgenommen. Technisch folgt die Stadt-Land-Unterteilung der gebräuchlichen Anschauung in Bezug auf Einwohnerzahl, Infrastruktur, Verkehrsaufkommen, Industrie oder Landwirtschaft. Kleinstädte wie Hilpoltstein, Heideck oder die Marktgemeinde Allersberg wurden danach dem Land zugeordnet. 11 Die Fragebögen mit einander entsprechenden Fragen zu jeder FitnessGruppe wurden in einem Mitarbeiterstab (vier Personen, darunter ein Sozialwissenschaftler) nach den Regeln der Sozialwissenschaften vorbereitet. Als solche können gelten: •

11

Problemformulierung – Ein wissenschaftliches Problem (hier Hintergründe und Motive der Fitness- und Gesundheitsakteure) wird identifiziert, in theoretische Zusammenhänge eingeordnet (Vorgespräche mit Praktikern bzw. hier auch Vorkenntnis der Vgl. Häussermann, Hartmut / Stiebel, Walter: Stadtsoziologie, S. 22.

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Material und Methode





Verfasserin, Gesetzes- und Literaturrecherche usw.) und möglichst präzise und ausführlich formuliert. Operationalisierung – Die Begriffe und Variablen, die mit der Problemklärung verbunden sind (z. B. hier die vier genannten Sparten, mögliches zusätzliches Fitness- und Gesundheitsverhalten, die Stadt-Land-Unterteilung usw.) werden herausgearbeitet und definiert. Bereitstellung des Instrumentariums zur Durchführung (z. B. Checkliste oder Leitfaden für die Interviewer werden angefertigt). 12

Insgesamt soll mit der geplanten Untersuchung im Rahmen dieser Arbeit ein, wie es aussieht, erster Versuch einer Breitenerhebung an Individuen zum Thema des Fitness- und Gesundheitsverhaltens unternommen werden. 13 Selbstverständlich wird die erste Untersuchung eines Gebiets, zumal eines so komplexen, nur Annäherungen schaffen können. Vorgaben zu Untersuchungszwecken müssen sorgfältig gesetzt werden. Mit der Stadt-Land-Einteilung wurde das schon angedeutet. Für die in Teil 1 beschriebenen Phänomene des neueren Sport-, Freizeit- und Gesundheitsverhaltens, das bisher in der Fachwelt als nicht umfassend definiert vorgefunden wurde, wird mit dieser Arbeit das Wort »Fitness- und Gesundheitsbewegung« gesetzt. Nach den sozialwissenschaftlichen Vorgaben würde diese Setzung die o. g. Problemformulierung betreffen. Die Formulierung der Fragen in allen Details wurde schließlich ebenfalls nach den entsprechenden Vorgaben und im Rahmen des Mitarbeiterstabes vorgenommen. 14 Sodann erfolgte die Befragung – und zwar als persönliche Befragung, wie sie von der Fachliteratur präferiert wird – durch mehrere unbeteiligte, gut unterwiesene Mitarbeiter (z. B. Studenten), was besonders wichtig erschien, um die ins Subjektive zielenden Fragen nicht durch gefärbte Rhetorik zu beeinflussen. Zeit und Hilfestellung waren, wie von der Fachliteratur gefordert bzw. im Leitfaden festVgl. Klammer, B.: Empirische Sozialforschung, S. 48 f. Vgl. FN 3, wonach bisher nur ein Teilbereich dieses Verhaltens, nämlich der Sportsektor, untersucht wurde. 14 Anerkannt zur Fragebogen-Formulierung bei aller Beschränktheit allgemeiner Regeln sind die »10 Gebote nach Porst«, z. B. einfache Begriffe – möglichst kurze Fragen – keine hypothetischen Fragen –keine Stimuli und Suggestionen – keine Unterstellungen usw., vgl. Kallus, Wolfgang: Erstellung von Fragebogen (sic!), S. 20–22. 12 13

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gehalten, begrenzt, nämlich auf maximal 15 Minuten pro Fragebogen mit möglichst gering voneinander abweichenden Worten ggf. bei Erklärungen zu den Fragen. In der Praxis war beides leicht einzuhalten. 15 Die Zahl 400, wie schon erwähnt, wurde aus arbeitsorganisatorischen Gründen festgelegt, um möglichst viele Daten in einem überschaubaren Zeitraum bearbeiten zu können. Der Erhebungszeitraum erstreckte sich gemäß den Vorüberlegungen über ein knappes Jahr und umfasste damit alle Jahreszeiten, sodass die Aktivisten der gewählten Sparten möglichst zahlreich angetroffen werden konnten (z. B. Jogger eher in Zeiten angenehmen Wetters). Die örtliche Eingrenzung wurde schon begründet. Es ist üblich, dass sich wissenschaftliche und öffentliche Erhebungen im Vorfeld zeitlich möglichst sachdienlich festlegen sowie örtlich auf bestimmte Räume beschränken, nicht zuletzt auch aus Gründen des Finanzrahmens. 16 Die Kontaktierung und Befragung bei organisierten Aktivisten wurde folgendermaßen vorgenommen: Kontaktiert und informiert wurde zunächst die Leitung, z. B. eines Yogakurses. Nach deren Zustimmung zur Befragung, nach Terminierung und Information der Teilnehmer erfolgte die Befragung meistens am Ende einer Kurseinheit, indem bereitwillige Kursteilnehmer sich Zeit für das Interview nahmen. Die Bereitschaft dazu und die Akzeptanz der Sache waren insgesamt hoch; auch viel Neugier nach dem Ausgang der Studie war festzustellen. Die Fragen der Bögen bestehen inhaltlich und der Studienabsicht zufolge (vgl. in Teil 1: »Warum machen die das eigentlich?«) schwerpunktmäßig aus Motivfragen. Andere Fragearten wie die nach Lebensumständen (z. B. die formelle Bildung) dienen, wie schon angeschnitten, der besonderen Erhellung der Antwortlage. Formell zielen die Fragen entweder auf die geschlossene Beantwortung (»Ja« / »Nein«), selten auf die offene (freie) Beantwortung, auf Wahl-Items (was wie bei der freien Antwort eine nachträgliche Skalierung zur Das zuletzt Genannte betrifft die Interpretationsobjektivität und die Durchführungsobjektivität einer Erhebung. Weitere, neben den Objektivitätskriterien geforderte und beachtete Kriterien in Bezug auf die gesamte Erhebung, von der Fragebogenkonzeption bis zur Auswertung, (die sog. Hauptgütekriterien) sind: die Reliabilität (betrifft die Messgenauigkeit), die Validität (betrifft die Entsprechung von Konzeption zur Messabsicht).Vgl. Bühner, Markus: Einführung, S. 28–34. Vgl. auch: Attesländer, Peter: Methoden, S. 6. 16 Vgl. Kirchhoff, Sabine et al.: Der Fragebogen, S. 15. 15

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Erfassung und Darstellung notwendig macht), auf vorgegebene Items, auf skalierte Items (beides technisch ohne nachträgliche Einwirkung zu lösen) sowie auf Restwertfragen (»Was außer dem Genannten?«). Die nachträgliche Einwirkung durch Skalierung stellt einen Eingriff in die Antwortinhalte dar, insofern bei der Auswertung Zuordnungen vorgenommen werden, die Abstraktionen erfordern. Sachliche Vorkenntnis war dabei hilfreich. Im Fall dieser Arbeit war auch hieran der Mitarbeiterstab beteiligt. Eine vorgegebene Skalierung muss, besonders für die zu Befragenden, einleuchtend sein. Hier wurden für Aussagen von »trifft nicht zu« bis »trifft stark zu« Skalen von 1 bis 6 gewählt gemäß allgemein vertrautem Muster z. B. der schulischen Benotung. 17 Zur Erfassung und Darstellung: Die Studie wurde mit gebräuchlicher Excel-Software in Tabellen erfasst und in Diagrammen abgebildet. Auf die Auswertung mittels spezieller Statistik-Software wurde verzichtet. Solche Software ermöglicht insbesondere die multiple Vergleichsbetrachtung. Die Vielzahl der Fragearten, von der Sachkomplexität wiederum gefordert, erlaubt hier aber keine beliebige Verknüpfung der Antwortinhalte. So kann z. B. nicht jeder Antwort das Geschlecht der Antwortperson zugeordnet werden, weil dies im Vorfeld sachlich als irrelevant empfunden wurde. Lediglich die StadtLand-Unterteilung durchläuft die gesamte Erhebung als vermuteter inhaltlicher Marker für Mentalitätsunterschiede. Mit diesen Untergruppen ergibt sich die Darstellung als Doppelbalken-Säulendiagramm. Aufgrund der von vornherein gefassten Absicht, dass jede Antwortkategorie / jedes Diagramm für sich gelesen werden soll als Inhalt-Zahlenrelation, wurde mit den Excel-Diagrammen in Säulenform eine überschaubare Abbildungsform gewählt. Die Auswertung der Daten als »Interpretation«, wie im Voraus überlegt, stellt formell die Verbindung her zum Vergleich mit der Diätetik, so wie es den Erhebungspart in diese Studie als geisteswissenschaftliche Arbeit einbindet. Offengelegt wird hier, dass in die Interpretation des statistischen Materials für wertvoll gehaltene spontane Beobachtungen aus der Befragungssituation seitens der unvoreingenommenen Befrager einflossen und als solche kenntlich gemacht wurden. Insgesamt trägt diese Arbeit mit einem Methodenmix zwischen Deduktion und Induktion zur Ergebnisfindung bei, um der komple17

Vgl. zu Fragearten und Skalierung Bühner, Markus: Einführung, S. 51–68.

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Material und Methode

xen Materie möglichst gut gerecht werden zu können. Darin liegt methodisch eine Besonderheit dieser Arbeit. Das Pendel bewegt sich schließlich bis zu einem phänomenologischen Teil, dessen Beitrag zur Arbeit aus der unbeabsichtigten, unvoreingenommenen Beobachtung thematisch Betroffener besteht. Die Funktion des phänomenologischen Teils wird an späterer Stelle genauer erklärt werden, weil sich seine Funktion erst aus dem Arbeitsgang selbst ergab. Der Teil war ursprünglich nicht geplant, und seiner Entdeckung in Sinn und Wert soll an dieser Stelle noch nichts vorweggenommen werden. Nun soll auf die Methodik des Diätetik-Hauptteils eingegangen werden. Hierbei handelt es sich um mentalitätsgeschichtliches Recherchieren. Dazu werden markante und schließlich wesentliche Züge dieser Form von Gesundheitspflege aus Quellen erforscht und hermeneutisch dargelegt bzw. ermittelt. Es sind Primär- und Sekundärquellen aus dem Fundus des bisher fachlich Beigetragenen. Die mit diesen Quellen überlieferten Denk- und Handlungsmuster, insofern sie kulturgeschichtliche Prägekraft erwiesen, werden als Teilparadigmen des diätetischen Paradigmas herausgearbeitet, nämlich folgende: • • • • • • • • •

die antike Grundlegung und Ausstrahlung der Diätetik Maimonides das Mittelalter und seine Ausstrahlung Hildegard von Bingen Paracelsus das Baden und das Fasten J. W. v. Goethe Friedrich Nietzsche Turnvater Jahn

Anzumerken ist dabei, dass die wirkliche Prägekraft von Denk- und Handlungsmustern, etwa im Blick auf die zahlenmäßige Teilhabe der Bevölkerung, heute nur noch schlussfolgernd aus dem Material ermittelbar ist. Insofern kann es gegenwärtig dem Potenzial der Philosophie zugutekommen, wenn sie wie mit dieser Arbeit durch Ergebnisse der Demoskopie aufwarten kann, was früher kaum möglich war (vgl. das zahlenmäßige Missverständnis zur demokratischen Verfasstheit »der« altgriechischen polis, in deren Genuss, wie wir heute wissen, aber nur ein Siebtel der Bevölkerung stand).

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Material und Methode

Zum Aufbau der gesamten Arbeit sind folgende Teile vorgesehen: 1. Einführung als Themeneröffnung und Klärung der Problemstellung sowie der Forschungsfrage, 2. Material und Methodik, 3. und 4. Hauptteile als Beschreibung, Interpretation und Vergleich der zwei Formen von Gesundheitsverhalten, nämlich: 3. Diätetik, 4. Fitnessund Gesundheitsaktivitäten. Da die Hauptteile 3 und 4 inhaltlich und methodisch Fragen offen lassen werden, wobei sich Genaueres im Untersuchungsgang selbst eröffnen wird, fügt sich ein vertiefender phänomenologischer Teil 5.1 zwischen den Hauptteil 4 und den Schlussteil 5.2 und 5.3 der Arbeit ein. Im phänomenologischen Teil kommen Menschen mit authentischen Beiträgen zu Wort, die sich als sehr wichtig zum Thema erweisen. Das Gesamtergebnis am Ende von Teil 5 wird durch den phänomenologischen Teil inhaltlich deutlich beeinflusst werden. Dadurch motiviert, wird dem Gesamtergebnis der Arbeit ein perspektivischer Teil 6 angefügt, der zum Weiterforschen anregen will. Die Arbeit endet mit Teil 7, der Zusammenfassung. Es folgen das Literaturverzeichnis und ein Anhang. Dieser Anhang will das Material der statistischen Untersuchung anschaulich machen. Er kann parallel zum Fitness-Kapitel (Teil 4) gelesen werden, besonders die Antwort-Diagramme, die die Ausgangsbasis der Fitness-Beschreibungen und -Interpretation sind. Zur sprachlichen Kenntlichmachung von Verweistexten: Unterteilungen innerhalb der genannten sieben Teile (mit zwei- und mehrstellig nummerierten Überschriften) nennt die Verfasserin an den Stellen, an denen darauf verwiesen wird, »Kapitel«. Zum phänomenologischen Kapitel ist methodisch zu betonen, dass dessen Wortbeiträge, anders als die Erhebungsdaten, nicht abgefragt wurden. Sie ergeben sich typischerweise aus dem Leben, in diesem Fall aus der Korrespondenz mit Klienten in Ausübung der beruflichen Tätigkeit der Verfasserin als Ernährungs- und Gesundheitsberaterin. Die benutzten Quellen: Zur Klärung statistisch-methodischer Fragen dienen aktuelle sozialwissenschaftliche Lehrbücher, wie sie schon zitiert wurden. Eine Verwendung von Quellen zum Inhalt verlangt der Sache nach überwiegend der Diätetik-Part wie oben schon angesprochen. Zur Sprachform: Im phänomenologischen Teil, in dem Menschen selber zu Wort kommen, dominiert mit diesen Beiträgen die Umgangssprache. In Bezug auf die ganze Arbeit werden Begriffs-Abkürzungen trotz themenbedingter Wiederholungen nicht festgelegt. Zur inhaltlichen und optischen Erkennbarkeit wurden nach aus29 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Material und Methode

sagekräftigen Kapiteln Resümees gebildet und in Kursivschrift abgedruckt, ebenso wie übergeordnete Ergebnisse im Kursivdruck gehalten sind. Auf spezifische Formalia in einzelnen Kapiteln wird an entsprechender Stelle hingewiesen.

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3 Gesundheitsverhalten früher

3.1 Was ist Diätetik? 3.1.1 Die Anfänge Die Zielstellung der Arbeit, um diesen Gedanken aus Teil 1 hier zu wiederholen, besteht im philosophischen Zugriff sowie im thematischen Blick auf menschliches Gesundheitsverhalten darin, begriffliche und begriffstopologische Klärungen zu leisten bzw. ideengeschichtliche Wurzeln freizulegen. Diese Zielsetzung möchte von vornherein das Missverständnis vermeiden, es ginge etwa um reine Geschichtsdarstellungen, die gar Anachronismen thematisieren oder zwanghafte Aktualisierungen vornehmen würden. Was also ist Diätetik? Die Beantwortung erschließt sich im sorgfältigen Gang durch die Medizingeschichte. Es gibt keine Einzelperson, die ein Programm »Diätetik« verfasst hätte oder eine Definition zum Abschreiten; die Diätetik will ertastet werden. Die Geschichte der Diätetik ist seit ihren Anfängen im alten Griechenland fest mit der europäischen Medizingeschichte verbunden. Unterstand die Medizin des Altertums ihr als Paradigma der Lebensweise, diaita, insgesamt, so wirkten umgekehrt von den Erkenntnissen der Krankheitserfahrung oder Krankenbehandlung her Impulse auf die gesunderhaltende Lebensweise ein. Was ist das Besondere, da sich doch auch heute die Medizin der Vorbeugung öffnet bzw. schwere Leiden zur klugen Lebensführung anraten? Wissenschaftliche und allgemein-informative Abhandlungen zum Thema nennen Namen und deren Ansichten, als zitierten sie eine altgriechische Lehrbuchsammlung. Der Arzt Galen wird immer genannt und Hippokrates, beide noch heute Vorbilder der Naturheilkunde. In Wirklichkeit liegen die Wurzeln von Diätetik und Medizin sowie ihre Persönlichkeiten nicht so offen. »Diätetik« ist ein Sammelbzw. ein paradigmatischer Begriff und drückt auch das Komplexe, 31 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsverhalten früher

Gewordene der Sache aus. Wer war Hippokrates? Ein erfolgreicher Heiler ganz bestimmt, denn anders gäbe es keine Legende, doch besitzen wir keinen authentischen Satz von ihm, nicht einmal jenen gerne zitierten, dass die Nahrungsmittel als Heilmittel fungieren sollten. Die folgenden Ausführungen wollen das historische Feld abschreiten und dabei vor allem die geistigen Wurzeln des Diätetischen ergründen. Greifbar werden europäische Medizin und Gesundheitslehre erst mit zwei Namen aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert. Der griechische Arzt und Naturforscher Pedanius Dioskorides und der römische Feldherr und Staatsmann Caius Plinius (d. Ä.) haben beide unabhängig voneinander auf Reisen das gesamte ihnen zugängliche wissenschaftliche Schrifttum der Vorgänger gesammelt und mitsamt eigenen Erkenntnissen kodifiziert. De materia medica des Dioskorides sowie Einzelschriften des Plinius bringen zuverlässig die Kenntnisse der Vorgänger näher. Sie zitieren Sammlungen aus der Spanne vom 4. bis zum 1. vorchristlichen Jahrhundert, die sich inhaltlich eng auf Hippokrates berufen. Einen zweiten authentischen Strang bilden die Schriften des Galenos (Galen), der im 2. Jh. n. Chr. lebte. 1 Galen selektierte fachlich die Kenntnisse seiner Vorgänger und machte sich selber auf dem Gebiet der Medikamenten-Zubereitungsformen verdient (noch heute »Galenik« genannt). Sein Modell von den vier bestimmenden Körpersäften (auch von lat. humores – Säfte »Humoralpathologie« genannt) ist zwar pathologisch schon lange überholt, doch die Grundanschauung von der Beziehung zwischen Körper, seelisch-geistiger Verfassung und Außenwelt gilt prinzipiell unangefochten, wenn auch in heutiger Lebensweise kaum noch berücksichtigt. Gehalten hat sich das von der altgriechischen Unterscheidung in die vier Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft abgeleitete Modell noch bis ins 17. Jahrhundert. Ausgehend von der Zuordnung bestimmter Organe zu Körpersäften und den jeweiligen Qualitäten der Elemente wurde mit entsprechend einflussgebenden Arzneien und Verhaltensanweisungen behandelt. Es ging therapeutisch und diätetisch um die Wiederherstellung oder Bewahrung eines Gleichgewichts. Wer verfasste die Vorgänger-Schriften? In den Sinn kommt vor allem der berühmte Corpus Hippocraticum aus dem 5. bis 3. vorchristlichen Jahrhundert, eine Sammlung verschiedener Werke, von 1

Vgl. Gundert, Beate (Hg. u. Übers.): De symptomatis, S. 8 f.

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Was ist Diätetik?

der niemand sagen kann, ob ein Satz vom Meister selber stammt. Als Sohn eines Arztes soll Hippokrates 460 v. Chr. auf der Insel Kos geboren worden sein. Er wurde durch seinen Vater und andere Lehrer unterrichtet, durchwanderte ganz Griechenland und soll aus Athen die Pest verbannt haben. Jedenfalls gelangte er zu Ruhm, und im Altertum war es üblich (auch noch im Mittelalter), einem Meister möglichst viele Schriften zuzuschreiben und sich darauf zu berufen, insofern als die Selbst-Bekanntmachung noch wenig Mittel und Möglichkeiten hatte. Angebliche Standbilder des Hippokrates oder briefliche Dienstgesuche an Königshöfe wurden nie gefunden. Erforschbar und hierin von unschätzbarem Wert ist aber die Lehre des Corpus, an der sich der Paradigmenwandel des 5. Jahrhunderts vom magischen Handeln zur wissenschaftlichen Naturbeobachtung ablesen lässt. Dazu fällt deutlich auf, dass die Schriften von der aristotelischen Natur- und Lebensauffassung geprägt sind. Gut möglich, dass Hippokrates durch Aristoteles’ Nachfolger Theophrast in der von beiden gegründeten Schule Peripatos unterrichtet wurde. Medizinisch, so heißt es, entdecken die Schriften »den kranken Menschen«, also den Patienten als Person ganz spezifischer Bedürfnisse und Sensibilitäten. 2 Auf übergeordnete Züge der aristotelischen Natur- und Lebensphilosophie soll an späterer Stelle, in Kapitel 3.1.3, noch genauer eingegangen werden. Viele der antiken Schriften wären verlorengegangen, hätten nicht die christlichen Klöster als Konservatoren gewirkt. War das christliche Mittelalter heilkundlich primär mit dem Einrichten einer Kräuterkunde beschäftigt, die die germanischen und keltischen Kenntnisse mit mediterranen Pflanzenimporten und der christlichen Lehre verband, außerdem mit dem Etablieren spezifischer spirituell seelsorgerlicher Ansichten zu Gesundheit und Krankheit (auch dies wird später, mit dem Christentum, noch behandelt werden), so erzielten die antiken medizinwissenschaftlichen Schriften erst wieder ab dem Spätmittelalter wirkliches Interesse. Das mittelalterliche Grundproblem einer zu zivilisierenden Lebensweise, wie es die Quellen der Herrscher (v. a. Karl der Große, Ludwig der Fromme) und der Klöster

Präzise medizingeschichtliche Abhandlungen finden sich in Kräuterführern, und es ist nicht unwissenschaftlich, daraus zu zitieren, wenn es sich um eine Koryphäe wie Apotheker Pahlow handelt. Hier: Pahlow, Mannifried: Heilpflanzen, S. 46 f. Pahlow verbindet wissenschaftliche Sorgfalt mit Leidenschaft; er ist heute einer der letzten professionellen Phytotherapeuten.

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überliefern (etwa das der Hildegard von Bingen), erhielt flammenden Zündstoff ab etwa 1000 n. Chr. mit der arabisch-lateinischen Scholastik und ihrer Aristoteles-Rezeption. 3 Erst der Rückblick auf die antike Heilkunde erkannte die diaita als eine Kultur der Erziehung und Einübung – paideia –, die nicht wegzudenken war von den natürlichen Gegebenheiten – physis – als Matrix, der zu findenden Richtschnur – nomos –, dem kosmos als Bezugssystem der Welt im Ganzen, der mesotes, der Wahl der richtigen, nicht zwingend arithmetischen Mitte, und der arete, der Tugend zum Nützlichen in allen Lebensdingen. Zu betonen ist das Aufeinander-Bezogen-Sein der ethischen Haltungen, wobei insbesondere die mesotes ein Selbstverhältnis beschreibt, das die Ausübung tugendhafter Haltungen anbetraf. Gerade das Tugendhandeln selbst und nicht nur dessen sachliche Ziele sollten vom rechten Maß bestimmt sein. Einige Seiten später soll dieser Gedanke genauer hergeleitet werden. Übergeordnet ging es bei den rezipierten Zügen der Heilkunde um die aristotelische Konzeption von der mikro-makrokosmischen Einbindung des menschlichen Lebens in ein Höheres, von den Bezügen aller Lebenserscheinungen untereinander und zugleich von der Überzeugung um die Lenkbarkeit des eigenen Lebens zum Best-Gedeihlichen. Einflussreiche Werke dieser Haltung sind das Lehrbuch der Medizin des arabischen Universalgelehrten Avicenna (arabisch Ibn Sina, um 1000) und die »Übersicht« des syrischen Arztes Ibn Butlan (gest. 1064). Aus orientalischen, islamischen, auch jüdischen und christlichen Impulsen entstanden vom ausgehenden Mittelalter an bis zum Beginn der Neuzeit zahlreiche Gesundheitsbücher, die unter dem Namen Regimina sanitatis zusammengefasst werden. Zu den bekanntesten zählen das Regimen sanitas Salernitatum (ca. 12. Jh.) oder das Regimen sanitatis des Maimonides (um 1200). Sie alle befassten sich vornehmlich mit der Erhaltung der Gesundheit mit Hilfe der sex res non naturales, d. h. sechs Bereichen der vom Menschen steuerbaren Verhaltensweisen und Umweltbedingungen, und hatten vor allem didaktische Funktion zum Zweck der selbstständigen Handhabe der Menschen. 4 Der jüdische Arzt und Gelehrte Maimonides vertrat um die MitVgl. ebd., S. 48. Vgl. auch Schipperges, Heinrich: Heilkunde als Gesundheitslehre, S. 33. 4 Vgl. Schipperges, Heinrich: Heilkunde als Gesundheitslehre, S. 29–33. 3

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te des 12. Jh. daher die Ansicht, dass die Medizin mehr eine Kunst als eine Wissenschaft und diese von allen Menschen für sich selber ausübbar sei. In der Neuzeit werden Heiler wie Paracelsus oder Denker wie Novalis solche Ansichten aufnehmen. Sie sind, wie in diesem Kapitel noch folgen wird, eigentlich aristotelisch und verweisen auf die longue durée der europäischen Heiltraditionen. Maimonides war der erste, der das Wort Diätetik programmreif machte mit seinem Regimen »Diätetik für die Seele und den Körper«. Er rezipiert und präzisiert darin, was arabische Gelehrter des 9. und 10. Jh. im aristotelischen Sinn überliefert hatten: Menschen besitzen Verstand und sind für ihre Gesundheit verantwortlich; und hierbei sei besonders auf die sechs folgenden Bedingungen zu achten: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Licht und Luft (aer) Speise und Trank (cibus et potus) Arbeit und Ruhe (motus et quies) Schlaf und Wachen (somnus et vigilia) Absonderungen und Ausscheidungen (secreta et excreta) Anregung des Gemüts (affectus animi).

Aus der antiken Verwurzelung wurde so die Medizin im ausgehenden Mittelalter in ein scholastisches System gebracht, das durch Umfassendheit, Einfachheit und Durchsichtigkeit besticht. Die sechs Bedingungen der Diätetik hielten sich jahrhundertelang in Literatur und Allgemeinwissen. Neben der gelehrten lateinischen Strömung dieser Werke gab es die ebenso populäre, bedeutende, in den verschiedenen Landessprachen verfasste Literatur, z. B. Thomas Eliots: The Castel of Health (1534) oder Castor Durantes: Il tesoro della sanità (1588). Bei beiden Linien waren oft bestimmte Berufs- oder Altersgruppen angesprochen, in der Frühen Neuzeit auch die Bewohner bestimmter Städte oder ein bestimmtes Verhalten (z. B. ab dem 17. Jh. der Umgang mit Genussmitteln). Der Fokus auf die individuelle Person blieb aber stets erhalten, v. a. auch mit der prägenden Säftelehre. Über Ärzte und Lesekundige, dann auch mündlich, besonders über Patienten, wurden die diätetischen Inhalte verbreitet. 5 Die Diätetik betonte für alle Menschen die praktische Seite der Medizin (welcher neben der Diätetik die Chirurgie und die Pharmazie Vgl. ebd., S. 34–36. Zur Verbreitung vgl. Gadebusch-Bondio, Mariacarla: Diätetik, in: Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 2, Sp. 992.

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zugeteilt wurden) gegenüber den theoretischen Konstanten, die mit Physiologie und Pathologie das Grundwissen der Ärzte darstellten. Es war eine Systematik aus Theoretisch-Gegebenem und Praktisch-Beeinflussbarem, angelehnt an Aristoteles, denn dieser hatte »getrennt«, wie es gerne missverständlich formuliert wird, zwischen freier Natur und Menschen verfügbarer Nicht-Natur. 6 Die ganzheitliche Lebensstilisierung bei den Griechen – als Fächerkanon waren hier Heilkunde, Gymnastik und Musik im Bunde – betraf allerdings immer auch das nicht mehr objektiv Erreichbare im spirituellen Bewusstsein, dass die Grenzen einerseits durchlässig, andererseits zu achten wären. Die Beeinflussbarkeit des Lebens zum Guten und Gesunden, die antiken Schriften um Hippokrates und Galen, die Regula vitae der benediktinischen Lebenskultur, die Regimina sanitatis der arabischen und lateinischen Scholastik sowie später das, was die Romantik erkannte z. B. als »Makrobiotik« (Kunst, lange zu leben) oder Kalobiotik (Kunst, gut zu leben), sie alle prägten die europäische Kultur mit reichhaltigem Material zur Lebensführung und -schulung. Diätetik umfasst somit alle selbstverantwortlichen Maßnahmen, die zur Heilung oder Gesunderhaltung beitragen, sowohl körperlich als auch seelisch-geistig sowie im Sinne einer geregelten Lebensweise. 7 Der Kern ist die gute Lebensführung, die Maxime des rechten Maßes: nichts zu viel! Diese Richtung war im Grunde schon mit den vorsokratischen Naturbeobachtungen eingeschlagen worden, um an dieser Stelle noch einmal wesentlich zurückzublicken, eines Heraklit etwa, der den Begriff der harmonia – »Harmonie« prägte. Was sich für moderne Ohren nach »Sonntagsruhe« anhört, war bei Heraklit als Dynamik zwischen Extremen gemeint – die Musik hat bis heute diese Bedeutung noch erhalten – abgeschaut von der angespannten Holzstrebe eines Bogens oder auch einer Leier. 8 Später soll insbesonDie Verbindung zwischen Natur und Nicht-Natur besteht in einer wesenhaft gleichen Ursächlichkeit und Zielgerichtetheit. Der Arztsohn und naturwissenschaftlich geprägte Philosoph Aristoteles verfasste die Unterscheidung praktisch orientiert, aber dialektisch gemeint und keineswegs als Teilung. Wichtige Belegstellen finden sich in: Phys. II 2, 194a-3, 195b. 7 Vgl. Schipperges, Heinrich: Heilkunde als Gesundheitslehre, S. 25, 29–36. 8 Heraklit, wenngleich nur fragmentarisch zugänglich, sollte reichhaltiger gewürdigt werden als nur mit der populären Formel panta rhei – »Alles fließt«. Auch seine Formulierung physis kryptestai philei – »Die Natur liebt sich zu verbergen« beschreibt elementar das Wesen der Natur in ihrem Auf und Ab, Erkennbarem und Entzogenen. Dies verwahrt sich einem statisch-messenden Naturverständnis gegenüber. Zitate in Peri physeos, in: Fragmente, S. 152, 178. Zu Hippokrates vgl. Aphoris6

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dere Hippokrates die Gesundheit als »ausgewogene Mischung zwischen Qualitäten« bezeichnet haben. Auch er kam von der Naturschau her: Alles, was zu viel ist, sei der Natur zuwider, erkannte er. Im klassischen Griechenland verband sich das Streben im Gleichklang der Kräfte mit der Vorstellung des »Schönen«. Das Diätetische kann danach wesenhaft so resümiert werden: »In die Zielsetzung der Diätetik floss auch das philosophisch-pädagogische Idealbild der kalokagathia, des schönen und guten Menschen, mit ein, demzufolge ein an seiner Gesundheit gepflegter Mensch auch moralisch überlegen war.« 9 Erst spät, aber explizit aufgehoben wird das Streben nach der Ausgewogenheit im Denken des Descartes (vgl. Teil 1, S. 9), der in neuzeitlicher Egozentriertheit die »Vollkommenheit Gottes erreichen«, dessen Schöpferstellung einnehmen will. Der grenzenlose Anspruch des neuzeitlichen Denkens und Handelns, die »Selbstübersteigerung« des Menschen, ist für das wirtschaftliche Wachstumsparadigma bestimmend und mit der ökologischen Zerstörung inzwischen existenzbedrohlich geworden. 10 Selbstverständlich gehörte auch die Ausgewogenheit zwischen materieller und geistiger Gesinnung zum alten und dann klassisch gewordenen Paradigma. Aktuelle Anthropologen sehen nicht nur die Gier, sondern auch die eilige Hast nach dem Materiellen als Syndrom eines schweren Sinnverlustes an, das Hetzen und Gieren als ein Kompensationsverhalten. Das neue Programmwort »Entschleunigung« dürfte ein Paradebeispiel dafür sein. Der Soziologe Hartmut Rosa entlarvt das moderne Leben in der Beschleunigungsspirale als explizit »kein gutes Leben«. 11 mus I, 3.4 in: AS, S. 193 f. Zum »rechten Maß«: Der Überlieferung nach sollen am Eingang des Orakeltempels von Delphi Reflexionen Platons u. a. neben dem oft zitierten gnothi seauton – »Erkenne dich selbst« auch das Logion meden agan – »Nichts im Überfluss« angebracht gewesen sein. Beide Logien hingen inhaltlich sicher zusammen. 9 Müller, Ralf: Gelassenheit, S. 8 f. 10 Beide Zitate beim bzw. vom engagierten Theologen und Biologen Hagencord, Rainer: Noahs Gefährten, S. 19 f. 11 Diese Spirale betrifft die Kapitalwirtschaft, die um keinen Preis stagnieren oder gar zurückfallen darf, ebenso wie den Menschen, der einerseits keine Scheu vor Grenzen besitzt, andererseits mangels innerem Stand und äußerer Orientierung in ständiger Erfolgshast lebt. Bei allem Erfolgsstreben ergibt sich aber auch eine Spirale der Langeweile und der kulturellen Erstarrung. Rosa, Hartmut, Beschleunigung, 7 f., 39, 43 f., 53 f. Rosa etabliert aktuell das neue Fachgebiet der »Zeitsoziologie«. Vgl. dazu auch die Programmschrift von Rosa et al.: Zeitwohlstand. Wie wir anders arbeiten, nachhaltig wirtschaften und besser leben, München 2014.

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Es sollte kritisch hinterfragt werden, wenn sich die moderne Wissenschaft mit dem aristotelischen Natur-Kultur-Modell auf den Griechen als ersten objektiven Forscher beruft, insofern als die moderne Wissenschaft das aristotelische Beziehungsdenken und das zielgerichtete Bemühen zum allgemein Gedeihlichen einem isolierten Zweckrationalismus geopfert hat, wie es so konsequent keine Zeit zuvor tat. Sowohl bei Aristoteles als auch in der gesamten diätetischen Haltung finden sich Innen und Außen wechselweise aufeinander bezogen, gelten Mitmenschen, Natur und Kosmos nicht als fremde Gegenüber des Selbst, wie es sich im modernen Bewusstsein mit dem descartschen Paradigma etabliert hat. Für Aristoteles besaß unbestreitbar der lebensweltliche Mikrokosmos des Menschen ein übergeordnetes Bezugssystem im natürlichen Makrokosmos. 12 Ein weiterer schwerer Irrtum der westlichen Aristoteles-Rezeption liegt darin, dass die dynamische Zielgerichtetheit, die Aristoteles an den Lebensprozessen wahrnahm und sie somit als natürlich angelegte Konstitution auch für Ethik und Erziehung betrachtete, zu einem grundsätzlich fortschrittlich verfassten Weltbild umgemünzt wurde. Doch weiß der Beobachter Aristoteles genau, dass jeder Fortschritt zunächst aus der Konstitution des Mangels und der Bedrohtheit von Leben generiert wird. 13 Dies entspricht einer Grundannahme, die auch andere antike Kulturen betonten, gewissermaßen besonders vergleichbar der Sichtweise, in der später das Christentum das Leiden in die Dialektik vom Fall der Welt und der Erlösungstat Christi stellte. Speziell das menschliche Leben in seiner Fragilität und Endlichkeit, heute mit dem Begriff der »Kontingenz« belegt, bekam bei Aristoteles eine Würde durch die menschliche Vernunft und Entwicklungsfähigkeit, wie es sie im Christentum aus dem Schöpfungsund Heilshandeln Gottes erhielt. Wenn jedoch das Kontingenzproblem des menschlichen Lebens im modernen, aktuellen GesundheitsVgl. FN 6.Wesentlich ist auch Aristoteles’ Ansicht von der Seele (eidos) als Formprinzip der Materie (hyle), sodass also kein Gegensatz, sondern ein Übergang zwischen Geist und Natur besteht: De An. III 7, 431b (auch »Hylemorphismus« genannt aufgrund »hyle«, s. o., »morphe« – Gestalt). Zur Zweckgerichtetheit (Teleologie) bei Aristoteles, das »Um-Willen« (hou heneka), nämlich um des Guten Willens, s. z. B.: Phys. II8, 199a. Vgl. zur Verfasstheit des Lebendigen bei Aristoteles auch Kather, Regine: Leben, insbes. S. 32 f. 13 Aristoteles entnahm der Naturbeobachtung eine Dynamik aus Möglichkeit und Erfüllung (Teleologie), die beim Menschen als ein mit Vernunft ausgestattetem Wesen auf »Selbstüberschreitung angelegt« ist: Kather, Regine: Leben, S. 28, 30 f. 12

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wesen mit enhancement am menschlichen Körper gemildert und gelöst werden soll, scheint das eher einer Flucht gleichzukommen als einer realistischen Pflege des Lebens in seiner Verfasstheit als »Leib« (vgl. Teil 1, S. 9 f.) 14, also in seiner unlösbaren Bindung an natürlich indizierte Parameter und die menschlichen Möglichkeiten, darauf zu reagieren. 15 Bei Platon geht dann das ethische Streben zum GedeihlichNützlichen so weit, dass er die Politik mit dem heilenden Handeln des Arztes vergleicht. 16 Dass das Heilen eine Kunst sei, die somit Vgl. zum enhancement am Körper die Untersuchung des Freiburger Theologen Baltes, Dominik: Heillos gesund?, insbes. das Fazit S. 355–359, der einer fragwürdigen Perfektionsspirale die Einladung des christlichen Kerygma entgegensetzt, die Kontingenz (Zufälligkeit, Fragilität, Endlichkeit) vertrauensvoll anzunehmen. Die Verfasserin dieser Arbeit befürchtet in beiden Positionen, wenn sie extrem liegen, ein Aufgeben der Selbstbestimmung durch Delegation – im einen Fall an einen entmündigenden Apparat, im anderen an einen entmündigenden Gott – und hält eine aktive, selbstbestimmte Gesundheitspflege, wie sie zum Diätetischen bisher anklang, für eine nach beiden Seiten hin anschlussfähige, wirklich moderne Position. (Vgl. dazu, nicht ganz unpassend, den Spruch unserer Großeltern: »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott«). 15 Die Parameter des Lebens sind aus der naturwissenschaftlichen Forschung bekannter denn je. Die biologische Evolution wird allgemein als lineare Entwicklung propagiert, jedoch innerdynamisch, gestützt durch Forschungserkenntnisse aus Biochemie und Biologie sowie aus der Wahrnehmung der Lebensprozesse, muss sie als zyklische angesehen werden: Eine stetige Verschränkung aus aufsteigender und absteigender Evolution oder »Werden und Vergehen«, wie es die Vorfahren nannten (vgl. Kirchenliedgut, vgl. auch antike medizinische Quellen wie z. B. Hippokrates über Epidemien: AS, S. 53 f.), und sie müsste aus diesen Erkenntnissen als ein »ständiger Kampf höherer gegen niedere Organismen« (d. Verf.) beschrieben werden. Ein folgenschwerer Einschnitt für die Verfasstheit des Lebens auf der Erde war es nämlich, dass an der Schnittstelle chemischer / biologischer Evolution vor ca. 3 Mia. Jahren (vgl. Kather, Regine: Leben, S. 103 f.) nicht alle Lebewesen die Verstoffwechselung von Licht und Sauerstoff übernahmen, sondern Mikrobenspezies verblieben, die sich anhaltend anaerob, lichtarm sowie im eher sauren Milieu ernähren – Bedingungen von »Fäulnis«, die heute nicht nur für Zersetzungsprozesse und Infektionskrankheiten bekannt sind, sondern auch für Formen von Stoffwechseldegenerationen, Tumorentstehung u. a. Entsprechend sind im Organismus (hier: des Menschen) Gegenspieler-Systeme tätig wie das oxidative vs. antioxidative System u. a. Vgl. dazu Rauchfuß, Horst: Chemische Evolution, S. 356 sowie Mohr, Paul / Voges, Stefan R.: Sauerstofftherapie, S. 6, 84–86. Diesen Bedingungen wäre vielleicht durch aktive Stärkung der leiblichen Gesundheit besser begegnet als durch Maßnahmen, die das Individuum abhängig machen können. Vgl. in der Philosophie phänomenologisch zur »Kurve« der Entwicklung Plessner, Helmuth: Stufen, S. 146 f. Zur Kontingenz des Lebens vgl. ebd., S. 216. 16 Politiker als Arzt bei Platon: Politeia VI 499c-d. Der aus der Gadamer-Schule stammende Philosoph Wolfgang Wieland beschreibt in einer Monografie, wie die ärztlich14

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Übung und Reife verlangt über alles objektiv Erlernbare hinaus, haben ebenfalls zuerst die Griechen geäußert wie dies im Übrigen für andere Berufe auch (vgl. gerade die Staatskunst) gilt. 17 Leider gab es in den späteren Wissenschaften einen folgenreichen Bruch ihrer einstigen Aufeinander-Bezogenheit (das betraf auch den Einfluss der islamischen Verbindung von Heilskunde und Heilkunde), als das europäische Mittelalter sich auf vier Fakultäten der universitas erweiterte, dabei eine Aufsplitterung zu Lasten von Theologie und Philosophie vornahm, die bis jetzt für den Zerfall von Erkenntnis und Interesse, von Praxis und umfassender Einsicht verantwortlich ist. 18 Den Sinn für Zusammenhänge zeigten die Griechen ganz konkret in ihren Ausbildungsinhalten der Jugend. Die Schriften Homers, der Chronisten und anderer Autoren geben uns Vorstellung davon. Körperübungen, griechisch die gymnastike techne, galten als ein wichtiger Bestandteil der Jugenderziehung in einer eigener Stätte, dem gymnasion, aber waren auch aus dem Leben der Erwachsenen nicht wegzudenken. Dabei waren körperliche Schönheit, geistige Schönheit und Gesundheit miteinander verbunden und gipfelten im Erziehungsideal der kalokagathia, der Vollkommenheit im Ästhetischen (kalov – dem Schönen) und Ethischen (agathov – dem Guten). Ein wesentliches Ziel der gymnastischen Übungen war im Blick auf Gesundheit und Kondition immer auch die militärische Tauglichkeit der Männer sowie die dem Nachwuchs dienende gute Verfassung der Frauen. Insbesondere die Erziehung Spartas ist hierfür legendär geworden. Die Ausbildung der Medizinstudierenden bestand daher, unter dem Ziel möglichster Förderung der Gesundheit eben auch unter dem militärischen Aspekt, zum großen Teil aus diätetischen Inhalten der Ernährung, der Körperübungen und der Lebensweise. Gleichwohl steht sie beispielhaft für das eigentlich diätetische Wesen der gesamten alten Medizin in seiner Funktion als Vorbeugung und als Bildung. Realiter fiel in den griechischen Stadtstaaten die Neigung oft mehr zur Betonung des körperlichen als des geistigen Trainings aus. Platon, der das Ideal des Einklanges von Körper und Geist-Seele betont, kritisiert den Athleten-Typus, den Wettkämpfer, im Blick auf

künstlerische Intuition, die im Fluss von Gesundheit und Krankheit nötig sei, durch die moderne Taxonomie von Diagnose und Therapie unterlaufen wird: Diagnose, insbes. S. 113–122. 17 Zum Arzt als Künstler siehe Aristoteles: Physik II 195a. 18 Vgl. Schipperges, Heinrich: Heilkunde als Gesundheitslehre, S. 29.

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die Wettkampfbegeisterung der Athener. 19 Gegen Platons Athletenkritik lässt sich sagen, dass auch die Wettkampfkultur eine Verbindungsfunktion hatte, nämlich politisch und kulturell ähnlich dem heutigen internationalen Sport als Bindeglied zwischen den zahlreichen Einzelstaaten. Innerstaatlich stellte sie einen way of life der Adligen dar, die wiederum immer auch Krieger waren, die Wettkampfkonstitution und -mentalität also im Blut hatten. So zeigt sich das diätetische Paradigma schon in seinen Frühstformen im alten Griechenland vielschichtig in verschiedenen Ausprägungen (z. B. der Zweckmäßigkeit oder Veräußerlichung), aber auch in der Flexibilität leiblicher Sorge, die jedem Lebensbereich an sich innewohnt. Der pragmatische Zusammenhang von Gesundheit, Erfolg und Macht schwingt sicher auch bei heutigen Fitness-Einstellungen mit. Damit stehen wir evtl. dem römischen Erbe näher, denn den Römern galten Körperübungen in einem idealistischen Sinn wie dem der kalokagathia als Unfug. Der Körper wurde um des menschlichen Funktionierens willen gepflegt (mens sana in corpore sano) bzw. im Sinne nüchternster Zweckmäßigkeit zum Dienst an der technisch hoch ausgestatteten, buchstäblichen Kriegsmaschinerie. 20 Die Tragweite der griechischen paideia steht allerdings im Zusammenhang mit wesentlichen ethischen Vorstellungen, um nochmals zu betonen, dass sich bei den Griechen das Ethische unter dem Ziel des gelingenden Lebens mit dem Diätetischen stark überlappte. Für den gelingenden Lebenswandel überhaupt hat Aristoteles den Vollkommenheitsbegriff eingeführt als ein nicht zu definierendes Entwicklungsziel (der »Glückseligkeit« – eudaimonia, des umfassend gelingenden Lebens, s. o.), das unbedingt eine paideia – im weitesten Sinne »Pädagogik« – erforderlich macht, die zum selbstständigen Empfinden, Urteilen und Handeln führt. Die im Gegensatz zu Platon

In einem seiner Spätdialoge, dem Timaios, entwirft Platon das Bild der Harmonie von Körper und Seele: 87c-89d. Ähnlich: Im Spätdialog Philebos arbeitet Platon die Macht der Leiblichkeit zwischen Lust und Vernunft heraus: 11a-14b. Das in der Platon-Rezeption meist überbetonte, eigentlich dem Neuplatonismus zuzuschreibende Bild vom »Körper als Gefängnis der Seele« (soma – sema) findet sich dagegen nur im ethischen Kontext des Frühdialogs Gorgias: 493a; ausgearbeitet dann im Phaidon, im Todesringen des Sokrates, und thematisiert hier die Weiterlebenshoffnung: 82c. In beiden Fällen erlaubt es aber keine Rückschlüsse auf eine Feindschaft Platons gegen den Körper im Gefüge als »Leib«. Vgl. Dazu auch Kather, Regine: Wiederentdeckung, S. 28. 20 Vgl. Repschläger, Marion: Sport und Medizin, S. 6–10. 19

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nicht systemische Ethik des Aristoteles orientiert sich nachdrücklich an den erfahr- oder erahnbaren Dimensionen physis, nomos und kosmos, und als Fühler dienen zum einen die mesotes-Lehre, zum anderen die schon auf Sokrates zurückgehende arete als innere Haltung, eben nach dem Gedeihlichsten zu streben. 21 Aristoteles übernimmt bzw. unterscheidet noch weitere menschlich einzuübende Eigenschaften, wobei insgesamt bei seiner Ethik das Verhältnis von trainierter Bereitschaft der Menschen und konkreter praktischer Anwendbarkeit unübertroffen geblieben ist. In der Neuzeit hat Immanuel Kant Wesentliches in seinem Sittengesetz wieder aufgenommen. Die Relevanz der hier genannten Orientierungen und Haltungen für das nachfolgende und aktuelle Gesundheitshandeln soll sich im Rahmen dieser Arbeit zeigen. 22 Dabei wird vor allem immer wieder die mesotes-Lehre zur Sprache kommen, auf die in diesem Kapitel schon einige Seiten zuvor im Besonderen hingewiesen wurde. Der Ursprung ihres Gedankens bei Aristoteles soll wegen ihrer Wichtigkeit hier kurz skizziert werden: Anders nämlich als bei den vorsokratischen Denkern verlagert sich bei ihm der Sitz des mesotes-Gedankens aus dem reinen Naturbezug der Menschen in den soziokulturellen Alltag und wird dort zur Kern21 Wichtige Stellen bei Aristoteles: NE 1095a-1101b zur eudaimonia; 1130b zur paideia als über die staatliche Erziehung hinausgehende Selbsterziehung; 1140a nomos hier im Gegensatz zum Spontanen der Kunst; 1104a zur mesotes: Heilkunst, Gesundheit u. a. liegen zwischen Mangel und Überfluss; 1107a-1119a Bestimmung und Ausführungen des Maßes bzw. Maßhaltens; 1103a–b definiert die arete und ihre Voraussetzungen wie etwa bestimmte Übungen. 22 Vgl. zum gesamten Absatz auch Zeller, Eduard: Grundriss, S. 180–184. – »Relevanz«: Als Lebenswahrheiten, ja Lebenskonditionen schlechthin scheinen die alten Muster zwar verdrängbar, aber doch unausrottbar, Ur-Muster, zu sein. So hat die Entwicklungs- und Krisenpsychologie des 20. Jh. (z. B. mit Jean Piaget) das mesotesMuster der Ambivalenz und des Gleichgewichts in Anbindung an natürliche (physisch-kosmische) Regulationsmuster erkannt und daraus nomos-adäquate Modelle zur Lebenshilfe entwickelt, vgl. Riess, Richard: Sehnsucht, S. 1116–1119. Das mesotes-Denken bestimmte die altgriechischen Handlungsmuster durchgehend. Vgl. das zum rechten Maß Gesagte in FN 8. Zum klassischen nomos-Begriff ist noch zu betonen, dass das Nomistische in der geläufigen administrativ-juridischen Bedeutung etwa erst zu Zeiten der vorsokratischen Philosophen in das griechische Denken einzog, dabei aber fortlaufend seine Grundbedeutung als von der physis abgeleitet beibehielt und mit diesem Grund-Impetus besonders das Gebiet der Gesundheit weiter bestimmte. Begleitet war das naturgesetzliche Mitschwingen vom Zweifel an der Qualität menschlicher Gesetze (z. B. bei Aristophanes). Dazu recherchierte, bisher uneingeholt, aus den antiken Quellentexten: Heinimann, Felix: Nomos und Physis (1945), insbes. S. 42, 174–180.

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maxime des tugendhaften Handelns selbst. Über Jahrhunderte formierte sich parallel dazu, schon durch Dramendichter, Platon und andere Einflüsse inauguriert, die Geisteskultur der »Kardinaltugenden« (zumeist klassisch als Vierergruppe »Gerechtigkeit – Besonnenheit – Klugheit – Tapferkeit« überliefert). In ihrem Bund wurde die Idee des Maßes durch Aristoteles zur Tugend selbst, insofern nämlich die anderen Tugenden des Maßes bedurften. 23 Das Zusammenspiel der Tugend-Ausübungen ist also das Besondere des aristotelischen Denkens. Derlei Abwägungen sind erkennbar im »Werte«-Handeln der jetzigen Zeit kaum noch geläufig, dies auch aufgrund rational geplanter, isolierter und undurchschaubar differenzierter Lebensmuster. Im Alltag spricht man z. B. immer noch vom »Zuviel des Guten«, aber meistens dann, wenn »die Mitte« schon schadhaft überzogen wurde. 24 Wird heute nach Diätetik gefragt, so treten immer wieder die sechs Bedingungen ihrer Ausübung auf. Die beiden »Großen« der heutigen Medizingeschichte übernehmen dieses Raster, Heinrich Schipperges sowie auch sein Fachkollege Dietrich von Engelhard, wobei sie stets den inneren und äußeren Verlauf der Heilkunde sehr lebhaft beschreiben. 25 Die Punkte geben inhaltlich die Vielgliedrigkeit und das Beziehungsdenken der Diätetik wieder, jedoch finden sich keine Wesensmerkmale in ihnen, wonach mit dieser Arbeit philosophisch (siehe die »Was«-Frage) geforscht werden soll, speziell auch im Vergleich zum heutigen Gesundheitsgeschehen. Sind doch auch heutige Gesundheitsbewusste mit zahlreichen Sportarten an Luft und Licht interessiert, an der richtigen Ernährung, vielfach an der Ruhe Das »Was« und das »Wie« der Maß-Findung gibt die Referenzstelle FN 21, d. h. Aristoteles: NE 1107a, explizit so wieder: »Es ist mithin die Tugend ein Habitus des Wählens, der die nach uns bemessene Mitte hält … Die Mitte ist die zwischen einem doppelten fehlerhaften Habitus, dem Fehler des Übermaßes und des Mangels; sie ist aber auch insofern Mitte, als sie in den Affekten und Handlungen das Mittlere findet …« 24 Auf den Verlust einer Zusammenschau bei den jetzt als »Werte« bezeichneten Handlungsgedanken weist ausdrücklich Hans Jonas hin. An die Stelle von »Sittlichkeit« oder »Verantwortung« seien banale Moralität oder konkrete, zumeist an technische Anforderungen geknüpfte »Pflichten« getreten: Jonas, Hans: Technik, S. 56– 65, 59. – Des Weiteren weist gegenwärtig der Soziologe Hans Joas (sic!) die Berechtigung eines interaktiven Werteverständnisses nach. Phänomenologisch könnten Wert- und Urteilsfindungen nicht als strikt rational angesehen werden (kantische Aristoteles-Rezeption), sondern, hergeleitet von Husserl, Scheler u. a., auch als gefühls-intendiert. Vgl. Joas, Hans: Entstehung, z. B. S. 145 f. 25 Vgl. bei von Engelhardt, Dietrich: Wandel, I, S. 11 f.; II, S. 14. 23

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– dem »Abschalten« – und dem guten Schlaf, an der Entschlackung und an möglichst nützlichen seelischen Einflüssen (etwa durch Kopfhörer mit Musik). Die sechs Bereiche des Wohlergehens sind ja geradezu Güter geworden, für die sich jede Menge organisierter Schutz und Kontrolle finden: Umweltgesetze und -behörden zum Schutz vor Immissionen durch Schmutz und Lärm, auch zahlreiche Lebensmittelinstitutionen für die Lebensmittelsicherheit, unzählige Arbeitsschutzvorgaben zur Verhinderung von Überlastung und Gewährung der nötigen Freizeit, Diätkommissionen zur genauen Ermittlung und Sicherstellung der Lebensmittel-Konzipierungen über das, was hinein darf in den Menschen, und das, was wieder heraus soll, der Verbraucherschutz zur Vermeidung schädlicher Einflüsse bei Konsumgütern aller Art. Doch lassen sich anhand des bisher Gesagten bereits Wesensmerkmale der Diätetik aufstellen, und dies besonders im Gegenüber zu den Gesundheitsstrukturen der heutigen Zeit. Durch die in den nächsten Kapiteln folgenden Quellenbehandlungen soll den diätetischen Ansichten und Verhaltensweisen durch die Geschichte hindurch in prägnanten Ausbildungen weiter nachgespürt werden mit Überprüfung und ggf. Erweiterung dieser Merkmale. Ab der hier folgenden Auflistung soll auch eine Systematik in Anlehnung an die diätetisch relevanten altgriechischen Tugendbegriffe versucht werden. Die Tugendbegriffe werden übrigens in Heinrich Schipperges’ Schriften, wie dem zitierten Werk »Heilkunde«, besonders betont. 26 Die mithin doppelte Systematik der vorliegenden Arbeit hat sich dann im Folgenden zu bewähren. 1. Diätetik unterstand grundsätzlich nicht der staatlich-administrativen Kontrolle, auch wenn unter dem Genannten der Sport im alten Griechenland schon Ansätze davon hatte. Weithin bekannt sind andere harte Eingriffe in das Medizinwesen wie z. B. mit der Verfolgung der »weisen Frauen« in Mittelalter und Neuzeit; dazu mehr im übernächsten Abschnitt dieses Kapitels. Solche Regulierungen und Restriktionen hatten keine speziell medizinische Verwaltung und Kontrolle im Sinn, sondern folgten anderen Antrieben wie Staatsdoktrin, Machttrieb, Neid und der Suche nach Sündenböcken in Krisenzeiten. Das Diätetische wurde damit fremdbestimmt. Eigentlich wurde die diätetische Lebensweise von Privatpersonen selbstverantwortlich 26

Vgl. Schipperges, Heinrich: Heilkunde als Gesundheitslehre, S. 24–29.

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ausgeübt, angeleitet und betreut durch Ärzte und andere Heilberufe (z. B. im Mittelalter Bader, Wundärzte, Hebammen u. a.). Dass die Prinzipien der Diätetik lebendigen Einfluss auf die Gesellschaft ausübten, lässt sich daran erkennen, wie wirksam es im Lauf der Jahrhunderte zwischen ihren schriftlichen Fixierungen und der Volkskultur bzw. -heilkunde Korrelationen gab (auch dazu folgt später mehr). Texte wie die Regimina fungierten bereits ihrer Lesart nach nicht als Indoktrinationen, sondern als Anleitungen zur Selbsthilfe und Selbsthandhabe. Vor Beginn der staatlich organisierten Gesundheitsfürsorge war die Haushaltung einer (Groß-)Familie, besonders auf dem Land, durchweg diätetisch und darin auf Miteinander und auf Autarkie angelegt. 27 Um also die Struktur dieser Auflistung an die altgriechischen Tugendbegriffe anzulehnen, wären im Zusammenhang mit der schwachen staatlichen Administration wohl am besten die paideia selbst und ferner die arete zu nennen, die beide auf die Selbstbestimmung zielten. Aus heutiger Sicht dürfte es ideengeschichtlich interessant sein zu erkennen, wie vehement sich Menschen in vergangenen Jahrhunderten auch ohne enge öffentliche Strukturen um ein gesundes und gelingendes Leben bemühten. 2. Diätetik war kein Marktprodukt. In Zeiten wirtschaftlicher Selbstversorgung wurden diätetische Möglichkeiten wie z. B. heilerische, pharmazeutische, seelsorgerliche Leistungen von entsprechend Berufsausübenden angeboten, die nach Vermögen der Bedürftigen und verübter Leistung zu entlohnen waren. Ziel der diätetischen Maßnahmen durch die Kundigen war das Wohl der Betroffenen und das eigene Auskommen, aber nicht daneben (oder ausschließlich), wie der freie Markt es mit sich bringt, die eigene Profitmaximierung und die Marktpräsenz, d. h. auch die Verdrängung anderer. Leistungen wurden auf der Basis von Bedarf und Sinn nachgefragt, nicht als Folge von gezielter Werbung und Bedarfsweckung. 28 Ergänzen wir den GeZur Volkskultur: Bis nach dem 2. Weltkrieg waren Kompendien mit Ratschlägen für alle Lebensbereiche sehr beliebt, vgl. auch all die Bauernkalender und Volksweisheiten. Mit Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft zeigt sich auch diätetisch eine immer stärkere Organisierung der persönlichen Belange innerhalb der Gesellschaft, so mit der »Hausväter-Literatur« des 16. Jh. Immer bleibt speziell auch die Volksheilkunde fester Bestandteil solcher Bände, vgl. die Ausführungen über Gymnastik und Massagekunst in einem Werk von 1952: Zeller, A. P.: Praktisches Rezeptbuch, S. 38, 48. 28 Vgl. zum Heilerethos: Schipperges, Heinrich: Heilkunde als Gesundheitslehre, S. 36 f. 27

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danken an die mesotes-Lehre, so ist klar, dass ein expansionistisches Kulturbild, das Drängen zu immer weiteren Zielen und das Sichdrängen-Lassen von immer größeren Versprechungen, hierher nicht passten. Über Jahrhunderte hinweg gab es kaum Maßregelungen wie etwa Herstellernormen oder Marketingkennzahlen. In kleinen, an Möglichkeiten begrenzten Lebensstrukturen waren solche nicht nötig. Aber es gab offensichtlich ein Gespür für die Mitte des Verhaltens, das in diesen Strukturen das menschliche Leben förderte. Natürlich sind mit einer solchen ethischen Ausrichtung auch die paideia und die arete stark betroffen, so wie all diese Begriffe vielbezüglich sind. Es soll mit dem Versuch einer Zuordnung um Pointierungen gehen. 3. Diätetik besaß nicht nur rein weltliche Ausrichtung, sondern war transzendenzbezogen. Für das Christentum wurde dies mit dem Begriff des Leidens schon angesprochen. Hierzu wird an späterer Stelle mehr folgen. In Zeiten, in denen die Beeinflussbarkeit des Lebens technisch enge Grenzen hatte, wurde diesen mit Ehrfurcht und dem nicht mehr objektiv Erreichbaren religiös begegnet. Die Welt stellte keine materielle Ordnung, sondern eine geheiligte Ordnung dar. 29 In beiden Kulturen, Hellenismus und Christentum, unterstand der Heilbereich Gottheiten, bei den Griechen Asklepios für die Heilkunst sowie den Göttinnen Hygieia für die Gesundheit schlechthin und Panakeia für die Apothekerkunst; im Christentum unterstand er Christus, dem Heiler und Erlöser der in Übel verstrickten Welt. Alle früheren Diätordnungen, von denen wir wissen, waren sakral. Der Übergang von der sakralen zur weltlichen Diät erfolgt bei den alten Griechen 30, kann man einerseits sagen. Aber andererseits, wie sich am ethischen Bemühen und dem Sinn für die Ausgewogenheit zeigte,

Wer das Natürliche realistisch beobachtet, müsse angesichts ihres für menschliches Empfinden und Verstehen entzogenen, unerträglichen Potentials auch heute ihre Heiligkeit anerkennen; und entsprechend schlussfolgert Magnus Striet in seinem Aufsatz »Gebrochene Leiber« auf »heiliges Fleisch«, in: Hähnel, Martin / Knaup, Marcus (Hg.): Leib und Leben, Perspektiven, S. 133–139, 138, 139. 30 Sehr deutlich wird dies bei Galen (Galenos von Pergamon, 129–ca. 216 n. Chr.), der die Heilkunst unter die weltlichen Wissenschaften reiht. Sakrale Gelage werden gerügt, weil sie in der Vergangenheit zu oft in Orgien ausgeartet waren, stattdessen werden die Ernährung wie auch die gesamte Lebensführung in den Kontext einer gedeihlichen Sozial- und Arbeitsorganisation gestellt: Galen: Die therapeutische Methode, in: Antike Heilkunst. Ausgewählte Texte, Reclam 9305, S. 62–66. 29

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wurde der sakrale Bereich bei diesem Übergang nicht aufgelöst. 31 Noch lange in der Spätantike blieben Asklepios- und Christuskult nebeneinander oder vermischt bestehen. Bis ins christliche Mittelalter wurden Heilungen durch Geistliche vermittelt. Die Verbindung von Heilung und Heil ist heute zerrissen, und es scheint, dass durch die separierte Medizin viel Bedarf nach Orientierung ungestillt bleibt. Wie wir mit der Natur umgehen und ob deren Entheiligung vielleicht etwas mit den menschlichen Leiden unserer Tage zu tun hat, wäre eine besonders brisante Frage (dazu weiter unter Punkt 4.). Mit welchen Überzeugungen auch immer – bei allen Völkern war etwas wie der kosmos eine Dimension, der den vertrauten Gestaltungsraum der Menschen in den unendlichen Bereich erweiterte und der auf die Lebensführungen der Menschen zurückwirkte, sie anregte zu Reflexion und Achtsamkeit. 4. Diätetik beruhte auf der Beziehung zur Natur. Dies ging weiter als die Erkenntnis (die in der Regel erst nach Zusammenbruch oder »Auspowerung« aufkommt), dass z. B. mehr Frischkost besser wäre oder längerer Schlaf vonnöten, sondern meint die grundlegende Haltung, dass die Biologie des Menschen und der Natur nach gleichem Muster gestrickt und Menschen in die Ökonomie der Natur hineingestellt sind. Endlichkeit, Fragilität sowie das Rhythmisch-Zyklische der Lebensprozesse haben der Mensch und die gesamte Natur gemeinsam. Auch war den Damaligen bewusst, wie die etwas missverständlich benannten sex non naturales zeigen, dass der Mensch im ständigen Stoffaustausch mit der Natur lebt, Einflüssen ausgesetzt ist und diese zu seinem Gedeihen beeinflussen kann. Die Benennung der sex non naturales setzt den Kontext einer Einbindung schon voraus. Die Orientierung an der physis ging einher mit einem Empfinden und Wissen um Einssein. 32 Aktuelle Strömungen der Naturwissenschaften betonen die lebenden Gefüge als offene Systeme. Die Gemeinsamkeiten des Lebens sind umfassend bekannt, z. B. dass der Ackerknecht, Erwin H.: Therapie, S. 174. Das belegt z. B. auch die insbesondere Hippokrates zugeschriebene Anschauung von der natürlichen Heilkraft, die in jedem Menschen selber läge, vgl. Aphorismus I 1., in: AS, S. 192 f. Diese Sichtweise hat sich in der klassischen Naturheilkunde (v. a. Phytotherapie, Homöopathie), in der Anthroposophie, in der Psychoanalyse Freuds, aktuell in der Salutogenese sowie grundlegend in der Psychosomatik Viktor von Weizsäckers, der die Krankheit als »ungelebtes Leben« beschreibt, gehalten; vgl. hier: Pathosophie, in: GS 10, insbes. S. 94–97.

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genetische Code in allen Lebewesen gleich funktioniert. 33 Doch wie im Vorangegangenen schon erwähnt wurde, setzte sich mit Beginn der Neuzeit und erst recht mit dem mentalen Primat der cartesischen Weltbetrachtung eine sachliche Außenperspektive auf die Welt durch, ergab sich die Vorrangstellung der Naturwissenschaften, die profitorientierte Nutzung der Natur und die Ansicht vom Menschen als »Gliedermaschine« ohne Seele und Geist – ein »mechanisches« Weltbild, wie es Immanuel Kant um 1790 vom »organischen« Bild, das lebendigen Wesen gebühre, absetzt. 34 Diätetisch gesehen kann man sagen, dass die »Sorge um sich selbst« (vgl. FN 13), eingebettet in die Prozesse des Lebens, gleichsam Sorge um die Natur und das Leben schlechthin war, wohingegen explizite Strategien modernen Ökologiedenkens einen deutlichen Verlustausdruck darstellen. Eine Regierungs-, Wirtschafts- und Lebensweise des Wohlstands, auch des ökologisch gefärbten, die mit dem Überstrapazieren der Ressourcen das Leben selbst bedroht und vernichtet, wäre diätetisch nicht denkbar. Wohl muss man berücksichtigen, dass die humanitären Mängel früherer Jahrhunderte den naturwissenschaftlich-technischen Impetus der Moderne entfacht haben, aber die Entwicklung geriet ins Einseitige, insofern ethisch-soziale Werte nicht in gleicher Weise gewachsen sind wie die technische InVgl. Kather, Regine: Leben, S. 106, 109 f., 113–115, 117. Vgl. S. 116 f. zum Rhythmisch-Zyklischen der Lebensformen. 34 Vgl. Kant, Immanuel: KdU II, z. B. § 65 S. 337–342. In seinem dritten Hauptwerk legt der Aufklärer dar, wie Denken im Wesentlichen Urteilen bedeutet und die beteiligte Beobachtung dabei wichtig ist. Er postuliert neben dem Organischen der Natur auch die Eigengesetzlichkeit der natürlichen Prozesse, die Grenzen der menschlichen Vernunft, außerdem nicht mehr rational erklärbare Übergänge vom Materiellen zum Immateriellen (Schlussparagraf 78) und verwahrt sich damit gegen die objektivierende Naturbetrachtung des Cartesianismus. Kants Überlegungen sind als Reaktionen auf eine Mechanik-Faszination des 17. Jh. zu verstehen. Hatte Descartes in seinem Traité de l’homme den Menschen als Gliedermaschine beschrieben (Des Cartes, Renatus: De Homine, S. 1 f. mehrmals), angetrieben von einer unpersönlichen Seele, so erhoben Nachfolger wie der französische Materialist de La Mettrie und die Iatrophysik des endenden 17. Jh. das mechanische Bild vom Menschen zum Programm (L’homme machine). Wenn auch deren Beschreibung von Menschen (sowie Tieren und Pflanzen) in technischen Skizzen durch die Aufklärung wieder verworfen wurde, so hat sich in der kulturellen Praxis das mechanische Bild vom Leben bzw. das rein körperliche Bild vom Menschen bis heute verstärkt. Es spiegelt sich in der Ansicht von der Verfügbarkeit und Reparierbarkeit der Ressourcen (z. B. aktuell des Klimas) ebenso wie die Reparierbarkeit und Optimierung des menschlichen Körpers durch technische Eingriffe. 33

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telligenz. 35 Die sinnliche Beziehung zur Natur wurde sogar geradezu ausgemerzt, der Mensch wurde seines Leib-Seins beraubt und ist im Bann eines Machbarkeitsdenkens selbst organisierbar und ökonomisch verwertbar geworden, einem Rädchen im Getriebe vergleichbar. 36 Die Leiden der zivilisierten Menschheit, Stresssymptome, Stoffwechselkrankheiten, Sinnleere u. v. a. m., haben offenkundig in der »Verkünstlichung« des Menschen selbst ihre Ursachen. 5. Es ergibt sich aus dem Gesagten, dass die Diätetik die moderne Subjekt-Objekt-Teilung nicht besitzt. Historisch gesehen mag sich diese Feststellung für vormoderne Epochen erübrigen, aber zur philosophischen Beurteilung von Kulturphänomenen sollte sie erhellend sein – etwa darin, dass wir mit dem programmatisch gewordenen »Ganzheitsstreben« vergeblich treffen, dass Menschen körperlichseelisch-geistige Einheiten sind und dabei auch mit allem Sein wesenhaft verbunden, solange das Wohlbefinden organisiert, nach egoistischem Nutzen geplant, das Leiden abgelehnt, die Natur übernutzt bzw. ausgemerzt werden. Ein wirklich ganzheitliches Bewusstsein, das die Interaktionen und Grenzen des eigenen Lebendigseins anerkennt, hätte den Begriff des Leibes nicht ausgelöscht, der das Beziehungsgefüge von Körper, Empfindungen von Außeneinflüssen sowie die Verantwortung für sich und das Leben ausdrückt. 37 Entsprechend war das Nomistische des antiken nomos-Denkens gemeint: Dinge, die den Menschen aufgrund von Fühlung, Anschauung, Übung und Erkenntnis selbst Gesetz geworden sind, sodass das Konkrete und das Abstrakte in der Vertrautheit verschmolzen. Die diätetische Lebenskultur blieb ihrem universellen und reflexiven Wesen gemäß immer auch mit Dichtern, Denkern und Spirituellen verbunden (vgl. ihre Ausstrahlung in die Theologie mit lebensund heilkundigen Pfarrern wie z. B. Sebastian Kneipp). Das praktische Leben wird heute in der Regel abstrakt mit dem Kopf angegangen, und für ein bisschen dinghafte Beweihräucherung (insofern die Seele Vgl. Kather, Regine: Leben, S. 46 f. Vgl. FN 10, wonach Rainer Hagencord dieses Dilemma als ambivalente Selbstvergöttlichung beschreibt, vgl. ders.: Noahs Gefährten, S. 19 f. Er spielt an auf die Zugriffe der Biotechnologie und Neurologie; auch die Pharmazie könnte genannt werden (z. B. mit Anabolika) sowie nicht zuletzt eine zunehmend wirtschaftlich durchsetzte Sterbehilfe-Propaganda. Zum technisch-wirtschaftlichen Zugriff auf Anfang und Ende des menschlichen Lebens vgl. Kather, Regine: Leben, S. 210–213. 37 Vgl. Kather, Regine: Ebd., insbes. S. 139–149 35 36

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ebenfalls nur Ding ist, s. o.) bleibt die Nische des Geistigen zuständig. Diese generelle Entkoppelung ist auch der Hintergrund für die eingangs kritisierte Desinteresse-Tendenz der geistig Tätigen an Gesundheitsfragen. Die Flucht in die Zuständigkeiten geht in beide Richtungen. Bei allem Umgreifenden des diätetischen Paradigmas dürfen die humanitären Mängel damaliger Zeiten nicht übersehen werden, an denen es mangels objektiver Welterklärungen laborierte, insbesondere die Lücken in der Nahrungsmittelversorgung, die Unsicherheiten in der Medizin und folglich auch im Rechts- und Sozialwesen. 38 So können heute eine Verlustdiagnose und das Schöpfen aus einer kulturellen Tradition angebracht sein, aber nicht eine rückwärtsgewandte Sehnsucht nach dieser Kultur insgesamt. Die bisher in der vorliegenden Arbeit vorgenommenen kritischen Bemerkungen gegenüber moderner objektiver Forschung beziehen sich im Sinne einer Verhältnisbestimmung auf deren offensichtlichen Absolutheitsanspruch. 39 Vgl. Jankrit, Kay Peter: Gott und schwarze Magie, S. 95–108 über Seuchen und Infektionskrankheiten im Mittelalter; S. 119–138 über soziale Ausgrenzung und Aberglauben bei der Leprakrankheit. Zur Bedeutung der Mikroben für die Verfasstheit des Lebens vgl. auch FN 15, ergänzt hier noch um die Bemerkung ihrer Überzahl an Spezies und erst recht an Individuen gegenüber höheren Lebewesen. Verhältnismäßig wenige biologisch mögliche Symbiosen können schnell – und immer einseitig – in Parasitosen umschlagen (z. B. im menschlichen Intestinaltrakt, in ruhigen Gewässern), vgl. dazu Arnoul, Franz / Schwerdtle, Cornelia: Schlüssel, S. 22 f. Vgl. auch, wie sich die Literatur an Mikroben immer schon abarbeitete gleichsam einer »Kulturplage« (d. Verf.), indem sie bereits 1670 mit van Leeuwenhoek »lebende Tierchen« vermutete – vgl. Gerabek, Werner et al. (Hg.): Enzyklopädie der Medizingeschichte Bd. 2, Berlin / New York 2009, S. 389. Siehe dazu auch die Epidemien-Beschreibungen des Altertums (so durch Hippokrates in FN 15), die Parasitosen-Beschreibungen in der Bibel (2 Makk 9,9–12; Apg 12,23), die Pestbeschreibungen des Mittelalters (ausgiebig dazu Porzelt, Carolin: Die Pest in Nürnberg, St. Ottilien 2000) und die ausgedehnte Tuberkulose-Literatur des Fin de Siècle mit Thomas Mann, Arthur Schnitzler u. a. m. Die Infekt- und Seuchenanfälligkeit wurde in Bezug auf die gesamte Kulturgeschichte erst einschneidend besser ab ca. 1850 mit den ersten modernen Kanalisationsanlagen der großen Städte (London, München, Paris, Kolonialstädte), nachdem das Nutzwasser als stärkster Infektionsherd erkannt worden war, vgl. Osterhammel, Jürgen: Verwandlung, S. 260–264. 39 Der Absolutheitsanspruch zeigt sich z. B. deutlich im Ignorieren eines Personenbegriffes beim Utilitarismus und in der Biotechnologie, vgl. dazu Kather, Regine: Leben, S. 206–213. Als problematischer Impuls für die Macht der medizinischen Technologien dürfte die Verbindung zum staatlich organisierten Kapital gewertet werden, vgl. dies beim Pastoraltheologen Riess, Richard: Suche, S. 152 f. Zum wünschenswerten Verständnis einer gegenüber dem Leben respektvollen Wissenschaft, die Life Science genannt werden könnte, vgl. Kather, Regine: Leben, S. 204–206. Mit dem 38

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Zusammenfassend lässt sich sagen, Gesundheitspflege nach dem diätetischen Paradigma ist etwas Nicht-Objektivierbares, eine Orientierung in subjekt-objekthafter Geschlossenheit. Die antiken Lebenshaltungen (paideia, arete, mesotes, kosmos, physis, nomos), die noch lange Zeit das Diätetische bestimmten, drücken das Umgreifende ihrer Bezüge deutlich aus. Besonders das mesotes-Denken impliziert Bezüglichkeit und Abwägung beim Handeln. Das menschliche Leben wurde im Zusammenspiel mit dem Leben überhaupt als organisch verstanden. Gesundheitspflege betraf damit den Leib, nicht den Körper; in sie war die Pflege der Natur und des Lebens schlechthin einbezogen. Über lange Epochen hinweg hat diese Geschlossenheit trotz großer Lücken an Sachkenntnissen und trotz enger Grenzen an technischen Mitteln gedeihliche Lebensformen ermöglicht, sodass heute übliche Ansichten von »Fortschritt« und »Rückständigkeit« sehr zu differenzieren wären.

3.1.2 Maimonides: Diätetik für den Körper und die Seele Maimonides, mit jüdischem Namen Rabbenu Mosche ben Maimon, soll als eine markante Gestalt des diätetischen Paradigmas hier mit seiner Hauptschrift vorgestellt werden. Die Schrift verfasste er 1198 speziell für seinen Vorgesetzten, den ägyptischen Sultan Al Afdal, der an Depressionen litt, begleitet von körperlichen Symptomen, ließ sie aber auch für die lesekundige Öffentlichkeit verbreiten, denn sie sollte »von allen« regelmäßig gelesen werden. 40 Maimonides lehrt, dass die körperliche Heilung von der seelischen abhängt und umgekehrt. Entsprechend den sechs Konditionen und der ganzheitlichen Ausrichtung der Diätetik betont er die Notwendigkeit vielgliedriger gesundheitsspendender Maßnahmen und gibt im einzelnen Ratschläge, z. B. für die körperliche Betätigung, das Atmen, den verantwortungsvollen Umgang mit Ehepartner und Familienmitgliedern, die der Seele angenehmen Beschäftigungen (etwa »Freizeitbeschäftigungen«, allerdings sinnvolle). Die umfassende Ausrichtung der Diätetik wurde in vorliegender Arbeit schon schon erwähnten Göttlichkeitsbild belegte auch der Tiefenpsychologe Horst Eberhard Richter in den 1990er-Jahren erhellend den Anspruch der Medizintechnologien, vgl.: Gotteskomplex, S. 184. 40 Maimonides: Regimen, Einleitung v. Süssmann Muntner, S. 25.

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übergreifend beschrieben. Die obige Auflistung lässt auch eine Anlehnung auf das der Natur abgelesene Rhythmische des Lebens erkennen. Weiter nachfolgend sollen konkrete interessante Gedanken aus Maimonides’ Schrift vorgestellt werden. Die wissenschaftliche Literatur (z. B. der Medizingeschichte) verharrt in Bezug auf die Regimina, die Sammlungen praktischer Ratschläge sind, bei der abstrakten Beschreibung, ohne sich im Einzelnen inhaltlich mit den Ratschlägen selber zu befassen. So bleibt es beim theoretischen Verständnis der Diätetik, die doch Konsequenzen für das Leben bewirken will. Wer sich, wie es bei der Verfasserin beruflich der Fall ist, mit den Mitteln und Wegen zur Hilfe für Kranke auseinandersetzen muss, dem fällt diese Abkehr von der Sache immer wieder auf. Der Jude Maimonides war außer Arzt auch Rechtsgelehrter und Philosoph, der geistig intensiv um die Vereinbarung von der durch den Aristotelismus entfachten Philosophie mit dem jüdischen Glauben gerungen hat. Geboren und aufgewachsen in wohlhabenden Kreisen Córdobas und Jerusalems, wirkte er später in Kairo. Er verkehrte in den intellektuellen Gesellschaften seiner Umgebung und soll höchst beliebt bei Juden und Muslimen gewesen sein. 41 Die deutsche Ausgabe von Süssmann Muntner enthält im Anhang auch Auszüge aus Maimonides’ religiösem Monumentalwerk »Buch des Wissens« (oder »Ethik« genannt, Mischne Tora), das wie das Regimen als Lebensführer intendiert war. Da nach Maimonides besonders auch die spirituelle Gesundheit den Menschen bestimmt, ist die Zusammenfügung zu einem Band gewiss sinnvoll. Es folgt ein Einblick in das Regimen: •

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Erstes bis drittes Kapitel: Hier setzt sich Maimonides ausführlich mit Gewohnheiten auseinander, vor allem der Ernährung und ihrer Wirkung auf Verträglichkeit und Verdauung. Die verschiedensten Lebensformen, auch ethnisch bedingt, Speisen und Zubereitungsformen werden von ihm überprüft. Hieraus (Speisen z. B. Rebhühner, Blätterteigspeisen, Krapfen, Mehlspeisen im Kontrast zu Reisgerichten) lässt sich schließen, dass Maimonides für eine multikulturelle, wohlhabende städtische Bevölkerung schreibt. Wiederholt wird geraten, auf gute Verdauung zu achten insbesondere durch mäßiges Essen, ausreichend Bewegung sowie Beachtung der Müdigkeitsgrenze beim Tagwerk. Das VerVgl. Heschel, Abraham J.: Maimonides, S. 248 f.

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meiden von Extremen einerseits, wofür die Säftelehre und mit ihr das alte mesotes-Bild die Grundhaltung vorgibt, in der Auswirkung dann die gut funktionierende Verdauung andererseits, werden als Zentralfunktionen angesehen; der Stuhlgang soll regelmäßig sein und der Stuhl möglichst weich. Die Problemlage der Angesprochenen dürfte unseren sog. Zivilisationsleiden entsprochen haben. Im dritten Kapitel nimmt Maimonides in Bezug auf den Sultan kein Blatt vor den Mund; fachlich souverän tadelt er den qua Amtes Verehrten, aber in der Ernährung Verfehlten schwer. 42 Im Einzelnen ist die genaue Auseinandersetzung mit der Milch interessant, bis heute Thema jedes Ernährungsratgebers. Als besonderes, nämlich erstes und auch menschengegebenes Lebensmittel, sind mit ihrem Verzehr in allen Kulturen besondere Sitten verbunden. Bei zahlreichen Völkern ist es die Ablehnung als Dauerkost, und so sind durch ethnische Vermischungen Unverträglichkeiten entstanden. Die Problematik ist offensichtlich schon sehr alt. Ein jetziger Ratgeber würde genau wie Maimonides für Empfindliche im Fall nicht völligen Verzichts die Ziegenmilch präferieren. Übereinstimmung zu heute zeigt sich auch in der Bewertung der Getreide, indem angesichts einseitiger Weizenkost der Wohlstandsnahrung lieber ursprünglichere, nach heutigem Stand meist zugleich glutenärmere und nahrhaftere Sorten empfohlen werden. Dennoch: Ernährungslehren bleiben ein strittiges Metier. Manche Passagen des Maimonides dürften uns befremden in ihrer regionalen, fachlichen und vielleicht ganz eigenwilligen Spezifität. 43 Was an Maimonides wichtig ist: Mit Ernährung und Verdauung, überhaupt mit der Beachtung der natürlichen Lebensbedingungen, befasst sich heute kein »Gelehrter« mehr. Genau genommen beschäftigt sich auch sonst niemand mehr wirklich damit, da ein Schlaraffenland von Waren und Vorschlägen blüht, dabei der innere nomos für die Ernährung weitgehend abhandengekommen ist. 44 Maimonides: Regimen I–III, S. 60–160; I, 6, 8, S. 66 f. Ebd., I, 6, 8, S. 66 f. 44 Erfahrung d. Verf. aus der Ernährungsberatung: Bekömmlichkeit der Speisen, gute Ver-daubarkeit, die entsprechenden Zutaten und Zubereitungen – jahrtausendelang war dies das Herz der Medizin (z. B. in Ayurveda, Klostertraditionen, bei Paracelsus) – sind Bereiche großen Desinteresses geworden, großer Unkenntnis und geradezu Tabuthemen in einer Gesellschaft der Massenproduktion, der Fertigwaren und der 42 43

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Wohlstand macht offensichtlich inkompetent – damals wie heute. Wem die notwendigen und angenehmen Dinge des Lebens vorgesetzt werden, der braucht sich mit nichts mehr zu befassen. Als Gelehrter konnte Maimonides die Situation der träge gewordenen Oberschicht durchschauen und das Format mitbringen, solche Kreise anzusprechen, und zwar mit konkreten Maßnahmen zur Verbesserung. Diese Souveränität dürfte seine besondere Stärke gewesen sein. Bei seinen reichen Adressaten dürfte die Auseinandersetzung mit Alltagsdingen wie der Ernährung gewiss nicht bis an den Kochherd geführt haben, aber wohl immerhin zu gedanklichen Impulsen, Überlegungen, im besten Fall zu Anweisungen an das Dienstpersonal für eine wirklich bessere Speisetafel. Heute ist bekannt, dass allein schon das Befassen mit den Angelegenheiten des eigenen Lebens, die Initiative zur Gestaltung der persönlichen Dinge zum Gedeihlichen, gesundheitsfördernde Kraft hat. 45 Solcherart Souveränität, angefangen bei der Loslösung von der Trägheit, die Selbstbestimmung zum gestaltenden Tätigwerden überhaupt, wird in der aktuellen Pädagogik mit dem Begriff Capability umschrieben. 46 Kochfaulheit, der Mobilität, der Flexibilität und auch der medialen Zerstreutheit. Der Bezug der Menschen zu ihrer Ernährung hat sich verschlechtert, sie essen, was ihnen vorgesetzt wird, und wer krank wird – siehe die sich ausbreitenden Allergien und Unverträglichkeiten –, tischt sich wiederum entsprechend industriell gefertigte Diätprodukte auf. Ein besonderes Abrücken vom eigentlichen Essen liegt im Überkonsum an Nahrungsergänzungsmitteln. Der neueste Speisetrend, Convenience Food, »qualitätsvoll«, ethisch besiegelt (»öko«, »regional«), macht die Entfremdung von der Nahrung gesellschaftsfähig, vgl. den Artikel von Hildebrand, Martina: Das Menü von morgen, in: NZ-Magazin am Wochenende, 8./9. 2. 2014, S. 1. 45 Was buchstäblich an Aristoteles denken lässt, wird heute professionell von der amerikanischen Ethikerin Martha C. Nussbaum vertreten. Im Sinne eines leiblichen Weltzuganges erinnert sie daran, dass die persönlich und sozial gesehen gedeihliche Lebensgestaltung immer auch auf einer aktiven Gefühlswelt beruht, vgl.: Gerechtigkeit, zur Gefühlswelt insbes. S. 150–156. 46 Aktive Gefühle und geistige Initiative können aber nicht nur Opfer reicher Verwöhntheit, sondern insbesondere auch chancenloser Armut werden. Der CapabilityAnsatz richtet sich an innerlich abgestumpfte, zur Lebensgestaltung unfähige Kinder und Jugendliche beider Ursachenfelder. Anders als nach der diätetischen Didaktik werden hier gerade keine konkreten Vorschläge zur Lebensführung gegeben, um bei den Betroffenen den Sinn zur Selbstbestimmung überhaupt erst zu wecken, vgl. Keupp, Heiner: Capability, insbes. S. 32 f. Die Überschneidung zum Diätetischen liegt in der psychosomatischen Wirkung des Initiativwerdens, wie ihn auch die Salutogenese vertritt, vgl. Keupp, Heiner: Freiheit, S. 30–32. Auf die Prämisse des »gelebten« oder »ungelebten Lebens« bei Viktor von Weizsäcker wurde schon hingewiesen,

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Was ist Diätetik?



Im ersten Kapitel, Abschnitt 20 werden Ratschläge zur Anregung der Seele bei Krankheit gegeben, nämlich durch Düfte von Kräutern, durch Musik und angenehme Kommunikation. Nachfolgend sollen die Düfte bedacht werden, weil der arzneiliche Gedanke (»Krankheit«) für uns relativ fremd sein dürfte, da wir fast nur noch die Stimmungsbeeinflussung durch Düfte kennen. Düfte sprechen den entwicklungsgeschichtlich ältesten und zugleich beim Menschen den am meisten regredierten Sinn, den Riechsinn an. Gleichwohl wissen wir im Zusammenhang mit Verkaufstechniken oder aus der Paarpsychologie, dass noch im Unbewussten der Riechsinn sehr empfänglich ist. »Typisch orientalisch!« mögen wir beim Bericht über Moschus und Amber denken, und doch finden wir die Vorschläge als ebenfalls Erfreute oder Empfindsame in Bezug auf Düfte sehr plausibel. Die ganze Körperpflege-Artikelpalette wäre ohne Düfte kaum denkbar – ein Relikt sehr alter Wohlfühlkultur. 47 Die Wirkung schlechter Außenluft oder Körpergerüche, das mit Düften aufgewertete frische Raumklima, die heute wieder neuentdeckte Aromatherapie – Maimonides lässt sich nachempfinden. Heute ist weitgehend vergessen, dass nicht nur im Orient und in fernen Ländern, sondern auch in Mittel- und Nordeuropa die Düfte der Naturgüter zu wohltuenden und heilsamen Zwecken sehr häufig eingesetzt und dabei überwiegend durch Räuchern entfacht wurden. Was ebenfalls kaum bekannt ist: Im therapeutischen (besonders auch im kultischen) Riechen nahmen frühere Menschen nicht nur den Duft, sondern das ganze Wesen eines Duftgutes auf, etwa den besonders kraftvollen, zarten oder schutzgebenden Charakter einer Kräuterpflanze. Man erfasste solche Eigenschaften sinnlich, identifizierte sich geistig mit ihnen und suchte nach Entsprechungen in der persönlichen oder gemeinschaftlichen Si-

vgl. FN 32. Dem Feld der katholischen Seelsorge entspringt in der Gegenwart kritisch Eugen Drewermanns vehementes Eintreten für die Selbstbestimmung, vgl.: Menschlichkeit, S. 40 f. Der amerikanische Salutogenese-Forscher Leonard A. Sagan machte die interessante historische Entdeckung, dass der Rückgang der Sterblichkeit im 19. Jh. schon vor der großen Hygienebewegung erfolgte und schreibt dies soziokulturellen Faktoren wie Aufbruchstimmung, persönlicher Freiheitserweiterung zu: Gesundheit, S. 7–25, 66. 47 Erst die ganz aktuelle Gegenwart hat mit den vielfach allergisch wirkenden synthetischen Duftstoffen in Kosmetikartikeln die Bewertung zur Verteufelung von Düften umgedreht bzw. insgesamt gespalten.

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tuation. Seitens der Heiltätigen waren damit genaue Kenntnisse und Erfahrungen der eingesetzten Pflanzen, Hölzer, Harze oder Früchte erforderlich. Darüber hinaus galt »Natur« vormodernen Menschen noch als Wert in sich. Das heißt, bei der therapeutischen Anwendung handelte es sich nicht um einen materiellen bzw. Nutzungsaspekt, wie wir modernen Menschen ihn kennen, wenn wir etwa Menthol als lösenden »Stoff« gegen Bronchitis schätzen, während hierbei sogar die sinnliche Erfahrung eher untergeordnet ist. In vormodernen Epochen war das Bewusstsein und Erleben dergestalt verfasst, ein Teil der Natur, des Lebens insgesamt, zu sein und deshalb in ihrer Organisation Lebenskraft, konkrete Hilfen und Anleitung zum Leben zu bekommen. Wie im Kapitel über die altgriechischen Anfänge der Diätetik mit dem Begriff des kosmos ausgedrückt wird, besaß die Welt vor der modernen Objektivierung nicht nur materielle, sondern auch seelisch-geistige Qualität. In Bezug auf die Natur drückt der kosmos gleichfalls deren geistige Verfasstheit aus. 48 Der Aspekt von der inneren Über die Abhängigkeit von Geist und Gestalt, Seele und Körper, Erkennen und Handeln nach der altgriechischen Philosophie wurde schon berichtet, vgl. FN 12. Vgl. auch Kather, Regine: Wiederentdeckung, S. 20 f., 28 f. Was die reale Naturbeziehung unserer Vorfahren anbetrifft, so mussten diese ihr Leben der Natur hart abringen und erlebten in ihr mit Krankheiten, Hungersnöten, Fluten, Feuersbrünsten einen größeren Widersacher als moderne Menschen. Auch gab es immer schon Umweltzerstörungen, v. a. durch Abholzungen, aus Gründen des Alltagslebens (Hausbau) sowie aus Luxus, Prunksucht und Militarismus (Beheizung antiker Thermen, antike Palastbauten, Schiffe, Schanzen). Gerade aus dem harten Widerstreit der Menschen mit der Natur wurde die schließlich hemmungslose Unterwerfung der Natur in der Moderne motiviert. Vgl. dazu Reichholf, Josef H.: Naturgeschichte, S. 49–59 zu Klimakatastrophen, S. 71 f., 233 zu Hunger und Krankheiten, S. 84–86, 233 zur Ambivalenz in der Bewertung des menschlichen Naturverhältnisses. Es sind aber auch andere Aspekte zu beachten: In den früher unausweichlichen Vorgaben der Natur (z. B. zur Tagesrhythmik) und mit ihren unverzichtbaren Gütern (z. B. Lebensmitteln, Rohstoffen, Heilpflanzen) bleib sie vormodernen Menschen eine Autorität, die das Leben erhielt oder förderte. Schließlich gab es, wie Stätten des Innehaltens heute Forschenden aufzeigen (z. B. die jüdisch-christliche Schöpfungstheologie, Natursymboliken in der Kunst), jenseits von »Freund oder Feind« ein kosmologisches Bewusstsein, wonach der Mensch sich in die Natur als eingeordnet empfand. Vgl. Kather, Regine: Wiederentdeckung, S. 35 f. zur Schöpfungstheologie. Der radikalen Unterwerfung der Natur durch die Moderne könnte durch solches Bewusstsein abgeholfen werden. Im kontemplativen Überwältigtsein eines jeden, der sich in sinnlicher, emotionaler und geistig-aufgeschlossener Weise vom hochinteressanten Gefüge der Natur umgreifen lässt, kann geistige Einheit wiedergefunden werden. Geistesgut wie etwa der orga-

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Verbindung und davon abgeleiteten praktischen Anwendung der Naturgüter wird in den Kapitel 3.1.3 und 3.1.4 noch genauer behandelt werden. An dieser Stelle soll er zunächst und wiederum für die Haltung des Maimonides stehen, der sich als Gelehrter nicht nur mit Büchern befasste, sondern selbstverständlich auch mit den diätetischen Nützlichkeiten des Alltags, weil Mensch und Natur eines Wesens waren. Ein Einfluss griechisch-antiker Sichtweisen auf Maimonides wurde eingangs dieses Kapitels angesprochen. Grundlegend und speziell muss in Bezug auf sein Natur- und Weltverständnis jedoch seine jüdische Religion beachtet werden. Denn theologisch gesehen ist deren Vorstellung einer »Schöpfung« allen Seins stärker als die des ungeschaffenen, aus sich selbst existierenden kosmos der Griechen, weil ihr eine personale Beziehung innewohnt. Auf Grundlage der hebräischen Bibel galt für Maimonides die Welt mit allen ihren Lebewesen und Gütern als von Gott geschaffen, somit als durch Gottes Schöpfergeist innerlich verbunden, und alles Geschaffene, z. B. die Gewächse der Erde, galten prinzipiell als »gut« (Gen 1,12). Der zweite Schöpfungsbericht der Genesis drückt die innere Verbindung unter den Lebewesen sogar physikalisch aus: Wie die Pflanzen durch Gottes Wirken von Regen und Nebel genährt werden, so lebt der Mensch aus dem Atem Gottes (Gen 2,5–7); Pflanzen und Tiere sollen vom Menschen gepflegt werden (Gen 2,8.19), gleichwie Gott die ganze Schöpfung pflegt. Insofern überliefert ist, dass für Maimonides im Rahmen seiner Gelehrsamkeit und inneren Hingabe das Studium der Tora als Höchstes galt 49, sollte sein therapeutischer Einsatz der Naturgüter primär vom Schöpfungsglauben her verstanden werden: Diese Güter sind in richtiger Anwendung dem Menschen zum Wohl und zur Gesundheit gegeben. In seinem theologischen Hauptwerk »Führer der Unschlüssigen« betont Maimonides schon ab der Einleitung die Verbindung unter allem Geschaffenen: Das menschliche Leben solle der Führung Gottes unterstellt sein (zitiert werden Ps 143,8 u. a.), Gott umfasse alle Existenz, und die Güter dieser Welt seien untereinander sowie die Menschen durch die Sorge um die nisch konstituierte Schönheitsbegriff Immanuel Kants können dabei helfen. Vgl. a. a. O., S. 246–251. 49 Vgl. Heschel, Abraham J.: Maimonides, S. 36 f.

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Schöpfung miteinander verbunden. 50 Im gefühlsmäßig-sinnlichen Erfassen Gottes in Form der Erscheinungsweisen dieser Welt findet Maimonides schließlich die Verbindung zum Aristotelismus (vgl. die Beschreibung in FN 12) sowie auch die Rechtfertigung des nach griechischem Verständnis nicht akzeptablen unsichtbaren Schöpfergottes. Vor allem werde durch solche Verinnerlichung Glaube in Denken überführt, in Philosophie als Lebenskunde. Der nomos der Griechen wird also hier aus gläubiger Meditation und Reflexion gefunden. 51 Dann, im Anhang II, Abschnitt 2, wird von Maimonides eine Therapie zum Zügeln der Temperamentseigenschaften erklärt: »Wie war nun ihre Therapie (ältere Weisheitslehrer, Anm.)? Wenn einer ein hitziges Temperament hatte, so rieten sie ihm, sich zu verhalten, dass, wenn er geschlagen wurde und gescholten, er sich nichts anmerken lassen sollte. Diese Prozedur führe er so lange fort, bis der Jähzorn aus seinem Inneren gewichen ist. War er hochmütig, so lasse er es sich gefallen, herabgesetzt zu werden …« usw. Für heutige Ohren klingt diese Kur drastisch, zumal wir durch Freud und vor allem aus den jüngeren Verhaltenstherapien wissen, dass soziale Störenfriede nur auf menschliches Verständnis positiv reagieren und in Wirklichkeit seelisch Angeschlagene sind. Was christliche und bürgerliche Tugendlehre als Fehlschläge erwies, wird hier anscheinend von Süssmann Muntner hoch gelobt. 52 Der Autor übersetzte in den 1960er-Jahren den maimonidischen Regimen aus dem Arabischen, um der Gegenwart das Werk nicht nur zugänglich, sondern als Heilwerk auch anwendbar zu machen, dabei die Psychotherapie als dessen Herzstück. Das klingt unglaublich, denn mit Tugendlehre lässt sich schon lange kein Sprechzimmer mehr füllen. Das Besondere der maimonidischen Psychotherapie erschließt sich aus dem ganzen Werk, gewissermaßen auch schon aus dem Vorwort, in dem Muntner den ausgefüllten Arbeitstag des Gelehrten beschreibt: Nach dem anstrengenden Dienst in der Großfamilie des Sultans widmete sich Maimonides im eigenen

Mose ben Maimon: Führer (Meiner), S. 3, 101, 108. Vgl. Heschel, Abraham J.: Maimonides, S. 158–161. Die neuere Forschung betont den hebräischen Glauben an Gottes unsichtbare Existenz als unverbrüchliches Fundament des Maimonides für Leben und Denken, vgl. Ehrlich, Ernst Ludwig: Moses Maimonides, in: Erler, Hans / Ehrlich, Ernst Ludwig: Judentum, v. a. S. 52–56. 52 Vgl. Maimonides, Regimen, Vorwort S. 10. 50 51

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Hause bis tief in die Nacht Kranken und Sorgenden, die von ihm Trost und Hilfe für Körper und Seele brauchten. Noch daran anschließend machte er sich an seine Bücher. 53 Dieses dialogische Handeln wird auch von anderen Autoren herausgestellt 54 und dürfte das entscheidende Bindeglied zwischen seelischen Schieflagen und Therapie gewesen sein. Im Werk selber finden wir dann wiederholt berufsethische Anweisungen des Maimonides an den Mediziner als »Seelenarzt«, als »Helfer«, als unbedingt an die Patienten Verpflichteten, die er als Menschen behandeln sollte. 55 Grundlegende Einsichten namhafter Therapeuten der Gegenwart über das Dialogische, das Blockaden löst und zur Motivationsumkehr verhilft, spiegeln sich hier (z. B. von Viktor E. Frankl). Die Herkunft des Wortes »Therapie« von griech. therapeuein – begleiten kommt in den Sinn und lässt vermuten, dass das Dialogische früherer Therapien selbstverständlicher war als heute. Erkennbar wird aus der Diskrepanz von Süssmann Muntners Vorwort und dem tieferen Sinn der maimonidischen Therapeutik folgendes: Im Vorwort schreibt ein Philologe, doch animiert er dazu, das Wesentliche in der Quelle selbst zu finden. Dem Arzt als Seelsorger hat in der jüngeren Gegenwart Viktor von Weizsäcker wieder Bedeutung verschafft. Treu geblieben ist dieser Linie heute die anthroposophische Richtung der Medizin. Später soll auch dazu mehr gesagt werden. Im Anhang IV, Abschnitt 1, liest sich der Beginn so: »Nachdem wir auseinandergesetzt haben, dass die Gesundheitspflege des Körpers zu dem Dienste der Gottheit gehört, da man zur Gotteserkenntnis unmöglich gelangen kann, wenn man krank ist, ist es notwendig, dass sich der Mensch von allen Dingen fernhalten muss, die den Körper schädigen, und alle anwenden, die ihn stärken und genesen machen. Dazu gehört: ›Stets esse der Mensch nur dann, wenn er hungrig ist‹ (Berachot 62b) … [weitere Talmud-Zitate folgen].« 56

Formell ist zunächst die Beachtung interessant, dass der Talmud bereits gesundheitsbezogene Mahnungen äußert. Schon das Buch Levi53 54 55 56

Vgl. ebd., Einleitung S. 21 f. Vgl. Heschel, Abraham J.: Maimonides, S. 248. Maimonides: Regimen, S. 53, 90, 159. Ebd., S. 173 f.

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ticus des Pentateuch besitzt sie, und es verbietet sich, pauschal die gesamte jüdische Neigung zur Regelung des praktischen Lebens als archaischen Kultus mit übertriebener Moralistik (etwa »rein« und »unrein«) abzulehnen. Es könnte durchaus sein, dass die moralischen Kategorien des Alten Testaments (von denen wir heute wissen, dass sie der Identifikation als Volk zusammen mit der Manifestierung des Jahweglaubens dienten) erst losgelöste Folge einer ursprünglich exakten Naturbeobachtung (d. h. insbesondere Krankheitsbeobachtung) waren, wie sie das Überleben im Altertum nötig machte. Nach heutigem Verständnis ergeben manche Gebote des Leviticus praktischen Sinn, wenn man sich in der Biologie auskennt (z. B. mit der Infektionsgefahr durch Körperflüssigkeiten), von ethischen Fragen zur Behandlung Betroffener zunächst abgesehen. Deutlich zeigen die weisen Schriften der Juden und ihre Vorliebe für Lebenspraxis und Diätetik in Spätantike und Mittelalter eine große Begabung dieses Volks für das Praktische und Alltägliche. 57 Weiter soll es inhaltlich zur zitierten Passage gehen: Über die verwirkte Gotteserkenntnis in Krankheit dürften Christen anders denken, gelten ihnen gerade die Leidenden besonders Gott nahe, (Mt 5,4) und ertrug doch Gott selber das Äußerste an Leid. Vermutlich dachte Maimonides nicht so und wusste, dass das Gottesverhältnis im Leiden, vgl. pointiert an Hiob, zunächst ein gebrochenes ist. Wut und Gebetsunlust stellen sich ein (»Warum gerade ich?«), erst recht im längeren Leiden, wenn Gott nicht eingreift. Der Seelsorger Eugen Drewermann schreibt ungeschönt über solche Frustrationserfahrungen. 58 Das selige Verhältnis zu Gott im Leiden will demnach hart errungen sein. Umgekehrt findet sich bei uns vielleicht nur deshalb noch eine so feste Vorstellung davon, dass Gott und Interessanterweise ergab eine mikrobiologische Untersuchung in den mittelalterlichen Schichten städtischer Kloaken von Braunschweig, dass eine Kloake jüdischer Bewohner weit geringer mit den im Mittelalter allgegenwärtigen Parasiteneiern durchseucht war, wobei sich Zusammenhänge zu den jüdischen Speise- und Hygienegewohnheiten (z. B. kein Schweinefleisch, keine Aale wegen des Fischbandwurmes) für die Forscher geradezu aufdrängten, vgl. Jankrit, Peter Kay: Gott und schwarze Magie, S. 80. – Maimonides selbst bekundet im »Führer der Unschlüssigen« einen hohen Sinn darin, geistige Aussagen der Tora aus deren bildhaftem Wortlaut abzuleiten. Die ersten dreißig Kapitel befassen sich mit solcher Exegese, die hier als Suche der Gemeinsamkeit zur aristotelischen Stoff-Geist-Relation gemeint ist (s. wenige Seiten zuvor in dieser Arbeit), aber gewiss auch zeigt, wie für ihn Religion im Leben wurzelt. Vgl. Mose ben Maimon: Führer (Meiner), S. 27–87. 58 Vgl. Drewermann, Eugen: Sechster Tag, S. 43–45. 57

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Leiden zusammengehören, weil in der atheistischen Moderne, wenn überhaupt Menschen zu Gott finden, dann durch Leiden. Um Maimonides noch besser zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, wie früher »Gesundheit« und »Krankheit« eigentlich gemeint waren. Sie waren keineswegs in zwei polare Blöcke aufgeteilt, wie vergleichsweise wir es, etwa festzumachen an der Sozialversicherungsgesetzgebung der 80er-Jahre des 19. Jh., gewohnt sind. Gesundheit wurde seit alters her als Idealzustand angesehen, der nur annähernd erreichbar ist. Krankheiten dagegen bildeten immer schon mehr oder weniger starke Krisen, die toleriert werden mussten. In der Mitte lag als großes Feld zwischen Gesund und Krank die sogenannte neutralitas, die von den Menschen erlebten Alltage mit den eigenen Konstitutionen und Wehwehchen, mit denen sie zurechtkommen mussten in Sorgfalt und Pflege, um nur nicht ernsthaft zu erkranken. 59 Hinzu kommt, dass unsere Vorfahren um den Ausbruch der Krankheit als eine Entwicklung wussten: Krankheit trifft Menschen nicht zeitlich-punktuell als Überfall, sondern nach langer Vorlaufzeit erst dann, wenn das »Fass« an ungünstigen Einflüssen »überläuft«. Mit großem Bedacht hat Galen daher zwischen die Grenzzustände von Gesundheit und Krankheit jene dritte, mittlere Kategorie eingebaut (neutralitas), ein labiles Übergangsfeld (lat. neutrum – keines von beiden), das wir als kritische Situation erleben und das wir selbst bzw. der Arzt mittels Lebensführung (hygieia – Hygiene) zu kultivieren hätten. Danach leben wir alle – auch Heutige – normalerweise bereits in einem Brachland des »Zwischen«. Nur dass wir heute bessere Absicherungen haben und Gesundheitsgefahren leichter verdrängen können. 60 Auch im Corpus Hippocraticum ist dieser Gedanke ganz zentral. Er entspringt und folgte prinzipiell der Natur- und Lebensbeobachtung. 61 Die Naturheilkunde ist heute prinzipiell dem alten Wissen treu und verpflichtet geblieben, indem mit Krankheiten stellen in früheren Jahrhunderten oft extreme Einschnitte dar in den Alltag und in die ganze Existenz. Im Mittelalter z. B. wurden das ohnehin beschwerliche Reisen sowie die mit ihm bezweckten politischen, geistigen, geschäftlichen Kontakte durch die Haupt-Krankheitsplage, Verdauungsinfektionen, schlimm beeinträchtigt, vgl. ebd., S. 80 f. Für Frauen stellten die zahlreichen Geburten, meistens in sehr unhygienischen Verhältnissen, eine ständige Lebensgefahr dar (ebd., S. 56–64), für Kleinkinder und Kinder war das Unfallrisiko durch Feuerstellen, Brunnenschächte, Werkstätten erheblich (S. 65). 60 Schipperges, Heinrich: Krankheit und Kranksein, S. 37. 61 Vgl. Schipperges, Heinrich: Heilkunde als Gesundheitslehre, S. 12, 25. 59

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der Therapie möglichst gute Bedingungen zur Selbstregulierung des Organismus geschaffen und später beibehalten werden sollen. Extreme, Überreizungen gilt es zu vermeiden (siehe oben zur Beziehung von Hunger und Essen), und hier klingt wieder die mesotes-Lehre an, auch sie ist eigentlich eine Weisung der Natur. 62 Aus dem Gesagten erklären sich die Maßnahmen der Diätetik als aus dem festen Bewusstsein um die Fragilität der Gesundheit heraus begriffen und schwerpunktmäßig als Vorbeugemaßnahmen intendiert. Diätetik ist eigentlich die Kehrseite der Krankheit. In den gebildeten Kreisen galt das Diätetische von der Grundeinstellung her und auf das Gesamtverhalten bezogen als »Lebenskunst«. 63 Für den gläubigen Menschen ist Diätetik der Bereich verantwortungsvoller Alltagsgestaltung vor Gott und aus der Kraft Gottes. Umgekehrt ist das lebendige Verhältnis zu Gott für Juden sowie für Christen immer auch weise angeregte Lebensgestaltung (vgl. Psalm 90,12, Lutherbibel): Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. Für den jüdischen Denker Maimonides ist Diätetik ideell vor allem im Schöpfungsglauben, d. h. der Existenz allem Lebens und Seins aus Gottes Hand, begründet und aus der Sorge, die diesem Leben gebührt, wie es weiter oben schon beschrieben wurde. Aus der Perspektive heutiger Humanität muss natürlich gesagt werden, dass die Zustände »krank« und sogar »achtlos krank« niemals moralisch bewertet werden dürfen, dass allerdings Letzteres Mitmenschen zur Anregung animieren sollte, etwa: »Liebe Freundin / lieber Freund, dir täte eine andere Ernährungsweise gut.« Da man aber eine solche Haltung als Tabu in unserer vielfach von Verantwortung enthobenen Gesellschaft finden wird, dürfte man Maimonides’ Sicht einiges abgewinnen können. Es geht ihm um die Verbindung eines inneren Ethos mit der Beschäftigung mit den Lebensdingen, wie sie vielleicht mit der Fitness- und Gesundheitsbewegung, z. B. dem »Bio«-Bewusstsein, doch wieder aufkeimt. Hierzu bleibt Teil 4 dieser Arbeit abzuwarten. Medizingeschichtlich prallen die Paradigmen der »Konstitutionsbeeinflussung« und des mechanistischen Reparierens (bzw. Bekämpfens) legendär aufeinander im Streit zweier Mikrobiologen (1867), nämlich Bechamp: Le germ est rien, le milieu est tout gegen Pasteur: Le germ est tout, le milieu est rien. In der akuten Behandlung werden selbstverständlich beide Seiten wichtig, um Gefahren und ggf. Schmerzen auszuschalten. Ignoranten der zweiten Sicht, z. B. psychotherapeutische Krebsheiler, haben schon viel Furore gemacht. 63 Vgl. Eckert, Wolfgang U.: Geschichte, S. 29. 62

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Zusammenfassend steht Maimonides, der als Gelehrter den praktischen Umgang mit Lebensfragen etwa von der Ernährung bis zu den seelischen Leiden beherrscht, sich dabei sich vor allem mit den Leidenden selber als Menschen befasst, für die ganzheitliche Verbindung von Geist und Leben – gegen die heutige Distanz zu den Lebensdingen in den geistigen Fächern. 64 Er bildet damit einen Prototypen für alle Regimina, wonach Intellektuelle den praktischen Alltag nicht scheuten. Bei Maimonides ist die Verbindung von Geist und Leben religiös-ethisch motiviert. Sie findet sich in ähnlichen oder anderen Prägungen noch in späteren Epochen, z. B. bei Goethe und bei den Intellektuellen der Romantik, im Bruch zur Moderne dann bei Friedrich Nietzsche, wobei beide Genannten noch speziell behandelt werden, ferner bis ins 20. Jh. bei zahlreichen Theologen, die Liebhaber der Naturheilkunde waren, z. B. der Kräuterpfarrer Künzle 65 oder Weidinger. Wie wir noch sehen werden, sind all diese Genannten auf ihre Weise Bewahrer einer Ideentradition von vor- und übermenschlichen Grundlagen, an die der Mensch gebunden sei, wenn sein Leben gelingen soll. Das dürfte speziell auch als fundierte Mahnung in Bezug auf die leicht ausufernden Formen eines wohlständigen Luxus gelten, für die Maimonides Pate steht. Gestalten wie er halten sich bis in die Gegenwart. 66 Die in Kapitel 3.1.1 ermittelten Wesenheiten der Diätetik treffen in Bezug auf Maimonides bereits textimmanent zu, so seine fachliche Souveränität (betrifft die Punkte 1. und 2. in 3.1.1). Ferner findet sich die mesotes-Lehre implizit im Regimen; das Nomoshafte ergibt sich Noch ein (und ein häufiges) Beispiel distanzierten Unverständnisses ist der Umgang mit dem Vegetarismus, der immer noch als falschverstandene Askese gilt, obwohl dieser unter zahlreichen Gründen auch mit dem Ziel besserer Gesundheit und Lebensqualität gewählt wird. Üblicherweise zeigen die Vertreter mit ihren Gründen – in Frage kommen heute v. a. die ethischen Gründe Tierschutz, Klima und Landnutzung – ein Verständnis von Gesundheit, das verschiedene Lebensbereiche organisch umfasst. Zur Gegenposition, die weder vielfältige Sachgründe noch ein inneres Ethos erwägt, vgl. Böhme, Gernot: Leibsein, S. 272–274. 65 Johann Künzle, 1857–1945, schweizerischer examinierter Kräuterheiler, Verfasser diätetischer Zeitschriften und des noch heute aufgelegten Heilkräuterführers »Chrut und Unkrut«. 66 Beim ökologischen Engagement in unserer säkularen Welt wird allerdings ein spirituelles Ethos selten bekundet. Ein Gegenbeispiel geistiger Gründung sowie auch Botschaft ist Prince Charles, der am Ende dieser Arbeit zitiert werden soll. – Im Umgang mit der Nahrung gäbe es privat eine schlichte Möglichkeit, um geistige Gründung und Lebensbezug einzuüben, nämlich das Tischgebet. 64

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aus der Gottes- und Naturfühlung und dem Anleitungscharakter der Schrift; auch die Erfordernis der arete schwingt im Regimen mit in der Weisung, das jeweils Geeignetste zu finden. Wenn jeder Regimen seinem Wesen nach als paideia intendiert war, so meldet sich die paideia hier, in der Kritik an dem Sultan, ganz lautstark. Was die Gründung der maimonidischen Diätetik sowohl auf Transzendenz (betrifft Punkt 3.) als auch auf Naturbeziehung (betrifft Punkt 4.) anbelangt, so ist bei ihm das Verständnis einer kosmologischen Welt-Verfasstheit in der jüdischen Form der Schöpfung zu finden.

3.1.3 Das Mittelalter: Von Kräutern, Kirche, Kräften und Weisen Über das private, gesundheitsbezogene Verhalten der mittelalterlichen, überwiegend ländlich und einfach lebenden Bevölkerung, liegen uns heute Spezialthemen vor, z. B. zur Arbeit der weisen Frauen (wie noch zitiert werden wird) oder anderer Heilberufe. Der Verfasserin fiel bei der mentalitätsgeschichtlichen Recherche die enge Beziehung der mittelalterlichen Bevölkerung zur Flora auf, sodass sie dieses Phänomen als ein typisches vorstellen wird. Die naturreligiösen Kulte der Germanen und der Kelten haben Mitteleuropa ein reiches Pflanzenwissen und ein hohes Maß an Verehrung gegenüber der grünen Kreatur eingestiftet. Das war kein Wunder bei den dichtbegrünten Lebensräumen und vielseitigen Klimaerfahrungen dieser Völker, wo nebeldurchtränkte Auen oder vom Wind zerklüftete Wälder die verschiedenen Pflanzen in unterschiedlichsten Formen und Eigenschaften zeigten. Besonders für die Kelten können heute Quellen wie antikes Schrifttum und archäologisches Material, z. B. aus Gräbern, ein intensives Leben von und mit der Pflanzenwelt aufzeigen. 67 Da mit dem Christentum ab dem Mittelalter fest eingegangene Verschmelzungen mit den alten Pflanzenkulten unsere Kultur bis noch in die Gegenwart bestimmten, wird dieses Kapitel – nach einigen grundsätzlichen Überlegungen – in einem Strang von den wilden und gärtnerischen Pflanzen handeln (dagegen wird es nicht um die Pflanzen des Ackers gehen), im anderen dann Das ist natürlich noch weit entfernt von dem vermeintlich abgeklärten Keltenbild, das der Esoterikmarkt verbreitet. An seriöser Literatur zum Thema sei genannt: Storl, Wolf-Dieter: Pflanzen der Kelten, hier S. 17–19. Der Autor wird später noch genauer gewürdigt werden.

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von typischen Geisteshaltungen und schließlich darum, worin sich beide verbanden. Die Ausführungen über das Diätetische in der bäuerlichen Gesellschaft erscheinen in den wissenschaftlichen Abhandlungen zum Thema nicht, obwohl es sich um Diätetik handelt, sogar in nachhaltig kulturprägenden Formen (beachte z. B. die Heilpflanzentradition). Dies kann damit zusammenhängen, dass überhaupt das Kulturelle mehr bei den Gebildeten und Bürgerlichen angesiedelt wird. Für das Diätetische sind die Pflanzen allein schon darin bedeutsam, dass sie die unverzichtbare Lebensgrundlage der Tiere und Menschen bilden. Dies verweist auf die Nahrungsketten, die alle Lebewesen biologisch verbinden, und indiziert, philosophisch gesehen, die Stellung des Menschen mit seinem lebensweltlichen Mikrokosmos in einem natürlichen Makrokosmos. Unter anderem die prinzipiell mit den Tieren geteilte Art der Ernährung macht auch deutlich die Stellung des Menschen als animal in der Gemeinschaft der Wesen aus, wie es begrifflich von Aristoteles geprägt, aber ebenso von zahlreichen anderen Beobachtern gesehen wurde. 68Aktuell sind die natürlich gewachsenen Pflanzen die Lebewesen, an denen durch weltweite Beseitigung große Naturzerstörung begangen wird, und das für eine kommerzialisierte Erzeugung von Wohlstandsgütern, obwohl es geeignetere Formen als die fleischlastige Ernährung gäbe, die Viehzucht- und Viehfutter-dominierte Landwirtschaft und neuerdings die problematisch zu bewertenden pflanzlichen Energieträger. Diese Problematik veranlasst zu einigen Gedanken über die menschliche Ernährung: Von Natur aus ist der Mensch ein Allesesser, und die menschliche Ernährung zeigt sich im Verlauf der Kulturgeschichte als zunehmend von unedlen Motiven bestimmt. Ging es auf dem Lande, grob gesehen, meistens um Mangel und rationelles Wirtschaften, so ist für Für Aristoteles war Beseeltheit ein gemeinsanes Kriterium von Menschen, Tieren und Pflanzen, aber auch ein graduelles Unterscheidungskriterium, vgl. Kather, Regine: Leben, S. 15. Bei Aristoteles s. insbes. De an. I 1, 402b. Darwin hat 1859 naturwissenschaftlich den Menschen den Tieren zugeordnet. Um 1750 tat das bereits Carl von Linné, noch primär geleitet von »dem Gefühl, dass das, was zusammengehört, auch beisammen sein soll«, Reichholf, Josef H.: Naturgeschichte, S. 148. Das lateinische Wort anima für »Seele« weist auf die alte Einstellung unserer herkunftsbedingten Verbundenheit mit den Tieren hin. Bis ins 16. Jh. hatte das Wort »animalisch« etwa die Bedeutung von »seelenverwandt«, vgl. Hagencord, Rainer: Irrtum, in: ders.: Tiere in Theologie, S. 35.

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die höfische und städtische Bevölkerung auch der Hang zur gedankenlosen Völlerei (einschließlich Schlachterei) zu verzeichnen. Wer es sich leisten konnte, dem galt damals wie heute Fleisch als Prestigespeise, vermutlich ein archaisches Relikt aus Zeiten, in denen man das Stammesgefühl am Jagdwild-Gelage aufbaute. Insgesamt, so lässt es eine Monografie über die Geschichte der Ernährung erkennen, haben Menschen stets alles gegessen, was sie irgendwie erhalten konnten, sei es aus Not, sei es aus Luxus. 69 Ideale wie der Vegetarismus wurden genauso wie der Naturschutz erst in der jüngsten Gegenwart gesellschaftsfähig, in der die Vernichtung der Natur durch die technischen Intensivwirtschaftsmittel eklatant geworden ist. So hat diesmal der übertriebene Wohlstand einen zumindest theoretischen Konsens geweckt zugunsten harmonischerer Lebensweisen. Vegetarische Ernährungsweise wird von Überzeugten heute meistens aus gesundheitlichen Gründen gewählt (Abkehr von der ungünstigen Zivilisationskost) sowie zur Lossagung von der verwerflichen Massentierhaltung und -schlachtung, neuerdings auch mit Gedanken an evtl. klimaschädliche Emissionen. Oftmals bündelt sich das alles in einem Ethos, das der alten diätetischen Haltung von der Sorge um sich selbst alias Sorge um die Natur gleichkäme: Man bindet sich wieder mehr in ökologische Prozesse ein, indem man z. B. regional, saisonal, weniger verarbeitet einkauft, was damit einen entsprechenden biologisch verträglichen Anbau, die Biodiversität u. v. a. m. fördert. Der Unterschied vom Lebens- oder bloßen Nahrungsmittel liegt in einer solchen Einstellung begründet. 70 In der wirtschaftlich dominierten Welt ist das Gewissen aber immer auch anfällig für Steuerungen durch MarkeHirschfelder, Gunther: Europäische Esskultur. Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute, Frankfurt/M. 2005. In Zeiten unsicherer Nahrungsquellen dienten üppige Gelage auch immer dem Ausgleich von Entbehrung, S. 123. 70 Die Natur ist Lebensraum unzähliger Kreaturen und Produzenten u. a. der menschlichen Nahrung. An der Art der menschlichen Ernährungsweise, d. h. auch Ernährungswirtschaft, zeigt sich eklatant das Bewahren oder Überschreiten einer Einbettung. Bei einem starken Überschreiten nach Art und Weise der jetzt weltweiten Agrarindustrie schlägt die Gleichung »Sorge um sich selbst – um die Natur« um in wirtschaftliche und humanitäre Katastrophen: Hunger, unfaire Preise für Kleinbauern, Ausbluten ländlicher Regionen, Megaställe (Folgen: Antibiotikamissbrauch, Lebensmittelskandale, Wasservergeudung, Bauernhofsterben usw.), Saatgutkartelle, Monokulturen, unkontrollierbare Gentechnik, Bodenverdichtung / -schädigung, Landnahme durch Staaten und Investoren, unfreier Handel und Zugang zu Land: Auflistung aus einem Aktionsprogramm der Initiative »Wir haben Agrarindustrie satt« zum Bauerntag am 18. 1. 2014 in Berlin (www.wir-haben-es-satt.de). 69

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ting. In Deutschland erobert zurzeit die Biobranche den Markt des Veganen. Wie insbesondere zahlreiche neue Fertigprodukte zeigen, scheint hier ein extremes Ideal nur als Marktstrategie benutzt zu werden. Eine innige und verantwortliche Beziehung zur Natur gemäß dem diätetischen Paradigma kann damit beim sogenannten Verbraucher sicher nicht geweckt werden. 71 Speziell zum Vegetarismus, der auch ein Kennzeichen des diätetischen Habitus sein kann, soll nun noch ein Exkurs folgen. Exkurs zum Vegetarismus Vegetarismus als Ideal ist uralt. Bei heute schwierigen ethischen Bewertungslagen antiker Lebenshaltungen zeigt das alte Vegetarismusideal phänomenologisch deutlich: Menschen versuchten dadurch einerseits einen Urzustand am Ausgang der Nahrungskette, wortwörtlich am Boden der lebenspendenden Erde, einzunehmen und andererseits aus der Kette des Tötens auszusteigen. Im Vegetarismus wird also ein Synthesestreben deutlich von gefühlsmäßiger Verbundenheit zur Erde, Mitleid mit den Tieren und mit der Vernunft: »Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das seine Nahrung wählen kann.« 72 In der Regel war der antike Vegetarismus mit einer besonders gottesfürchtigen Haltung verbunden (z. B. im Zoroastrismus, bei den Pythagoräern 73). Sehr interessant dazu sind auch die beiden Vgl. zum ökologischen Bewusstsein Reichholf, Josef H.: Naturgeschichte, S. 233. Vgl. zum aktuellen Ernährungsmarkt die Pressenotiz: BioFach: Vegan liegt im Trend, in: NZ 13. 2. 2014, S. 1. Angebote wie Fertigkost für die Mikrowelle und von weither importierte Zutaten sind ethisch fragwürdig. 72 Frevert, Christiane: Artikel von der Askese zum Genuss. Eine kleine Kulturgeschichte des Vegetarismus, in: Ernährungsmagazin Natürlich, S. 15. Vgl. auch Linnemann, Manuela / Schorcht, Claudia (Hg.): Vegetarismus, S. 18. »Wählen«: Gegenwärtig erstrebt eine Randgruppe der Veganer (Fruitarier) sogar das »Verletzen« von Pflanzen zu verhindern, indem sie sich nur von abgefallenen Früchten ernährt. Biologisch ist das nicht stimmig, denn Pflanzenkost bleibt unumgänglich, vgl. Stöcklin, Jürg: Pflanze, S. 53. Ferner die »Lichtkost« (Breatharianismus), die die gänzliche Lösung von materieller Nahrung zu den »feinstofflichen« kosmischen Energien des Lebens erstrebt – sie kann in der Durchführbarkeit nicht ernst genommen werden. 73 Der Vegetarismus der Pythagoräer wird mit deren Vorstellung von der Seelenwanderung begründet. Dabei ging es über die anthropozentrische Sicht hinaus um eine Haltung, die sich allen Lebewesen in einer gemeinsamen Seelensphäre verbunden fühlte, vgl. Riedweg, Christoph: Pythagoras, S. 54. Bezüglich oft zitierter Speisevorschriften (z. B. das »Bohnenverbot«) ist die Quellenlage unsicher. Jedenfalls wurde hiermit wie auch mit anderen Lebensregeln eine Synthese aus ritueller Reinheit, see71

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Schöpfungsberichte des Alten Testamentes. Nach dem ersten, redaktionsgeschichtlich jüngeren Schöpfungsbericht sieht Gott die Pflanzenkost für den Menschen ausdrücklich vor. 74 Der zweite, sehr viel ältere Bericht mit dem pflanzenreichen Paradies, in dem die Menschen seltsamerweise arbeiten mussten, macht wiederum eine Hochschätzung der Pflanzen, der gerne unternommenen Pflege an ihnen und ein sattes Genügen an der Pflanzenkost deutlich. 75 Philosophisch gelesen erscheint im zweiten Schöpfungsbericht auffällig das diätetische Ideal, wonach die Sorge um sich selbst gleichsam Sorge um die Natur und um das Leben schlechthin war. Markant dabei ist allein schon, dass Sorge, also Verantwortung, den Menschen als ihre Natur vom Schöpfer mitgegeben worden war. Diätetisch entspräche dies der nomos-Haltung der Griechen. Im späteren hebräischen Kultus, wonach der Tierverzehr erlaubt war, zeigte sich diese Sorge dann immerhin im Verbot des Verzehrs von Blut »als Sitz des Lebens«, wobei die Praxis des Schächtens heute ethisch fragwürdig ist. Sie äußerste sich ferner in der Hochschätzung der umweltgestaltenden, also körperlichen Arbeit, die die griechische Philosophie als minderwertig ablehnte. 76 Das Christentum prägte mit der von den Hebräern überlischem Frieden und körperlichem Wohlbefinden erstrebt, vgl. ebd., S. 55, also letztlich einen leiblichen Einklang, den auch Platon vertritt (vgl. FN 19). 74 Innerhalb Gen 1,1–2,4b (Entstehung priesterlich, vermutl. nachexilisch um 500 v. Chr.) siehe V. 29. Das in der ökologischen Debatte dem Christentum leicht angelastete Dominium terrae nach V. 28 wird also bereits durch V. 29 stark eingeschränkt. 75 Innerhalb 2,4b-25 (Entstehung jahwistisch, um 950 v. Chr.) siehe V. 8.15. Der Garten mit üppigem Wuchs ist, geografisch bedingt, gewiss auch ein orientalisches Idealbild, vgl. die legendären Gärten der babylonischen Königin Semiramis. 76 Das Alte Testament erlaubt im Zusammenhang mit dem noachitischen Bund in Gen 9,3.4 (priesterlich) den Fleischverzehr. Schon in der jahwistischen Kain-undAbel-Erzählung, Gen 4,1–16, wird Kains Feldfrüchte-Opfer gegenüber Abels Fleischopfer von Gott abgelehnt, wobei es exegetisch weniger um die Art der Nahrung, sondern um schicksalhafte Konfliktstellungen jenseits von Eden geht. Für die Landwirtschaft wird mit Dtn 25,4 u. a. Stellen (z. B. der atl. Spätredaktion in Psalmen, in Hiob) eine Tierethik bzw. eine enge Beziehung zum Tier etabliert, vgl. dazu Schroer, Silvia: Rind beim Dreschen, in: Hagencord, Rainer: Tiere in der Theologie, S. 38–56. Vgl. zum Verantwortungsvollen in Landwirtschaft und Feldarbeit insbes. auch. die kultischen Vorschriften zum Sabbat – zur Erholung des Menschen und der gesamten Schöpfung – Hauptstellen Ex 20,8; Dtn 5,12; ferner zum Sabbatjahr – zur Erholung des Ackers – in Ex 23,10 f.; Lev. 25,1–7. Durch Silvia Schroer, a. a. O., wird die Problematik der rituellen Schächtung und Opferung einerseits eingeräumt, andererseits wäre damit der Fleischkonsum weitgehend auf das Rituelle beschränkt gewesen und die Haltung der Anbindung an den Schöpfer bzw. die Achtung vor dem Leben gewahrt geblieben, S. 50 f.

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nommenen weltgestaltenden Haltung, zugespitzt etwa im »Ora et labora« der Benediktiner, eine ganze Zivilisation. Die Ausgewogenheit dieser Zivilisation zwischen ihrer Entfaltung und der Bewahrung ihrer natürlichen und geistigen Grundlagen ist in der säkularisierten Moderne am Zerbrechen. 77 Dabei wird im ökologischen Zusammenhang der jüdisch-christlichen Kultur von ihren dogmatischen Grundlangen her oft angelastet, dass sie anthropozentrisch ausgerichtet ist. Dem sei entgegengehalten, dass ein alle Lebewesen verbindender geschöpflich-soteriologischer Lebensgang beim Menschen ebenso Verpflichtung wie Auszeichnung bedeutet (vgl. Rö 8,18–24). Diese Verbindung unter den Geschöpfen hat in der christlichen Theologiegeschichte auch des Öfteren zu nahezu kosmogonen Weltbildern geführt, z. B. bei Hildegard von Bingen, auch wenn sie nicht explizit für eine vegetarische, aber äußerst maßbestimmte Lebensweise steht. 78 Jedenfalls gibt es andere, nicht anthropozentrische religiöse Traditionen, deren Ideal noch heute eine vegetarische Lebensweise ist, z. B. nach dem indischen Kastensystem bei der obersten Kaste der Brahmanen bzw. im Buddhismus bei allen, die die Lehre ernst nehmen, dass das Göttliche, Brahman, in den Lebewesen immanent ist und man daher Verletzung von Leben vermeiden sollte. In besonders konsequenter Weise drückt das Ahimsa-Gebot der Jainas den Gedanken der Nichtverletzung aus. 79 Um auf das Christentum zurückzukommen, so ist die Beachtung der Wüstenväter, monastischer Traditionen Vgl. mit der besonderen Zuspitzung, Säkularisierung folge dem christlichen Kerygma, Gogarten, Friedrich: Verhängnis, S. 105. Vgl. in der weiteren philosophischen Debatte Blumenberg, Hans: Legitimität, S. 52–62, 80 u. ö. Seit 1900 hatten schon Größen wie Max Weber und Ernst Troeltsch das Dilemma der westlichen Kultur beschrieben, wonach moderne Administration und Kapitalwirtschaft tief in der christlichen Ethik verwurzelt lägen. Die Verfasserin meint dazu, man sollte zwischen Genuinem und Genese scharf trennen, an das Genuine theoretisch möglichst oft erinnern und es praktisch bestmöglich in das jetzige Leben zu integrieren versuchen. Bei der Ernährung kann z. B. die früher übliche Wahl unverarbeiteter Lebensmittel aus regionalem Angebot eine Weise engerer Naturverbundenheit und auch geschickter Lebensführung sein. 78 Inhaltlich-spirituell ist bei Hildegard von Bingen Letzteres der Fall, aber formaldogmatisch, z. B. bei Buchmalereien, übernimmt sie die typische Symbolik des Menschen in der Weltenscheibe, vgl. Hildegard von Bingen: Heilkunde, Erläuterung v. Heinrich Schipperges S. 51. 79 So greift hier nicht das häufige Vorurteil, dass eher eigennützig die Wiedergeburtslehre Motivation für den Vegetarismus sei. Vgl. von Brück, Michael: Buddhismus, S. 267, 277, 284. Vgl. auch das Tat Tvam Asi (wörtl.: »Das bist du«) des vedantischen Buddhismus, wonach das Selbst in einem ursprünglichen Sinn identisch mit dem 77

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und durchaus Hildegard von Bingens wichtig, die im Sinne der biblischen Schöpfungsberichte bzw. des Erlösungswirkens Christi mit fleischfreien Ethiken die Rückkehr in einen unverdorbenen Urzustand vor dem sog. Sündenfall intendierten. Da Hildegard von Bingen Fleisch nur für Kranke, d h. als »Krücken«, vorsah (was die zahlreich vermarkteten Kochbücher übersehen), scheint das Ideal auch bei ihr die fleischlose Ernährung im Sinne der biblischen Schöpfungsberichte gewesen zu sein. 80 Zurück zum europäischen Verständnis der Flora, bei dem hier besondere geistig-kulturelle Legierungen zu verzeichnen sind. In der Spätantike traf das Christentum mit der mehr dogmatischen als kultischen Ausrichtung die mediterranen Völker nicht unvermittelt, insofern als verschiedenste religiöse Gruppen endlich Antwort fanden auf eine lange gehegte Erlösungssehnsucht. Nördlich und östlich der Alpen dagegen vernichteten imperiale Zerstörungen und ethnische Wanderbewegungen die bestehenden Kulturen oder veränderten diese stark, begonnen mit der Eroberung Galliens und anderer keltischer Regionen durch das Imperium Romanum, dann durch den Missionierungsdruck der römischen Kirche sowie durch den Einfall slawischer und germanischer Völker aus dem Osten bzw. Norden. Am Beispiel der Kelten bedeutete das mit dem Wegfall des Kriegeradels und dem druidischen Priestertum die Beseitigung ihrer Hochkultur. Aber das einfache Volk lebte weiter in strohgedeckten Hütten, allmählich zum Christentum bekehrt und neuen Herren untertan, verzehrte Brei, Mus und Gerstenbier, glaubte an die lokalen Naturgeisobersten Lebensprinzip (Brahman) ist, was besonders Arthur Schopenhauer akzentuiert hat: WWV, S. 336–338. 80 Vgl. Kather, Regine: Hildegard interkulturell, S. 92–95 mit weiteren Beispielen spirituell-vegetarischer Traditionen. Vgl. ähnlich Linnemann, Manuela / Schorcht, Claudia (Hg.): Vegetarismus, S. 51–55. Schorcht hebt für das Christentum das oft Außerkirchliche dieser Traditionen hervor sowie auch Problematiken der offiziellen Überlieferung, z. B. Jesu Stellung zum Fleischverzehr, insbes. beim letzten (Passalamm?-)Mahl mit den Jüngern, S. 52. Heute könnte die naturwissenschaftliche Kenntnis gegen den Vegetarismus sprechen, wonach das Gleichgewicht des Lebens auf Nahrungsketten beruht, in denen der Mensch als »Mischköstler« steht. Nach Ansicht d. Verf. hätten dann aber die gefühllose Gewalt und das Ausmaß von Lebenszerstörung durch die moderne Fleischwirtschaft, deren Gepräge weltweit zunimmt, auf Verbraucherseite die Logik deutlicher Fleischreduzierung zur Folge. Pädagogisch muss man Einsichten allerdings Raum zum Wachsen geben und individuelle Grenzen z. B. des Stoffwechsels unbedingt achten.

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ter, betrieb Landwirtschaft im Jahreslauf der Natur und heilte mit den alten Kräutern unter Anwendung ähnlicher Heilsprüche wie bisher. Die alten Gottheiten, die den Jahreskreis regierten, tauschte man gegen die passenden christlichen Heiligen aus, Kapellen und Kirchen wurden auf dem Boden der alten Heiligtümer errichtet, die christlichen Feiertage wurden in den Jahreskreiskalender eingebaut. Die Kultur der kleinen Leute hat damit die Kontinuität der keltischen Bräuche gewährleistet, und das nicht nur im entfernten Schottland oder Wales, sondern überall in Mitteleuropa, besonders in den Rückzugswinkeln des Alpenraumes. 81 Eine Lücke in der überwiegend einseitig auf das Imperiale bezogenen Geschichtsbetrachtung ist, dass auch in den germanischen und keltischen Regionen die christliche Mission und Kulturschaffung in ein erhebliches Vakuum gefallen sind, was für die Jahrhunderte nach der Völkerwanderung zutrifft. Die Völkerwanderung, die ab dem 5. Jh. das römische Imperium unter sich begrub, bedeutete für Europa eine epochale Katastrophe, deren Überwindung Jahrhunderte brauchte. Das alltägliche Leben in Westeuropa zu dieser Zeit muss einen flächendeckenden Anblick ruinöser Infrastruktur geboten haben, dazu Massen an bedürftigen Menschen wie Armen, Bettelnden, Hungernden, Siechen, Entwurzelten, Kranken, Schreienden und Wahnsinnigen. In dieser apokalyptischen Welt war die Kirche die einzige schutzund ordnungsgebende Kraft, die außerdem Kulturtechniken vermittelte und die Fragmente des antiken Erbes bewahrte. Vor allem mit dem aufkommenden Mönchtum gelang es der Kirche dann, einer europäischen Zivilisation zum Wachstum zu verhelfen. Mit ihrer Mission gewann sie die fremden Völker für einen den Menschen achtenden Glauben, für eine Hochreligion des Geistes, der Liebe, der Wertschätzung von Bildung und für eine die Schwachen integrierende Moral. Gedanken, sich mit Feinden zu versöhnen oder den Armen zu helfen, waren Germanen, Kelten sowie auch der gesamten heidnischen Antike fremd gewesen. Die kirchlichen Lehrtraditionen, die sich mit zunehmender Klerikalisierung Europas ab dem Hochmittelalter entfalteten und mit ihren Praktiken – wie Buße und Beichte – im Volk wirkten, werden oft kritisiert als Einschüchterung des Einzelnen oder auch Tendenzen in die Veräußerlichung. Doch muss hier wiederum gesehen werden, dass sie beim Individuum zur Stabilisierung der 81

Vgl. Storl, Wolf-Dieter: Pflanzen der Kelten, S. 19–21.

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Lebensführung und insgesamt zur Verfeinerung und Vergeistigung einer noch recht rohen Kultur beitrugen. Durchweg verdrängten lebensgestaltende Kräfte Stimmungen der Halt- und Perspektivlosigkeit. Speziell die christliche Ansicht von der gefallenen Welt und ihrer Überwindung durch Christus half erstmals, mit den Problematiken von Schmerz und Leid überhaupt umgehen zu können. 82 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum im christlich geprägten Europa Fragen des individuellen und sozialen Wohls so lebensprägende Formen entwickeln konnten, die bis in die Moderne mit Einrichtungen der Rechtsstaatlichkeit und der Sozialfürsorge wirksam sind. Die christliche Kultur ist damit, wie es Kulturwissenschaft und Theologie unabhängig voneinander konstatieren können, durch und durch als eine therapeutische Kultur zu bezeichnen. Unter den Aspekten der Nächstenliebe und des Altruismus kam mit der christlichen Geistesprägung erstmals die Gesamtbevölkerung – gegenüber einer wohlhabenden Eliteschicht – in den Genuss heilsam gemeinter Lebensgestaltung, und das nicht nur als Abhängige von der Barmherzigkeit und Heilkunst der Spitäler. Die Kirche prägte ein neues Denkmuster ein, das Pathologisches nicht einfach als biologischen Vorgang und individuellen Makel beschrieb, sondern als grundsätzliches Defizit, das auf der Missstellung und Entartung (destitutio) des Erdendaseins beruht, das im Erleben von Sorge, Angst und Anfälligkeit an einen intakten Ursprung (constitutio) erinnert und die Chance der restitutio birgt: einer umfassenden Wiederherstellung und Übereinstimmung. Dieses Glaubensmuster blieb noch bis weit in die Neuzeit bekannt und prägend für das Bewusstsein und Verhalten der Menschen. Mit dem komplementären Aufeinander-bezogen-Sein der christlichen Religion von »Heilung« und dem entsprechenden Handeln (caritas) einerseits und »Heil« in dessen gläubiger Annahme und entsprechenden Frömmigkeitspraktiken wie Gebet, Beichte, Vergebung u. v. a. m. andererseits wurde den Menschen ab dem Mittelalter ein weiter Spielraum zur persönlichen Bewältigung und Ausgestaltung ihres Daseins gegeben. 83 Es verwundert nicht, wenn sich die volkstümliche Beziehung zu den wilden Pflanzen und ihnen nahestehenden Zuchtformen der Kräuter, Gehölze und Bäume besonders in den therapeutisch erlebVgl. Claussen, Johann Hinrich: Gottes Häuser, S. 98 f., 116 f. Vgl. Schipperges, Heinrich: Kranke, S. 36 f., 40 f. Vgl. theologisch Riess, Richard: Medizin nach Maß, S. 410, Sp. 1.

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baren Bereichen des Christentums lebendig verwurzelt hat und umgekehrt die christliche caritas hier bereitwillig anknüpfte. Eine logische Verbindung war es, wenn Karl der Große die kulturelle Schöpferkraft der Klöster erkannte und mit dem Capitulare de villis im Jahr 812 die Anlage von Klostergärten anordnen ließ für die Krankenbehandlung und vorbeugende Volksgesundheit. Wenngleich zweifellos machtpolitisch motiviert, so lag hierin unter diätetisch-medizinischem Aspekt die Initialzündung für eine jahrhundertelang weiterwirkende Verbindung der europäischen Phytotherapie mit der kirchlichen Tradition. Diese Verbindung ist mit der christlichen Hochschätzung der grünen sowie auch der tierischen Natur, wie sie etwa das Frömmigkeitsgut (besonders auch des neuzeitlichen Protestantismus) und zahlreiche naturliebend engagierte Theologen aufweisen (ein Exponent ist z. B. Albert Schweitzer, besonders auch tierethisch), noch bis zur umfassenden Naturzerstörung durch die Industrialisierung erkennbar. Dagegen trifft nach den Quellen weniger eine oft behauptete imperiale »Untertan-Machung« zu, die im heutigen Ausmaß ein viel zu sehr entglittenes Phänomen ist, um sie monokausal herzuleiten. 84 Zu betonen ist dabei, dass mit einer heilund heilskundlichen Grundhaltung ein Gemeingeist gesät wurde, der sich beim Volk zu einer Selbstständigkeit auswirkte (bzw. auf dem Boden der Vorgänger-Traditionen solche Selbstständigkeit verfestigte). Dieser Gemeingeist umfasste auf Basis der Volksheilkunde und lokaler Institutionen die akute medizinische Versorgung und Betreuung wie auch die Vorbeugung. Es entstanden so auch institutionell unabhängig von den Klöstern und Spitälern Einrichtungen und Berufe des Heilens und der medizinischen Versorgung, allerdings nicht als autonome Disziplinen, sondern wie oben beschrieben unter dem Aspekt des absoluten Heils fungierend. 85 Der Bezug zu den wilden Pflanzen und ihnen ähnlichen Formen (z. B. den Küchenkräutern) wirkte sich im täglichen diätetischen BeVgl. zu christlicher Frömmigkeit und Natur Köberle, Adolf: Heilung und Hilfe, S. 33 f. Vgl. zu Urspung und Genese FN 77. 85 Vgl. Schipperges, Heinrich: Garten der Gesundheit, S. 260. Schipperges’ Metapher des »Gartens« für die Gesundheit geht auf das idealprägende Bild des biblischen Paradieses zurück sowie auch auf die praktische Kulturprägung durch die klösterlichen Kräutergärten. Der hortulus (»Gärtchen«) war im Mittelalter die liebevolle Bezeichnung für solch wohlbringende Einrichtungen, ausgehend vom gleichnamigen Lehrgedicht des Wahlafried Strabo (Abt des Klosters Reichenau im 9. Jh.), das Nutzen und die Heilwirkungen der Pflanzen lobt er ebenso wie ihre Schönheit und Symbolkraft. 84

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mühen um Gesundbleiben und -werden, um Wohl und Heil des Individuums, der Großfamilie und der Dorfbewohner auf vielfältige Weise aus. Natürlich ist die Ausrichtung auf die Gaben des Bodens und ihre Nutzung bei der Landbewohnerschaft eine erdumspannende Selbstverständlichkeit. Doch geht es hier um europäische Spezifika im Rahmen der diätetischen Betrachtung sowie auch um das Herausstellen des phyto-diätetischen Phänomens an sich, das seit einigen Jahrzehnten aus der Behandlung unserer Lebenskultur weitgehend verschwunden ist. 86 Im Gegenteil muss immer wieder betont werden, wie bedeutsam dieses Phänomen auf die europäische Zivilisation wirkte, und im Umkehrschluss kann rekonstruiert werden, welche stark gewachsenen Synthesen durch die Verkünstlichung der Lebensführungen mit Aufklärung, Industrialisierung und modernem Versorgungsstaat aufgegeben und abgelehnt wurden. Im Folgenden sollen drei Bezugsbereiche der Pflanzen im Alltagsleben der Bevölkerung herausgestellt werden. Historisch gesehen gilt dies zunächst für die Landbevölkerung, ab dem Spätmittelalter dann auch für Ausstrahlungen und Wechselwirkungen in Bezug auf die Stadt. Beachtet werden muss, dass die drei nun folgenden Bezugsbereiche inhaltlich fließend sind; besonders der dritte Bereich umfasst alle genannten. Erstens: Die wilden Pflanzen der freien Natur dienten der Ernährung Dieses wiederum eigentlich Selbstverständliche wird in der Regel verkannt von einer Geschichtsbetrachtung, die mit einer einseitigen Überbetonung der neolithischen Revolution jede fortbestehende Ausrichtung auf die wilde Natur ignoriert und als untergegangenes Jäger- und Sammlertum abtut. Mit dem Ackerbau nahm der Wildpflanzenbestand keineswegs ab (das geschah erst durch moderne Intensivwirtschaft, Verstädterung und Asphaltierung weiter Bodenflächen), sondern mit den Ansiedlungen der Menschen ergaben sich neue Lebensräume auch für die Pflanzen. »Menschenverfolger« werden solche Gewächse genannt, und dies ist plausibel, insofern Mischstandorte wie Wegränder, Zäune, Hecken, warme Hauswände, von Salzausscheidungen des Viehs durchsetzte Mauern, Wassergräben, Latrinen und Schuttplätze für zahlreiche Arten erst richtig attraktiv Diätetisch betrachtet man heute Pflanzen in Form inhaltsstofflicher Fachbegriffe, was praktisch auf künstlich angereicherte Nahrungsmittel und Nahrungsergänzungsmittel hinausläuft.

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werden. Menschen und deren Haustiere verbesserten die Licht- / Schatten-, Feuchtigkeits-, Nährstoffbedingungen für Pflanzen – Pflanzen gediehen differenzierter und üppiger –: ein auffallendes Beispiel für die lebendige Verwebung von Mikro- und Makrokosmos. Störte zu allen Zeiten das Unkraut auf dem Acker, so begrüßten unsere Vorfahren im Bereich ihrer Dörfer üppige Areale grüner Kräuter, weiter draußen Beeren, Pilze und Nüsse, die selbstverständlich als regelmäßige kostenlose Nahrung verwendet wurden. Das Ernten essbarer Wildpflanzen, schwerpunktmäßig handelte es sich um Grünkräuter, war in Deutschland bis zur neuerlichen Verstädterung der Landstriche bekannt, in mediterranen Gegenden ist es noch heute üblich. 87 Pflückende, in der Regel Frauen, trugen Körbe von Ampfer-, Melde- oder Wildspinatblättern heim – das typische ländliche Spinatgericht war gekochtes Mus oder Kleingeschnittenes aus grünem Wildkraut. An Markttagen wurden den Städtern neben den Erzeugnissen aus der Landwirtschaft auch die wilden Naturgüter angeboten. Die noch wenigen originär eingerichteten alten Bauernhäuser in Deutschland (in der Regel sind es Museen) weisen außer den Gerätschaften für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse vielfach auch Trocknungs- und Lagergeräte für die Wildpflanzennahrung auf. Sicher nicht nur Armut machte die Wildpflanzennahrung beliebt. Man stellte sich den Tieren gleich bzw. richtete sich nach der Natur selbst, die lehrte, was erfahrbar gut war: im Frühjahr die bitter-reinigenden Triebe, im Sommer das volle Kraut und die duftenden Blüten, ab Spätsommer die nährenden Samen, im Herbst die vitaminreichen Knollen und Beeren zu verzehren, für den Winter schließlich die geeigneten Formen zu konservieren. Insgesamt kamen als wilde Speisegüter, sofern sie für Menschen genießbar waren, zahlreiche Arten Grünkräuter, Blüten, Wurzeln, außerdem Blätter bzw. Nadeltriebe der Bäume, Nüsse, Saaten, Beeren und auch Pilze in Frage. Die Beliebtheit der Pflanzen verband sich in vielen Fällen mit der christlichen Anschauung von den Gaben der Schöpfung und äußerte sich in sinnreichen Volksnamen, wie z. B. dem »Jesuswundenkraut« für das bei Traurigkeit helfende Johanniskraut. 88 Von Immigranten, z. B. aus dem Balkan, aus Russland, kommt es z. Zt. wieder nach Deutschland zurück. 88 Historisch fundiert werden die Traditionen und der Kenntnisschatz der Wildpflanzennahrung (Kenntnisse z. B. zur Artenbestimmung, zur Berührung mit dem arzneilichen Gebiet) in der volkstümlichen Forschung beschrieben, vgl. hier Bärnthol, Renate: Heil- und Gewürzkräuter. 87

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Das Bewusstsein vom diätetischen Wert der wilden Pflanzen – zu nennen sind die kulinarische Wohltat und Bekömmlichkeitswirkung der schmackhaften bis würzigen Pflanzenteile, die schon erwähnte Stoffwechsel-Reinigungskraft sowie die Aufbaukraft für körperliche und seelisch-geistige Funktionen – zog empirisch in die diätetische Literatur ein, noch lange vor analytischen Inhaltskenntnissen. Die Wildnahrungs-Tradition speiste neben anderen Impulsen die Vollwertbewegung durch Adolf Just / Maximilian Bircher-Benner um 1900 sowie durch Max Otto Bruker / Werner Kollath um 1950, besonders dann auch eine Bewegung zur ausschließlichen Rohkost um 1920. Interessant ist die Selbstverständlichkeit, mit der die Haushaltsratgeber noch in der beginnenden deutschen Wohlstandszeit (diese Bücher sind die modernen Nachfolger der Regimina und richten sich nun an die »Hausfrau«) der wilden Nahrung ihre Kapitel widmen. 89 Aktuell ist ein neues Interesse an der Wildpflanzennahrung zu verzeichnen. Da hierbei, ganz abgesehen von Fachkenntnissen, die Praxis und das kulinarische Empfinden sehr fremd geworden sind, gelangt diese einstige Volksküche mit Gerichten wie Meldesuppe oder Bucheckernknödeln in die elitäre Gastronomiebranche. Oder, auf der Seite des Selbermachens, wirkt sie in der übersättigten bzw. bequem gewordenen Gesellschaft manchmal eher wie einer unter vielen Freizeitanreizen in der Welt des Überdrusses. 90 Tiefer gesehen offenbaren Vgl. in 19. Aufl. aus dem Jahr 1973 Schneider, Ernst: Heilkraft, S. 238–253. Mit dieser einer der letzten Ratgeber-Ausgaben wich die diätetische Haushaltsführung der Auflösung von Lebens- und ganzen Kulturstrukturen, wie sie selbständige Ernährungskenntnisse und -erfahrungen, die eigene Zubereitung, der rhythmischen Arbeits- und Lebensstil und das Familienumfeld über Jahrhunderte gebildet hatten. Für heutige Ohren bieder kommt in dem Buch von 1973 die Präambel daher: »Mit ihrer Arbeit in der Küche entscheidet die Hausfrau über das Wohl und Wehe ihrer Familie«. Die aktuelle Tendenz zur Gesundkost mittels prozessierter Fertigprodukte erspart dem Individuum die Beschäftigung mit der Materie allerdings nur vordergründig. Verträglichkeit und gewünschte Wirksamkeit können bei industriell gefertigten Diätetika gar nicht Hauptfokus sein, weil diese Form der Produktion auch wirtschaftlichtechnische Fragen wie Rohstoffkosten, Herstellbarkeit, Haltbarkeit sowie Trends (z. B. mit zugesetzten Vitaminen) berücksichtigen muss. Wer auf ein gesundheitliches Leiden achten muss, ist mit dem Selbermachen sicher besser beraten. 90 In nur wenigen Jahren ist auf dem Buchmarkt eine Vielzahl an Büchern zur Wildpflanzennahrung erschienen, z. B. Rezeptbücher von Spitzenköchen, Anleitungen für Laien, des Weiteren Ausbildungsgänge und Einrichtungen der so benannten »Kräuterpädagogik«. Die plötzliche Flut an Material lässt in vielen Fällen eine neue Marktschiene vermuten. Interessanterweise hat hiernach der Wildpflanzenverzehr nicht 89

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sich in dem neuen Trend ernst zu nehmende Wünsche als Antipoden gegen die Industriekost, nämlich unter dem Vernunftaspekt nach mehr Qualität, gefühlsmäßig nach mehr Ursprünglichkeit und Sinnlichkeit bei der Ernährungsweise. Zugleich gehen heute Verbraucherwünsche Hand in Hand mit technisch gelenkter und technisch gefüllter Informationsverbreitung. Es ist weithin bekannt, dass möglichst natürliche Lebensmittel mehr Vitalstoffe enthalten als prozessierte Kost und können uns informieren, dass es bei Wildpflanzen das Zehn- bis Hundertfache ist. So mag solche Kost mit ihrem Gehalt an Vitaminen, Mineralstoffen, Spurenelementen, sekundären Pflanzenstoffen einen vernünftigen Ausgleich zu Defiziten etwa bei weitverbreiteter Nervosität und Erschöpfung bilden. Unter den Prämissen von Vernunft (d. h. einem Ethos wie oben im Vegetarismus-Exkurs beschrieben), Ursprünglichkeit und Sinnlichkeit sowie in enger sachlicher Berührung mit der Wildpflanzennahrung sind gegenwärtig vegetarische bis vegane Ernährungsrichtungen wirksam, die ihre Ideale schwer einhalten. Die oben erwähnte Rohkost, auch als »Urkost« propagiert, scheitert mit ihrer Botschaft vielfach an fehlenden Gewohnheiten, aus der Natur, dem Eigenanbau oder dem angelegten Vorratslager zu leben, und basiert im Wesentlichen auf üblichem Naturkostkonsum mit z. T. irrationalem Logistikaufwand (so bei folienverpackten Tropenfrüchten oder Wildkräutern via Katalog / Internet). Die ihr ähnliche Sonnenkost, die den Ursprung der Ernährung, bestehend aus sonnengereiften Früchten, in die kosmische Energie verlagert, braucht, zumindest im Winter, die Energie moderner Düsenjets zur Beschaffung solcher Nahrung. Oft scheinen die Konzepte bzw. Organisationen der genannten Richtungen die Vernunft und Lebensfreude ihrer Anhänger ideologisch stark einzuschränken. Die jüngst entstandene (Alt-)Steinzeitdiät umfasst ein derart spezifisches Nahrungsmittelsortiment, wie es Historikern zufolge im Paläolithikum allein wegen dessen zeitlicher Länge (ca. 2,6 Mio. Jahre) nicht der Fall gewesen sein kann. 91 Die genannten Beispiele zu Sehnsüchten und Motiven bei natürlich-gesunder Ernährung lassen vermuten: Solche Ernährung hat es unbedingt etwas mit Vegetarismus zu tun. Ganz im Gegenteil sind wie selbstverständlich Fleischrezepte beteiligt, entweder wohl aus Oberflächlichkeit (Kräuter nur als Beigabe bis gar Dekoration) oder aus einem Ursprünglichkeits-Verständnis im Sinne eines Jäger- und Sammlertums. 91 Vgl. Gering, Carolin: Was ist dran an der Steinzeit-Diät, in: Natur und Heilen 3 / 2014, S. 33.

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heute deshalb so schwer, weil sie mit dem Kopf statt mit dem Leib angegangen wird. Dabei kann, was die mentale Seite anbetrifft, der Wissens- und Erfahrungsschatz unserer Wildpflanzen sammelnden Vorfahren nur bestaunt werden. Wie die Überlieferung zeigt, waren außer den botanischen und praktischen Bedingungen die Wirkungen dieser Nahrung genauestens bekannt. In Zeiten ohne Analysedaten spürte und erlebte man also die Wohltaten dieser Kost z. B. auf die Verdauung, auf Haut und Haar, auf den Erkältungsschutz u. v. a. m. So wurde diese Nahrung nicht »angewendet«, sondern von der versorgenden Natur in Empfang genommen. 92 Man kannte die Natur, weil man von und mit ihr lebte, man lebte von ihr, weil man sie kannte. Dabei, und dies ganz deutlich bei der Wildpflanzennahrung, handelte es sich im höchsten Maße um sinnenreiches Leben, immer verbunden mit Formen, Farben, Düften, Atmosphären, Erlebnissen; man denke etwa an schwirrende Insekten, wogende Halme oder auch reißende Dornen. Und es ist zu betonen, dass sich Pflanzen, wenn man sich mit ihnen so befasst, als äußerst charaktervolle, faszinierende Wesen den Menschen mitteilen. 93 Die Genese des menschlichen Gespür-Gefühls-Vermögens vom Instinktapparat der Tiere her ist biologisch noch nicht genau bekannt, doch es gibt beobachtbar erstaunliche Übereinstimmungen darin, dass auch Tiere in bestimmten Situationen spezielle, für sie gesunde Nahrungsmittel wählen. 94 So steht die Wildpflanzennahrung in einem mikro-makrokosmischen Muster, wonach sich die Sorge um sich selbst an der versorgenden Natur bedient. Und man versorgt als Wertschätzender solcher Nahrung wiederum die Natur, indem man z. B. auf den Bestand der Bio-

Auf die im Jahreskreislauf wirksamen pflanzlichen Kräfte für die Gesundheit wurde schon hingewiesen. Z. B. wurde das erste üppige Wildkraut im Frühling, das Scharbockskraut, mit einem nach heutigem Wissen äußerst hohen Vitamin-C-Gehalt, weithin regelmäßig am Frühlingsbeginn zum Auskurieren der Skorbutkrankheit (»Scharbock«) verspeist, vgl. Scherf, Gertrud: Wildgemüse, S. 84. 93 Der Biologe und Pflanzenkenner Jürg Stöcklin beschreibt botanisch und resümiert wesenhaft die Eigenschaften der Pflanzen. Tiere in ihren Reaktionen stünden den Menschen zwar näher, doch sei dies eine graduelle Abstufung. In ihren einzigartigen Verhaltensweisen seien Pflanzen als intelligent zu bezeichnen. Dieses Empfinden veranlasst z. B. immer wieder Menschen, mit Pflanzen zu sprechen. Vgl. ders.: Pflanze, S. 55. 94 Z. B. Feldhasen fördern ihr Immunsystem vor dem Winter mit dem Beta-Carotin gelber Rübenfrüchte in den Äckern, vgl. Oberbeil, Klaus: Kap. Karotte, in: Obst und Gemüse, S. 96. 92

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diversität achtet, nicht jedes wilde Areal vernichtet. 95 Wenn eine solche, nach heutigem Wissen für Menschen höchst gesunde Ernährung von unseren Vorfahren selbstverständlich mit ganzem Leibe gewählt wurde, verweist das im Umkehrschluss darauf, dass der mechanistische Ansatz falsch ist. Er ist deshalb falsch, weil kein Mensch sich ohne dessen Propaganda als Maschine empfinden würde, die zum Funktionieren bestimmte Stoffe braucht. 96 Auf dem Gebiet der gegenwärtigen Leibesphilosophie kann zum »erlebten« Leib besonders das Werk Hermann Schmitz’ hervorgehoben werden. Auffallend ist hier die Betonung der Affektivität angesichts der modernen Haltung, den Menschen vor allem zum sachlichen Denken zu drängen. Methodisch wählt Schmitz eine topologische Verfassung zur Unterscheidung von Leib und Körper, die den Leib als absolute Örtlichkeit bezeichnet und die Verbindungen zur Außenwelt möglichst einsichtig, quasi atmosphärisch, beschreiben will, was von Kritikern wie Bernhard Waldenfels als cartesianisch missverstanden wird. 97

Wie heute ein kosmologische Bewusstsein wiedergefunden werden kann, wurde mit FN 48 überlegt. Auch im praktischen Tun kann solch meditatives Erkennen geweckt werden, z. B. beim ökologischen Gartenbau oder bei der Wildpflanzenernährung. Unter vielen Ratgebern zur Naturerfahrung vermittelt der Ethnobiologe Wolf-Dieter Storl durch sein Schreiben und Auftreten eine besondere Liebe und geistige Verbindung zur wilden Natur. Er wuchs in enger Nähe zum kanadischen Urwald auf und wirkt heute als Schamane im bayerischen Allgäu. Vgl.: Teil des Waldes, S. 12– 16 seine kindliche Faszination an Ameisen. – Biodiversität: Für Natur und Mensch dramatisch hängt heute das Bienensterben am Schwinden der Wildareale. Ernsthaft erscheint ein neues Interesse von bewussten Gartenbesitzern an Naturgartenanlagen. Zur Förderung gibt es in Deutschland einen Verein Naturgarten e. V. (www.naturgarten.org/der Verein), als Bezugsquellen entsprechende ökologische Gärtnereien. 96 Der erlebte Körper ist der Leib, Ausdruck einer innerlich-äußerlichen Zuständigkeit. Beschreibungen zu Leib und Körper s. schon FN 15. Auffällig zeigt sich eine immer stärker mental geleitete Ernährung z. B. in den länger, fachspezifischer und immer kleiner gedruckt erscheinenden Beschriftungen der Lebensmittelverpackungen, soweit, dass aus Schutz und Hilfestellung in der Praxis eine Zumutung wird. Auf die entsprechende politische Lenkung soll an späterer Stelle genauer eingegangen werden. Auch zur Zuspitzung der mental basierten Ernährung in den sog. funktionellen Nahrungs- und Nahrungsergänzungsmitteln siehe später. 97 Vgl. Schmitz, Herrmann: Der Leib, S. 5–72. 95

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Zweitens: Die wilden und gärtnerischen Kulturpflanzen dienten als Heilpflanzen Das klingt abermals selbstverständlich in Bezug auf alle früheren Kulturen, die nichts anderes hatten außer den Mitteln der Natur. Und doch muss es herausgestellt werden, weil die Pflanzen das Herz jeder Volksheilkunde bildeten, weil mit ihnen ein reicher Kenntnisschatz einen Kulturbereich für sich schuf und weil es heute überhaupt keinen vernünftigen Grund gäbe außer dem kommerziellen, die Heilpflanzen-Anwendungen für die Beschwerden des Alltags abzuschaffen. 98 Hingegen wird der Wert der synthetischen Pharmazeutika, die für die Versorgung akut und schwer Kranker ein Segen und unerlässlich geworden sind, insgesamt überbetont, ist es gerade deren gewohnheitsmäßiger Konsum, der für die Wirksamkeit der Pflanzen unsensibler macht. Schließlich muss der »rückständigen« Vergangenheit eingeräumt werden, dass ihre Hauptplagen, die Seuchen, nicht allein aus pharmakologischer Unkenntnis entstanden sind und virulent wurden, sondern primär durch schmutziges Wasser, die fehlende Hygiene und die Eigendynamiken dieser Epidemien. 99 Es gab im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, zu Zeiten also, in denen Krankheit und Tod allgegenwärtig waren, vielfältigste medizinische Theorien, gewagteste Methoden, heftigste Meinungsverschiedenheiten, grässlichste Arzneien, brutalste Behandlungen und

In Deutschland hat die naturheilkundliche Medizin in den letzten Jahren starken Zulauf erfahren. So musste offensichtlich die Pharmaindustrie ihre bedrohten Gewinne optimieren. Dies geschieht anhaltend durch Propaganda zur Unwirksamkeit oder Gefährlichkeit natürlicher, speziell pflanzlicher Mittel sowie durch Herausnahme der wirkungsvollsten Arzneien aus dem Markt. Hierfür werden keine Verbote erlassen, sondern die Herstellungsvorschriften so weit verschärft, dass den meisten Herstellern die Produktion nicht mehr möglich ist. Somit werden die letzten Bewahrungsstätten alter Erfahrung mit der Herstellung und Anwendung dieser Arzneien ignoriert und theoretischen, amtlichen Überlegungen untergeordnet. In Deutschland steht für diese Politik der offizielle Begriff »Arzneimittelgesetz-Novelle«, die seit 2004 schrittweise europaweit umgesetzt wird. 99 So kann der Verlauf der Pest zwischen dem 16. und 18. Jh. gut recherchiert und festgestellt werden, dass ihre »Wellen« wie von selbst abklangen ungeachtet von Gegenmaßnahmen. Beim Abklingen der letzten Welle waren antibiotische Mittel noch unbekannt. Wohl verhinderten fortan Hygiene und medizinischer Fortschritt Neuausbrüche, doch gibt es weltweit inzwischen ein weiteres Problem: die Resistenzen gefährlicher Erreger gegen Pharmazeutika und das Grassieren der »Krankenhauskeime«. Zur Pest vgl. Porzelt, Carolin: Pest, S. 151–159. – Zum Nutzwasser als Krankheitsherd vgl. FN 38. 98

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den düstersten Aberglauben, das meiste auf dem Boden großer Hilflosigkeit 100, aber es ist erstaunlich, dass in Europa über Jahrhunderte hinweg ein geschlossenes Pflanzenwissen überliefert wurde, das bis heute gültig ist. Die wichtigen Heilpflanzen für Alltagsbeschwerden wie Erkältungen, Magen-Darm-Verstimmungen, Bauch-, Rücken-, Zahnweh, Augenschwäche, Verletzungen, Frauenleiden sowie Anwendungen für Geburt und Sterben waren bis zum Beginn des 20. Jh. in jedem ländlichen Haushalt bekannt, wurden der Natur, dem Garten oder der Vorratskammer entnommen, wurden als Tee, Lösung oder Salbe selbst zubereitet und selbstständig angewendet. Der Biograf einer ehemaligen Nürnberger Landbewohnerin lässt sie um das Jahr 2005 im Rückblick auf ihr Jahrhundertleben sagen: »Was mich heute am meisten ärgert, ist die Tatsache, dass Heilpflanzen und Heilkräuter, die früher überall am Wegesrand zu finden waren und damals unsre kostenlose Apotheke bildeten, dass diese Pflanzen heute auf der Liste der zu vernichtenden Unkräuter stehen. Der bevormundete Bürger kauft seinen Kamillentee und seine Ringelblumensalbe teuer in der Apotheke. Welch eine verdrehte Welt!« 101 Im historischen Verlauf oblag zunächst den Klöstern Kenntnis, Bewirtschaftung und Abgabe des Kräuterwesens. Im Frühmittelalter war das vorteilhaft, denn die Klöster stellten nicht nur Personal und Räume für die Krankenbehandlung, sondern waren auch Verkehrsund Kommunikations-Knotenpunkte, sodass fremde Anbaukräuter, v. a. Gewächse aus dem Mittelmeerraum wie Lavendel oder Salbei, sich in Europa ausbreiten konnten. Der Anspruch auf die Heilkunst blieb konfliktvoll, da ja das volkstümliche Erbe, besonders die alten Pflanzenkenntnisse, noch vorhanden waren. Bischof Bonifatius, der die Donar-Eiche gefällt hatte, berief um 745 die Synode von Liftinae ein zum – vergeblichen – Verbot der alten Heilkünste. Weltanschaulich setzte sich das Christentum durch, das nicht nur die Bäumeverehrung beseitigte, sondern auch das Blutopfer. Negative Folge der Verquickung mit dem Geistlichen war eine fachliche Vereinnahme des Medizinischen, die dazu führte, dass Symptome wie die z. B. Melancholie bis ins Hochmittelalter rein moraltheologische Kategorien blieben. 102 Die Pflanzenkräfte weiter hoch geschätzt, nun unter ObVgl. Jankrit, Kay Peter: Gott und schwarze Magie, insbes. S. 20–23. Uhlschmidt, Dieter: Bauernzopf, S. 9. 102 Vgl. Storl, Wolf-Dieter: Pflanzendevas, S. 26 f. Vgl. ders.: Kelten, S. 240. – Anhaltend gab es weiterhin Rangstreitigkeiten zwischen weltlich-heilkundlicher Literatur 100 101

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hut katholischer Heiliger, v. a. Mariens. Die Volksnamen der Pflanzen weisen besonders für den Heilbereich christliche Bezüge auf, wie bei zahlreichen Bitterpflanzen gegen peinigende Entzündungsleiden mit der Vorsilbe »Kreuz-« (z. B. Kreuzsalbei). Weltliche Apotheken etablierten sich aus Vorläufern erst nach dem Niedergang der Klöster. Damit wurden nun auch Stadtbewohner umfassend pharmakologisch versorgt, aber nicht immer gerecht: So gab es von der legendären Wundermischung »Theriak« die teure edle und die billige minderwertige Version. Der Drang zur Selbstbehauptung – auch hier ein Konfliktpol – bestimmt den Apothekerstand noch bis in die Gegenwart z. B. mit repräsentativen Verkaufsräumen. 103 Doch auch innerklerikale Konflikte um die Heil- und Pflanzenkunde sind bekannt. So galt sie den Reformern von Cluny im 10. und 11. Jh. als Form der Verweltlichung und wurde fortan aus deren Ordensplan gestrichen. Weiterhin hat die Reformation mit dem Schließen von Klöstern stark zur Verdrängung der klösterlichen Kräuterkunde beigetragen. 104 In der Neuzeit stellte sich, wie schon an anderer Stelle angedeutet wurde, eine markante Verbindung von Pfarrberuf und Phytotherapie ein. Es waren besonders leutselige Charaktere, die HeilpflanzenRatgeber verfassten nach autodidaktischen Beschäftigungen mit der Natur und den Menschen. Für die jüngere Zeit sind die Werke der Pfarrer Johann Künzle (1857–1945), »Chrut und Unchrut«, und Hermann-Josef Weidinger (1918–2004), »Hing’schaut und g’sund g’lebt«, Klassiker geworden. 105 Ein weiterer, der heilkundlich praktizierende Pastor Emanuel Felke (1856–1926), hat die Unternehmensgründerin Magdalene Madaus (1857–1925) phytotherapeutisch und homöopathisch unterwiesen. 106 Hier zeigt sich wiederum die Vernetzung des Diätetischen in den verschiedenen Bevölkerungsschichten einschließlich der Geistlichen. wie den Regimina und der geistlichen Literatur, die die Kirche in Umlauf brachte. Neben moraltheologischen Inhalten war die Ansicht vom amuletthaften Gebrauch der geistlichen Bücher verbreitet, als würden sie durch Berührung oder Körperauflage Heilkräfte entsenden, vgl. Wachinger, Burghardt: Erzählen, S. 18 f. 103 Vgl. Bedürftig, Friedemann: Apotheke, S. 185, 189. 104 Vgl. Mayer, Johannes Gottfried / Uehleke, Bernhard e. a.: Handbuch Klosterheilkunde, S. 28. 105 Vgl. FN 65. 106 Auch Magdalene Madaus kam aus glaubensfestem Milieu. Eine besondere NaturRenaissance, wie sie das 19. Jh. erbrachte, wird erst an späterer Stelle behandelt werden. Deren Boden entstammen zahlreiche heute namhafte, gesundheitspolitisch aber stark bedrängte phytopharmazeutische Unternehmen.

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Die wesentliche weltliche Instanz für die wohnortnahe, patientenorientierte, umsichtige Pflege und Beratung bildete vom Mittelalter an durchgehend bis zur Frühen Neuzeit die Gruppe der »weisen Frauen«. Die weisen Frauen verfügten durch mündliche und empirische Aneignung über ein enormes Wissen in allen Dingen der Menschen-, Tier- und Pflanzenwelt, insbesondere der Pflanzenheilkunde in Herstellung und Anwendung, auch über anatomische Kenntnisse sowie über magische Techniken. Ihr Tätigkeitsfeld umfasste Stadt und Land, besonders bei den Armen; sie agierten als Geburtshelferinnen, Pädagoginnen, Seelsorgerinnen, Wundpflegerinnen, Arzneigeberinnen, Sterbebegleiterinnen. Vorsorge und Rehabilitation waren dabei so selbstverständlich wie die Einbeziehung der Familie in Pflege und Heilung. Die weisen Frauen waren Naturkundige und stellten wertvolle Tradenten der Phytotherapie dar, mit der diese bis in die Neuzeit erhalten blieb. Wie jeder andere Anwendungsbereich früherer Medizin war Pflanzenheilkunde eine höchst individuelle und anspruchsvolle Sache. Anzumerken ist dazu, dass insbesondere die Mischungsverhältnisse der Tees, Tinkturen usw. die richtige Wirkung ausmachten. 107 Und wohl gerade weil die Pflanzentherapie mit Auswahl und Anwendung unter Selbstverantwortung einen hohen Einsatz von Sachverstand, ein gründliches sinnenhaftes Erfassen (vgl. Pfarrer Weidingers »Hing’schaut«) und ein geistiges Vertrauen auf das Wirken der Natur im menschlichen Leib mit sich bringt, ergab sie einen Bereich von Diätetik par excellence. In kulturhistorischer Hinsicht ist zu bemerken, dass Sammler und Dokumentatoren der Heilpflanzenkunde aus den Volkskenntnissen reichlich schöpfen konnten. Werke wie das »New Kreüterbuch« (1534) des Arztes Leonhart Fuchs mit über 500 Exponaten, ferner taxonomisch herausragend das »Kreütterbuch« des Arztes, Botanikers und Laienpredigers (vgl. wieder die Verbindung zum Geistlichen) Hieronymus Bock – es wurden die einflussreichsten Bände der Frühen Neuzeit – bereicherten fortan das medizinische Fach. Die Kirche und die weltlichen Instanzen haben die weisen Frauen ab Beginn der Neuzeit als Hexen bekämpft und durch die 107 Es gilt noch heute in der Phytotherapie, dass das Ganze mehr als die Summe der Teile ist. Das gegenseitige Zusammenwirken macht das ausgesprochen organische Wesen pflanzlicher Rezepturen in der Heilkunde oder auch Körperpflege aus und mag die besondere Affinität des menschlichen Leibes zu den Pflanzen erklären, der ebenfalls organisch verfasst ist. Vgl. Felbinger, Inge: Grundmischung, S. 1. Vgl. philosophisch, Leben als »Systeme«, Kather, Regine: Leben, S. 107 f.

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Inquisition ausgerottet. Historikern zeigt sich heute die Hexenverfolgung als ein komplexes Zusammenwirken von erdrückender Not (durch Klimaverschlechterung, Konfessionskriege u. a.), grassierendem Aberglauben, sozialpsychologischem Konfliktpotenzial, theologischer Ideologie und Propaganda, juristischer Legitimierung und obrigkeitlicher Exekution. Weltliche und geistliche Obrigkeiten jedenfalls haben zum Schaden auch des Diätetischen der Versachlichung und Entmenschlichung in der Medizin reichen Vorschub geleistet. 108 Nur exemplarisch kann hier auf die juristische Überwachung eingegangen werden, der zu allen Zeiten die Hebammen ausgesetzt waren. Die mit Todesstrafe belegten Hauptvorwürfe galten stets geburtenkontrollierenden Maßnahmen (als eine der unzähligen Formen von »Hexerei«). Sie bildeten das Zentrum aller bekannten Kodizes, z. B. des Sachsenspiegels aus dem 13. Jh., des Hexenhammers von 1487 und der Bamberger Reichshalsgerichtsordnung von 1507. Der eigentliche Hintergrund war wie so oft die Machtpolitik, hier mit dem Erstreben einer zahlenmäßigen Erweiterung ihres Volkes – der Krieger und der Mütter. Pflanzenwissen, gleichsam überwiegend Frauenwissen, verlieh insgesamt höchste Macht, nämlich außer über das Heilen eben auch über Geburt und Geburtsverhinderung, über die Giftherstellung und vor allem über die psychischen Zustände bei Menschen und Tieren mittels halluzinatorischer Pflanzen. Die zauberkundige Hekate (vgl. »Hexe«) der griechischen Mythologie wurde dort gefürchtet-verehrt, wobei den Frauen des Mittelalters deren blutrünstiges Treiben kaum im Sinn lag, wenn sie sich zu geselligen Rauschnächten trafen, um sich vom harten Alltag zu entspannen. Allerdings, wer heute noch den Wert und die Kräfte der Heilpflanzen versteht, wird die brisante Stellung der weisen Frauen in der damaligen Gesellschaft nachvollziehen können. 109 108 Vgl.: Bischoff, Claudia: Frauen, S. 33–35 und 219 f. Vgl. Freder, Janine: Heilpraktikerberuf, S. 29. Vgl. Metzger, Martina / Zielke-Nadkani, Andrea: Pflegerin, S. 35, 37, 46. Vgl. Achterberg, Jeanne: Frau als Heilerin, S. 116–151. 109 Vgl. Heinsohn, Gunnar / Steiger, Otto: Vernichtung, S. 114–131. Bei den mittelalterlichen Abtreibungen sind Gesichtspunkte zu berücksichtigen wie die, dass die betroffenen Frauen mit den Lasten des verlangten Kinderreichtums überfordert waren, dass sowohl auf der unehelichen Schwangerschaft als auch unehelichem Gebären die Todesstrafe stand (der Beweis einer Geburt wurde mit entwürdigenden Diagnostiken oder unter Folter erzwungen) und dass Hebammen die einzigen Vertrauten und Kundigen waren, um ungewollte Kinder, wenn nicht abzutreiben, so wenigstens in sichere Obhut zu geben. – In der Antike waren die heilkundigen Frauen angesehen

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Heilpflanzen in ihrer vielschichtigen Erscheinungs-, Anwendungs- und Wirkungsweisen, besonders auch im organischen Gefüge von Rezepturen (s. FN 107) sprechen, wie es oben schon als besonders »diätetisch« hervorgehoben wurde, den Leib des Menschen an, seine gesamte innerlich-äußere Befindlichkeit, nicht den Körper. Mehr noch als bei der reinen Ernährungsweise äußert sich in der Heilpflanzenanwendung, mit den heilungswirkenden Naturkräften am menschlichen kranken oder angeschlagenen Leib, die Verwebung des leiblichen Mikrokosmos mit dem Makrokosmos der geschaffenen Welt. 110 Pflanzen mit ihren Botschaften, wie sie sich äußern und leiblich erfassbar sind, stehen damit außerdem im Schnittpunkt von Natur und Geist. Und ein weiterer Aspekt ist bedeutsam, nämlich dass es bei zahlreichen wilden Pflanzen (siehe FN 92 zum Scharbockskraut) Überschneidungen zwischen Ernährungs- und heilerischer Anwendung gab. Eine Gleichsetzung von Nahrungs- und Heilmitteln, wie sie insbesondere Paracelsus geäußert haben soll, wäre typisch diätetisch: Heilung ist bereits Vorbeugung. 111 Wenn nach aktueller Anschauung nur der Körper Thema des Heilens und individuellen Sorgens ist, dürfte dies, den politisch-äußeren Vorgaben (siehe FN 98 und 111) übergeordnet, die eigentliche heutige Ignoranz gegenüber Heilpflanzen ausmachen. Doch Menschen bleiben leibhafte Wesen – jeder erlebt sich so, dass die körperliche Befindlichkeit die psychosoziale beeinflusst und umgekehrt. Auffallend stellen medizinische Krankenstatistiken die mechanisch-kausale Herangehensweise an den Menschen in Frage. Denn weitaus die meisten Leiden sind heute komplexer oder diffuser Art, doch kann ihnen nicht abgeholfen werund hochverehrt, die griechische und römische Mythologie ist voll an Göttinnen, die ihr Tun beschirmten, z. B. die Töchter des Heilgottes Asklepios, Hygieia und Panakeia, quasi für Vorsorge und Genesung; Artemis / Diana, die Geburtshelferin: Vgl. Sieck, Annerose und Jörg-Rüdiger: Heilerinnen, S. 9–25. Für Kelten und Germanen ist der Mythologie Ähnliches zu entnehmen, nur ist die Quellenlage hier dünner. Das gern gesehene Matriarchat bei den Kelten hat es jedenfalls sicher nicht gegeben, vgl. Winkler, Eva-Maria: Kelten heute, S. 77–87. – Rauschmittel: Pflanzenrezepturen aus Tollkirsche oder Bilsenkraut sollen den unterdrückten Frauen selber angenehme Stunden verschafft haben. Das Bilsenkraut prägte den Namen der böhmischen Stadt Pilsen und ist bis heute ein beliebtes Getränk. Vgl. Reichholf, Josef H.: Naturgeschichte, S. 76 f. 110 Ökologisch ist heute der für die pharmazeutische Nutzung vorgeschriebene, allerdings rückläufige Anbau von Heilpflanzen etwas sehr Wertvolles. 111 Nach deutschen (d. h. zunehmend europäischen) Herstellungsgesetzen ist solche Gleichsetzung strikt verboten. Nahrungsmittel, Arzneimittel, Medizinprodukte, Nahrungsergänzungsmittel usw. sind als Klassifikationen vorgegeben.

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den. 112 Man stelle sich das manuelle Zubereiten und Anwenden pflanzlicher Rezepturen vor, wie dies zum Innehalten und Erfahren animiert, den ganzen Leib anspricht. Vielleicht werden die Wirkungen der Pflanzenheilmittel gerade deshalb herabgestuft, weil kaum noch jemand Zeit und Sinn aufbringt, sie überhaupt wirken zu lassen. 113 Jedoch ist hier ein ernsthaft erscheinender Gegenzug bemerkbar: Frauenheilkunde und Geburtshilfe besinnen sich wieder auf die alten Kräuter mit deren Botschaften für den ganzen Leib. 114 Wilde Heilpflanzen in ihrem natürlichen Vorhandensein und Wirken indizieren über die begriffliche Dimension hinaus eine heute vielleicht spießige, aber doch deutliche ethische Anfrage: ob es für Körper, Seele und Geist besser sei, beispielsweise im Frühjahr autofahrend Teppiche mit blühendem Scharbockskraut zu ignorieren, um aus dem Discountmarkt verpackten Importsalat und Vitamintabletten zu holen? So sind Themen wie »Kräuter, Hexen und Weise« nicht nur kulturanthropologische Themen, sondern, vom leiblichen Interesse geleitet, wesentlich auch philosophische Themen. Der Bruch zwischen Geist und Natur trägt aber offensichtlich dazu bei, dass bestimmte Themen gar nicht mehr behandelt werden können. Drittens: Die wilden und traditionellen Gartenpflanzen besaßen sinnhafte Bedeutungen Was mit den Wirkkräften, Volksnamen und Heiligen-Widmungen der Pflanzen schon anklang: Die Nutzung der Pflanzen wurde überhöht durch Bedeutungen. Die eigentlichen Orte dafür waren das Ge112 Vgl. Schipperges, Heinrich: Lebensqualität, S. 13 f. Chronische Symptome und Symptome der überalterten Gesellschaft überwiegen weitaus. 113 Bis vor ca. 20 Jahren waren immerhin noch in Apotheken eigenhändige Zubereitungen gebräuchlich, die inzwischen fast ganz dem Verkauf von Fertigarzneien gewichen sind. 114 So wird z. B. in einigen katholischen Geburtskliniken der alte Brauch des »SiebenBettstroh-Bündels« (auch: »Maria-Bettstrohkräuter« u. ä. Bezeichnungen) als Schutzgabe im Geburts- oder Wochenbett wieder offiziell angeboten. Beruhigend und reinigend duftende Kräuter gehörten dazu wie Labkraut, Thymian. Im Mittelalter unterstand ihre Wirkung der heidnischen »Großen Mutter« oder »Lieben Frau«, der Frau Holle, bis er zunehmend auf Maria übertragen wurde. Vgl. Jansky, Inga: Bettstrohkräuter, Frauenkräuter, in: Informationen des Arbeitskreises Wildpflanzen unserer Heimat Oberfranken, 2 / 20011, S. 3–4. Zur übermateriellen, wesenhaften Beziehung der Menschen zu den Pflanzeneigenschaften siehe mehr im nächsten Abschnitt (Drittens).

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stalterische, und zwar in der Gartenkultur und im Pflanzenschmuck der Stuben, Altäre, Prozessionszüge und Gräber sowie das rituelle Anwenden der Pflanzen, insbesondere durch Verräuchern. Mit den heutigen veräußerlichten Vorstellungen von Gartengestaltung, »Dekoration« oder »Stimmung« hat das alles nichts zu tun. Eigentlich war der »Garten«, in ältester Sprachform abzuleiten von indogerm. ghord, vgl. altgriech. choros – Kreis, Einfriedung, vgl. auch »Hort«, also in jeder Hinsicht etwas Bergendes, für die bäuerlichen Hofbewohner das umfriedete Areal des Hofes (bis zum Spätmittelalter war hier die Kreisform geläufig), wobei ein paar Bäume oder Gehölze an den Rändern genügten, um ihre bergenden bzw. feindesabwehrenden Kräfte zu entsenden. In diesem weiteren Sinn eines geborgenen Aufenthalts wird noch heute in süddeutschen Gegenden ein Holzlagerplatz »Holzgarten« genannt. Im engeren Sinn stellte der »Garten« innerhalb der Hofstelle den Platz der Erholung und Vertrautheit in der Schutzgewährung durch Baum oder Gehölz dar. Der typische »Bauerngarten« des Mittelalters und der Frühen Neuzeit war damit die Hausbank unter der Hoflinde – der »Bomgart«. 115 Es kann hier nur exemplarisch und kurz auf die Bedeutungen weniger Pflanzen eingegangen werden. »Schutz« meinte natürlich viel mehr als nur Schattenspende oder Windabwehr. Am Beispiel der Linde, den Rutengängern als »Strahlenflüchter« bekannt, ist es die entspannend-konzentrationsfördernde Eigenschaft, die Generationen mit der Natur verwurzelte Landbewohner dazu anleitete, unter Linden Recht zu sprechen, Ehen zu schließen und das christliche Kruzifix als Andachtsort mit ihnen zu umrahmen. Die Entwicklung des Gartenbaus dagegen, wie wir ihn kennen, geboren aus dem Absolutismus und der Romantik, im einen Fall nach höfischer und im anderen nach städtischer Anschauung, verkürzte den Garten zum Ästhetisch-Schönen und hat viel weniger mit Natur zu tun. 116 Mit bergender Kraft, 115 Vgl. Wilczek, Carl: Symbol, S. 14–18. Der Autor begründete und verbreitete in den 1920er-Jahren den Ruf der Gartenbau-Fachhochschule Weihenstephan. 116 Allerdings schon in der ritterlich-höfischen Kultur des Mittelalters bzw. bei allen sozialen Ständen, die nicht mehr unmittelbar von der Natur und deren Anschauung lebten bzw. sich das ästhetische Moment leisten konnten, floss auch dieses in die Gartengestaltung ein. Es blieb aber immer überlagert vom Symbolhaften der Naturformen. Im klösterlichen Küchen- und Heilgarten schien die pragmatische Seite wichtig zu sein, doch in Wirklichkeit bildete dieser eine lebendige Synthese aus Nutzen, Schönheit und spirituell gedeuteter Natursymbolik – ja, er wurde v. a. auf den Para-

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um noch ein Beispiel zu nennen, wurde zu allen Zeiten auch die Rose wahrgenommen. Bis ins 18. Jh. waren Rosen in Mitteleuropa nur als heckenbildende Wildformen verbreitet. Die Hecken- oder Hagrose (»Hecke« von »hegen« – bergen, schützen, vgl. die »Hage«butte) in ihren verschiedenen Arten (heute ist davon fast nur noch die Rosa canina geläufig) wurde vielleicht an Schönheit von den Zuchtformen übertroffen, aber nicht an Robustheit und Ausstrahlung. Die Rosenhecke gab ihren Schutz und beförderte bei Menschen eine Entwicklung, z. B. beim »Dornröschen« oder der »Maria im Dornwald«. Die Pflanzenkräfte korrespondierten mit den Menschen und erkannten ihre Verfasstheit: So erblühten die Dornen aufgrund der Präsenz Gottes in Mariens Leib. Insbesondere die Blüten der Pflanzen sind in ihren Symboliken in die bildende Kunst eingegangen, die Rose als Symbol des umschließenden, zur Reifung führenden Weiblichen, im Gegenstück die Lilie als das öffnende, rettende Männliche, im Märchen etwa aus Gefangenschaft oder Verwünschung. 117 Zum »Garten« bleibt anzumerken, dass der artenreich blühende Bauerngarten unserer Vorstellung nach ein Kind der städtischen Romantik ist – die Alten dagegen liebten bestimmte Blumen, Sinnträger in Garten und Vase; und der Nutzgarten, er galt nicht als Garten im beschriebenen Sinne: Kein Bauer hätte seine Ruhebank zwischen Kräuterbeete gestellt. Mit Sinn wurde gleichwohl auch er bedacht, doch kann hier nicht näher darauf eingegangen werden. Zuletzt der »Stubenschmuck«: Mit Bündeln von Gesträuch wie Hasel, Schlehe oder Wacholder wurden Krankheiten, Unwetter, Not und böse Geister abgehalten. In heidnischer Vorzeit war dies mit der Huldigung an Götter oder Ahnen verbunden. Noch heute binden katholische Gläubige in fränkischen Dörfern zum Gründonnerstag den »Buschen«, ein Strauchbündel mit der Siebenzahl bestimmter Gewächse, um den Höhepunkt von Jesu Passion symbolisch zu begleiten. Noch weitere kirchliche Pflanzenbräuche aus anderen Regionen könnten genannt werden. Die Neun- und die Siebenzahl in Zuordnung zu den neun heidnischen Vegetationskräften und, später christ-

diesgarten Gottes als des höchsten Gärtners, des Schöpfers des Lebens, bezogen. Die typische Mauerumfriedung um einen klösterlichen oder auch höfischen Garten stellte sinnbildlich die Abgrenzung vom Profanen dar. Vgl. Mayer-Tasch, Peter Cornelius / Mayerhofer, Bernd (Hg.): Hinter Mauern, S. 14–21. Zur heutigen Pflege der Klostergartentradition wird später mehr folgen. 117 Vgl. ebd., S. 46–73.

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lich, zu den sieben Planetenkräften, ist typisch für den rituellen Pflanzenumgang. 118 Zu bestimmten Anlässen wurden der Buschen oder einzelne, ihm entnommene Zweige, Kräuter, Blumen, Harze und Früchte im Kaminfeuer oder durchs Haus schwenkend verräuchert. Geräuchert wurde einst zu den Jahreskreisfesten, dann zu den christlichen Feiertagen sowie zu den wichtigen Lebensstationen: bei Geburt, Heirat, Tod oder nach dem Winter, um die triste Zeit und abgestandene Luft loszuwerden. Wir wissen heute um die antibiotische Kraft der würzig-aromatischen Pflanzenteile, aber trotz insofern sinnvoller Ausräucherung der Krankenzimmer, Sterbelager und Peststätten ging es primär darum, eine geordnete Harmonie wiederzufinden. Dass der Rauch einer Engelwurz den Sterbenden ans Licht führte – Pflanzenkräfte wie solche lassen sich heute in ihren Namen nachempfinden. Relikte des geistigen Räucherns finden wir heute in den Hochämtern der katholischen Kirche, doch wird dort mit dem Weihrauch nicht der europäischen, sondern der orientalischen Tradition gefolgt. 119 Die Räucheranwendung hatte zu bestimmten Gelegenheiten auch Orakelfunktion; so waren die stillen »Rauhnächte« zwischen Weihnachten und Neujahr solche Orakeltage, sie hießen einst »Rauchnächte«. Ferner, ob ein Toter friedlich oder gequält gen Himmel stieg, symbolisierte die Fahne des Rauches, denn die Pflanzenkräfte, die, im Rauch extrahiert, verstärkt wirkten, reagierten auf die Verfasstheit der ihnen zugedachten Menschen (vgl. das obige Marienbeispiel), wobei jeder andere Einfluss wie z. B. Wind ignoriert wurde. Der schauerliche Phantasiereichtum des schwarz-weiß-sehenden Aberglaubens, wie er ab dem Hochmittelalter für Jahrhunderte gras118 Vgl. ebd., S. 19–31. Der Autor betont das ursprünglich nicht abergläubische Wesen der Pflanzenkultur-Traditionen. Aberglaube ist ein erst mittelalterliches Phänomen. Er spricht sich sehr positiv aus über das Eingebunden-Sein der früheren, wenngleich nicht mehr rein animistischen Menschen in die Natur, insofern es sie seelisch barg und nährte (»das grüne Tal der Seele«; »aus denen [gemeint: Traditionen] unsere Ahnen tranken«): S. 7, 57. – Unter den modernen Anleitungen zur »Bauerngarten«Gestaltung ist es rar, die genannten Traditionen, z. B. den Ort der Ruhebank, so aufgenommen zu finden wie im Leitfaden »Bauerngarten« der Weihenstephan-Absolventin Bärbel Steinberger, vgl. S. 31 f. 119 Vgl. Bader, Marlis: Räuchern, S. 26–35. Die Tradition des Räucherns wird zurzeit wiederentdeckt, in seriöser Weise im Rahmen des aufgekommenen Fachgebiets der Ethnobotanik. Die Verfasserin ist hier geschult und zeigt Historie auf sowie Möglichkeiten für heutige Räucheranwendungen zur seelischen Harmonisierung, insbesondere auch für Kinder.

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sierte, kann hier exemplarisch nur in einem Beispiel dargestellt werden: Traf bei einem Begräbnis die Asche des Räuchergutes eine umstehende Person, so würde dies die nächste Tote sein. Man kann sich die Ängste Betroffener und die übersteigerten weiteren magischen Anwendungen kaum noch vorstellen, zumal die Betroffenen im Fall des Überlebens Schlimmeres zu befürchten hatten, waren sie doch mit dem Teufel im Bunde, schadhaft für die Gemeinschaft und schleunigst zu entfernen. Die Ursachen der Hexenverbrennungen liegen insofern in einer ihrer Schichten auch im Volk selbst. 120 Ein noch fehlender Bereich in der Aufzählung der Pflanzenbezüge – er fällt schwerpunktmäßig in diese dritte Gruppe – war natürlich die Nutzung von Pflanzen als Materialien für Behausung, Kleidung und unzählige Gegenstände des Alltags. Das wäre diätetisch nicht relevant, wenn nicht auch hier der reine Nutzwert durch Bedeutungen entsprechend der Pflanzeneigenschaften überhöht worden wäre. Der eichene Stiel einer Axt war viel mehr als nur hartes Holz, das Weidengeflecht eines Korbes weit mehr als nur biegsames Gestell. Eingravierte Initialen und Sinnsprüche taten ein Übriges, um die inneren Bezüge zu betonen. Die Naturstoffe sprachen zu den Menschen und gaben ihnen mit ihrer Lebendigkeit Lebensqualität über den Nutzwert hinaus – jenseits der puren Sachlichkeit. 121 Kaum besser als im Pflanzenbrauchtum lässt sich das Naturbewusstsein unserer Ahnen so zusammenfassen: Alles hatte ein Wesen, alles hatte Kräfte – als Ausdruck, Manifestation und Erscheinung des Wesens. Von Kelten und Germanen wurden diese sinnlich erfasst, und noch Jahrhunderte später wurden Natur und Leben nach dem Muster der Anschauung, des Empfindens und der Erfahrung behandelt. So beobachteten die Germanen, dass die Eibe botanisch unsterblich ist und machten sie zum »Lebensbaum«, ähnlich wie starkwüchsige Kräuter üble Geister abzuhalten oder Menschen Kräfte zu verleihen geeignet waren. 122 Lebensdeutung ist eine Frage des ZuVgl. ebd., S. 35–38. Vgl. bei Hageneder, Fred: Die Weisheit der Bäume. Mythos, Geschichte, Heilkraft, im jeweiligen Portrait den Abschnitt »Kultur, Mythos, Symbolik«. Dass Empfinden und Fakten im archaischen Bewusstsein eins waren, drückt sich anschaulich aus in den alten Bezeichnungen von »Seele« – »Leben«, germ. beides fjör (vgl. hebr. näfäsch), vgl. Grönbech, Wilhelm: Germanen Bd. 1, S. 256 f. 122 Neuere ethnobotanische Ansichten gehen dahin, die Eibe und nicht die Esche als den Lebensbaum mehrerer Völker anzusehen wegen ihrer unbegrenzten vegetativen Fortpflanzungs- und Anpassungsfähigkeit, ein permanenter Nachwuchs gegenüber 120 121

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gangs, und wer sich heute etwa mit widrigen Nachbarn herumschlägt, mit Missgunst, Neid oder Angeberei, mit Oberflächlichkeit oder Ignoranz, könnte angesichts der Hartnäckigkeit solcher Eigenschaften bei Absehen vom jetzigen psychologischen Wissen ebenso empfinden. Das Wetter schließlich – für Indianerstämme war es normal, die Kraftstrukturen des Himmels zu beeinflussen mit den im Rauch aufsteigenden Energien geeigneter Pflanzen. Wind und Wolken wurden als Wesenheiten aufgefasst, die mit der Verfasstheit der menschlichen Seele über Träger wie insbesondere Pflanzen, Spruchformeln, Rituale kommunizieren konnten. 123 Es ist die überwiegende Ansicht einer positivistischen Wissenschaftslinie des 20. Jh., den unrationalen Weltzugang einer mythologischen Menschheitsphase zuzuschreiben, die mit dem logos überwunden wurde. 124 Doch war es Aristoteles, der die Ansicht von Form und Inhalt vertrat, die ebenfalls, und zwar besonders in Gelehrtenkreisen, über zwei Jahrtausende lang das europäische Naturbild bestimmte: Ein Achat, ein Bergkristall sind in ihrer äußeren Erscheinung Manifestationen ihrer spezifischen inneren Kräfte. Heilkundlich wurde dies später von Paracelsus aufgenommen, die Beziehungen der Naturgüter in signifikanten Analogien von Form, Farbe, Geruch gegenüber dem Anwendungsbereich. Die sogenannte »Signaturenlehre« setzte sich nie richtig durch und wurde nie richtig verworfen: Der runzelige Walnusskern deutet auf die Behandlung des Gehirns, und heute wissen wir um Omega-3-Fettsäuren, die tatsächlich die absterbendem Altholz. Zu den ältesten Bäumen der Erde zählen mehrere Eiben, der Rekord liegt bei 1500 Jahren. Philologische Forschungen am germanischen Reimschema scheinen die »Esche« als Übersetzungsfehler zu bestätigen. Vgl. Hageneder, Fred: Eibe, S. 154–156. 123 Der aktuelle Klimawandel, wenn man ihn als weitgehend von Menschen verursacht ansieht (was hier offen bleiben soll), sollte in dem Fall die tieferen Verhaltenssteuerungen der Menschen berücksichtigen: Ob nicht ein aggressiver Umgang mit der Natur deren Wesenheiten so verletzt, dass sie nicht mehr normal reagieren können, sich rächen? Dieser Ansatz stünde zwischen »rational« und »irrational«; er stützt sich, ähnlich wie Ernst Cassirer es tat, auf Emotionen im Verhältnis zur Natur und würde vermutlich handlungsfähiger machen als der rein rationale Zugang. Schadensbegrenzende erneute Gewaltmaßnahmen, etwa die Wolken mit Chemikalien zu begasen, müssen auf dem Hintergrund dieser Gedanken sehr fragwürdig klingen. Vgl. zu einer mit Emotionen verbundenen Wahrnehmung: Kather, Regine: Leben, S. 172–174. 124 Im Fach Kulturgeschichte urteilt so der Däne Wilhelm Grönbech, der ein Wegweiser nordischer Religionsgeschichte für das 20. Jh. war (1873–1948): Germanen Bd. 1, S. 218 f.

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Denkleistung erhöhen – doch zwischen dem technischen Wissen und der Anschauung der Pflanze liegt nun ein weiter Graben. 125 Auch neuzeitliche Größen erkannten, dass die Grenzen von Materie und Geist fließend sind. Goethe soll mit den Pflanzen geredet haben – und betont außerdem die Wichtigkeit einer empfangenden Haltung, die vom permanenten Handeln Abstand nimmt. 126 Die moderne Geisteshaltung bevorzugt das Ausschließliche und die Abgrenzung 127, doch müssten Sinne und Geist nicht verkümmern, wenn das rationale Denken aufbricht. Seit Aristoteles galt nicht nur den Religionen (s. o.), sondern auch dem philosophischem Zugang das Leben als beseelt und insbesondere der Mensch in einen lenkenden Geist eingebettet. Wille, Verantwortung und die Entwicklungskräfte der Kultur waren so erklärbar. Descartes hat die Seele zum Ding erklärt und den Geist als reine ratio verstanden. Dadurch ging dem Leben und der Kultur das seit Aristoteles tradierte Teleologie-Verständnis, das Eingestiftet-Sein eines geistig verankerten Zieles (telos), die Sinnhaftigkeit, verloren. 128 Descartes wurde vielfach widerlegt, z. B. phänomenologisch von Friedrich Nietzsche, wie später noch behandelt werden wird. Immanuel Kant insbesondere hat erkenntnistheoretisch den Übergang von Materie und Geist zugelassen und zugleich das Differenzieren in der Erkenntnis gelehrt, indem er nach der aristotelischen causa-Lehre die Zweckursache (causa finalis), zumindest als regulatives Prinzip gemeint, wieder auf die Vorgänge des Lebendigen bezog und nur die Wirkursache (causa efficiens) auf rein physikalische Abläufe. 129 Natur ist im Letzten für Kant nicht erklärbar. 125 Signaturenlehre: Als fundierter Leitfaden für die Gegenwart sei z. B. genannt: Kalbermatten, Roger: Wesen und Signatur der Heilpflanzen. Die Gestalt als Schlüssel zur Heilkraft der Pflanzen. 126 Zu Goethes Pflanzen-Sensibilität vgl. Eckermann, Johann Peter: Gespräche, S. 333. Beachte zur Sinnlichkeit aus seinen Gedichten folg. Vers: »Nein, ich habe nichts versäumet! / Wisst ihr denn, was ich geträumet? / Nun will ich zum Danke fliegen, / Nur mein Bündel bleibet liegen.« Zit. in: Storl, Wolf-Dieter: Teil des Waldes, S. 5. 127 »Moderne«: Fallen die Wurzeln dieser Epoche naturwissenschaftlich mit dem Beginn der Neuzeit zusammen (vgl. FN 2) und geistesgeschichtlich mit der cartesischen Rezeption, so weist Harald Seubert soziopsychologisch darauf hin, dass Charles Baudelaire im politischen Umbruchjahr 1848 »La Moderne« als etwas grundsätzlich SichLosreißendes, Fliehendes bezeichnet hat. Seubert, Harald: Religion und Vernunft, S. 550. 128 Vgl. FN 12 129 Bei Aristoteles s. Phys. II 4, 195a. Vgl. Kather, Regine: Leben, S. 16.

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Damit war ein Weg gebahnt wider dogmatistische Einengung der Erkenntnis einerseits und irrationale Schwärmerei andererseits. 130 Mit Descartes übernahm aber die wissenschaftliche Majorität die Verfasstheit der Welt rein nach der Wirkursache. Monokausale Begründungen und damit der Weg zum schnellsten Erfolg sind die gängigen Muster bei dieserart Effizienzdenken geworden. Nach dem kantischen Weltzugang könnten durchaus auch in gegenwärtigen Lebenslagen die Güter der Natur und insbesondere die Pflanzen wieder als Sinnträger aufgefasst werden. Besonders in der Schweiz ist in den letzten Jahren die Signaturenlehre mit fundierter Literatur populär geworden und scheint einen hilfreichen Platz zwischen nüchterner Rationalität und schwärmerischer Esoterik einzunehmen. 131 Zur Veranschaulichung für die Begegnung mit dem Wesen der Pflanzen wählt die Verfasserin aus ihrer praktischen Berufstätigkeit das Beispiel der schon erwähnten Engelwurz, in der sich Sinnlichkeit, Heilkunde und Spiritualität in großer Bedeutungsbreite treffen können: Die getrockneten Wurzelstückchen besitzen im Aussehen hellund dunkelbeigefarbene Flecken, wobei das helle Beige freundlich wirkt und farblich an Engelshaar erinnern könnte. Sie riechen wie fast alle Kräuterwurzeln rauchig-erdig, aber nicht dumpf wie bei manchen dunklen Wurzelarten, sondern hell, leicht ähnlich einer Sellerieknolle. Dabei ist das Aroma höchst ätherisch und erfrischend, sodass man z. B. beim Riechen, beim Kauen auf der Wurzel oder beim Trinken eines Teeaufgusses das Gefühl einer Richtungsänderung von unten nach oben zu vernehmen meint. Die Heilwirkung der Engelwurz besteht vor allem in Krampflösung auf die Verdauungsorgane (pharmazeutisch ein »Karminativum«), z. B. bei Magenkrämpfen oder Darmblähungen durch falsches Essen, schwache Konstitution oder krankhafte Zustände. Die erlebte Linderung kann somit Patienten, die vor Schmerzen reglos oder ans Liegen gebunden waren, wieder aufhelfen und Lebendigkeit verschaffen; zugleich hellt sich die Psyche auf. Allein das Einatmen des eher blassen, aber stark ätherischen DufVgl. FN 34. Nach Kant kann eine Teleologie in der Natur zwar nicht bewiesen werden, aber man komme nicht umhin, einen obersten Grund »in einem Ursprünglichen Verstand als Weltursache zu suchen«. Kant postuliert »das Übersinnliche, welches wir der Natur als Phänomen unterlegen müssen«. Als Fazit sei es notwendig, so weit wie möglich die Produkte der Natur mechanisch zu erklären, die man aber »doch zuletzt der Kausalität nach Zwecken unterordnen« müsse (diese höhere Kausalität meint die c. finalis, d. Verf.). KdU II § 78, S. 396–404. Vgl. Kather, Regine: A. a. O. 131 Vgl. FN 125. 130

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tes kann Leidenden etwas Linderndes, Erhebendes verschaffen, wie wenn man von gewöhnlicher Erde zu einem Schweben gelangt. So ist es verständlich, dass diese Pflanze am Sterbelager durch Räuchern eingesetzt wurde, um Sterbenden in Todesangst Entspannung zu verschaffen, einen inneren Frieden, der für die Betroffenen nachvollziehbar einem Geleitet-Werden in den Himmel gleichkam. Entsprechend erinnert der lateinische Name Angelica archangelica an den Erzengel als Hüter des Himmels (vgl. Offb. 12,7) ebenso wie an den Anfang (arche, Joh 1,1), von dem alles Leben stammt. Ähnlich können mit Symbolwert aufgrund von Entsprechungen – im Beispiel war es das Befreiende, Erhebende bis hin zur Vorstellung eines Himmelslotsen – unzählige Pflanzen bzw. auch Rezepturen erfühlt werden. Z. B. kann an der Verdauung Geplagten eine wohlschmeckende Teezubereitung aus Angelika, Pfefferminze, Rosmarin, Gewürznelke und aromareichem Honig Linderung verschaffen, die Arztbesuche ersparen sowie ggf. auch psychische Klärung verschaffen und Konflikte lösen hilft. Zu den speziell seelisch-geistigen Einflüssen der Naturgüter wird erst das nächste Kapitel etwas sagen. Der Symbolwert einer Pflanze oder Rezeptur wäre nach dem aristotelischen Muster die Zweckursache. Letztlich ist die Zweckursache die Heilung eines Leidenden. Es stimmt von daher fragwürdig, wenn mit der schließlich Descartes folgenden Aufklärung gerade die Sichtweise nach der causa finalis und das teleologische Denken aufgegeben wurden. In der Philosophie plädiert heute sogar ein agnostisch eingestellter Analytiker für einen phänomenologisch revidierten Begriff der Teleologie, wenn er etwa materialistische Strategien (z. B. den Behaviourismus) als perspektivisch eingeschränkt beschreibt oder das menschliche Handeln (mit Blick auf die Hirnforschung) als Interaktion zwischen Physiologie, Affekten und mentalen Antrieben. Letztere seien nicht neuronale Muster, sondern situationsabhängige »Urteile«, die mit geprägten Werten komplex interagierten. Jede Bewegung oder Entwicklung müsse von daher letztlich geistig gegründet sein und sei nicht rein dualistisch erklärbar. Letztlich verhielten sich die Phänomene des Lebendigen gegenüber physikalischen Bedingungen als unhintergehbar. 132 Um an dieser Stelle

132 Nagel, Thomas: Geist und Kosmos, S. 58 f., 164–167. Der Autor plädiert auch insbesondere gegen die neodarwinistische Konzeption, Leben sei als rein außengesteuert-zufällig zu betrachten.

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noch einmal die Heilpflanzen einzubringen zur Veranschaulichung, und zwar in ihrer typischen Anwendung durch die Schamanen der Naturvölker: Die Pflanze (auch andere Naturgüter sind betroffen, ebenso Trommelrhythmik usw.) hat nach der alten Auffassung ein Wesen (verkörpert in ihrer Erscheinung und Wirkungsweise 133) und beeinflusst den Menschen darin, dass sie mit dessen Wesen korrespondiert. Bei Krankheit jedenfalls, richtig eingesetzt und mit der entsprechenden inneren Offenheit des Menschen, heilt sie, d. h. durch ihr Wesen wird krankes Wesen verdrängt. In Symptomen hat sich das kranke Wesen nur äußerlich gezeigt. Der Krankheit zugrunde lag eine seelisch-geistige Verfassung, deren Wandlung mit dem Pflanzenwesen unterstützt wird. Die Psychosomatik Viktor von Weizsäckers klingt auf der Ursachenebene an und dabei auch, dass die Behandlung durch den Therapeuten eine spürbare menschliche Zuwendung sein muss, sollen Wahrheiten sich dem Patienten öffnen. So geht auch vom Schamanen immer eine intensive menschliche Zuwendung aus, die letztlich für eine spirituell aufzufassende Heilkraft (z. B. einer Gottheit) steht. Die Pflanze wird damit doppelt durch Symbolwert überhöht. In der Regel treten beim Schamanenhandeln die symbolischen Ebenen in den Vordergrund. 134 Der Schritt vom sinnlichen Erfassen über das Erkennen geistiger Muster zum Behaupten einer Beseeltheit ist gewiss gewagt. Die Reformation hat sich im Kampf gegen die Verquickung von Ekklesiologie und Soteriologie vehement auch gegen die beseelte Materie gewehrt. Mit Kant wird es in der modernen Welt nur beim Empfinden 133 Klassisch formuliert im Hylemorphismus des Aristoteles, vgl. FN 12, der auch darin Evidenz zeigt, dass Völker verschiedener Kulturen durch Naturbeobachtung zu ähnlichen Ansichten kamen. Die wohl eindrucksvollste Pflanze im Spektrum von Äußerung, Symbolbedeutung und Kultus ist der Lotos. Mit der Zweiteilung von anschaulich über und unter dem Wasser befindlichen, vergänglichen und dauernden Pflanzenteilen und deren anmutiger Physiognomie steht die Pflanze symbolisch für Unzerstörbares, Geburt, Nahrung, Entfaltung der Welt, göttlichen Geist, also insgesamt für den Lebens- und Weltengang, vgl. Mayer-Tasch, Peter Cornelius: Zeichen der Natur, S. 73–79. 134 Vgl. den authentischen Artikel über einen in Papua-Neuguinea zum Medizinmann ausgebildeten sowie auch bei anderen Stämmen unterwiesenen deutschen Heilpraktiker: Kofler, Raphael: Ein Schamane aus Günzburg. Heilen mit der Kraft der Naturvölker. Eugen Drewermann vertritt die menschlich-symbolische Heilebene der Schamanen, vgl.: Gevatter Tod, S. 52. Vermutlich gibt es unterschiedliche Schwerpunkte in den Traditionen der Völker, denn der ebenfalls schamanisch unterwiesene Wolf-Dieter Storl betont überzeugend die Pflanzenkräfte. Storl soll wenige Sätze weiter unten im Haupttext zu Wort kommen.

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bleiben können. 135 Wissenschaftsnah setzt sich aktuell der Biologe und Philosoph Andreas Weber mit Titeln wie »Alles fühlt« für die sinnlich wahrnehmbaren Gemeinsamkeiten zwischen den Lebewesen ein. Am Beispiel der Pflanzen folgt Weber zunächst der aristotelischen Tradition, indem er die Gestalt einer Pflanze als Manifestation ihres Wesens ansieht. 136 Dieses Wesen begreift Weber als Fülle an Gefühlsempfindungen. Die ortsfeste nach außen und eigentlich kommunikationslose Pflanze wende ihre Mitteilsamkeit zunächst nach innen hin, indem sich ihr Gefühlswesen dort so verdichtet, dass es dann doch höchst charaktervoll nach außen ausstrahlt und vom Menschen aufgrund seines eigenen Gefühlsvermögens materiell (z. B. in Gestalt und Duft) und geistig (als Botschaft) erfahren werden kann. Damit steht Weber zudem in der spirituellen Tradition einer GeistSeele, die das Leben konstituiert (wie z. B. Brahman, Atman im Indischen) und verbindet sowie prinzipiell die Verletzung von Lebewesen verbietet (vgl. oben zum Vegetarismus). 137 In der neueren Philosophie hat besonders auch Max Scheler eine Eins-Fühlung des Menschen mit den Tieren und Pflanzen hergeleitet, nämlich aus dem Mikro-Makrokosmos-Gedanken. Scheler verortet alle menschlichen Sympathiebekundungen kosmologisch und hält ein auf Rationalität verkürztes Menschsein für verkümmert. Sein Beitrag wird in der Fragestellung von Teil 5 dieser Arbeit relevant werden. 138 Zuletzt 135 In KdU, §§ 72–75 legt Kant dar, wie alles über den Verstand Hinausgehende phänomenologisch herzuleiten ist. Die Bedeutung von Kant gerade hierin ist in der Gegenwart anscheinend noch zu wenig gesehen worden, insofern es neben strikter Rationalität auch esoterischen und christlichen Fundamentalismus gibt, der die außerrationale Erfahrung zur Apodiktion macht und viele Menschen ködert. 136 Weber fußt damit auch in der modernen, biosemiotischen Linie des Philosophen und Ökologen Johann Jakob von Uexküll und außerdem in der kantianisch geprägten, verantwortungsethischen Schule von Hans Jonas. 137 Weber, Andreas: Alles fühlt; beachte insbes. den Abschnitt »Gestalt gewordenes Gefühl« S. 26–31. In der Schweiz lehrt der mit FN 93 zitierte Biologe Jürg Stöcklin eine ähnliche Betrachtungsweise von Pflanzen. Die Schweizer Bundesverfassung verlangt, schrittweise seit Anfang der 1990er-Jahre, der Würde der Kreatur, »Tieren, Pflanzen und anderen Organismen«, Rechnung zu tragen (7. Kap. § 16). Damit soll nicht nur das Wohlergehen, sondern explizit die Würde, das Sein der Lebewesen um ihrer selbst willen, geschützt werden. Speziell zu Pflanzen siehe den entsprechenden Leitfaden der Eidgenössischen Ethikkommission, insbes. Abschn. 2.2 über Empfindungsfähigkeit und 2.3 über Subjektivität von Pflanzen. 138 Vgl. Scheler, Max: Wesen und Formen, insbes. S. 129–127. Vgl. ders.: Stellung, z. B. S. 9–13, wonach Menschsein stets an Urphänomenen teilhat, z. B. biologisch bzw. in Lebens-Ausdrucksformen am Stoffwechsel und Reizverhalten der Pflanze.

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sei am Beispiel aktueller praktischer Bemühungen um ein kosmogones Naturverständnis erwähnt, dass es Klöster gibt, die die alte Klostergartentradition wieder aufleben lassen, mit der einst im Frühmittelalter die Etablierung einer Pflanzenkunde bei den Geistlichen einsetzte und die mit dem wesenhaften Pflanzenverständnis und Pflanzenbrauchtum des Volkes lebhaft in Wechselwirkung trat. 139 Das Natur- und Heilungsverständnis der mittelalterlichen Geistlichen wird im nächsten Kapitel noch genauer vorgeführt werden. Im christlichen Bereich ist offiziell, besonders in der protestantischen Prägung, im Gefolge der cartesischen Tradition die Verbindung von Heilung und Seelsorge, von Natur und Geist, zerbrochen. Beispielsweise setzt man sich mit Angeboten wie der Anthroposophie rein dogmatisch auseinander. Man sieht wohl Mängel in den eigenen Möglichkeiten, aber gelangt über die lehrhafte Behandlung nur zur Abgrenzung anstatt zum Überdenken, ob nicht auch die christliche Offenbarung mehr aus Kategorien des Fühlens und der Anschauung zu interpretieren wäre. 140 Eugen Drewermann versucht solches seit dreißig Jahren interdisziplinär durch Tiefenpsychologie. Ferner betont der Staatsrechtler und Anthroposoph Martin Kriele menschliche Werte wie Toleranz, Freundlichkeit, Friedfertigkeit und Innerlichkeit und mit ihnen den Gefühlszugang zum Leben hinter den lehrhaften Verfassungen mancher christlich ausgegrenzten Weltanschauungen. 141 Eine rein rational-dogmatisch verfasste Theologie scheint 139 Insbesondere in Österreich wird an diese Tradition angeknüpft, z. B. im Kloster Geras, Niederösterreich, mit Führungen, Seminaren, handgemachten Produkten. Der im Heilpflanzen-Abschnitt dieses Kapitels erwähnte Hermann-Josef Weidinger war hier von ca. 1950–1970 Pfarrer und etablierte eine noch heute gepflegte Heilkräuterkunde, die Religion und Gesundheit, Glaube und Natur »nicht auseinanderreißen« will, die Pflanzen als Geschöpfe ansieht, die mit Kräften ausgestattet sind; vgl. im Informationsmaterial, anzufordern unter: Prämonstratenser-Chorherrenstift Geras, Hauptstr. 1, A-2093 Geras, Tel. 0043 / 2912 / 345–0, www.stiftgeras.at (alles Genannte vom Stand Frühjahr 2014). In der Region der Verfasserin arbeitet eine Heilkräuter-Fachfrau didaktisch auf ähnlicher geistiger Grundlage, siehe »Felbinger, Inge« im Literaturverzeichnis. 140 Vgl. die Bewertung und Weisung zur Anthroposophie in: Reller, Horst / Krech, Hans et al. (VELKD: Handbuch, S. 546–549. 141 Vgl. Kriele, Martin: Anthroposophie und Kirche. Erfahrungen eines Grenzgängers, Freiburg i. Br. / Basel / Wien 1996. Kriele wünscht v. a., dass auf Basis der Menschenkenntnis unterschiedliche Zugänge zum Leben und zur Religion respektiert werden. So ist der Umschlag des Buches mit Dürers Gemälde von Petrus und Johannes gestaltet als Sinnbilder für eine mehr rational-pragmatische oder mehr geistigspirituelle Religiosität, die beide wertvoll seien.

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sich zur Zeit von Fragen hilfreicher Lebensgestaltung zu entfernen und das zu riskieren, was das Christentum von seinem Erbe her aus denkenden und empfindenden Einflüssen einst war: eine therapeutische Religion. 142 Das entstandene Vakuum besetzen daher heute viele vermeintliche und echte Kundige. Was speziell die Botschaften und Heilkräfte der Pflanzen betrifft, das Zentralthema dieses Kapitels, so sei im seriösen Popularbereich nochmals Wolf-Dieter Storl erwähnt, der im Sinne der Tradition von Naturvölkern und teilweise auch des Mittelalters Pflanzen als eigene Wesenheiten darstellt, denen man begegnen kann. 143 Das rationale Denken darf gewiss nicht verurteilt werden, denn es hat aus heutiger Sicht Unentbehrliches erbracht wie z. B. auch Menschenrechte und Demokratie. Es hat unhaltbare spekulative Ansichten, wie beschrieben, über die Natur beendet, z. B. ähnlich die Zuschreibung magischer Eigenschaften an Tiere, die bis heute für deren Ausrottung verantwortlich ist. Als problematisch wird in dieser Arbeit die Ausschließlichkeit und der Anspruch der modernen Rationalität gewertet, andere Weltzugänge ersetzen zu können. Dabei könnten mit den heutigen Forschungsmöglichkeiten das Bewährte im Erkennen und Handeln der Vorfahren in das Leben einbezogen werden. Der Wesensbegriff könnte entsprechend eine Brücke zwischen Rationalem und Irrationalem schlagen. 144 So gesehen gäbe es 142 Ein Paradigmenwechsel zum Menschlichen und insbes. Ökologischen, wie er der Theologie des 20. Jh. zugeschrieben wird, vgl. Riess, Richard: Wandlung, S. 59–64, ist nicht vorhanden, solange er beim nur theoretischen Diskurs bleibt. In der Praxis dagegen ist oft anderes zu beobachten, dass nämlich die problematischen Seiten des Materialismus beibehalten werden, z. B. im Konsumverhalten der Gemeindeveranstaltungen, im gesellschaftskonformen Gewinnen und Halten von Menschen. 143 Vgl. Storl, Wolf-Dieter: Die Seele der Pflanzen. Außerdem: Pflanzendevas. Die geistig-seelischen Dimensionen der Pflanzen. Hier verbreitet Storl viel Sagenhaftes aus dem Pflanzen-Erleben von Naturvölkern, das heute schwer nachvollziehbar und nachahmbar sein dürfte. Es kann aber die Sinne öffnen für den Reichtum möglicher Mitteilungen der Natur und kann in unserem Alltag zu lebendigem Umgang mit den Pflanzenbotschaften anregen, beispielsweise, indem man einem Schulkind seine Lieblings-Duftpflanze (z. B. Honigklee, Süßdolde) beschützend mit in die Schulklausur gibt, Geburts-, Kranken- und Sterbebetten mit passenden Pflanzen versorgt oder in einer zu beziehenden Wohnung schlechte Atmosphäre ausräuchert bzw. in »mein« nun einziehendes Wesen verwandelt. Der Alltag wird wortwörtlich lebendiger, mehr mit Lebewesen anstatt mit Sachen verbunden oder sogar identifiziert. 144 Pädagogisch würden sich die Pflanzen in ihrer Erfahrbarkeit (worauf schon mehrmals hingewiesen wurde) anbieten, den Wesensbegriff neu zu entdecken. Grenzwissenschaftler stoßen immer öfter auf ein Wesen bei Pflanzen, da z. B. an ihnen diffe-

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gute Chancen für eine humane Vernunft in der Moderne. Aber Wissen, Freiheit und Demokratie verlangen dem Einzelnen sehr viel mehr ab an Eigenständigkeit, Reflexion und Disziplin als ein traditionsgebundenes und autoritäres Gemeinwesen. Der neuerliche materielle Wohlstand scheint den Menschen in vielen nicht rationalen Neigungen (z. B. Bequemlichkeit, Verantwortungscheu) geradezu entgegenzukommen. Insbesondere wird das Nietzsche-Kapitel dieser Arbeit die Frage weiterverfolgen, ob die Aufklärung vielleicht eine Überforderung war, und zwar neben Wissenschaft und Wohlstand unter einem weiteren Aspekt: der Religion. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Mittelalter und die von ihm beeinflussten Schichten der Neuzeit den Menschen ein reichhaltiges, vielseitiges und bewährtes Material für eine gelingende Lebensführung an die Hand gaben. Da war zum einen die christliche Lehre von der gefallenen Welt, die der Barmherzigkeit und caritas bedurfte, deren letzter Trost aber noch ausstünde. Zum anderen gab es in praktischer Hinsicht die reiche Kenntnis und Anwendung der Flora – einerseits mangels eines Besseren, aber andererseits in Form einer fundierten Tradition. Ihr zugrunde lag eine wesenhafte Verbindung zur Natur, wie es das naturreligiöse sowie das aristotelische Erbe Europa hinterlassen haben und von Gebildeten und Bäuerlichen in reger Wechselwirkung übernommen wurde. Der spiritistische Umgang mit den Naturgütern konnte psychosozial auch sehr lebensfeindliche Formen annehmen. Insgesamt schien das beschriebene Naturmaterial den Menschen, besonders auf dem Land (und bis 1900 war dort die Mehrzahl der Bevölkerung), eine recht autarke Lebensführung zu ermöglichen, eingebunden in den Lauf der Natur, in lokale Versorgungsstrukturen und in seelisch-geistige Heimat. Wenngleich das Leben auf dem Land für die meisten Bewohner karg, hart und individualitätsfeindlichgrausam war, so etablierten sich doch fachlich wertvolle Repertoires, besonders mit der Phytotherapie. Und offenbar bewahrte sich das Volk unter einem hohen Maß an Eigenständigkeit gegenüber Theorien und Instanzen seine gesundheitsbezogene Versorgung sogar gerenziertes Empfinden beobachtet werden kann, neuerdings sogar Lernverhalten – ganz ohne neuronale Struktur, vermutlich auf mineralischen Reaktionen beruhend. Vgl. dazu den Internetartikel: www.grenzwissenschaft-aktuell: Trotz ohne Hirn: Auch Pflanzen können sich erinnern und lernen, 17. 4. 2014.

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gen die juristische Oberhand und setzte aus den Quellen von Natur und Religion auf ein tragfähiges Weltbild. Wird das diätetische, auf die gesamte Lebensbewältigung zielende Verhalten der gebildeten Schichten als »Lebenskunst« bezeichnet, so wäre hier wohl am besten von »Lebenskunde« oder »Lebenspragmatismus« zu sprechen. Arete dagegen ist fraglich wegen mangelnder Reflexionshaltung, besonders im Aberglauben, aber natürlich nomos und paideia erweisen sich und das Diätetische als anpassungsfähig an einen neuen, nunmehr mittelalterlichen Lebensrahmen. Insbesondere darin dürfte sich das beschriebene Material diätetisch nennen – als eine selbstständige und geborgene Rundumversorgung für den ganzen Menschen und in der Abfolge der Generationen, bezogen auf das Erdenleben sowie auf das Jenseits. Vom Naturverständnis wie auch von der spirituellen Weltsicht her ist im hohen Maße eine kosmologische Verortung der mittelalterlichen Diätetik erkennbar, wenn auch das christlich-anthropozentrische Weltbild im Hintergrund blieb. Im diätetischen Miteinander der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen (Bauern, geistlich und weltlich Gebildete) zeigt sich die typische Verbindung von naturhaften und geistigen Einflüssen.

3.1.4 Hildegard von Bingen: Scivias Seit 1998 ging eine mehrjährige »Hildegard-von-Bingen-Welle« durch Deutschland. Aus Anlass des 800. Geburtstags der Äbtissin aus dem Mittelalter wurde eine neue Marktlücke besetzt. Die Welle ist bald abgeebbt, denn offenbar waren die Gewürze doch zu fremdartig, wurde der Dinkel-Vorrang langweilig und brachten Gebetshymnen nicht die gewünschte Erfüllung. Trotzdem sind bestimmte Produkte wie Galgant, Nackenkissen oder Nervenkekse in die Gesundheitslandschaft eingegangen, und mit ihr ist die Heilige aus dem Kloster Weltbürgern als Wohltäterin geläufig, ob die werbenden Fakten historisch stimmen und ob die so angepriesene Therapeutik heutigen und individuellen Erwartungen überhaupt gerecht wird oder nicht. Historisch gesehen ist es schwierig, die authentischen Schriften der Hildegard von Bingen zu identifizieren. Zu viele Abschriften mit divergierenden Inhalten fanden sich in zahlreichen Klöstern. Unbestritten ist, dass Hildegard neben geistlichen auch natur- und heilkundliche Schriften verfasst hat, doch welche Stellen echt und welche 100 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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spätere Einfügungen sind, bleibt fraglich. Die zeitlebens körperlich anfällige und formell als relativ ungebildet geltende Hildegard, geboren 1198 im Rheinhessischen, wurde mit acht Jahren aus adeligem, reichem Elternhaus in monastische Erziehung gegeben, also »Gott geweiht«, wie es im Mittelalter häufig war. Nach dem Tod ihrer Lehrerin übernahm sie den Vorsitz des benediktinischen Klosters auf dem Disibodenberg. Zunächst gegen den Widerstand ihrer klerikalen Vorgesetzten, dann aber doch mit deren Anerkennung ihrer hohen spirituellen Begabungen, konnte sie einen sehr selbstständigen und reichhaltigen Schaffensweg als Gottsucherin, Forscherin, Predigerin, Reisende und Diplomatin beginnen. Ihre Eigenart, die künstlerische Prachtentfaltung ihrer Wirkstätten und ihr charismatisches Wirken selbst machten sie in einer politisch und klerikal unruhigen Zeit bald weitbekannt. Hildegard erweiterte ihre hohe Verantwortung als Äbtissin auf zwei weitere, eigene Klostergründungen und erreichte ein damals ungewöhnliches Alter von 81 Jahren. 145 Als gesichert gilt ihre schon frühkindliche Begabung zum Empfangen von Auditionen und Visionen. Ihre Schriften gelten als inspiriert, in der Wechselwirkung zu emsigem Gottsuchen und praktischem Forschen eingegeben. 1141, nach längerer Krankheit, erlebte sie eine Erscheinung, die sie als Gottes Auftrag verstand, ihre Erfahrungen aufzuzeichnen. In ihrer theologischen Schrift Liber Scivias (»Wisse die Wege«), rechtfertigt sie diesen gottgegebenen Auftrag. Aufgezeichnet haben Hildegards Texte nach ihrem eigenen Diktat neben verschiedenen monastischen Helfern insbesondere eine Mitschwester, die die Seiten mit den herrlichsten Buchmalereien illustrierte. Als überwiegend authentische Werke sind anerkannt: – – –

die genannte Erstlingsschrift Scivias (»Wisse die Wege«), der Liber Vitae Meritorum (»Mensch in der Verantwortung, wörtlich: Buch der Lebensverdienste«), der Liber Divinorum Operum (»Buch von den göttlichen Werken«).

Die natur- und heilkundlichen Schriften, Physica (»Naturkunde«) und Causae et Curae (»Heilkunde«), sind Hildegard dagegen nicht eindeutig zuzuordnen. 146 145 146

Vgl. Diers, Michaela: Hildegard, S. 7, 93. Vgl. Gnädinger, Louise: Deutsche Mystik, S. 11–16.

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Die Hildegard-Rezeption hat zu verschiedenen Zeiten andere Schwerpunkte betont. In neuerer Zeit gab es außer einem oberflächlichen Betrieb um Hildegard auch tiefere Absichten, ihr heilkundliches Werk möglichst geschlossen anwendbar zu machen. Von den 1970er-Jahren bis 1997 wirkte hierin der Arzt, Laientheologe und -philologe Gottfried Hertzka. Der passionierte Forscher und Heiler recherchierte viele Jahre lang und versorgte mit seiner Herstellerfirma sowie seiner Klinik – jetzt in Nachfolge von Wighard Strehlow im gleichen Geist geführt – Kranke und Kurende möglichst angelehnt an Hildegards Weise. Hertzka prägte den heute geläufigen Begriff »Hildegard-Medizin« (obwohl für diese vielschichtige und auch vorbeugende Therapeutik der Begriff »Diätetik« besser wäre). Die theologische Wissenschaft erkennt Hertzkas wichtige Bemühungen an, doch kann sie diese theologisch schwer einordnen. 147 Hertzkas Methodik wird hier nicht tiefer diskutiert werden können. Zweifellos ist Hertzka / Strehlows Institution am Bodensee für viele eine Stätte der Heilung und innerhalb der Alternativmedizin eine namhafte Einrichtung geworden. Mit dem aburteilenden Rückzug der wissenschaftlichen Tendenzen endet wie oftmals die Auseinandersetzung von Theorie und Praxis, Geist und Leben, Distanz und Menschlichkeit. 148 In den diätetischen Details der hildegardschen Therapeutik ließe sich heute, ganz abgesehen von der oben genannten Quellenfrage, aus der distanzierten Perspektive viel streiten. So will es dem Verstand nicht einleuchten, dass z. B. Zwiebeln, die ja die Durchblutung fördern, feucht-kühles Blut bewirken; und der Weizen-Dominanz heutiger Ernährung könnten statt Dinkel andere Alternativen entgegengesetzt werden. Bei Prüfung der hertzkaschen Medizin insgesamt 147 So der jesuitische Mystik-Forscher Josef Sudbrack, beschrieben in: Koradi, Martin (schweizerischer Pflanzenpädagoge): Kursprogramm 8 / 2011. 148 Aus der nüchternen Außenperspektive kann jede Heilrichtung auf vielfältige Weise minderbewertet werden. In Bezug auf Hertzkas Erfolge wäre dies auch aus medizinischer Sicht leicht möglich. So könnten Ärzte aus Erfahrung sagen, dass Kranken, die dauerhaft ungünstigen Einflüssen ausgesetzt waren (im Hinblick auf Ernährung, Arbeitsbedingungen u. a.), durch jede Umstellung geholfen wird, ob es Ayurveda, Trennkost oder Hildegard-Medizin ist. Im Ergebnis werden die meisten wohl in die erwähnte neutralitas geraten und sich dort im Vergleich zu vorher recht wohl fühlen. Kranke dagegen, die längere Zeit schon relativ gesund gelebt haben und trotzdem krank bleiben, sind viel schwerer zu behandeln, weil die Stimuli zur Heilung sehr fein gewählt werden müssen. Dies ist die Tragik bei chronischen Krankheiten, in deren langem Verlauf manche Patienten vorbildliche Diätetiker werden, aber Heilung nicht erreichen. Es schmälert aber nicht den Wert des Diätetischen.

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fällt auf, dass sie zum größten Teil aus Seelsorge besteht. Einen wichtigen Stellenwert hat entsprechend Hildegards eigener Haltung die Anleitung zum Gebet. Strehlow schreibt biografisch über Hertzka, wie dieser das regelmäßige innige Gebetsleben einführte und beobachtete, wie es kranke Menschen seelisch entlastete, ordnete und zu neuen Perspektiven aufrichtete. Es entspreche der alten Einsicht in den natürlich vorgegebenen rhythmischen Wechsel von vita activa und vita contemplativa, dem benediktinischen »bete und arbeite«, die Strehlow in ihrer Bedeutung praktisch umsetzt. Das zeigt, dass Hildegard-Therapie vor allem eines sein will: Ordnungstherapie. Dass solche eine Gegenkraft zu einem kranken Organismus bildet, der ja Unordnung aufweist, ist einsehbar. 149 Wenn dagegen über Dinkel und Galgant schwer zu diskutieren ist, besteht sicher die Kernfrage darin, wie Hildegard selber ihr spirituelles Wirken verstanden hat, und was, von ihrer eigenen Person ausgehend, die Faszination und Kraft ihrer Therapeutik oder Diätetik über die Jahrhunderte hinweg ausmacht. Hildegard von Bingen war Mystikerin. Landläufig wird unter Mystik, deren Übung und Ziel in der seelischen Vereinigung mit Gott besteht, etwas Abgehobenes verstanden bzw. wissenschaftlich etwas Unnahbares, obwohl die meisten Mystiker in brennendem Bezug zum Leben standen, genauso wie zur Gelehrsamkeit. Bei Hildegard mit ihrem unermüdlichen Schaffen ist die Verbindung von Geist und Leben äußerst stark ausgeprägt. Ein jüngeres Beispiel im 20. Jh. wäre etwa die Sozialreformerin Simone Weil. 150 Dies allein schon macht sie diätetisch wesentlich. Systematisch wird Hildegard der sogenannten Deutschen Mystik zugeordnet. Das liegt nicht nur daran, dass Hildegard mangels tieferer Latein-Bildung und aus Gründen breiter Publizierung dazu überging und andere anregte, vorwiegend auf Deutsch zu schreiben. Die »deutschen« Mystiker (unter denen vor allem auch das »Dreigestirn« Meister Ekkehart – Johannes Tauler – Heinrich Seuse gemeint ist) zeichnen sich gegenüber ihren französischen Schwestern und Brüdern dadurch aus (beide waren vorher inhaltlich eng in der Christusnachfolge verbunden), dass sie ab dem 11. Jh. den aristotelischen Geist in ihre Theologie und Spiritualität in Richtung einer weltgestaltenden Haltung integrierten. 151 Vgl. Strehlow, Wighard: Anleitung Meditation. Die französische Philosophin verfolgte ihr Leben lang die Einheit von Politik und Religion. 151 Vgl. Ruh, Kurt: Geschichte III, S. 17. 149 150

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Der Liber Scivias bildete einen Einschnitt zunächst in Hildegards eigenem Leben, leitete ihre Heilung von längerer Krankheit ein sowie ihr weiteres literarisches Schaffen. Wie hängt das zusammen? Hildegard selbst schreibt in einem späteren Brief über ihre seit Kindheit angestauten gewaltigen Visionserlebnisse, für die sie zwar bewundert wurde, aber keine wirklichen Zuhörer und Einsatzmöglichkeiten besaß. Mit Scivias, der göttlichen Beauftragung an sie, ab dem Zeitpunkt alles Geschaute zu publizieren, muss sich eine unglaubliche seelische Entspannung und Neupositionierung ergeben haben. Aus der Psychotherapie ist bekannt, dass die Nichtentfaltung von Begabungen krankmachend sein kann. Gerade auch Hildegards Berufungsweg verweist auf die mögliche Weltzugewandtheit der Mystik. 152 Scivias ist zunächst Hildegards Rechtfertigungsschrift für ihre Berufung und ihre Anerkennung als Visionärin: »Du also, der du [maskuline Form, weil sie als ›Mensch‹ angeredet wurde, Anm. d. Verf.] dies nicht in der Verstörtheit des Betrügers, sondern in der Reinheit und Einfalt entgegennimmst, damit das Verborgene offenbar werde, schreibe auf, was du siehst und hörst.« 153 Für ihre Anerkennung hatte sich Hildegard durch mehrere kirchliche Instanzen zu kämpfen, und zwar maßgeblich auch als Mystikerin, denn nach mittelalterlicher Ansicht war die Begabung zur göttlichen Schau eine mindere Art von Einswerdung mit Gott. 154 Erst in der Gegenwart wurde diese eigentlich begriffliche Spitzfindigkeit überwunden, nämlich von dem schon erwähnten Mystikforscher Sudbrack, der den Begriff der visionären Mystik schuf. 155 Nach dem Berufungsbericht gibt Hildegard ihre eigentliche Schau wieder. In dreizehn Einzelvisionen werden verschiedene Lebensbezüge des Menschen (Gebrechen, Alltagshandeln u. a.) in den Zusammenhang des göttlichen Heilswirkens gestellt. In der neunten 152 Vgl. Sudbrack, Josef: Mystik, S. 48. Die aus christlicher Sicht oft immer noch für egoistisch befundene Selbstentfaltung und Selbstständig-Werdung wird nach manchen Mythen und Märchen explizit als göttlich gewollt und unterstützt dargestellt. Vgl. die Märchenauslegungen Eugen Drewermanns, hier: Schwesterlein, S. 40 f. Wegfindung im Sinne von Führung und Fügung, das Individuelle und dessen Vorbereitung zum Eintritt in ein soziales »Gefüge« sind dabei verbunden. 153 Zit. aus: Gnädinger, Louise: Deutsche Mystik, S. 21. 154 Das richtete sich vor allem gegen die hier oft begabten Frauen, angelehnt an altetablierte Eigenschaften-Zuschreibungen wie die des Augustinus von den »unkommunikativen« Frauen, was sie kontaktunfähig auch mit Gott mache, vgl.: Diers, Michaela: Hildegard, S. 84 f. 155 Vgl. Sudbrack, Josef: Mystik, S. 46–49.

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dieser Visionen, die gattungsspezifisch eine Architekturvision darstellt, werden in einem umfassenden Heilsgebäude die Plätze der Figuren Weisheit und Gerechtigkeit gegenüber dem Turm der Kirche sichtbar: »Am oberen Punkt des Gewölbes sah ich wie eine überaus schöne Menschengestalt und gegen die Menschen in der Welt hinblicken. Ihr Haupt erstrahlte wie ein Blitz in solch blendendem Glanz, dass ich sie nicht ausführlich betrachten konnte. Doch ihre Hände hatte sie ehrfurchtsvoll über ihrer Brust zusammengelegt, ihre Füße waren durch eben jenen Aufsatz meinem Anblick entzogen. Einen in funkelndem Glanz erstrahlenden Reif in der Art eines Kranzes trug sie auf ihrem Kopf. Weiter war sie mit einer goldfarbenen Tunika umkleidet …« 156 Moderne Deutungen bewerten solche Erlebnisse als typische Eingebungen einer übersinnlichen Welt, wie sie aus Märchen und religiösen Schriften fast schon zur Genüge bekannt sind. Inhaltlich kann man heute mit der Bilderwelt früherer Epochen kaum noch etwas anfangen. Für mittelalterliche Menschen dagegen gelangen Verständnisprozesse am besten über Bilder. Das erklärt, warum Hildegards Mitwelt so begierig auf ihre Berichte war. In Bezug auf die »Seherin« oder »Hörerin« Hildegard ist bedeutsam, dass, wie sie selbst betont, der Empfang nicht über die üblichen Sinne der Augen und Ohren erfolgte, sondern mystisch, direkt durch die mit Gott verschmolzene, fühlende Seele. Die Menschen des Mittelalters waren außerdem – nach modernem individualistischem Bewusstsein schwer nachzuempfinden – begierig in der Erfahrung ethischer Prinzipien, die mit ordnenden Weltprinzipien in eins gesetzt wurden. Im Bild des Gewölbes erkennen mittelalterliche Menschen die Himmelskuppel über der damals noch überwiegend geozentrisch gesehenen Erdscheibe und verstehen so die Bedeutung des Beschriebenen in Bezug auf den gesamten Weltenkosmos. Formell gesehen stellen Hildegards mystisch erfasste Tugendbilder zunächst Inhalte einer damals üblichen Lebenspädagogik und Seelenhilfe dar. 157 Bei Hildegard als Seherin und Lehrerin sind allerdings die Menge, die Vielfalt, die Dichte, die gegenseitigen Bezüge sowie die ästhetische Schönheit ihres Materials außergewöhnlich. Ästhetisch gesehen ließ Hildegard nach feinstem Geschmack und in harmonischster Pracht auch ihre Klöster ausstatten, die Gewänder der Schwestern, 156 157

Zur Weisheitsgestalt zit. aus: Gnädinger, Louise: Deutsche Mystik, S. 22. Vgl. ebd., S. 14 f.

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die Handschriften. Das Geld dazu stammte vermutlich aus ihrer Familie. Hildegard offenbart mit ihrem gesamten literarischen und gestalterischen Wirken eine Kosmologie der Gestaltung und der Ordnung, deren Wert durch das Schöne besonders unterstrichen wird. 158 Für die mittelalterlichen Menschen war klar, dass die Weltordnung, darin der Mikrokosmos mit den irdisch-materialen und -sozialen Strukturen, nach geistigen Prinzipien wie den Tugenden bzw. der christlichen Heilslehre verfasst war. So gibt Hildegard existentielle Verankerung und Orientierung. Da heute die Weltgefüge versachlicht und zersplittert sind, mag das Verständnis solcher Kosmologie und Orientierung schwierig bleiben. Es fällt leichter, wenn man Hildegards Interesse an einer stimmigen Weltordnung in ihrem gesamten Werk gleichermaßen entdeckt und ihren Zugang von der seelisch-mystischen Erfahrung her versteht, der weniger an der Vernunft ausgerichtet ist als an der Offenheit und dem Mitgefühl für alle Lebensprozesse, angeregt von der Liebe Gottes, der sich als Mensch und Leidender zur Kreatur herabneigte. 159 Aus ihrem ganzen Werk spricht ein solch hoher Sinn für die harmonischen Beziehungen aller Lebensbereiche und -abläufe. Im Einzelnen geht Hildegard etwa auf das Verhältnis des Menschen mit seiner täglichen Arbeit zu den Naturgütern ein, in die er naturgegeben eingreifen muss, sie aber nicht ausbeuten oder gar zerstören solle. 160 Sie mahnt auch zur sorgfältigen Behandlung der Tiere, die im Gefüge des Kosmos den Menschen zur Seite gestellt seien. 161 Unverkennbar bezieht sie sich auf die Schöpfungsordnung nach dem biblischen Buch Genesis, das in Kapitel 3.1.2 auch für das Weltbild des Juden Maimonides als grundlegend angesehen wurde. Mit diesem Hinweis sollen die Explikationsweisen geistiger Traditionen vor Augen geführt werden, die über Kulturen und Epochen hinweg als lebensförderlich galten. Ähnlich seien die Rhythmen der Natur vorgegeben und dem Menschen mitgegeben, dass er sein Tagwerk dort einfüge. Beschaffenheit und Ordnung der Natur wurden dem Men-

158 Die außergewöhnlich schönen Buchmalereien leisten vielleicht auf meditativem Weg Hilfe, allein die ästhetische Betrachtung dürfte die Seele harmonisieren. Abgedruckt sind sie in: Hildegard von Bingen: Wisse die Wege. 159 Zu Gottes Liebe und menschlicher agape (lat. caritas) vgl. Hildegard von Bingen: De op., S. 78. 160 Vgl. ebd., S. 42. 161 Vgl. ebd., S. 284.

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schen zu seinem gedeihlichen Wirken vom Schöpfer eingeprägt. 162 Für mittelalterliche Menschen, die Naturgegebenheiten wie Rohstoffe, Erntefrüchte, Jagdtiere, Zeitzyklen nicht durch moderne technische Mittel wie dauerhafte Beleuchtung und Heizung durchbrechen konnten, musste eine solche Beschreibung der wechselseitigen Lebensgefüge plausibel sein. Und es war auf dem Hintergrund der Begrenztheit an Mitteln sehr wichtig, ökologische Ketten nicht zu zerstören, mit den Kräften und Gaben der Natur sowie mit der eigenen Leiblichkeit zu haushalten, daher die Tugenden der Selbstbeherrschung und des Maßhaltens zu pflegen. 163 Doch sind Hildegards Ausführungen nicht utilitaristisch gemeint, nicht einmal anthropozentrisch. Wohl waren die Nachteile von Übernutzungen gerade auch für den Menschen bekannt 164, doch deutet Hildegard dies nur als Zeichen der Verletzung einer höheren, absoluten Ordnung. Tiere und Pflanzen waren ihr zufolge weder Nutzwesen noch Gesellen, sondern aus dem gleichen Lebensstoff wie der Mensch geschaffen und insbesondere die Tiere dem Menschen seelisch-geistig verbunden. 165 Bei Hildegard partizipiert der Mensch an einer vorgegebenen Ordnung, die auch seine eigene Identität, seine Lebenskraft und sein Wohlbefinden konstituiert. Es ist ein biblischer Urzustand und Urgrund, der ethisch einzuhalten wäre (vgl. das in Kap. 3.1.3 bereits zu Hildegard und dem Vegetarismus Erwähnte). Der menschliche Leib, seine Gefühle und seine Vernunft sind hier eingebettet und wirken in ihren Lebensäußerungen, gelenkt von seinen Tugendkräften, wieder auf den Kosmos zurück in wechselseitiger Abhängigkeit und Harmonie. Das Vgl. Hildegard von Bingen: Heilkunde, S. 50. Vgl. Hildegard von Bingen: De op., S. 76. 164 Mit den permanenten menschlichen Umwälzungen der Umwelt, z. B. Besiedlungen der Flusstäler, Dünger- und Geräteeinsatz, gab es zu allen Zeiten Naturzerstörungen, vgl. Reichholf, Josef H.: Naturgeschichte, S. 144. 165 Vgl. zur metaphysischen Verbundenheit und zum Gebot des Nichtverletzens die Ausführungen zum Vegetarismus in 3.1.3 sowie FN 79 zu Schopenhauer, das Tat Tvam Asi als Manifestation des göttlichen Willens. Hinzuweisen ist darauf, dass es im Mittelalter keinen Tierschutz und keine Ökologie im modernen Sinne gab. Es geht bei Hildegard (ähnlich bei Franz von Assisi) um eine Haltung, bei der besonders auch die Tiere in der Bedürftigkeit der Kreatur gesehen werden, der das »Mitleid« (vgl. wieder Schopenhauer) gilt. Die Verfasserin meint, dass im heutigen Christentum Jesu scharfe Gebote des Nichtverletzens, des Einander-Ernstnehmens im Zwischenmenschlichen (Mt 5, 21 ff.) durchaus auf alles Leben übertragen werden könnten, was aber theologisch bisher kein Thema ist. 162 163

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tugendhafte Verhalten des Menschen trägt somit auch zur Konstituierung des Kosmos bei und begründet wiederum seine eigene Würde als Mensch. Kein Mensch könnte leben, wäre diese Ordnung gestört, denn sie selbst ist sein Lebensfaden, sein Wesen. Maßvolles Handeln und Rücksichtnahme sind für den Menschen wichtig und gut, denn sie bewahren seine gesamte innerlich-äußerliche Existenz: »[E]r könnte kein Mensch sein, wenn die übrigen Geschöpfe nicht da wären«. 166 Das heißt für Hildegard auch, alle Geschöpfe sind geeint durch die Einbindung der Lebensrhythmik in die Heilsgeschichte und durch das natürliche Zusammenwirken in ein letztes gemeinsames Heilsziel. 167 Auf dem Weg dahin zeigt sich der Kosmos als »ein labiles Gleichgewicht von Kräften« 168. Wo in der Gegenwart Einschnitte in die Lebensformen überall auffällig, schmerzhaft und unkontrollierbar geworden sind, wirken Hildegards Sätze wie ein Schattenwurf. Sehr offensichtlich kann nun nachvollzogen werden, was Hildegard mit der Ordnung des Lebensgefüges meint, die sich in allen Lebensformen entspricht. Heute erfahren Menschen, insbesondere oft Kinder oder sozial schlechter Situierte, an ihrem eigenen Leib die Auswirkungen der auf Effizienz ausgerichteten, Natur und Mensch übernutzenden Lebensweise. Zu nennen sind einerseits recht direkt nachvollziehbare Zusammenhänge mit der Gesundheit und dem Wohlbefinden, wie bei der auf Masse gepolten Billigernährung oder Hildegard von Bingen: De op., S. 284. Zu den beiden letzten Absätzen vgl. auch Kather, Regine: Wiederentdeckung, S. 45–48. »Tugenden«: Ähnlich wie die Griechen im Streben nach dem Schönen, Wahren und Guten so strebt auch die christliche Mystik nach oben, nämlich in die Vereinigung mit Gott. Die christliche Tugendhaftigkeit ist jedoch entsprechend Gottes Menschwerdung unter die Haupt-Tugend der Agape-Liebe gefasst, die die Haltung des Absteigens beinhaltet: Zum Nächsten, zum Leidenden, zu den Mitgeschöpfen in der Natur. So wird wirklicher Sinn für die Natur als Wertvolles und Pflegenswertes erstmals im Christentum etabliert. Zugleich ist der Mensch, biblisch begründet im Dominium terrae, Gen 1,28, aus den Zyklen der Natur herausgerufen in die Einmaligkeit des Handelns. Im Zusammenspiel mit der Agape-Liebe dürfte der Zusammenhang von Ökologie und Ökonomie exemplarisch gewahrt sein. Vgl. Seubert, Harald: Europa, S. 77–79. Vgl. konkret zu Hildegard schon FN 159. 168 Kather, Regine: Hildegard interkulturell, S. 63. Vgl. zum einige Sätze zuvor erwähnten »Urzustand« a. a. O., S. 92–95. Entsprechend der Annahme eines eigenwertigen Naturgefüges hat die moderne Ökologie erkannt, dass es mit dem Schutz einzelner Tier- und Pflanzenarten nicht getan ist: S. 95. Leben, besonders auch das menschliche, ist Partizipation (an natürlichen und soziokulturellen Kräften) und nicht Autonomie – so das Resümee bei Regine Kather: Leben, S. 216. 166 167

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auf Zeitgewinn ausgelegten Arbeitsweise. Der allgemein zu hohe Fleischverzehr hat medizinisch unbestreitbar zu einem Anstieg der Zivilisationskrankheiten geführt oder macht diese mit biochemischen Problematiken des Eiweißstoffwechsels, der Verdauungs-Mikrobiologie, des zellulären Säure-Basen-Haushaltes geradezu aus. Hinzu kommt ein Übermaß an leeren Kohlehydraten und ungünstigen, zumeist tierischen Fetten, die ebenfalls im Einzelfall leicht zu Dysfunktionen und Leiden führen. Zum anderen können in der Gegenwart latente Zusammenhänge gesehen werden, die fachlich nicht beweisbar sind, aber immer häufiger geahnt werden, als bestünde ein tiefes Unwohlsein darin selbst, dass Menschen in die Lebensgefüge brutal eingreifen. Zwei Beispiele sollen das verdeutlichen: Ganz »normal« ist für uns das Durchbrechen der Tag-NachtRhythmik geworden durch immer flexiblere Möglichkeiten bzw. Notwendigkeiten der Lebensführung (nächtliche Aktiv- und Arbeitszeiten und, auch in Wechselwirkung, Konsum- und Freizeitangebote, ja sogar Fitnessstudios). Wenn aus Berufsgründen Betroffene Einschnitte oder Symptome an Gesundheit und Wohlbefinden verspüren, wird die flexible Rhythmik von den Vorgaben als notwendig und gewöhnungsfähig angesehen. Der Schweizer Verhaltensphysiologe Jürgen Aschoff machte das Fachgebiet der Chronobiologie bekannt und erforscht medizinische Parameter der Gesundheit zum WachSchlaf-Rhythmus, die er »circadiane« (etwa: »Tageszeit-zyklisch wiederkehrende«) Größen nennt. So konnte er u. a. feststellen, dass Botenstoffe, die die mentale Aufmerksamkeit oder den Arbeitsgang der inneren Organe steuern, grundsätzlich Tageszeiten-abhängig sind. Weichen die Lebensverrichtungen zu stark von den aktiven Zeiten der beteiligten Organe (z. B. Herz, Verdauungsorgane) ab, kann das diese Organe krank machen. Im Einzelfall kann man Krankheitssymptome nicht zwingend darauf zurückführen, aber Aschoff erregt Aufmerksamkeit darin, Beruftstätige offiziell vor der immer öfter gebotenen Schichtarbeitspraxis möglichst zu schützen, die wirtschaftlich Menschen an Maschinen-Rentabilität, das pausenlose Tätigsein, anzupassen bezweckt. Aschoffs Studien machen aufmerksam auf eine unnatürliche und problematische Derhythmisierung des modernen Lebens. Sie korreliert mit einer völlig künstlichen Wahrnehmung der Zeit und Abhängigkeit des Tageslaufs nach dem Skalentakt der Uhr, die ihrem Sinn nach einst nur Messinstrument war. 169 Ein ande169

Vgl. Aschoff, Jürgen: Innere Uhr. Zum wirtschaftlich taxierten Umgang mit der

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res Beispiel ist das Empfinden zahlreicher Menschen, mit dem Fleischverzehr aus der Massentierhaltung und -schlachtung nicht nur messbare toxische Stoffe wie Hormone oder Antibiotika in sich aufzunehmen, sondern auch das gesamte Leiden des Tieres, Todesangst und Todeskampf, ja den ganzen menschlichen Frevel dieser Art von Umgang mit den Tieren. Biochemisch wären es Stoffe und Muster der Aggression und Dominanz, die für Jäger und Sammler noch sinnvoll erscheinen, aber in der Massenwirtschaftsstruktur so gesehen das zersprengte Gefüge permanent weitertreiben. Viele Menschen, die sich von konventioneller tierischer Nahrung abkehren, wollen damit Strukturen der Zerstörung an sich aus ihrem eigenen Organismus entfernen und stattdessen mit ihrem ganzen Leib, von der seelischen Verfassung begonnen, positive Kräfte in die Welt setzen. 170 Die genannten Beispiele übermäßigen Arbeitens, Produzierens und Konsumierens stehen im Kontext einer Lebensform, die politisch als »Wohlstand« für erstrebenswert gilt, ja sogar verteidigt werden müsse. Um hier auf die alte Tugend des Maßhaltens zu verweisen (vgl. im Kap. 3.1.1 zur mesotes-Lehre), so spricht Hans Jonas bei diesen übertriebenen Lebensformen vom Laster der »Völlerei«, gegen die eine neue Frugalität und Askese gefordert werden müssten. Die gesamte, auf »Partizipation« angelegte Biosphäre in ihrem Eigenwert steht nun unter dem Zugriff des Menschen – mit der besonderen Ambivalenz, dass die dadurch nötig gewordenen ökologischen Bemühungen dem Erhalt eines ganzen Planeten dienen. Noch nie beanspruchte dieser – im Plündern sowie in den Anstrengungen des Bewahrens – dermaßen die menschliche Aufmerksamkeit und fordert damit die »Durchbrechung der Anthropozentrik« zurück. 171 Tageszeit vgl. auch die Einführung der »Sommerzeit«. Die alljährliche Umstellung macht vermutlich den meisten Deutschen, weitgehend früh Aufstehende und Arbeitende, mit Schlafmangel und Stress zu schaffen, z. B. Arbeitnehmern in der Bewältigung ihres Pensums, Herstellern beim Steuern von Geräten, Kranken beim Regulieren ihrer Medikamente. 170 Vgl. Messinger, Nina: Nicht töten, S. 55 f. Es gäbe noch viele Beispiele, die unerträglich zu wissen und zu spüren sind, etwa das schon seit alters diskutierte Missverhältnis, dass ein Schlachttier das zehnfache Maß Futter braucht wie ein pflanzenessender Mensch; dass heute lt. Internetangaben ein Drittel der Erdoberfläche für die Viehwirtschaft benötigt wird (im Konflikt mit grassierendem Bevölkerungswachstum); die Groteske, dass unser medizinischer Fortschritt ohne Tierversuche nicht auskommt. 171 »Völlerei«: Für Jonas geht es mit Tugenden, heute »Werte« genannt, um Orientierungen im aristotelischen Sinn (nicht dagegen um Polarisierungen und Stigmatisie-

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Ähnlich zeigen beide Beispiele ein neues Gespür für das Einhalten und Maßhalten im Umgang mit den Vorgaben des Lebens und wie deren Überstrapazierung zurückschlägt und sich vervielfältigt in Leiden, konkreten oder diffusen, die jedenfalls eine grundsätzliche Verfehlung ausdrücken. Nun kann sich, um Hildegard von Bingen zu verstehen, ein Zirkel schließen, inwiefern eine geistige Verankerung, eine Schau des Lebens im Ganzen, zu einem diätetischen Leben dazugehört, ja, wie Texte wie die Genesis nichts an Aktualität eingebüßt haben. Rainer Hagencord weist darauf hin, dass viele mystisch Veranlagte, z. B. Nikolaus von Kues, ein ähnlich kosmogones Verständnis wie Hildegard besaßen und die Würde aller Lebewesen betonten. Allein schon mit der Haltung der Achtsamkeit, die eigentlich das Herz jeder Mystik ausmacht, ergäbe sich eine heilsame Weltsicht nach dem Muster von Ordnung und Maß. 172 Es wird durchsichtig, inwiefern Hildegard lehrt, dass Gesundheit oder Krankheit die Ordnung oder Unordnung selbst sind, in der der Mensch mit seiner Lebensweise steht. Auch wenn dabei nicht immer individuell schuldhafte Zusammenhänge vorliegen, und – siehe oben – oft gerade die Schwächsten der Gemeinschaft am stärksten leiden müssen 173, hat jeder Mensch seinen Möglichkeiten entsprechende Tugendkräfte, um sein Leben in Harmonie zu bringen. Der Mensch muss sich nicht auf Technik und Wissenschaft verlassen, die das vermeintlich Beste suggerieren, aber außer Kontrolle geraten sind. Die monströsen Rüstungsausgaben, die kommerzialisierte Gentechnologie oder die unstillbare Gier der Finanzwelt, der gnadenlose Kapitalismus, die Atomtechnologie oder das Schreckgespenst des Klimarungen im Sinne der machtkirchlichen katholischen Rezeption und Tradition), vgl. schon FN 24. Im ersteren Sinne sprechen heute viele von einem Verlust der Werte. Jonas hält dagegen, dass die »Völlerei«, die Ausplünderung der Erde, gerade zu einer Tugend, ja »Pflicht« geworden sei, geboten, weil die Kreisläufe des Kapitalismus darauf eingestellt seien: Technik, S. 67 f. »Durchbrechung der Anthropozentrik«: A. a. O., S. 46–48, 46. Die Verfasserin weist auf eine abscheuliche Normalität hin, nämlich die Ausbeutung der Bodenschätze in Afrika und Südamerika, z. T. in Kinderarbeit abgebaut, für das zur Kommunikation (und auch zum Spaß) üblich gewordene Handy. 172 Vgl. Hagencord, Rainer: Würde, S. 139–142. Vgl. das Goethe-Zitat in FN 126. 173 Die theologische Dogmatik spricht hierbei von »struktureller Schuld« als eines wesentlichen Ausdrucks der dem Sündhaften unterliegenden Welt in allen ihren Zusammenhängen. Vgl. KKK Nr. 1740, von der katholischen Dogmatik im Zusammenhang mit dem weiteren Freiheitsbegriff stärker thematisiert als von der evangelischen.

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wandels, das alles sind Katastrophenszenarien, die nicht hinnehmbar sind, ein Aufbegehren verlangen und ein Gegenlenken, soweit es dem Einzelnen in seiner Lebensführung möglich ist. Nun sind aber diese Szenarien durch Einflößung von Angst oder Lethargie selbst schon krankmachend geworden, sodass nur wenige Unverzagte wie etwa Stéphane Hessel aufstehen und »Empört Euch!« – »Engagiert Euch« ausrufen. Hildegards Menschenbild beruhte allerdings genuin auf der destitutio der Welt. Von der so anerkannten und noch heute offensichtlichen Schwäche der Menschen her erklärt sich Hildegards Einsicht, in Demut den Weltenbau als Gottes Werk anzuerkennen, sich betend Klarheit über den Zustand der Welt sowie Kräfte zur heilvollen Führung des eigenen Lebens zu verschaffen, aber insbesondere ein Vertrauen, wie es ein modernes Gedicht des Theologen Jörg Zink ausspricht: »Ich meine, unsere Zukunft habe ein anderer in der Hand / als der Mensch in seiner Ahnungslosigkeit / und seiner gefährlichen Selbstsicherheit. / Ich meine, es sei in der Welt eine andere / Weisheit am Werk / als die des Menschen.« Ordnung und Maß sollen also auch das Verhältnis von Eigenwirken und Gottvertrauen bestimmen. 174 Medizinisch, so viel steht fest, blieb Hildegard wie fast alle Heiler bis noch weit in die Neuzeit (z. B. Paracelsus im 16. Jh.) der Säftelehre des Galen treu. 175 Wenn in der Darstellung der »Anfänge« (Kapitel 3.1.1) von »Überholtheit« gesprochen wurde, so gilt das inhaltlich-materiell. Im Prinzip lehrt die Säftelehre das Wesen von Gesundheit und Krankheit als schwingend zwischen Stabilität und Labilität (vgl. oben das zum gesamten Kosmos Gesagte), d. h. zwischen einem ausgewogenen oder unausgewogen Verhältnis der den Organismus bestimmenden Kräfte. Was krank macht, sind immer Extreme oder Unausgewogenheiten, z. B. überwiegend ungünstige Ernährung, überwiegend zu wenig Schlaf oder Ruhe, Sich-Aufopfern für andere bei zu wenig Resonanz durch diese usw. Inhaltlich galt nach der Säftelehre des Galen (130–200 n. Chr., vgl. in Kapitel 3.1.1) die seelischgeistige Konstitution bzw. Verfassung in Verbindung zu den KörperAbsatz und Gedichtzitat nach: Berger, Gerhard: Empört Euch! Ärztliche Bemerkungen in einer Wendezeit, in: Natur und Medizin. Carstens-Stiftung 1 / 2014, S. 6 f. – Stéphane Hessel (1917–2013): Franz. Résistance-Kämpfer, Naziopfer, Diplomat, politischer Aktivist, Essayist erregte 2010 Aufmerksamkeit durch den Essay »Empört Euch«, in dem er harsche Kritik an gegenwärtigen politischen Zuständen übte und zum Widerstand aufrief. 2011 folgte der Essay »Engagiert Euch!«, beides ins Deutsch übers. v. Michael Kogon, Berlin 2011. 175 Vgl. Diers, Michaela: Hildegard, S. 93. 174

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vorgängen als von vier Körpersäften bestimmt (Blut, gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim; angelehnt die vier klassischen Temperamente sanguinisch, cholerisch, melancholisch, phlegmatisch). Dies war mit entsprechenden diätetischen und arzneilich-medizinischen Maßnahmen mittels Kombinationen von Eigenschaften »warm« – »kalt«, »trocken« – »feucht« zu beeinflussen. Es ist anzunehmen, dass Hildegard mit ihrem feinen Sinn für die Naturgüter und ihrer großen Kreativität komplexe Therapeutiken mittels Kräutern, Gewürzen, Lebensmitteln und Edelsteinen geschaffen hat. Anzumerken ist, dass man in vormodernen Epochen beim erfolgreichen Einsatz jeglicher Naturgüter am Menschen sowie mit geistigen Bezügen selbstverständlich als »Heiler« galt. 176 Von daher, wenn man von einer hohen Heilerbegabung bei Hildegard ausgeht, ist es doch nicht so verkehrt, dass sie uns heute primär als Therapeutin überliefert ist. Nur sollte man die geistlichen Grundlagen ihres Könnens und Wirkens nicht übersehen. Viele Wirkungszusammenhänge, wie bei dem eingangs genannten Beispiel der Zwiebel, sind uns aber heute unverständlich. Überzeugender erscheinen aktuell für manche Kranke oder Suchende Angebote (Bücher, Kurse usw.) mit alten asiatischen Therapieweisungen, z. B. nach chinesischer Tradition eine stark rationale »Yang«-Neigung durch Einflüsse für Gemüt und Sinne auszugleichen; eine stark abgrenzende »metallische« Neigung durch Beschäftigungen oder Speisen mit der verschwimmenden Kraft des Wassers; nach Ayurveda eine stark lethargische »Kapha-Neigung« durch anfeuernde Gewürze usw. In der europäischen Medizin hat bis heute die anthroposophische Richtung ein Modell des Ausgleichs beibehalten und versucht, es mit moderner Symptomatik zu füllen. Z. B. dermatologisch werden Krankheiten nach psychosomatischen Kriterien beurteilt, etwa, dass die verhärtete Haut der Psoriasis mit einem inneren Panzer gegen Emotionen zusammenhänge oder dass die offen-ekzematöse Haut der Neurodermitis an der Neigung liege, Verletzendes in sich hineinzufressen. 177 Schulmedizinisch sind solche Aussagen nicht möglich, weil sie 176 Seit dem modernen Verwaltungsstaat, beginnend Mitte des 19. Jh., hängen »Heilberufe« von einer anerkannten Ausbildung ab und vom Umgang mit gesetzlich eingestuften »Heilmitteln«. 177 Die Haut gilt in der Alternativ- und Komplementärmedizin als wichtiges Organ des Ausgleichs besonders wegen ihrer sozialen Barriere- und Kontaktfunktion. Vgl. Koob, Olaf: Kranke Haut S. 67, 95 f.

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nicht objektivierbar sind. Ihre Stärke ist, dass sie die leiblich-seelischgeistige Einheit des Menschen im Wechselspiel mit seiner Umgebung lehren, dass sie an die Eigenanteile und somit Eigenverantwortung des Patienten verweisen sowie an ein hohes Berufsethos des Therapeuten, frei vom Schuld-Gedanken, den Patienten zu Einsichten und Verhaltensänderungen anzuleiten. 178 Alle oben genannten Beispiele berühren Hildegard in ihrer Art als Modelle der komplexen Ordnung und des Maßes, nach denen das Leben geistig verfasst und so für den Menschen richtungsweisend sei. In der harmonisierenden und geistig verankerten Weise dieser Modelle geht es mit Ordnung und Maß immer auch um die leibliche Ganzwerdung. Das hohe aktuelle Interesse daran, man streife allein die Ayurveda-Literatur im Internet, gewiss mit Marktstrategien im Verbund, zeigt wohl dennoch einen ungebrochenen Wunsch vieler Menschen nach Wegweisungen, die die gesamt-leibliche Gesundheit, die Lebensweise und die Außenwirkung des Menschen ins Lot bringen wollen. In dieser Ausrichtung sollte man auch das Mittelalter besser bekannt machen, das diesbezügliche moderne Züge hat. Diätetisch gesehen erreicht Hildegard in Tiefe, Detailliertheit und Weite ihrer geistigen, aktiven und anhaltenden Wirksamkeit ein außergewöhnliches Profil. Zunächst ist dabei zu verzeichnen, dass ihre Entwicklung, von der persönlichen Anerkennung abgesehen, nicht durch Instanzen eingeschränkt war, wie die moderne öffentliche Infrastruktur es vorsähe. Im modernen Verwaltungsstaat ist es verboten, ohne anerkannten therapeutischen Abschluss und auf Basis eines metaphysischen Weltbildes heilerisch tätig zu sein, ohne Zertifikate und statuierte Marktwege Heilweisen zu verbreiten usw. 179 In 178 Das Ethos mahnt an den Therapeuten als Mensch und Seelsorger. In der modernen Medizin des 20. Jh. hat als Wichtigster der Arzt und Philosoph Viktor von Weizsäcker (gest. 1957) nach diesem Therapeutenbild gewirkt und visionär publiziert. Vgl. von Weizsäcker, Viktor: Pathosophie, S. 379–387. In von Weizsäcker spiegelt sich noch die alte Verbindung von Intellekt, religiöser Haltung und Leben wider. Mit »religiös« ist bei Weizsäcker zunächst die Gegenseite des modernen Machbarkeitsdenkens gemeint, eine Haltung, sich selbst als Sterblicher, als Mensch im ursprünglichen Sinn, zu begreifen. Nur so könne therapeutisch die Mensch-zu-Mensch-Beziehung gelingen. Von Weizsäckers Schriften sind bis heute nicht wirklich eingelöst worden. Im Betrieb der Schulmedizin bleibt für die ärztliche Selbstreflexion und das therapeutische Gegenüber gar keine Zeit. 179 Das wird zwar immer noch gemacht, ist aber nur im privaten Stil möglich (z. B. Verkauf selbstgesammelten Kräutertees auf einem Flohmarkt) und, sowie eine Hand-

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der lockeren Infrastruktur ihrer Zeit konnte Hildegard mit ihren Begabungen und den Möglichkeiten der Klosterlaufbahn selbst zur Institution werden – Nachwirkungen bis heute. Inhaltlich wirkt bei Hildegard die Schau des kosmos bezeichnend, die mit ihrer seelischen Verbindung zu Gott und der Schau der im Alltag gegenwärtigen Naturgüter einhergeht. Im Bemühen um die Harmonie zwischen Gott, kosmos und physis fällt die Sorge um die eigene Seele mit der Sorge um die Gesundheit und die gesamte natürliche und geistig verfasste Welt zusammen. Hildegards Lebensbild ist das der Teilhabe. Ihr Bemühen und ihre Sorge sind mitfühlend von der Liebe Gottes motiviert, der sich als leidender Mensch zur Kreatur herabneigte. Daraus ergibt sich nach Hildegard für den Menschen eine paideia bzw. auch arete der selbstverantwortlichen, letztlich aber gottvertrauenden Tugendhaftigkeit, deren nomos der Sinn für die geordnete Verfasstheit des gesamten Weltenkosmos und deren Leitschnur im Alltags- und heilerischen Handeln das Erstreben der gebührenden Mitte, mesotes, ist. Bei Hildegard korrelieren entsprechend vorneuzeitlicher Weltsicht geistige Strukturen mit den materiellen Erscheinungen des Lebens. Äußerst breit schwingt dabei der lebensweisende nomos zwischen der Fehlstellung (destitutio) der menschlichen Seele und einer möglichsten Integrität des Weltenkosmos. Man sieht hier sehr gut, wie Einstellungen nach den griechischen Tugenden zwar anders expliziert sind, aber dem Prinzip nach auch im mittelalterlich-christlichen Weltbild fruchtbar Anwendung finden. Für Hildegard hängt der nomos am Hören auf Gott. Eine geistig-materielle Korrelationenbildung hat die rein sachlich orientierte nachaufklärerische Zeit betont aufgegeben. Der Sinn für das Ganze ist seitdem gewollt verlorengegangen. Solch ein Sinn, ausgerichtet zwischen menschlicher Seele, menschlicher Tätigkeit und deren Folgen in der Außenwelt, das hieße auch ein leiblich gemeintes Menschenbild, wäre allerdings gegenwärtig aufgrund der ökologischen Demolierung der Welt und damit zusammenhängender menschlicher Leiden dringend notwendig. Es wird auch von vielen Menschen wieder gesucht. Strukturen der Selbstverantwortung sowie die Bereitschaft zum Maßhalten, die das Wohlfahrts- und Wohlstandssystem ausgeschaltet haben, müssten dabei aber wieder angenommen werden. Selbstverantwortung würde lung oder ein Produkt »medizinisch« einstufbar ist, nur unter der Maßgabe »Wo kein Kläger, da kein Richter«.

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auch eine Risikobereitschaft beinhalten, die nach Hildegard durch Gottvertrauen abgefangen werden könnte.

3.1.5 Paracelsus: Die Dosis macht’s Betrachtet man Porträts des Theophrastus Bombastus von Hohenheim, der in der ersten Hälfte des 16. Jh. lebte und sich selbst Paracelsus nannte, auf Darstellungen seiner Zeit, erblickt man einen erdverbundenen Gesellen. Der Schweizer war Sohn eines ländlichen Bergwerksarztes und bewahrte lebenslang Bodenständigkeit und Volksnähe. Er wurde in Bergwerkswesen, Hüttenchemie und Alchemie ausgebildet, bevor er Arzt studierte. Unglaublich breit gebildet, wissbegierig und lernfähig aus Forschung und praktischer Erfahrung, schuf er ein überreiches medizinisch-diätetisches Repertoire. Der vielseitige Autodidakt, der Kontakte zu Gelehrten pflegte (z. B. zu Erasmus von Rotterdam), bekämpfte erbittert medizinisch-etablierte Lehrmeinungen und blieb hier zeitlebens unversöhnlich. Hippokrates und Galen galten ihm nicht als Autoritäten. Paracelsus wird als tief gläubig, aber nicht kirchlich eingestellt beschrieben. Seine Medizin steht weltanschaulich auf vier Säulen: 1. der Philosophie im Sinne von Welterkenntnis, 2. der Astronomie im Sinne kosmologischer Bedingungen allen Lebens, 3. der Alchemie als Wissen von der Stoffzubereitung, 4. der Physik als natürliche Kondition und demütig zu beachtende Grenze. Konkret ist Paracelsus’ Therapeutik zufolge Fünffaches zu berücksichtigen, nämlich 1. das Ens astrorum – die Einflüsse der Gestirn, 2. das Ens veneni – das durch den Körper Aufgenommene (Gift), wobei hier die Dosis entscheidend ist, 3. das Ens naturale – die Konstitution, 4. das Ens spirituale – die geistigen Einflüsse, 5. das Ens Dei – der religiöse Einfluss. 180 Der Eigenbrötler und Unerschrockene soll durch Heilerfolge und Volkstümlichkeit äußerst beliebt beim Volk gewesen sein. Sein medizinisches Werk wird aus heutiger offizieller Sicht als reichhaltig, aber chaotisch angesehen, dazu medizinisch weitgehend unverständlich; Heilerfolge werden eher seiner Mentalität zugeschrieben. Allerdings spiegeln sich deren Züge, Paracelsus’ Unerschrockenheit gegenüber Instanzen, seine metaphysische Bindung, die Hochschätzung der Natur und die Breite seines Wissens 180

Vgl. Schipperges, Heinrich: Kosmos, S. 87–101, 122–135.

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und Wirkens in seinem Werk vielfältig wider. Wer sich möglichst unter vormoderner Perspektive mit Paracelsus’ Person und Werk befasst, dürfte inhaltlich ähnlich stimmige Zusammenhänge wie bei Hildegard von Bingen finden. Und genau wie dort erschließt sich das Werk aus dem Gesamtkontext. Jedoch wurde Paracelsus bisher nicht wissenschaftlich tiefgehend interpretiert, wie es bei Hildegard u. a. durch Heinrich Schipperges geschehen ist. 181 Paracelsus’ Wesen sowie sein theoretisches und praktisches Wirken machen ihn unbestritten zu einer herausragenden Persönlichkeit des diätetischen Paradigmas. Die Charakteristik »Arzt als Künstler«, wie sie die alten Griechen aufbrachten (vgl. Kapitel 3.1.1), trifft auf ihn bestens zu. Und wie bei Künstlern die Regel, so fand sein Werk und Wirken keine Nachfolger. Im 17. und 18. Jh. verfälschten empirisch vereinnahmende Methoden seine Absichten. Gerade die empirisch-systematische Erkenntnis, die sich mit Beginn der Neuzeit regte, hatte Paracelsus abgelehnt. 182 Im Grunde ist er mit seiner fühlenden, intuitiven Art als mittelalterlicher Heiler zu verstehen, und wir werden in diesem Kapitel sehen, welch zeitlose Haltungen damit verbunden blieben. Vermutlich liegt in Paracelsus’ berühmtem Satz »Alle Dinge sind Gift und nichts ist ohne Gift, allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift sei« die große Weisheit seiner Medizin und Diätetik verborgen. 183 Der Satz fasziniert in seiner ungeschliffenen Sprache noch heute, vielleicht wegen der etwas schummrigen Frage nach der Giftigkeit und ihrer Umgehung durch die richtige Dosis. In moderner glatterer Sprachform (etwa: »Die angegebene Menge darf nicht überschritten werden«) klingt er noch heute bekannt und plausibel, muss doch jedes Arzneimittel unbedingt seine Dosis festlegen – allerdings auch in die untere Richtung. Als Anwender schaue man auf die im Beipackzettel angegebene Menge, in der Regel gestaffelt nach Alter und Beschwerdegrad – »schlucke« und habe ein gutes Gefühl. In Paracelsus’ holpriger Ausdrucksweise schwingt aber viel mehr mit als nur die Warnung vor Gift und Überdosierung. Man muss dazu den Charakter dieses Heilers berücksichtigen und die Tatsache des Fehlens allgemeiner medizinischer Normen, Prüfinstanzen, Anwen181 Dafür besteht an der Echtheit seiner Schriften kein Zweifel, heute zugänglich z. B. in fünfbändiger, textkritisch überarbeiteter Werkeausg. aus dem Schwabe-Verlag in Lizenz der WBG. 182 Paracelsus selber benutzt häufig den Ausdruck von der »Kunst« des Arztes, z. B. in: Werke II Medizinische Schriften II, S. 416. Vgl. Benzenhöfer, Udo: Paracelsus, S. 7. 183 Heutiger Sprache angepasst zit. ebd., S. 126.

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dungsstandards in der Frühen Neuzeit, wenngleich Wurzeln dazu, wie oben angeschnitten, langsam sprossen. In dem Satz »Alle Dinge sind Gift …« liegt der Schwerpunkt auf dem nicht gesagten Prädikativen, gilt es nämlich, diese Dosis zu ermitteln. Der Satz verweist somit auf die Individualität bei der Medikation oder therapeutischen Anwendung: Genauestens muss mit der Dosiswahl auf das PatientenIndividuum, nach dessen ureigener Konstitution im Verhältnis zu einer bestimmten Lebens- und Anwendungszeit, nach aktuellen Lebensumständen, nach seelisch-geistigen Zuständen, nach gewohnter und aktueller Ernährung, nach Begleitarzneien usw. eingegangen werden. Bei Naturstoffen, wie man sie damals nur kannte, ist das Gebot solcher Sorgfalt noch offensichtlicher als bei synthetischen Mitteln. Darunter hat die Natur die Pflanzen, die in dieser Arbeit schon behandelt wurden, in komplexer organischer Verfasstheit ausgebildet, mit Spektren zahlreicher Wirkstoffe, Reaktionen und Wirkkombinationen 184, sodass eine nach Dosis und Rezeptur eindeutige Anwendung etwa eines Heilkräutertees schwer voraussagbar ist. In der Praxis kann man speziell bei Heilkräutertees die Erfahrung machen, dass eine Wirkung überhaupt erst ab einer bestimmten Dosierung einsetzt. Bald kann aber auch der Punkt der Überdosierung erreicht sein, z. B. bei den schon erwähnten Karminativa, deren Verdauungsförderung bei empfindsam Veranlagten in Diarrhö oder auch Obstipation umschlagen, bei längerem Gebrauch gar zur Kachexie (Auszehrung) führen kann. Praktisch erfordert die Frage nach der Dosis den menschlichen, insbesondere sensorischen Einsatz auf Patienten- und Therapeutenseite, denn in der Regel, da selten auf Anhieb getroffen, muss sich an die Dosis schrittweise herangetastet werden. Doch Ge184 Z. B. gibt es in keiner Frucht »den Stoff« Vitamin C in Form isolierter oder sysnthetisierbarer Ascorbinsäure, wie ihn die Nahrungsergänzungsmittel beeinhalten. In der Pflanze liegt Vitamin C in einem Komplex aus ca. 400 Stoffen vor, unter dem Ascorbinsäure nur als einer herausragt. Dieser Komplex ist durch Vernetzung gekennzeichnet mit Stoffen wie Kohlehydraten, Proteinen, Lipoproteinen, Bioflavonoiden, Lipiden. Nach Kenntnis der Verfasserin stellt in der Nahrungsergänzungsbranche nur die englische Firma Nature’s Own unter dem Attribut »Food State« solche Komplexe, in Nährmedien gezogen, her, in Deutschland verbreitet s. unter: www.naturvital.de / Food State. Für die Wirkstoffe der Teedrogen (Gerbstoffe, ätherische Öle usw.) sind Komplex-Beschreibungen kaum belegt, aber erprobte Erfahrungsgrundsätze, z. B. dass sich, wie mit FN 107 schon erwähnt, Einzelwirkungen in der Kombination von Drogen vervielfachen, lassen auch hier auf eine komplexhafte Struktur schließen.

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danken zum Umgang mit der Arznei sollen an wenig späterer Stelle vertieft werden. Zunächst, vom Welt- und Menschenbild her ist offensichtlich: Paracelsus’ Satz von der Dosis kennt nicht den genormten Körper nach Schulbuchwissen, sondern den Menschen in seiner komplexen Individualität als Leibwesen. 185 Als Leibwesen hat jeder Mensch seine eigene Gesundheit und Krankheit. Friedrich Nietzsche nennt es später, wie noch genauer ausgeführt werden wird, so: »Der Leib ist das Selbst des Menschen« – oder unverfrorener: Hinter jedem Menschen steht ein »mächtiger Gebieter, dein Leib«. 186 Der eigene Leib ist unhintergehbar, die Muster, in die er zwingt, sind individuell – und dem gesunden Menschen in der Regel unbekannt. Insofern sind viele heutige Angaben zu den Qualitäten und Quantitäten gar nicht so sicher ermittelt, wie sie erscheinen. Noch weitgehend ungeklärt ist beispielsweise der Ablauf der Stoffwechselprozesse im Menschen, d. h. wie welche Stoffe biochemisch umgesetzt werden, warum manche Nähr- und Vitalstoffe beim einen Menschen offenbar besser resorbiert werden als beim anderen – oder gar ungewollte Kettenreaktionen nach sich ziehen. Die Allergieforschung ist angestrengt mit solchen Fragen befasst. Der schon eingangs zitierte Hermeneutiker Hans-Georg Gadamer nennt daher die Gesundheit »verborgen«, d. h. mit Messwerten habe sie nichts zu tun. Das Finden des Individuell-Zuträglichen nennt Gadamer an anderer Stelle ein »Mitgehen mit den Lebensvollzügen«, womit er einen wachsamen Umgang mit der Gesundheit nach Sinn, Gefühl und Vernunft meint. Das betrifft sowohl jeden Menschen im Umgang mit dem eigenen Selbst als auch das Therapeutenethos, das von Vorschriften, einem Beherrschen des Kranken tunlichst abzusehen habe: »›Therapie‹ heißt Dienst«. 187 Ganz in diesem Sinne betont 185 Paracelsus betont bei allen pathologischen Beschreibungen und Ursachenforschungen die leibliche Verfasstheit des Menschen als Zusammenwirkung und Einheit von seelisch-geistigen, außenweltlichen und körperlichen Faktoren. Z. B. bei MagenDarm-Beschwerden sieht er als Eigenanteile der Patienten eine ungünstige Verortung ihrer Lebensschwerpunkte (z. B. falsche Eitelkeiten könnten damals wie heute genannt werden, d. Verf.), sodass der intestinale Stoffwechsel blockiert sei, verglichen mit dem Stoffaustausch in der Natur, etwa der Steuerung von Wind und Wetter nach den Himmelsrichtungen. Auffällige Ähnlichkeiten zu Hildegard von Bingens Weltbild werden weiter unten noch behandelt werden. Vgl. Paracelsus: Werke II Medizinische Schriften I, S. 90–94. Siehe insbes.: »Miß die besondere Art der Schmerzen allein der Stätte zu, die in solcher Eigenschaft steht«, S. 94. 186 Nietzsche, Friedrich: Verächter, in: KSA 4, S. 39 f. 187 Gadamer, Hans-Georg: Verborgenheit, S. 7, 76, 139–142. Zitat S. 141. – Die vor-

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Paracelsus eine nötige Demut des Heilers, seine Aufgabe als ein von Gott verliehenes Amt anzusehen. 188 Paracelsus’ Satz von der Dosis mag noch faszinieren, doch offiziell gilt er nicht mehr. Die folgenden drei Beispiele aus relativ geläufigen Regelwerken sollen, nun zum Umgang mit der Arznei, pointieren, wie jetzige Medizin im Kontrast zur diätetischen Sicht es mit den Quantitäten der Verabreichungen hält: a) b) c)

Der Tagesbedarf einer erwachsenen Frau an Eisen beträgt ca. 15 mg pro Tag. Leukämiekranke über 60 Jahren werden nicht mehr am Rückenmark operiert. Ab einer Zufuhr von 1 TL Johanniskrautdroge (getrocknetes, zerkleinertes Kraut) sinkt die UV-Lichtempfindlichkeitsschwelle gefährlich herab. Hellhäutige Personen sollten die Droge am besten ganz meiden bzw. sich nach Verzehr nicht dem Sonnenlicht oder Solarium aussetzen. (Anm.: Für Fertigpräparate gibt es Regelungen in Milligramm-Angaben.)

Wie solche offiziell schematischen Regulierungen mit der individuellen Realität kontrastieren können, sollen die folgenden Erfahrungen aus der Praxis zeigen, die der Verfasserin in ihrer diätetischen Arbeit zugingen: Zu a): Bei einer Mitte Zwanzigjährigen wurde neben dem eigentlichen Untersuchungszweck Eisenmangel diagnostiziert. Sie hatte nie entsprechende Beschwerden gehabt, aber wurde nun vom Arzt vor drohenden Schwächezuständen und anderen Symptomen gewarnt. Viel Grüngemüse, das sie dann aß, verbesserte den Wert sichtige Haltung bei der Medikation haben im modernen Therapieangebot nur das homöopathische und ihm nahestehende Verfahren beibehalten, wonach die Arznei bzw. Dosis in gründlicher Anamnese ermittelt und vom Patienten »eingeschlichen« wird. – »Messwerte«: Weil jedes Lebewesen individuell auf Einflüsse reagiert, ist es verkehrt, die Schädlichkeit von Stoffen durch Grenzwerte festlegen zu wollen. Außerdem wird dabei das Komplexe einer Wirkung nicht berücksichtigt, die Mitwirkung der Psyche, der individuellen Konstitution u. v. a. m. Grenzwert-Festlegungen stehen in der cartesianischen Tradition, den Körper als Maschine zu denken, ähnlich wie die Nahrungs(ergänzungs)mittelindustrie mit ihrer Auffassung von der Analyse und Substitution einzelner Stoffe, wie weite Teile der Biotechnologie mit ihrem Ziel vom Austauschen von Defekten. 188 Vgl. Paracelsus: Werke II Medizinische Schriften II, S. 277 f. mit Vergleichsbeispiel der von Gott autorisierten Heiligen.

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nicht, offensichtlich ein Resorptionsproblem. Sie nahm folglich Nahrungsergänzungsmittel, die heftige Obstipationen zur Folge hatten. Ihr Arzt sagte, das könnte bei synthetischen Mitteln auftreten und empfahl ein natürlicheres Präparat. Die Obstipationen setzten sich aber fort, sodass die Patientin wegen Völleschmerzen kaum noch essen konnte, abmagerte und schwächlich wurde. Außerdem stellten sich Folgeschäden am Darm ein. Als sie die Eisen-Frage ignorierte, verbesserte ihr Zustand sich langsam wieder bis zum Vorzustand. Seitdem sind 20 Jahre vergangen, die Frau hat eine Tochter, beide sind gesund und aktiv. Zu b): Für eine schwer Leukämiekranke wäre das Mittel der Rückenmarkstransplantation aussichtsreich gewesen. Als 61-Jährige fiel sie unter die gesetzlichen Ausschlussgruppe für diese Maßnahme. Nach ihrer eigenen Einschätzung fühlte sich die Frau mit athletischer Statur körperlich kräftig genug für den Eingriff und die Folgebehandlungen. Da sie aus eigener Tasche beides nicht bezahlen konnte, vertraute sie der medizinischen Linie, dass die Chemotherapie das Beste für sie sei. Sie machte zwei CT-Durchgänge im Verlauf von eineinhalb Jahren durch. Der erste beförderte nach anfänglicher Stabilisierung einen ungeahnt schlimmen Krankheitsschub, nach dem zweiten Durchgang starb sie qualvoll. Zu c): Johanniskraut als Teeaufguss war, wegen seiner Wirkungen sowie auch wegen seiner Ernte-Ergiebigkeit und guten Lagerfähigkeit, jahrhundertelang ein Haupt-Heilkraut der ländlichen Bevölkerung als Stimmungsaufheller, Schmerzmittel und Antiseptikum. Keines der alten Kräuterbücher, die alle aus der Erfahrung zusammengetragen wurden, nennt einen Fall von Sonnenverletzung unter dem meist draußen lebenden Landvolk (das zugegeben abgehärteter war als wir). Heute gibt es noch wenige Kräuterfreunde, die zugleich Naturfreunde und Draußen-Liebhaber sind. Aus ihren Reihen und in eigenen beruflichen Erfahrungen wurde der beschriebene Zusammenhang ebenfalls noch nie verlautet. Der große Unterschied zwischen Paracelsus und heute ist: Bei Paracelsus wurde nichts definiert. Heute dagegen wird alles definiert, mengenmäßig oder anders. Unzählige Definitionen liegen in der Möglichkeitsform, z. B.: »Kann Spuren von Erdnüssen enthalten«. 189 189 Der Soziologe Ulrich Beck beschreibt in »Weltrisikogesellschaft«, wie mögliche Katastrophen durch regulierende Maßnahmen beim Individuum und in der Gesell-

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Nachdem moderne Rechte im Schwergewicht Schutzrechte geworden sind, erstreckt sich das Sicherheitsstreben auf weitestgehende Eventualitäten. 190 Selbstverständlich wären die Unwägbarkeiten in den Lebensumständen der Frühen Neuzeit heute nicht mehr akzeptabel. Zu Paracelsus’ Zeiten herrschten Pest und Feuersbrünste. Zu beachten ist aber, wie viel Gespür, gesunder Menschenverstand und Kreativität abhandenkommen kann durch die Überregulierung. Die Überregulierung ist die Kehrseite der negativen Freiheit, ungefährlicher als Feuersbrünste, aber subtiler. Es geht mit diesen Überlegungen, wie an früherer Stelle schon ähnlich gesagt, nicht um Vergangenheitsverherrlichung, denn insbesondere die Krankheitsleiden früherer Jahrhunderte waren grausam und das private und kollektive Leben äußerst hart. Soziale Exzesse wie die Judenverfolgungen oder Hexenverbrennungen waren zum großen Teil Äußerungen aufgestauter Nichtbewältigung von Lebensumständen (die Opfer wurden als Sündenböcke bezichtigt, z. B. »Brunnen vergiftet« oder »das Wetter verhext« zu haben). 191 Heute kann es nur um den prüfenden und integrierenden Umgang des Überlieferten gehen gegenüber aktuellen Herausforderungen wie der Überlastung des öffentlichen Gesundheitssystems. Ein nach ganzem Leibe, Sinn, Gefühl und Vernunft wachsamer Umgang, wie es oben in der Erwähnung Gadamers hieß, des Einzelnen mit seiner Gesundheit wäre danach dringend geboten. schaft bereits ständig antizipiert werden – ein Dauersitz auf dem Pulverfass – doch sind wir dagegen abgestumpft: S. 29–36. 190 Der Topos der Schutzrechte gilt seit Einführung des Gedankens der negativen Freiheit durch Thomas Hobbes, maßgeblich mit dessen staatstheoretischen, die Staatsgewalt autorisierenden Hauptschriften, Leviathan (1651) und Behemot (1668). Vgl. eine berühmte Definition Hobbes’ im Leviathan: »Staat ist eine Person …, die Macht aller zum Frieden und zur gemeinschaftlichen Verteidigung (nach dem Kontext administrativ gemeint, nicht militärisch, d. Verf.) anwende.« In: Philosophisches Lesebuch, S. 215. 191 Um es noch einmal herauszuheben: Besonders katastrophal wirkte die mangelnde Hygiene, die sich gesundheitlich überwiegend durch qualvolle Infektionen im MagenDarm-Trakt äußerte. Den stärksten Infektionsherd bildete hier das Trinkwasser (wie noch heute in Entwicklungsländern). Vgl. Jankrit, Kay Peter: Gott und schwarze Magie, S. 79–81. Die städtischen Wasserversorgungen, angegangen in den 1850er-Jahren, die erste fertig 1866 in London, beruhend auf den Erkenntnissen von John Snow, in Deutschland durch Max von Pettenkofer, stellten daher den wichtigsten Einschnitt in die Volksgesundheit Europas dar: Vgl. schon FN 38 sowie Osterhammel, Jürgen: Verwandlung der Welt, S. 260–262. Ab dem Spätmittelalter bildeten in Deutschland die Pestepidemien geradezu infernalische Erschütterungen der Gesellschaft bis in die Grundfesten: Vgl. Jankrit, S. 99.

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Entsprechend dem schon Beschriebenen zeigt sich, wie vorher in dieser Arbeit schon festgestellt, die Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit als ein im Fluss Begriffenes. Wann Johanniskraut wen schädigt, hängt demnach von zahlreichen Faktoren ab, auch wann die gute bürgerliche Küche das Maß des Stoffwechsels überschreitet. Im Sinne der Diätetik gilt es, die allgemeingültigen und individuellen Gesundheitsfaktoren zu kennen bzw. zu erspüren sowie im Überwiegenden günstig zu halten. In Bezug auf eine diätetische Lebensführung ergibt sich grundsätzlich, wenn mit Paracelsus die Dosis über Gesundheit und Krankheit entscheidet: Als extrem oder einseitig erlebte bzw. zu erkennende Einflüsse sind zu meiden, d. h. auf das Überwiegende kommt es an, z. B. in der Nahrungsmittelauswahl, in der Stressbelastung. Die Mengenfrage, darunter auch die Dosis-Frage einer Medikation, ist die alte Frage nach dem zuträglichen Maß, der mesotes, eine individuell und zeitpunktuell nicht fixe Größe. Sie muss, wie schon gesagt, kein Mittelwert sein, erstrebt aber den Ausgleich auf Ebene der Ursachen des Leidens und des Eigenpotentials. Standardwerte sollten als Anleitung oder Warnung dienen, aber im Prinzip unverbindlich bleiben; das eigene Erspüren sollte Leitschnur sein. 192 Mit der leiblich-individuellen, zu erspürenden mesotes-Frage verweist Paracelsus’ Satz von der Dosis auf ein weiteres großes diätetisches Thema: Selbstverantwortung als ethische Kategorie. Gadamers oben zitiertes »Mitgehen« oder der wachsame Umgang mit sich selbst würde, im diätetischen Skopus dieser Arbeit ausgedrückt, beinhalten: Die Sorge um sich selbst will erlernt werden. Tausende leicht verfügbare, genormte Pharmazeutika für Alltagsleiden können uns Heutigen Schmerzen und körperliche Einbußen abnehmen, können mit ihrer Suggestion von Sicherheit aber auch die tiefere Beschäftigung mit dem Leiden oder sogar die Heilung verhindern, ja, überhaupt die Souveränität zum eigenen Leben, wie sie im Maimonides-Kapitel mit dem pädagogischen Begriff der Capability verglichen wurde. Meldungen vom Medikamenten-Übergebrauch der Deutschen sind, trotz leichter Rückgänge seit der Pflicht zu »Zuzahlun-

192 Es geht hier nicht um akute Notfälle, die in fachärztliche oder klinische Hand gehören. Allerdings bei chronisch auf Medikation oder auf technische Mittel angewiesenen Kranken zeigt sich in der Regel, wie langwierig auch in diesem schulmedizinischen Kontext das »Herantasten« oder das »richtige Einstellen« vonstattengehen, z. B. beim Herzschrittmacher.

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gen«, schon zur Litanei geworden. Bekanntermaßen erreichen die meisten Pharmazeutika nur Symptome des Leidens, insbesondere die rechtlich als frei verkäuflich eingestuften. Das Symptom, von griech. ptosis – »Fall«, ist das, was einem äußerlich »zufällt« oder was die Krankheit »auffällig« macht, Gesundheit dagegen trägt ihr inneres Maß in sich. 193 Pharmazie sollte daher nur Stimulans sein und Ausnahme bleiben. Paracelsus’ Satz von der Dosis variiert insofern die Perspektive einer viel älteren Weisheit, dass nämlich unter allen leiblichen Anwendungen (»Alle Dinge sind Gift«) insbesondere die Arzneimittel kritisch seien, vergleiche ihre altgriechische Bezeichnung: pharmakon – »Gift«. Man kann auch sagen, ein Arzneimittel ist ein Wirkkonzentrat und daher schon von Grund auf ein Extrem. Im Individuellen gesehen sollte gefragt werden, ob es in Ordnung ist, sich jahrzehntelang um die eigene Gesundheit nicht zu kümmern in der Meinung, es stehe überall billige Abhilfe bereit (»Wenn ich mal krank werde, dann geh’ ich eben zum Arzt«). Im 18. Jh. nimmt der Philosoph und Dichter Novalis (eigentlich Friedrich Freiherr von Hardenberg) Paracelsus in der Weise auf, dass jeder sein eigener Arzt sein solle. Dieser aufklärerisch gesinnte Romantiker betonte die lebenskünstlerische Seite der paracelsischen Heilkunde, schätzte es, dass mit ihr Leiden und Tod als kreativitätsfördernd angesehen wurden. Novalis hatte gründlich beobachtet, wie die Anamnese einer »plötzlich« ausgebrochenen Krankheit lange Lebensgewohnheiten offenbarte, die meist eng mit der individuellen Konstitution zusammenhängen (z. B. die Essgewohnheiten) – was jedenfalls in die Pflicht rufend war. 194 Die mesotes in ihrer großen Affinität zur Verantwortungsfrage tangiert immer auch die Maßhaltung einer Gesamtgesellschaft. Beim Pragmatiker Paracelsus finden wir keinen geschlossen ausgearbeiteten, spirituell basierten kosmologischen Entwurf wie bei Hildegard von Bingen, dafür aber die gleichen Einsichten, unverblümt geäußert, über die Zusammenhänge zwischen einem gottgefälligen oder jedenfalls verantwortlichen Leben, der Außenwirkung des Tuns und der eigenen gesamt-leiblichen Gesundheit. Mithin ist bei ihm auch der Wirkzusammenhang einer Arznei nie rein materiell gemeint. Damit führt Paracelsus bei all seiner wissenschaftlichen Neugier das alte Erbe über die Schwelle der Neuzeit, dass die Lebensgüter im Gefüge 193 194

Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Verborgenheit, S. 137–139. Vgl. Schipperges, Heinrich: Kosmos, S. 235–238, 258 f.

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eines geistigen Weltentwurfs stehen. 195 Die Weisung des Maßhaltens berührt die Lebenszusammenhänge deutlich: Ein überspanntes Maß reißt Lücken auf, die in einem sozialen Netz wie heutzutage sehr viele Menschen betreffen. Z. B. hängen zurzeit das Ansehen und die Messschnur der modernen Medizintechnik so hoch, dass sie das ganze Wohlfahrtssystem mitbestimmen. Wenn demnach das aristotelische »gute Leben« als maximale Versorgung des Einzelnen angesehen wird, so verbleibt soziale Ungerechtigkeit (abgesehen von ökologischen Schäden), weil niemals alle individuellen Wünsche zu versorgen bzw. zu finanzieren sind. 196 Einige Beispiele, die auch im Hildegard-von-Bingen-Kapitel zum Thema von Ordnung und Maß noch hätten genannt werden können, wollen solche Missverhältnisse verdeutlichen: Eine ganze Gruppe praktisch unversorgt Leidender (insofern hier zwar aufwändig behandelt, aber nichts gelindert werden kann), ist die Gruppe der nierenkranken Dialysepatienten. Laut Internet gibt es davon 70.000 in Deutschland. Darunter führen insbesondere einige Tausend von Kindheit an Kranke ein qualvolles Leben zwischen Dialyse und Schmerzen, ohne persönliche und soziale Entfaltung. Ein Fortschritt in der einzig wirklich hilfreichen Organ-Transplantationstechnik stagniert seit Jahren, auch aufgrund rückgängiger Spendenbereitschaft. – Ganz anders sind Herz- oder Hüftgelenksoperationen aufgrund degenerativer Beschwerden relative risikooarme Serieneingriffe geworden, unabhängig von den Eigenanteilen (z. B. Ernährungsweise, Übergewicht) der Patienten. Insofern hierbei eine Verhaltensänderung allenfalls erst hinterher angeregt wird, suggeriert man Millionen von gleichgültigen Noch-Gesunden, sie könnten immer so weiterleben wie bisher. Ähnlich können Hobby-Extremsportler, wenn sie sich ausreichend versichert haben, im Fall schwerer Sportverletzungen ihren lädierten Körper bestmöglich wiederherstellen lassen. 197 Wegen überbordender Kosten, so auch bei den Gesundheitsausgaben für Raucher, sind für diese Klientel allerdings schon Vgl. Paracelsus: »Darum soll der Mensch nicht dem natürlichen Leibe leben, sondern dem ewigen …«, in: Werke III Philosophische Schriften, S. 346, ähnl. 304 u. ö. Beipiele solcher Lebensführung vgl. in: Werke IV Theologische u. a. Schriften, S. 166– 185. 196 Vgl. Kather, Regine: Leben, S. 195 f. 197 Vgl. den Artikel von Mallmann, Daniela: Der zerbrochene Rücken. Nach dem fatalen Sprung ins Wasser bin ich ein Kunstobjekt aus Knochen und Titan, in: Publik-Forum Extra. Übergänge Körper, Geist und Seele 4 / August 2010, S. 13 f. 195

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öffentliche Diskussionen in Gang. Was derzeit noch die soziale Ungerechtigkeit anbetrifft: Ein LKW-Fahrer kann sich eine medizintechnische Behandlung für seinen berufsbedingt geschundenen Rücken nicht leisten. 198 Ein ethisch schwierig zu beurteilendes Beispiel betrifft aktuell den »Fall« der Geburt des Menschen nach den Möglichkeiten der professionellen Kliniktechnik. Während dabei in Deutschland die meisten Geburten reibungslos verlaufen, so führen zunehmend auch Risikoschwangerschaften, mit verursacht durch immer ältere Mütter, zur Geburt. Der hohe Kostenanteil solcher Geburten, meist mit Kaiserschnittverfahren und umfangreicher Nachbehandlung der Kinder, hat nun den Haftpflichtversicherungsanteil für Hebammen innerhalb von zehn Jahren von ca. 500 auf 5.000 Euro erhöht, was eine Hebamme nicht aufbringen kann. Bisher fand sich öffentlich keine Lösung, um den immer schon mühsamen Status der Hebammen aktuell vor dem Aussterben zu bewahren. Zwar ist dieser Beruf ideell heute hoch angesehen (vgl. Gegenteiliges in Kapitel 3.1.3), doch schwindet seine wirkliche Lobby. Die ihm Nahestehendsten, werdende Mütter, wählen, so erklärt es eine erfahrene Hebamme, »in einer kinderfeindlichen Gesellschaft« immer öfter Geburt und Baby nach Maß, d. h. auch den Kaiserschnitt ganz ohne Indikation, gemäß den Möglichkeiten der klinischen Apparatur. Eine freie Wahl der Entbindung in einem Geburtshaus oder zu Hause wird es für entsprechend eingestellte Mütter wohl bald nicht mehr geben. Jedes Menschenleben hat somit prinzipiell unter staatlicher Aufsicht zu beginnen. 199 Aktuelle Wünsche nach mehr Natürlichkeit und leiblicher Perspektive, vergleiche den Schluss des Hildegard-Kapitels, scheinen sich unter allgemeinen Maß- und Werteverschiebungen nur schwer durchzusetzen. Zu einer am Schluss des Hildegard-Kapitels erwähnten Risikobereitschaft, die auf einer anderweitigen Vertrauensbasis stehen müsste, ist noch zu erwähnen, dass durch den klinischen Apparat

Neben vielen anderen benachteiligten Gruppen könnten insbesondere die zahlreichen psychosomatisch-chronisch Kranken genannt werden (z. B. Herz-, MagenDarm-Kranke, Schlafapnoiker), die vermutlich deshalb schwer mit Standardmethoden erreichbar sind, weil sie insbesondere an den Eigenschaften des Systems selber leiden (an Perfektionsdruck, menschlicher Kälte, Schnelllebigkeit usw., d. Verf.). 199 Vgl. den Artikel von Hildebrand, Martina: Andere Umstände. Hebammen sind von jeher unerlässliche Helferinnen. Nun droht ihnen das Aus, in: NZ-Magazin am Wochenende, 8./9. 3. 2014, S. 1. 198

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der einst vertraute Familienrahmen immer mehr ersetzt oder verdrängt wird. 200 Einige letzte Beispiele: Sehr krass geht die neuerliche Lebensmittelkennzeichnung im Ampel-Muster am Komplexen der Lebensmittelqualitäten, an leiblich-individuellen Bedarfsstrukturen und an der Mündigkeit erwachsener Menschen vorbei. Schließlich muss zur Überregulierung im Medizinwesen gesagt werden, dass sie auch auf der Therapeuten- und Herstellerseite Kreativität und Möglichkeiten nimmt. 201 Die Vernetzung des Medizinwesens mit dem Profitinteresse der Wirtschaft tut noch ein Übriges. Dadurch erscheint das Angebot zwar differenziert, aber es ist nicht vielseitig, sondern muss zwangsläufig Standardisierungen gehorchen. Um in diesem Sinn noch den wohl größten Schlag gegen Paracelsus zu nennen: die immer länger werdenden Beipackzettel – und jeder lautet fast gleich. Paracelsus’ diätetische Persönlichkeit ergibt sich auffällig daraus, dass er das Nicht-Objektivierbare und folglich in die individuelle Pflicht Nehmende von Gesundheit und Krankheit auf Therapeutenund auf Patientenseite vertrat. Verhielt er sich dem medizinischen Bestand seiner Zeit gegenüber diskursunfähig, so können wir Heutigen auf jeden Fall den relativen Charakter medizinischer Vorgaben akzeptieren, gemessen an den selbst erspürten und erkannten wirklichen Zuständen des eigenen Leibes. Auffällig zeigt sich das InPflicht-Nehmende bei Paracelsus an seiner Einstellung zur richtigen Dosis, die in sensibler Weise ermittelt werden will. Die obigen Ausführungen fokussierten den Satz von der Dosis, der anhaltend beliebt ist, dies aber ungeachtet seiner wirklichen Bedeutung und Konsequenzen. Es ist eigentlich ein Satz der Lebenskunst, ein Satz über das Maßhalten, der vorbeugend auf die gesamte Lebensführung zu beziehen ist. Paracelsus’ gesamter Therapeutik haftet das Künstlerische an, das nicht doktrinär übertragbar, sondern eine Frage der Ein200 Michel Foucault mit seinem in dieser Arbeit schon mehrmals zitierten Topos von der »Sorge um sich selbst« darf damit nicht als aktivistisch verstanden werden, sondern, in der stoischen Tradition stehend, eher als Plädoyer für Gelassenheit und Vertrauen. Er beschreibt, wie die Krankheit durch die Verlagerung von der Familie in die klinische Apparatur von einem Extrem ins andere fällt, ihren Charakter vom Individuellen zum Seriellen wandelt, von der erkennbaren Natur zur künstlichen, von der Unwägbarkeit zur Kalkulation: Klinik, S. 125 f. 201 In der Therapie wirken außer Zeitknappheit auch vorgefasste Leistungskataloge begrenzend.

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stellung arete bzw. der Bereitschaft zum nomos, der Fühlung mit der Natur und den Lebensumständen des Patienten sowie mit den in Frage kommenden Mitteln ist. Paracelsus bewahrt darin als geistiges Kind des Mittelalters zugleich das diätetische Erbe der Antike. Diätetisch bündeln sich in Paracelsus’ Person und Werk also die Freiheit gegenüber Instanzen und Normierungen, ein Transzendenzbezug, der sich außer in spirituellen Überzeugungen auch in der individuellen Verantwortungsbereitschaft spiegelt. Auf der Therapeutenseite geht es um die Demut einer abwartenden, auf den Patienten eingehenden Person, frei von Absolutsetzung der eigenen Medizinmacht. Die leibliche Perspektive auf den Patienten sowie das organisch-lebendige Arzt-Patienten-Verhältnis und vor allem auch die Orientierung an den bereits physisch-kosmologischen Gegebenheiten des Maßes machen die paracelsische Diätetik und Therapeutik zu einem wirklich »ganzheitlichen« Entwurf. 202 Die paideia zu den genannten Zügen ist gegenwärtig nicht nur verlorengegangen, sondern wird gesundheitspolitisch auch gezielt unterbunden.

3.1.6 Baden und Fasten: Diätetik zwischen Spektakel und Neurose Das Baden und das Fasten sind zwei Bereiche uralter diätetischer Ausübung, deren Formen und Bedeutungen im Verlauf der Kulturgeschichte vielschichtig changierten. Die Menge unterschiedlichen Stoffs zu beiden Themen aus einem breiten zeitlichen bzw. geografischen Raum wird sich in diesem Kapitel in längeren Passagen historischer Darstellung niederschlagen. Der Streifzug durch die Geschichte soll philosophisch Spektren bzw. Grenzberührungen oder -überschreitungen des Diätetischen erkennbar machen.

202 »Perspektive«, »Mitgehen«, »Sorge um sich selbst«: Begrifflich fällt auf, dass alle diese Haltungen ein Neben-sich-Treten implizieren, womit Gesundheitspflege (wie jede Kulturleistung) ohne Dualismus nicht möglich ist. Wenn aber solche Pflege möglichst unter allen Zugängen (Gefühle, Sinne, Vernunft) geschieht, dürfte die Wahrung organischer Zusammenhänge weit besser gelingen als unter reduktionistischen Zugängen (zweckrational, fremdbestimmt, gleichgültig). Letzteres trifft auf das Modewort »ganzheitlich« zu, wenn es in einer Konsumstruktur nur den privaten Wohlfühlraum anspricht. Im nächsten Kapitel wird zur Frage des Dualismus oder einer Objektivierung in der Diätetik mehr gesagt werden. Der bessere Begriff anstatt »ganzheitlich« wäre der im Hildegard-von-Bingen-Kapitel eingeführte Begriff der »Teilhabe« oder »Partizipation« am Leben, wie sich sodann bestätigen soll.

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Während das Fasten unter den sechs natürlichen Dingen der Diätetik eindeutig dem Bereich »Speise und Trank« zugeordnet werden kann, finden wir beim Baden auf den ersten Blick keine Entsprechung, da zwar die Umweltfaktoren »Luft und Licht«, aber nicht »Wasser« genannt werden. Das kann daran liegen, dass wir den Kontakt mit dem Wasser heutzutage stark mit der materiellen Reinigung assoziieren. Für frühe Zeiten traf das so nicht zu, sondern bei der praktischen Erfahrung des Wassers wurden primär sinnlich-organisch spürbare Wirkungen betont wie ganz einfach – denken wir an den Badespaß der Kinder – die erfrischend kühle oder wohlig warme Belebung. Mit mehr medizinischer Fühlung ging es um die Förderung der Durchblutung, die Anregung der Verdauung und weiterer Körperfunktionen sowie auch des Gemüts, in die andere Richtung um die Entspannung der beweglichen Körperteile, der Nerven und um die Linderung mancher Schmerzen. Das alles ließe sich medizinisch in früherer Sprache als Ausgleich zwischen diastole und systole, Spannung und Entspannung, beschreiben, in heutiger etwa als Harmonisierung des Stoffwechsels und der Motorik. Nach dem diätetischen System wären die Bereiche Arbeit und Ruhe, Ausscheidung betroffen sowie eben die Gemütsaffekte. Darüber hinaus hat das Wasser seinen Platz im Elementesystem der Säftelehre, die jahrhundertelang optimal mit den diätetischen Auffassungen kompatibel war. Es ging also insgesamt um die wohltuend-ausgleichende Funktion des nassen Erlebnisses. Sebastian Kneipps Hydrotherapie wird allgemein als typische Diätetik angesehen – gilt dies auch für das mittelalterliche Badehaus mit Speisetafel und Schalmeienklang? Zunächst zur »Reinigung« sollte vorab geklärt werden, dass ihr heutiger Stellenwert eine Anschauung der noch sehr jungen »Hygiene« ist. Früher waren »Diätetik« und »Hygiene« begrifflich fast gleichbedeutend. Angelehnt an die hygieia techne, die gesunde Kunst der alten Griechen, bedeutete Hygiene zu allen Zeiten einfach »Gesundheitslehre«. Mit der Aufklärung erhielt die Diätetik eine Umwelt- und eine soziale Dimension und wurde oft, psychisch und psychosomatisch gefasst, mit dem Begriff Hygiene belegt, dies unter Einfluss des englischen Arztes Georg Cheyne, der die Zunahme nervöser Leiden durch die Auswirkungen des urbanen Lebens festgestellt hatte. Mit den mikrobiologischen Erkenntnissen im 19. Jh. wurde die Sauberkeitserziehung, klinisch gesehen die antiseptischen Verhaltensweisen, als zentral für die Gesundheit im Sinne der Vorbeugung gegen Infektionskrankheiten angesehen, sodass sich die Be129 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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griffsbedeutung spezialisierte. Max von Pettenkofer besetzte ab 1865 den ersten Lehrstuhl der Hygiene im neuen Sinne; er gilt als ihr Mentor. 203 Ein ähnlich hohes Sauberkeitsempfinden wie wir, vom mikrobiologischen Aspekt abgesehen, besaßen die reichen Römer der Kaiserzeit. Doch ist das bei Weitem nicht der alleinige Aspekt der römischen Badegewohnheiten. Wie und warum badeten unsere Vorfahren? Lassen wir zuerst die römischen Thermen vor unseren Augen erstehen. Innerhalb der Grenzen des Imperium Romanum, von England bis Sizilien, von Frankreich bis Rumänien, im Vorderen Orient und in Nordafrika begegnen wir den Ruinen der Luxusbäder aus der Kaiserzeit von oft riesenhaften Ausmaßen. Genialste Kompositionen aus technischer Ausstattung und Architektur zeugen von der Bedeutung dieser Anlagen im römischen Alltag. »Kathedralen des Fleisches« könnte man sagen, wobei die Pflege des Körpers nur eine Nutzungsweise dieser Stätten darstellte. Genauso erfüllten sie wichtige soziale und kommunikative Funktionen, nämlich als Einrichtungen für den Sportunterricht, für die Volksbildung und den Kulturgenuss aller Art, baulich meistens im Verbund mit entsprechenden Hallen, Bühnen- und Bibliotheksräumen. Die Kunstliebe kam nirgendwo so auf ihre Kosten wie in den von Statuen gesäumten Säulengängen der Thermen. Die Wurzeln eines so ausgeprägten, luxuriösen und gesellschaftsprägenden Badelebens liegen sehr tief in der Vergangenheit. In den bronzezeitlichen Hochkulturen des Orients und der Ägäis spielte das Ritualbad eine große Rolle. An Tempeln, Kultstätten, heiligen Quellen wurden in natürlichen oder künstlich geschaffenen Badestätten feierliche Reinigungsrituale vollzogen. Das spätere Tauchbad der Juden (Mikwe), dessen Einrichtung an mehreren Stellen des Pentateuchs geboten wird, hat in solchen Ritualbädern seinen Ursprung. Nur ein Gereinigter, mit unterschiedlichen Detailvorschriften für Priester und für Laien, durfte sich Jahwe nähern. Schon in prähistorischen Zeiten dürfte fernerhin die wohltuend-heilende Wirkung speziell des warmen Wassers erprobt worden sein. In vulkanischen Gebieten boten sich Thermalquellen an. Andernorts wurde das Wasser auf einem Feuer erwärmt, direkt im Badekessel oder als einzugießendes Wasser. Antike Vasenbilder machen uns solche Vor203 Vgl. Gadebusch-Bondio, Mariacarla: Diätetik, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Sp. 933.

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gänge anschaulich. Eine Stelle aus Homers Odyssee erzählt von einem wohlausgestatteten wärmenden Bad und lässt auf das Vorhandensein einer auch baulich wärmespendenden Badestube schließen. Die Herausforderung, dass die technischen Erfordernisse eines Warmwasserbades aufwändig waren, wie Wasserzufluss, -abfluss und wasserdichte Materialien, inspirierte bald zu unterschiedlichsten Techniken und Ausstattungen. Im griechischen Kulturkreis tauchten zu Platons Zeit erstmals öffentliche Badeanlagen auf, die außer für kultische Zwecke auch für die Körperpflege, vor allem nach der Sportausübung, und zur Heilung von Krankheiten genutzt wurden. Waren Quellwässer beteiligt, so stellten die Damaligen bittere oder leicht basische Bestandteile fest und wie diese in den menschlichen Stoffwechsel entschlackend-ausgleichend eingriffen. Später haben solche Naturschätze das Kurwesen und eine ganze diätetische Getränkeindustrie hervorgebracht. 204 In Olympia und an vielen anderen Ausgrabungsstätten Großgriechenlands wurden die unterirdisch beheizbaren »Hypokaustenbäder« gefunden, entweder als Warmwasserbad oder als Heißluftbad ähnlich der heutigen Dampfsauna, beides mit den typischen, in Stein gehauenen Sitzreihen. Das Dampfbad war als Vorläufer schon im Neolithikum bekannt zur religiösen Reinigung und auch zur Berauschung mittels verdampfender Kräuter. 205 Interessanterweise zeigt der historische Abriss bis hierher eine seit Anbeginn der Kulturen bestehende Zentralstellung des »Fleisches« im kultischen, geistigen und sozialen Geschehen auf bzw. zeigt umgekehrt, wie stark der Lebenshaushalt der Menschen um ihr leibliches Wohl kreist. Der »Körper« verweist damit auf das, was die deutschsprachige Philosophie »Leib« nennt, auf den ganzen Menschen in seinen inneren und äußeren Bezügen, Bedürfnisse eingeschlossen wie die nach seelischem Frieden, nach sinnlichem Genuss, nach Kommunikation, nach geistiger Entfaltung. Es ist in diesem Zusammenhang zu vermuten: Die Lebensweise früherer Epochen lässt insgesamt keineswegs ein minderbemitteltes, sondern, im Gegenteil, ein lebhaftes Eingehen auf die leiblichen menschlichen Bedürfnisse erkennen. 204 Die ältesten deutschen Kurorte entstanden aus spätantiken Thermenanlagen, z. B. Baden-Baden, Badenweiler, Wiesbaden, Ems und Aachen. Durch die Aachener Heilquelle versuchte Karl d. Gr. sein schweres Rheumaleiden zu mildern. Vgl. Behrendt, Joachim: Freizeitspaß Bad, S. 16 f. (Es handelt sich um einen Führer zum Schwimmbadbau mit einer historischen Einleitung). 205 Vgl. Brödner, Erika: Thermen, S. 1–45.

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Die Römer übernahmen sowohl das Wasser- als auch das Dampfbad, in der pompösen Phase meist unter einem Dach. Aus der Zeit des 1. Jh. n. Chr. scheint die Bezeichnung »therme« für große Anlagen zu stammen, während die kleinen als »balnea« (griech. balaneion – Bad) bezeichnet werden. Es gab privat und öffentlich betriebene Bäder sowie selbstverständlich die ganz privaten Baderäume in jedem Haus der Reichen. Deren Luxusverständnis war es, welches das Sauberkeitsempfinden in den Vordergrund rückte. Und immer war es auch das Schauerlebnis. Von Seneca, der als stoischer Weisheitsdenker Luxus eigentlich ablehnte, sind um 50 n. Chr. mitleidige Sätze über den großen Feldherrn Scipio, den »Schrecken Karthagos«, überliefert, dessen schlichtes Landhaus nun, nach 300 Jahren, als Museum diente: »Gibt es einen, der es ertrüge, sich so zu reinigen? Dürftig dünkt sich ein jeder und armselig, wenn seine Wände nicht von großen kostbaren Rundscheiben aus Marmor funkeln, wenn ihm nicht alexandrinische Marmortafeln mit Einlagen numidischen Steins verziert sind … Welche Fülle von Standbildern, die gar nichts zu tragen haben, sondern bloß zum Schmuck aufgestellt sind, um damit zu protzen … Oh, dieser bedauernswerte Mann! Er verstand ja gar nicht, zu leben. Er pflegte nicht in geklärtem Wasser zu baden, sondern oft in trübem und bisweilen, wenn es allzu heftig regnete, sogar in beinahe schmutzigem … Hier wird wohl mancher sagen: ›Ich wusste längst, dass sie [die Vorfahren, Anm. d. Verf.] Ferkel waren.‹« 206 Das Sauberkeitsverständnis der Römer wird ihrem Pragmatismus zugeschrieben, wobei die Verfeinerung der gesamten Lebensführung mit dem Wohlstand gleichermaßen für das ausgeprägte Badewesen des städtischen Orients gilt. Die öffentlichen Bäder des Imperiums wuchsen in der Spätantike mit alledem, was sich an den eigentlichen Badevorgang anschloss, zu Großbetrieben und Dienstleistungseinrichtungen. Mit Kosmetikern, fliegenden Händlern und Ladenzeilen ausgestattet, mit schichtwechselnden Trupps von Heizern und Ingenieuren, einer reibungslosen Infrastruktur für die Ver- und Entsorgung, mit Benutzerordnungen und diskretem Aufsichtspersonal kommen sie der Organisation moderner Erlebniszentren gleich, dabei aber weit horrender in den Beträgen ihrer Kostenrechnungen. 207 Das geschilderte Urteil Senecas mag zum Bewerten dieser Badekultur aufschlussreich 206 Seneca-Zit. ebd., S. 46 f. Originär s. Seneca, Lucius Annaeus: Brief 86 § 11–13, in: Schriften, S. 41. 207 Vgl. ebd., S. 118–122.

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sein: Er betrachtet das Baden funktional. Das bei Scipio Gesehene lag unterhalb des Angenehmen, jedoch der Pomp seiner Mitwelt überzog den Sinn des Badens. 208 Das Mittelalter setzte beide Traditionslinien des Wasser- und des Dampfbades nicht ganz so luxuriös fort. Wenn in der Antike die Besucher öffentlicher Bäder nur nach Benutzung einer Dusche, wie sie Ruinen aufweisen, in das Wasserbecken steigen durften, so kommt das erst wieder dem ganz modernen Handhaben der materiellen Reinigung als zweckgerichtetem Sondervorgang gleich. Die Erinnerung an die kultische Reinigung im Altertum drängt sich auf. Die mittelalterliche Bevölkerung stieg zum Baden ungeduscht in gemeinsame Wannen, die Oberschichten des 16. bis 18. Jh. pflegten den Körper gar ohne Wasser. Viele kulturgeschichtliche Phänomene erweisen das Waschen, Reinigen oder die kosmetische Pflege als persönlichen Vorgang, während das Baden mit seinem körperlich bis leiblichen Erlebnischarakter am liebsten geteilt wurde. Das Mittelalter setzte die geteilte Badefreude mit besonderen Akzenten fort, weniger pompös, aber äußerst sinnenfroh. Das mittelalterliche Badewesen muss geradezu als eines der tragenden Infrastruktursysteme bezeichnet werden, geschaffen für elementare Bedürfnisse des Alltags. Badestuben gab es flächendeckend, in Städten und Dörfern, in Burgen und Klöstern, privat und öffentlich betriebene, für Eheleute und Gesellschaften, in Form von Schwitz-, Dampf- oder Wannenbädern. Diätetisch überzeugten für Jahrhunderte die Vorteile des Badens: »Das Bad öffnet die Poren und leitet die überflüssigen Säfte ab. Es löst die Winde und lässt den Urin leichter fließen … es schwemmt den schmutzigen Schweiß aus, es tilgt ferner das Jucken und die Krätze … Weiter lindert es die Schmerzen in den von der Gicht ausgedörrten Gliedern, zersetzt den Katarrh und fördert beim Fieber die kritischen Tage.« So lautet ein ärztlicher Text, ein arabischer Regimen aus dem 11. Jh., der zeigt, wie die Medizin das Baden als Heilmittel adaptierte. Ab dem Spätmittelalter kursierten ärztliche Baderegeln (z. B. von Paracelsus) komplementär zu anderen Heilvorschlägen. Auch die natürliche Qualität des Wassers, die Eigenschaften der Quellwässer, kam wieder in den Blick. So zählt das Jahr 1571 im deutschen Raum 75 Badeorte – das Kuren war erfunden. 209

208 209

Vgl. Behrendt, Joachim: Freizeitspaß Bad, S. 15 f. Vgl. Schipperges, Heinrich: Garten, S. 214–219, Zit. S. 216.

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Die Bevölkerung im Mittelalter badete in Holztrögen als Einsitzer oder dem heterogeschlechtlichem Paarsitzer, jeweils unter behaglichen Baldachinen. Für Gesellschaften wurden die Paarsitzer aufgestellt in langen Vis-à-vis-Reihen, was uns Gemälde der Zeit überliefern. Wie der Reinigungsaspekt, gerade im Krankheitsfall, und das gemeinsame Badewasser sich so lange halten konnten, mag uns rätselhaft sein. Das Badeverständnis war ein anderes und betonte vor allem die Freude am geteilten Genuss. Zwischen die Sitzenden legte das Personal Bretter, bedeckte sie mit Tuch; Speisen wurden aufgetischt. Lichteffekte inszenierten den Raum, Musikanten begannen zu spielen, ein Gaukler trat auf. Das Baden war, alle medizinischen Überzeugungen weit überlagernd, zur Römerzeit und ganz prägnant im Mittelalter, ein Volksvergnügen. Dabeisein war alles – im geteilten Erlebnis Gemeinschaft haben. Das Visuelle besaß eminente Bedeutung. Vor allem aber sollte in einem Badehaus das Auge zu seinem Recht auf Kunst kommen, schreibt Heinrich Schipperges. In den Bädern wurden Figuren aufgestellt, um angenehme Gefühle zu wecken; von »Schlachtszenen« rieten die damaligen diätetischen »Fachleute« ab, wohl aber zeige man feinsinnige Bilder und, für die geistige Inspiration, auch Darstellungen berühmter Philosophen. Das Ausufern der geteilten Fröhlichkeit bei mittelalterlichen Badeveranstaltungen zum schwer Duldbaren wurde oft beanstandet und von Ärzten als diätetische Sinnverfehlung gerügt. Das Baden war ein Spektakel, das alle mittelalterlichen Phasen geprägt hat mit noch langem Nachhall. Die Mediziner der Neuzeit, wie auch zur Goethezeit der große Hufeland, blickten positiv auf die Wurzeln zurück. Eine Frage drängt sich auf: Wie stand es mit der Lust im engeren Sinne bei so viel Körperlichkeit? Wir Heutigen dürften schon irritiert sein durch all die ungezwungenen Nacktheitsdarstellungen aus der Vergangenheit. In der Tat hatten die Antike, das Mittelalter und die Frühe Neuzeit ein ungezwungeneres Verhältnis zur menschlichen Blöße. Die Gegenwart ist hier noch stark von bürgerlicher Prüderie ab der Aufklärung gezeichnet. Trotzdem gab es Schamschwellen, unterschiedlich wie bei uns in Abhängigkeit von Beteiligten und Situation. Viele Badehäuser räumten dem durch das Bad angeregten Liebesverlangen spezielle Liegeabteile ein. Ab dem Spätmittelalter verbanden sich häufig die Bestimmungen von Badehaus und Bordell. Die aus dieser Zeit stammende Allegorie vom »Jungbrunnen« hat hier ihren Ort. Natürlich gab es Überschreitungen des Geduldeten in Ausübung und Darstellung, wie auf jeden Fall die Belästigung, die 134 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Was ist Diätetik?

Gewaltanwendung und die Pornografie. Hierfür sind Rechtsfälle belegt, die kaum anders lauten als in heutigen Tagen. Was dem öffentlichen Badewesen jäh ein Ende setzte, war zu Beginn des 16. Jh. die grassierende Syphilis. Traurig redeten Zeitzeugen über die öffentlichen Bäder, die jetzt überall kalt stünden. Es ist zu vermuten, dass hier bereits eine modern-hygienische Ahnung der Probleme aufkam. 210 Krankheiten wurden damals nach der Säftelehre beurteilt, die therapeutisch zahlreiche Vorteile besaß, pathologisch aber oft fatal wirkte. Z. B. nahmen die an Krätze Erkrankten (das war stets die mehrheitliche mittelalterliche Bevölkerung) Bäder zur Beeinflussung des vermeintlich verdorbenen Säftehaushalts – in gemeinsamen Wannen und ohne jemals auch die Kleidung zu waschen. Das 16. bis 18. Jh. scheute den Kontakt zum Wasser, medizinisch begründet aus Angst, das Wasser würde durch die Hautporen in den Körper eindringen, schlechte Kräfte einschleusen, innen die Knochen erweichen und den Säftehaushalt durcheinanderbringen. Generationen wuchsen mit dieser Vorstellung auf und empfanden sich nicht als unrein. Wohl wurden Schmutz und Körpergerüche wahrgenommen und behandelt mittels »trockener Toilette«. Diese entwickelte sich als sprichwörtlich speziell für die Oberschicht, die mit Puder und Parfum Möglichkeiten zum Kaschieren besaß. »La dame à sa toilette«, ein anonymes Hofgemälde aus dem französischen 17. Jahrhundert, kann als paradigmatisch für diese Praxis gelten: eine halbbekleidete Dame vor einem Kosmetiktisch, der bestückt ist mit Utensilien – nur nicht mit Wasser. 211 Erst die zunehmende Infragestellung der Säftelehre seit Anfang des 18. Jh. lockerte den Bann des Wassers, die hygienische Revolution des 19. Jh. brach ihn. Und nun, in Opposition zu der neuen technischen Ausrichtung des Gesundheitsbereichs, wurden die Naturkräfte plötzlich wieder beliebt und mit ihnen das Wasser. Ein »Wasserpfarrer« trat auf und hatte in vielem den Nerv der Zeit getroffen: Sebastian Kneipp (1821–1897) verbreitete die »Hydrotherapie« wie ein Lauffeuer, die schon seit 1820 von Vincenz Prießnitz in Österreichisch-Schlesien eingesetzt worden war. Der selber durch Krankheit erprobte Kneipp bewies viel Sinn für die Stärkung der gesundVgl. ebd., S. 216–219. Vgl. Grabmeyer, Johannes: Spätes MA, S. 80–83. Eine Studienarbeit weckt mit viel Sympathie Verständnis für diese Art Körperpflege. Vgl. Greßhörner, Kristine: Angst vor Wasser, S. 4–15, 19. 210 211

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heitlichen Konstitution im Jahrhundert der Cholera und Tuberkulose mittels kühler Gehbäder und Güsse. Auch hier ging es nicht um äußere Reinigung, sondern um Stoffwechsel-Reinigung durch Stimulation mittels dieser »Reiztherapie«. Kneipp entwickelte sich, rückblickend auf die gesamte Heilkunde, von der umstrittensten zur berühmtesten Persönlichkeit, ein Heiler von Menschenscharen bis hin zur höchsten Prominenz. Der beginnende moderne Verwaltungsstaat, der die Befugnisse von Ärzten und Nicht-Ärzten trennt, wurde von Kneipps Erfolgen geradezu unterlaufen. Der Autodidakt etablierte ein Kurwesen von heutigem Weltruhm, das sich genauen medizinischen Erklärungen noch immer verschließt. 212 Dann, am Ende des 19. Jh., entdeckte die Jugendbewegung das Wasser als Element des Schwimmens und des Badens in der uns geläufigen Form. Zugleich hat die öffentliche Hand den Bau von Schwimmhallen sowie den Schwimmunterricht vorangetrieben, um dem ständigen Problem des Ertrinkens gegenzusteuern. Schließlich bekam auch die »freie Zeit« in der ansonsten von Arbeitsidealen geprägten frühkapitalistischen Kultur besondere Bedeutung. Im 20. Jh. beförderte die vermehrte Freizeit der Menschen die Einrichtung der öffentlichen Schwimmbäder, Saunen, schließlich Wellnesszentren, bei deren Anwendung sich Sport, Spiel, Vergnügen, Gesundheitspflege, Körper- und Sinnenerlebnis vermischen. 213 Das Streben nach dem leiblichen Wohl zeigt sich im Baden mit seinen Genuss- und Lustkomponenten als stark anschlussfähig an den Vergnügungsbereich. Für die Badewünsche der jetzigen »Spaß- oder auch Erlebnisgesellschaft« bieten Einrichtungen wie z. B. Europas größte Therme im Münchener Umkreis Aufregendes, unter einer stadiongroßen Glaskuppel Palmstrände, Events, Nervenkitzel, Wellness und überall Großartiges fürs Auge. Geteilter Spaß sucht offenbar das Spektakel, und Spektakel erhöht wiederum den Spaß. Philosophisch fällt auf, dass sich das nach diätetischer Ansicht ausgewogene Bemühen um das menschliche Wohl im Bereich des Badens leicht an eine neue Kategorie anschließt: Genuss, hier vor allem im Sinne flüchtigen Vergnügens, nach aktuellem Jargon als Spaß bezeichnet. Rückblickend auf die vergangenen Kapitel kommt 212 Vgl. Ortner, Eugen: Sebastian Kneipp, zu dessen Erfolgsgeschichte insbes. S. 191– 225. 213 Vgl. Schulz, Andreas: Lebenswelt, S. 81. Vgl. auch Behrendt, Joachim: Freizeitspaß Bad, S. 22 f.

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dabei in Erinnerung, dass das Diätetische durchaus genussreiche Seiten besitzen kann, man denke an den Genuss eines sorgfältig zubereiteten gesunden Essens oder an den Sinnengenuss beim Erleben der Natur, z. B. bei der Beschäftigung mit Pflanzen und grünen Landschaften. Der Wunsch nach ständig abwechselnden flüchtigen Vergnügensimpulsen in der modernen Wohlstandsgesellschaft hat – vgl. oben – für diese Kultur auch den Ausdruck »Spaß-« oder »Erlebnisgesellschaft« geprägt. Der Soziologe Gerhard Schulze beschreibt die Muster dieser gegenwärtigen Kultursoziologie. Prinzipiell ist ihm zufolge Genuss eine Kategorie rein des ästhetischen Urteils, was bis zur völligen Begründungslosigkeit reicht: »Es gefällt mir, weil es mir eben gefällt«. 214 Genuss kann, indem er vom Alltag ablenkt oder zerstreut, auch Ausgleichsfunktion haben. Viele kulturelle Einrichtungen wie z. B. der Fasching oder das Erzählen von Witzen versprechen diese Funktion. Wenn aber Genuss allein an der ästhetischen Ebene ansetzt, sind alle anderen Ebenen wie insbesondere die geistige Beschäftigung ausgeblendet, und die Ausgleichsfunktion greift damit nur sehr oberflächlich. Ursachen von Alltagslasten, denen man entgehen will, werden nicht erreicht und somit auch keine tiefgreifende Verhaltensänderung. Ethik ist also nicht eigentliches Thema der Genusskategorie. 215 Der als Lebensphilosoph wirkende Wilhelm Schmid verortet den Genussbegriff kultur- und ideengeschichtlich im menschlichen Streben nach Glück. Während man zu allen Zeiten (und noch heute interkulturell) etwas anderes darunter verstand bzw. versteht, ist die jetzige anglo-europäische Gesellschaft vom Inbegriff sinnlichen Wohlfühlglücks bestimmt. Erschaffen wurde diese Vorstellung durch Denker der Aufklärung, voran John Lockes Formel vom pursuit of happiness. Ältere Epochen überliefern philosophische Formen, wonach Glück die Polarität des Leidens einschloss, oder die Ansicht des Mittelalters, das in der Annahme eines stets mühsamen Lebens das Glück ins Jenseits verlegte. Doch wie z. B. dieses Kapitel aufzeigte, gehörten das Genussstreben und seine Einrichtungen allezeit zum Menschsein. Das aber heute paradigmatisch gewordene sinnliche Wohlfühlglück bedeute – weiter bei Schmid – eine destruktive ständige Hast nach dieser sehr kurzlebigen Glücksform. Schmid plädiert für gedeihliche Glücksformen wie das sinnhafte, d. h. auf Zusammenhänge (des Woher und Wohin) gerichtete Leben bis hin zu 214 215

Schulze, Gerhard: Erlebnisgesellschaft, S. 105. Vgl. ebd., S. 58 f.

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Formen der religiösen Gewissheit. Diese Formen schließen das Verlassen der Egozentriertheit und die Anteilnahme am Leben ein. 216 Insofern die diätetische Motivation, wie sie sich bisher zeigte, an der Sorge und Verantwortlichkeit angesichts von Fragilität und Leidhaftigkeit des Lebens ansetzt, also an einer ethischen Kategorie, ist klar, dass sie mit der Genusskategorie nur bedingt kompatibel sein kann. Die diätetischen Haltungen, wie sie sich bis zum vorigen Kapitel ergaben, also Verantwortlichkeit, Selbsterziehung, Naturbeobachtung und -fühlung, Meditation, Kosmosbewusstsein, arete und nomos, sind Haltungen innerer Sammlung, die mit dem Zerstreuenden der reinen Genusskategorie nichts zu tun haben. Psychologisch gesehen geht es hier auch um den Kontrast von Selbst- und Fremdbestimmung. Dabei ist für frühere Jahrhunderte einzuräumen, dass sogar die Einrichtungen des Genusses wie damals alle Lebensgüter durch harte, d. h. körperliche Arbeit erstellt oder verfügbar gemacht werden mussten. In der modernen Industriegesellschaft betätigt sich der sogenannten Verbraucher, d. h. jeder Teilnehmer dieser Gesellschaft, eigentlich in einem fremdbestimmten, nur vermeintlich aktiven ständigen Auswählen von Gütern, in einem Verwenden oder Anwenden und ggf. Entsorgen. 217 Wenn Genuss Hauptzweck wird, überschreitet man diätetisch die mesotes, die mit der Ausübung zum Erreichen grundlegend und auch altruistisch besseren Wohlbefindens im Blick sein müsste, von vorherein. Z. B. lässt sich beim Bade-Volksvergnügen des Mittelalters vermuten, dass die Verlockung zur Schlemmerei ursprüngliche Ziele wie die Stoffwechselreinigung in den Hintergrund treten ließ. Manches heutige Fitness- oder Wellnesstreiben wirkt ebenso wenig ernsthaft, aber das pauschale, unbeteiligte Urteil wurde in der Einleitung dieser Arbeit als überprüfungsbedürftig erklärt, was ab Teil 4 folgen soll. Ein Indiz zur Bewertung des beschriebenen Badeverhaltens mag noch sein: Auffällig, das zeigten die vorangegangenen Kapitel, äußern sich Gleichgewichte oder Verfehlungen auch in größeren Einheiten wie der Gesamtgesellschaft oder dem ökologischen Bereich. Der Begriff vom Leben als »Partizipation« (siehe das Hildegard-Kapitel) steht dagegen. Ernsthafte Sorge um sich selbst überschreitet den Rahmen des Egos, falsche oder Nicht-Sorge tendiert zum Schädigen auch des Außenbereiches. Wo z. B. ärmere Menschen von Einrichtun216 217

Schmid, Wilhelm: Glück, insbes. S. 18–27, 28–30, 45 f., 54 f., 60–65. Vgl. ebd., S. 204–208.

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gen ausgegrenzt sind oder durch Überstrapazieren der Ressourcen die Natur angegriffen wird, ist das Diätetische in seinem Sinn um Ausgewogenheit auch im Großen verfehlt. Zu den Wellnesseinrichtungen der gegenwärtigen Gesellschaft haben ärmere Kreise erkennbar keinen Zugang. In der römischen Luxusgesellschaft folgte dem wohlig-warmen Pomp ein ökologisch hoher Preis: Er bewirkte die erste große Abholzungswelle Mitteleuropas und die Verkarstung ganzer Regionen. 218 Die mit den letzten Absätzen erfolgten Überlegungen lassen sich wohl am besten so resümieren, dass das Diätische nicht frei von Genuss oder Spaß sein muss, aber sich in seiner Anschlussfähigkeit an andere Lebensbereiche hierin verlieren kann. Das Baden in vielfältigen Ausübungsformen scheint die Tendenz dazu zu haben, vor allem zum gemeinschaftlich geteilten, stark auch von der optischen Ästhetik bzw. der Muster-Wiedererkennung bestimmten Spaß, dem Spektakel. Gerhard Schulze spricht bei solchem Muster auch von der Entstehung einer »Szene«. 219 Kommen wir nun zum Fasten. Am geläufigsten ist dieses bis heute in der Bedeutung des Heilfastens. Heilfasten ist nicht zu verwechseln mit den modernen (in der Sache unsinnigen) Schnelldiäten, sondern ein Weg der Besinnung, der auch eine dauerhafte Ernährungsumstellung einleiten kann. Fasten stellt immer zugleich die Begegnung mit sich selbst dar. Verborgenes kommt an die Oberfläche und kann bearbeitet werden. Die Phase des Fastens ist oft mit intensiven Träumen verbunden. Viele Fastende nehmen sich Zeit für die Auseinandersetzung mit Problemen, die im Alltag verdrängt wurden. Die Sinneseindrücke werden intensiver wahrgenommen. Fasten ist also eine sehr tiefgreifende Sache, und das vor allem auch in physiologischer Hinsicht. Ratgeber und geschulte Fachleute unterstützen Heutige beim Heilfasten, dies v. a. wegen der allgemein abgebrochenen Tradition und der geringen Kenntnisse des Fastens; es kann allein oder in einer Gruppe ausgeführt werden. Der übliche Fastenrahmen liegt zwischen drei und sechs Wochen. Es gibt neuerdings etablierte Varianten wie z. B. Saftfasten, Molkefasten, Obstfasten mit jeweiligen Theorien. 218 Zu Thermen und Umweltfolgen vgl. Dinzelbacher, Peter: Spätantike, S. 165. Anm. d. Verf.: Eine ganz neue, massenartige Form westlicher Wohlfühlkultur liegt im Gebrauch der Kommunikationselektronik – mit unfassbaren Auswirkungen wie der Plünderung von Rohstoffen oder der kulturellen Fremdbestimmung in anderen Kulturen (s. schon FN 171). 219 Schulze, Gerhard: Erlebnisgesellschaft, S. 264 f.

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Das Fasten aus gesundheitlichen Gründen wurde allezeit schon von Heilern empfohlen, selbstverständlich vom Corpus Hippocraticum, von Maimonides, von Hildegard, von Paracelsus, und die weitreichenden Bezüge deren Anschauungen von Gesundheit lassen sich nach dem bisher Ausgeführten auf das Fasten leicht übertragen: Reinigung und Ausgleich der körperlichen wie seelisch-geistigen Kräfte, Meditation bzw. Gebet waren damals die Kerngedanken. Im heutigen »Heilfasten« schwingt das Erbe dieser großen Tradenten mit. 220 Der Brauch, zu fasten, ist so alt wie die Menschheit. Er entstammt einer animistischen Weltanschauung und wurde unter deren späteren Relikten (wie zur Pflanzenkunde berichtet) in spiritueller Hinsicht weitertradiert. Das Wort hat von althochdeutschen, gotischen und anderen Vorläufern mit festhalten, auch im Sinne von »beobachten« zu tun und impliziert die Verinnerlichung. Interessant ist, wie die organische Verbindung von Mensch und Umwelt mit dem Fasten als wohl intensivstem Erlebensort wieder aufgenommen wird. Die Nahrung, in der Wohlstandsgesellschaft im Spektrum gelegen zwischen gleichgültiger Betrachtung oder oberflächlicher Funktionalisierung (vgl. z. B. schnelle Küche, Reduktionskost, Sportlerkost, functional food), hat dabei eine zentrale Trägerfunktion. Paracelsus hatte das Interagierende zwischen Umwelt und Individuum in der Speise betont mit seinem Satz, die Menschen sollten mittels Nahrung jeweils »in sich selbst« verwandelt werden – nicht in einen Fremdkörper. 221 Die Nahrung, wie in dieser Arbeit an anderer Stelle schon erwähnt, ist also nach alter Überzeugung Bindeglied zwischen dem Leib des Menschen und der äußeren Natur, die die Lebensmuster für das Gedeihen auch des Menschen in sich trägt. Dabei hatte man früher gar nicht so viele Möglichkeiten, nach heutigem Wissen »Gesundes« auszuwählen. Die Nahrung war aber qualitativ gesehen weitgehend natürlicher als heute, d. h. der Mensch nahm Strukturen in sich auf (z. B. die »natürlichen Komplexe«, siehe FN 184), wie die Natur sie hervorbrachte (nicht poliert, raffiniert, kondensiert usw.). Die Trägerfunktion des Bindeglieds Nahrung ist auch wesentlich eine geistige: Nahrung ist gut, wenn die natürlichen Prozesse erhalten bleiben, wenn Leben gefördert wird. Bei der modernen Industriekost, selbst mit vermeintlich gesunden Einzel-Attributen (z. B. fettarm, vitaminreich, »bio«), ist die Berücksichtigung der Gesamtprozesse für ernst220 221

Vgl. Leipold, Annegret: Fasten befreit. Paracelsus-Zit. ebd., S. 7.

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haft fragende Menschen sehr brüchig geworden. In dieser Arbeit wurde der Gesamtblick für ein stimmiges Leben schon insbesondere im Hildegard-von-Bingen- und im Paracelsus-Kapitel behandelt. Zum Fasten ist zu sagen, dass beim Einzelnen die Erkenntnis einer verfehlten Ernährung den Wunsch wecken kann, dieses unheilvolle Wirtschafts- und Ernährungsmuster auch geistig aus dem eigenen Leib wieder loszuwerden. Beispielsweise hat man zugunsten der Verdauung gerne Produkte aus fast tausend »gesunden« Joghurts in Deutschland gewählt, landwirtschaftlich erzeugt unter Einsatz und Inkaufnahme von Turbokühen, Maisplantagen, Riesenmaschinen, Bodenverdichtung, Landschaftsverwüstung u. v. a. m. Wenn die Nahrung aber nach Paracelsus »in den Menschen selbst« verwandelt werden soll, hieße das, nach einer Gesundheit zu suchen, die auch seelisch-geistig guttut, insofern man sie verantworten kann – hieße es, die Sorge um sich selbst wieder zur Sorge um die Natur werden zu lassen. Auch dies, das absichtliche Leiden, das man mit dem phasenweisen Verzicht auf Nahrung auf sich nimmt, kann ein Auftakt sein, ab nun den Weg der Sorge, des sensiblen Umgangs mit der Nahrung, d. h. mit sich und der Natur, gehen zu wollen. Physiologisch gesehen bricht die Versorgung mit Kalorien ab, sodass der Körper gezwungen wird, auf seine Energiereserven zurückzugreifen. Die Steuersysteme schalten auf eine innere Verdauung und damit auf Entlastung des Stoffwechsels um. Ab der dritten Fastenwoche ist die neue Körperökonomie stabilisiert, der Darm ist vollständig entleert, die Gewichtsabnahme wird deutlich spürbar, das Hungergefühl ist erloschen. Die Fastenden fühlen sich wohl, sogar euphorisch und mitunter äußerst leistungsfähig. Beim längeren Fasten, ab der vierten bis sechsten Woche, erreicht die innere Verdauung den Abbau von krankhaften Zellstrukturen, sodass eine Heilwirkung auf chronische Leiden inbegriffen sein kann. 222 Das ursprüngliche Fasten besaß apotropäische Bedeutung, und hierin äußert sich die Sichtweise originär, dass die Naturgüter als Träger von Geist fungieren; im Umkehrschluss betrifft dies den menschliche Organismus mit alledem, was er geistig mit dem Essen angesammelt hat. Diese Vorstellung hielt sich nach herrschender Meinung noch in der Antike. Zu nennen sind die für das Fasten und den Vegetarismus bekannten Pythagoräer, womit hier auch die Lehre von der

222

Vgl. ebd., S. 6.

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Seelenwanderung in Verbindung zu bringen ist. 223 Alle Religionen praktizieren das Fasten in verschiedenen Formen des Verzichts; bekannt sind die jährlichen Fasttage des Judentums und der Fastenmonat Ramadan im Islam. Bei den meisten Völkern liegt die Fastenphase im Frühling, wenn die Vorräte knapp wurden und das Fasten zugleich der körperlichen Reinigung besonders dienlich ist. Die unterschiedlichsten religiösen Rituale sehen neben verschiedenen Zeitabschnitten partielle Varianten vor wie z. B. den Verzicht auf Genussmittel, Fleisch, Alkohol. Wie konkret gefasst auch immer, so geht es im religiösen Kontext bis heute überall um die Reinigung der Seele, das Streben nach Konzentration, nach Erleuchtung oder Erlösung. Im Christentum ist die Abwehr des Bösen zudem zentral, allerdings im Sinn der Lehre von Sünde und Erlösung nicht als Eigenleistung verstanden, sondern wiederum als Haltung der Konzentration auf Gott, der Erlöser ist. In der christlichen Tradition galt zunächst das Fasten als Buße für primär; durch die Willensbetonung des ab dem 5. Jh. einflussreichen Pelagianismus weniger als Gesinnungshaltung denn als Leistung ausgeführt. Die Reformation hat das Fasten daher rigoros abgelehnt. Dennoch hielt sich in den Jahrhunderten danach auch in den protestantischen Gemeinden das regelmäßige Fasten lebhaft, und das trotz natur- und politisch bedingter Hungersnöte. Für den gewohnheitsliebenden Menschen blieb dabei das SinnträgerPotential der Nahrung besonders wichtig. 224 Heute wird im Protestantismus das Fasten als freiwillige Gesinnungshaltung ausgeübt und empfohlen. Beliebt geworden ist die Aktion »Sieben Wochen ohne« mit verschiedenen Verzichtsoptionen als Antipode gegen die Konsummentalität. Die klassische christliche Fastenzeit umfasst die vierzig Tage vor Ostern unter Nachfühlung von Jesu Passion. Jesu wachendes Gebet in Vorbereitung auf den Weg ans Kreuz wird hierbei gedanklich verbunden mit der Berufungsphase, die er vierzig Tage 223 Vgl. Arbesmann, P. Rudolf: Fasten bei Griechen, S. 23, 103. In FN 73 wird auf die Pythagoräer bereits eingegangen. 224 Vgl. Krug-Richter, Barbara / Zimmerman, Clemens: Ernährung, in: Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 3, Sp. 467, 475. Die Macht der Gewohnheit hat bei der Ernährung mit viel mehr als nur mit Genuss oder Entsagung zu tun, sondern v. a. mit der Statussymbolik und dem Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit, vgl. Diemer, Andreas: Kritik und Ablehnung wiegen tonnenschwer, in: Naturarzt 7 / 2001, S. 16 f. Der Verfasserin ist ein Gedicht (ohne Titel) des schweizerischen Pfarrers und Schriftstellers bekannt vom »überaus dicken Mädchen«, das immer freundlich zu sein gelernt hat und sich stets eigene Wünsche versagen muss.

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fastend und betend in der Wüste verbrachte (Lk 4,1 par.). Wegen der verinnerlichenden Richtung des Fastens (z. B. zur Verarbeitung von Erlebnissen, zur Vorbereitung auf Herausforderungen wie bei vielen Religionsführern vor ihrem Antritt) wird in der Gegenwart neben den physischen Aspekten auch das seelische Potenzial gerne therapeutisch genutzt, z. B. als Hilfe zur Trauerarbeit. Doch hat auch dieser Ort des Fastens Vorbilder, so wie es noch zahlreiche weitere Analogien zu nennen gäbe, denen allen nicht bloß die Nachahmung innewohnt, sondern leibliche Erfahrungen, die offenbar in der Kulturgeschichte fest verankert sind. In den christlichen Klöstern war das Fasten daher prägendes Lebenselement. 225 Das Fasten wird der Askese zugeschrieben, und askesis bedeutet »Übung«, was den Verzichtscharakter impliziert. In der antiken Philosophie war mit Askese primär die entsagende Meditationshaltung zum Zweck moralischer Vollkommenheit gemeint. Dabei birgt die Askese ein hohes Gewinnpotenzial, Vorteile, wie sie aus dem Obigen zur somatischen Gesundheit und zur Introversion hervorgehen. Der Ökonom Ludwig von Mises schreibt aus anthropologischer Sicht zum Wirtschaften, dass es kein Handeln der Menschen gäbe, das nicht Haushalten wäre, ein ständiges inneres Abwägen zwischen Gewinn und Verlust, ein Streben nach Gewinn natürlich, je bewusster, desto mehr. Besonders stark sieht er das Gewinnstreben ob des hohen Einsatzes in der Askese gelegen und korrigiert die übliche einseitige Annahme des reinen Verzichts mit der Feststellung: Askese dient höherer Lust. 226 Nun verschafft die Askese, speziell auch das Fasten, nicht allein im Privaten verbleibenden Ertrag, sondern auch Gewinnfluss seitens der Außenwelt, dadurch dass der Rückzug im sozialen Kontext bemerkbar wird. Und nicht nur das, beim Fasten ist es zudem der sichtbare Gewichtsverlust, die Abmagerung. Das Fasten eignet sich daher »optimal« zum Bekunden von Leistung und zur Erzielung von Aufmerksamkeit. Entsprechend war es religiös als Materialisierung der Leistung gegenüber der Gottheit üblich, dabei auch als Sichtbarmachung gegenüber Mitstreitern. Im Neuen Testament warnt Jesus seine Jünger vor einem solchen Abgleiten in die Äußerlichkeit (Mt

Vgl. Angenendt, Arnod: Geschichte, S. 572 f., 577 f. Vgl. Von Mises, Ludwig: Gemeinwirtschaft, S. 372 f. Ähnlich gab es schon antike Reflexionen zur Askese, vgl. bei Angenendt, Arnold: Geschichte, S. 561: Während Platon v. a. den ethischen Gewinn betonte, sah das Judentum die Selbstdisziplinierung in einer eschatologischen Vollendungsdimension nach Gottes Heilsratschluss. 225 226

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6,16–18). Wegen seiner spektakulösen Art wurde das Fasten immer auch in Form von Hungerstreiks zu politischen Demonstrationen eingesetzt (z. B. durch Mahatma Ghandi). In verschiedener Hinsicht ist das Fasten Schauereignis, zunächst, weil es die eigene Sicht auf das Ich fixiert, ferner nach außen hin Schau sein will. Im Fall der Leistungsbekundung ist schwer zwischen Selbstgenugtuung und Außenwirkung zu trennen. Aktuell z. B. fallen immer mehr Männer in die Magersucht, weil es im pausenlosen Berufsstress (z. B. bei Reisenden) bequem ist, auf das Essen zu verzichten. Doch spielt hier, wo der Leistungsstress die soziale Teilhabe und wirkliche Resonanz durch andere gegenüber dem eigenen Wert verhindert, psychologisch eigentlich die Macht über den Körper und deren Sichtbarmachung eine Rolle. 227 Um Mises recht zu geben: Das religiöse Verdienst bzw. die soziale Anerkennung durch das Fasten stellen derartige Attraktionen dar, dass Menschen aller Epochen bereit waren, mittels Fasten dafür ihr Leben zu opfern. Die christlichen Klöster und Kommunitäten, angeregt schon durch die Nahrungsaskese der frühchristlichen Eremiten, außerdem die Armenbewegungen und vor allem auch die Mystik aller Jahrhunderte (wobei die genannten Gruppen verschwimmen), sind bestimmt von andauernd fastenden Büßern und Eiferern bzw. auch Eifrigen, charismatisch Hochbegabten und karitativ Glühenden, die in äußerster Konsequenz die Gottesnähe suchten und die Loslösung von den Übeln der Welt. Katharina von Siena aus dem 14. Jh. sei stellvertretend genannt für die Unzähligen, in der Mehrheit Frauen, und für deren Selbstzerrüttung der Gesundheit durch Hunger; dabei war Katharina theologisch und politisch ein herausragendes Licht. Allezeit verließen auch bürgerliche und reiche Frauen ihre Familien und taten es den Eremiten gleich. In den 30er-Jahren des 20. Jh. ist die jüdisch stämmige, zum Katholizismus konvertierte Sozialistin und Mystikerin Simone Weil ein Beispiel von Aufopferung aus Leidenschaft, ein hochsensibler und dabei ein körperlich anfälliger Typus, der nach klinischer Ansicht besser nicht hätte hungern sollen. Der ins Körperliche gelenkte Hunger nach einer besseren Welt entfachte in ihr eine große Wirkkraft. 228 Vgl. Birner, Kathrin: Kein Geschmack, in: Publik-Forum 5 / 2009, S. 17. Bei S. Weil lag dem Hungern wesentlich eine sehr individuelle Kreuzestheologie zugrunde, vgl. Krogmann, Angelica: Simone Weil, S. 136 f. Ihr gewollter Tod durch Auszehrung und Krankheit ist weder zu verklären noch zu verurteilen. In der Beur227 228

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Die angemessenste Erklärung für die Frauen-Überzahl unter den christlich-Fastenden hinter oberflächlichen Antworten wie Masochismus oder genereller Nähe der Frauen zur Nahrung bleibt für Forscher diejenige Erklärung der Körperhingabe aus Liebesdienst. Dabei konnten sich Frauen wegen der Laktation selbst als Nahrung sehen, entsprechend Christus, der seinen Leib gab. Hinzu kam sicher auch, dass mit der Abmagerung die verpönten und lästigen Seiten der Sexualität abgeschafft werden konnten. 229 Doch darf nach Meinung der Verfasserin auch die Verbindung von Hunger und geistiger Schaffenskraft nicht übersehen werden, die schon Platon in seinem »eros des Denkens« vorbereitete, den er aus Begabung und Mangel inauguriert sah. 230 Am Ende des 19. Jh. wird diese Liaison für die Schriftstellerei bedeutsam mit hungernden Autoren selbst und der Thematik des Hungerns. Als meistrezipiertes Werk gilt bis heute der Roman »Hunger« (1890) des Norwegers Knut Hamsun. Die Rezeption sieht im literarischen Hunger einen »Katalysator, um Psyche, Geist und Körper einander noch mehr anzunähern«. 231 Die Verfasserin möchte teilung ihres kurzen, überreichen Lebens im Ganzen ragt das Wetteifern von Empfinden und Handeln heraus. Es bleibt eine Frage, ob das ohne den Trieb zu hungern und seiner Zuspitzung in der Sucht auch so gekommen wäre. 229 Vgl. Angenendt, Arnold: Geschichte, S. 577. Nochmals zu S. Weil: Von ihr wurde die Idee der Körperhingabe in einem Gebet explizit formuliert und später brieflich einem Vertrauten genannt; sie habe diese aber betont nicht aus eigenem Willen erhalten (eine menschliche Unmöglichkeit, meint sie), sondern in der mystischen Schau, zit. in: Seelhöfer, Dorothee: Simone Weil, S. 141, vgl. auch S. 157 zur gezielten Aufzehrung. Weiterhin ist die Magersucht bei S. Weil deutlich ein praktisches Mittel zur Kanalisierung der Energien, z. B. in Ehelosigkeit und Schaffenskraft: S. 161. Am Beispiel S. Weil zeigt sich schließlich, dass das religiös begründete Fasten oder Hungern in häufigen Fällen von psychischen Antrieben nicht zu trennen ist (vgl. ähnlich auch die asketischen Massenhysterien im Mittelalter), wie sie heute einer durch Diät ausgelösten Magersucht zugrunde liegen. Wie bei Letzterer bereiteten bei Weil kindliche Traumata die Neurose vor. Anders gesehen liegt hier der von Freud und Adler erkannte Zusammenhang von Neurose und Genie offen zutage, der heute mit dem entwicklungsbezogenen Skopus besonders von der Jung-Forschung aufgegriffen wird, etwa zur Kompensationskraft auf geistigem Gebiet. Vgl. Ribi, Alfred: Neurose, S. 110–118. 230 Vgl. Platon: Symposion, die Herkunftsparabel des Gottes Eros, 203b–204c. Der eros des Denkens strebt bei Platon nach der höchsten Tugend, der Idee des Guten. Parallelen und Unterschiede zum christlichen Menschenbild der Bedürftigkeit, das von der göttlichen, sich herabneigenden Liebe angerührt wird, sind interessant, vgl. FN 167. 231 Vgl. Diezemann, Nina: Kunst, S. 81–83. Vgl. in neuerer Aufnahme Hamsuns den Essay des Amerikaners Paul Auster (1997): Die Kunst des Hungers (betont nicht »des Hungerns«).

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betonen, in allen zum asketischen Hungern genannten Beispielen den Hunger nicht als Leistung zu sehen, sondern als eine Leibbarmachung und Verstärkung desjenigen Hungers, den die Betroffenen in sich verspürten nach Gott oder nach Kreativität. Übergeordnet kommt im 19. Jh. eine eigenwillige bürgerlichdiätetische Kultur auf, die infolge des Vernunftprimats der Aufklärung und des Wirtschaftlichkeitsdenkens der Industrialisierung das Augenmerk auf das gesellschaftlich respektierte Benehmen und die Selbstdisziplin lenkte. Das Ethos »Arbeitsamkeit« war der Boden eines Habitus an unternehmerischer Selbststilisierung und Abgrenzung gegen den vermeintlichen Müßiggang des Adels und die Entfremdung des Proletariats. Akribische Rhythmik und Pflichterfüllung, eingeschlossen auch das Freizeitverhalten, prägten den Tagesablauf. Bei den bürgerlichen Damen, deren Betätigungsfeld zeitbedingt im Häuslichen lag, gerieten Fasten und Hungern zum probaten Mittel der Dokumentation von Diszipliniertheit im Rahmen eines richtigen Lebensstils. In umgekehrter Logik ging es beim Hungern aus Anlass von Schicksalsschlägen um die theatralische Artikulation von Gefühlen, von Leid, das eigentlich zu verstecken war. 232 In dem Kontext wurde von der Medizin eine neue Krankheit beschrieben, wie überhaupt um diese Zeit die Macht der malträtierten Psyche gegenüber der nur scheinbar glücklichen Bürgergesellschaft in den Blick geriet. Der englische Arzt William Gull war 1868 der erste, nach ihm der Franzose Ernest-Charles Lasègue, die Fallberichte über eine Anorexia veröffentlichten, die vorher nur allgemein die Appetitlosigkeit meinte, nun als Anorexia hysterica (heute nervosa) den psychogenen Zusammenhang der Krankheit betonte. Diese erste als Entität beschriebene Essstörung hebt sich von der sie oftmals einleitenden Fastenpraxis stark ab. Markante Symptome sind die auch sonstige Höchstleistung der Betroffenen, die Körperschemastörung, sich trotz Untergewichts als dick zu empfinden, die totale Abhängigkeit des Selbstwertgefühls vom Körper sowie die andauernde Beschäftigung mit dem Körper und der Nahrung bei deren gleichzeitiger Ablehnung. Das Eigentliche aber ist das erhebende Gefühl von vermeintlicher Autarkie, von äußerster Disziplin und Beherrschung der sonst übermächtigen Natur sowie die Vorstellung, 232 Vgl. Schulz, Andreas, Lebenswelt S. 21 f. Mit der Romanliteratur ist der freiwillige Hungertod einer Frau aus Schuldgefühl bekanntgeworden: Goethe, Johann Wolfgang: »Die Wahlverwandtschaften«, vgl. im Kommentar von Benedikt Jeßing, S. 276.

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Was ist Diätetik?

darin, zusammen mit den übrigen Leistungen, bewundert werden zu müssen (etwa: »So dünn und so leistungsfähig!«); umgekehrt ist es auch die ständige Selbstgenugtuung im vermeintlichen HerabsehenKönnen auf die »lüsterne«, »fette«, »faule« Umgebung. Heute ist medizinisch bekannt, dass bei längerem Hungern freigesetzte Endorphine Rauschzustände erzeugen, womit die Sucht bei den Betroffenen auch körperlich stark manifest wird. Der psychische Druck zum Schlank- und Leistungsstarksein wird jetzt natürlich hauptsächlich von der veräußerlichten Mode-, Körper- und Profitgesellschaft evoziert. Die Anorexia nervosa ist eine Krankheit, die zwischen Ziel und Wirkung, zwischen Liebessuchen und Abstoßen der Umgebung einen grausamen Teufelskreis fährt. Die Ambivalenz dieser Krankheit wird nur plausibel, wenn man versteht, wie den Betroffenen ein verdrehtes Weltbild in aller Geschlossenheit immer schon vorgeführt wurde. 233 Kaum eine Krankheit hat so pervertierend mit der getriebenen Sichtbarmachung der hungernden Seele nach Zuwendung zu tun, mit einem erzeugten Spektakel oberflächlicher Stärke, das in kontrollierender Sorge der Umgebung mündet, gepaart mit deren Entsetzen und Abscheu, mit deren ständigem Zerrissen-Werden zwischen Fürsorge und Unverständnis. Auf Dauer ergibt sich der hoffnungslose Kampf gegen sich selber bei den Patienten, wiederum in Mehrzahl weiblich, häufig in hemmungslosen Essattacken; der Übergang zur Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa) ist gelegt. 234 In verschieden stark ausgeprägter Hinsicht liegt das Kennzeichen des Spektakels auch auf der Betrachterseite. Die Magersucht war genau genommen schon Jahrhunderte vorher bekannt, nur mit anderen Anamnesen und Bezeichnungen. Als Volksspektakel wurden »Hungerkünstler« auf Jahrmärkten vorgeführt. Im 19. Jh. wurde die Zurschaustellung »lebender Gerippe« in Marktbuden und Vergnügungsparks zur Großattraktion nebst Riesen, Zwergen, siamesischen Zwillingen u. a. »Naturwundern«. Schon älter ist übrigens auch das weibliche Hungern aus Gründen des Spektakels »Mode«, in Deutschland auffallend erst ab den 1920er-Jahren. Die Ausbreitung von Medien- und Konsumstil ab ca. 1970 forcierte dann das Breitenphänomen. Im weltüberdrüssigen Fin de Siècle grassierte die Schaulust an den Abgemagerten mit deren bildhafter Publizierung in der medizinischen Literatur. Die mehr oder weniger sadistische Lust am 233 234

Vgl. Drewermann, Eugen: Moral, S. 154. Vgl. Spegg, Horst / Erfurt, Dorothea: Ernährungslehre, S. 172 f.

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Gesundheitsverhalten früher

Beschauen des insbesondere weiblichen ausgezehrten Körpers gipfelte in ärztlichen Inszenierungen der unfreiwillig Abgemagerten in den Konzentrationslagern. Die Verstümmelung der körperlichen Reize und insgesamt der Menschenwürde scheint die Schranken des Sittsamen zugunsten des Spektakels hemmungslos fallenzulassen. Beides, die Sucht nach der eigenen Verstümmelung und deren Zurschaustellung einerseits, die Fremdverstümmelung und deren Inszenierung andererseits, fanden zu allen Zeiten Anklang. 235 In den beiden Kulturbräuchen des Badens und des Fastens, in ihren Polen der Bejahung von Vitalität und deren Verneinung, verschwimmen die Motive Lust bzw. Entsagung in der Gier oder sogar Sucht. Entsagung wird zur Lust, dann zur Sucht in ihrem Haltlosen, und Lust wird zur Entsagung in ihrer Ausschließlichkeit. Ungünstig rät daher der deutschlandweite Verein »Dick und Dünn e. V.« Magersüchtigen zum Absehen vom Planmäßigen beim Wiedererlernen des Essens. Das Essen nach Willkür ist nur die andere Seite der Entgleisung, mit der die Werbung der Snacks und süßen Riegel lockt. Das rhythmische Maßhalten weder der Natur noch des Sozialen noch des Alltags werden damit getroffen. 236 Schon gar nicht trifft es den Menschen in seiner ganzen Leiblichkeit, der im Hungern ein elementares seelisches Bedürfnis artikuliert: Angenommen zu werden wie man ist, ohne die Forderungen zur Verstellung nach den Leistungsmustern der Gesellschaft und Familie. Es ist, absolut gesehen, die Sehnsucht nach einem Gnadenraum, wie ihn im Christentum der Zuspruch des Mensch gewordenen Gottes ermöglicht. 237 Im christlichen Evangelium kann, ähnlich wie bei den schon in dieser Arbeit beschriebenen kosmologischen Mustern, eine geistige Übereinstimmung zwischen Innen- und Außenwelt des Menschen gefunden werden, wobei der Mensch mit seinem hoch entwickelten seelisch-geistigen Sensorium offenbar eine Sphäre absoluter Geborgenheit braucht bzw. glauben muss, um existieren zu können. Nicht umsonst fällt 235 Vgl. Vandereycken, Walter / van Deth, Ron et al.: Wundermädchen, S. 105–107 und 302–305. Interessanterweise wurde im gleichen Zug das Übergewicht zur »Volkskrankheit«. Der starke Hang gerade von Mädchen und Frauen zum Fasten und Hungern kann abschließend noch nicht beurteilt werden. Hierzu müsste den Betroffenen mehr Sprachraum gegeben werden, damit ihnen sowie anderen vorbeugend geholfen werden kann, sicher nicht nur im Bereich der Mode, sondern in den gesamten Kulturbildern, vgl. S. 304 f. 236 www.fen-net.dickundduenn/content 14. 6. 2007, bes. Aufsätze S. 2. 237 Vgl. Drewermann, Eugen: Moral, S. 161 f.

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Was ist Diätetik?

kulturgeschichtlich die Entwicklung zum pathologischen Hungern in die Gesellschaftsmuster der Aufklärung. Hatte in Deutschland immerhin Kant eine theistisch gestützte Vernunft zugelassen, so war damit das Religiöse allein in die Moral verlegt, die Freiheit des Menschen bis zur Überforderung gedehnt und eine existenzielle Verortung den Menschen weggenommen worden. 238 An dieser Stelle soll damit angemerkt werden, dass auch die Verantwortlichkeit als ethische Kategorie, wie sie bisher als diätische Kondition herausgehoben wurde, eine Überforderung darstellt, wenn das diätetische Handeln einer Person nicht auch in einer transzendenten Geborgenheit wurzelt, die die menschlichen Unzulänglichkeiten auffangen kann. 239 Im Zusammenhang z. B. mit Risikobereitschaft wurde das schon angedeutet. Nicht nur die äußere Leistung des Hungers, sondern auch die Demonstration der Liebesbedürftigkeit, die Suche nach Anerkennung und Zugehörigkeit der vereinzelten, sozialen Banden entrissenen Menschen, die Erschütterung im Persönlichen der aufgeklärten Zeit, drücken die zahlreichen Romane und Erzählungen aus, ganz drastisch z. B. Franz Kafkas Hungerkünstler. 240 In der Philosophie markiert Sören Kierkegaard (1813–1855) die Abkehr von den geschlossenen Kulturauffassungen der Vorepochen sowie der idealistischen Auffassung einer Vertrautheit des Menschen mit sich selber. Kierkegaard drückt das im vorigen Absatz genannte Defizit existenzialphilosophisch aus; nach ihm findet der sich selbst fremd gewordene Mensch nicht mehr seinen Ruhepol, den er, christlich gesehen, in der Gnade Gottes und ihren konsensuellen gesellschaftlichen Ausstrahlungen besetzt hatte. Das Individuum in seinem Existenzgefühl wird zerrissen zwischen potentieller Verwirklichung und Zwängen. Kierkegaard bezeichnet diesen verzweifelten Zustand der modernen Individuen als unheilbare Krankheit – »Die Krankheit zum Tode«. Wie kein anderer umspannt er am Prototyp des Hungerkünstlers, der an seinem Selbst das 238 Vgl. ders.: Sechster Tag, S. 270–274. Mit gutem Willen können die schlimmsten Taten gerechtfertigt werden: Vgl. S. 274–284. 239 Hier hätte z. B. auch buddhistische Meditation ein Potenzial, wenn sie den Praktizierenden wirklich in die Freiheit führt und nicht am westlichen Ich-Streben hängenbleibt, vgl. ebd., S. 324 f. 240 Kafka umspannt mit »Mangel« und »Leistung« deutlich auch die literarische Seite, denn interessanterweise hebt er am Schluss im Verschwinden des Hungerkünstlers alle Körperteile hervor, die mit der Sprache zu tun haben. Hinweis von Diezemann, Nina: Kunst, S. 126 f.

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Gesundheitsverhalten früher

äußerst Machbare unter destruktivstem Zwang erreicht, das Leibliche zwischen seelisch-geistiger Existenz und gesamt-leiblicher Morbidität. 241 Die Betonung der nur körperlich-gesundheitlichen Bedeutung am Fasten ist eine sehr junge Sache und greift nur dann, wenn wir das Diätetische überwiegend auf die Ernährung beschränken. Da das Fasten aber noch heute als sehr komplexes und vielseitiges Phänomen bekannt ist, wird Letzteres mit dem Begriff »intermittierendes Fasten« belegt, inbegriffen das neu entdeckte »Heilfasten«, das bereits, wie beschrieben, das Körperliche weit hinter sich lässt. Gewiss ist die Beliebtheit des Heilfastens eine Folge der adipös disponierenden Bedingungen der Wohlstands- und Leistungsgesellschaft. Doch schwingt bei denjenigen, die den Wunsch zu solchem Fasten verspüren, in der Regel eine Ahnung mit um die Nicht-Trennbarkeit von Ernährung, Lebensweise und seelischer Verfassung. Es ist oft ein Aufbegehren gegen die überlastenden Bedingungen des durch Massenstrukturen bestimmten Lebens, ein Sehnen nach ausgleichenden Erfahrungen in den Mühen des Alltags und des mitmenschlichen Umgangs. Die Fastenden wollen ihren Körper und ihre Seele befreien, Lasten abwerfen, Masken abnehmen. Um an dieser Stelle philosophische Schlüsse zu ziehen: Das Baden und auch das Fasten – beim Letzteren trotz seiner individualistischrückzieherischen Art – zeigen sich schon früh als stark gesellschaftlich bestimmt. Sie sind damit anfällig dafür, die für die Diätetik bisher in dieser Arbeit festgestellte »Freiheit von Institutionen« zu verlieren. Es ist kein Syllogismus, wenn hier behauptet wird, dass sie in dem Fall nicht mehr diätetisch sind, weil sich deutlich die Extreme und Sackgassen zeigen, in die beide damit geraten. 242 Natürlich geht es um eine innere Freiheit, womit Individuen, die eine Therme besuchen oder eine Schlankheitskur machen, dies sehr wohl als Diätetiker tun können. Die Kapitel ab 4.1 dieser Arbeit werden die Spannung zwischen Individuum und Kollektiv genauer betrachten. Bisher soll es weiter um allgemeine Wesenheiten gehen.

Vgl. Kierkegaard, Sören: Krankheit, insbes. S. 13–69. Das Diätetische hat sich als Komplex gezeigt, und alle in Frage kommenden Komponenten müssen zum Aufweisen und Überprüfen von »Diätetik« sehr sorgfältig gegeneinander abgewogen werden; dabei bedingen sie sich auch gegenseitig, vgl. schon zum Zusammenspiel der altgriechischen Tugenden hier in Kap. 3.1.1. 241 242

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Was ist Diätetik?

Mit dem soeben Gefolgerten sollte am Beispiel der Ausarbeitungen zum Baden und Fasten die generelle Frage nach dem SubjektObjekt-Verhältnis des Diätetischen geklärt werden. Schon am Anfang dieser Arbeit, im Kapitel »Zielstellung«, wurde die Problematik aufgeworfen, dass sich Gesundheitspflege, als menschliches Leib-Sein verstanden, nicht mit einer objektiven, instrumentellen Behandlung des Menschen (und des Lebens überhaupt) verträgt. Eine philologische Habilitationsschrift zur Diätetik in Goethes Romanen untersucht, speziell für die Goethezeit und entsprechend in seinen Romanen gespiegelt, die Tendenz des Diätetischen zum Asketischen, was thematisch im nächsten Kapitel genauer behandelt werden wird. In einem sehr allgemein gehaltenen Abschnitt wird hier die Diätetik als grundsätzlich der »Objektivierung« inbegriffen bezeichnet. 243 Das könnte Missverständnisse erzeugen. »Objektivierung« beschreibt eine rein neuzeitlich-naturwissenschaftliche Erkenntnismodalität. Zum folgenreichen Programm machte sie die Descartes-Rezeption – auch dies wurde schon angeschnitten. Durch die Reduktion des (für Descartes überhaupt nur menschlichen) Geistes zur rein sachbezogenen Erkenntnis, die Isolierung des Lebens von seelisch-geistigen Funktionen und damit durch die Betrachtung allen Lebens als physische Sache (Descartes: »ausgedehnt und teilbar«) wurde das Leben mechanisch konzipierbar. Im Gegensatz zur Antike, die u. a. mit Aristoteles den Geist bereits absonderte, wurde jetzt das eigenwertige Gefüge der Natur aufgegeben. Der Mensch verlor seine Heimat in der Natur, d. h. als denkend-handelndes Subjekt findet er sich nunmehr der Natur und damit auch seinem eigenen Leib gegenüber gestellt. 244 Im Blick auf das Gesundheitshandeln macht es also kategorial einen Unterschied, ob Körper und Seele gepflegt werden in der Weise einer Selbstreflexion, die eine innere Fühlung sowie die Partizipation am Leben einschließt, oder ob sie als Sache in den Dienst genommen werden wie z. B. nach gesellschaftlichen oder ökonomischen Zwecken. Nur im zweiten Fall wäre der Bezug auf das Subjekt ausgeschlossen. Im Einzelfall oder auch als Kulturphänomen mag dieser Unterschied möglichst vorurteilsfrei schwer zu erkennen sein. Das motivierte die

Vgl. Egger, Irmgard: Diätetik, S. 71 f. Diese erkenntnistheoretische Veränderung wird ausführlich dargestellt bei Kather, Regine: Leben, S. 47–54, insbes. 52 f. Vgl. ähnlich zum »Tod der Natur« bei Hagencord, Rainer: Noahs Gefährten, S. 20–25. Tiere wurden von Descartes zu seelenlosen »Automaten« erklärt, S. 20 f. 243 244

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Entstehung dieser Arbeit, eng verbunden mit der Frage nach der »Manipulation« von Gesundheitshandeln (z. B. durch Werbung, Trendsetzungen), bei der die Reflexion, die bewusste Sorge um sich und das Leben aufgegeben werden. Der zitierten Habilitationsschrift ist insoweit zuzustimmen: Ohne die Fähigkeit zur Objektivierung könnten Menschen nicht sich selbst und der Welt gegenübertreten, nicht Kenntnisse schöpfen und Lehren verbreiten (vgl. die Regimina 245), gäbe es keine Pflege des Leibes, keine Medizin, keine paideia, keine Kultur. Ohne Objektivierung wäre das Diätetische beschränkt auf das Instinkthafte z. B. eines Tieres, das sich das Fell ableckt. Aber, wie Regine Kather verdeutlicht, muss Objektivierung keine ausschließliche Sichtweise sein: »Durch die Einbeziehung der Subjektivität von Beobachtetem und Beobachter« ändert sich die Erkenntnisgrundlage, das Handeln ist anders motiviert und folglich anders zu bewerten. 246 Es ist z. B. etwas anderes, ob ein Mädchen hungert, weil es durch eine seinem Selbst entsprechende Lebensstation des Klosters dazu animiert wird oder ob es hungert, weil ihm aus der Außenwelt, ob durch Elternhaus, Schule oder Schaufensterauslagen, konstruierte Vorbilder, also die Ablehnung seines wahren Wesens entgegenspringen. 247 Daher sollte man, um die zitierte Habilitations245 Sie werden in der zitierten Studie als negatives Beispiel angeführt, aber damit inhaltlich und didaktisch nicht angemessen bewertet. Zum einen lauteten sie nicht nur apodiktisch, sondern mit der Färbung durch die Säftelehre und mesotes-Anschauung auch äußerst individualitätsfreundlich, zum anderen war ihr didaktisches Ziel die Selbstständigkeit der Anwender. 246 Kather, Regine: Wiederentdeckung, S. 154–166 zur Partizipation am Leben als Erkenntnismodalität, zugespitzt S. 160 f., Zitat S. 161. – Der Arzt und Denker Viktor von Weizsäcker, der als Begründer des »Subjekts« schon in der Zielstellung dieser Arbeit genannt wurde, dürfte den Partizipations-Gedanken in seinen Ausführungen zum »Gestaltkreis« (1932) besonders treffend beschrieben haben. Vom »Subjekt« spricht er auch als dem – eben nicht teilbaren – »Individuum« als Blickpunkt der Interaktion mit dem übrigen Leben. Auslöser seines Wirkens war der fachliche Einfluss einer »Reflexphysiologie« des 19. Jh., die, knapp gesagt, den Menschen in einen Mechanismus aus Nervenreizen und Handlungen zerlegte. »Gestaltkreis« nennt er dagegen die mit gleichnamigem Werk der Patientenbeobachtung abgewonnene Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, vgl. insbes. S. 270–275 zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Ich und Umwelt konstituieren sich gegenseitig in permanenter Wechselwirkung, S. 272. Im französischen Denken des 20. Jh. entwickelt der Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty eine ähnliche, vielfach dem Pathologischen abgewonnene Philosophie des Leibes (ohne dass Begegnungen mit von Weizsäcker bekannt wären) – dazu mehr in Teil 5. 247 Nach der gegenwärtigen wissenschaftlichen Pathologie würde es keinen Unterschied machen, ob aus Gottsuche gehungert wird oder aus Gründen der Mode. Zu-

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Passage abschließend zu bewerten, mit dem Begriff »Objektivierung« nicht pauschal bestimmte Lebensphänomene belegen, sondern ihn als Bewusstseins- und Handlungskategorie verwenden, also als geistesund kulturgeschichtlich einschneidende Kennzeichen der nachcartesianischen Zeit, in der die schon immer gegebene Anlage der Menschen zum Objektivieren allgemeines Programm wurde. Einzelphänomene wären dann genauer zu überprüfen, wie es mit dieser Arbeit unternommen wird. Schließlich, von der Subjektperspektive her, kann zum Bewerten des Subjekt-Objekt-Verhältnisses als Anlage oder als Konkretion auf Kierkegaard rekurriert werden: Was Friedrich Hegel zuvor als Allgemeingültiges erkannt hatte, die Verzerrungen des Selbstbewusstseins in sozialen und ökonomischen Kontexten, war für Kierkegaard eine epochale Frage. Sie stand und fiel mit der fortgerückten Individualisierung ab der Aufklärungszeit und war zugleich in seiner Philosophie individuellen Lebensmustern abgewonnen. 248 Baden und Fasten wurden in diesem Kapitel als im Spannungsfeld von Spektakel und Askese alias Neurose stehend beschrieben. Beide können in Sucht ausarten, beim einen der Lust, beim anderen der Entsagung. Baden und Fasten sind diätetisch zu nennen, wenn sie die mesotes des gesundheitlich Zuträglichen wahren, und dies ist, wie schon an früheren Stellen dieser Arbeit hergeleitet (besonders bei Paracelsus), an das individuelle Empfinden, Urteilen und Handhaben gekoppelt. Die Einhaltung ist nicht leicht, insofern ein erlebtes Exsammenhänge, etwa welche weiteren Eigenschaften der Gott »Mode« freisetzt im Vergleich zur brennenden Nächstenliebe christlicher Asketinnen, Haltungen wie Leidenschaft oder seelisch-geistige Reifung, können mit dem Begriff der Neurose schnell erschlagen werden. Eine grundsätzliche Anfrage an das Wissenschaftsparadigma ist, ob hier, ohne den Zugang des Mitfühlens, alles erkannt wird, was abgeklärt wurde. 248 Vgl. Hegels berühmtes Motiv von Herrschaft und Knechtschaft in PdG IV, hier in: GW 3 S. 145–155. Bei Sören Kierkegaard vgl. die Verortungen des eigentlich freiheitlichen Selbstverhältnisses in den Koordinaten von Unendlichkeit – Endlichkeit, Möglichkeit – Notwendigkeit in: Krankheit, S. 27–40. – Im 20. Jh. bietet der Engländer Alfred North Whitehead insbes. mit seinem Hauptwerk Prozeß und Realität (1929) eine klärende Verhältnisbestimmung von Subjektivismus, Objektivismus und Wirklichkeit an. Der naturwissenschaftliche Materialismus in seiner abstrahierenden Verstehensweise fungiere nur als Modellbildung, Objektivierung »drückt diese Welt lediglich in Form ihrer Möglichkeiten aus …«. Erleben sei immer subjektiv und Erleben von Zusammenhängen, Kategorienschemata seien vorläufig, aber nicht konstitutiv. Mit der Vorstellung von der Prozesshaftigkeit allen Seins bemüht sich Whitehead um ein kohärentes Weltverständnis, vgl. S. 37 f., 298 u. ö. An späterer Stelle dieser Arbeit soll der Einfluss Whiteheads aufgegriffen werden.

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trem als rauschhaft genossen werden kann und der Rausch ins nicht mehr Abzuschüttelnde, Zwanghafte ausarten kann, wobei Lust und Verzicht prinzipiell austauschbar werden. Es bleibt umso mehr Aufgabe Einzelner sowie besonders auch der Erzieher, Therapeuten und Vorbilder, Individuen zur paideia innerer Freiheit und zum entsprechendem nomos zu verhelfen, d. h. auch zur existenziellen Einbettung für eine wirklich heilsame Diätetik zugunsten des ganzen leiblichen Menschen. Das extreme Fasten religiöser und geistig schöpferischer Natur soll an dieser Stelle noch diätetisch beurteilt werden: Wegen seiner Dominanz im Leben der Ausübenden und seiner Welt und Materie flüchtenden Art kann es kaum mehr der Diätetik zugerechnet werden. Wenn, dann nur an die spezielle Leiblichkeit, d. h. die Persönlichkeit, Wirksamkeit, körperliche Ausstattung der Betroffenen gekoppelt, an deren erfüllte Lebensführung und herausragende Ausstrahlung, womit eingeräumt wäre, dass Leiblichkeit immer nur eine ganz individuelle, subjekthafte sein kann, vor allem in ihrer seelisch-geistigen Seite. Baden und Fasten sind insbesondere dann diätetisch zu nennen, wenn sie in ihren verschiedenen Erscheinungsformen die mesotes zwischen Zwanghaftigkeit und Zügellosigkeit bewahren. Die Maßfindung wäre mit der Loslösung von institutionellen Vorgaben verbunden. Mit »Natur« als einem weiteren bisher ermittelten Wesen des Diätetischen haben das Baden und Fasten viel zu tun, weil sich auch ihr zufolge einseitige Extreme als Sackgassen erweisen, der Mensch oder die äußere Natur Schäden davontragen. Die Transzendierung des Körpers zum »Leib« wäre, würde sie sich individuell und kollektiv mehr durchsetzen, ein tragfähiges Fundament für eine weniger einseitige, organische Entfaltung der Lebenskräfte und für partizipierend ausgerichtete Lebensmuster. In dem Zusammenhang wäre es gut, wenn die hohe Selbstverantwortlichkeit des Diätetischen, die das Individuum überfordern kann, durch existenzielle Formen innerer Geborgenheit abgefangen werden könnte, wie sie die christliche Tradition vor der Aufklärung den Menschen gab. Das Baden und das Fasten sind von Anfang an stark von gesellschaftlicher Vereinnahmung und persönlicher Objektivierung betroffen. Sie sind aber wie alles Diätetische nicht per se Objekte eines gespaltenen Ich- und Weltbewusstseins, sondern eigentlich Bindeglieder zwischen Ich und Welt im Sinne elementarer Bedürfnisse (z. B. körperliches Wohlgefühl, seelisches Loswerden von Lasten) 154 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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und daher auch Zugangswege zur Ganzheit – wenn eine entsprechende paideia den nomos dazu finden lässt. Hingegen, mit dem gespaltenem Zugang zum Leben generell sollte begrifflich die nachcartesianische Zeit belegt bleiben.

3.1.7 Die Diätetik der Aufklärung und Goethes »Werther« Die Symptome für Kierkegaards existentialphilosophische Diagnose bahnten sich schon länger an. Auch Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) erspürte Entwurzelungen der Menschen und bemerkte Extreme, in die das Individuum dadurch gestellt wurde. Bei Goethe hat die Entwurzelung einen bestimmten Ort: die Natur. Er steht damit zahlreichen sensiblen Künstlern nahe, die die romantische Bewegung in Gang setzten. Literaturgeschichtlich befinden wir uns noch in der Klassik, genauer gesagt, im Sturm und Drang. Die Stürmer und Dränger fühlten sich eingeengt durch die Vernunftherrschaft der Aufklärung voller Reglements für Kunst und Umgangsformen. Sie plädierten für die Entfesselung des Gefühlssturms, der Phantasie und der Gemütskraft. Mit diesen Inhalten trifft es zu, dass der Sturm und Drang eine der Quellen war, aus der die Romantiker schöpften, denn die Romantik war in einer Schicht wesentlich eine Lesebewegung, und auch die Romantik ist als Bewegung gegen die Aufklärung anzusehen, die zu Goethes Schaffenszeit die meisten Geister in Deutschland bestimmte. 249 Doch Goethe, der Anwalt des Lebendigen, mit den pro-menschlichen Ansätzen, die er den neuen Bedrohungen der Individualität entgegensetzt, ist hierin disziplinär gewissermaßen aufklärerisch anzusehen, weil er Gedanken äußert, die sich nach und nach zu Fachgebieten wie der heutigen Psychologie oder Soziologie entwickeln. So bildet Goethe geistig einen interessanten Brennpunkt, und sein »Werther« (Erstausgabe 1774) artikuliert vieles davon und ist, insofern es um Lebensumstände und den Umgang damit geht, diätetisch gesehen wertvoll. Wie die Aufklärer und Aufgeklärten selber Diätetik verstanden, steht wiederum auf dem Blatt der Vernunftherrschaft. Der Werther wird auch diese Seite aufschlagen. Werther wird schulmäßig als Liebesroman interpretiert, mit dem Goethe sich den eigenen Schmerz von der Seele schreibt und auf seine eigenen, gewissermaßen ungebremsten Gefühle pocht. In jedem Fall 249

Vgl. Safranski, Rüdiger: Romantik, S. 38–40, 48–51.

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betont die Abfassung als Briefroman die subjektive Perspektive. Erst die neuere Forschung erkennt die zeitgeistgeschichtliche Dimension von Goethes Romanen und verknüpft sie mit der ab der zweiten Hälfte des 20. Jh. aufgekommenen Debatte über das Dialektische der Aufklärung. Hier soll eine abermals ergänzende Interpretation vorgestellt, doch zuvor noch der Inhalt kurz skizziert werden. Die Handlung erstreckt sich über eineinhalb Jahre. Der junge, empfindsam-bürgerliche Werther hat die für ihn disharmonisch gewordene Beziehung mit seiner ebenbürtigen Jugendfreundin Leonore beendet. Er zieht sich für einige Zeit auf das Land zurück, in den Ort Wahlheim, und ergeht sich dort in schwärmerischen Erlebnissen in der Natur und im Bauervolk. Durch die Standesgrenzen fühlt er sich bedauernd an mehr Nähe zum Volk gehindert. Auf einem Ball verliebt er sich in die ihm standesgemäße Lotte. Beide entdecken eine innige Seelenverwandtschaft. Werther wählt sich Lotte zur Partnerin und kann nicht mehr von ihr lassen. Lotte sorgt sich wegen seiner übersteigerten Empfindsamkeit. Kurz darauf kehrt Albert von einer Reise zurück, ein braver Bürger, mit dem Lotte verlobt ist. Werthers Leidenschaft Lotte gegenüber behandelt er mit kühler Distanz. Sein stets bedächtiges und rationales Handeln erweist in einem gemeinsamen Disput über das Recht auf Selbstmord den größten Kontrast zum Wesen Werthers. Der leidende Werther flüchtet sich schließlich in eine Stellung bei einer adeligen Gesandtschaft. In diese auf Etikette bedachte und für Werther seelenlose Adelswelt kann er sich nicht einfügen und wird wieder entlassen. Sein Zustand verschlimmert sich noch, als er von der Heirat Lottes und Alberts erfährt. Unschlüssig und wehmütig durchreist er die Stätten seiner Kindheit, dann hält er sich als Besucher bei einem befreundeten Fürsten auf. Auch hier erträgt der Gefühlsmensch Werther die geordnete höfische Lebensweise nicht; schließlich kehrt er zu Lotte und Albert zurück. Als er sich dort in Eifersucht und in ausweglosem Verlangen verzehrt, kommt es zum Bruch zwischen ihm und Albert. Ein letztes Mal besucht der Liebeskranke Lotte. Wieder zeigen sich gemeinsame Leidenschaften, schließlich lässt sich Werther hinreißen, umarmt Lotte, küsst sie und wirft sich vor ihr nieder. Lotte flüchtet und hält zu Albert. Am nächsten Tag verfasst Werther einen Abschiedsbrief an Lotte, leiht sich Alberts Pistolen und erschießt sich. Goethe hatte die Motive für seinen Roman außer im eigenen Erleben in tatsächlichen Geschehnissen der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit gefunden. Die briefliche Darstellung soll auch die Echtheit 156 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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des Stoffes ausdrücken, zumal sich wiederholt ein fiktiver Herausgeber zu Wort meldet. Der Roman wurde in sehr hohen Auflagen gedruckt. Seine Inhalte, bis zur Konsequenz des Selbstmords, fanden viele Nachahmer und evozierten insofern auch scharfe Kritik. Insgesamt behandelte die Rezeption sehr lebhaft die Impulse des Romans, die strenge Hierarchie des Staates und die starre Moral der Gesellschaft abzulehnen sowie die eigene Identität in allen Facetten zu verwirklichen. Doch sei nach der gängigen Interpretation Werthers Freiheit eigentlich ein Kerker der Egozentrik. Seine Ignoranz gegenüber anderen Lebensformen, auch seine unergiebigen Naturschwärmereien, lassen so gesehen den Schluss zu, dass das Gesetz- und Konventionslose, darunter die Natur in ihrer Zügellosigkeit und die Liebe in ihrer triebhaften Seite, Menschen zum Scheitern bringen. 250 Dass aber die Natur in ihrer Wirkung auf die Menschen im Werther eigentlich eine heilsame Konnotation hat, erschließt die Szene, in der Werther zurücksehnend die ländlichen Stätten seiner Kindheit besucht, insofern doch die Kindheit als Symbol der unschuldigen Vertrautheit gilt und nicht, wie die Außenperspektive es oft sieht, des Gefahrenbewusstseins und des Verlangens. Der Ort Wahlheim verbindet Werther ebenso positiv mit dem Land; er ist nicht einfach nur Stätte seiner Wahl, sondern wird erlebt als innigste Heimat: »… was so voll, so warm in dir lebt, dass es würde der Spiegel deiner Seele …«. 251 Der Literaturwissenschaftler Karl N. Renner deckt in seiner neuartigen Interpretation auf, wie im Gang durch den gesamten Roman sich alle natürlichen Orte und Situationen als diejenigen erweisen, an denen sich Werther seelisch und körperlich wohl fühlt. Während seiner Stellung an der Residenz findet er immerhin ein unprätentiöses Fräulein B., mit dem er kommunizieren kann: »Sie hat viel Seele … und wir verphantasieren manche Stunde in ländlichen Szenen von ungemischter Glückseligkeit …«. 252 Im topografischen Substrat ist also das Land nicht nur Ort der Gesundheit, sondern, ihr zugrundeliegend, auch Raum der Kommunikation. Dagegen die verkrampfte Beziehung zu Leonore, das Eingreifen des Weltbürgers Albert in die vertrauliche Beziehung zu Lotte, der Kontaktabbruch zu Lotte, die Gesellschaft in der Residenzstadt und ein dann erzwungener Kontaktabbruch zu dem Fräulein B., dies alles führt bei Werther 250 251 252

Vgl. die Schulinterpretation nach Leis, Mario: Lektüreschlüssel, S. 33–46. Goethe, Johann Wolfgang: Leiden, S. 8. Ebd., S. 79.

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zu Beklemmungen (»Ich habe keine Vorstellungskraft, kein Gefühl; die Bücher ekeln mich an«) und mit den Kommunikationsabbrüchen zur unheilbaren Verschlimmerung seines Seelenschmerzes (»Ach ich habe hundertmal ein Messer ergriffen, um diesem gedrängten Herzen Luft zu machen … So ist mir’s oft, ich möchte mir eine Ader öffnen, die mir die ewige Freiheit schaffte«). 253 Eine besondere Spitze bekommt diese Deutung – Land / Natur ist gleich Ort der ungehinderten Kommunikation und des Wohlbefindens, Stadt das Umgekehrte – noch damit, dass es Werthers Mutter war, die einst mit dem Zögling vom geliebten Boden der Herkunft in die Stadt zog. Aus dem Mutterkonflikt wird Werthers Verlangen verständlich nach Partnerinnen, die ein natürliches Wesen und eine Vorliebe für das Land besitzen. Dabei schätzt Werther durchaus den harmonischen Eingang der Natur in die Kultur, vor allem im Tanz oder in der Literaturdarstellung. Die Ablehnung des rein städtischen, gekünstelten, geregelten Lebens, der tristen Schreibund Denkarbeit der Intellektuellen, Bürokraten und Patriarchen erfährt im Roman eine besondere Pointierung auch in Bezug auf die körperliche Verfassung. Es macht sich Kritik am modernen Wirtschafts- und Verwaltungsstaat breit, wenn Werther anlässlich einer adeligen Gesellschaft mit ihren eitlen Anstandsgebärden und Vergnügungssitten die Indienstnahme des Körpers durch das Kapitalinteresse mokiert. Schließlich gehe die Seele im urbanen Umfeld zugrunde, wenn die Liebe geregelt wird nach Gepflogenheiten des Standes und des standesgemäßen Berufsinteresses. Die Ursachen von Werthers Leiden liegen damit in einer Gesellschaftsordnung, die die unmittelbare Kommunikation und die Harmonie der Arbeit durch Regeln zerstört. Werthers Leiden sind gesellschaftlich bedingt. 254 Diätetisch gesehen, und zwar von der Gesundheit der Seele ausgehend, interpretiert der Autor, dass das moderne, weitgehend rational auf sein Eigeninteresse fixierte Individuum alles andere brauche als Lebensregeln. Die Diätetik für das Wohl dieser Menschen hieße also: wohlwollende Kommunikation. Das entspricht den großen Kommunikationstheorien der Moderne, z. B. Sigmund Freuds oder Viktor E. Frankls, die dem Selbstzweifel das Verständnis entgegensetzen und der Einsamkeit die Sinnfindung. Therapien wie diese sind im urbanen Umfeld entstanden, um dessen artikulationslosen Indivi253 254

Zitate ebd., S. 63, 86. Vgl. Renner, Karl N.: Büchlein, S. 13, 15, 17.

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duen Stimmen zu geben. Karl N. Renner nennt als typisch psychosomatisches Leiden, das sich ab der Aufklärung bekannt machte, die Hypochondrie, quasi als Stimme der Vereinsamten. So stellt seine Interpretation am Ende klar, wie den diätetischen Herausforderungen der Aufklärung, nämlich dass es erstmals sozial bedingte Leiden gibt, mit entsprechenden humanwissenschaftlichen Erkenntnissen, also insofern aufklärerisch, zu begegnen wäre. 255 Dem Einfluss der Natur auf die Seele des Individuums soll hier gedanklich nachgegangen werden. Wird in Goethes Romanen der Körper thematisiert, so geht es dabei in der leiblichen Perspektive um die seelisch-geistige Einstellung, d. h. genauer, wie oben beschrieben um die verstellte oder unverstellte Ausübung z. B. der Bewegung oder des Speisens. Das künstlich beeinflusste Verhalten im Gegensatz zu einem natürlich orientierten Benehmen ist Goethes Thema, mit dem er der modernen Psychologie weit vorauseilt. Im 19. Jh. erregten psychopathologisch gesehen besonders die Hypochondrie und außerdem die Hysterie allgemeines Aufsehen. Die Einsicht aber, dass soziale Kodizes oder Defizite an Natürlichkeit weitgehend ursächlich für seelische Leiden seien, steckte damals erst in den Anfängen und öffnet auch heute immer wieder neu die Augen. Darum soll es im Folgenden, vergleichsweise mit der Goethezeit, gehen. Heute sorgt sich die Öffentlichkeit, seit etwas über zehn Jahren, stark um die Seelengesundheit der Kinder. In Bezug auf »ADS« und »ADHS« macht sich nach eher unergiebigen organbezogenen Forschungen allmählich der Verdacht breit, dass diese Leiden viel mit mangelnder Geborgenheit und Respektierung des kindlichen Individuums zu tun haben. Vor allem die allgemeine Dominanz der elektronischen, virtuellen, passiven Kommunikation, wie sie schon die Kleinsten erleben, kann die menschlichen Bedürfnisse nicht ersetzen und unterdrückt beim Kind das Erlernen der menschlichen Kommunikation. Kommunikation wäre etwas Wechsel- und Vielseitiges, ganz anders als das Einseitige der dominierenden »Information«. Als Trugschluss zeigt sich in ihr der Fetisch, den technischen mit dem sozialen Fortschritt gleichzusetzen. 256 Eltern erleben es und Psychologen weisen es fachlich nach,

255 Ebd., S. 15, 17. Zur Zunahme seelischer Leiden in der Aufklärungsphase vgl. schon den Schluss von Kap. 3.1.6. 256 Vgl. Hartmann, Frank: Cyber Philosophy, S. 43. Ein Problem sei nach Hartmann, dass die Verdinglichung der Welt den Menschen bestimmte Brillen aufsetzt und vom normalen »Hinsehen« abhält: unter Berufung auf Wittgenstein und Husserl S. 92 f.;

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wie allein schon die einseitige mentale und zeitliche Inanspruchnahme durch die Computertechnik andere Fertigkeiten der Kinder verkümmern und die Kinder leiden lässt. Insbesondere wirken Faktoren wie der Zwang zur kaum kindgemäßen schulischen Medienanwendung und die Außenlenkung infolge von technischen Registrierungen fremdbestimmend und damit störend auf die Kindesentwicklung. 257 Eine ganz spezielle Sorge gilt nun seit einigen Jahren, deutlich ebenfalls im Kontext der Dominanz des Technischen, dem »NaturDefizit-Syndrom«. Schon länger ist im Gespräch, dass die meisten Kinder noch nie einen Feldhasen gesehen haben, die Tiere und Pflanzen aus der Anschauung nicht mehr kennen; nun geht es um intensive Erfahrungen: Schmutz, Wildnis, Ungezwungenheit, Sinnenerlebnisse und die Erfahrung »unstrukturierter Zeit«. Zum einen fehle den mit Terminplan und Perfektionsvorstellungen reglementierten Kindern der Ausgleich der Freiheit, zum anderen die Sensibilität für das Lebendige überhaupt. Umgekehrt können zahlreiche Pädagogen Zusammenhänge von Verhaltensstörungen zur Naturentfremdung der Kinder konstatieren oder zumindest bemerken, wie individuell und sozial wohltuend es sich auswirkt, die Kinder wieder mehr in die Natur zu lassen. Deutlich wird mit allen entstandenen pädagogischen Projekten, vom Gärtnern, Feuer-Machen, AmeisenstraßenStudieren über die Wildpflanzenküche bis zum Wildnis-Camping, dass seelisch-geistige Entwicklung auf dem Sammeln von Eindrücken und Erfahrungen beruht anstatt auf der Übernahme von Vorgefertigtem und dass der Zugang zu sich selbst zum großen Teil in der Natur zu folgern ist, dass nichts besser ungefärbtes Sehen lehrt als die frühzeitige Begegnung mit der Natur. 257 Smartboards statt Tafeln im Klassenzimmer, Hausaufgaben mit dem elektronischen Griffel, Zwangspausen durch Updates oder Abstürzen: Diese und andere neue, stressreiche Anforderungen an die Schüler beschreibt der Psychiater Manfred Spitzer. Spitzers langjährigen Untersuchungen zufolge seien durch den Computer keine Verbesserungen im kindlichen Lernen zu verzeichnen. Im Gegenteil: Die Ausbildung der Gehirnsynapsen gelinge Tests zufolge am besten durch soziale Kontakte und inspirierende Erlebnisse. Nachweislich führt schulischer und privater Vielgebrauch von elektronischen Medien bei Kindern zu Defiziten in der Kontaktfähigkeit, Sprachfähigkeit, Konzentration, Reaktion, Selbstkontrolle. Spitzer nennt daher die Symptomatik und sein Buch »Digitale Demenz«, vgl. insbes. S. 75–89, 222–257. – Zur »Außenlenkung«, dem seelisch-geistigen Zugriff auf Kinder durch materielle Macht, sei noch das üblich gewordene »kids«-Zielgruppen-Marketing durch die Modebekleidungs-Industrie genannt.

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liegt. 258 Natur ist lebendig und kommuniziert daher mit den Menschen, und sie lehrt anscheinend Menschen untereinander zu kommunizieren. Ratgeber an Eltern mit Titeln wie »Mehr Matsch« oder »Kinder raus!« sind schlagartig beliebt geworden. Ihre besondere Kritik an Erwachsene liegt darin, dass in den letzten Jahrzehnten unter den Zielen der Hygiene und vor allem des Naturschutzes die Natur der Kinderseelen zerstört wurde, d. h. mit ständigen Verboten, die schmutzig machende Wasserpfütze zu meiden, die Blume am Wegrand nicht zu pflücken, das Moos vom Baumast nicht abzupellen und das Dickicht nicht zu zertreten. So bewahrheitet sich die obige diätetische Deutung zum Werther, dass Menschen im gezwungenen oder ungezwungenen Umgang mit der äußeren und eigenen Natur ihre seelische Stabilität verlieren oder finden können, aufs Neue. Nach

258 Speziell die Tiere sollten hier im Blick sein. Aus Höhlenmalereien und anderen rituellen Relikten können Paläoanthropologen ableiten, dass Menschen am Beginn der Entwicklungsgeschichte ihre seelisch-geistige Identität wesentlich durch die Begegnung mit den wilden Tieren gefunden haben. Später, in der Kulturgeschichte, prägten sich Naturbilder aller Art als Archetypen identitäts- und sinnstiftend in die menschlichen Seelen ein, sodass die moderne Entfernung von der Natur einem Verlust an Geborgenheit gleichkommt. Vgl. zu den seelisch-geistigen Prägungen Drewermann, Eugen: Sechster Tag, S. 176–197, 425. Interessanterweise entdeckt die klinische Medizin zurzeit die »tiergestützte Therapie«. Die Gemeinschaft Kranker, insbesondere Kinder, mit Tieren (z. B. dem eigenen Haustier am Krankenbett) fördert positive Stimmung und Entspannung; sie unterstützt diagnostische und therapeutische Maßnahmen. Nach dem Philosophen und Autodidakten Erich Rothacker verstehen sich Tiere und Menschen unmittelbar in der Es-Schicht der Seele. Die Muster der Vernunft, die die Außenwelt stets zum Gegenüber statuieren, insbesondere das hierarchische Muster des dominium terrae, würden in der innigen Mensch-Tier-Beziehung ausgeschaltet. Eine humanere Welt hinge heute vom Verwandtschaftsgefühl zu den Tieren und einer entsprechenden Friedenserziehung ab. Vgl. Otterstedt, Carola / Rosenberger, Michael (Hg.): Gefährten, S. 24,88 f., 124 f., 187. Die Verfasserin weist darauf hin, wie Hunde mit entsprechender Ausbildung Begleiter fürs Leben bei behinderten Menschen werden können. Aber auch darauf, dass beim existenziellen Entwurf die biologischen Konditionen nicht ausgeblendet werden dürfen. So sind Haustiere (darunter Hunde, Katzen, Kleintiere, Nager, Vögel), in der Regel im Fell oder Gefieder, Verdauungstrakt, Speichel, Kot von Parasiten befallen, wobei Spezies wie Ruhramöben, Spulwärmer, Hakenwürmer häufig auch Menschen infizieren. Solcherart »Zoonosen« äußern sich in Darmstörungen, Hautleiden, nervlichen und zerebralen Störungen, diffusen Leiden, sodass der Umgang mit Tieren hygienische Sorgfalt erfordert, zumindest das Händewaschen und die Fernhaltung aus dem Bett. Vgl. www.pharmazeutische-zeitung.de/titel/parasiten 18. 5. 2014. Vgl. zum mikrobiologischen Parasitismus schon FN 38.

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Forschungsergebnissen gibt es aktuell kaum ein Kind, das nicht seelisch leidet. 259 Nun hat die Goethezeit und erst recht dann das gesamte 18. Jh. gerade das als Diätetik angesehen, was Goethe zufolge krank macht. Die ars vivendi dieser Zeit, die unzähligen Benimm- und Erfolgsregeln, sie bildeten einen Auswuchs aus der aufklärerischen Forderung nach dem öffentlichen Vernunftgebrauch, und sie hatten ihren Sitz in der diätetischen Literatur. Goethe artikuliert in fast allen seinen Romanen das Unerträgliche, Krankmachende, mithin Dialektische dieser Bestrebungen und spiegelt damit das reale Leiden seiner Zeitgenossen wieder. Der freiwillige Hungertod einer jungen Frau in den Wahlverwandtschaften ist ein Aufschrei und ebenso eine Flucht aus Milieu und Zeit. 260 Dem damals vorherrschenden »Brownianismus« in der Medizin, nach dem der Gesundheitszustand schematisch durch nur zwei psychische Affektströme gesteuert werde, Stimulierung oder Sedierung, setzt der »Vitalismus« eine komplexe Lebenskraft entgegen, dem aristotelischen Seelenprinzip ähnlich. Die Therapeutika des Letzteren entstammten der breiten Palette alter Lebenskunde und neuer Medizin, während der Brownianismus sich auf das Repertoire der Moralistik beschränkte. Der Arzt und Sozialreformer Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) ist als Pionier aus dem vitalistischen Lager zu nennen, der unter vielen Größen auch Goethe behandelte. Er gilt als Begründer der modernen »Makrobiotik« (mit Hauptwerk von 1796), der Lehre und Praxis vom lange unversehrt, im organischen Gleichgewicht erhaltenen Leben auf Basis einer einfachen Lebensweise und der harmonischen Entfaltung der Seelenkräfte. Hufelands geistige Kapazität fasste und nutzte den medizinischen Stand seiner Zeit, vor allem im Angehen der Infektionskrankheiten, und zugleich war er ein Vorreiter der Naturheilbewegung, der Wiege des heutigen alternativ259 Zitiert wurde oben aus: Rosenfelder, Eva: Kinder, raus in die Natur! In: Natur und Heilen 8 / 2011, S. 13–21. Weiterhin wird im Jahr 2011 geballt über den Naturverlust bei Kindern publiziert, z. B. Weber, Andreas: Ab nach draußen! In: Greenpeace Magazin 2 / 2011, S. 32–43. Bohrmann, Jasmin / Teupke, Andrea: Raus! Kinder brauchen Natur, in: Publik-Forum 13 / 2011, S. 27–29. Das Magazin Raum und Zeit befragte Anfang 2011 Kinder und Jugendliche nach ihren Sehnsüchten. Antworten wie »In der stillen Natur sein«, »Mit der Familie zusammensein« dominierten: Schuster-Böckler, Sandra: Die Stimmen der Kinder, Ausg. Jan. / Febr. 2011, S. 56–61. An gebundener Literatur zum Thema sei erwähnt: Weber, Andreas: Mehr Matsch! Kinder brauchen Natur. 260 Vgl. Egger, Irmgard: Diätetik, S. 9–12.

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medizinischen Strangs »Naturheilkunde«. Diese Richtung explodierte ab 1830 schier. Deren Theoretiker der 1820er-Jahre etablierten die Grundannahme, Behandlung als Stärkung der individuellen Konstitution aufzufassen durch positive Einwirkung auf die »Lebensreize«. Das steht dem Vitalismus nahe, und praktisch bot sich besonders die Hydrotherapie an, was aus der fachlichen Sicht erklärt, warum Sebastian Kneipp mit dieser Form so schlagartig populär wurde. Naturheilkunde wurde dann Teil einer ganzen Lebensreformbewegung mit unterschiedlichsten Elementen, vom Antialkoholismus über Freikörperkultur bis zur Wohnungsreform. Die Homöopathie blühte schon seit Längerem ungebrochen, der experimentelle Geist florierte – und folgerichtig auch die Übertreibung: Etwas Sektenhaftes und Spleeniges besaßen die bürgerlichen Reformbewegungen, die Wander-, Jugend- und Schrebergartengruppen, wie sie mit dem nackten Körper auf kaltem Erdboden die Lebenspraxis hochhielten. Zugleich beförderte das 19. Jh. reformresistente Kreise, die das Benimm-Ideal besaßen, ausgerechnet Hufelands Makrobiotik auswendig zu kennen. Das 19. Jahrhundert zeigt diätetisch ein buntes Pulsieren. 261 Im Blick auf Goethe bleibt bis hierher sein positives Vermächtnis aus dem Werther festzuhalten (wie es seine anderen Romane über den Zug des Demaskierens hinaus so explizit nicht aufweisen), den Bezug zur lebendigen Natur zu bewahren, um sich erholen und finden zu können in Landschaften und in Sozialstrukturen, die aus sich selbst heraus gewachsen sind. Die Existenz ursprünglicher Natur, man denke an Wildblumen, moderige Äste oder sperriges Dickicht, besitzt heute zunehmend Inselcharakter. Natur war zu allen Zeiten mit Kultur verbunden, heute ist sie bis zur Entstellung überfrachtet oder ganz ausgelöscht. Goethe 261 Vgl. Eckart, Wolfgang U.: Geschichte, S. 234 f. Es gibt zahlreiche Pioniere der Naturheilkunde aus der Zeit, und die in dieser Arbeit genannten, auch im Blick auf fähige Persönlichkeiten anderer Epochen, stehen paradigmatisch, aber nicht andere zurücksetzend. Nur kurz sei noch ein Blick auf den kuriosen »Lehmpastor« Emanuel Felke (1856–1926) geworfen, der in Kap. 3.1.3 schon als Pflanzenliebhaber erwähnt wurde: Er hatte Erdpackungen zum Zentrum seines Heilens gemacht. Das von ihm begründete Kuren sieht verschiedene Anwendungen in freier Natur vor. Zum sittlichen Schutz der Umgebung wurden behördlich immer höhere Zäune um Felkes Areal verfügt, denn die Übungen fanden zwecks Abhärtung splitternackt statt – auch nicht gerade zur Freude der Kirche. Doch blieb Felke standhaft ähnlich wie Kneipp, sodass sein Programm bis heute an ausgewiesenen Kurorten erprobt werden kann, vgl. Kramer, Waldemar (Hg.): Lehmpastor, S. 98–159. Zur bürgerlich-praktischen Reformkultur vgl. Schulz, Andreas: Lebenswelt, S. 27 f.

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setzt in seinem Gesamtwerk gegen den von ihm erlebten und erlittenen Verlust der Natur, eingeschlossen deren Überfremdung, die anschauende Natursicht entgegen z. B. mit seinen Elegien »Metamorphose der Pflanzen« oder der »der Tiere«, plädierte für das Erfassen des Allgemeinen und Wesenhaften in der ganzen Natur. Gegen die analysierende Wissenschaftsmethodik entwickelte der selbst naturforschende Goethe eine ganzheitlich-intendierte, anti-newtonsche Farbenlehre, die wissenschaftlich bald unterlag und, so scheint es, von Goethes eigenem Wunschdenken geformt war. Ein um 1920 verfasster Aufsatz von Ernst Cassirer arbeitet allerdings heraus, dass Goethe, der die Mathematik seiner Zeit sehr wohl beherrschte und akzeptierte, Naturwissenschaft mit einer anderen Erkenntniseinstellung verband. Rein empirische Erkenntnis, so betont Cassirer Goethes Arbeit, könne die Welt nur konstrukthaft erklären, diene weder der Weltdeutung noch der menschlichen Erbauung und ethischen Entwicklung und wäre anmaßend in ihrem Theoriebegriff vom Weltganzen. 262 Das phänomenologische Erbe Goethes indes fand im Verlustszenario der Natur breiten Nachhall; es feuerte Friedrich Nietzsches Kampf gegen die Konventionen im Dienst am Leben an und inspirierte den Anthroposophen und Pädagogen Rudolf Steiner zu praktischen Reformen für die Entfaltung von Mensch und Natur. »Wilde Natur« rangierte zum besonderen Reiz des späten 18. und gesamten 19. Jahrhundert. Wurde das Wilde zuvor ambivalent bekämpft-verehrt und seit Kolumbus abgeschlachtet, so boten für die Aussteiger des 19. und 20. Jh. die Wilden die idealisierten Vorbilder für das gesuchte Arkadien oder Eden. »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?« beflügelt Goethe die Reisesehnsüchte in den Süden. Seine »Italienische Reise« ist durchsetzt von verklärter, romantischer Naturschilderung. Bei Goethe wird deutlich, dass er überwiegend die kultivierte Natur meint. Italien ist für ihn so schön, weil dieses Land Jahrtausende gepflegt worden war. Er ergeht sich in Träumen von der antiken Kunst und Kultur. Im wallenden Gewand lässt er sich malen, das fast 262 Vgl. Schmidt, Alfred: Goethes Natur. Ganzheitliches Erleben z. B. S. 13 f., 20, 28, 32, 34, antiwissenschaftlich z. B. S. 58, 70, Farbenlehre S. 139 f. Erst im 20. Jh. erweichen zum Teil die methodischen Fronten; so muss man Goethes Farbenlehre-Erkenntnisse für bedeutend halten in Bezug auf die Ästhetik, die physiologische und die psychologische Wirkung der Farben. Vgl. den engagierten Aufsatz von Cassirer, Ernst: Goethe und die mathematische Physik, in: Ders.: Aufsätze und kleine Schriften 1902– 1921, (GW 9), S. 268–315, insbes. S. 268 f., 274 f., 283, 285, 290 f., 314 f.

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altrömisch wirkt, dazu mit breitkrempigen, schattenspendenden Hut. Mit dem »Zurück zur Natur« meinten Goethes Nachfolger keineswegs die Rückkehr auf die Bäume, sondern den zivilisierten Genuss der schönen Natur. Dass die hundertfach besungenen und gemalten plätschernden Bächlein, die anmutigen Bauernmädchen und die grazilen Hirtenjungen auf die spätere Nachwelt kitschig wirkten, zeigt Gespür für die Verfremdung, und doch ist noch das gesamte 20. Jh. von dieser Naturauffassung durchzogen. Am Ende des 20. Jh. steht der Wert der Natur so hoch, dass sie geschützt werden muss – vor den Menschen. 263 Und doch, um das Stichwort »Zurück zur Natur« aufzugreifen, finden sich bei Goethe sehr originäre Bestrebungen, wenn man unter »Natur« die Wechselbeziehung meint, in der der Mensch zu ihr steht. »Natur« als Bestimmungsgröße des Menschseins war der Ansatz, nach dem Rousseau dieses Motto schuf, und der zu Goethes Zeit stark rezipierte Rousseauismus war eine der Strömungen, die, um dies den Eingangserklärungen hinzuzufügen, die Stimmung der Romantik und der Stürmer und Dränger stark beeinflusste. Anthropologisch faszinierte die neue Freiheit, eine erdhafte Ausrichtung, die dem kantischen Kritizismus entgegengesetzt wurde, und eine VerhaltensAuthentizität, die gegen den bürgerlichen Drill opponierte. Dies war auch das geistige Umfeld, in dem später Friedrich Nietzsche aufwuchs 264, und bis heute sind die rosseauschen Gedanken Stachel und Anfrage geblieben gegen die weithin etablierte Überzeugung der Aufklärung, den Menschen nur heranbilden und verfeinern zu können durch gesellschaftliche Instrumentarien. Wenn Rousseau diese aufklärerische, in absolutistischen Herrschaftsformen noch zugespitzte Überzeugung als menschenverachtende Machtausübung empfand, die Natur hingegen als Quelle der Selbstbestimmung, so finden sich, letzterer Ansicht entsprechend, in Goethes Romanen freiheit263 Vgl. Reichholf, Josef H.: Naturgeschichte, S. 138–140. Immerhin ermöglichte gerade die romantische Bürgerlichkeit auch die Muße, ein wieder sehr tiefes Gespür für die Natur aufzubringen, bei manchen Künstlern wie Novalis oder dem englischen Dichter Coleridge in einer mystischen Weise, die dem in Kap. 3.1.3 beschriebenen vorneuzeitlichen Zugang nahekommt, vgl. Weber, Andreas: Alles fühlt, S. 27. Die Kehrseite war wiederum, dass in der Ausweitung zum allgemein-massenhaften Naturgenuss die Natur ein Nutzobjekt wurde. Auffallend ist z. B. der jetzt entstehende bürgerliche Garten, etwas, was der bäuerliche Nutzgarten, wie beschrieben, nie war: ein Objekt. 264 Genaueres wird in Kapitel 3.1.8 erklärt werden.

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liche Gestalten wieder, z. B. das Genie, der Selbsthelfer oder im Werther der Standesverächter und der beruflich Ungebundene. Und wir finden im Werther einen Menschen, der sich seine seelisch-geistige Erbauung und Kraft aus dem ästhetischen Kontakt mit der Natur holt, wobei wir von Goethe wissen (wie im Kapitel über die Pflanzen erwähnt wurde), dass der phänomenologische Zugang auch eine beseelte Natur meinen konnte. 265 Bei allem in diesem Absatz Gesagten blieb Goethe zugleich ein Kulturanwalt und darin aufklärerisch, und wir werden im Folgenden das Bedeutsame gerade dieser zwei Seiten bei ihm behandeln. Dazu muss nochmals gesagt werden, dass Kultur nach Goethes Verständnis auf der Natur als wesenhaftes Vorbild beruhte. Der Herausgeber und Interpret Erich Truntz weist hierauf ausdrücklich hin in seinem Kommentar (1951) zu »Wilhelm Meisters Wanderjahre«, einem späten Roman Goethes, der sonst eher marginale Deutungen erfahren hat. Wandern sei als Auswandern im Sinne einer menschlichen Entwicklung zu verstehen und diese sei – in Begegnung, gegenseitigem Lernen und Kooperation mit anderen Menschen – Weltgestaltung, d. h. Kulturbildung. Das Entwicklungsmotiv aber, das Streben, das die Handlung dieses Romans stark bestimmt, sei wesentlich ein Muster der Natur. Und außerdem wirke hier ein polares Kraftfeld bestimmend, ebenfalls Naturvorgabe, das sich dramaturgisch in Kontrasten wie Einsamkeit und Gesellschaft, Innigkeit und geschäftige Tätigkeit u. v. a. m. äußere. Letztlich ist das Bestimmungsfeld der menschlichen Lebensführung und ein Über-sich-Hinauswachsen in diesem Feld für Goethe eine religiöse Aufgabe, die von der dreifachen Weltbeziehung, nämlich zur Erde, zum Mitmenschen und zum Unendlichen gekennzeichnet wird. 266 265 Vgl. zur Prägung Goethes durch Rousseau Leis, Mario: Lektüreschlüssel, S. 19, 21. Zur Bedeutung insbesondere der pflanzlichen und landschaftlichen Natur in Goethes Erleben und Denken vgl. Hammer, Carl, Jr.: Goethe and (sic!) Rousseau, S. 54 f. – Gestalten bei Goethe: Wir finden der natürlichen Bestimmung auch total entgegengesetzte Gestalten, denen Goethes Abscheu gilt, zugespitzt im Faust, dessen Künstlichkeits-, d. h. auch Machbarkeitswahn, bis zur Erschaffung eines künstlichen Menschen geht, vgl. Kather, Regine: Wiederentdeckung, S. 105 f. 266 »Alles, worein der Mensch sich ernstlich einläßt, ist ein Unendliches; nur durch wetteifernde Tätigkeit weiß er sich dagegen zu helfen; auch kam Wilhelm bald über den Zustand seines Unvermögens, welches immer eine Art von Verzweiflung ist, hinaus und fand sich behaglich bei der Arbeit.« Die Stelle zeigt deutlich: »Wetteifern« ist als Entfaltung, nicht als Kampf zu erstehen. Von Goethe, Johann Wolfgang: Wanderjahre (Truntz-Ausg.), III, 3, S. 327 f. Im dritten Buch dominiert das beschriebene

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In Bezug auf Goethes Zeit überhaupt ist zuzustimmen, dass das »Schöne« sich abheben musste von der Wildnis, die bis dato allezeit als bedrohlich erlebt wurde. Auch Immanuel Kant und viele andere haben das bebaute Land als besonders »schön« empfunden. Wer dagegen im 21. Jh. »schöne« Natur genießen will, wird dies in den Fluren der industrialisierten Landwirtschaft kaum noch können (allein der Maschinenlärm stört hier erheblich), und wer sie wiedergewinnen will, mit Schaffung und Genuss von »Naturprodukten« für den Alltag, kann bisweilen räuberische Zerstörungen an der Natur und den Lebensgrundlagen verüben. 267 Im dramatischen Ausmaß geschieht dies aktuell mit den »ökologischen« Bestrebungen durch Biokraftstoffe. Außerdem sei nochmals die Seelenzerstörung an Menschen durch den Ökologismus erwähnt: Spätestens, seit das Wort »Energie« zum Schreckgespenst wurde, wird Liebhabern der ländliche Aussteigerhof durch Pendlerkosten und Heizmoralistik verleidet. Schließlich finden sich im allgemeinen Alltagsleben ständig Beispiele, die zeigen, dass der rational-moralistische Zugang zur Natur zum Ausblenden von gewichtigen Aspekten führt, die nach einem umfassenden Naturverständnis aufkommen müssten, z. B. dies: Das Haushalten nicht allein mit den Gütern der Erde, sondern, im logischen Zusammenspiel, auch mit der Zeit, erscheint wie ein Tabu, insofern suggeriert wird, zu allen Tages- und Nachtzeiten alles machen und alles konsumieren zu können (eingeschlossen Sport- / Gesundheitsangebote). 268 Lebensverständnis besonders. S. dazu die Anm. des Hg. zum »Bild des Menschen« bei Goethe: Ebd., S. 587 f. 267 Beispiel: Bei zahlreichen Lebensmitteln, die mit gesundem Pflanzenfett werben und außerdem auf prozessierte Fetthärtung verzichtet haben wollen, wird auf Kokosfett zurückgegriffen. Die Bezugsketten der Rohstoffe können aber selten so offen zurückverfolgt werden, dass die Rodung von Urwäldern für den Kokosanbau auszuschließen ist. Letztlich weiß kaum jemand bei solchen Produkten (ähnlich Textilien aus Bio-Baumwolle), wie sie hergestellt werden, wenn nicht der sog. Inverkehrbringer völlige Transparenz gibt (so z. B. bei Lebensmitteln der Gepa-Organisation). 268 Der Umgang der Menschen mit der Zeit wurde schon im Hildegard-von-BingenKapitel behandelt. Über Jahrtausende hinweg war die Einhaltung des Tag-NachtRhythmus für Menschen eine Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit, was Hildegards Ausführungen nicht als eine Verordnung, sondern symbolisch lesbar macht (vgl. FN 165 zur Mensch-Tier-Beziehung im Mittelalter). Erst als James Watt 1756 die Dampfmaschine einsatzreif machte, Industriebetriebe Maschinen Tag und Nacht permanent laufen ließen und schließlich die Elektrizität auch Privaträume jederzeit nutzbar machte, wurde die natürlich vorgegebene Zeitstruktur durchbrochen. Unter zahlreichen Beispielen suggerieren heute explizit die Internet-Versandfirmen mit der

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Was hilft uns also bei solchen Entgleisungen Goethe? Es war die heilsam wirkende Synthese von Natur und Kultur, die sich Goethe zumindest noch vorstellen konnte und staunend-werbend in Verse fasste. Diese wiederzugewinnen dürfte mit die größte Aufgabe des begonnenen 3. Jahrtausends sein. Diätetisch-pädagogisch muss es schon deshalb wichtig sein, die Aufmerksamkeit auf die Natur zu lenken, damit die nachfolgenden Generationen sensibler werden, Zurückdrängungen, wie sie heute geschehen, nicht mehr zuzulassen. Immerhin sollte klar sein, dass eine Ökomaschinerie, die dazu beitragen soll, den allgemeinen Lebensstil des Luxus zu bewahren, sinnlos ist. Was dem goetheschen Synthese-Bild mitschwingt: Es ist ein Bild der mesotes. Im überquellenden Materialismus kann die mesotes in Richtung Natur hin logischerweise nur durch Verzicht gefunden werden. Das hieße z. B., Klettern im Gebüsch statt der Fernreise für das Kind – solcherart diätetische Möglichkeiten müssten dann noch mehr publik gemacht werden. 269 Dabei bliebe zu hoffen, dass nicht auch sie die Seelen moralistisch und die Köpfe materialistisch-konsumistisch verderben. Ein kaum beachtetes Wort äußert am Anfang Goethes Werther: »… rings umher eine unaussprechliche Schönheit der Natur«. 270 Das Erleben von Schönheit steht für Zwecklosigkeit – eine Haltung, die die Aufklärung im Getümmel der Rationalisierun-

Endung »-24« Kunden das permanente Kaufen und damit Wachsein. Ein wirklicher Vorfall: Die Verfasserin bestellte ein ökologisches Buch, das nur über das Internet erhältlich war, bei einer Firma mit dem Namen (sinngemäß leicht geändert) »Liebe Erde-24«. Verwundert über diesen Namen, rief sie dort an und fragte: »Hier soll wohl 24 Stunden lang konsumiert werden?« – Antwort: Nein, man solle 24 Stunden lang die Erde lieben. – Rückfrage: »Und wann soll der Mensch schlafen und die Erde in Ruhe gelassen werden?«. Ein absurdes, leider wohl typisches Beispiel für die Kluft zwischen der Sorge um sich selbst und der Sorge um die Natur unter rationalistischem Naturzugang, mit dem auch permanenter Konsum ökologisch gerechtfertigt werden kann. Vgl. dagegen den Wechsel von Arbeit und Erholung nach dem Alten Testament, der den Menschen und der äußeren Natur zugleich dienen sollte, beschrieben in FN 76. 269 Anders ausgedrückt, wäre die Rückkehr zum »Spießertum« erstrebenswert. Warum nicht Spießer werden? Der Philosoph Matthias C. Müller verteidigt den spießigen Lebenstil des Mittelmaßes und des Unspektakulären, weil er von dem psychischem Druck befreit, die Welt andauernd als Wunderland erleben zu müssen, wie es sich gegenwärtig durchgesetzt hat. Müller plädiert für eine Sinnfindung und Genussfähigkeit in der Normalität und Banalität, die das Leben selbst seien. Vgl.: Wunderland, insbes. S. 150–158. 270 Goethe, Johann Wolfgang: Leiden, S. 6.

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gen neu entdeckte, und mit der bis heute nie wirklich ernst gemacht worden ist. 271 Ab dem späten 19. Jh. hat die Adaption der Natur einen Pol hervorgebracht, der aus der ohnehin schon überspannten Synthese völlig ausscherte und wie fast alle Extreme den Verlust erst wirklich betont. Puristische Bewegungen wie z. B. die der ausschließlichen Rohkost, der Lichtnahrungs-Bestrebung (d. h. als Mensch allein von Sonnenlicht ernährt zu werden, vgl. schon Kap. 3.1.3) sind anhaltend bis heute von der Sehnsucht enger Verbindung mit der wilden und grünen Natur bestimmt und ideengeschichtlich vom Rousseauismus. Die Defizite der Auslösesituation wirken bei Extremgängen weiter, hier in Ernährungsmängeln, seelisch im puristisch bedingten Verlust an Lebensfreude und geistig im graduellen Verlassen der menschlichen Kultur. Das 20. Jh. brachte das andere Extrem hervor, nämlich einer Absorption von Natur, mit der technischen Möglichkeit, Naturstoffe und -eigenschaften nicht nur als Massenwaren zu gewinnen, sondern jetzt auch technisch zu synthetisieren. Etwa bei industriell gefertigten Nahrungsmitteln werden solche Synthetika in Form von Backhilfsstoffen, Aromen usw. serienmäßig eingesetzt. Das Ziel ist, nun marktwirtschaftlich motiviert, die billigst mögliche Nutzung der geschätzten Natureigenschaften. In der Hochschätzung der Natureigenschaften, wie sie beim gesundheitsbezogenen Gebrauch zu beobachten ist (z. B. beim Attribut »Bio«), verbinden sich inzwischen ideell gesehen das romantische Erbe und zweckrational gesehen die Machbarkeitshaltung moderner Technologie. Diätetisch sind z. B. die Nahrungsergänzungsmittel aus dieser ambivalenten Haltung hervorgegangen. Die Überformung der Natur gerät solchen Fällen (nicht gemeint ist der notwendige indikationsbezogene medizinische Ge271 Vgl. Kants berühmte Herleitung, Schönheit sei, »was zwecklos gefällt«, in: KdU I, S. 115, auch 211 u. ö. Der Synthese zwischen Natur und Kultur im bürgerlichen Leben ab der Goethezeit waren neue technische Möglichkeiten, d. h. optische Modewaren zum bestaunenden Studieren der Natur, geradezu förderlich. Das Kaleidoskop holte Farbphysik in die Wohnsalons und machte zugleich ein Stück »Entzauberung« (Max Weber) wieder rückgängig; das Fernrohr ermöglichte den Sonntagsspaziergängern die Nahsicht auf vorher nur verschwommene Landschaftselemente; der preislich nun erschwingliche Guckkasten ließ Naturfreunde in entsprechende Szenen eintauchen (neben Stadtansichten und antiken Themen als beliebteste Motive). Insgesamt wurde eine neue, medial vermittelte Form von Ästhetik geschult, die um diese Zeit dem direkten Blick noch nicht unbedingt entgegenstand. Vgl. Kocka, Jürgen (Hg.): Bürgertum, S. 117–119.

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brauch) zur Auslöschung der eigenen Natur, denn die Fühlung mit ihr unterbleibt, die individuelle Anwendung tritt hinter der Schematisierung zurück. »Objektivität« (im modernen Sinne wie im letzten Kapitel verhandelt) wird ein Schlagwort jetzt auch der Naturheilkunde, die im Rechtfertigungsdruck gegen die Medizin steht. Von zahlreichen Heilpraktikern werden teure, »natursimulierende« elektronische Praxisgeräte protegiert, was das Berücksichtigen der ganz subjektiven Patientenverfassung fraglich werden lässt und das dialogische Geschehen reduziert. Therapeutische Verantwortung wird auf das Computerprogramm delegiert, z. B. in der für Paracelsus so sensiblen Frage nach der richtigen Dosis. Solcher Technikeinsatz scheint der allgemeinen Tendenz im modernen Tun zu folgen, wonach das »Nutzen« und nicht das »Eingebunden-Sein« bzw. auch Verzichten« oder »Geben« Leitmotive sind. Die Haltung der Anteilnahme am Leben ist hinter Isolation oder Autonomie gegenüber der Mitwelt zurückgeblieben. 272 Eine beliebte Metapher ist nach den Erfahrungen der Verfasserin tatsächlich das Wort »Einklang« geworden, besonders gerne verwendet als »Einklang von Natur und Medizin« in der naturheilkundlichen Selbstdarstellung. Ein Einklang wird aber mit übergeordneten Objektivierungszielen, wie sie dem Markt und der Verwaltung immanent sind, nicht gelingen, denn Natur kann nicht objektiviert werden. Naturheilkunde ist, wie alles andere auch, ein Wirtschaftszweig geworden. Deutlich erkennbar ist das z. B. in der naturheilkundlichen Fachpresse an deren Anpreisung vielfältigster diätetischer Produkte aus der Reformbranche. Wirtschaftlichkeit bedeutet auch, wie oben angedeutet, dass Heiler Konkurrenzdruck empfinden und mithalten müssen. Darin geht unter, dass die Gaben und Heilkräfte der Natur recht billig oder kostenlos zu erhalten sind, etwa die Verinnerlichung von »Schönheit« und »Harmonie« (vgl. schon im Hildegard-von272 Die Romantisierung der Natur findet sich auffallend in touristischer Fassadenästhetik, die wie alle andere Naturnutzung ein stummer Konsum ist – stumm, weil niemand wagt zu sagen, dass schon alle Natur kaputt ist, weil ihr mehr entnommen als gegeben wurde. Das menschliche Einwirken auf die Prozesse und Phänomene der Natur ist seit Bestehen der Erde so dominant geworden, dass von der Epoche des »Anthropozäns« gesprochen werden muss; nur der Verzicht oder das ausgleichende Geben (etwa: »Jeder Flugtourist pflanzt einen Baum«) könnten dies noch umkehren. Vgl. Schwägerl, Christian: Menschenzeit, S. 220–225. Vgl. in dieser Arbeit zum modernen menschlichen Zugriff auf die Natur schon insbes. Hans Jonas (»Völlerei«) nach FN 171.

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Bingen-Kapitel). Durch die »Roboterisierung« gehen insbesondere menschliche Konditionen wie Sensibilität und Kraft auf der Patienten- und auf der Therapeutenseite verloren, die das eigentlich Wertvolle wären, zu wachsen und sich mitzuteilen. Goethe scheint es im Rückblick, als Zeitgenosse einer immerhin noch vorstellbaren Synthese zwischen Natur und Kultur, einfacher mit dem Naturbild als etwas Heilsamen, Förderlichen, ja als Lebensmuster schlechthin, gehabt zu haben. Doch lassen seine eigene oft angeschlagene Gesundheit, die medizinischen Zeitumstände sowie seine Grundeinstellung zur Polarität des Lebens 273 vermuten, dass auch er das diätetisch Zuträgliche schwer erringen musste. Gewissermaßen zeigt Goethes Leben und Wirken, dass nicht nur die Krankheit, sondern auch die mesotes nicht zu lösen ist vom Leiden, zumindest mit Arbeit verbunden bleibt. Die Suche nach der gelungenen Kommunikation mit der Natur und den Mitmenschen sowie gelingende Formen der Diätetik werden sicherlich schwierige Aufgaben der nachaufgeklärten Zeit bleiben, die sich auch gerne Kommunikationszeitalter nennt, aber dieses mit dem einseitig überflutenden Informationsgeist nicht wirklich einlösen kann. Eines ihrer schweren Probleme liegt offensichtlich darin, dass vieles, was als diätetisch hilfreich angesehen wird, entsprechend der Verkennung der Aufklärungszeit in Wahrheit eher krank ist und krank macht. Das zeigt sich bei technischen Lernmitteln für Schüler, die seelisch-geistige Fähigkeiten reduzieren ebenso wie bei Vitaminen, die künstlich und fragwürdig sind. Die Dialektik der Aufklärung setzt sich somit überall, auch in Medizin und Diätetik, ungebremst fort. Goethes Botschaft wäre aber noch einlösbar, primär als individuelle: die eigene Natur, die Authentizität zu wahren, sich keinen fremden Zielen zu opfern, sondern in der Kultur zu leben aus den eigenen – das hieße für Goethe: von einem Absoluten gegeben – Kräften heraus. Konkret könnte das bedeuten, einen kritischen Umgang mit der Gesundheits-Werbung zu pflegen, in einer Ära des Individualismus und der Optionen erst einmal mit sich selbst zu kommunizieren (»Ist das wirklich gut für mich, vom Lebendigen ins-

273 Auf die Spitze gebracht spricht Goethes Elegie »Suleika« vom »gesundenden Erkranken« und »erkrankenden Gesunden«. Goethe entlarvt hier einen grundmenschlichen inneren Hang zur Krankheit, insofern die Krankheit als Ventil unbewusster Bedürfnisse und Konflikte dient und das Arbeiten an sich und der eigenen Lebensweise einleiten kann. Zit. aus Nager, Frank: Dichter, S. 122.

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gesamt gesehen?«) das Einfache und Naheliegende zu verwenden (etwa: Spazierengehen statt Ozontherapie, sich Sonne einzuverleiben statt Vitamin D, Wildgemüse essen statt importierter Ware (zum »Spießigen« solcher Vorschläge siehe FN 269). Überhaupt hieße es, mit den Lebensgütern Maß zu halten und vor allem einen Sinn für natürliche Schönheit zu gewinnen (anstatt für Mode-Ästhetik, die heute wenig mit natürlichen Erscheinungen zu tun hat.). 274 Das besonders Aufschlussreiche an Goethes Romanen wie dem Werther, die die äußere Naturzerstörung heutigen Ausmaßes noch nicht kannten, dürfte das Entlarven einer gekünstelten, dem Lebendigen gegenüber verschlossenen Zeitgeisthaltung sein, in der sich äußere Folgen, wie wir sie jetzt kennen, lange vorbereiten. Es war damals »chic«, strikt rational aufzutreten; heute ist das ausschließlich rationale Handeln, inzwischen eine monetäre Frage, eine Sackgasse in die Destruktion geworden. Anhaltend werden äußere Folgen durch geistige Haltungen vorbereitet, so auch individuell gesehen: Bewusste oder unbewusste Prämissen wie schneller, billiger, sozial angepasst essen, leben, arbeiten zu wollen gehen praktischen Realisierungen und möglichen Entgleisungen wie Krankheitssymptomen voraus. 275 Das Vielschichtige von Goethes Werk zum Diätetischen, dessen Rezeption und Interpretation sollen hier kurz zusammengefasst werden. In Goethes Romanen besitzt die Diätetik der Aufklärung eine dreifache Bedeutung:

274 Für Erwachsene nehmen in letzter Zeit naturpädagogische Anleitungen zu, die sich mit existenziellen Erfahrungen verbinden können. Immer wieder ist als etwas Bewährtes der insofern wohl eher »klassische« als »spießige« Waldaufenthalt dabei. Ein Vorschlag lautet, sich viel Zeit zu nehmen und regelmäßig von einem gewählten Platz im Wald aus die Umgebung über die Jahreszyklen hinweg zu erfahren. Staunenswerte Eindrücke können die Alltagssorgen zurückdrängen, und wachsende Vertrautheit kann zu bleibender Naturverbundenheit und innerem Frieden führen. Vgl. den Artikel von Barucker, Bastian: Naturerfahrung. Mit der Sprache des Waldes zu sich selbst finden, in: Natur und Heilen 10 / 2013, S. 45–51. Vgl. ähnlich schon FN 48. 275 Das »Symptom« ist dann nur im unbewussten Zustand gesehen das »Zufallende« und wurde, nach der tieferen Anamnese gesehen, lange vorbereitet (vgl. das zu Paracelsus Gesagte sowie das Bild des überlaufendes Fasses zu Galen in 3.1.1). Eine ernsthafte Therapie muss daher auf die seelisch-geistigen Prämissen Rücksicht nehmen. Erschwerend erscheint der Verfasserin, dass gegenwärtig Absorbierungen der individuellen Persönlichkeit und des Lebensstils kaum noch wahrgenommen werden. Insofern ähnelt die Abschottung gegenüber dem Natürlichen den Goetheschen Erfahrungen.

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Negativ sind die Beschränkung der Individualität und die Verstellung des natürlichen Zugangs zur Mitwelt durch gesellschaftliche Reglements und durch die zweckrationale Weltsicht festzustellen. Übergeordnet ist es eine Weltsicht, durch die die eigentlich fortschrittsstrebenden Menschen sich selber und die äußere Natur in den Dienst nehmen, obwohl sie das Leben originär fördern sollten – ein dialektisches Prinzip. Zugespitzt dialektisch wird sogar das diätetische Bemühen dieser Zeit einem vermeintlich fortschrittlichen Markt- und Verwaltungsdenken inbegriffen und wirkt von daher anti-diätetisch, also tendenziell krankmachend. Positiv erweist sich Goethe als aufklärend, wenn er den Zug der Zeit demaskiert und mögliche Rückbezüge auf die Natur als Kultur-Natur-Synthese vorführt. Mit der Kategorie der Kommunikation (eingeschlossen die eigene Selbstreflexion und Authentizität) bereitet Goethe die modernen Sozialwissenschaften mit vor. Für Goethe war aber der Bezug auf Mitmenschen und Erde in einen metaphysischen Bezug eingeschlossen. Die Dialektik der Aufklärung setzt sich gegenwärtig verstärkt fort, indem marktgesteuerte und / oder moralistische Absichten zur Rettung der Natur sowie ihre Integrierung in den Alltag zerstörend und tendenziell krankmachend enden. Es wurde in den obigen Ausführungen auch Bezug genommen auf das Romantische bei Goethe und seiner Nachwelt, um die Genese des Ökologismus und den Horizont des Naturheilkundlichen zu erhellen. Vom Dialektischen der aufgeklärten Dynamik wird heute auch die aktuelle Heilkunde berührt.

An Goethe ragt diätetisch besonders eine Botschaft hervor und könnte heute gelernt werden, nämlich die arete der Immunität zu bewahren gegenüber absorbierenden Instanzen, dem Markt und der Verwaltung. Dies kann, naturbestimmt, wie es bereits ist, einen engeren Naturbezug schaffen, wesentlich zunächst zu sich selbst, und ein Zurücktreten mentaler und materieller Zwänge. Ferner kann es auch eine Transzendierung nach innen bewirken auf die Gemüts- und kulturellen Werte und letztlich die Achtung vor einer das gesamte Leben umfassenden Macht. Es wäre, wie mit den Wesens-Punkten der Diätetik bisher beschrieben, eine mesotes-Findung oder auch: ein weniger gespaltenes, mehr organisches Natur-Kultur-Bild. Die geistige Reflexion, das lehrt Goethe außerdem implizit, wäre ein wirksamer 173 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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Zügel gegen die aufklärerische Dialektik. Der Denker und Naturempfindende Goethe selbst verkörpert selbst eine gelungene Synthese von Natur und Geist. Der sinnhafte Naturzugang hat für Goethe eine Schlüsselfunktion zur Ganzwerdung. Damit ist ein wesentlicher Zug getroffen, den aktuell eine neue therapeutische paideia an Kindern aufweist, wobei die Kinder heute überwiegend ein denaturiertes Lebensumfeld besitzen. Diese paideia soll auch einer nomos-Findung zur Selbstüberschreitung in der Kommunikation dienen und zeitigt in der Sache ihre ersten Erfolge. Sie könnte aber noch mit tieferem Problembewusstsein (die Natur als Quelle betreffend, die wir verlassen haben) und umfassender (ein Unendliches akzeptierend, das das Leben lenkt), eingesetzt werden.

3.1.8 Friedrich Nietzsche: Von den Verächtern des Leibes Das 19. Jahrhundert wird von manchen Fachleuten geistig und faktisch als eines der umbruchreichsten der Menschheitsgeschichte angesehen. Beispielsweise hat der Historiker Jürgen Osterhammel ein über 1.500 Seiten starkes Werk über die »Verwandlung der Welt« in diesem Jahrhundert verfasst. 276 Künstler und Leidende, wie es auf Friedrich Nietzsche zutrifft, gelten als besonders sensibel und kritisch gegenüber ihren Zeitumständen. In diesem Kapitel soll zunächst recht ausführlich Nietzsches Umfeld in geistig-diätetischer Hinsicht behandelt werden, um von dort her seine Philosophie als ideengeschichtlich Verankerte verständlich zu machen – und vor allem als Evozierte. Nietzsches Denken wurzelt nämlich in übergreifenden Traditionen, kollidiert hierin mit seiner Zeit und weist als etwas Durchleidendes eine extreme Authentizität auf. Mit relativ vielen Originalzitaten soll das in diesem Kapitel wiedergegeben werden. Seit Beginn der Neuzeit, so kann aus den letzten beiden Kapiteln resümiert werden, wich der selbstständige, von Institutionen freie Zug des Diätetischen einer zunehmenden gesellschaftlichen Formierung. Soziale Rollen und Verhaltensregeln bildeten sich nicht mehr aus kleinen sozialen Zusammenhängen und der Tradierung heraus, sondern aus übergeordneten Nützlichkeitserwägungen. Einen Anfang in der neuzeitlichen Gestaltung der Lebenskultur nahm die 276

Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt.

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Hausväter-Literatur des 16. bis 18. Jh., die die Wirtschaftsweise, Haushaltsführung und das geistig-kulturelle Leben adeliger Landgüter regelte. Sie vermittelte mit zahlreichen Versatzstücken medizinischer Kompendien insgesamt eine universalgelehrte Weltsicht, um dem bürgerlichen Benutzer und seinem Hausstand einen »gesunden« Stand im mikro-makrokosmischen Verbund zu ermöglichen. Begonnen hatte dies bereits mit Martin Luthers Schriften, nämlich durch die geistlich intendierte Einsetzung des »Hausvaters« als Verantwortlichen für das kultivierte Funktionieren der Familiengemeinschaft. Die ursprünglichen Gebiete der Diätetik spezialisierten sich dagegen, d. h. nur eines oder zwei der »sechs natürlichen Dinge« wie die Ernährung wurden oftmals Themen eigener Abhandlungen. Ab der Industrialisierung mit der zunehmend außerhäuslich gerichteten Beschäftigung des Familienvaters verlagerte sich das Rollenverständnis der Haushaltführung zur »Hausfrau« hin, die damit Adressatin der Ratgeber-Literatur wurde. Die heutigen Kochbücher sind letzte Nachfolger der alten Lebenskunde. An dem eingangs dieser Arbeit zitierten Ratgeber von 1952 (siehe FN 27) ist abzulesen, wie die Leibesübungen für Frauen um diese Zeit eigentlich deren Funktionserhalt als innere Familienleiterin sicherstellen sollten. Insgesamt verlagerten sich die Elemente der Lebenskunde unter bürgerlichem Einfluss des 19. und 20. Jh. ins Moralische und Theoretische. 277 Mit Ende des 19. Jh. bestimmte auch der politische Einfluss die Gesundheitsgestaltung. Ab 1883 wurde den Deutschen die bis dahin private diätetische Aufgabe in Bezug auf die eigene Gesundheit ganz und gar abgenommen. Die bismarcksche Krankengesetzgebung verschaffte eine Absicherung im Krankheitsfall, sodass umgekehrt die Krankheit einen Teil ihres »erzieherischen Schreckens« verlor. Zusammen mit bahnbrechenden medizinischen Entdeckungen des 19. Jh. (z. B. Erkenntnisse in der Bakteriologie / Mikrobiologie, antiseptische Wundbehandlung, Entdeckung der Röntgenstrahlen) verbesserte sich die Volksgesundheit rasant, ebenso wie die Sterblichkeitsrate sank und die Lebenserwartung stieg. Mit FN 46 wurde erwogen, dass die gestiegene Lebenserwartung psychosozial bzw. psychosomatisch gesehen auch mit Aufbrüchen im Selbstbewusstsein zu tun hatte. Dagegen nahm ab der Mitte des 20. Jh. die Zahl der chronischen Krankheiten unaufhörlich zu. Das aktuell inzwi277 Vgl. Ehlert, Trude (Hg.): Haushalt und Familie, S. 227. Vgl. Zeller, A. P.: Praktisches Rezeptbuch, das Kapitel: »Ein Arzt mahnt die Frau«, S. 215 f.

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schen millionenfache Leiden von Menschen in Deutschland und die hierdurch ausgelöste Überlastung des öffentlichen medizinischen Systems stellen schier unlösbare Herausforderungen dar. Wenn der Zusammenhang zwischen Selbstbewusstsein und Gesundheit aus FN 46 zutrifft, müsste man bei der epidemisch chronischen Krankheit annehmen, dass ihr zugrundeliegend das Selbstund das Leibesbewusstsein auseinandergebrochen sind. Friedrich Nietzsche würde das voll bejahen, und zwar im Blick auf die natürlichen sowie die kulturellen Seiten des Menschseins. 278 Kulturell gesehen würde er sich vermutlich darüber wundern, dass eine Solidargemeinschaft der Krankenversicherten als Apparat verstanden wird, ohne die menschliche Leistung der Gesunden zu sehen, die dieses System tragen. Gesundheit und Krankheit können glücklicher Zufall oder schweres Schicksal sein; zu einem großen Teil gelten sie jedoch als beeinflussbar, sonst hätte sich eine intensive diätetische Tradition wie bisher beschrieben nicht entwickelt. 279 Im Paracelsus-Kapitel wurde die Diskrepanz des Systems, dort unter dem Aspekt der Notleidend-Kranken, schon diskutiert. Der große Kultur-Anwalt Heinrich Schipperges sieht um die Wende zum 21. Jh. eine Lösung der großen Herausforderungen nur darin, dass das Medizinische wieder 278 Zur »Natur«-Seite: An der Spitze der chronischen Krankheiten werden in der Regel die Herz-Kreislauf-Erkrankungen genannt, als Ursache durchweg der »Stress«. Der anthroposophische Arzt Olaf Koob spricht nicht im üblichen technischen Jargon, sondern weist auf die in dieser Arbeit mehrmals behandelten leiblichen Zusammenhänge von Natur und Mensch hin. Zum Thema Zeitnot vertieft er, ähnlich wie der Biologe Jürgen Aschoff im Hildegard-Kapitel, dass Herz und Kreislauf die zentralen rhythmischen Organe sind, die an das rhythmische Erleben der Natur gekoppelt seien. Außerdem verhindere der moderne Druck ein Leben im Augenblick. Das getaktete Zeitempfinden besteht aus Zukunftsplanung und klafft so mit dem realen Erleben auseinander. Unerfülltheit und Langeweile können ein Pendant zur Hetze werden. Vgl. Koob, Olaf: Hetze, S. 48, 117. 279 Ein Pionier auf dem Gesundheitsmarkt war nach dem Zweiten Weltkrieg der Nährmittel-Firmengründer H. F. Neuner, damals mit Diätetika zur Kräftigung Unterversorgter. Die heutige Firma Vitacron kooperiert noch ausschließlich mit Therapeuten. Der Praktiker Neuner stellte als Publizist Gesundheit auf drei klare Säulen, nämlich die Gene, die Lebensumstände, die Ernährung, und listete unverblümt Zahlen und Kosten deutscher Wohlstandskrankheiten auf. Vgl. Neuner, Helmut Fred: Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom, S. 3–5. Wie man aber gegen den Strom schwimmen kann, welche bereits familiäre Atmosphäre eigenverantwortliche Gesundheitspflege des Individuums fördern müsste, das deckt Eugen Drewermann auf, nämlich Freiheit von Überversorgung sowie von Moral. Er steht damit gedanklich in der Linie Nietzsches, der der späteren Psychoanalyse viel vorweg nahm, vgl. Drewermann, Eugen: Moral, S. 138–144. Vgl. zur psychischen Ätiologie schon FN 224.

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zur Allgemeinkultur wird, also zur Diätetik im Sinne früherer Epochen. Vermutlich bekäme die Vorbeugung dann einen anderen Stellenwert, die jedenfalls unter öffentlicher Leitung statistisch gesehen gescheitert ist. Der Versorgungsstaat macht Diätetik anscheinend entbehrlich. 280 Außer Heinrich Schipperges hat in der neueren Gegenwart auch der Franzose Michel Foucault zur Beachtung von pathologischen Wahrheiten jenseits der Institutionen gemahnt. 281 Diätetik, wie diese Arbeit es bisher aufzeigte, wurde jahrhundertelang literarisch vermittelt. Mit steigender Delegation diätetischer Verantwortung der Bevölkerung an Staat und Gesellschaft zog sich das intellektuelle Bürgertum aus der diätetischen Autorenschaft zurück. 282 Bis heute gibt es diätetische Ratgeber, doch sind sie in der Regel von medizinisch geschulten Autoren verfasst im Blick auf die Gesundheit im engeren Sinne (bekannt z. B. das »Handbuch der Naturheilkunde«, 1987, und weitere Schriften des Manfred Köhnlech280 Vgl. zu Krankheits- und Vorsorge-Statistik den Spezialisten deutscher Patho-Demografie: Schaefer, Hans: Entstehung, II S. 1 f.; III S. 1; VI S. 1 f.; VII S. 1 f. Zur Kulturvision vgl. Schipperges, Heinrich: Lebensqualität, S. 2, 13, 17. – Die Abgabe der Sorge an ein System ist heute mit einer Spirale an Ansprüchen verbunden, wie es schon im Paracelsus-Kapitel angeschnitten wurde. Staat, Möglichkeiten der medizinischen Technik und Gesetze des Marktes schaffen Machbarkeits- und Perfektionsvorgaben, Zigtausende überflüssiger Operationen und Medikamenten-Einnahmen sind ein Abbild davon, aber auch unaufhörlich neue Experimente der Industrien, die Produkte der Ernährung, der Körperpflege und des Alltags zu »verbessern«. Vgl. dazu theologisch-seelsorgerlich Riess, Richard: Medizin nach Maß, S. 411, Sp. 1–3. 281 So durchlaufend in seinem Werk, Spezielles auch zur Stigmatisierung der Geisteskrankheiten. Besonders präzisiert Foucault die verlorene diätetische Perspektive begrifflich anhand der Grenzbegriffe »Symptom« und »Fall«, die von der öffentlichklinischen Infrastruktur geschaffen wurden und im Einzelfall durch den ärztlichen »Blick« konstituiert werden. Es ist der Blick der reinen Außenperspektive; in: Geburt der Klinik S. 102–136, 105. Vgl. in der aktuellen Popularliteratur den Bestseller des Wissenschaftsjournalisten Jörg Blech, Die Krankheitserfinder, am Beispiel der Osteoporose: Ein Symptom wird anhand messbarer Kennzeichen definiert, eine Menschengruppe wird zahlenmäßig darunter erfasst und durch Angstverbreitung etabliert, S. 90 f. Vgl. aus ärztlich-philosophischer Sicht Wolfgang Wieland hier schon mit FN 16, an das aristotelische »Arztberuf als Kunst« anknüpfend. 282 An der literarischen Vermittlung der Diätetik macht sich jedenfalls ihre Verbindung zur Geistigkeit fest. Außerdem wurde sie selbstverständlich durch die praktische Ausübung, Erfahrung und mündliche Weitergabe vermittelt. Da die Ausübenden zu einem großen Teil Frauen waren, ist ihr Beitrag an der Vermittlung gewiss nicht so gering, wie es sich in den (auch in dieser Arbeit zitierten) Quellen widerspiegelt. Vermutlich sind bei ihnen, denen die geistigen Werdegänge versperrt waren, das Engagement der Ausübung und mündlichen Vermittlung sogar besonders groß gewesen. D. Verf.

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ner). Einer der letzten traditionellen, breit angelegten Texte stammt aus dem Zeitalter der Französischen Revolution. Es ist die Diätetikvorlesung (1789 / 90) des Arztes Georg von Wedekind mit Themen wie der »Ernährung« bis zu den »Gemütsaffekten«. Es wird dabei für viel Fröhlichkeit plädiert, und übergeordnet wird festgehalten an der alten Sichtweise vom »Maß« in der Lebensführung. 283 Heute gibt es ferner Lehrbücher für das medizinische und pharmakologische Studium, die zeigen, dass der verbliebene medizinische Bereich der Diätetik weitgehend auf die Ernährung verengt ist. 284 Die jetzige Vielfalt und Differenzierung insbesondere der Ernährungslehren beweist und bewirkt eigentlich eine Desorientierung. Sie ist zwangsläufige Folge davon, dass »Fachleute« die Güter des Lebens »konzipieren«. Ähnlich spezialisierten sich schon und kollidierten im 18. Jh. aufgrund Einflüssen der Iatrochemie (eine noch wenig fundierte Art Lebensmittelchemie) die Vorschläge für die Zusammensetzung und Zubereitung der Speisen. Als Gegenreaktion wurde in dieser Zeit der Ruf nach einer Diätreform laut, die auf gesundem Menschenverstand und Erfahrung beruhen sollte. Gerne wurde der Ruf von allen »Zurück-zurNatur«-Verfechtern vereinnahmt. Das Modehafte, das Anziehende für die Bürgerlichen mit ihren Möglichkeiten (z. B. zur Freizeit) wurde am Ende des vorigen Kapitels schon beschrieben. Die Ideologisierung der Gesundheits- und Ernährungslehren und die Abgabe wirklicher Privatverantwortung sind typische Züge europäischer Lebenskultur seit der Aufklärung. 285 Was würde Friedrich Nietzsche (1844–1900) heute über die extreme Kluft zwischen Wohlstandsprogrammen und ihren Fehlentwicklungen sagen (dazu wäre vor allem die gesamte Naturzerstörung zu zählen), der schon im 19. Jh. die Lüge des Glücks mit äußerster Polemik demaskierte? Aus der diätetischen Warte musste ihm krass auffallen, dass gegenüber der Ahnungslosigkeit von den Dingen des Lebens bei diesen Menschen ihre Geistigkeit eine Lebenslüge war. 286 Für Nietzsche lag im Delegieren an Instanzen bei gleichzeitigem Weber, Martin: Wedekind, Anhang zur Diätetik-Vorlesung, S. 400 f. Ein gängiges Lehrbuch ist z. B. Spegg, Horst / Erfurt, Dorothea: Ernährungslehre und Diätetik, Stuttgart 92009. 285 Vgl. Ackerknecht, Erwin H.: Therapie, S. 184 f. 286 So galt als wesentliches Programmziel der Aufklärung, die gesamte Welt durch reines Wissen zu erfassen, um so die Lebensanforderungen zu bewältigen. Dieses zu können, galt als Gipfel aller bisher kulturwirksamen menschlichen Fähigkeiten, vgl. die vehement aufkommende Literaturgattung der modernen, strikt sachlich gehalte283 284

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Dünkel, das Leben zu verstehen und zu beherrschen, die moderne, ja die größte Kulturlüge aller Zeiten. In der Entfernung der Geisteswelt mit ihren Idealen und ihrer veräußerlichten Religion, ihrer Moral und ihrer Selbstgefälligkeit vom Leben und von der Natur sah Nietzsche die Degeneration des gesamten Abendlandes. Nietzsche war in der Tat authentisch; allein seine Krankheitsleiden, die ihm Wahrheiten abrangen, müssen qualvoll gewesen sein. Seit 1990 liegt zu Nietzsches gesundheitlicher Verfassung eine umfangreiche medizinische Studie von Pia Daniela Volz vor. Nur einiges daraus kann hier genannt werden. Nietzsche litt seit Kindheit unter einem wohl ererbten Spasmus der Augenmuskulatur, was ihm später größte Schwierigkeiten beim literarischen Arbeiten einbrachte, zumal sich das Leiden ausweitete zu nervlichen, entzündlichen und weiteren Reaktionen bis fast zur Erblindung. Entweder als Folge oder als eigenständig sind extreme Migräneanfälle ab der Jugendzeit aufzufassen, später kamen Magen-Darm-Beschwerden mit Übelkeit und Erbrechen hinzu, wohl auch Folge der Migränezustände, weiterhin Beschwerden am Bewegungsapparat und ein Infektionsleiden. Die Beziehung der ab 1889 offenkundigen Geisteskrankheit wird nach heutigen Kenntnissen am ehesten zu einem der infektiösen Zustände hergestellt. Die dauerhaften Arztkonsultationen brachten immer wieder diagnostische und therapeutische Probleme, auch Fehlbehandlungen, mit sich. Jedoch muss nach den damaligen Möglichkeiten gesagt werden, dass ein Äußerstes an Können und Mühe aufgewendet wurde. Nietzsche selber, getrieben von der ständigen Suche nach den für ihn günstigen Klimabedingungen, hielt sich an verschiedenen Orten Deutschlands, der Schweiz und Norditaliens auf. Autodidaktisches Einarbeiten in das Ernährungswesen, in Medizin, in Pharmazie, außerdem Verhaltensübungen und geistiges Suchen hängen bei ihm zusammen. Seine zum Teil als rabiat zu bezeichnenden Eigenmedikationen wurden von den behandelnden Fachleuten kritisiert, doch betonte Nietzsche deren Notwendigkeit z. B. gegen Schmerzen. Die Verflochtenheit und Undurchsichtigkeit seiner Leiden fasst Pia Volz in den Begriff des »Labyrinths«, eine nietzschesche Metapher – ihm selbst zufolge mit sehr positivem Impetus. 287 Bei all diesen Erfahrungen schrieb Nietzsche keine Diätetik. nen Enzyklopädie im 18. Jh., hier erwähnt von Baruzzi, Arno: Kant, in: Politische Denker III (BLZ A24), S. 11. 287 Vgl. Volz, Pia Daniela: Labyrinth, S. 90–113, 119, 144, 151–159, 298 f.

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Sehr wohl kursierte diätetische Literatur zu seiner Zeit, und Schriften wie solche müssen ihn aufgeregt haben. Die »Diätetik der Seele« z. B. von Ernst von Feuchtersleben (1806–1849) war ein sittliches Lebenshilfebuch und ein bürgerlicher Bestseller des gesamten 19. Jh. Da Feuchtersleben einen Prototyp der in der Moderne verengten Vorstellungen von Diätetik darstellt, soll er hier im kurzen Exkurs vorgestellt werden. Natürlich ging Nietzsches Niveau auf einen Wiener Populärphilosophen und Lyriker nicht ein, doch hat das Gedankengut einer derart aufgeräumten Welt Nietzsches Geist entfacht. Mit Sentenzen wie »Der Mensch hat nur so viel Anspruch auf Glück, wie er anderen an Freude gewährt« ist Feuchtersleben bis heute als Lehrer einer vermeintlichen Harmonie in den Kalenderblättern und Poesiealbumseiten zu finden. Feuchtersleben war ein durchaus breitbandig wirkender Mensch und hoch geachtet zu seiner Zeit. Verdient machte er sich als Psychosomatiker, allerdings auf sein Amt als psychiatrischer Professor beschränkt. 288 An der Psychiatrie beschäftigten ihn die unmenschlichen und unergiebigen Behandlungen der Insassen, hochschulpolitisch kämpfte er für die Lehr- und Lernfreiheit. Mit seiner Diätetik wollte er eigentlich keine Pauksätze vermitteln, sondern zum Denken anregen – indes passte sie zu gut in den moralistischen Geist des 19. Jahrhunderts und beförderte diesen auch noch. Feuchterslebens »Kalobiotik«, die Lehre vom schönen Leben oder besser, vom schönen Gleichgewicht, ursprünglich an die griechische kalokagathia angelehnt, hier die Haltung, jeden Umwelteinfluss einer mentalen Führung zu unterwerfen, ist eher romantisch oder gar positivistisch zu nennen als aufklärerisch. Und ein Genealoge der Psyche war Feuchtersleben überhaupt nicht, weder in Bezug auf die »Tobräume« der Anstalt noch auf die Sittsamkeit der Biedermeiersofas. Das konnte in seinem Jahrhundert nur ein Kaliber wie Friedrich Nietzsche leisten, wie im Folgenden dargestellt werden soll. 289 Die Belehrung durch das »Weisheitliche« an sich, ein typischer Zug bei Feuchtersleben – nach Nietzsche gab sie den Menschen Der Begriff »Psychosomatik« geht bereits auf J. Chr. A. Heinroths anthropologisches Lehrbuch zurück (1822), hier aber noch mit moralistischer Bedeutung, Krankheit sei Folge von Sündhaftigkeit. 289 Vgl. Pisa, Karl: Feuchtersleben, S. 81–129. Aus Feuchterslebens Privatsphäre ist bekannt, wie er den eigenen so empfundenen Makel der Kinderlosigkeit durch die Annahme einer Verwandten-Waise auf sehr ungehörige Weise gelöst hat, womit sich Äußerlichkeit als Bürgertugend zeigte: S. 100. Vgl. zu Feuchterslebens »aufklärerischer« Gesinnung Schipperges, Heilkunde als Ge-sundheitslehre, S. 70 f. 288

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nichts, sie entmündigte und setzte dazu noch das eigene Ego ins Plus durch die Besserwisserei. Genauso urteilte Nietzsche scharf über das Mitleid, die Wohltätigkeit: Unterdrücker seien sie, Zerstörer jeder individuellen Entwicklung; und das Glück: eine bornierte Realitätsflucht. »Wir haben das Glück erfunden«, lässt Nietzsche die aus seiner Sicht hochmütigen Menschen einer verfallenden Kultur sagen, und der Wahrheit können sie nicht ins Gesicht sehen: »›Wir haben das Glück erfunden‹ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.« 290 Nietzsche, der die Werte umwertete, der seiner Zeit vor den Kopf stieß, der polemisch maßlos überzog und in der Rezeption politisch schwer missbraucht wurde – was gab er Positives von sich, was war sein Maßstab? Erst die neuere Nietzsche-Forschung hat erkannt, dass Nietzsche durch den Verlauf seiner Bände hindurch ein einziges Leitbild verfolgt, den Leib, und hat hinter dem sprühenden Hammerschlag seiner Rhetorik auch sehr feine Töne gefunden. 291 »Der Leib war’s, der an der Erde verzweifelte, – der hörte den Bauch des Seins zu sich reden.« 292 Nietzsche weicht der Verzweiflung an den Lebenskonditionen nicht aus in die mentale Weisheitssuche, sondern belässt sie als leibliches Erleben, d. h. ungeschöntes Leiden, »Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er. Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit. Und wer weiß denn, wozu dein Leib gerade deine beste Weisheit nöthig hat?« 293 Unter dem aufgeklärten Primat des Kopfes ist »Leib« das, wonach das Subjekt gerade nicht durch den bewussten Bezug zu sich selbst definiert wird und für Nietzsche das Mittel zur Überwindung der cartesianischen Spaltung. Das mentale Angehen der Verzweiflung am Sein, der Konditionen der Biologie, des Leidens, der Sinnfindung ist für Nietzsche dagegen Spaltung, Flucht und Verkennung zugleich. Die Psychoanalyse wird es später, auf das Individuum bezogen, »Verdrängung« nennen. 290 Nietzsche, Friedrich: Zarathustra / Vorrede, (KSA 4), S. 19, 20 f., 30. Harald Seubert bezieht das Blinzeln der letzten Menschen auf übertriebene politische und weltanschauliche Bestimmungsmächte, denen die Menschen im religiösen Vakuum der Moderne ergeben wären, weil sie anders weder das Leben noch den Tod ertrügen, dabei letztlich im Zustand einer »paralysierenden Langeweile« lebten: Europa, S. 82. 291 Wichtiger Wegbereiter war Heinrich Schipperges mit seinem Werk über Nietzsches Anthropologik und Therapeutik: Am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1975. 292 Nietzsche, Friedrich: Zarathustra / Hinterweltler, (KSA 4), S. 36, 15 f. 293 Ebd. / Verächter, S. 40, 3–8.

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Gesundheitsverhalten früher

Denn der Leib ist das Selbst der Menschen, ihr eigentlicher Beherrscher, »Ich« dagegen ein irriges Mentalkonstrukt: »›Ich‹ sagst du und bist stolz auf dieses Wort. Aber das Größere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine große Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich.« 294 Das Denken ist demnach Arbeit der »kleinen« Vernunft, nur ein Annex des Leibes; auch »Körper«, das Modewort der heutigen Subjektivität, wäre vor Nietzsche bloß ein Torso. Das Subjektivitätsgefühl des Leib-Seins, das die Aufklärung auslöschte, wird von Nietzsche zum letzten Mal in äußerster Tiefe und Breite ausgelotet. Als Organismus im Gegenzug zum mechanistischen Weltbild, als Individuelles, unerfassbar Großes und Undurchdringliches changiert der Leib zwischen Materie und Geist, ist nur durch Fühlung zu ermitteln, ist nicht bezwingbar und nicht objektivierbar: »›Ich (sagt der Leib, Anm.) bin das Gängelband des Ichs und ein Einbläser seiner Begriffe.‹ Das Selbst sagt zum Ich: ›Hier fühle ich Schmerz!‹ Und da leidet es und denkt nach, wie es nicht mehr leide – und dazu soll es denken.« 295 Eine inhaltliche Dichte an Einsichten wie hier kann Nietzsche nur in aphoristische Sätze kleiden. So hat er stets Leser fasziniert, doch wurde er auch als ein Propagandist total verkannt bzw. missbraucht, sofern nicht die eigentliche Brisanz seiner Botschaft als Unmittelbarkeit des leiblichen Subjekts verstanden wurde. Der Leib als die unverstellte, gefühlte Verflechtung des Bewusstseins mit der Außenwelt und den körperlichen Zuständen sowie umgekehrt die Ausdrücklichkeit der inneren Verfassung etwa im Denken oder in der Kunst wird wohl nirgends so rückhaltlos dargestellt, so konsequent weitergedacht und so radikal gelebt wie bei Nietzsche. Alle seine Urteile wie etwa die Kritik an der Moral oder die Feindschaft zur Musik und Person Richard Wagners lassen sich erst von seiner Leibesphilosophie her wirklich verstehen. Denn es muss eben der Leibgemäße Lebensausdruck von den Phänomenen des Lebens selbst her ertastet werden und sei nicht etwa vom abstrakten Denken oder vom Zeitgeistgeschmack her zu erschaffen, wie es Nietzsche in der Moral bzw. bei Wagner fand. Zum Leib-gemäßen Lebensausdruck gehören für Nietzsche die Handhabungen der Gesundheitspflege genauso (man denke an die oben erwähnten Selbstmedikationen) wie die Gedanken, die durchaus – siehe das Zitat des letzten Absatzendes – auf294 295

Ebd., S. 39, 15–17. Ebd., S. 40, 11–15.

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kommen sollen, d. h. für Nietzsche: Geist, ja Philosophie soll geschaffen werden, doch der Leib bleibt Schöpfer. Ausgangspunkt ist das alte diätetische Sich-Abtasten am Leben, wie es markant Paracelsus – um hier die Ideenlinien zu verfolgen – therapeutisch vermittelte, nun aber hoch reflektiert. Es gibt von daher auch nirgends eine solche Dichte zwischen leiblichem Erleben und Philosophie wie bei Nietzsche. Vom »Leitfaden« des Leibes spricht Nietzsche als eines Weisers im Labyrinth der Lebenskonditionen und zugleich als Prüfschnur zur Tauglichkeit einer Philosophie; vom Leben selbst als Schlange vita, dem bauchkriechenden Wesen, des erlebten, unverdrängten Leidens. Dem Leben vertraut zu sein, also leiblich zu leben, drückt Nietzsche aus im Bild von der Erde: »Den Verächtern des Leibes will ich ein Wort sagen.« »Und darum zürnt ihr nun dem Leben und der Erde.« 296 Leib, Leben, Erde und auch die Philosophie sind bei Nietzsche wie ein einziger Gegenstand verschiedener Perspektiven: Leben als Lebensführung, die sich am Leitfaden des Leibes abtastet, den Gesetzen des Lebens unterworfen bzw. ihnen seelisch-geistig verbunden, hieraus Erkenntnis gewinnend – die gesamte Lebensführung gerät so bei Nietzsche gänzlich zur Diätetik und Diätetik zum Synonym für Philosophie. Nietzsches Leibesprimat führt wesentlich zu einer ganz anderen Bewertung des Leidens: »Kranke und Absterbende waren es, die verachteten Leib und Erde und erfanden das Himmlische und die erlösenden Blutstropfen …« 297 Dass die Verzweiflung am Leben bzw. am menschlichen Selbst verdrängt wird und kompensiert wird mit erdachten Erlösern wie insbesondere Christus und entsprechenden Dogmen, ist für Nietzsche die eigentliche Krankheit der Zivilisation, ist »Gespenst« und »Wahn«: »… Wahn jenseits des Menschen … Jenseits des Menschen in Wahrheit?« 298 Mit dem medizinisch diagnostizierbaren Gesundheitszustand Nietzsches hat das nichts zu tun. Krankheit und Gesundheit sind für ihn existentielle Fragen, und solcherart Krankheit ist die geistige Degeneration. Die uns bekannte WHO-Definition der Gesundheit würde Nietzsche verabscheuen. In 296 Ebd., S. 40 f., 19, 3 f. Die Schlange vita ist für Nietzsche insbesondere ein Bild für den Lebenskampf, der aufgenommen werden muss und nicht delegiert werden kann an Institutionen, die, nach heutigem Jargon »einem etwas vorsetzen«: Zarathustra / Vorrede, S. 27, 12; »Natter« S. 87–89 das Kap. »Vom Biß der Natter« zur moralischen Seite des Lebenskampfes; »Leitfaden«: NF 1885–1887, (KSA 12), S. 92 Abs. 68. 297 Ebd. / Hinterweltler, S. 37, 8–10. 298 Ebd., S. 36, 17 f., 22.

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der medizinischen Krankheit dagegen wird für ihn die Welt erst aufgeschlossen zur Entfaltung von Kraft. Das geht bei Nietzsche bis zur rückhaltlosen Akzeptanz des Leidens, des Selbst als Wesen des »Untergangs«: »Untergehen will euer Selbst …« – »Über sich hinaus schaffen, das will es am liebsten …« 299 Nietzsches merkwürdige Verbindung von amor fati und Übermensch wird nur aus der Leibesphilosophie erklärbar. Die schonungslose Anerkenntnis der Fragilität, das stets am Abgrund Stehende des Leibes (der Schmerz der griechischen Tragödie war Nietzsche Leitbild), schafft Nietzsches Heroen: »Dieser Mensch heißt Übermensch.« 300 Nun ist der Übermensch gerade nicht Bezwinger der Seinskonstituenden mit den Mitteln von Moral oder aktivistischer Diätetik (heute wäre es wohl die Technik und ihre Faszination) – das ist die Position der Leibverächter und »Hinterweltler« 301, sondern bei aller diätetischen Einfindung und Lebensgestaltung, die Nietzsche selbst meisterhaft vorgemacht hat, derjenige, der sich selbst bezwingt und dabei die Einsicht der Fragilität behält, was so weit geht, dass er den eigenen Untergang bejahen kann – und das noch mit Heiterkeit. Am Punkt der Beurteilung des Lebens, der »Hingabe an die Natur«, scheiden sich übrigens zwischen Nietzsche und Rousseau, der im Kapitel 3.1.7 erwähnt wurde, die Geister: »Die Natur ist nichts so Harmloses, dem man sich ohne Schauder übergeben könnte« 302, schreibt Nietzsche so (und an anderen Stellen viel persönlicher und schärfer) gegen den für abwegig gehaltenen Naturidealismus Rousseaus. Der Übermensch als Botschaft ist bei Nietzsche keine Gestalt eines Strebens. Er ist anthropologisches Ziel und Ursprung zugleich, denn er schafft aus sich selbst Philosophie, dem Wesen seines Leibes gehorchend, das Leben vollkommen bejahend in dessen Leidhaftigkeit und Kraft, erhaben über ein insofern Ebd. / Verächter, S. 40, 33, 28 f. Ebd. / Vorrede, S. 18, 22. 301 »Hinterweltler« sind nach Nietzsche ebenso wie die »Verächter« nicht bloß leibferne Ignoranten, sondern dazu noch die gelehrsam Kompensierenden. Die Dekadenz-Genese ist angelehnt bereits an Platon, der die Ideenwelt höher als das Reale stellte, fernerhin ans Christentum, das die Menschen Mitleid und caritas lehrte sowie an alles politische Ideologentum. Zu beachten ist das ganz spezifische Verständnis von Nietzsches Kritik. Er meint damit eine die sinnliche und erfahrbare Welt negierende Werteorientierung und Jenseitigkeit, was weder das Sinnpotenzial von Metaphysik insgesamt ausschöpft noch dem platonischen Verständnis von Idee und Konkretion gerecht werden dürfte, das nach neueren Forschungen als dialektisch gewertet wird. Zu Platon vgl. Hösle, Vittorio: Platon, S. 126–131. 302 Nietzsche, Friedrich: NF 1869–1874, (KSA 7), S. 199, 5, 9 f. 299 300

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primitives Glücksstreben. Es gibt kaum einen Begriff der philosophischen Literatur, der mehr missbraucht wurde als der Übermensch. »Gott ist tot« vielleicht wurde zum Ausspruch größerer Bestürzung – bei Nietzsche ist es Zeitdiagnose über eine ihren Ursprüngen entwurzelte Menschheit. Es gibt auch niemanden, der die Breite zwischen diätetischen Maßnahmen und Untergangs-Bejahung so intensiv vorgelebt hätte wie Nietzsche. Wie aber »lebte« Nietzsche diätetisch? Für die im 19. Jh. grassierende Popularkultur des Leibestrainings mit Propaganda und Organisationen hatte er entsprechende Verachtung übrig wie für den Moralismus. 303 Politik und alles RationalZweckgerichtete sind überhaupt kein Thema für Nietzsche, denn sein Menschenbild ist aus der Dynamik der Natur entwickelt und lernt aus ihr die Verzweiflung akzeptieren. 304 Solches Verhalten findet den nomos aus der Anschauung der Natur und entwirft die Welt genauso wenig wie das Ich mit dem Kopf. Die genannten Weltzugänge, phänomenologisch auf der einen, kognitivistisch auf der anderen Seite, sind grundverschieden. Der Nachwelt erscheint Nietzsches Werdegang nicht glorreich. Scheiterte Nietzsche an seinem selbstgewählten leiblichen Labyrinth? Nietzsches Krankheitsleiden waren nach damaligem Stand schon frühzeitig unheilbar, seine gewollte Isolation machte ihn unzugänglich für jeden Trost. Als gescheitert hätte er sich selbst niemals betrachtet. Der medizinische Wahn Nietzsches offenbart der Nachwelt seinen Geist nicht nur in Verzerrung, sondern auch in seiner Kraft. 305 Nietzsche bewies äußerste Kraft darin, Diätetik nicht zur mentalen Flucht werden und damit absterben zu lassen, wie es unter einem Zeitgeist der Entkoppelung vom Leben zwangsläufig geschah. Mit den administrativen und geistigen Strukturen des ausgehenden 19. Jh. war das Diätetische am Ende. Nietzsche hinterließ eine paideia am Leitfaden des Leibes, die heute philosophisch gerade erst in ihrer Bedeutung erkannt wird. Verkörperte Nietzsche den letzten oder größten Diätetiker aller Zeiten? Gemessen am Vakuum seiner Zeitkultur und seiner eigens vorgeführten Konsequenz und Vehemenz im Leben, Denken sowie in der Verschmelzung beider müsste man es bejahen. 303 Vgl. Nietzsches Spott über den Vegetarismus, und zwar als Programm: Fall Wagner; (KSA 6), S. 22. 304 Vgl. Düsing, Edith: Denkweg, S. 393–395. 305 Zu Nietzsches Leidensbewertung vgl. Jaspers, Karl: Nietzsche, S. 110–117.

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Der oberflächliche psychologische Blick würde bei einer solchen Diskrepanz aus Lebensumständen und Verhalten eine Kompensation, insbesondere Protesthaltung, sehen. Das führt zu spezielleren Fragen an Nietzsches Persönlichkeit, wie sie zum Verständnis seines Werkes allgemein als klärenswert angesehen werden. Nach Nietzsches Tod setzte im Zuge der aufgekommenen Psychoanalyse freudscher und adlerscher Richtung eine akribische Persönlichkeitsforschung anhand der Lebensumstände und des Nachlasses ein. Im Gegensatz zu diesen einseitigen und oftmals respektlosen Unterfangungen bemüht man sich heute um einen vielgleisigen und angemessenen Zugang zum Verständnis von Nietzsches Person und Werk. 306 Die zudem generelle Abkehr von der Psychoanalyse hat sicher auch etwas damit zu tun, dass zumindest vage Grunderkenntnisse Allgemeingut geworden sind. Die vaterlose, überbemutterte, von Krankheitsleiden bestimmte Kindheit des intelligenten, kreativen Nietzsche braucht heute keiner Experten mehr, um Läsuren in der Person zu vermuten. Die Verfasserin meint jedenfalls mit einer tiefenpsychologisch gestützten Einfühlung, dass eine Person, die das Mitleid hasst und Gott für tot erklärt, beides, ein konstruktives Mitleid und ein förderliches Gottesbild, selbst am dringendsten gebraucht hätte und es sich gewünscht hat. Die Verfasserin möchte, hieran anknüpfend und von Nietzsches soziobiografischer Situation ausgehend, etwas, wie in früheren Kapiteln schon angezeigt, über die religiöse Bedeutung des Denkers ermitteln, insofern diese für das diätetische Thema bedeutsam ist. Im aktuellen Forschungsbestand zeigen sich neben der schon zitierten medizinischen Studie von Pia Daniela Volz zwei Werke als beachtenswert. Der Sozialpädagoge Christian Niemeyer nimmt etwa eine Mittelstellung ein zwischen Pia Volz und der zu Nietzsches Denkweg kürzlich zitierten Philosophin Edith Düsing, indem er den Zusammenhang zwischen Denkpositionen und Krankheitsweg recherchiert. Der Philosoph und Theologe Henrik Holm, der selber auch Musiker ist, widmet sich Nietzsche in seiner ganzen Person als einer »Künstlerseele«. Er gibt nicht nur Einblicke in den Zusammenhang von Nietzsches Musikliebe zur Philosophie, sondern unternimmt die Erschließung der künstlerischen Seelenstruktur über306 Zu verzerrten Deutungen kam es allein schon aufgrund massiver Fälschungen (bes. im »Dritten Reich«) durch Herausgeber an Nietzsches Schriften, wobei nicht allein die berüchtigte Schwester Elisabet Förster-Nietzsche verantwortlich war. Vgl. Niemeyer, Christian: Nietzsche verstehen, S. 65–74.

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haupt. Die Künstlerseele sei die affizierbare, die verwundbare, die leidende Seele schlechthin. Holm geht hochsensiblen Tönen in Nietzsches Schriften nach, etwa vom »Wurm«, der »ins Herz« biss. 307 Nietzsche selbst beschreibt das Verspüren des seelischen Schmerzes als Beförderer der körperlichen Krankheit und stellt dar, wie das Getroffen-Werden durch den Schmerz ihn in seinem inneren Suchen und äußeren Schaffen zu einem Getriebenen machte, insbesondere auch in der religiösen Suche. 308 Übereinstimmend zitiert Holm eine Passage Edith Düsings, wonach der von Nietzsche geäußerte innere Hunger (z. B. die »Unruhe der Ideallosigkeit«, der »Mangel an der großen Liebe«) geradewegs Antworten der Heilung und Erlösung aus der Heiligen Schrift impliziert. 309 Nietzsche könne von solchen Implikationen her nicht als Nihilist bezeichnet werden 310 und entspricht darin der Botschaft des Leibes, die in diesem Kapitel als ein positives, für Nietzsche ideales Lebensmuster dargestellt wurde. Ganz im Sinne des Leiblichen ist den Studien von Niemeyer und Holm die psychosomatisch verwobene Sicht auf Nietzsche gemeinsam. Bei beiden ist in der Weise der psychosomatischen Entwicklung ein Antizipieren der Krankheit aus dem Seelenschmerz (z. B. der Angst um eine womöglich vom Vater ererbte Entzündung) der Tenor, zumal in der Getriebenheit der Künstlerseele. 311 In der empfindlichen Beurteilung des kranken Nietzsche möchte sich die Verfasserin an das Naheliegende halten. Zum einen wäre der Eindruck aus dem Werk von Holm zu entschärfen, dass der Weg von der Sensibilität zur Krankheit zwingend sei. Heute sind zahlreiche Künstler, insbesondere Musiker (Pianisten, Dirigenten) bekannt, die, vermutlich innerlich sehr erfüllt, im Wesentlichen gesund blieben und sehr alt sind oder wurden. 312 Zum anderen weiß sicher jeder, der einmal ernsthaft krank war, dass mindestens genauso schwer wie die 307 Holm, Henrik: Künstlerseele, insbes. Buchvorspann sowie S. 33–38, Zitat S. 33 (orig. KSA 9, S. 612). 308 Vgl. ebd., insbes. S. 35, 43. 309 Ebd., S. 44–49, Zitate S. 46 (orig. KSA 5, S. 397). 310 Vgl. ebd., S. 43. 311 Vgl. Niemeyer, Christian: Nietzsche verstehen, S. 22–34. Vgl. Holm, Henrik: Künstlerseele, S. 35. Speziell auch Äußerungen Nietzsches über seine Bordellbesuche, d. h. ein absichtliches In-Kauf-Nehmen der Syphilis, zeigen ein Heraufbeschwören der Krankheitsdramatik an. Ob Nietzsche wirklich auch an der Syphilis erkrankt war, ist im Geflecht seiner Beschwerden bzw. nach entsprechenden Quellen nicht ganz klar. Vgl. Niemeyer, Christian: Nietzsche verstehen, S. 29. 312 Z. B. der Pianist Alfred Brendel mit heute 83 Jahren.

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Beziehung von der Seele zum Körper das Umgekehrte wiegt, dass nämlich das körperliche Leiden und die mit ihm verbundenen Folgen (z. B. die soziale Isolation aufgrund diätetischer Maßnahmen) in extremer Weise die Seele zermürben können. Diese Ergänzung zu Holm und Niemeyer unterstreicht das Komplexe des Leibes, die schon eingangs in dieser Arbeit erwähnte wechselseitige Bezüglichkeit und das Verbot individuell bezogener Letzturteile. Zu der körperlich-seelischen Entwicklungsrichtung ist bei Nietzsche zu betonen, dass seine seit Kindheit peinigenden somatischen Leiden heute durchaus als erblich bedingt erscheinen. 313 Des Weiteren: In seiner Abrechnung mit Wagner schreibt Nietzsche eindringlich, wie nichts mehr den Menschen einsam mache als das Leiden, wobei der Kontext vor allem die somatische Seite impliziert. Er äußert hier offen, dass er sich aus der Verzweiflung des Leidens und der Isolation das abermals trennende Heroentum eines kompromisslosen Epikureismus, der das Leiden in höchsten Zügen genießen will, zielgenau als Lebensform gewählt hat. Weiterhin in dem Zusammenhang setzt Nietzsche das Leiden radikal mit der Wahrheitsfrage gleich und besteht darauf, dass diese kognitiv gesehen unbeantwortet bleiben muss. 314 Sie kann für ihn nur leiblich-lebend gelöst werden, und das hieße mit Blick auf das Pathologische und Pathische des Lebens: diätetisch. Das Religiöse ist für Nietzsche damit eng verknüpft, was sich nicht nur in seinen religiösen Fragen zeigt, sondern auch in dem Idol und Idem, das er sich wählte: Der Gott Dionysos – er war ein sterblicher Gott. Das wiederum verweist auf die Gebietermacht des Leibes, die letztlich in den Begrenzungen der biologischen Strukturen liegt. Nietzsches existentielle Implikationen insgesamt sind somit aus Erfahrungen tiefer Entbehrungen zu verstehen. In der Verzweiflung einer schwer leidenden, von ihrer soziokulturellen Umgebung nie verstanden Person 315 wäre umgekehrt ein Schlüssel zu sehen, sich 313 Der Vater starb sehr jung an Gehirnentzündung, vgl. Niemeyer, Christian: Nietzsche verstehen, S. 27 f. 314 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Contra Wagner, (KSA 6), S. 435 f., »Wahrheit« S. 439. 315 Biografisch dürfte v. a. die frühe Pensionierung Nietzsches nach seiner Glanzkarriere als Jungprofessor ein sehr schwerer Schlag für ihn gewesen sein (vgl. Niemeyer, Christian: Nietzsche verstehen, S. 26). Sie war durch fortschreitende Krankheit indiziert, geht aber bekanntlich auch einher mit einem zunehmenden Unverständnis seitens Freunden, Kollegen und Bekannten am eher künstlerisch als wissenschaftlich wirkenden Schrifttum Nietzsches. Die Phase dürfte auch ein deutliches Abbild für die Wechselbezüglichkeit des Leiblichen sein, insofern Nietzsche hier zusammenwir-

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dem diätetischen Thema von der existenziellen Seite her zu nähern, über die Verlässlichkeit oder Unwägbarkeiten der Natur hinausgehend. Eine Religiosität und ein Gemeingeist, die die Zerbrechlichkeit und Bedürftigkeit des Lebens anerkannt hätten, die hätten stützen können, ohne zu demütigen, fehlte in der borniert-selbstbewussten Zeitkultur, wie Nietzsche sie vorfand. Sie hat sich in der säkularen Gesellschaft bei all deren vermeintlich humanen Ansätzen, ihren unzähligen Versorgungs- und Schutzeinrichtungen, kaum mehr eingestellt. In die europäische Diätetik war seit dem Mittelalter der christliche Glaube eingewoben, der trotz aller menschlichen Bemühungen, metaphorisch gesprochen, die Tränen beließ und deren Überwindung Christus zuschrieb. 316 Überwindung des Leidens könnte auch, wie an früherer Stelle dieser Arbeit schon angemerkt, z. B. in mystischen Formen des Buddhismus oder in anderen Weltanschauungen bzw. Religionen gefunden werden, sofern diese zur inneren Befreiung führen und nicht, wie bei Nietzsche, zum Drang, zur Übertreibung. Nietzsche wäre als größter Diätetiker aller Zeiten anzusehen, wenn man am Gegenpol zu seinem vehementen leiblichen Engagement die Botschaft einer existenziellen Verortung aufspüren würde. Sie äußerte sich bei Nietzsche als Fehlanzeige. Sie spiegelt, genauso wie seine vehemente Initiative um das Leibliche, ein geistig-kulturelles Vakuum der nachaufgeklärten Zeit wider. Um die Frage vom Ende des Mittelalter-Kapitels zu beantworten, kommt das rein kognitiv gegründete Leben dieser Phase einer Überforderung gleich.

kenden Kräften wie Begabung, deren Beziehung zur Gesellschaft, Emotionen und somatischer Krankheit intensiv ausgesetzt war. 316 Moderne Versorgungseinrichtungen: Die den menschlichen Respekt nur schematisch ausführenden Einrichtungen machen bedürftige Menschen zu Schablonen wie »Transferempfänger«, »Hartz-IV-Empfänger«, »Prekariat«, »Pflegefälle«, »Behinderte«, »Immigranten« usw. Ein Zuspruch des Angenommenseins, wie ihn nach christlichem Glauben Christus der Person gibt, gelingt unter solchen Bedingungen im menschlichen Rahmen vielleicht besser, wenn Menschen solidarisch aus ihrer Not gar nicht herauswollen, wie dies von Obdachlosen bekannt ist. Auch manchen Gutsituierten missfällt die kalte Gesellschaft, vgl. den Artikel von Feddersen, Carola: Auf der Suche nach alternativen Lebensformen. Immer mehr Menschen sehnen sich nach Gemeinschaft mit anderen …, in: Natur und Heilen 6 / Juni 2014, S. 22–30. Deutschland weise innerhalb Europas die höchste Zahl an Zusammenschlüssen auf, in denen gemeinsam gewirtschaftet und gelebt werde (S. 30).

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Bei Nietzsche zeigt sich in der eigenen Person noch die alte Verbindung von Diätetik und dem Leiden. Das typisch diätetische Sich-Abtasten am Leben, ideengeschichtlich in alter Therapeutik zu finden, ist basal, hier nun aber hoch reflektiert. Daraus folgt umgekehrt Wesentliches: Das Transzendieren dieses Werteverächters, verkörpert in Figuren wie dem Übermenschen, in Sinnträgern wie der Schlange, und zwar aus der Leiblichkeit heraus, ist nirgendwo so mit dem Leben verschmolzen wie bei Nietzsche. Nietzsches Diätetik ist Philosophie, und seine Philosophie ist Diätetik – in einer Zeit, in der Philosophie dem Leben nichts mehr zu sagen hat und wo das Leben den Geist nicht mehr inspiriert. Als Lebensphilosophie ist diese im höchsten Maße paideia, befreit von äußeren Infrastrukturen, bzw. lässt umgekehrt erkennen, dass das Diätetische hohen pädagogischen Wert entfalten kann, wenn es a) erprobt, b) auch reflektiert ist – sofern bei den Adressaten der grundsätzliche Orientierungsnomos oder die arete für solches Zusammenspiel gegeben sind. Nietzsche bietet den »Leib« als Richtschnur, jedoch der Zeitkultur entsprechend kann seine paideia nur noch Zensur sein über eine Gesellschaft, die den nomos schon längst verloren hat. So gesehen besitzt die moderne Kluft zwischen Leben und Geist in Nietzsche ihren größten Kritiker, aber auch ihren stärksten Überwinder. Nietzsches rein der Leiblichkeit abgewonnene Transzendenz führt allerdings nicht zum inneren Frieden. Er selbst entwickelte aus seinem Lebensschicksal die Leidensfähigkeit bis zu einem Hochmut, der im Seelisch-Geistigen die mesotes der Menschlichkeit weit überzog. Insgesamt hat Nietzsche damit seit nunmehr über hundert Jahren den Appell zurückgelassen: Neben dem leiblichen auch den existenziellen Mangel in Anthropologie und Weltgestaltung einzuholen. Während Theologie und Philosophie im Bereich der Leiblichkeit viel von Nietzsche lernen könnten, dürfte die religiöse Rückbesinnung eine Aufgabe an die heute fast omnipotent wirkende Medizin sein. Letztlich bliebe eine Verbindung von Natur und Geist Hauptfrage unseres Zeitalters. 317 317 D. Verf. möchte betonen, dass beide Arten einer existentiellen Einbindung kein Widerspruch sein müssen. Einen erlösenden Gott als rein geistigen Gegenspieler zu der gewiss nicht nur verlässlichen, sondern auch unwägbaren, bedrohlichen Natur zu setzen, wäre eine vom »Kopf« geleitete Theologie, von der das jetzige, v. a. protestantische Christentum nach Einschätzung d. Verf. weitgehend bestimmt ist. Eine freundliche Einstellung zur Natur und eine Aussöhnung von Christentum und Naturwissenschaft können damit nicht wirklich gefunden werden. Nietzsche könnte hier

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3.1.9 Turnvater Jahn: Frisch, frei, fröhlich und fromm Im Auftakt von Teil 1 wurde ein Essay des Sportwissenschaftlers Bernd Wedemeyer zitiert. In dieser Schrift erklärt der Autor den Vereinssport seit seinen Anfangszeiten als wichtigen Einfluss der Individualisierung. Die Sache wirkt aber von hinten aufgezogen, denn wer in einen Sportverein eintritt, dürfte sein Selbst bereits als ein Stück Individuum erlebt haben, nämlich in der eigenen Begabung zur Sportlichkeit. Somit würde in diesem Artikel am klassischen Sinn der Sportvereine vorbeigegangen werden. Welcher Sinn war es? Sportvereine haben originär den Sinn, allen sportbegabten und -begeisterten Menschen Räume und Geräte der Ausübung zur Verfügung zu stellen. Für den breiten Arbeiteranteil in der Bevölkerung ab der zweiten Hälfte des 18. Jh. war das eine großartige Errungenschaft. Vereine, Gesellschaften und Bünde aller Arten waren in Deutschland mit der Versammlungsfreiheit ab 1848 wie Pilze aus dem Boden geschossen. Inhaltlich wuchsen sie auf dem Boden der aufklärerischen und patriotischen Vereinigungen des 18. Jh., aber auch einer Geselligkeits- und Interessenpflege je nach persönlicher Neigung, die mit dem weggefallenen Ständewesen früherer Jahrhunderte hier eine Fortsetzung fand. Für die neue Beliebtheit der Sportvereine spielte auch der Bewegungs- und Frischluftdrang gegenüber fruchtbar gemacht werden am Pol des Vertrauens in die Leiblichkeit, die sich letztlich aber im absoluten Erlösergott verorten müsste. Andere in dieser Arbeit beschriebene Ansätze einer Verortung in der Spanne von Natur und Erlösung wären z. B.: die geschwisterliche Einstellung zum gleichfalls bedürftigen Tier, wie sie der Theologe Rainer Hagencord vertritt, das kosmogone Weltbild der Hildegard von Bingen oder die wesenhaft verstandene Phytotherapie mit ihrer Überhöhung ins Symbolische. Zu betonen ist auch, dass alle diese Muster phänomenologisch erschlossen wurden. Zur privaten Rückbesinnung kann heute die ästhetische Einübung helfen, wie mehrmals schon beschrieben wurde (vgl. insbes. FN 48). Auch manches kulturhistorische Erleben mag dazu dienen, etwa das sinnliche Erfassen eines möglichst original erhaltenen alten Bauernhauses, dessen Architektur, Gestaltung und Ausstattung eine breite Spanne der Existenzmuster ausstrahlt: die Ordnung der Naturzyklen, die Plage der widerständigen Natur, die Erholung des Wohnens, den Überfluss des Lebens (etwa in der Gestaltungsschönheit von Bemalungen) und einen alles umschließenden Frieden (mit Zeichen wie etwa dem Segensspruch, dem Kruzifix an der Wand). Theologischdogmatisch müsste man sagen: Die Natur in ihrem Auf und Ab verläuft zyklisch, christlich gesehenes Leben, Sterben, Auferstehen haben Weg und Ziel – ein bedeutender Unterschied. In der phänomenologischen Weise des Weltzugangs kann beides, ähnlich auch der alten Teleologielehre (vgl. am Schluss von Kap. 3.1.3), ineinander verzahnt werden. Im Ausblick, Teil 6, folgt mehr zu diesem Themenkontext.

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den körperlich beengenden, mental hektischen Lebens- und Arbeitsbedingungen der neuen Industriekultur im 18. Jh. eine große Rolle. 318 Um die Mitte des 18. Jh. war es daher die Zeit, in der der Ausdruck »Sport« den deutschen Sprachraum erreichte. Er leitet sich vom lateinischen deportare – sich zerstreuen, vergnügen ab. Daraus bildete sich über das Altfranzösische desport – Erholung, Zerstreuung – im Angelsächsischen über das Verb to disport der Begriff »Sport«. Vorher, seit dem 16. Jh., besaß die deutsche Sprache das Wort »Leibesübungen«, Anfang des 19. Jh. schuf Friedrich Ludwig Jahn die Bezeichnung »Turnen«, abgeleitet aus dem lateinischen und ähnlich althochdeutschen tornare – drehen, lenken; auch der »Turnier«kampf schwingt hier mit. Im Begriff »Sport« verbirgt sich ein Bedeutungswandel von der Ertüchtigung zur erholenden (Freizeit-)Beschäftigung, um als bedrängend empfundenen Lebensbedingungen gegenzusteuern. Um 1900 dann wurde von Problemen des Ernährungwandels her (z. B. der raffinierte Zucker, ein Produkt technischer Verfahren der 1850er-Jahre) ein neuerliches Zurück-zur-Natur laut mit Exponenten wie Max Bircher-Benner, der neben der Frischkost auch das Turnen empfahl. Das Turnen fand Begeisterung im 19. Jh. und bot umgekehrt die Möglichkeit zur Mobilisierung von Menschen. Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) war der Erste, der die Gabe dazu hatte. Den Begriff »Sport« und seinen Bedeutungswandel hat er nicht mehr erlebt. 319 An kaum einem Schulkind ging der Name »Jahn« seither vorbei. Noch der heutige deutsche Schulsport und so gut wie alle länger oder neuer bestehenden Sportvereine berufen sich auf Jahn – und das alles, obwohl die zeitpolitischen Umstände dieses Mannes inzwischen sehr fern liegen. 320 Leibesübungen waren immer schon Bestandteil der diätetischen Lebenskultur gewesen. Wichtig erschien dabei in allen Fällen die maßvolle, dem Individuum entsprechende Betätigung. Selbstzeugnisse aus allen Jahrhunderten belegen auch das individuelle praktische Interesse, z. B. im Blick auf eine bestimmte Berufsausübung. Bei der Adelserziehung wurde mittels Leibesübungen das höfische Auftreten 318 Vgl. Wedemeyer, Bernd: Sport und Körper, S. 517. Die Situation der Arbeiter ignoriert der Autor in Bezug auf die Anfangszeit (Formulierung: »schon immer«) und schreibt vom Sport nur als Luxusausübung. Zu den städtischen Lebensbedingungen vgl. Osterhammel, Jürgen: Verwandlung, S. 360–365. 319 Vgl. Repschläger, Marion: Sport und Medizin, S. 7. 320 Manche vollen Vereinsbezeichnungen lauten auf Jahn, z. B. der »TV 1860 Nürnberg Jahn – Schweinau e. V.«

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trainiert. Die Ritterakademien der Renaissance lehrten z. B. Reitkunst, Fechtkunst Tanz. Anstandsbücher dieser und späterer Zeit sahen Übungen auch für die »elegante Dame« vor. Durch die aufklärerische Reformbewegung des Philanthropismus – es ging um die Förderung bestimmter menschlicher Eigenschaften – wurden Leibesübungen im 18. Jh. erstmals in den bürgerlichen Schulunterricht integriert. Zusammen mit dem neuen bürgerlichen Repräsentationswillen stand bald die Nützlichkeit in Bezug auf eine spätere Militärtauglichkeit im Vordergrund. Die Übungen wurden im Rahmen eines neuen naturbezogenen Hygiene-Diskurses (wie schon beschrieben) auch für die unterrichtsfreie Zeit empfohlen, jedoch für Frauen eher abgelehnt. 321 Das 1784 gegründete Philanthropin (etwa: Schule der Menschlichkeit) von Ch. E. Johann Christoph GutsMuths (sic!) in Schnepfenthal am Thüringer Wald besaß die praktische und kämpferische Ausrichtung weit über den schulischen Bereich hinaus. 322 Friedrich Ludwig Jahn, ein Pfarrerssohn aus dem Brandenburgischen, gescheiterter Gymnasiast und Student, der sich als einfacher Hauslehrer unterhielt und mit historischen Studien befasste, hatte die philanthropische Gymnastik als Schüler von Schnepfenthal um 1807 selbst kennengelernt. Der engagierte Nationalist Jahn entfachte binnen weniger Jahre eine ständeübegreifende deutsche Turnbewegung. Von Anfang an politisch intendiert, war ihr Hauptziel, die Jugend auf den Kampf gegen die napoleonische Besetzung vorzubereiten und ein geeintes Deutschland zu ermöglichen. Darüber hinaus schwebte Jahn ein Großdeutschland mit führender Rolle in Europa vor. Als Kämpfer auch für die Reinheit der deutschen Sprache, hasste er alles »Undeutsche«. 1811 gründete Jahn den ersten Turnplatz Deutschlands auf der Berliner »Hasenheide« vor dem Halleschen Tor und nahm neben Schülern und Studenten auch Handwerksgesellen sowie junge Kaufleute in die Ausbildung auf. Mädchen und junge Frauen waren vom sog. vaterländischen Turnen ausgeschlossen. Jahn legte die turnerischen Übungen fest, die meisten von ihm selbst erst entwickelt, orga-

321 Vgl. Mallinckrodt, Rebekka: Leibesübungen, in: Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 7, Sp. 818–821. 322 GutsMuths verschaffte übrigens auch dem Schwimmsport Bedeutung, der ein Jahrhundert später Volkssport wurde und auch Wettkampfsport, wie es ähnlich im Kapitel über das Baden erwähnt wurde, vgl. Behrendt, Joachim: Freizeitspaß Bad, S. 23.

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nisierte die Geräte dafür, verbreitete eine allgemeine, karge Disziplin und vermittelte zum Turnen auch Geschichtskunde, Lyrik und Gesang. Bald darauf initiierte er das erste deutsche Turnfest unter Beteiligung von Arbeitern und Prominenz. Überall in Deutschland führten nun Burschenschaften und Bünde die »Turnerey« ein. Mit Jahns 1816 erschienenen Buch »Die Deutsche Turnkunst« konnte diese schließlich theoretisch studiert werden, einer Sammlung von »Turngesetzen« für die rechte äußere und innere Haltung: »Es soll auch keines Hasses oder Grolles auf dem Turnfeld gedacht werden, und ebenso wenig auf dem Hingang und Heimgang.« Eines der Turnlieder aus der ersten Zeit lautet: »Deutsch zu denken, deutsch zu handeln / Stets den graden Weg zu wandeln, / Ist des deutschen Biederpflicht. / Diese, Brüder, lasst uns üben, / Nur das Deutsche lasst uns lieben, / Es ist gut, das Fremde nicht.« Dem politisch desolaten und sozial aufgewühlten Deutschland dieser Zeit bescherte Jahn das Turnen als identitätsfindende Lebenskunst. In der Ausgabe des Turnbuchs von 1816 erschien erstmals sein Wahlspruch »Frisch, frei, fröhlich und fromm«, die Kurzform einer ausführlichen moralischen Maxime, die ursprünglich eine studentische Devise aus dem 16. Jh. war. 323 Mit der Niederlage Napoleons 1813 wurde Jahns engere Zielsetzung hinfällig. Restaurative Kräfte wehrten sich gegen das Turnen als nationale Bewegung und verhängten ab 1820 eine »Turnsperre«. Das Turnen wurde währenddessen weiterhin in Schulen gelehrt, hier aber in geschlossene Räume verlegt. Erstmalig wurden auch Mädchen und Frauen Übungsstunden angeboten. Ab Aufhebung der Turnsperre kam es zu zahlreichen Vereinsgründungen. 324 Jahn war 1819 in Festungshaft gekommen, wurde nach sechs Jahren entlassen und viel später dann, 1840, für seine Verdienste um die Leibesübungen kaiserlich rehabilitiert. Gezeichnet von der Haft und enttäuscht über die nachlassende patriotische Motivation des Sports sowie die schwierige Demokratisierung Deutschlands, zog sich Jahn überwiegend in die historische Arbeit zurück, doch ein neuer Schicksalsschlag, ein Hausbrand, vernichtete am Ende seine Texte. Erst aus Jahns letzten Lebensjahren stammt das Image vom alten Mann mit wallendem Bart, wie es auf zahlreichen Denkmälern der Nachwelt auch auf seine jün-

Vgl. Ohmann, Oliver: Jahn, S. 27–42. 57–64. Verse S. 42, 75. Vgl. Mallinckrodt, Rebekka: Leibesübungen, in: Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 7, Sp. 820. 323 324

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geren Jahre bezogen wurde. Im 20. Jh. nährte Jahns Image die Nationalsozialisten, später dann eher die Stimmen von Spöttern. 325 Dem deutschen Turnsport verschaffte Jahn eine sporttheoretische Fundierung, Deutschland somit eine führende und förderliche Rolle bei internationalen Wettkampfregelungen und auch sportlichen Leistungen bis in die Gegenwart. In den neueren turnerischen Leistungen waren Nationen wie Russland, Tschechien, Rumänien und China weitaus besser. Ob hier, wie ähnlich einst bei Jahn, politischideologische Formen von Drill dahinterstecken, ist zu vermuten. Aus der ehemaligen DDR war solches ebenfalls bekannt. Das deutsche Turnvereinswesen bleibt den Traditionen seines »Turnvaters«, z. B. im Tragen der »vier F«, in Bezug auf die sportliche Seite sowie auf allgemein-nützliche Züge verbunden. Wie schwer die inhaltliche Bewertung des schillernden Jahn-Erbes ist, zeigt die Arbeit der JahnGesellschaft, die sich mit der aktuellen Anwendbarkeit seines Werkes intensiv befasst. Politisch gesehen geht die Tendenz heute dahin, Jahn als eifernden Nationalisten zu bewerten, aber nicht als frühen Nationalsozialisten. 326 Es wäre an dieser Stelle vorschnell gedacht, dem Patrioten Jahn das Diätetische abzusprechen. Der vorbeugenden körperlichen Gesundheit der deutschen männlichen Jugend dürfte das neue Training genützt haben, wenn auch Gesundheit, Kraft und Kondition für Jahn eher Mittel zum Zweck waren. Die Verbindung von körperlicher Betätigung mit Geistesinhalten ist ebenfalls und gerade ein Zug des Diätetischen, und das besonders auch bei paralleler Ausübung, vergleiche die innere Gesinnung auf dem Turnfeld in dem oben zitierten Turngesetz. Ähnlich philosophierten Aristoteles und seine Nachfolger im »Herumwandeln«, und noch viele Jahrhunderte lang wurden das Denken und die körperliche Konzentration verbunden. Erinnern wir beispielsweise daran, dass bedeutende Denker durch das Stehpult beflügelt wurden. Das Gespür für diese förderliche Verbindung ist uns abhandengekommen, insofern als heutige Schüler und Akademiker ausschließlich sitzen. 327 Die politischen Bestrebungen Jahns schließlich dürfen uns nicht nur negativ berühren, da nationale Vgl. Ohmann, Oliver: Jahn, S. 75–88. Vgl. ebd., S. 89–94. Vgl. Tomansek, Yvonne: Turnsport, S. 1 f., 54–109. 327 Erst langsam werden die Nachteile des Sitzens erkannt. Zur Förderung besonders der geistigen Konzentration von Schülern gibt es aktuell Versuche in Schweizer Schulen mit dem Stehpult. In Deutschland hat das Jogging seine meditative Kraft entdeckt, vielleicht auch für die christliche Spiritualität? Vgl. Hofmann, Frank: Mein Lauf zu 325 326

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und soziale Freiheit, Einheit und Gerechtigkeit nach mühsamsten Bestrebungen ihrer Initiatoren im 19. Jh. sowie nach Unterlaufung im 20. Jh. erst von uns Heutigen genossen werden können. Das Militärische schließlich, in früheren Jahrhunderten Normalinhalt der Politik, galt im Umfeld Jahns einer Verteidigung, die für die weitere Entwicklung Deutschlands unerlässlich war. Fachleute wie die Jahn-Gesellschaft mögen im schwierigen politischen Urteil weiterhelfen, insofern als sich heute die Anschauungen von der Genese so stark entfernt haben. Was Jahn das Diätetische abspricht, ist besonders auffallend das Ignorieren der mesotes, des Maßhaltens im Rahmen einer GesamtLebensführung. Wettkampf in der durch das Ideologische erhöhten Bedeutung kennt nur absolute Ziele und nicht den harmonischen Fluss. Turnen in Eis und Schnee, Wettkampfdrill und politische Demonstrationen übergehen die Einbindung in andere Parameter gelingenden Lebens wie insbesondere die individuelle seelisch-geistige Konstitution der Teilnehmer und machen Menschen zu Athleten-Robotern. Was Jahn den Deutschen in sportlicher Hinsicht gab, ist heute natürlich diätetisch prinzipiell anwendbar. Die Frage nach dem Bezug auf die alte Diätetik, speziell im Individuellen, werden die folgenden Teile dieser Arbeit behandeln. Allgemein wäre das Ausloten des Wettkampfsports eine Aufgabe an die hier verantwortlichen Organisationen. Der Wettkampfsport war schon immer gut für Übertreibungen. Wenn Jahn politisch Sparta wiederholt, so steht für das sportliche Extrem das antike Athen Pate, wo Megaeinkommen der Spitzensportler und eine Körperbeeinflussung durch Doping und Ernährungstricks immer selbstverständlicher wurden, damals schon kaum anders als heute. 328 Der Wettkampfsport gehört zur europäischen Kultur, doch gibt es große Spielräume dabei, was Gesellschaften und Einzelne aus ihrer Kultur machen, d. h. ob ihre Formen wirklich dem Wohl der Menschen dienen oder nicht. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Kultur ursprünglich zur Verbesserung der Daseinsbedingungen dient. Gottfried Küenzlen stellt heraus, wie dabei zu allen Zeiten Menschen auch an sich selbst gearbeitet haben, um Herausforderungen mit veränderten inneren Einstellungen besser zu begegnen. Die DiesseitsGott, in: Publik-Forum 5 / 2011, S. 54 f. Mehr speziell dazu soll in Teil 3, Abschnitt »Jogging und Walking« gesagt werden. 328 Vgl. Repschläger, Marion: Sport und Medizin, S. 49 f.

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wendung der neueren Moderne sei für solcherart Konstruierungen am menschlichen Selbst als besonders beflügelnd anzusehen, sodass Küenzlen ab dann vom Paradigma »Der Neue Mensch« spricht. Der Begriff wurde in dieser Formulierung im russischen vorrevolutionären Gedankengut um 1900 geprägt. Der Typus des »Neuen Menschen«, wie Küenzlen ihn darstellt, zeichnet sich durch eine Änderung der geistigen Gesinnung im Zusammenspiel mit dem intensiven Erstreben äußerer Veränderungen aus. 329 Der Sportwissenschaftler Bernd Wedemeyer fasst insbesondere den Schub zu einer allgemeinen Körperkultur, wie er sich ab 1900 im deutschsprachigen Raum in Form von individualisierten Lebensweisen und öffentlicher Einrichtungs-Bereitstellung ergab, unter den Begriff des »Neuen Menschen«. Aus dem historischen Kompendium Wedemeyers über die Körperkultur zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik geht hervor, dass sich in dieser Zeit eine hohe allgemeine Anerkennung vielfältigster Formen der Körperkultur, Lebensreform und geistiger Orientierung ausbildete, von der unsere Gegenwart mit bestimmt ist. Die Idee ist insofern gesamt-leiblich ausgerichtet. Jedoch waren in nichtdemokratischen Gemeinwesen diese Formen immer stark von der herrschenden politischen Gesinnung durchsetzt und weniger an den Bedürfnissen des (individuellen) Menschen. 330 Den heutigen Fitness-Menschentypus, sofern man mit Küenzlens »äußeren« Veränderungen auch den »Körper« des Menschen meint und das Fitnesstreiben sich auf ihn hin verengt (was in Kapitel 3 genauer überprüft werden soll), müsste man nach Meinung der 329 Vgl. Küenzlen, Gottfried: Neuer Mensch, S. 25–41, russische Genese S. 141–152. Vgl. dazu auch die Erarbeitungen des Kulturwissenschaftlers Groys, Boris: Neue Menschheit, insbes. S. 8–18. 330 Vgl. Wedemeyer-Kolwe, Bernd: ›Der Neue Mensch‹, insbes. S. 173 f., wie der reformerische Neugeist von elitären Intellektuellen getragen wurde und leicht die nationalsozialistische Gesinnung von der Überlegenheit der arischen Rasse annehmen konnte. In dieser Zeit nahm der Sport, der bis heute allgemein als gemeinschafts- und friedensfördernd deklariert wird, außerdem grausame bzw. ausgrenzende Züge an, die sich ebenfalls bis in die Gegenwart halten, vgl. Krüger, Arnd / Wedemeyer-Kolwe, Bernd (Hg.): Vergessen, insbes. die Problemstellung gemäß Vorwort der Hg. S. 1 f., wonach »Juden, Migranten, Homosexuelle, Menschen mit geistiger Behinderung« stets Leidtragende des Sports waren; erwähnt wird auch die Ungerechtigkeit durch Doping. Erst Aus der allgemeinen Zerstörung des Selbstbewusstseins, nämlich nach der Niederlage des 2. Weltkrieges, entwickelte sich der deutsche Behindertensport, zunächst als »Versehrtenturnen«, vgl. Wedemeyer-Kolwe, Bernd: Versehrtenturnen, insbes. S. 131. Auf Ausgrenzungen in der gegenwärtigen Fitnesskultur soll gegen Ende dieser Arbeit genauer eingegangen werden.

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Verfasserin mit dazu zählen. Umgekehrt wäre dann mit dieser Begriffsbestimmung noch einmal das ganz moderne Gepräge der Fitnessbewegung, vom Selbstbild des Menschen her, ausgesagt. Auf jeden Fall würde die Bewegung des Turnvater Jahn mit ihrem rein diesseitigen, aktivistischen Vorgehen zum »Neuen Menschen« gezählt werden müssen. Ein der Diätetik gemäßer nomos aus der Natur oder der Religion ist hier fremd. Gottfried Küenzlen sieht ferner Nietzsches Übermenschen geradezu als Auftakt des Paradigmas »Neuer Mensch« an. Aus der diätetisch-leiblichen Perspektive dieser Arbeit lehnt die Verfasserin das ab. Der Übermensch wäre stattdessen als Kontrapunkt zum »Neuen Menschen« zu bezeichnen, weil mit ihm nicht ein neues Verhalten trainiert oder die Verhältnisse geändert werden sollten, sondern das Selbst sollte überwunden werden in einer kategorial anderen Weltsicht. Nochmals sei hier eine Einsicht aus dem Nietzsche-Kapitel genannt, dass der Übermensch äußerstem existenziellen Leiden abgerungen wurde und er Überwinder darin ist, das Leiden zu bejahen. Es geht bei ihm um viel mehr als um Unmut an der Lebensweise, nämlich um innere Freiheit. Im vorigen Kapitel wurde aber auch erklärt, dass eine solche Freiheit in der Form des Übermenschen nicht erreichbar sei. Bei Turnvater Jahn sodann fehlt jede Spur einer inneren Gründung, die Nietzsche immerhin zutiefst ersehnte, und auch insofern hat Jahn das Diätetische deutlich verlassen. Mit dem »Neuen Menschen«, seinen Anstrengungen zur Bewältigung der »Daseinskontingenz« (einer Begriffsschöpfung Küenzlens), ist das Phänomen der Propaganda verbunden 331, wie sie sich im Gesundheitskontext bei Jahn lautstark zeigt. Auch dies bedeutet in Bezug auf Jahn eine auffällige Sprengung des Diätetischen, das seine Motivationen aus Anschauung, Tradierung, Selbsterziehung (paideia, arete) und nomos nahm – bei (oder wegen) aller Unsicherheit und Spekulation. Die Überwindung fachlicher Unsicherheit scheint geradezu dem Propagandatum Platz geschaffen zu haben. Heute ergeht es sich im Informationsfluss des Expertentums, vermittelt durch Träger der Medien und der Werbung. Wenn innere Leitfäden und Maßstäbe fehlen, wird Propaganda zur Manipulation bzw. Verwirrung. Der heutige Informationsfluss unterliegt primär monetären Zielen (eine Zeitung braucht Leser; ein Produkt braucht Käufer), so331 »Daseinskontingenz«: Ebd., S. 37, 39. Zu Propaganda vgl. S. 175 am Beispiel der Studentenbewegung.

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dass Stimmung erzeugende Inhalte verbreitet werden (im Gesundheitsbereich etwa typische Artikel wie »Machen uns die Gene krank?«; Produkte in einem Gesundheitsshop wie teure EdelstahlKochtöpfe), die mit dem Wesentlichen, dass Menschen Anleitung zur Gesunderhaltung bekommen, selten etwas zu tun haben. 332 Solche Inhalte sind deutlich auch immer mit dem Körper verbunden und nicht mit dem Leib (dessen Gesundheit multifaktoriell beeinflusst wird; dem oft das Einfache, Stressfreie besonders angenehm ist – um auf die beiden Beispiele des vorigen Satzes zu antworten). Um zuletzt noch die Vernetzung des Gesundheitswesens mit den öffentlichen Aufgaben und Zielen anzusprechen, so kommt bei Jahn der Vergleich mit einer seit 2009 bestehenden deutschen Gesetzgebung in den Sinn, wonach ein Arbeitgeber unterstützt wird, wenn er wiederum das Gesundheitshandeln seiner Beschäftigten unterstützt. 333 Das kann durch eigene Trainingsräume im Betrieb geschehen oder dadurch, dass individuell Kosten übernommen werden, wenn ein Beschäftigter extern Maßnahmen bei einer anerkannten Institution unternimmt. Gewiss begrüßenswert ist hier das alte Ideal der Vorbeugung erkennbar. In der Praxis könnten sich dabei unter gemeinschaftlicher Teilnahme von Arbeitskollegen Formen des menschlichen Austauschs einstellen, allerdings auch Rivalitäten verschärft werden, wenn man den hohen Konkurrenzdruck an deutschen Arbeitsplätzen bedenkt. Jedenfalls, trotz aller Mühe, die man sich bei den Vernetzungen des Gesundheitswesens mit den allgemeinen Vorstellungen des Wohlstands (z. B. Reglementiertheit, Freizeit) zu geben scheint, so wären damit andere Erscheinungen der Gesundheitsversorgung zu kritisieren. Nämlich außer einer berüchtigten menschlichen Kälte im klinischen Bereich wäre es auch das Problem, dass akut Leidende (z. B. mit allergischen Reaktionen) im Fall von Urlaubsphasen, Brückentagen, Freizeitstunden keine helfenden Behandler oder Zuhörer finden können und alleingelassen bleiben. Wenn das Diesseits reichlich organisiert werden soll, gerät offenbar das Leiden als Kategorie außer Bewusstsein, von dem das Diätetische 332 Als Spezialfall monetären Vorteils wären die pharmazeutischen Zulassungen zu nennen: »Unabhängige« Gutachter führen das aus, was ein Auftraggeber verlangt. Wenn so Chefärzte positive Gutachten anfertigen, bekommt eine Pharmafirma die Zulassung für ein neues Arzneimittel – für beide Seiten eine win-win-Situation. 333 Vgl.: Gesundheitsförderung durch Arbeitgeber: 500 Euro Freibetrag ausnutzen, in: Steuertipps, Akademische Arbeitsgemeinschaft Verlag Wolters Kluwer GmbH, 10 / 2010, S. 1.

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geprägt war. Turnvater Jahn steht für einen Zeitpunkt, ab dem wir die Leidenskategorie im Menschenbild nicht mehr finden. Heute ist das Leiden ein zu fliehendes Übel geworden, wobei die älter werdende Gesellschaft mit Folgeerscheinungen wie neuen Berufsbildern, Wohnungsformen u. a. einen Umschwung bringen könnte. Mindestens ebenso wichtig wie technische Lösungen wären dabei Parameter wie seelisch-geistige und menschliche Geborgenheit. 334 Zur Realisierung von Menschlichkeit gibt es heute sehr positive Antriebe gerade aus der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, z. B. dass wir geistig gesehen den Aberglauben abgelegt haben und lebenspraktisch es nicht mehr nötig haben, Infektionskranke vor die Stadtmauern zu sperren. Mit diesen Gedanken soll noch einmal an den Ausklang bereits des Pflanzen-Kapitels erinnert werden, dass es mit der heutigen wissenschaftlichen Übersicht gut möglich wäre, sowohl aus Traditionswissen als auch aus Naturwissenschaft, aus Anschauung und Rationalität zu schöpfen, Extreme zu vermeiden, das heute dringendst gebotene Maßhalten anzuwenden, um unsere Welt humaner zu gestalten. Das Maßhalten, die möglichste Freiheit von Manipulation durch Instanzen wie in heutiger Fortsetzung durch öffentliches Image, Markt und Geld, eine Verbindung zur Natur, die diese nicht bloß nutzt und strapaziert, z. B. aktuell durch immer größere repräsentative Stadionanlagen, eine Selbstbescheidung und -reflexion z. B. im Blick auf den gesundheitlichen Nutzen des Sports, eine transzendente (also zumindest ethische, sich selbst überschreitende) Gründung – dies alles fehlte prinzipiell schon bei Jahn, und es könnten heute Inhalte für eine diätetische, eine aufs Gesamt-Heilsame gerichtete Sportkultur sein. Zugrundeliegend müsste sich eine paideia etablieren, die den 334 D. Verf. möchte zum »organisierten Leiden« eine authentische Begebenheit berichten: Eine chronisch Kranke stieß wegen Schmerzen erstmalig in ihrer Wohnung Schreie aus. Ein Nachbar hörte diese durch das gekippte Fenster. Mit der Erklärung, es könne kriminelle Gewalt im Spiel sein, alarmierte er die Polizei, anstatt selber den Willen oder Mut aufzubringen, bei der Kranken zu klingeln. Die Kranke wurde in ihrer angeschlagenen Situation dann von den eingetroffenen Polizisten vernommen und wegen »Störung der nachbarschaftlichen Ordnung« stark gerügt. – Insbesondere zum Thema »Schreien« (man denke an das Gemälde von Edvard Munch, auf dem sich eine Frau beide Ohren zuhält und sich nichts als der eigenen Not Luft machen kann) ist auffällig, wie dieses auf wenige Räume (z. B. Kreißsäle, Anstalten) begrenzt wird. In dem Zusammenhang drängt sich das täglich millionenfache Schreien der Tiere in den Schlachthäusern auf, das kein wohlversorgter Bürger hört und das damit ein krasses Zeichen dafür ist, wie »Wohlstand« und Leben auseinandergebrochen sind.

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Körper nicht vom Kopf her konzipiert und verabsolutiert, sondern die den Sinn für den nomos des Leibes, für das Leiden und für das Leben überhaupt aus der Anschauung behält. Insbesondere müsste heute eine solche paideia (auch arete) gegen vermeintlich informative bzw. werbende Propaganda standhalten können und dürfte wirkliche menschliche Bedürfnisse nicht übersehen. Das Treiben bei Turnvater Jahn hat uns sportliche Errungenschaften gebracht, aber auch typisch nicht diätetische Züge eingeleitet.

3.2 Abschließende Gedanken zum Wesen der Diätetik Was ist Diätetik? Erst an dieser Stelle soll eine heute gebrauchte Lehrdefinition diskutiert werden: Diätetik sei »Lehrdisziplin der klassischen Heilkunst, deren Streben nach Gesundheit sich am rechten Maß des Lebens und der gesellschaftlichen Ansprüche orientierte; Lehre von der vernunftgemäßen Lebensweise, Lebenskunst.« 335 Die Definition benutzt das Imperfekt. Auch lässt sich im diätetischen Wortschatz häufig das althochdeutsche furiburt (Enthaltsamkeit, Maßhalten) finden. 336 Es ging also um eine gesunde, »ausgewogene« (wie wir heute sagen würden) Lebensweise. Was ist Diätetik heute? »Lebensweise« deckt sich heute weitgehend mit dem, was als Konsumverhalten bezeichnet wird. Konsumverhalten wird mit dem Markt assoziiert, und zum Marktverhalten im diätetischen Bereich sei noch ein historischer Hinweis ergänzt: Mit dem Aufblühen der Ernährungswissenschaft ab Mitte des 19. Jh. rückte die Ernährung als Untersuchungsobjekt in die Labors. Verschiedene Ernährungsund Nahrungstypen wurden untersucht, definiert und quantifiziert. Die in der ersten Hälfte des 19. Jh. entdeckten Methoden der Lebensmittelkonservierung (z. B. Justus Liebigs Fleischextrakt und Louis Pasteurs »Pasteurisierung« der Milch) hatten Produktion und Konsum von Lebensmitteln revolutioniert. Die Lebens- und insbesondere die Essgewohnheiten änderten sich so rasant, dass ab Mitte des 19. Jh. Stimmen zur Mäßigung und Rückbesinnung auf das Natürliche laut wurden. Von einer Naturheilbewegung mit vielen Facetten wurde in 335 Schmidt, Heinrich (Begr.) / Gessmann, Martin (Hg.): Diätetik, in: Philosophisches Wörterbuch, S. 168, Sp. 1. 336 Vgl. Schützeichel, Rudolf: Stw. furiburt, in: Althochdeutsches Wörterbuch, S. 122, hier auch mit der Bedeutung von »Keuschheit«.

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dieser Arbeit (z. B. im Goethe-Kapitel) schon berichtet. Um das Ideal eines gesunden Körpers entstand nach und nach eine umfangreiche und hochspezialisierte Industrie, heute einschließlich moderner Medienindustrie. Die Palette des jetzigen Gesundheitszweigs macht insbesondere die anhaltend ungelösten Ernährungsfragen unserer Lebensweise zum Thema und reizt solche Fragen weiterhin an. Auch dieser Hintergrund erklärt die neuerliche Anwendung des Diätetikbegriffs nur noch in Bezug auf den Ernährungsbereich. Diätetik in der mit Kapitel 3.1 beschriebenen Weise ist Geschichte, das sollte überdeutlich geworden sein, doch noch besteht der Eindruck, dass es sehr ernsthaft um die eigene Gesundheit Bemühte gibt. Besonders nachzuspüren bleibt weiterhin der Frage der Manipulation, im Schluss Kapitels über J. W. v. Goethe auch unter dem Begriff »Absorptionen« gefasst. Verfallsparadigmen verlaufen selten linear, sondern zeigen Extreme manchmal sogar schon markant am Beginn. Ähnlich der Militarisierung des Körpers in Sparta oder dem Wettkampfkult in Athen gibt es Beispiele früher Auswüchse aus anderen Kulturbereichen; z. B. zeigten sich schon lange vor »dem« Kapitalismus Auswüchse wie zu Beginn der Sesshaftwerdung die Versklavung von Menschen durch die Forderung des Bodenzinses. Überall gab es Oppositionen, wie die Kritik Platons am Körperkult, Aufstände und Reformkonzepte der Unterdrückten oder heute das Kämpfen um die Rettung der natürlichen Lebensgrundlagen. Es bleibt spannend zu untersuchen, wie die heutigen Gesundheitsaktivitäten innerhalb unserer geistigen und materiellen Infrastruktur einzuordnen sind. Schon mit Kapitel 3.1.1, zu den Anfängen der Diätetik, konnten fünf Wesenheiten ermittelt werden, die sich bei späteren Formen und Exponenten wiederfanden. Diese Punkte sollen hier nochmals überprüft werden, dabei auch der unternommene Versuch, Leitbegriffe aus der griechischen Tugendlehre mit ihnen zu kombinieren. 1.

Die Freiheit von staatlicher Kontrolle

Im gesamten Verlauf der Kulturgeschichte war die Gesundheitspflege mit öffentlichen Einrichtungen verbunden, z. B. den griechischen Gymnasien, den antiken Thermen, den Klostergärten nach Plan Karls des Großen, den mittelalterlichen Badehäusern. Und immer gab es zeitbedingte Anschauungen, von Obrigkeiten geformte oder in Mode gekommene, die die Schwerpunkte der Diätetik beeinflussten, z. B. im 202 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Was ist Diätetik?

Mittelalter die Verbindung mit dem christlichen Heilsweg, im 19. Jh. die Attraktion der Kneippkur, der gesellschaftlich motivierte Drang zum Fasten. In den Einzelreflexionen und -resultaten des Kapitels 3.1 wurde das Diätetische immer dann verneint, wenn bei einem eigentlich diätetischen Bild der Gesundheitspflege, bezogen auf den ganzen, also leiblichen Menschen, eine insofern diätetikfremde Bestimmung überwog. Gefunden wurden als solcherart fremde Bestimmungen: Die Bestimmung durch politische Macht und allgemeinen Zeitgeist (im Hinweis auf Sparta; durch die mittelalterlichen Institutionen; durch Turnvater Jahn), durch gesellschaftliches Spektakel (im Badeverhalten), durch gesellschaftlich ausgelöste Sucht (im Hungern), durch gesellschaftlich ausgelöste Moralisierung (kulminierend im 19. Jh.), Letztere zugleich als Lebensentfremdung, die scharf angeprangert wurde durch Friedrich Nietzsche. Im weiteren Zusammenhang mit Nietzsche wurde für die deutsche staatlich organisierte Gesundheitsfürsorge und ihre gesellschaftlichen Folgeerscheinungen ab Ende des 19. Jh. der Diätetikbegriff endgültig verneint, unterstrichen durch eine neuere Problemdiagnose Heinrich Schipperges’. Der Bevölkerung wurden wichtige äußere Voraussetzungen für bessere Gesundheit gegeben, aber mit zunehmender Versorgung und Regulierung die Eigenständigkeit (individuell und in Kooperation) zur Vorsorge genommen. Den Therapeuten und Herstellern wurden Kreativität und Aktionsmöglichkeiten (die sich besonders ausgeprägt am Paracelsus-Beispiel gezeigt hatten) genommen. Mit der ordnungspolitischen Standardisierung erlosch die lebendige Vielfalt, so differenziert gerade heute das Angebot auch erscheinen mag. Der Einfluss des Marktes an diesen wesensmäßigen Veränderungen klang in den Einzeldarstellungen an. Die genannten Verflechtungen machen tiefere Überlegungen erforderlich. Interessant ist in dem Zusammenhang, dass eine unmenschliche Machtpolitik der Frühen Neuzeit gegen die weisen Frauen sowie spätere Restriktionen gegen die Naturheilkunde (so gegen Kneipp, Felke) nicht zur Auslöschung des Diätetischen geführt haben. Sondern dies tat erst der pro-menschliche Wohlfahrtsstaat, dessen Regulierungsflut heute trotz mancher Kritik auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens steht. Er garantiert nämlich den versorgten Wohlstand und entlastet das Individuum von mitunter unbequemer Eigenverantwortlichkeit. 337 Die generelle Disposition des Diätetischen zur Über337

Einhellig erklingt z. B. immer wieder die Meinung, man müsse mit streng kon-

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Gesundheitsverhalten früher

formung hängt gewiss mit seiner Vielseitigkeit und Anschlussfähigkeit zusammen. In Bezug auf die innere Haltung und äußere Neigung der einzelnen Menschen (z. B. in wurden in den vergangenen Kapitel therapeutische Autoren untersucht) ließen sich die altgriechischen Tugendbegriffe als Maßstäbe erkennen und wurden so von der Verfasserin auch als Raster für die Zuerkennbarkeit von Diätetik angesehen. Die Tugendbegriffe wurden in den Quellen zwar nicht immer (außer oftmals der Rede vom »Maß«) expliziert, ließen sich aber deutlich erkennen. Wie einstmals die gesamte aristotelische Suche nach der Glückseligkeit, so gehören sie offensichtlich zur Epochen überdauernden Diätetik als Bemühung um ein gelingendes Leben dazu. Herausragend unter ihnen wurde mit jedem Einzelergebnis des vergangenen Kapitels die Bestimmung mesotes / Maß gefunden, das dem Diätetischen somit unverbrüchlich eingeschrieben ist. Diätetik ist also dann Diätetik, wenn sie von einem freien Geist motiviert wird, durchaus inspirierbar und gesellschaftlich eingebunden, aber doch so selbstständig bleibt, dass sie nicht von Fremdem überformt wird. Ein freier Geist ermöglicht offensichtlich (wie sich negativ bei Turnvater Jahn zeigte) die Findung und Wahrung der mesotes sowie umgekehrt die gewahrte mesotes vor Überformungen schützen kann. Die Frage der öffentlichen Institutionen, die beteiligt sind an der Geistesbildung in der Bevölkerung und verantwortlich dafür (z. B. die soeben erwähnte Wirkung des Wohlfahrtsstaates), lässt sich von daher unter den Tugendbegriffen v. a. auch mit dem Begriff der paideia kombinieren. Diese wirkte bei den Individuen außerdem auf eine bestimmte arete prägend, eine Tugendhaftigkeit der Erkenntnis und Kreativität zur gesundheitlichen Verbesserung. In den Gedanken besonders des Maimonides und des Paracelsus, ein jeder solle kompetent zur Gesundheitspflege (vgl. den Begriff Capability) bzw. sogar sein eigener Arzt werden oder sein, äußerte sich noch eine rein selbstbestimmte Haltung zur Lebensverbesserung. Dieses Beispiel kann auf der Metaebene zeigen, dass die Verknüpfung der Tugendbegriffe mit den diätetischen Wesenheiten Sinn macht.

trollierten Verfahren »Scharlatane« aus Herstellung und Therapeutik verbannen, ohne über die Kehrseiten zu enger beruflicher Regelungen nachzudenken. Erfinder und herausragend Begabte darf es praktisch nicht mehr geben.

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Was ist Diätetik?

2.

Diätetik untersteht nicht den Regeln des Marktes

Nach dem diätetischen Paradigma gab es Bedürfnisse und Leistungen, aber nicht den Markt des freien Wettbewerbs und der Gewinnmaximierung. Es gab Zeitanschauungen, aber kein strategisches Marketing, das Menschen manipulierte. Gewiss standen frühere Weltanschauungen sachlich auf wackeligem Boden, und sie wirkten in Epochen geringer Volksbildung Menschen manipulierend, verwirrend und verängstigend; besonders schlimm wirkte der unreflektierte Aberglaube. Werbung und Informationsflut in ihrer heute üblichen aggressiven Form äußern sich prinzipiell genauso und arbeiten im Gegensatz zu manchen Weltanschauungen, die immerhin geistige Heimat gaben, gezielt und suggestiv Zweifel erweckend. Werbung und Angebote des Marktes sind nicht Mittel für die Menschen, sondern Destruenten: Sie vernichten einerseits Selbstsicherheit, andererseits setzen sie fragwürdige Heilsversprechen dagegen. Das Fragwürdige des aggressiven Marktes besteht insgesamt in der Irreführung, dass er sich für etwas Gutes, Notwendiges, ja Unerlässliches ausgibt, sodass seine Suggestionskraft und Überhöhung die Einstufung als Instanz modernen Aberglaubens nahelegt. 338 Ziel des Marktgeschehens ist die Expansion marktfähiger und die Ausgrenzung marktunfähiger Teilnehmer (Produzenten und Konsumenten), was der Logik nach eine Infrastruktur der mesotes (d. h. auch der Vielfalt) nicht aufkommen lässt. Es geht um Wachstum, aber nur des Geldes, nicht der menschlichen Kräfte, wie sie für die Gesundheitspflege der ganzen menschlichen Leiblichkeit nach nötig wären. 3.

Diätetik ist transzendenzbezogen

Maimonides und Hildegard von Bingen standen in besonderer Weise dafür, wie Diätetik grundlegend auch den religiösen Bereich umfasst. Nicht unbedingt muss Transzendenzbezug Religiosität im engeren Sinne meinen. Sondern es geht grundsätzlich um die Annahme und Anerkennung von Grenzen bzw. einer vor-menschlich gelagerten,

338 Vgl. zu den Techniken der Werbung aus der wirtschaftswissenschaftlichen Sicht, wie gezielt immer neue Bedürfnisse geweckt werden müssen für Waren und Leistungen, die in einer gesättigten Gesellschaft gar nicht gebraucht werden, sodass es am Ende heißt: »Gebraucht wird nur das Kaufen selbst.« Kroeber-Riel, Werner / Esch, Franz Rudolf: Strategie, S. 35–48, Zitat S. 35.

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Gesundheitsverhalten früher

eigenwertigen, anleitenden und befriedenden Dimension über den menschlichen Bedingungen und Möglichkeiten. Bei Friedrich Nietzsche, dem Religionsverächter, wurde ein äußerstes Grenzbewusstsein durchlebt, durchdacht und zugespitzt in dem schwierigen Begriff des »Übermenschen«. Von Nietzsche ist für uns Moderne zu lernen, dass Transzendenzwendung auf dem Boden des Lebens stehen muss. Eine abgekoppelte Geistigkeit entlarvte er als grenzverletzend, als Hochmut. Mit seiner phänomenologischen Erfassung der Natur sowie seiner geistig-naturgegründeten Spannbreite wurde Nietzsche insoweit als größter und letzter Diätetiker betrachtet sowie als stärkster Überwinder der modernen Kluft zwischen Geist und Leben. Diese Kluft hat den öffentlichen Strukturen gemäß inzwischen die Auslöschung des Geistes, der Reflexion, der Religion und insgesamt der Transzendenz zur Folge. Nietzsche in eigener Person erlebte bereits eine derart defizitäre Umgebung, dass er, schwer leidend, mit dem Übermenschen selber die Grenze des Hochmuts bzw. einer inneren Befriedung überschritt. Er kann daher als Diätetiker vor allem wegen seiner authentischen, anklagenden Botschaft angesehen werden. Die Griechen bezeichneten das Transzendente im weitesten Sine als kosmos. Heute wird dieser Begriff, wenn überhaupt noch, naturwissenschaftlich und metaphorisch für das unendlich Ausufernde der ökologischen Systeme bis hin ins Universum gebraucht (obwohl er vielschichtiger und bedeutungsreicher gemeint war). Jedenfalls liegt für uns im Ökologischen der Zusammenhang von Grenzüberschreitung und Schaden auf der Hand. Ein maßgeblicher Ort der Zerstörung war und ist, wie beschrieben, das Freizeitverhalten der Menschen. Kontemplative, weniger aktivistische Lebensformen wären notwendig. Dafür wurden insbesondere die meditative Erfassung von Pflanzen, die geschöpflich verstandene Verbindung mit dem Tier sowie entsprechende Angebote von Einrichtungen oder Autoren beispielhaft vorgeschlagen. Zum Zusammenhang von Transzendenz und Natur folgt im nächsten Punkt Genaueres. 4.

Diätetik beruhte auf der Beziehung zur Natur

Die Natur wurde bis zur Zeit der Aufklärung wesenhaft erfasst. Bei den diätetischen Formen spiegelte sich das wider in der Einverleibung oder Nachahmung natürlicher Kräfte (so im Pflanzengebrauch bei Maimonides, in Mittelalter und früher Neuzeit), im Streben nach organischer Harmonie und Ordnung (zentral bei Hildegard), woraus 206 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Was ist Diätetik?

insbesondere auch das mesotes-Denken entstammt. Goethe hat den Verlust der menschlichen Kommunikation durch den Naturverlust gesehen. In der Romantik stellten sich Künstler und Intellektuelle gegen die Abspaltung des menschlichen Bewusstseins von der Natur, indem sie den gefühlshaften Zugang zur Natur betonten. Immanuel Kant hat philosophisch aufgezeigt, dass subjektiv der Zugang zur Natur nach dem alten Paradigma in der Moderne durchaus noch gefunden werden kann. Das Diätetische früherer Epochen folgte nicht nur unter der Not medizinischer Verhältnisse, sondern bereits in Anlehnung an die rhythmisch pendelnde Natur dem Bewusstsein des Leidens (schon deutlich im Corpus Hippocraticum, beibehalten in der Säftelehre, bei Maimonides, explizit in der Naturschau bei Hildegard) und war als Kulturform eigentlich Vorbeugung. Die Abhandlungen in Teil 3 sollten deutlich gemacht haben, wie Diätetik in der Suche nach Zurechtkommen mit gegebenen Strukturen der physis bestand, die früheren Epochen aber nicht als »Umwelt« galt, sondern als physisches und geistiges Lebensmuster auch der Menschen selber (sehr deutlich z. B. in Paracelsus’ Ausspruch über die Speise). Somit bedeutete Diätetik über alle Zeiten, dass die Sorge um sich selbst gleichsam Sorge um die Natur war. Allein weil frühere Menschen die Grenzen der äußeren Natur (z. B. in Wetter und Ernte) stets hautnah erlebten, war ihnen dieses doppelseitige Sorgemuster eingeschrieben, und zugleich öffnete dieses Muster die Menschen für eine umgreifende Dimension. 5.

Die Einheit von Subjekt und Objekt

Entsprechend dem zur Naturbeziehung Gesagten, der wesenhaften Erfassung von Natur, ist es üblich für die Zeit vor der Spaltung, siehe auch das oben zu Nietzsche Resümierte, dass das Geistige mit Leben verbunden bleibt. Dies zeigte sich besonders in den diätetischen Personen als Denker und Praktiker zugleich. In der Verbindung mit den Intellektuellen war die Diätetik eine sehr produktive literarische Bewegung. Ihre durchschlagende Stunde hatte sie mit den Regimina des Spätmittelalters gefunden. Diese Schriften korrelierten mit dem volkskundlichem Erfahrungsschatz und Wissen, was allein schon aufgrund der Vielgliedrigkeit und Anschlussfähigkeit des Diätetischen gelang. In den gebildeten Schichten, später im Bürgertum, wurde Diätetik als Lebenskunst auf das gesamte Verhalten bezogen, war aber darin unter moderner Zweckrationalität extrem anfällig für 207 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsverhalten früher

die gesellschaftliche Vereinnahmung. Ihrem Sinn nach war Diätetik umfassende Lebenskunde, breit gegründet auf Gefühl, Herz und Verstand, wie es die ländliche Lebensweise noch lange tradieren konnte (z. B. mit der Kräuterkunde, vgl. den Ausspruch der alten Nürnbergerin in Kap. 3.1.3). Sie war nicht gegründet einerseits auf ziellosen Vergnügensdrang, andererseits auch nicht auf Zweckratio wie unter der gesellschaftlich motivierten äußeren Etikette, inbegriffen die neurotische Perversion des Hungerns. Die Subjektphilosophie des Sören Kierkegaard erkannte die modernen, neurotischen Extremstellungen als individuelle Haltverluste auf dem Boden eines EinheitsVerlusts. Es zeigte sich in den Abhandlungen, dass dort, wo ein verinnerlichter nomos Menschen leitete, dies das Einheitsempfinden, die Offenheit für eine höhere Dimension, beförderte. Als wesentlicher nomos der diätetischen Gesundheitspflege stellte sich der »Leib« in seiner organischen Verfasstheit heraus. Bereits die sex non naturales der antiken Diätetik in ihrer Vielschichtigkeit und Vielbezüglichkeit verwiesen auf den Leib und nicht auf den als gegenständlich betrachteten Körper der nachaufgeklärten Zeit. Friedrich Nietzsche machte den Leib in seiner geistigen Dimension zur ausgesprochenen Philosophie. Die Beziehung zum Leib und nicht zum Körper dürfte Brennpunkt eines nicht gespaltenen Weltverhältnisses sein. Gerade dem leiblichen Verhältnis ist die in der o. g. Lehrdefinition erwähnte mesotes eingeschrieben, insofern die mesotes gegen Ausschließlichkeit steht und immer zugleich auf ein Anderes verweist. Es wurde ausgeführt, dass das moderne Denken seinem Selbstverständnis nach auf die Einseitigkeit reiner Zweckvernunft zielt, im positiven Sinne gewiss zur Überwindung von Spekulation und menschlicher Not. Insgesamt lässt sich sagen: Es ist plausibel, dass mit der Subjekt-Objekt-Spaltung ab der europäischen Aufklärung die wichtigsten Wesenheiten des Diätetischen hinfällig wurden, das es insofern heutenicht mehr gibt. Diätetik reicht bis in die Lebensformen der Naturvölker zurück; in den Folgezeiten stellten sich Kultursynthesen ein, die lange eine Gesamtschau der Welt bewahrten. Diese Sicht beruhte auf der Anerkenntnis, dass sich Leben stets in Einbindungen, in ineinander greifenden Organisationseinheiten vollzieht. Mit zunehmendem technischen und humanitären, aber nicht unbedingt ethischen Fortschritt wurden die alten Lebensformen Opfer der Spal208 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Was ist Diätetik?

tung. Die altgriechischen Tugendbegriffe, die der Gesamtschau abgewonnen waren, so wie sie umgekehrt zu deren Bewahrung beitrugen, wurden mit der gezielten Auslöschung von Gesamtheit ebenfalls hinfällig. Jahrhundertelang hatten diese Tugendhaltungen Menschen zu einem möglichst glückenden Leben verholfen. Das systematische Experiment dieser Arbeit, diese Haltungen den gefundenen fünf Wesenszügen des Diätetischen zuzuordnen, scheint gelungen zu sein. Durch verbesserte äußere Lebensbedingungen und den Wegfall des Drucks zur Eigenregie an der Gesundheit haben solche Haltungen verständlicherweise ausgedient. Doch stehen heute großen, wichtigen politischen und naturwissenschaftlich-technischen Errungenschaften diätetisch die Probleme dieser Entwicklung gegenüber. Es sind v. a. das Zerbrechen des überlasteten öffentlichen Vorsorgeund Versorgungssystems durch Krankheiten des Wohlstands und wohl des mentalen Stresses sowie auch die wachsende Anzahl Senioren, die alle ohne ein neues privat-diätetisches Verhalten kaum lösbar sind. Menschliches Tun spiegelt sich heute besonders drastisch auch ökologisch. Wenn diätetisch von den alten Griechen bis Nietzsche die Einstellung tradiert wurde, dass Gesundheit etwas mit der seelisch-geistigen und praktischen Orientierung an einer den Menschen vorgegebenen und daher zu bewahrenden Ordnung zu tun hat, wäre das heute eine laute Anfrage. Damit hängt zusammen: Vorbeugung folgt gewöhnlich dem Bewusstsein um das Leiden. In der Wohlstands- und Erlebnisgesellschaft ist das Leiden nicht erwünscht. Selbstständigkeit und Reflexion werden insofern unterdrückt. Diätetische Eigenschaften durchweg scheinen zu verkümmern, zumal der »Leib« zum »Körper« verkürzt wurde. Wo nun also mit diesem ersten Hauptteil aus Quellenarbeit die Verlustdiagnose steht, soll mit dem nächsten Hauptteil konkreter ermittelt werden, wer die Menschen sind, denen »ihre Gesundheit wichtig ist«. Vielleicht hat sich mit den neuerlichen Gesundheitsaktivitäten gar das Bewusstsein eingestellt, dass das Vernunft-Paradigma, das mit der Aufklärung seinen Siegeszug antrat, an seine Grenzen gekommen ist. Die Übersicht über Wissen und Methoden, die wir heute haben können, birgt Chancen, aber sie ist, wie schon gesagt wurde, auch sehr anspruchsvoll zu bewältigen. Bergen die neuen Züge vielleicht Chancen zu einer Synthese von aufklärerischen und voraufklärerischen Impulsen insbesondere im brodelnden Gesundheitssektor? Untenstehend sollen einige mögliche Ansätze dazu bedacht

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Gesundheitsverhalten früher

werden, wobei sich die Frage noch weiter durch diese Arbeit ziehen wird. 339 339

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1. Popularanschauungen: »Tradition« besitzt noch hohen unreflektierten Eigenwert, z. B. bei der »Gutbürgerlichen Küche« genauso wie in der wiederentdeckten »Wildkräuterküche« mit ansonsten oft ungesunden Zutaten. Ähnlich wirken nur aufgesetzt auf den üblichen Lebensstil: die Beiträge der vielen neuen Zeitschriften über das »Landleben«. Aber: Die Hefte werden massenhaft gekauft. Und: Das Gärtnern erlebt in Deutschland eine Renaissance. Man fragt dabei bereits nach dem Einfluss der o. g. Hefte. Der Nutzgarten soll nun, weg vom Spießigen, aber auch vom Perfekten, Ort für die Seele werden. Hier verbinden sich, ganz diätetisch, die Sorge um sich selbst mit der Sorge um die Natur. Vgl. den Artikel von Romerg, Johanna / Wieland, Johanna (sic!): Das Blühende Leben, in: Geo 6 / Juni 2014, S. 58–76. Medizin: Naturheilkunde ist eine der letzten Instanzen mit Traditionswissen. Ihre Therapeutik versteht sich leiblich, z. B. agiert die Homöopathie organ-, konstitutions- und umweltbezogen (vgl. Sonnenschmidt, Rosina: Krebstherapie, S. 110). Pharmaindustrie und entsprechende Politik verdrängen Naturheilkunde gezielt (vgl. FN 98), jedoch verzeichnet sie steigenden Patientenzulauf und muss von der Politik aufgrund der Probleme im Gesundheitswesen akzeptiert werden, wie es sich z. B. an Kassenleistungen zur Homöopathie zeigt. Die Entwicklung bleibt abzuwarten. Einzelinitiativen: Klöster können nochmals genannt werden, die sich der Natur zuwenden, etwa ökologischen Anbau betreiben wie z. B. die Benediktinerabtei Plankstetten in 92334 Berching. Es liegt aber nicht bei allen Klöstern ein spiritueller Zugang zur Natur vor wie beim Kloster Geras, vgl. FN 139. Autoren mit großem Engagement um die Naturbeziehung wurden genannt, z. B. Rainer Hagencord, Wolf-Dieter Storl; vgl. im Popularbereich auch die vielfache Autorin Fischer-Rizzi, Susanne: Mit der Wildnis verbunden, Stuttgart 2007. Gesamtgesellschaftlich sind dies alles Randstellungen, aber z. Zt. sehr in Wallung. Allgemeine Wohlfahrt: Hier müssen unzählige Interessen unter einen Hut gebracht werden, und letztlich scheitert es meistens am Finanziellen. Über die drohende Abschaffung des Hebammenberufs wurde in Kap. 3.1.3 berichtet. Pflegenotstand, schlechtes Essen in Kitas u. ä. Meldungen liegen auf gleicher Linie, vgl. die dpa-Meldung: Speiseplan für Kita-Kinder ist nicht ausgewogen, in: NZ 3. 6. 2014, S. 1. Das Bewusstsein um die Bestände der äußeren Natur versucht man neuerdings durch die UN-Kampagne »Bildung für nachhaltige Entwicklung« zu retten, doch die wohlstandsbedingte Naturentfremdung scheint eher fortzuschreiten. Religion: Bekannte Sätze wie von Carl Schmitt, alle prägnanten modernen politischen Begriffe seien säkularisierte theologische Begriffe oder von Walter Benjamin, in der Kunst äußere sich stets Religiöses, scheinen sich im säkularen Umfeld aufs Neue zu bewahrheiten. Seit den 1990er-Jahren liegen Stellungnahmen und Analysen zum aktuellen Religionsboom vor, z. B. vom Soziologen Peter L. Berger insbes. über die Situation des Individuums, den Religionshunger bei schwindender Institutionalität zu decken. Hierbei sollte laut Berger gewachsenes Glaubensgut durchaus Halt geben, und die Kirchen müssten ihre Aufgaben neu finden, ohne ihre Traditionen zu eliminieren, vgl.: Sehnsucht, S. 95–97, 173–194, 215.

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4 Gesundheitsaktivitäten heute

4.1 Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten Nachdem das Kapitel 2 generelle methodologische und methodische Einordnungen vorgenommen hat, werden hier noch Anmerkungen, jeweils gültig für alle vier Themengruppen dieses Kapitels 4 (also Ernährung, Fitnesssport, Jogging und Walking, Yoga), vorgenommen: •





Zur parallelen Lesbarkeit von Antwortdaten (s. Säulendiagramme im Anhang) und Interpretation sei darauf hingewiesen, dass sich die Interpretationsabschnitte an der Nummerierung der Antwortdaten, nicht der Fragebögen orientieren. Es ergab sich nämlich eine Abweichung von Fragen- und Antworten-Nummerierung daraus, dass oft pro Frage mehrere Antworten möglich waren, was die Datenzahl erhöhte und dann in der grafischen Darstellung (ein Diagramm pro Datensatz) numerisch eingehalten wurde. Ausgewertet werden Fragen meistens gebündelt als Fragekomplexe, insofern es sich inhaltlich und zur Vermeidung von übermäßiger textlicher Zergliederung anbietet. In der grafischen Darstellung konnte aus Platzgründen die jeweilige Frage als Überschrift oft nicht im vollen Wortlaut der Fragebögen, sondern nur verkürzt wiedergegeben werden. Die vollständige Frage ist in den nachfolgenden Interpretationstexten zu finden, sodass die Fragebögen nicht extra mitgelesen werden müssen. Sie dienen im Anhang als Ausgangs- und Belegmaterial für das Vorgehen dieser Arbeit. Zur Lesbarkeit der grafischen Diagrammsäulen nach Form und Inhalt: Die Bewertung der Antworten soll sich aus dem Anteilsverhältnis der Antworten ergeben, etwa: »Wie viele sagen ›ja‹ ? – wie viele ›nein‹ ? – wie viele haben Vorerfahrungen mit Krankheit?« usw. Wenn die Anzahl der Befragten jeweils für die städtische und die ländliche Region 50 war, was wegen der 211 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute





Antwortoptionen Einzelsäulen von unter 50 ergibt, so wurden die Diagramme alle unterschiedlich proportioniert, jeweils endend bei der höchsten Säule eines Diagramms. Damit sollte Leerraum vermieden, also Platz gespart werden. Beim Vergleich verschiedener, unterschiedlich groß abgebildeter Diagramme sollte der Blick in jedem Fall auf die Zahlen gerichtet werden. Die Ermittlung der Gesamtantworten aus städtischen und ländlichen Teilnehmern pro Antwortoption ergibt sich einfach durch Addition. Zu Skalierungen bei Zahlenangaben (z. B. »Seit wieviel Jahren üben Sie Ihre Gesundheitsmaßnahme aus?«): Höhere Jahresangaben wurden von den meisten Antwortenden mit »ungefähr« versehen. Hier wurde eine Skalierung in 5er-Sprüngen gewählt, wobei dies die meisten Antwortenden bereits von sich aus taten (z. B. »ungefähr 15 Jahre«). Naturgemäß weiß man über niedrige Zeitspannen noch gut Bescheid. Diese Angaben wurden wie erteilt übernommen, zumal sie informativ über das Anfängerverhalten sind. »Krumme« Angaben (z. B. 7 ½ Jahre) wurden hierbei zwecks Abbildung nachträglich gerundet wurden (unter ½ Jahren Ab-, sonst Aufrundung). Ein letzter Hinweis: Enthaltungen (z. B. wegen Nichtwissens einer Antwort) werden nur dort abgebildet, wo sie zahlenmäßig und inhaltlich Relevanz haben.

4.1.1 Gesunde Ernährung An dieser Stelle seien zur Ernährungsgruppe noch einige Gedanken und Hinweise vorangestellt. Ohne über die Lehrinhalte gesunder Ernährung im Einzelnen verhandeln zu wollen (die Problematik klang im Vorgenannten mit Maimonides und erst recht mit der modernen Ernährungs- und Medienindustrie an), soll nun also der Blick auf aktive Menschen in der Fitness- und Gesundheitsbewegung gerichtet werden, auf ihr Tun und ihre Motive. Da »gesunde Ernährung« von ihren Bezugsquellen her zu einem großen Teil identisch mit der Reform- und Naturkostbranche ist (die sich allerdings auch schon auf die Supermärkte ausweitet), wurden Reformhäuser und Bioläden als Orte zum Antreffen Aktiver, also Kunden, ausgewählt (ohne ausgesprochene Bioqualität im Blick zu haben, obwohl auch hierüber Gedanken geäußert werden). Dass die Marktdominanz Menschen in 212 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

ihren privaten Ausübungen durchweg zu Konsumenten oder im konkreten Fall zu Kunden macht, wurde am Ende des letzten Kapitels erwähnt und legitimiert insofern die weitgehende Gleichsetzung von Bioladen- und Reformhauskunden mit Interessierten an gesunder Ernährung. In dem Methodenkapitel wurde die Entscheidung für die persönliche, d. h. mündliche Mensch-zu-Mensch-Befragung genannt, wie es die Fachliteratur als Optimalfall empfiehlt (vgl. S. 16). Es standen sich damit jeweils ein Befrager und eine befragte Person gegenüber. Bei einem so komplexen Thema wie dem Diätetischen mit ihren vielschichtigen und z. T. auch mehrdeutigen Einzelaspekten erschien die persönliche Befragung notwendig, um den Befragten im Fall von Verständnisschwierigkeiten und Rückfragen sachdienliche Hilfestellung geben zu können (wie es die methodische Literatur erlaubt, vgl. hier S. 16). Umso erstaunlicher ergab es sich rückblickend für den Befragerstab, dass die Notwendigkeit zur Hilfestellung (bei jeder der vier Gruppen) so gut wie nie vorlag. Auffälligem Antwortverhalten wird an den entsprechenden Stellen genauer nachgespürt werden. Zur persönlichen Befragung sei gemäß Kapitel 2 wiederholt, dass mit ihr über den Wortlaut hinaus Mitschwingendes (z. B. Art der Rede, Mimik) eingeholt werden konnte, was die Ergebnisfindung zu präzisieren verhalf. Die Befragungen in Bioläden und Reformhäusern wurden zu unterschiedlichen Tageszeiten durchgeführt in der Annahme, auf diese Weise eine breite Kundenstreuung anzutreffen (z. B. nicht nur Berufstätige nach Feierabend). Überhaupt wurden (in allen vier Gruppen) von vornherein möglichst verschiedene Personen (z. B. nach Geschlecht, Alter) avisiert und für das Interview gewonnen. Solche Überlegungen zeigten dem Mitarbeiterstab, dass gerade auch die gut vorbereitete Statistik nicht so objektiv sein kann, wie sie es möchte. (Eine anonyme Befragung hätte ähnliche Probleme erbracht, z. B. bei Auslage der Bögen an der Kasse mangelnde Beachtung durch Mütter, die zugleich mit Bezahlen, Einpacken und ihren Kindern zu tun haben). Die Interpretationen verstehen sich als Aufspürungen von Hintergründen konkreten Gesundheitsverhaltens. Selbstverständlich, um dies von der Einleitung aufzugreifen, werden die statistische Befragung und Auswertung keine ultimativen Ergebnisse bringen können, zumal in ihrer generellen Begrenztheit und der thematischen Neuartigkeit, jedoch verstehen sie sich im beabsichtigten Sinn dieser

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Gesundheitsaktivitäten heute

Arbeit als eine weitere Annäherung an die Sache als die bisherigen Verlautbarungen ohne empirische oder überhaupt eine Grundlage. 1 Die aktuelle Brisanz der gesunden Ernährung wurde in Teil 3 schon angesprochen, etwa der Einzug von Wildkräutern in den Gourmetbereich oder des Veganen in ein allgemeines Marketing. Ist gesunde Ernährung nun ein kollektiver Spleen oder ist sie tiefergehend motiviert? Die Antwortdaten sollten manches darüber erhellen. Nachfolgend die Diskussion der Säulendiagramme, die im Anhang abgedruckt sind. Die Befragungen wurden im Jahr 2012 durchgeführt. 1

Geschlecht

Der hohe Ausschlag des weiblichen Kundenanteils, insgesamt ca. drei Viertel, sollte nicht verwundern, da das Einkaufen im Zusammenhang mit der Alltagsfürsorge überhaupt in Deutschland nach wie vor Frauensache ist. Laut Marktforschungsstudien liegt der Anteil von Frauen unter den Einkäufern in herkömmlichen Lebensmittelmärkten noch höher. Der also insofern relativ hohe Männeranteil unter den Gesundkost-Käufern kann ein Hinweis darauf sein, dass der Gesundheitsbereich die eingefahrenen Gewohnheiten durchbricht und unabhängig vom Geschlecht von Menschen gewählt wird, denen ihre Gesundheit wichtig ist. Dazu ist anzumerken, dass die größeren Märkte der Naturkostbranche bis jetzt im Gegensatz zu herkömmlichen Lebensmittelmarkt-Ketten von Postwurfwerbung absehen – ihre Kunden bringen offensichtlich Vorüberzeugung mit. Überprüft man den Männeranteil unter Biokostkäufern bei entsprechenden Spezialsortimenten der gewöhnlichen Supermärkte, ergeben sich immerhin ein Drittel Männer zu Frauen, d. h. unter den wenigen Zur Notwendigkeit der »Interpretation« mit Hintergrundwissen, -erfahrungen usw.: Daten allein können ohne Hintergründe schwierig bleiben. Vgl. eine Internetmeldung über eine Ernährungsstudie: www.experto.de/b2c/gesundheit/ernaehrung/ sind-vegatarier … 6. 5. 2014: »Sind Vegetarier häufiger krank als Fleischesser?«, die mit Bejahung dieser Frage übliche medizinische Meldungen auf den Kopf stellt. Die österreichische Studie räumt allerdings ein, dass unter den Vegetariern eine hohe Zahl schon länger Kranker gewesen sein könnte, die gerade mittels der vegetarischen Ernährung ihre Gesundheit verbessern wollte. D. Verf. möchte ergänzen, dass Österreich keine vegetarische Tradition besitzt und insofern bei Vegetariern oft Weißmehlbzw. Süßspeisen auf den Tisch kommen könnten anstatt Gemüse, Obst, Rohkost. Man sieht an dem Beispiel, dass Erwägungen einer gründlichen Interpretation notwendig sind.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

männlichen Kunden insgesamt werden verhältnismäßig viele von Biokost angezogen. 2 Dass in der behandelten Grafik der männliche Anteil in der Stadt größer ist als auf dem Land, mag die sachliche, Gewohnheiten durchbrechende Motivation an der gesunden Ernährung unterstreichen, die in der Stadt mit ihren Kommunikationsstrukturen bessere Voraussetzungen hätte. Wie schon generell eingeräumt, müssen Ausführungen wie diese Annäherungen bleiben im Ausblick auf weiteren Forschungsbedarf, evtl. aber auch schon auf den Kontext, den die folgenden Daten eröffnen werden. 2

Alter

Die Häufung im mittleren Altersbereich ist deutlich. Zunächst, im groben Blick, entspricht sie wiederum der Verteilung unter Einkäufern der herkömmlichen Ernährung und wohl überhaupt der Konsumgüter, insofern als in den mittleren Jahren der Bedarf im Verhältnis zur finanziellen Ausstattung die größte Kaufkraft freisetzt. 3 Erstaunlich hoch schlägt allerdings der Bereich mittleren Alters, nämlich unter 50, bei den Gesundkost-Käufern ländlicher Standorte aus, während die Stadt ihren höchsten Ausschlag bei den Über-50Jährigen zeigt. Doch damit liegt sie etwa nur halb so hoch wie die besagte höchste Säule der Land-Käufer. Insgesamt verläuft die Stadt-Kurve ausgeglichener und zeigt bereits recht hohe Ausschläge im jungen Bereich von unter 20 und unter 30; die Land-Säulen dagegen brechen bei 70 Jahren ab. Dieser Abbruch ist plausibel, da die soziale und logistische Infrastruktur der ländlichen Regionen sich noch eher traditionell und, so gesehen, seniorenfeindlich zeigt. Die Ernährung bleibt damit, wie sie immer war, und speziellere Wünsche verlangen nach dem Auto und damit wohl meistens nach der Mitversorgung durch die Familie. Ganz anderes zeigt die Grafik in der Stadt, dass sich Mittsiebziger offensichtlich selbstständig mit gesunder Kost versorgen können. Das Stadt-Land-Verhältnis der Säulen kann in diesem Fall aufschlussreich sein. Unter den befragten Städten befand sich in der Tat eine »junge«, d. h. eine ausgesprochene Universitäts- und AusbilVgl. Volk-Uhlmann, Christine: Öko-Käufer, S. 22. In dieser Phase wird häufig eine eigene Familie versorgt, werden Anschaffungen für den eigenen Hausstand getätigt, vgl. Glaubitz, Jürgen: Von Millionären, S. 10, 17.

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Gesundheitsaktivitäten heute

dungs-Stadt, dabei mit dominierendem, einkommensstarkem Medizinsektor. Die Geschäfte der Befragung lagen zentral, umgeben von Ausbildungsstätten und Unterkünften. So ist zu vermuten, dass sich hier das Praktische mit der Überzeugung verband. Das ließe außerdem den Rückgang der Gesundkost-Nachfrage im Dreißiger-JahreBereich erklären – veränderte Lebensumstände fordern vielleicht zeitweise andere Aufmerksamkeiten. Jedenfalls zeigen die sehr »jungen« Säulen nicht allein die Geldbeutel-Frage als ausschlaggebend für den Kauf gesunder Kost, sondern ebenfalls das Interesse. Wenn man allerdings speziell an Studenten denkt, so können sie sich ein exklusives Einkaufsverhalten eigentlich nicht leisten. Die »Geldfrage« im Blick auf gesunde Ernährung soll mit Frageblock 5 noch genauer diskutiert werden. Und was ist hinter dem hohen »Land«-Ausschlag der in den Vierzigern Stehenden zu vermuten? Ein steigendes Gesundheitsinteresse durch fortschreitendes Alter, durch kränkelnde, schulgeplagte Kinder – warum dies nicht auch in der Stadt? Es kann sein, dass sich hier zunächst eine generelle Bevölkerungsverteilung widerspiegelt, wonach an jedem Dorf- und Kleinstadtrand heute modern-urbane, relativ kinderreiche Familiensiedlungen entstanden sind nach dem Motto: Wer es sich leisten kann, will der Familie beides bieten, Urbanität und Frischluft. Doch eben deshalb könnte das Bewusstsein um das gesuchte vermeintlich Gesunde, Ursprünglichere hier besonders hoch ausgeprägt sein, und vielleicht sind darunter Menschen, die ihrer Meinung nach Wertvolles wie den regionalen Anbau unterstützen wollen und die kleineren, traditioneller agierenden Geschäfte, die es auf dem Land noch gibt. Die Antworten zur Frage nach ethischen Gründen (8.3) blieben abzuwarten. 3

Bildungsgrad

Das Diagramm vermeidet eine Rangfolge durch die alphabetische Anordnung der Bildungsgänge. Wie schon an früherer Stelle gesagt, wäre die Fragestellung nach dem Einkommen bei der Direktbefragung sinnlos gewesen und gewissermaßen auch überflüssig. In Deutschland hängt die Einkommenshöhe nach wie vor stark vom Bildungsabschluss ab. 4 Die Grafik gibt es deutlich wieder (insofern gesunde Kost nun einmal teuer ist): Die meisten Gesundkostkunden 4

Vgl. Sabella, Daniele: Bildung, S. 48 f.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

besitzen Fachhochschulabschluss / Abitur, oder – hier findet sich der stärkste Ausschlag in der Stadt – ein abgeschlossenes Studium. Anteilsmäßig folgen die Säulen des Realschulabschlusses, dann des Hauptschulabschlusses: Die meisten Kunden gesunder Ernährung sind im formellen Sinn hoch gebildet und vermutlich kaufkräftig. Verwunderlich ist der niedrige Anteil von Kunden mit Berufsausbildungsabschluss, zumal in der Stadt. Im ländlichen Bereich gibt es weit mehr solcher Kunden. Vielleicht wird auf dem Land von Schulabgängern generell relativ gerne der Berufsbildungsweg gewählt. Diese Frage muss offenbleiben. Sie kann zeigen, wo evtl. Bedarf für eine weitere Studie läge. Etwas Anderes fällt auf: In »der Stadt« (um sprachlich bei diesem Kürzel für »städtischer Raum« zu bleiben) gibt es Kunden ohne Bildungsabschluss, eine Gruppe, die mithin nach ihren persönlichen und materiellen Möglichkeiten wohl weniger angehalten wird, sich mit gesunder Ernährung zu befassen. Diese Menschen hätten dann sehr gewichtige sachliche Gründe. Und das sei angemerkt – wer geschickt im Einkaufen und zubereiten ist, kann auch mit wenig Geld gesunde Kost finden, aber wie schon gesagt, soll der Geldbeutel-Aspekt unter Frage 5 behandelt werden. Dagegen, um mit den Daten zur Bildung fortzufahren, finden sich in der Stadt keine Kunden mit weiterem akademischem Werdegang, wohl aber »auf dem Land«. Wenn Letztere unter den »Häuschen-im-Grünen-Bewohnern« zu vermuten sind, die etwa beruflich zu Firmen pendeln oder als Hausfrauen die Familien versorgen (die Mehrzahl der Kunden waren ja Frauen), sind dann Erstere die in akademischen Stellungen befindlichen Personen, also laut Einführung dieser Arbeit solche Akademiker, die sich für Gesundheit nicht interessieren? Auch diese Frage muss leider offenbleiben. 4 Kaufen Sie regelmäßig »bewusst« Ernährung ein? 4.1 Wenn ja, seit wie viel Jahren? Der Ausdruck »bewusst« zielte deutlich auf die Motivationsebene, auf die persönliche Beschäftigung mit der Sache. Die Antworten spiegeln insgesamt ein starkes »Ja« wider. Nur 3 Personen sagten im ländlichen Bereich »Nein«, 18 dagegen im städtischen. Erstaunlich zeigt sich wieder das größere Interesse der Landregionen. Vielleicht sind es auch praktische Gründe: Das weniger differenzierte Warenangebot und die praktikable Gewohnheit, sich festzulegen, die Not217 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

wendigkeit des Fahrzeugs und das Bemühen um den gezielten Einkauf, wenn denn schließlich ein dem Bioladen nahegelegener Parkplatz oder Bushalteplatz gefunden bzw. gegeben sind. Umgekehrt kann das unregelmäßigere Bewusst-Kaufen der Städter mit der Vielfalt und Differenziertheit der Stadtstrukturen zu tun haben, auch mit der Ablenkung von der Festlegung durch ein buntes Angebot und durch die Werbung, mit der ständigen Verlockung, dieses und jenes auszuprobieren, vielleicht auch mit dem berufsbedingt unregelmäßigen Tagesrhythmus, der ein gleichbleibendes Einkaufsverhalten schwierig macht. Immerhin: Der Anteil der Ja-Sager überzeugt insgesamt. Schließlich ist nur »regelmäßig bewusst« ein wirkliches »Bewusst«. Wer bewusst kauft / lebt, aber nicht dabeibleibt, wäre sich seiner Sache eben doch nicht voll bewusst. Die Grafik 4.1 belegt es: Die Bewussten sind ihrer Sache treu. 17 von 100 Personen (Stadt und Land addiert) kaufen ihre Ernährung seit zehn Jahren regelmäßig bewusst ein, 14 von 100 seit zwanzig, 5 seit 25, 12 gar seit dreißig Jahren. Auch 35, 40 und sogar mehr als 40 Jahre wurden angegeben. Wiederum finden sich die hohen Angaben im ländlichen Bereich (ob durch Alteingesessene oder durch Zuzügler, die für ihre diätetischen Einstellungen auf dem Land bessere Bedingungen sehen, wäre interessant, weiter zu erforschen). Der Einbruch im Bereich zwischen 10 und 20 Jahren verwundert. Vielleicht hat er zahlenpsychologische Gründe: Die Zahlen zwischen 10 und 20 sind evtl. schlecht in Erinnerung und werden daher lieber den Zehnersprüngen zugeordnet. (Die Skalierung wurde nachträglich festgelegt; und es gab bei dieser Befragung tatsächlich zwischen 10 und 20 fast keine Angaben). Außerdem kann die Antwortlage mit den wenigen Unter-Vierzigjährigen aus Frage 2 zusammenhängen, mit einer Generation, für die zu Beginn ihrer Berufs- und Ausbildungszeit die gesunde Ernährung noch kein Thema war. Interessant ist, dass auch der untere Bereich mit 3 und 5 Jahren relativ hoch besetzt ist, und da wiederum das Land gut beteiligt ist, können hier nicht allein die »Jungstarter« der Studentenstadt ausschlaggebend sein (vgl. Frage 2). Fazit ist: Heute spricht die gesunde Ernährung nicht nur alle Altersgruppen an, sondern sie begleitet Menschen durch ihre Lebensjahre. Gesunde Ernährung ist ein Allgemeinphänomen geworden. »Großmütter als Reformhauskunden« (vgl. die Einführung) sind hier nicht mehr nur unter sich. 5 5

D. Verf. erlebte es als Kind mit ihrer Großmutter noch so: Das Reformhaus als

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

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Wählen Sie nur bestimmte Lebensmittel, ein breites Sortiment oder Ihre Gesamternährung entsprechend?

Werden Stadt und Land addiert, so liegt die knappe Mehrheit beim breiten Sortiment. Abermals besticht der Landbereich: 37 von 50 Personen wählen breitgefächert, nur 12 von 50 nach speziellem Bedarf. Es sind hier sicher nicht nur logistische Gründe (vgl. zu Frage 4), also der mühsam ergatterte Parkplatz, der die möglichst einmalige Kofferraumbeladung verlangt. Denn wer eine breite oder sogar seine gesamte Lebensmittelpalette im Naturkost- oder Reformwarenhandel kauft, braucht vor allem eines: Geld. Dieses ist entweder vorhanden oder wird von anderen Lebensbereichen (z. B. Urlaub) abgezogen. Grundlegend also braucht es Überzeugung, um sich und ggf. die Familie umfassend gesund zu ernähren. Umgekehrt kommt sicher hinzu, dass den überzeugten und sachlich informierten Menschen die herkömmliche Lebensmittelbranche nur eine oberflächlich differenzierte und inhaltlich sehr magere Nahrungspalette bieten kann. Differenzierungen bewegen sich dort bei kritischem Hinsehen vor allem im geschmacklichen und optischen Bereich. Menschen also, die sich umfassend gesund ernähren wollen, sagen wir, vegetarisch, auf Basis gesunder Fette, mit frischen und vorrangig regionalen Produkten und mit Vitalstoffreichtum, können ihre Ernährung anders als aus der Fülle an Cerealien, Pflanzenölen oder qualitätsreichen Frischwaren, wie sie die Naturkost- und Reformbranche anbietet, kaum bestreiten. Die knappe Mehrheit der Gesundkostkäufer hat den Wert dieser Ernährungsweise anscheinend erkannt. Zur Arbeitserleichterung im Rahmen einer breitgefächerten Küchenpraxis spricht die heutige Gesundkostbranche zudem Menschen durch eine Menge Fertiggerichte an (vermutlich viele Personen wie Mütter, Singles oder Senioren), wobei der Gesundheitswert dieser Produkte allerdings fraglich ist. In einer Folgestudie sollte nach dem Verhältnis von Fertig- zu Grundnahrungsmitteln gefragt werden. Um an dieser Stelle nun das Stichwort »Geld« aufzugreifen: »Bodenständige« Formen gesunder Ernährung wären gar nicht einmal teuer. Man müsste dann aber alles selber zubereiten. Das hieße, man bräuchte die in dieser Arbeit mehrmals zitierte Capability, und »Altdamentreff«. Wer hier eintraf, erzählte sich von den neuesten Arztbesuchen und kaufte Waren zur Erleichterung der Altersleiden. Für Kinder war es noch ein sehr langweiliger Ort.

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Gesundheitsaktivitäten heute

man bräuchte Zeit oder zumindest eine relativ freie Zeiteinteilung des Alltags. Beides könnte bei Studenten (vgl. Frage 2) durchaus gegeben sein. Mit dem durchgeplanten Tagesablauf von Arbeitnehmern, Müttern oder in Leitungspositionen Stehenden vertragen sich beide Bedingungen aber kaum. Arbeitslose hingegen hätten sogar bessere Chancen, sich gesund zu ernähren – sofern sie eben Capability besitzen, d. h. im Sinne von Martha Nussbaum (vgl. FN 45f.) bereits Sinn und Initiative aufbringen können. Sicher hängt das stark vom Milieu und von persönlichen Voraussetzungen ab. In Bezug auf die Geldbeutel-Frage sei jedenfalls auf das Projekt »Arm aber Bio!« verwiesen. 6

Es handelt sich um den Selbstversuch einer Berliner Journalistin, die einen Monat mit 4,35 Euro pro Tag (was dem Verfügbaren eines Hartz-IV-Empfängers entspricht) von Bio-Nahrungsmitteln lebte und ein Sach- sowie Rezeptbuch darüber verfasste. Im Ergebnis ist solche Ernährungsweise möglich, wenn man diszipliniert fast nur Grundnahrungsmittel einkauft und sie selber zubereitet. Man braucht außer Disziplin Initiative, Mut, Kenntnisse und Können, also umfassende Capability. Selbst die Zuhilfenahme solcher Bücher würde geschicktes Einkaufen und Zubereitungs-Fertigkeiten nicht ersparen. Dabei ist diese Ernährungsform ethisch hochwertig, weil sie regional, saisonal und auf konsequenten Resteverzehr eingestellt ist. Vgl. Wolff, Rosa: Arm aber Bio, ethisch insbes. S. 114 f. Das Rezeptbuch trägt denselben Titel mit Untertiteln: Das Kochbuch. Feine Öko-Küche für wenig Geld. D. Verf. möchte zum Spar-Aspekt ergänzen, dass unter den Gerichten Getreidebreie fehlen (z. B. Haferflockenbrei, Buchweizen-, Gerstengrütze), inhaltsreiche Traditionsgerichte, die Generationen Kinder und Erwachsener nährten, auch als typische Arme-Leute-Dauerkost fungierten (sowie als Soldatenkost, vgl. »Gesundheit« unter den Spartanern, Karl d. Gr., Turnvater Jahn) und heute als Hauptgericht mit Zugaben (z. B. Milch, Joghurt, etwas Marmelade) unter fünfzig Cent (weniger als R. Wolffs Gerichte) kosten würden. Das Gleiche gilt für Hülsenfruchtgerichte, die ebenfalls fehlen. Sie nähren ganze Völker durch Eiweißreichtum. Weiterhin kann man im Prinzip Gemüse durch Wildpflanzen (einschl. Wurzeln) ersetzen. Noch ein Sparfaktor: Mit dem »Dampfgarer« (ab 35 Euro) lassen sich heute Zeit, Strom, Vitamine sparen – Tradition und Moderne verbinden. Aber auch das erfordert Geschick, allein die Selektion sinnvoller Waren aus der Angebotsfülle. D. Verf. sieht von den sachlichen Voraussetzungen »Arm und Bio« als gut möglich an. Ein wichtiger persönlicher Punkt müsste noch gegeben sein: Die Betroffenen dürften nicht aus gesundheitlichen Gründen eine spezielle Kost benötigen. Für kranke Menschen müsste ein extra Projekt durchgeführt werden. Das würde auch für Familien, insbes. Esspräferenzen der Kinder, gelten. Zumindest beispielhaft (wegen Unerschöpflichkeit der Thematiken) sollten auch hier Anleitungen verfasst werden.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

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6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9

Was sind Ihre Gründe für die Wahl dieser Lebensmittel, gleich, ob bestimmte oder zahlreiche / alle? Die Frage betrifft auch Haushalts-Mitglieder, für die Sie einkaufen. Gesundheit (im engeren Sinne: als Gegenteil von Krankheit) – wenn ja, wegen akuter Beschwerden (z. B. Allergie) – wenn ja, auf ärztliches Anraten? zur Vorbeugung – wenn ja, nach Krankheitserfahrung (selbst / Haushaltsmitglied oder andere bekannte Personen)? Vorbeugung wegen Veranlagung (z. B. Infektanfälligkeit)? Vorbeugung zum Leistungserhalt angesichts Schul- / Berufs- / Lebensanforderungen? Vorbeugung angesichts Kostenerhöhungen / Kürzungen im Gesundheitswesen? Vorbeugung als Körpergewichtskontrolle (z. B. durch Vollkorn, hochwertige Fette)? Vorbeugung auf ärztliches Anraten?

Mit der übergeordneten Frage nach der Gesundheit war der engere Sinn von Gesundheit gemeint, im Hintergrund auch das Bewusstsein um die Krankheit und das Leiden, also nicht einfach nur Fit-Sein. Die Befragten hatten hier (wie schon insgesamt bemerkt) keine Rückfragen. Doppelt so viele Personen antworteten mit »Ja« wie mit »Nein«, wobei der städtische und der ländliche Bereich fast gleich liegen. Demnach gibt es zahlreiche Menschen, hier 77 Personen, denen ihre Gesundheit wichtig ist. Woher haben sie diese Einstellung? Die folgenden Präzisierungen könnten erstmals wichtige Vergleichsmerkmale zur Diätetik liefern. Nur 20 Personen aller Befragten leiden unter akuten Beschwerden (Frage 6.2). Woher und was wissen die übrigen 55 Personen über Gesundheit? Erinnern sie sich an frühere Beschwerden, oder kennen sie, um es mit Hiob, dem Prototypen des Leidens auszudrücken, die Materie Gesundheit »vom Hörensagen« (vgl. Hiob 42,5)? Hierzu drängt sich für unsere Zeit die starke Medienvermittlung der Materie auf, d. h., dass Gesundheit einfach »in aller Munde« ist. Spezielle Ernährung wegen ärztlichen Anratens ist, allein schon wegen der Niedrigzahl akut Belasteter (6.2), kein Thema. Zur Frage der Vorbeugung ist bei 22 Personen aller Beteiligten eine Krankheitserfahrung auslösend (6.4); sie kommen also authentisch zur Thematik, davon doppelt so viele Land- wie Stadtpersonen. Die persönliche 221 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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Konstitution (6.5, hier bewusst allgemeinverständlich ausgedrückt) spielt nur eine geringe Rolle, allerdings abermals auf dem Land viel mehr als in der Stadt. Der Leistungserhalt dagegen im Blick auf Schule, Beruf und die täglichen Herausforderungen ist sämtlichen befragten Stadtpersonen wichtig – ohne mehrheitlich die eigene Konstitution anzuführen – auf dem Land ca. der Hälfte der Befragten. Das ist eine interessante Antwortkonstellation: Externen Vorgaben wird mehr Wert beigemessen als dem an der eigenen Person selbst Erlebbaren. Wer sich »fit« halten will, müsste doch eigentlich die Stärken, Schwächen, guten und schlechten Einflussfaktoren am eigenen Organismus kennen. Außerdem müssten an Ernährung interessierte Menschen wissen oder spüren, dass es im Sinne von »Leben« als »Teilhabe« an der Natur sowie am Soziokulturellen (wie in den Diätetik-Ausführungen hergeleitet wurde) 7 unhintergehbare sowie auf individuelle Weise beeinflussbare Prägungen auf den Organismus gibt (vgl. Nietzsches »Gebieter« Leib). Man denke heute gerade an die Konjunktur des Begriffs der »Gene« – die aber wohl meistens als klinisches Reparaturset betrachtet werden. Die Kostenerhöhungen im Gesundheitswesen (6.7) sind kaum Thema (eher noch auf dem Land). Das ist vielleicht oft so, solange nicht Menschen einschneidend selbst betroffen sind – man umgeht das Thema. Hier ist es insofern etwas verwunderlich, als die vielen Beteiligten mittleren Alters durch ihre nun alten Eltern etwas von den Gesundheitsaufwendungen im Alter erfahren haben könnten. Gewichtskontrolle hat gleichfalls nur geringe Bedeutung, was angesichts der öffentlichen Brisanz dieses Aspekts etwas verwundert. Allerdings, wenn man das zum Modehaft-Schlanken in Kapitel 3.1.6 Gesagte bedenkt (mit der Gefahr der Anorexie-Erkrankung), muss »gesund« nicht unbedingt »schlank« bedeuten. Gesund wäre dann eher, wer mit sich selbst zufrieden ist und unempfindlich gegen Verunsicherungen aus der Werbung – eine wirklich leibhafte Sichtweise. Generell auf ärztliches Anraten hin (also nicht angesichts akuter Beschwerden) wurde ein hoher Anteil von 37 Städtern zur gesunden Ernährungsweise inspiriert; die Landbewohner geben sich weit autarker mit nur 4 von 50 »Ja«-Antworten. Die Antwortlage zu diesem Punkt insgesamt spiegelt wider, dass Ernährungshinweise in ärztlichen Praxen üblich geworden sind, entweder aus der therapeutischen Überzeugung oder aus Anpassung an die Gesundheitspolitik. 7

Vgl. dazu nochmals besonders Kather, Regine: Leben, S. 216. Vgl. schon FN 168.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

Die Frage, ob die ärztlichen Ratschläge zur Eigeninitiative der Patienten förderlich sind (6.9), wird regional unterschiedlich bewertet. Der erhobene Arztfinger, dem in der Stadt offensichtlich reichlich gefolgt wird (allein die Praxisdichte und die Bereitschaft zum Arztbesuch sind hier bekanntlich höher), stellt einen externen Motivator dar. Das wäre kein Unterschied zur paideia des Maimonides gegenüber seinem Sultan, wenn durch die gesunde Ernährung eine umfassend-persönliche Lebensharmonisierung im Visier wäre. Es müsste so sein, wie wenn mit den Lebenserprobten früherer Epochen ein verantwortliches Wissen um die Einbindung in das Gesamt des Lebens erstrebt werden würde, wie wenn mit Paracelsus ein Sich-Herantasten an Art, Menge der Nahrung und vor allem an die eigene Konstitution erfolgen würde, wie wenn mit den Badegästen des Mittelalters die Lebensfreude nicht zu kurz käme, wie wenn mit Goethe das Staunen über die Naturgaben groß wäre und mit Nietzsche die lebenserprobte Reflexion. Oder um es kürzer mit Pythagoras bzw. Platon auszudrücken, die im gelungenen, also im weiten Sinne gesunden Leben eine Einheit zwischen Körper und Seele sahen (vgl. FN 19 und 73). Ob es in der Regel bei der ungeprüften und unreflektierten Übernahme von gesundheitsdienlichen Ratschlägen bleibt, wäre an diesem Ort eine Unterstellung, die zunächst die folgenden Daten abwarten müsste. 7.1 Grundsätzlich-vorbeugende gesundheitliche Gründe (z. B. Sicherheit betreffs Zusatzstoffe; besserer Gesundheitserhalt durch bessere Qualität) 7.2 Wenn Sie Kinder haben: Gilt Ihnen die Ernährungsqualität für Ihre Kinder besonders hoch? 8.1 Geschmackspräferenz 8.2 Schönheit (z. B. bessere Haut durch Vitamine; meint nicht den Kauf von Kosmetika) 8.3 ethische Gründe (z. B. keine konventionelle ethisch unbedenkliche Alternative) 8.4 Einstellung: Naturbezug, Sinn für die Natur in mir, Suche nach »Ganzheit«, Harmonie … (freie Antwortmöglichkeiten) Drei Viertel der Gesamt-Befragten gaben grundsätzlich-vorbeugende Gründe an, setzen also voraus, dass eine spezielle Nahrungsqualität sich gesundheitlich auswirkt. Geringfügig höher liegt wiederum das 223 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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Land. Insgesamt gibt sich damit ein hoher Anteil in Sachen der eigenen Gesundheit ziemlich ernsthaft. Im Diagramm 7.2, die Ernährungsqualität für das Kind betreffend, bilden die Enthaltungen die kinderlosen Befragten ab. Rechnerisch antworteten damit praktisch alle Elternteile mit »Ja«. Rückblickend befand der Organisationsstab die Frage insofern für überflüssig, als wohl kein Elternteil eine niedrige Qualität fürs Kind zugeben würde, aber immerhin ergänzen die Antworten die personenbezogenen Eingangsfragen (1 und 2) um den Hinweis, dass 40 Personen der Befragten Kinder haben. Das unterstreicht nicht nur die geäußerte Vermutung zahlreicher Vorstadtoder Urbandorf-Familien. Es zeigt viel wesentlicher, dass, gemessen an der Kinderzahl der Deutschen und der vielbeschriebenen deutschen Vereinzelung (in nur unter 30 Prozent aller Haushalte leben nach einem kurzen Blick ins Internet Kinder) besonders ihnen zuliebe eine gesunde Ernährung gewählt wird und nicht primär nach individualistischer Manier. Die Gesundheitsbewussten sind also offenbar nicht so egozentrisch wie von ihren Kritikern vermutet. 8 Sehr deutlich scheint der Zusammenhang von Ernährungsqualität und Genuss (Frage 8.1) bewusst zu sein, bei insgesamt 76 Personen, womit auch die Lebensfreude im Zeichen von Gesundheit nicht ignoriert wird. Qualitätsreiche Ernährung scheint ein Weg bewussten Genusses zu sein, der die Kritik an der Genusskategorie in Kapitel 3.1.6 etwas entschärft. »Schönheit« war nur bei knapp einem Drittel maßgeblich, wobei ein sachlicher Zusammenhang zur Ernährung durchaus gegeben wäre. Bessere Nahrungsmittelqualität sorgt z. B. mit vielen Vitalstoffen für besseres Aussehen, und sicherlich tut es insbesondere das Wohlgefühl, zu dem eine gute Ernährung führt. Man denke allein an das peinliche, aber doch in der bewegungsarmen Gesellschaft sehr akute Thema, das schon Maimonides betonte, von der geregelten Verdauung, d. h. dass ein drückender Darm zu gequälter Ausstrahlung führt und dauerhaft zu Nahrungsverwertungsstörungen. Ähnlich wie bei der Körpergewichtsfrage überraschte die Auswerter das milde Ergebnis, da das Schönheitsargument in den Medien häufig verbreitet wird. Die ganze Fitnessbewegung wird gemeinhin auch mit dem Aussehen assoziiert. 9 Die Antwortverteilung In der anfangs zitierten Kritik wird das geäußert. Vgl. beim Bestsellerautor Ulrich Strunz bereits den Titel: Forever Young sowie S. 114. 132 u. ö. In dem Buch werden Tipps zur Ernährung und sportlichen Lebensweise gegeben.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

kann Hemmungen widerspiegeln, den Schönheitswunsch wirklich zuzugeben. Oder hier gibt es tatsächlich viele Personen mit Persönlichkeitsstärke, also einer insofern gesunden Psyche. Verblüffend hoch wurde ethisch geurteilt (8.3): 37 von 50 LandBefragten und 33 Städter sagten »Ja«. Nach den reichlichen ethischen Reflexionen in Teil 3 und den deutlich ethischen Zügen der alten Diätetik (zur Erinnerung: es waren z. B. die gesundheitliche Vorbeugung, die Wahrung von Naturbeständen) ist man als Leser nun vermutlich an genaueren Gründen der Antwortenden interessiert. Wie schon gesagt, wurde die Formulierung der Fragebögen absichtlich vor der Beschäftigung mit der alten Diätetik vorgenommen, um nicht von daher sachlich gefärbt zu sein. Jetzt aber zeigt sich, dass gerade auf dem Hintergrund der Tradition Vertiefungen der Antworten interessant wären. Das kann und sollte in einer zweiten Studie gemacht werden, wobei auch der zeitliche Abstand lohnend zu berücksichtigen wäre. Ethik der Natur ist inzwischen in aller Munde (während vor wenigen Jahren z. B. Vegetarier mit Tierschutz-Argumenten noch viel mehr belächelt wurden als jetzt), und auch dies, dass die Sorge um den Körper erbauliche Seiten für Seele und Geist besitzt sowie umgekehrt, wird allgemein oft geäußert (z. B.: »Tut mir rundherum gut!«). Man kann davon ausgehen, dass bei der hohen Bejahung von Ethik in dieser Studie das Lebensmuster vorliegt, nach dem die Sorge um die eigene Gesundheit auch Sorge um die Natur ist. Allerdings hat man es in der Wohlstandsgesellschaft, insbesondere bei der Ernährung, mit einem sehr kompromisshaften Naturbegriff zu tun. Zum einen wird auch Ethik medial verkauft, sodass es kaum noch Entscheidungen aus der eigenen Anschauung gibt, d. h. ein verinnerlichter nomos fehlt. Viele Fakten bleiben ausgeblendet, z. B. in ethisch angepriesenen Produkten wie veganen Brotaufstrichen die Verwendung von Palmöl, dessen Herkunft im Produktions- und Vertriebsdickicht nicht immer klar ist. Was das Mediale unserer Urteilsfindungen anbetrifft, so äußern sich Empörungen gegen Missstände sowie Bestrebungen für ein vermeintlich Besseres gerade deshalb oft virulent. Zum anderen würde ein möglichst natürliches Ladenprodukt heute kaum noch jemand kaufen. 10 Folgende aktuelle Begebenheiten sind interessant: Eine hohe Aversion der Bevölkerung gegen Spritzmittel, und zwar aus umfassend ethischen Gründen (außer dem eigenen Gesundheitsschutz ist es z. B. auch Mitgefühl mit den spritzenden Arbeitern, Entsetzen über die Zurichtung der Nahrung), hat in Deutschland die Obst- und Ge-

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Die Ernsthaftigkeit von Ethik ist allgemein schwer zu beurteilen. In der alten Diätetik gab es manche Abkopplungen vom authentischen Urteilsgrund, z. B. mit der kirchlichen Indoktrination, dem Aberglauben, der bürgerlichen Moral. Heute bauscht die kapitalistisch verursachte Entfremdung von den Lebensprozessen Ethik in veräußerlichte Diskursivität oder Aktivistik dermaßen auf, dass sachdienliches ethisches Urteilen kompliziert geworden ist. Es erfordert so viel Wissen und Begreifen (»Durchblicken«) dass ein In-sich-Gehen nach Art und Weise alter Transzendenzausrichtung verdrängt zu werden scheint. Peter Sloterdijk beendet einen aktuellen Bestseller damit, dass heute kaum jemand ernsthaft sein Leben ändern wollte mittels Übung und Verzicht. Ethik, wie sie sich jetzt zeigt, hat für ihn keine transzendente Qualität. 11 Der tadellose Bioapfel läge auf dieser Linie: Wir leben inzwischen in einer geschlossenen Technikwelt, in müsenachfrage stark verändert. Um 2008 herum kamen Massenproduktionen wie aus dem spanischen Almeria durch erhöhte Rückstände monatelang in die Schlagzeilen. Seitdem bleiben Anbauer auf künstlich gespritzter Ware praktisch sitzen; jedenfalls Ketten wie Edeka oder Lidl nehmen solche nicht mehr ab. Es wird nun auf sog. biologische oder natürliche Mittel zurückgegriffen (z. B. Kupfersulfat im Weinanbau; Mikroorganismen bei Blattgemüse), die aber oft schwere Nebenwirkungen zeigen (z. B. allmähliche Verseuchung des Bodens; evtl. Darmleiden). Grotesk mutet der Einsatz des asiatischen Marienkäfers an, der zwar hundertfach mehr Milben vernichtet als durchaus auch gute heimische Fresser, aber durch explosive Selbstvermehrung nun heimische Insekten verdrängt. Wissenschaft und Produzenten waren hier zu voreilig, wobei der Käfer v. a. im Bioanbau eingesetzt wird. Es ist allgemein ein Tabuthema, dass kein marktbezogener Anbau ohne Spritzen auskommt. Jedenfalls dann nicht, wenn »der Biokunde« einerseits möglichst biologische Erzeugung wünscht und andererseits eine Ware, die frei von jedem Wurm und Schalenschorf ist. Etwa Äpfel wie aus dem eigenen Garten kann ein Geschäft vor heutigen Kunden nicht auslegen – so viel zur Prägung der »Naturkost« durch den Wohlstand. Vgl. den Artikel von Donner, Susanne: Bio ist nicht immer besser, in: bdw 6 / 2014, S. 8–17. 11 Peter Sloterdijk thematisiert die Überforderung, die einem notwendigen zeitgemäßen ethischen Verhalten besonders durch seine globale Dimension anhaftet; »in täglichen Übungen« sieht er den einzigen Weg, das Leben zu ändern: Leben ändern, S. 710–714, insbes. 714. Er zielt damit auf eine diätetische Lebensweise, die Geist und Leben umspannt. In der globalen Gesellschaft könnte sie verschiedene Weltanschauungen integrieren, z. B. das Ich loszulassen im Sinne buddhistischer Meditation (so wie zitiert). Doch wird (so d. Verf.), auch Spiritualität heute medial vermittelt. Möglicherweise ist Unselbständigkeit das herrschende Lebensmerkmal der Wohlstandsgesellschaft geworden, ist das Denken, die Errungenschaft der Aufklärung, zur Gefolgschaft geworden, wurde das Handeln verlernt durch Luxus. Diese Gedanken verweisen auf die schon mehrmals angeschnittene Frage nach einer Synthese von alten und neuen Errungenschaften, deren genauere Berücksichtigung am Ende dieser Arbeit erfolgen soll.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

der alles erdenklich Bequeme, vermeintlich Angenehme machbar ist, gemacht wird und wie selbstverständlich angenommen wird. Gleichfalls haben die persönliche Einstellung bzw. Wertvorstellungen, die den Ernährungsbereich begleiten, hohes Gewicht auf dem Land, nämlich wieder 37 von 50, in der Stadt 26 von 50. Das könnte die obige Unterstellung vom Einfach-Übernommenen relativieren. Es gibt im weiteren Datenverlauf eine Frage, die die Quellen von Einstellungen und Kenntnissen ermittelt. Vorweggenommen sei hier, dass aktive Formen des Erwerbs (z. B. durch Kursbelegungen, durch eigenes Ausprobieren im Zubereiten) dort kaum angegeben wurden. Für die in Frage 8.4 genannten Einstellungen, z. B. den Naturbezug, wäre die Erfahrung, in dem Fall biologischer Prozesse (in der Natur, im eigenen Körper), aber unerlässlich. So gesehen reichen ein Biosiegel plus die Ahnung, dass jeder Mensch auch »Bio« ist, nicht aus. 12 9

Seit wann überhaupt befassen Sie sich mit Ernährung?

Die Mehrzahl der Befragten befasst sich schon lange mit gesunder Ernährung, seit über 10 Jahren. Die meisten Antworten wurden bei »30 Jahren« von Landbewohnern abgegeben. Auch 35, 40 und sogar mehr als 40 Jahre wurden genannt, Letzteres eher bei den Stadtbewohnern, was aus Infrastruktur-Gründen verständlich ist. Die Datenwerte übertreffen die Antwortdaten aus Frage 4.1, »Seit wann regelmäßiger Einkauf?« Zahlreiche der Befragten befassten sich also schon länger mit gesunder Ernährung, bevor sie zum regelmäßigen Einkauf kamen; auch das ist plausibel. Der hohe Land-Ausschlag bei den der Rechnung nach mindestens um die 50-Jährigen führt zu der Frage, ob unter den Betroffenen traditionell Lebende ausschlaggebend sind, die sich z. B. seit jeher aus dem eigenen Garten ernähren und von daher mit Gesundheit befassen. Doch auch die besagten bewussten Zuzügler hat es vor 30 Jahren schon gegeben. Für eine spätere Untersuchung wäre die Unterscheidung von Alteingesessenen und Zugezogenen interessant. Die höhere Empathie der Landbewohner beginnt aufzufallen. 13 Vorerst kann erkannt werden, dass die BeVgl. zum konstruierten Naturbezug die zunehmende Anreicherung der Nahrung mit angeblich biologisch notwendigen Vitalstoffen. Besonders durch propagierte Jodierung von Speisesalz werden Menschen vom herantastenden Umgang abgehalten bzw. schlimmstenfalls von ernsten Krankheitssymptomen überrascht, vgl. Braunschweig-Pauli, Dagmar: Jod-Lüge, insbes. die Fallberichte S. 126–128. 13 Die Frage kommt auf, ob das Landleben wirklich so frustrierend ist wie es zur Zeit 12

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Gesundheitsaktivitäten heute

ständigkeit bei der Beschäftigung mit gesunder Ernährung hoch ist, was das ernsthafte Interesse unterstreicht. Dafür spricht auch, um dies zu ergänzen, die dichte Besetzung des unteren Bereichs an Jahren, was auf wenige Abbrüche schließen lässt. 10 Was waren die Auslöser für diese Beschäftigung? 10.1 Krankheitserfahrung (selbst / Haushaltsmitglied oder andere bekannte Personen) 10.2 Bewusstseinswandel unabhängig von Krankheitserfahrung (z. B. durch Lebensmittelskandale) … (freie Antwortmöglichkeiten) Bei insgesamt einem knappen Drittel war die Krankheit auslösend für die Beschäftigung mit gesunder Ernährung; das Land übertrifft wieder die Stadt. Dies erscheint relativ hoch, doch das Numerische besagt nicht alles. Aus der Sicht von Therapeuten, die sich mit dem Ernährungsverhalten auskennen, galt es bisher als unverbrüchliche Wahrheit, dass Menschen außer durch hohen Leidensdruck einer schweren Krankheit niemals ihre Ernährung umstellen. 14 Vor allem hat das soziale Gründe neben biologischen Gründen. Letztere meinen den Organismus, der mit Geschmacksempfinden, Botenstoffen und Funktionen auf eine bestimmte Kost eingespielt ist (vgl. auch die erwähnte »Umprogrammierung« durch Magersucht, die sich schnell festsetzt) mit Buchtiteln herabgewürdigt wird, oder ob zwischen der Nostalgie der landfreudigen Zeitschriften und realer ländlicher Lebensqualität hier vielleicht Orte einer Goetheschen Synthese gefunden werden können? Vgl. Brüggemann, Axel: Landfrust. Ein Blick in die deutsche Provinz, Hamburg 2001. Im Blick auf die Lebensstil-Frage kann diätetisch außerdem hilfreich sein, insofern Mut zur Mittelmäßigkeit gemacht wird, Gier nach dem Spektakel sowie die Außenlenkung der Menschen und ihre gegenseitige Überforderung mit Ansprüchen in Frage gestellt wird: die Apologie des »Spießers« von Matthias C. Müller, vgl. schon FN 269. 14 Und nicht einmal dann. Für den stationär aufgenommenen Patienten ist das sowieso nicht möglich. Dabei sollte es medizinische Primärmaßnahme sein. Ein kurmäßiger dreimonatiger Veganismus verbessert akut das Blutbild und damit die Heilungschancen. Medizinisch liegt dem nachweislich zugrunde, dass die typischen heutigen Krankheiten (Diabetes, Bluthochdruck, Arthrose, Allergien usw.) mit übermäßiger Speicherung tierischen Eiweißes zu tun haben, das während der Karenzzeit abgebaut werden kann. Nur 6 % Eiweiß unserer heutigen Nahrung wären physiologisch nötig. Dies erforschte der Frankfurter Univ.-Chefarzt Prof. Dr. Lothar Wendt (1907–1989) als sein Lebenswerk. Wendt, Lothar: Krankheiten, insbes. S. 29–79. Vegane Kur (»Eiweißfasten«, das traditionelle Vorläufer hat, wie Kur des Johann Schroth, 1798–1956) S. 446; 6 % S. 38 f.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

– dies ist der biologische Hintergrund des Menschen, der »ist, was er isst«. Zum Ersteren wurde das Essen im sozialen Raum erlernt ähnlich wie das Sprechen und ist aus dessen Anerkennungsstrukturen nicht mehr zu lösen. Aussteiger mussten von daher anderweitig überzeugen, um sozialisiert zu bleiben, etwa mit schlagender Argumentation oder mit der eigenen Gesundheit. Nur andeutungsweise brauchen die beliebten »Ein- und Ausstände« zu Anlässen jeder Art genannt zu werden, mit denen sich Chefs Loyalität oder Mitarbeiter Beliebtheit verschaffen – doch wehe, wer die »Wurstsemmel« verschmäht, dessen Karriere ist bedroht. 15 Es müssen heute sehr starke soziale Anreize sein, wenn Menschen auch ohne hohen Leidensdruck einer schmerzenden Krankheit die Hemmungen verlieren, gesund zu essen. Nachdem Markt und Medien unsere vorherrschende Lebenswirklichkeit und Prägekraft geworden sind, ist anzunehmen, dass diese dafür gesorgt haben; jedenfalls zeigen auch die Daten der folgenden Grafik, dass gesunde Ernährung »in« ist. 16 Übereinstimmend hoch bei Stadt und Land (Frage 10.2) gaben insgesamt 78 der Befragten den Bewusstseinswandel als Auslöser an. Weitere mögliche Auslöser wurden nicht genannt (freie Antwortoptionen werden in den Fragebögen durch Pünktchen wiedergePsychologisch seziert Eugen Drewermann die sozialen Nuancen des Essens und ihren offenen oder subtilen Druck auf die Individuen. Er schildert dies als Anamnese zahlreicher Fälle von Essstörungen durch verletztes Selbstwertgefühl, vgl. das Kap.: Völlerei und Trunksucht, in: Moral, S. 138 f. 16 Zusammenhänge mit dem Bildungsabschluss sind bei den gerade diskutierten Daten nicht zu erkennen. Eigenständige Weiterbildung müsste auch nicht mit dem Bildungsabschluss zusammenhängen. Trotzdem kann d. Verf. aus eigener Berufspraxis bestätigen, dass es gut ausgebildeten Personen leichter fällt, ihre Ernährung zu ändern und nach außen durchzusetzen. Die stetig steigenden Vegetarierzahlen (Anfang 2014 ca. 8 %) dürften von solchen Menschen stammen. Sicherlich ist im Sinne von FN 15 das Selbstwertgefühl maßgeblich, das mit höherer sozialer Schichtung eher aus der individuellen Lebensweise bezogen wird, während es in Arbeiterkreisen aus dem (in vieler Hinsicht wertvollen) Wir-Gefühl erfolgt. Hier wirkt z. B. ein Sich-Scharen um einen Bratwurst-Rost beim Feuerwehrfest geradezu identitätsstiftend. Ein Feuerwehrhauptmann, der vegane Schnitzel anböte, würde vermutlich abgewählt werden. Dieses Muster wird sich erst sehr langfristig und unter Kenntnis der Massenpsychologie ändern. Es müsste z. B. bei der Vorbereitung von öffentlichen Festen eine rege Kommunikation mit Veranstaltern und Einzuladenden stattfinden, wenn alternative Speisen angeboten werden sollen. Zunehmend wären dabei aber auch Immigranten mit ihrer gewohnten, unseren Gesundheitskenntnissen oft konträren Kost zu berücksichtigen. Ein weiterer Aspekt zur Ernährungsumstellung ist der, dass in ärmeren Kreisen bei Familienfesten ein üppiges Auftischen typischer Tafelspeisen Ausdruck von Stolz und Gastfreundschaft ist, was für Betroffene elementare Lebensqualität bedeutet. 15

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Gesundheitsaktivitäten heute

geben); zu denken wäre z. B. an ein literarisches oder Filmerlebnis, das persönlich wachgerüttelt hätte. Die Ausrichtung nach dem Zeitgeist kann auch als Anpassung bezeichnet werden. Der Zeitgeist zum Thema dürfte heute auch durch Ereignisse wie Lebensmittelskandale oder Naturkatastrophen (vgl. etwa Zusammenhänge von Intensivwirtschaft, Abholzungen und Überschwemmungen) gefärbt sein. Wie überzeugt ein persönlicher nomos beim Einzelnen gefunden wird, wurde schon unter der ethischen Frage 8.3 als schwer lösbar befunden. Man kann aber so fragen: Wie aktiv oder passiv wird das Gesundheitsthema adaptiert? Ab folgendem Frageblock 11 geht es darum, womit sich die Menschen beschäftigen, um zu Kenntnissen und Urteilen über gesunde Ernährung zu kommen. 11 Auf welche Weise beschäftigen Sie sich mit Ernährung? 11.1 Lesen von Literatur 11.2 Lesen von Heften, Broschüren, Werbung, gedruckten Infos aller Art 11.3 Lesen und Stöbern im Internet 11.4 Gespräche mit Mitmenschen, Erfahrungsaustausch 11.5 Austausch / Lernen in Gruppen (z. B. Selbsthilfegruppe, Naturheilverein, gelegentliche Kurse, Seminare) … (freie Antwortmöglichkeiten) 55 aller befragten Personen (Stadt und Land) nutzen Literatur, 41 nutzen Printmedien, das Internet verwenden nur 30 Personen. Letzteres könnte mit einem Hang zum Natürlichen und Traditionellen bei den Naturkost-Kunden zu tun haben, liegt aber sicher auch an der Altershäufung im »mittleren« Bereich (s. Frage 2), während regelmäßige »web-user« junge Menschen wären. 82 Personen betreiben Erfahrungsaustausch; die Organisation und das Lernen in Gruppen dagegen (zu denken ist z. B. an Selbsthilfegruppen bei Kranken; an Kurse zur Zubereitung, wie etwa Volkshochschulen sie reichlich anbieten) nur 17. Das Lesen überhaupt und der kommunikative Austausch werden von einer schon vorangehend zitierten Studie über Biokostkäufer in Supermärkten, d. h. über deren Informationsstand und -erwerb, als passiver Erwerb bezeichnet. Im Ergebnis besitzen die Kunden jener Studie kaum Markt- und Produktkenntnisse und lassen sich überwiegend von Aufschriften verleiten. 17 Ist bei Kunden 17

Vgl. Volk-Uhlmann, Christine: Öko-Käufer, S. 44.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

der Spezialgeschäfte ein selbstständigerer Informationserwerb zu vermuten? Eine gewisse Tendenz zum Passiven bliebe in der Konsum- und Mediengesellschaft sicherlich erhalten (zumal es ja Überschneidungen zwischen beiden Formen der Bezugsquellen gibt). Der Beobachtung nach werden in Naturkost- und Reformgeschäften reichlich deren ausgelegte Zeitschriften mitgenommen (z. B. »Schrot und Korn«), was die o. g. Zahlen bestätigen kann, aber diese Hefte sind natürlich in erster Linie Werbung. Für Leser bieten sie den Vorteil, dass sie nichts kosten und trotz ihrer Werbeeigenschaft sehr informativ und anleitend sind. Beispielsweise Rezepte mit saisonalen Zutaten liegen in ökologischer und gesundheitlicher Hinsicht auf der Linie der diätetischen Ethik. Der Austausch und das Lernen in Gruppen, um diesen Punkt noch einmal aufzugreifen, was laut erwähnter Studie eine aktive Form bilden würde, ist besonders bei den Städtern kaum beliebt, unter den Landbewohnern trifft es bei 14 von 50 Personen zu. Bei allen hier genannten Formen der Beschäftigung liegt das Land insgesamt wieder vorn, womit zu fragen ist, wie die durchweg hoch bei »Nein« liegenden Städter zu Kenntnissen und Einstellungen kommen – durch Anpassung? Das wird nicht zu beantworten sein, aber vielleicht führt der nächste Punkt zumindest tendenziell weiter. Frageblock 11 bietet auch freie Antwortoptionen an, die überhaupt nicht besetzt wurden. Aus Sicht der Verfasserin als Ernährungsberaterin ist es unverständlich, dass niemand »durch eigenes Ausprobieren« nannte, also das Zubereiten, Verspeisen und Beobachten der Wirkung, weil eine individuell zuträgliche Ernährung eigentlich nur so gefunden werden kann. Gesunde Ernährung muss dem Individuum »zuträglich« sein, d. h. gesund ist nur das Bekömmliche, Verträgliche; und auch Gesunde sollten dies erspüren, bevor evtl. Unverträgliches krank macht. Zumindest typbedingt gilt das, worauf z. B. in einer Familie durch Varianten in Auswahl und Zubereitung Rücksicht genommen werden sollte, was bei entsprechender Capabilty auch realisierbar wäre. Das alte Ayurveda macht die Bekömmlichkeit zum Qualitätsmesser jeder Speise überhaupt. Pointiert lautet diese alte Ernährungslehre: Es kommt nicht darauf an, was man isst, sondern wie man es verdaut. 18 Die heutigen Krankheiten sind überDabei korrelieren die Seite der Zubereitung und die des Verspeisens miteinander; es ist das Herz dieser Ernährungstradition: Typgerechte Speiseformen in Zutatenauswahl, Konsistenz (nat.wiss. Wort für Beschaffenheit) und Würze auf der einen Seite –

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Gesundheitsaktivitäten heute

wiegend keine Mangel-, sondern Überlastungskrankheiten (bzw. Krankheiten eines »Zuviel-des-Guten«), und »Gesundkost« kann z. B. durch »zu sauer«, »zu rau«, »zu grobkörnig« daran mitbeteiligt sein, besonders wenn das vermeintlich Gute vom Einzelnen noch übertrieben wird. Ein Bio- oder Neuformsiegel bildet keinen Garanten für die individuelle Verträglichkeit, sondern nur die aktive Beschäftigung mit der Ernährung. 19 Denkbar wäre auch, um weiter auf das nicht Angegebene einzugehen, die Beschäftigung durch die Zusammenarbeit mit Fachleuten, z. B. einer Ernährungsberatung. Dies wäre wie das Ausprobieren eine aktive Beschäftigungsform, zumal die Ernährungsberatung, wie sie heute üblich ist, auf die Selbstkompetenz zielt. 20 Um an dieser Stelle die Art der Beschäftigung zu bewerten: Nach den vorangegangenen Daten sowie insbesondere auch anhand wichtiger aktiver Formen, die nicht genannt wurden, muss die Art der Beschäftigung als überwiegend passiv resümiert werden. Die Haltung der Capability das sensible Verspeisen auf der anderen Seite. Vgl. Familie Sablock (traditionelle Inder): Ayurveda, insbes. S. 15, wo es um die innere Einstellung geht, z. B. vor dem Zubereiten und vor dem Essen zu beten. 19 Die Bedeutung des Stoffwechsels, d. h. die Verdauung im engeren Sinne der intestinalen Funktionen sowie im weiteren Sinne der Resorption und der zellulären Reaktionen, fällt trotz unserer hohen Diskursivität von Ernährungsfragen gewöhnlich unter den Tisch (vgl. schon FN 44). Dabei besitzt auch der europäische Kulturkreis einen vermutlich von einem altrömischen Arzt stammenden deutlichen Leitspruch, »Der Tod sitzt im Darm«, den der Naturheilbereich heute noch kennt. Treffend geht oft die Kritik des Provokateurs Udo Pollmer in diese Richtung, etwa gegen den Hang zu konzipierten Ballaststoffen oder zum sehr Fettarmen, was im einen Fall die Darmflora, im anderen den Zellstoffwechsel irrirtiere. D. Verf. stimmt v. a. Pollmers Kritik gegen »Fettarm« zu, zumal Fette (die gewiss differenziert werden sollten) für Nerven und Fertilität unerlässlich sind und hier Gesundheitsprobleme der Deutschen liegen. Jedenfalls dürfen Pollmers Bücher nicht als Generalverdammung gelesen werden, sondern eher als Affront gegen überflüssige Nahrungskonzeptionen und kritiklos im Strom laufende Gesundkost-Konsumenten. Vgl. Pollmer, Udo / Fock, Andrea et al.: Prost, insbes. S. 96–100, 110–113. 20 So sind jedenfalls Ausbildungsstand und Angebot der Ernährungsberater beschaffen, d. h. sie geben auch Tipps im Sinne von FN 6. Doch nach wie vor gelten sie nur als Stationen für Kranke, vom Arzt vermittelt, lehrerhaft agierend. Es ist ein Paradoxon, dass diese Beraterkompetenzen sowie auch das allgemeine Wissen über Ernährung sich ständig ausweiten, während zugleich die ernährungsbedingten Krankheiten laufend zunehmen. Der allg. Dienstleistungscharakter der Ernährungsberatung und das Ziel der Selbstkompetenz von Klienten sollten daher stärker gemacht werden (die gesellschaftl. Anerkennung dieses Berufes sicherlich auch), vgl. Moos, Konstanze: Art Ernährungsberatung, in: CoMed 3 / 2008, S. 6.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

war im Ganzen nicht deutlich zu erkennen, obwohl sie Einzelnen auch nicht abgesprochen werden kann. 12

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Wenn »Gesundheit« bei Frage 6 zutraf, wie bewerten Sie den Druck der Arbeitswelt / bei Kindern: Schule (z. B. Fehlzeiten vermeiden, leistungsstark sein, im Alter noch mithalten können)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Druck, … 6 = sehr hoher): Wenn »Gesundheit« bei Frage 6 zutraf, wie bewerten Sie den Druck aus dem persönlichen Umfeld (Familie, Freunde), etwas für die Gesundheit zu tun? Bitte Bewertungsnote vergeben Wenn »Gesundheit« bei Frage 6 zutraf, wie bewerten Sie den Einfluss der allgemein gestiegenen Lebenserwartung auf Ihr persönliches Verhalten (lange Altersphase soll möglichst gesund verlaufen, wirtschaftlich: Menschen müssen evtl. länger arbeiten usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben Wenn »Schönheit« bei Frage 6 zutraf, wie bewerten Sie den Druck der Arbeitswelt (z. B. gute Ausstrahlung haben, leistungsstark wirken, nicht alt wirken usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben Wenn »Schönheit« bei Frage 6 zutraf, wie bewerten Sie den Druck der Gesellschaft (z. B. gute Ausstrahlung haben, leistungsstark wirken, nicht alt wirken usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben

Ab hier in der Befragung zur gesunden Ernährung geht es vor allem um die Beurteilung des eigenen Ernährungsverhaltens durch die Betroffenen. Zunächst wird geprüft: Ist das gesunde Handeln mit der Empfindung von Druck aus der Außenwelt verbunden? Die Befragten beurteilen insgesamt den Druck aus der Arbeitswelt für weit höher als aus dem persönlichen Umfeld (Fragen 12, 13), wie zu erwarten war. Seit Jahrtausenden stehen Menschen unter Druck, ihren Körper als Hauptwerkzeug zur Überlebensbestreitung gesund zu erhalten. Dabei gab es früher gegenüber den modernen Dienstleistungs- und Industrie-Arbeitsstätten weit härtere Bedingungen, unliebsamere Tätigkeiten, unfreiere Arbeit. Neu ist die Trennung des Lebens in den notwendigen öffentlichen Raum der Arbeit und den angenehmen persönlich-familiären Raum der Freizeit. Von daher verwundert es, dass auch der persönliche Raum als nicht ganz frei von Druck bewertet wurde. Am stärksten befanden das die Städter: Unter den höheren 233 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

Noten gaben sogar 6 Personen (von allen Befragten) die Note 6. Note 3, mittleren Druck, gaben ebenfalls unerwartet viele an, 13 aller Befragten. Mithin wird der persönliche Raum von manchen als Leistungsraum empfunden; die hohe Anzahl der Enthaltungen indes auf diese Frage (21 Personen insgesamt) zeugt wohl von Unschlüssigkeit oder mangelnder Reflexion über diesen Aspekt. Gewiss könnten auch Personen dabei sein, die nicht im Arbeitsleben stehen. Bei den DruckEmpfindenden ist an (alleinerziehende) Mütter zu denken, an Menschen mittleren Alters, die Angehörige pflegen, an Paare, die berufliche Verpflichtungen und Familie in Einklang bringen müssen. Zurück speziell zu Frage 12, fällt das höhere Druck-Empfinden in Bezug auf die Arbeit bei Landbewohnern auf (13 Personen Note 5, 12 Personen Note 6). Dies kann an einer schwierigeren Arbeitsmarktlage auf dem Land liegen oder auch am persönlichen Empfinden, das eigentlich mehr auf entspannte Strukturen eingestellt ist als bei den Städtern. Das persönliche Umfeld bewerteten nämlich die Landbewohner gegenüber den Städtern als geringer bedrückend. Das wiederum entspräche einer traditionellen Lebensatmosphäre, wie sie schon vorangehend angenommen werden konnte. Die Frage nach der gestiegenen Lebenserwartung ergab wieder eine hohe Zahl an Enthaltungen, d. h. sogar, Enthaltungen durch 23 Personen insgesamt als Höchstbewertung. Zu berücksichtigen ist dabei, dass in die Enthaltungen vielleicht etwa ein Viertel aller Befragten einfloss, dass Frage 6.1 (Gesundheit im engeren Sinne wichtig?) mit »Nein« beantwortete. Frage 14 übertrifft Frage 6.1 inhaltlich durch Umfassendheit, insofern sie die eigene gesundheitliche Konstitution, die Vorerfahrungen mit Krankheit, Lebensbedingungen usw. mit dem allgemeinen und persönlichen Blick in die Zukunft bündelt. Bezogen auf beide Fragen zeigt sich die Nichtbeschäftigung (vielleicht ist es sogar Verdrängung), beliebter als die Reflexion. Jedoch insgesamt 21 Personen vergaben die Note 5 (11 Land, 10 Stadt); aber auch 14 Personen (darunter 10 Stadt) die Note 1. Auffallend ist insgesamt, dass die Lebenserwartung, also das eigene gesunde Altern, viel mehr Menschen interessiert als sie die politischen Rahmenbedingungen diesbezüglich interessieren (s. Gesundheitswesen, Frage 6.7). Das kann einerseits ein Zeichen von Selbstverantwortlichkeit sein – man vertraut auf die eigenen Fitness- und Gesundheitsaktivitäten und wäre geradezu »frei von öffentlichen Institutionen«. Andererseits – und so wirkt der starke Kontrast ebenfalls – kann es eine Gleichgültigkeit an den allgemeinen Dingen und an der sozialen Ein234 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

bindung von Gesundheit sein, die der individualistischen Gesellschaft entspräche. Im Ganzen zeigen die Daten zur Frage »Lebenserwartung« eine Polarisierung an in der Weise, dass Menschen entweder Einfluss empfinden oder sich enthalten, und die hohe Zahl Enthaltungen bei den Fragen 6.1 und 12, 13 zusammen lässt annehmen, dass die der alten Diätetik eigene Sorgestruktur, beruhend auf dem Bewusstsein um Fragilität und Endlichkeit des Lebens, hier nicht mehr ausgeprägt ist. Bei den auf die Schönheit bezogenen Fragen (15, 16) ist der Enthaltungs-Anteil wegen der Vielzahl der Verneiner aus Frage 8.2 wohl wieder überwiegend rückbezüglich zu lesen. Die Übrigen empfinden durchweg mehr oder weniger starken Druck seitens der Arbeitswelt und auch der Gesellschaft. Interessant ist, dass der gesellschaftlich ausgelöste Druck im Ganzen für höher gehalten wird als der arbeitsbedingte. Dies wirft ein Licht auf die Leistungsgesellschaft, in der das Äußere stark beurteilt wird und Menschen buchstäblich in ihrem Ansehen miteinander konkurrieren. Beide, Städter und Landbewohner vergaben hier anteilsmäßig recht hohe Noten. 17 17.1 17.2 17.3 17.4 17.5 17.6 … 18

Was tun Sie sonst noch für die Gesundheit (im umfassenden Sinn)?) Sport treiben Saunabesuche Entspannungstechniken geistige Einstellung (religiöse Einstellung, positives Denken usw.) regelmäßige Kontrolle (evtl. Vorsorgeuntersuchungen) bei Arzt oder Heilpraktiker nichts weiter (freie Antwortmöglichkeiten) Wenn etwas zutraf bei 17, seit wann tun Sie dies in Jahren?

Die Frage zielt auf das Gesamt-Gesundheitsverhalten. Das Sporttreiben begleitet die gesunde Ernährung als häufigste Form: 78 Personen aller Befragten bejahten es. In die Sauna gehen 26 Personen (»nur«, denn die Deutschen sind, wie d. Verf. beruflich erfahren hat, Spitzenreiter im Saunieren weltweit geworden); Entspannungstechniken sind bei 38 Personen beliebt, darunter sind 27 Personen Landbewohner. Die geistige Einstellung liegt bei insgesamt 32 Ja-Antworten, ebenfalls angeführt vom Land. Der Verdacht stärkerer Bewusstheit 235 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

bei den Landbewohnern ist kaum mehr zu widerlegen – erstaunlich angesichts der besseren geistig-kulturellen Infrastruktur, die allgemein die Städte bieten. Aber vielleicht wirkt diese eher zerstreuend, während die stärkere Beschaulichkeit auf dem Land mehr zum In-sich-Gehen geneigt macht? Man muss hier bei Vermutungen bleiben. Therapeutische Kontrollen wurden von niemandem bejaht. Das zeigt eine Selbstständigkeit im Umgang mit der Gesundheit. Einerseits dürfte die gesunde Ernährung ihre faktische Wirkung zeigen, andererseits kontrastiert die Beschäftigung mit der gesunden Ernährung sachlich in vielem mit den Haltungen und Weisungen des üblichen therapeutischen Systems, in dem die Ernährung (auch oft in der Naturheilkunde) vernachlässigt wird, d. h. Bewusste meiden daher das Sprechzimmer. Bereits zu Frage 6.9 wurde ein eher oberflächliches Handhaben der schulmedizinischen Ernährungsempfehlungen diskutiert. Wer sich dauerhaft gesund ernährt, dürfte solche Anleitung nicht mehr brauchen. Ist aber bei den Betroffenen genügend Kompetenz zur Selbstkontrolle gewachsen? Freie Antwortmöglichkeiten wurden hier nicht genutzt. Dieses Antwortverhalten deckt sich mit dem der Beschäftigungsformen aus Frageblock 11, in dem ebenfalls über das Vorgegebene hinaus nichts genannt wurde. Gerade die Selbstergründung des gesunden Essens fehlte dort. Für 17.5 kommt daher die Annahme in den Sinn, dass die Gesundkost als solche mit ihrem Image und ihren Werbeaussagen für die Betroffenen eine Alibifunktion für das gesunde Gefühl geben könnte. Interessant ist aber bei Block 17, dass niemand »nichts weiter« angab, d. h. ein umfassendes Engagement durchaus vorhanden ist. Was die »regelmäßige Kontrolle« anbelangt, so wäre der diätetische Optimalfall im Rahmen unserer dichten medizinischen Infrastruktur ein Miteinander von Experten- und Laienengagement, wie es Heinrich Schipperges unter Aufgreifen der Tradition vorschwebte (vgl. FN 280), doch davon sind wir weit entfernt. Die Zahlen könnten diese Entfernung widerspiegeln, ein Muster, wonach es hochtechnisierte Experten einerseits, Natürlichkeit suchende, eher alleingehende Laien andererseits gibt. Um Frageblock 17 zu resümieren: Sport, Sauna, Entspannungstechniken und die geistige Einstellung stellen die beliebtesten zusätzlichen Formen der Gesundheitspflege bei Gesund-Essern dar. Es hätten z. B. auch »ein regelmäßiger Tagesrhythmus« angegeben werden können, ebenso »ausreichend Schlaf«, »kein Alkohol« oder dergleichen ganz in das eigene Leben – unabhängig vom Außenangebot – 236 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

eingebundene »normale« Maßnahmen. Eben solche kamen den Antwortenden nicht in den Sinn. Die gewählten Formen der Gesundheitspflege werden überwiegend schon sehr lange ausgeübt (Frage 18). Die Höchstbeantwortung seitens aller Befragten liegt bei 20 Jahren; es waren 19 Personen. Wie beim Ernährungsverhalten sind sogar »40 Jahre« und »mehr als 40 Jahre« besetzt. Der untere Bereich von 2, 3, 5 oder 7 Jahren liegt durchweg insgesamt bei 6 Bejahungen, was wie beim Obengenannten schon auf wenige oder keine Abbrüche schließen lässt. Insgesamt lässt sich aus den Angaben schließen, dass diese sich um ihre Gesundheit kümmernden Menschen sehr überzeugte Menschen sind. 19

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Wie bewerten Sie den Erfolg Ihres Ernährungsverhaltens im Verhältnis zu Ihren Gründen / Zielen? Bitte Bewertungsnote vergeben. Wie bewerten Sie den Aufwand Ihres Ernährungsverhaltens im Verhältnis zum Erfolg (z. B. Kosten, Verzicht auf Anderes, Spaltung in Familie)? Bitte Bewertungsnote vergeben. Wenn etwas bei Frage 17 zutraf, wie bewerten Sie den Erfolg Ihres gesamten Gesundheitsverhaltens im Verhältnis zu Ihren Gründen / Zielen? Bitte Bewertungsnote vergeben. Wenn etwas bei Frage 17 zutraf, wie bewerten Sie den Aufwand Ihres gesamten Gesundheitsverhaltens im Verhältnis zu Ihren Gründen / Zielen? (z. B. Kosten, Verzicht auf Anderes, Spaltung in Familie)? Bitte Bewertungsnote vergeben.

Nicht wesentlich, aber doch vorhanden sind bei allen diesen Fragen zu Aufwand und Erfolg geringfügige Enthaltungen gegeben. Entweder es gibt einen kleinen Anteil Menschen, die über Aufwand und Erfolg nicht nachdenken, oder es handelt sich um den kleinen Teil der Neustarter, die noch keine Aussagen machen können. Insgesamt hoch wird der Erfolg der gesunden Ernährung gegenüber Gründen und vorgefassten Zielen bewertet: Note 5 ist durch 41 Personen besetzt, Note 6 durch 22 Personen. Nur wenige empfanden schwachen Erfolg. Dass dies überhaupt angegeben wurde, kann wiederum mit den Neustartern zusammenhängen, die noch nicht viele Erfahrungen sammeln konnten, insofern sich Erfolge an der Gesundheit normalerweise erst längerfristig einstellen. Der Aufwand wurde entsprechend als eher niedrig angesehen, allerdings ist auch die Note 5 mit 14 Personen gut besetzt, dagegen die 6, speziell von Landbewohnern, fast 237 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

nicht. Insgesamt und auffallend liegt jedenfalls der Erfolg gegenüber dem Aufwand deutlich höher. Die Daten der Fragen 21 und 22 lesen sich entsprechend: Der Erfolg liegt weit höher. Interessant ist wiederum, dass das Land zur Frage »Aufwand« nicht die Note 6 vergab. Gerade die Landbewohner haben es doch verkehrstechnisch schwerer. Vielleicht aber ist man es hier schon gewohnt, ins Auto zu steigen und bewertet dies im Einzelfall nicht mehr als Aufwand. Oder aber man kann viel mehr direkt »ab Haustür« tun (z. B. Joggen) als Stadtbewohner. In beiderlei Hinsicht, Ernährung und Gesamtverhalten, wird demnach Aufwand eingeräumt. Er wird offenbar gerne in Kauf genommen. Die Antworten spiegeln Überzeugung, Beständigkeit und Enthusiasmus wider. Diese Eigenschaften ließen sich auch schon vorangegangenen Antworten entnehmen. Zuletzt soll eine nicht gestellte Frage behandelt werden. Bei allen anderen Gruppen dieser Befragung folgte nach dem Frageblock zum Aufwand-Nutzen-Verhältnis eine allgemeinbewertende Frage: »Macht Ihnen … (Ihre Sportart, Anm.) … Spaß?« Die Frage wurde auf dem Hintergrund der eingangs dieser Arbeit thematisierten Vorurteile gestellt, Gesundheitssportler seien so etwas wie neurotische Sadisten. Für die gesunde Ernährung lagen solche expliziten Vorurteile nicht vor, sodass die Frage vom ausarbeitenden Stab weggelassen wurde. Sie wäre aber durchaus auch hier sachdienlich gewesen, etwa in der Formulierung: »Macht Ihnen Ihre gesunde Ernährung Freude?« Allein schon im Hinblick auf den Genussaspekt einer sorgfältig gewählten Ernährung wäre sie wichtig gewesen. Möge die Pionierarbeit dieser Befragung das Fehlen entschuldigen und möge die Frage an jetziger Stelle fiktiv geäußert und beantwortet werden. Nach den vorhandenen Daten zur Ernährungsgruppe, vgl. besonders das zur Geschmackspräferenz Gesagte, sowie nach dem Eindruck der Befrager, es mit sehr positiv gestimmten Gesprächspartnern zu tun zu haben, dürfte die Antwort zum überwiegenden, wenn nicht gar ganzen Teil ein nicht zögerliches »Ja« gewesen sein. Hier sei nun wie bei den diätetischen Kapiteln ein Resümee gezogen. Zunächst, äußerlich, lässt sich über die Personen, die gesunde Ernährung wählen, nach dieser Befragung sagen: Trotz des Schwergewichts auf Frauen, mittlerem Alter, relativ hoher formeller Bildung und überwiegend gutem Einkommen sind zahlreiche soziale Gruppen ver238 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

treten, was die gesunde Ernährung als Breitenphänomen ausweist, wie eingangs zur gesamten Bewegung postuliert wurde. Außerdem werden auch oft andere Maßnahmen zur Gesunderhaltung gewählt wie Sport oder Sauna, was den in dieser Arbeit gewählten Sammelbegriff »Fitness- und Gesundheitsbewegung« insoweit legitimiert. Gesundheit sowie ethische Gründe gelten als stärkste Motive für die Wahl der besonderen Nahrungsmittel. Mit der ethischen Einstellung zur Ernährung scheint heute eine Sorge um die global bedrohte Natur verbunden zu sein. Dabei unterliegt der Naturbezug den modernen Lebensstandards, ist »Natur« nicht mehr Wert und Wesenheit an sich und müsste schließlich das Themenfeld in einer späteren Studie genauer nachgefragt werden. Die Befragten sind von ihrem Tun ernsthaft überzeugt (vgl. breit sortierter Einkauf; Zusammenhang von Nahrungsqualität und Gesundheit wird vorausgesetzt; Aufwand wird in Kauf genommen) und handeln individuell-verantwortlich (z. B. berücksichtigen den Leistungserhalt und die Lebenserwartung). Einer der Interviewer, um hier einen solchen Eindruck zu nennen, der selber dem Ernährungsgebiet fern stand, bewunderte das gezielte Antwortverhalten und folgerte wörtlich: »Die wussten genau, warum sie das taten.« Handelt es sich damit um Diätetik? Der Beurteilung können vor allem die auf Krankheit und auf den Erkenntnis- bzw. Fertigkeitenerwerb bezogenen Fragen näherkommen. Überwiegend ohne Krankheits- und Leidenserfahrung bzw. -vorstellung und vermutlich an konkreten Anschauungen verhindert (Letzteres als allgemeines Zeitphänomen unterstellt, z. B. bei der Nahrungsmittelherstellung), muss die Wertschätzung der Gesundheit und gesunden Ernährung bei den Befragten als eher vermittelt gelten. Eine Meinungsbildung durch Vorgaben war aus den Diagrammen abzuleiten: Z. B. »Bewusstseinswandel« zählte hoch, aber sachlicher Informationsbezug geschieht passiv v. a. durch Lesen; niemand gab »durch eigenes Ausprobieren« an; als weitere Maßnahmen zur Gesunderhaltung wurden diätetisch wichtige Alltags-Handhabungen (z. B. geregelter Schlaf) nicht genannt. Der Begriff der Konstitution (hier »Veranlagung«) galt als unbedeutend. Die Vorstellung von »Leben« als Partizipationsmuster, das in die eigene Leiblichkeit sowie Alltagsführung hineinreicht, ist also kaum noch bewusst. Ferner scheint die Capability zugunsten wirklich zuträglicher Speise und Lebensformen eher weniger gegeben zu sein (vermutlich nur bei den ärmeren Personen). Da auch die politischen Rahmenbedingungen kaum interessieren, scheint insgesamt 239 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

und überwiegend ein individualistisches, wenig anteilnehmendes Konsumverhalten vorzuliegen. Allerdings zeigen die Land-Ergebnisse bei diesen Personen Züge ursprünglicheren Empfindens und größerer Selbstständigkeit. Sie bestätigen insofern die in Kapitel 3.1.7 von Goethe alias Werther geschätzte Ausstrahlung und Anziehung des heute gleichwohl urbanisierten Landlebens. Jedenfalls lassen die Daten den Wunsch bei manchen Menschen erkennen, auf dem Land mehr in Kontakt zur Natur zu treten. 21 Was wäre für die diätetischen Kriterien, wie die wichtige mesotes oder nomos-Richtschnur, daraus zu folgern? Wenn bei den Befragten, durchaus auch unter Berücksichtigung ihrer Verantwortungsbereitschaft, eine Perspektive »Gesundbleiben« sowie auch »Gutes tun« vorliegt, die dazu angebotenen Waren bereitwillig konsumiert werden, aber die Gefüge, die Fragilität und die Grenzen des Lebens kaum im Blick sind, können solche Ausrichtungen und mithin eine Selbsttranszendierung schwerlich aufkommen. Es wäre ein einseitiges Verhalten, das die herrschende Politik des Wohlstands mit Organisationen wie z. B. der WHO oder auch des Bio-Marketings befördert. 22 Um methodisch korrekt zu bleiben: Zur Ernährungsgruppe können rein aus dem statistischen Material wichtige Schlüsse gezogen werden, nämlich dass sich die Befragten mit den Lebenskonditionen (z. B. der eigenen Konstitution) nicht befassen, dass Krankheitserfahrung und Selbstständigkeit bzw. Kreativität unterbelichtet sind. 23 Eine Synthese aus modernem Leben und Natürlichkeit mag da gelingen, wo sich keine Landwirtschaft in der Nähe befindet. Die industrialisierte Landwirtschaft ist heute mit Lärm, Gestank und Naturzerstörungen ein Feind u. a. menschlichen Wohlbefindens, vgl. Prinz zu Löwenstein, Felix: Food Crash, S. 63 f.117–120 speziell zu Monokulturen im Landschaftsbild und zur rückgängigen Biodiversität in der Naturerfahrung. Der Autor engagiert sich neben der ökologischen Bewirtschaftung seines Hofgutes an führenden Stellen ökologischer Lebensmittelerzeugung. 22 Das Hauptproblem, dass die Dominanz von Wohlbefinden im Konsumrahmen einen hohen Preis hat, wird dabei ausgeblendet. In den Koordinaten von Wohlstand und Wachstum, die wiederum an kapitalistischen Mechanismen wie Zinsen, Subventionen, Spekulationen u. a. hängen, ergeben sich nationale und globale Ungerechtigkeiten. Kritiker der rein kapitalistischen Wirtschaft erklären, dass es gerechten Wohlstand nur auf Basis der Mäßigung geben kann, vgl. z. B. Duchrow, Ulrich: Gieriges Geld, allein zur immensen Gier des Finanzkapitalismus S. 34–36. Vgl. zum Thema Mäßigung auch schon FN 272. 23 Interessanterweise befasste sich zur Zeit des Abschlusses dieser Dissertation eine Einrichtung mit dem »Milliardenmarkt Gesundheit«, eine Tagung der GfK Nürnberg. Im Ergebnis habe – verblüffend ähnlich den obigen Schlussfolgerungen – »Das ›Mentale‹ … größeren Einfluss auf das Lebensgefühl als Fakten wie etwa Krankheiten.« Die 21

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

Diese Fakten allein reichen aus, um die gesunde Ernährung in ihrer Tendenz von der klassischen Diätetik abzusetzen, so gewiss Überzeugung und Formen von Engagement gegeben sind. Erkennbar ist eine Adaption heutiger Bestimmungen (Markt, öffentliche Organisationen und Meinung), die, wie schon erarbeitet wurde, mit den diätetischen Bestimmungen nichts mehr zu tun haben. 24

4.1.2 Fitnesssport Der Fitnesssport gilt als Disziplin, die Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit, Beweglichkeit und Koordination stärkt. Er gibt sich inzwischen als viel mehr denn nur Bodybuilding und ist mit verwandten Formen (wie z. B. Cardiosport, Stretching) in Deutschland binnen der letzten zehn Jahre mit zum beliebtesten Sport zugunsten des Körpers und des körperlich-seelischem Wohlbefindens, vielleicht sogar einer ganzen Art von Lebenskultur geworden. 25 Die Welle der In-Form-Bringung des Körpers und die Zufriedenstellung der Seele über eigene Leistungsfähigkeit und den Erfolg hat inzwischen ähnlich viel und heftige Kritik heraufbeschworen wie vor hundertfünfzig Jahren der Ernährung habe hohen Wert, auch unter Aspekten wie Tier- und Umweltschutz. »Frei nach dem Motto: Iss Gutes und fühle dich gut dabei.« So lautet die Berichterstattung einer Tageszeitung, und schließlich: Die vielen Aufwendungen würden den Betroffenen gesundheitlich nichts nützen. Dies ist eine Pauschalaussage, die zeigt, wie ungesichert mentale Überzeugungen entstehen können. Artikel von Hofmann, Josef: Persönliches Wohlgefühl ist Kopfsache, in: NZ 28. 6. 2014, S. 17. Der Blick in die Tagungs-Publikationen zeigt, es handelte sich um Vorträge von überwiegend Wirtschafts-Fachleuten, basierend auf deren Erfahrungen sowie einigen statistischen Erhebungen. Bei Letzteren ging es um allgemeine Einstellungen zur Gesundheit, z. B. Zufriedenheit mit der Arbeit. Die Publikationen lassen sich so resümieren, dass vor allgemeinen Herausforderungen wie Ausweitung des Wohlstands, Überalterung und Volksleiden (z. B. Übergewicht, Krebs) der hohe Gesundheitsprodukte-Konsum bisher keine Fortschritte gebracht habe. www.GfK-verein_org.Programm.htm / GfK-Tagung 2014, 1. 7. 2014. Etwa zeitgleich erschien ein DAK-Gesundheitsreport, ermittelt aus internen Daten und einer aktuellen Umfrage zum Gesundheitsstand der Deutschen. Am stärksten mit Krankheiten belastet, und zwar aufgrund Stress, sind danach junge Frauen, die eine Lebensform von Kind und Karriere zu vereinigen suchen. Vgl. den Artikel von Siebert, Stephanie: Kind, Karriere, keine Zeit. DAK-Gesundheitsreport …, in: NZ 2. 7. 2014, S. 9. 24 Mit »Tendenz« ist gemeint, dass es auch heute noch einzelne Menschen geben kann, die sich nach Art und Weise der alten Diätetik verhalten, z. B. weil sie sehr naturverbunden und / oder Gegner der herrschenden Strukturen sind. 25 Vgl. Dilger, Erika: Fitnessbewegung, S. 409.

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Gesundheitsaktivitäten heute

Spott über die Welle der Nacktsportler oder vor hundert Jahren der Körneresser. Aus Verfassersicht ist die pauschale Kritik unbegründet (vgl. die Einführung), denn der Fitnesssport kann gesundheitlich einen hohen Wert haben. Mit dem Schutz von Knochen und Gelenken durch stabilere Muskulatur, insofern auch Hilfe gegen Verspannungen und ungünstige Körperhaltungen, der Straffung des Gewebes und mit ihr der Gewebsfunktionen wie Transport- und Abwehrkraft sowie schließlich mit der Steigerung an Kondition überhaupt müsste doch dieser Sport, der im Prinzip keine Altersgrenze kennt, eine Rundum-Ertüchtigung genannt werden. Als engerer Zweck gelten der Muskelaufbau, das Fühlen der eigenen Kraft und die Beeinflussung der äußeren Erscheinung. Der Aspekt des Superbody, wie ihn Medien in Bezug auf die ganze Fitness- und Gesundheitsbewegung, in Worte gegossen haben, wurde zum häufigsten Aufhänger der Kritik speziell am Bodybuilding und drückt dessen Zentralstellung aus. 26 Der Verfasserin sind Menschen persönlich bekannt, die sich durch solche Kritik nicht angesprochen fühlen. Es sind Personen, die mit körperlichen Leiden oder beginnenden Beschwerden den Alltag bestreiten müssen, z. B. als LKW-Fahrer oder als Verkäuferin mit strapaziertem Rücken, angeschlagenen Gelenken, insgesamt überlastetem Haltungs- und Bewegungsapparat. Das regelmäßige Training ist ihnen eine Hilfe zur Linderung, Heilung und Vorbeugung geworden, d. h. auch unter dem Aspekt der Arbeitsplatz-Erhaltung. Um zu ermitteln, ob das nur Einzelfälle sind, sollte wiederum in die Breite gegangen werden. Es folgen also die Interviewdaten von 100 Fitnesstreibenden, ermittelt im Jahr 2011. 1 2 3

Geschlecht Alter Formelle Bildung

Das Bodybuilding als traditioneller Männersport wird vielleicht bald von Frauen überholt. 27 So zeichnet es jedenfalls das Diagramm ab: Im deutschsprachigen Raum wurzelt das allgemeine Bodybuilding (also abgesehen von schaustellerischen / berufsathletischen Darbietungen) im reformerischen Geist zur Ertüchtigung von Körper, Seele und Geist ab 1900, vgl. Wedemeyer-Kolwe, Bernd: ›Der Neue Mensch‹, S. 290–306 (vgl. schon FN 330). Zur Kritik an aktuellen Formen vgl. außer dem schon Gesagtem z. B. den Artikel von Scherfenberg, Evelyn: Dein Body wird super, in: NZ 24. 9. 2011, Internetversion. 27 Vgl. Wedemeyer, Bernd: Starke Männer, S. 66–84 über die Entwicklung des Body26

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

Nur wenig mehr Männer als Frauen (insgesamt 52 zu 48 Personen) waren unter den Befragten dabei. Interessant ist, dass in den ländlichen Studios die Frauen überwiegen. Vielleicht ist das Zufall. An den Tageszeiten der Befragung dürfte es nicht gelegen haben, wenn man annimmt, dass Männer tagsüber weniger flexibel sind und eher abends ins Studio kommen. Vielleicht sind wiederum vermutete gutsituierte »Häuschen-im-Grünen-Bewohner« darunter, wobei evtl. hierunter die Frauen, relativ frei von Einkommensdruck, mehr Zeit und Geld für ihre Belange, also die körperliche Fitness aufbringen können als in der Stadt. Altersmäßig liegt auf dem Land die Gruppe zwischen 40 und 50 Jahren vorne. Gerade bei Frauen, deren Kinder selbstständiger werden, ist das oft die Zeit, sich wieder mehr um sich selbst zu kümmern. Und die formelle Bildung, um auch hier schon vorzugreifen, zeichnet auf dem Land einen merkwürdig hohen Anteil an Realschulabsolventen ohne Berufsausbildung ab (ob es vielleicht Frauen sind, die nach einer Phase ungelernter Arbeit geheiratet haben, hätte nachgefragt werden müssen). In der Stadt dagegen liegt die Säule der Berufsabsolventen weit höher und bildet mit 23 Personen überhaupt den höchsten Anteil unter den Befragten. Das erhärtet die Vermutung, dass auf dem Land eher eine traditionelle Aufgabenteilung besteht, die den Frauen mehr Raum fürs Persönliche lässt. Vielleicht sind etliche bestimmte Menschen unter den Befragten auch extra deshalb aufs Land gezogen (oder hier geblieben), um umfassend traditioneller zu leben (vgl. das in 4.1.1 zur Ernährung Gesagte). Es ist ja üblich, dass sich eine Lebenseinstellung auf viele Lebensbereiche auswirkt. Um das Alter wieder aufzugreifen, liegen hier insgesamt die Unter-30-Jährigen vorn. In der Stadt sind es 16 Personen von allen Befragten, auf dem Land nur 8 Personen. Bahnt sich bei den Städtern schon früh der Wunsch nach Ausgleich zum bewegungsarmen Alltag an oder sogar zu Haltungsschäden? Das wäre vielleicht ein Klischee, denn das besagte ländlich-urbane Leben verlangt Menschen heute kaum mehr Dynamik ab und erfordert zudem das längere Sitzen im Auto. Insgesamt neigt sich der Kurvenverlauf leicht nach vorne zu den jüngeren Jahren – ein Sport für alle also, wobei z. B. die relativ niedrigen Kosten dieser Sportart in den Sinn kommen (man hat außer dem Studio-Eintritt keine Ausstattungskosten – sofern man nicht building zum Frauensport. Hierzu, d. h. auch zum »Breitensport«, werden später weitere Anmerkungen folgen.

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eitel bei der Kleidungswahl ist), sodass ihn von daher schon Unter-20Jährige leicht ausüben können. Hier sind es insgesamt 8 Personen; weil darunter aber nur 3 Landbewohner sind, können diese jungen Akteure, z. T. wohl Auszubildende, nicht diejenigen sein, die den Anteil der Personen ohne Berufsabschluss in Frage 3 so hoch setzen. Relativ stark besetzt betreiben nach dem Diagramm Personen in den Fünfzigern das Bodybuilding, noch höher in den Sechzigern, und, geringfügig, aber doch vertreten, in den Siebzigern. Das steigende Gesundheitsbewusstsein mit den Jahren, die freie Zeit nach dem Berufsende sowie auch die bequemen Gegebenheiten dieser Sportart selbst (man besucht das Studio, zieht sich um, alles weitere Benötigte ist dort), dürften dazu beitragen. Das Bodybuilding von seinen sachlichen Voraussetzungen her, mit den professionellen Kraftmaschinen, die den körperlichen Einsatz individuell-variierbar und gezielt unterstützen, kommt offenbar allen Personengruppen von ihren unterschiedlichen körperlichen Voraussetzungen her entgegen. Auch das ist nach Verfassermeinung ein sehr erfreulicher Aspekt dieses Sports, dass er seniorenfreundlich ist, ja, dass er alle Menschengruppen wie Jung und Alt, Frauen und Männer, unter einem Studiodach integriert. Dagegen beispielsweise ein Fußballplatz zeigt eine weitaus exklusivere Besetzung. Wie sieht es genauer mit der Gruppierung nach formeller Bildung aus? Der Anteil von Akteuren mit Hochschulabschluss oder Studium ist bei weitem nicht so stark besetzt wie vergleichsweise im Ernährungs-Bereich (vgl. in 2.2.1), der weitere akademische Werdegang nur von einer Person aller Befragten. Akademiker finden zu diesem soeben als integrationsfreudig beschriebenen Sport offenbar schwerer Zugang als andere. Die Zahlen bestätigen den Abstand, den die Akademiker (jedenfalls der geistigen Richtungen) mit ihrer oft verlautenden Kritik zum Bodybuilding hegen (wie in der Einleitung behandelt wurde). Der »Arbeitersport« liegt sicher vielen noch im Hinterkopf, und vielleicht auch die Prägung der uralten platonischneuplatonischen Ablehnung des Muskelprotzes bzw. überhaupt des Fleisches sowie die v. a. bürgerlich-moderne Assoziierung von Intellektualität mit Feingliedrigkeit und zartem Teint. D. h. es könnte Angst mitschwingen, beim Neueintritt in ein Fitnessstudio »anders« zu wirken als die vom lebhaften Tun und der Sportausübung geprägten Menschen.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

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Seit wann besuchen Sie dieses / ein Fitnessstudio (mehrjährige Pausen bitte abziehen)?

Die Frage war frei zu beantworten, also ohne vorgegebene Skalierung, wobei nachträgliche Rundungen vorgenommen wurden, wie es die Eingangshinweise zu Teil 4 erklärten. Inhaltlich fällt auf, dass niedrige Jahresangaben fehlen. Die Befragungen fanden in etablierten Studios statt, und anscheinend wurden hier bei der Befragung nur langjährige Gäste angetroffen. Eine Rückfrage bei den Betreibern ergab, dass die gewählten Studios durchaus Neuzugänge besitzen. Gleichwohl stelle sich im Lauf der Jahre ein Stamm ein. Als wichtigstes Fazit zeigt damit das Diagramm: Fitness ist anscheinend ein Sport, den man für sich als richtig entdeckt und dem man treu bleibt. Nochmals seien hier die vorteilhaften Voraussetzungen genannt: Die niedrigen Kosten, die Integrierung aller Menschengruppen, ein inzwischen flächendeckendes Angebot an Studios, die Unabhängigkeit vom Wetter, eine wahlweise mehr gesellige oder individuelle Ausübung, dabei natürlich auch das Spektakelhafte eines Sehens und Gesehenwerdens, was manchen vielleicht im Blick aufs »Outfit« gefällt, ein ansprechend gestaltetes, in der Regel vielseitiges Studioambiente mit Getränkebar, Saunabereich, evtl. Freiluftterrain, Sportangeboten für Kinder und / oder einer Kinderbetreuungsstelle, für viele auch die Faszination der Technik (»Kraftmaschinen« in neuerdings sehr schmeichelnder Erscheinung), auf Berufstätige zugeschnittene Öffnungszeiten – all das überzeugt sicherlich auf Dauer. Fitness ist von seinen Voraussetzungen her ein bequemer Sport, was Kritiker übersehen, die nur die »Quälerei« an den Geräten beschreiben. Sicher hält besonders der schnelleintretende Erfolg Menschen bei der Stange, aber gewiss auch die Angst, nicht nur das athletische Körpergefühl (das andere Sportarten ebenfalls mit sich brächten), sondern zudem den gerne sichtbar gemachten Erfolg am eigenen Körper wieder zu verlieren. Die spätere Frage zum Thema »Schönheit« wird Letzteres erörtern. Schließlich kann ein Dabeibleiben an etwas, das einem gut tut, als diätetische Haltung bezeichnet werden. Insofern würden solche Menschen auf die Konstitutionsfrage, die an späterer Stelle der Befragung folgen wird, unbewusst rückwärtig eingehen, aber warten wir die Frage erst ab. Interessanterweise zeigt sich laut Diagramm ein unterer bis mittlerer Jahresbereich von 3 und 7 Jahren als nur mittelstark besetzt (jeweils ca. 10 Personen von allen Befragten), während die Säulen bei 245 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

den länger tätigen Akteuren höher liegen, und das besonders auf dem Land. 13 von 50 Land-Befragten betreiben seit 7 Jahren Fitnesssport, 8 von 50 seit 10 Jahren und gar 3 von 50 seit 15 oder mehr Jahren, seit einer Zeit also, in der die Dichte der Studios, zumal auf dem Land, noch niedriger war als jetzt. In der Stadt dagegen liegen die Jahresangaben im Durchschnitt nicht einmal halb so hoch. Vielleicht spiegelt sich hierin einerseits das Klischee wider vom männlichen, körperlich arbeitenden, muskulösen Typus, dem besonders auf dem Land schon jung gefolgt wurde, andererseits aber wohl auch die Möglichkeit und Erfahrung, den körperlichen Einsatz in Beruf und Alltag mittels Bodybuilding gut unterstützen zu können, während auf dem Land noch mehr körperlich gearbeitet wird. Sicher drücken die hohen Jahresangaben auch eine Sucht am Erhalten eines körperlichen Status aus, die das Bodybuilding dem eigenen Körper und Organismus einschreibt, aber wohl auch die Erfahrung, für sich das Richtige gefunden zu haben. An späterer Stelle folgt dazu mehr. Längere Pausenzeiten scheint es übrigens bei den wenigsten gegeben zu haben, sonst wären insgesamt nicht so hohe Zahlen genannt worden. 5 6

Anzahl und Art der im Fitnessstudio ausgeübten Sportarten (z. B. Kraftsport, Spinning) Treiben Sie außerdem noch Sport? Wenn ja, welche Sportart(en):

Die meisten Befragten, 79 Personen insgesamt, suchen das Fitnessstudio zum Kraftsport auf, also zum eigentlichen Zweck dieser Einrichtung. Daneben gibt es 21 Personen, die hier andere Möglichkeiten zur körperlichen (auch körperlich-seelischen) Konditionierung suchen, die heute ebenfalls unter »Fitness« rangieren und im Studio mit angeboten werden. Sie fungieren im ursprünglichen Sinne zur Begleitung des Kraftsports oder bieten sich heute auch isoliert davon an. Beliebt geworden ist der Bereich des Cardiosports, der nicht nur zum Aufwärmen fungiert, sondern eben auch unabhängig vom Kraftsport zur Koordinierung der Herz-Kreislauffunktionen unter körperlicher Anstrengung. Mit bequemen Geräten wie etwa speziell des Indoorcycling (heute Spinning genannt), auf denen es sich sogar Zeitunglesen lässt, zieht der Cardiosport, wie Diagramm 5.3 es wiedergibt, zahlreiche Menschen in die Studios. Über die Hälfte der hier Befragten nutzt diese Möglichkeit. Mit dem ab Mitte der 70er-Jahre in den USA in Mode gekommenen Cardiosport oder überhaupt dem sogenannten ergometrischen Training, also dem Leistungs-Austarie246 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

ren und -kontrollieren mittels mechanisch-elektronischer Messtechniken, nahm insgesamt die Verbindung von Fitness und Gesundheit in den USA ihren volkstümlichen Anfang. Diese Geräte waren vorher nur dem Hochleistungs- und Medizin- / Rehabilitationsbereich vorbehalten. In Deutschland zogen ab den Achtzigern neben reichlich Cyclingstationen Geräte wie Laufbänder und das vom ausgebildeten Personal zu bedienende Kontrollpult in die Fitnessstudios ein (daneben besetzten die davon abgeleiteten Heimtrainer viele Wohnungen). Es war somit auch die Attraktion der Cardiogeräte, die Kontrollierbarkeit der Körperfunktionen unter Verzicht auf den Arztbesuch, die Aufwertung der gesundheitlichen Selbstkompetenz, die damals die Studios füllte, was sich sicher unter den mit Frage 4 diskutierten vielen Langzeitsportlern motivierend auswirkte. 28 Dass der gesundheitliche Impetus bei den Fitnessstudiobesuchern ein Gewicht hat, gibt auch das Antwortdiagramm 5.2 wieder, wonach die sportliche Hochleistung und die Ausdauer an sich (deren Training die genannten Geräte ebenfalls ermöglichen würden) hier so gut wie keine Bedeutung besitzen (nur von 1 Person unter 100 angegeben). Bei der Ausdauer, die üblicherweise mit dem Jogging trainiert wird, siehe im Vorfeld die hohe Angabe in Diagramm 6, scheint die natürliche Weise der Ausübung beliebter zu sein als das Laufband. Im Fitnessstudio also scheint es den meisten um ein Trainieren und SteiZur Entwicklung des Fitnesssports als umfangreiches, anfangs auch kompliziertes »Angebotspuzzle« (d. Verf.) vgl. Wedemeyer, Bernd: Starke Männer, S. 149 (ersch. 1996). Inzwischen ist die multioptionale Konsumweise gewohnt und beliebt geworden wie in unserer gesamten Lebensführung, vgl. Dilger, Erika: Fitnessbewegung (2008), S. 407. Mangels neuerer Literatur wurde das Profil aktueller Studios aus Wikipedia ersehen. Mit maximalen Angebotsmöglichkeiten kann ein Fitnessstudio danach umfassen: das klassische Krafttraining, Ausdauertraining (z. B. Laufbänder) mit Anschluss an den Cardiosport, Gymnastik, d. h. Angebote in Kursform von Schwangerschaftsgymnastik bis Yoga mit Anschluss an den medizinischen Reha- und Physiotherapiebereich unter therapeutischer Leitung, Wellnessformen (z. B. Sauna, Massage). Die Branche ist also ein umfassender Dienstleister geworden, der auf sehr vielfältige Weisen genutzt werden kann (konsumierend, therapeutisch-diätetisch, individualistisch, kooperativ, geselligkeitsbezogen usw.). In den 2011 für diese Untersuchung besuchten Studios war eine therapeutische Ausrichtung noch kaum zu bemerken. In die Diskussion an späterer Stelle wird der Aspekt einfließen. Die Beliebtheit des Fitnesssports in Deutschland geht aus der Anzahl der Studios und Mitglieder hervor (die meisten Besucher wählen »Zutritt via Mitgliedsvertrag«, wobei man auch ohne solchen mit Tagesentgelt trainieren kann): 2009 waren es 7.690 Studios; 2011 7,6 Mio. Mitglieder (zum Vergleich: DFB 6,8 Mio.).Vgl. den Eintrag zu Fitnessstudio in: www.wikipedia.org./wiki/Fitnessstudio, 2. 6. 2014.

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gern von Körperkräften zu gehen, und zwar nicht nur der Muskeln, sondern auch der Atmung, des Nahrungsstoffwechsels u. a. (vgl. die Einleitung dieses Kapitels). Dies verschafft offenbar Befriedigung und kann im Niveau durch regelmäßige Ausübung gehalten werden. Der Begriff der mesotes kommt wieder in den Sinn, die Gegengewichtsfunktion, aber auch das Maß der Ausübung, und das verweist auf die weitere Auswertung, vor allem der gesundheitsbezogenen Fragen. Unter den Sportarten, die außer dem Fitnesssport ausgeübt werden, liegen am höchsten das Jogging und / oder Walking (21 Personen aller Befragten), gefolgt vom Radfahren (17 Personen) und vom Mannschaftssport (10 Personen). Als am beliebtesten schneiden damit Individualsportarten ab, die die Möglichkeit zur Gemeinschaft dennoch nicht ausschließen. Wer das Radfahren trainieren will, kann alleine seine Runden drehen oder dies innerhalb eines Radsportclubs tun oder beides. Eher am unteren Ende rangieren Sportarten wie Wandern / Bergsteigen, Wassersport, Wintersport, vermutlich im Umfeld dieser Befragung auch wegen ihrer geografischen Spezifität. Relativ hoch – allerdings nur von den Landbewohnern (5 von 50) – ist im Diagramm das Aerobic besetzt. Die Angabe kann daran liegen, dass es die Möglichkeit nur in bestimmten Studios gibt, was im Fall dieser Studie zufällig mehr in die ländlichen Regionen fiel. Insgesamt (Stadt und Land zusammen) betreiben 73 Personen der Befragten weiteren Sport neben dem Fitnesssport, was sie als Menschen ausweist, die an umfassender Ertüchtigung interessiert sind. Am stärksten schlägt dabei die typisch leichtathletische Verbindung von Kraftund Konditionsbildung durch, nämlich in der Kombination von Bodybuilding und Joggen / Walken. 7

Seit wann überhaupt treiben Sie Sport (mehrjährige Pausen bitte abziehen)?

Die Frage bezieht sich auf das Gesamtsportverhalten. Hier sind die meisten lange bis sehr lange aktiv, wobei hier auch die unteren Jahre gut besetzt sind, was bei vielen eine Experimentierfreudigkeit mit Neuem nahelegt. Hingegen der Fitnesssport, um auf die verhältnismäßige Überzahl länger Ausübender gemäß Diagramm 4 zurückzukommen, scheint tatsächlich durch die beschriebenen Vorteile Menschen regelmäßig und dauerhaft zu motivieren. Als weiterer Vorteil neben schon genannten kommt hier noch in den Sinn, dass er frei von terminlichen Zwängen ist, wie sie den wettbewerbsbezogenen Trai248 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

nings z. B. des Hochleistungs- oder Mannschaftssports zu eigen sind. Alles in allem bildet, wie gesagt, das Diagramm 7 zur Gesamt-Sportausübung sehr treue Akteure ab, in der Mehrheit die Angabe von 10 und 15 Jahren durch 11 (Stadt) bzw. sogar 15 Personen (Land) aller Befragten. 20, 25, sogar 30 Jahre sind gut besetzt; schließlich 40 Jahre sind durch 7 Personen noch höher belegt als die 40-Jahres-Marke in Frage 4. Diese mit dem Sport älter gewordenen Menschen scheinen solche zu sein, die die ersten Erkunder der sich ausbreitenden Fitnessstudios waren. Alles bis hierher zu Art und Dauer des Sportverhaltens Gesagte spiegelt eine hohe Motivation und ein überzeugtes Tun wieder. Was sind nun die Gründe speziell des Fitnessverhaltens? 8 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5

Was sind Ihre Gründe / Ziele, Fitness im Fitnessstudio zu betreiben? Bitte ankreuzen bzw. angeben (Mehreres möglich): Gesundheit (im engeren Sinne: als Gegenteil von Krankheit) – Wenn ja, akute Beschwerden – Wenn ja, auf ärztliches Anraten Vorbeugung – Wenn ja, nach früherer Krankheitserfahrung selbst oder nahestehende Personen wegen Veranlagung (z. B. schwache Durchblutung, anfällige Wirbelsäule)

Die Gesundheit ist der Mehrzahl, 62 Teilnehmer, wichtig. Gemessen an der Kritik am Fitnesssport als etwas wenig Ernsthaftes ist das ein hoher Wert (zur Erinnerung: bei der Ernährung in 4.1.1 waren es 67 Personen). Die Stadt liegt hier deutlich höher als das Land (36 zu 26 Personen). Wecken die Bedingungen des Stadtlebens mehr den Bedarf, durch sportliche Betätigung die Gesundheit zu begünstigen? Akute Beschwerden (8.2) verspüren dabei 27 Personen aller Befragten – in der Ernährungs-Gruppe 20. Dem ärztlichen Rat zum Erzielen einer Besserung folgen hiervon 20 Personen – bei der Ernährung waren es nur 9 Personen. Fällt es damit leichter, dem Rat zum Fitnesssport zu folgen als dem zur Ernährungsumstellung? Vermutlich stehen beim Fitnesssport die typischen Leiden der »urbanisierten« Menschen mit drangsaliertem Bewegungsapparat im Hintergrund, die im Gegensatz zu den schleichenden Ernährungsschäden oft den akuteren Leidensdruck entfachen, um überhaupt zum Arzt zu gehen und dann selbst etwas Notwendiges für die Besserung zu tun. Vielleicht reflektieren die Zahlen auch die in 4.1.1 geäußerte 249 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

Therapeutenerfahrung, dass nur sehr große Qualen Menschen zum Ändern der Ernährungsgewohnheiten führen. 29 Wie sieht es mit der Vorbeugung aus? Die Krankheitserfahrung schlägt bei 22 Personen aller Teilnehmer zu Buche. Mit ähnlicher Zahl beim Ernährungsverhalten wurde dort schon erörtert, dass eine grundsätzliche Beziehung zu Gesundheit und Krankheit schwach ausgeprägt ist. Das gibt hier auch die Veranlagungs-Frage (8.5) wieder, die allerdings mit 20 Personen doppelt so hoch mit »Ja« beantwortet wurde wie von den Ernährungs-Akteuren. Nochmals kommen am Haltungsapparat geplagte Menschen in den Sinn (vgl. schon die Einführung), vielfach Frauen, die aufgrund ihrer Gewebestrukturen anfällig sind für Verletzungen wie z. B. Verspannungen, Zerrungen, und die sich im Alltag vor entsprechenden Gefahren in Acht nehmen müssen. In der Regel entwickeln sich solche Leiden ohne wirkliche Abhilfe chronisch. Und dennoch sind 20 Personen eine niedrige Zahl. In klassisch-diätetischer Hinsicht wäre es undenkbar, sich mit Gesundheit, aber nicht mit der eigenen Veranlagung zu befassen. Ohne diese Grundlage macht z. B. der hier von 57 Personen der Befragten ausgeübte Cardiosport (vgl. Frage 5.3), genauso wie die ganze Beliebtheit der Ergometrie und der Körperkontrolle ohne Basisparameter der persönlichen Veranlagung, eigentlich keinen Sinn. Formen wie der Cardiosport entpuppen sich insofern als etwas weitgehend Aufgesetztes, Uneigentliches. Gewiss liegt die überwiegende Nichtbeachtung der eigenen Konstitution an der generellen modernen Verschiebung des Gesundheitsbegriffs zum normativ vermittelten gegenüber dem einst intuitiv-reEin konkretes Beispiel aus der Ernährungsberatung der Verfasserin ist eine junge Frau, deren pyknische Konstitution und herkunftsbedingt üppige Ernährungsgewohnheiten ihre Gesundheit zu gefährden beginnen. Zwecks Gewichtskontrolle beschloss sie, Fitnesssport auszuüben, und um »nichts an der Ernährung ändern zu müssen«. Die psychosozialen Gründe, wie an früherer Stelle schon dargelegt, waren ausschlaggebend: Einerseits das Fitnessstudio, das »in« und bequem ist, andererseits die Ernährungsumstellung, die ausgrenzen könnte. Gesundheitlich gesehen braucht nicht gesagt zu werden, dass nicht nur die Menge, sondern auch die Art der Ernährung wesentlich ist und dass die Stoffwechselaktivierung durch den Fitnesssport nur zum Teil den Nahrungsstoffwechsel betrifft. Das Beispiel dürfte typisch sein für die Attraktion und den Stand von Fitnessstudios und für die gegenwärtige GesundheitsMentalität, die auf nichts Angenehmes verzichten will und auch nicht muss. Der evtl. Eindruck einer diätetischen Ausrichtung des Fitnessports, den FN 28 geweckt haben könnte, wird mit diesem Beispiel hinfällig.

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flexiv erworbenen Verständnis. Unter Veranlagung verstehen wir maximal die eingleisige Frage, ob jemand in der Familie z. B. Diabetes oder Krebs hat(te) – mehr nicht. Das Bewusstsein der Vorfahren, dass das eigene Leben eine besondere Ausstattung birgt, deren richtige Pflege in Art und Menge die Grundvoraussetzung ihrer Qualität und Dauer ist (vgl. den dieser Arbeit vorangestellten Vers von Goethe), fehlt zwangsläufig der durch normierende und bereitstellende Vorgaben insofern unmündig gemachten Gesellschaft. Forciert wird solches Bewusstsein mit der Vielfalt an Lebensoptionen. Die Fragen der Lebensführung ergingen daher stets mehr an die »Reichen« (vgl. Maimonides). Der heutige Wohlstand müsste sie allen seinen Teilhabern stellen, doch gerade er unterdrückt das Fragen und Denken. Hinzu kam früher, um dies aus Teil 3 zu erinnern, das intensive Erleben der Natur als einer Matrix, an deren Wesensformen sich die Menschen orientieren konnten und mussten. 30 8.6

Vorbeugung zum Leistungserhalt angesichts Berufs- und Lebensanforderungen 8.7 Vorbeugung wegen Kostenerhöhungen / Kürzungen im Gesundheitswesen 8.8 Vorbeugung als Körpergewichtskontrolle 8.9 Vorbeugung, um Bewegungsmangel entgegenzusteuern 8.10 Vorbeugung auf ärztliches Anraten Der Leistungserhalt ist knapp einem Drittel der Befragten wichtig, mit der gleichen Auffälligkeit wie bei der Ernährung, dass die eigene Konstitution den meisten darunter eben unwichtig ist. Leistung kann sich ja eigentlich nur einerseits an die fordernde Seite knüpfen, andererseits an die bereitstellende Seite, also hier die körperlich-gesundheitliche Grundverfassung. Weiterhin: Die Entwicklung des GesundInsbesondere die Möglichkeiten der Elektronik, d. h. im Fitnesssport programmierte Geräte, die Bewegung und Belastung vorgeben, schalten »alles ehemals Kreative des Trainings« aus, schreibt Wedemeyer, Bernd: Starke Männer, S. 148. Umgekehrt kann für die Bedeutung der individuellen Konstitutions-Orientierung aus der Beratungspraxis der Verfasserin beigesteuert werden, dass Eigenmaßnahmen, nach Art und Menge an die Konstitution angepasst, bis ins hohe Alter die Gesundheit begünstigen können. In vielen Fällen wurden regelmäßige bestimmte Mittel, sogar Genussmittel, zum Lebenselixier. Vielen alten Menschen gelten der richtige Kräutertee, -schnaps oder Fußbadzusatz als wahre Lebensgeister, und Etliche schwören auf ihr Spezialrezept. Der Überfluss des vorgesetzten Wohlstands scheint die Intuition zum Finden von Lebenshelfern unter Fühlung mit der eigenen Konstitution zu ersticken.

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Gesundheitsaktivitäten heute

heitswesens interessiert so gut wie niemanden. 31 Das Körpergewicht in den Griff zu bekommen (Frage 8.8), ist dagegen einem knappen Drittel wichtig – also wohl eher aus ästhetischen Gründen. Bewegungsmangel sieht fast die Hälfte der Teilnehmer als Grund zum Vorbeugen an. Nur 15 Personen der Befragten beugen mit Fitness aufgrund ärztlichen Anratens der Gefahr von Erkrankungen vor. Zur Erinnerung: Bei der Ernährung waren es weitaus mehr, besonders Städter, dagegen weniger im Verhältnis zu den akut Belasteten. Plausibel wird die Umkehrung damit, dass Allgemeinärzte im Fall der Lebensumstände primär die Ernährung bedenken, während der Rat zum Fitnesssport entsprechende akute Beschwerden und vielleicht den Facharzt voraussetzen, wie schon erörtert wurde. Interessanterweise liegt wieder das Land in allen ab 8.6 besprochenen Diagrammen vorne und verrät damit mehr Ernsthaftigkeit als die Stadt. Seltsamerweise bejahten aber in Frage 8.1 10 Städter mehr als Landbewohner die Wichtigkeit der Gesundheit – eine vielleicht nicht sehr weitreichende Einstellung. Die Angaben zu Körpergewicht und Bewegungsmangel ragen in ihrer Höhe gegenüber den übrigen Gründe-Angaben dieses Blocks heraus und sollen beim Diskutieren der nächsten beiden Diagramme mit bedacht werden, deren Säulen die Spitzenreiter aller Fragen der Gründe-Thematik überhaupt abgeben. Der Kontext dieser vier Spitzen kann ein Licht darauf werfen, was den Akteuren des Fitnesssports wirklich wichtig ist. Vielleicht verhilft er damit zur besseren Beurteilung des Phänomens. 8.11 Entspannung / Ausgleich gegenüber einseitig-strapazierenden Alltagsbedingungen 8.12 Schönheit (schlank sein, straffe Haut, trainierten Körper erzielen usw.) … (freie Antwortmöglichkeiten) Die Antwort zu »Entspannung / Ausgleich« trägt den allerhöchsten Wert: 61 Personen aller Befragten suchen Entspannung bzw. AusLaut häufiger Medienberichte haben die gesetzlichen Krankenkassen seit 2011 / 2012 konjunktur- und sparbedingt hohe Überschüsse erwirtschaftet, doch die grundsätzliche Anspannung durch die alternde Bevölkerung, den technischen Fortschritt und die Zunahme an chronischen Krankheiten bleibt natürlich bestehen. Zur Zeit dieser Befragung war das Kostenthema als Problem noch aktuell. An eine generelle Reform des Gesundheitssystems mit Beseitigung der Ungleichheiten, Entbürokratisierung und Effizienz in den Heilungsmethoden ist gegenwärtig kaum zu denken.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

gleich im Fitnessstudio. Sie suchen zwar Anstrengung, aber weder Stress noch Quälerei. Der Punkt »Quälerei« wurde mit der bisherigen Erörterung bereits entkräftet und bekommt nun Unterstützung vom statistischen Erfragen der Motivation Ausübender. Im Gegenteil, das Belastende wird offensichtlich im Alltag vorgefunden. Bewegungsmangel und die permanent geforderte mentale Konzentration unseres Alltags lassen die körperlich-leiblichen Bedürfnisse außer Acht und wecken anscheinend bei den so Bedrängten den Wunsch nach Ausgleich durch den Fitnesssport. Das Fitnessstudio, kann man wohl noch deutlicher sagen, stellt für unzählige Menschen einen Ort der Regenerierung dar. In diesem Sinne wäre das Fitnessstudio ein wahrhaft diätetischer Ort. Verliert dieser Sport damit sein Negativimage zugunsten bedeutender Ziele wie die einstige mesotes? Das Folgende wird die Frage ausleuchten, so wie ebenfalls die Ansichten von »Fitnesswahn« und »Fitnesskult« zur Diskussion um die mesotes gehören. Diese beiden Vorurteile, um mit ihnen zu beginnen, drücken die Übertreibung und die Fremdbestimmung aus. 32 Dem Fitnesssport wird gewöhnlich die Übertreibung unterstellt, die im paketartigen Aufbau von Muskelmasse liegt. Diese oftmals erste Assoziation ist durch historische Stationen prägend geworden. Ende des 19. Jh. blühte in den USA das schon seit der Antike wiederholt aufflackernde Ideal des muskulösen Körpers und der äußersten Muskelkraft auf. Im Blick stand dabei nun nicht das Überleben im Sinne von Selbstverteidigung, sondern der ästhetische Selbstzweck des verherrlichten menschlichen Körpers. Das Bodybuilding als Sportart mit solch extremen Ansprüchen an den Körper etablierte sich daraus ein halbes Jahrhundert später. Mit Verzögerung erreichte es Europa (war allerdings schon, wie in Kapitel 3.1.9 beschrieben, ab 1900 Teil einer Reformgesinnung gewesen, dann in perverser Form von den Nazis stilisiert worden) und blieb lange ein Extremsport für »Verrückte«. Diese manchmal noch heute als Ideal verbreitete Art in Werbung und Ausübung, auf die Masse der Menschen bezogen, habe Deutlich bleibt der Skopus der Außenwirkung bestehen in der Monografie von Bernd Wedemeyer: Starke Männer, starke Frauen. Eine Kulturgeschichte des Bodybuildings, die über die gesundheitlichen Aspekte des Bodybuilding nichts aussagt (außer dem Allgemeinaspekt der Volksertüchtigung bei der 1900-Reformgesinnung), obwohl dieses im Erscheinungsjahr des Buches (1996) schon in der Entwicklung zum Breitensport stand, der ja insgesamt ab den 1970ern, wie eingangs FN 3 erklärte, von zunehmenden Zivilisationsleiden inauguriert war. Vgl. Wedemeyers Skopus bes. ausgeprägt im langen Kapitel über Narzissmus und Öffentlichkeitsarbeit, S. 23–82.

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sich aber gelegt, so die Literatur zum Thema. Doch wird es noch dem professionellen Bodybuilding zugestanden, wobei Züge von Protzerei und Chauvinismus sowie schwere anabolische Manipulationen damit einhergehen. 33 Die jetzigen Fitnesseinrichtungen haben sich von den historischen Wurzeln isoliert und ein neues, volkstümliches Profil entwickelt. Selbst die Wirkung einer Jane Fonda, deren Körperbild ab den 1970ern Frauen Zutritt an die Gewichte verschaffte, ist heute weithin vergessen. 34 Fitnessstudios sprechen die Masse an und können daher nicht mehr mit Jane Fonda oder Arnold Schwarzenegger posieren. Auch wenn es unter den Amateuren weiter Muskelmänner und Muskelweiber geben wird (und der männliche »Waschbrettbauch«, englisch sixpack aufgrund idealerweise sechs Muskelwölbungen, ein Schönheitsidol darstellt), kommen durchweg anders Gesinnte in die Studios. 35 Beim erfahrungsgemäß ein- oder maximal zweimal wöchentlichen Besuch (der Trainingsrhythmus hätte in der Befragung mit erfasst werden sollen, wie jetzt auffällt), ist paketartiger Muskelaufbau nicht möglich, meint die Verfasserin dieser Arbeit, schon gar nicht bei Frauen. Gewünscht wird heute offensichtlich von der Masse der Akteure, Frauen und Männern, wie man beim Einblicken in ein Fitnessstudio erleben kann, ein gewisser Muskelaufbau im Rahmen der Möglichkeiten, ein Fettabbau und sicher eine athletischere Statur, im Jargon: der straffe Body – nennen wir ihn im FolVgl. ebd., S. 54–66. Das weibliche Bodybuilding kam damit auch als Wettkampfdisziplin auf, die von dem prallen Muskelbild bald abrückte, weil die männlichen Schiedsrichter sehen wollten, was sie immer schon gern sahen, nämlich Frauen, die trotz der Kraft zum Gewichtestemmen grazile Posen auf den Siegerbrettern abgaben. So wurde die »straffe Frau« geboren, wie sie heute voll im Trend liegt. Beim Profisport wurde inzwischen in »Bodybuildingklasse« und »Fitnessklasse«, Letztere eher eine Schönheitskonkurrenz, unterteilt, vgl. ebd., S. 79–81. Vgl. auch die Analysen von Dilger, Erika, wie mit dem Zustrom von Frauen, mit neuen Studiokonzeptionen und einem zunehmenden Begleitprodukte-Angebot das Bodybuilding seinen Wettkampfcharakter verlor und zum individualisierten »Sport für alle«, darunter auch Senioren, wurde: Fitnessbewegung, S. 406 f. 35 Der zitierte Abschnitt Bernd Wedemeyers: Starke Männer, S. 79–81, erörtert i. S. v. FN 32 nicht, ob es auch andere, insbes. medizinische Gründe als rein ästhetische geben könnte. Hierauf geht aber die Untersuchung von Erika Dilger ein, nämlich dass in der 1970er-Anfangsphase der allgemeinen Sportbewegung in Deutschland einzelne Mediziner auf den Wert des Bodybuildung für die Gesundheit hinwiesen: Fitnessbewegung, S. 306 f., auch 406 f. Das aktuelle Profil dieses Sports wurde in FN 28 schon beschrieben. 33 34

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

genden den straffen Körper. Ob der straffe Körper das Maß der menschentypischen Körperverfassung überschreitet, soll weiter unten zur Frage »Schönheit« diskutiert werden. Vorweggenommen wird hier die Verfassermeinung, dass er es nicht unbedingt tut, jedenfalls nicht in problematischer Weise. An genannter Stelle wird diese Meinung erhärtet werden. Das Problem der mesotes liegt damit wohl nicht im heutigen Breiten-Fitnesssport seiner Ausübung nach, sondern außerhalb des Studios, nämlich im Umgang mit dieser Sportart, d. h. in der Form ihrer Vermarktung und Akzeptanz. Die Vermarktung von Fitness geschieht wie alles Marketing heute als Massenvermarktung und folgt von daher breit akzeptierbaren Menschenbildern, und zwar im Rahmen eines ganzen Lebensstils, den sie anspricht und weckt. Das bekannte Bild von Fitness oder Fitsein (vgl. die knackige Hausfrau auf der Waschmittelbox, den drahtigen Kundenbetreuer im Hochglanzflyer), das durchaus Menschen in Extreme wie z. B. die Magersucht oder den pharmazeutischen Missbrauch treiben kann, ist, auf die Masse bezogen, heute überlagert von der Propagierung eines wohlständischen Lebensstils. Hier geht es um materielle Allverfügbarkeit, um persönliche Bequemlichkeit sowie, in deren Folge gesehen, Unselbstständigkeit. 36 Wenn »Wahn« und »Kult« zutreffen, dann liegen sie sicher hierin: dass die Masse dem Wohlstandsstil folgt und sich in Abgabe der Selbstverantwortung für das eigene Leben fremdbestimmen lässt – also »Fremdbestimmung« trifft zu, »Übertreibung« dagegen besteht im gesamten Konsumverhalten. Fitnesssport wirkt, bis hierher gesehen, wie eines unter vielen Konsumangeboten. Ein Beispiel aus der Beobachtung der Verfasserin, das sich vermutlich an beliebigen Orten Deutschlands in ähnlicher Weise wiederholt, soll das Gesagte erhärten: In einem ländlichen Ort dieser Befragung befindet sich einige Häuser neben dem Fitnessstudio die Filiale einer Bistro-Café-Kette, die die betreffende Landregion seit einigen Jahren überspannt. Das Café dieses Ortes zieht mit gewöhnlicher

Vgl. den Artikel von Natalie Klüver zum Lebensgefühl der nachrückenden Generation: Generation Y, in: NZ-Magazin am Wochenende, 27./28. 7. 2014, S. 1. »Y« steht für »Why«, d. h. »Why should I?« – gemeint: »mich so quälen wie meine Eltern, es sei ja alles leicht verfügbar.« Hochleistungs-Vorbilder wirken hier verkrampft und kommen nicht an. Gute computertechnische Fertigkeiten, eine gelassene Leistungsbereitschaft, geringe Verantwortungsbereitschaft und unbekümmerte Konsumfreudigkeit würden diese Generation kennzeichnen.

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Massenkost und mit Einrichtung im trendigen Chic zu allen Tageszeiten Scharen von Menschen an. Regelmäßig vormittags sitzt dort für mehrere Stunden eine zehnköpfige Gruppe junger Frauen zum »Brunchen«. An manchen Nachmittagen sind einige dieser Frauen im Fitnessstudio wiederzutreffen. Vermutlich drängt es sie hierher, um sich zu bewegen, Pfunde weg- und Straffheit anzutrainieren. Der Logik nach gibt der Lebensstil dieser Frauen (die, wie gesagt, repräsentativ anzusehen sind) ein groteskes Bild ab. Ihr »Ausgleich« gegen gewohnheitsmäßig absichtlich ungünstiges Verhalten in Bezug auf die Gesundheit ist kein Ausgleich im diätetischen Sinne, sondern muss eher als ein Luxus der Verantwortungslosigkeit angesehen werden. Das Fitnessstudio mit seinen zahlreichen Pluspunkten und dem schnellen Erfolgserlebnis macht es also möglich, dass nicht nur der geplagte LKW-Fahrer mangels Ausgleichsmöglichkeit im eigenen Leben hier wirklich diätetische Hilfe finden kann, sondern dass bei der Masse ein unechter, ein Luxusausgleich, gefördert wird. Fitness bietet damit im Bund mit der gesamten Konsumwelt ein Sortiment an für viele Wünsche und Bequemlichkeiten. Insofern muss man sein Leben nicht selber gestalten, sich Gedanken machen über mehr körperliche Bewegung und weniger Trägheit im Alltag – »es gibt ja das Fitnessstudio«, könnte man sagen. Das Fitnessstudio kann so geradezu zum Alibi für die Nachlässigkeit in den eigenen Dingen werden oder, andersherum gesehen, zur Beruhigung des schlechten Gewissens gegenüber sich selbst sowie als Mittel, um durch fittes Äußeres mithalten zu können, wobei man relativ bequem lebt. Es kann und darf von außen nicht beurteilt werden, bei welchem einzelnen Menschen die Bedrängnis eines LKW-Fahrers gegeben ist und wo das »Relaxen« nach Art der Frühstücksfrauen zu finden ist. Im diätetischen Sinn geht die Achse verantwortlicher oder unverantwortlicher Lebensführung durch jeden Menschen. Doch dass Einrichtungen wie das Fitnessstudio in Synergie mit dem übrigen Konsumangebot die Verantwortung zur selbstständigen Lebensführung massenwirksam abnehmen können, wäre diätetisch gesehen das Problem. Dabei geht es hier nicht um konkrete Alltagshandlungen wie z. B. Treppensteigen statt Liftfahren oder Radfahren statt Autobenutzung, sondern, diesen vorausliegend, um den Willen, die Intuition und Kreativität für die individuelle Lebensgestaltung. Eine Karikatur der amerikanischen Naturheilpresse, ein Mann auf einer Rolltreppe ins Fitnessstudio, drückt ebenfalls aus, dass die wohlhabende Menschheit das Empfinden und Anwenden ihrer naheliegenden und 256 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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ureigenen Möglichkeiten verliert. 37 Das Fitnessstudio leistet insofern einer allgemeinen Bequemlichkeit Vorschub (die bequeme Ausrichtung ergibt sich auch schon aus seiner Angliederung von Angeboten der »Wellness«), nicht der Quälerei, wie die eingangs zitierten Vorurteile es äußerten. Damit schaltet das Fitnessstudio die mesotes-Findung einer ganzheitlichen Lebensführung von seinem Prinzip her aus. Menschliche Eigenschaften wie soeben genannt wären der in Teil 3 mehrmals diskutierten Capability zuzuordnen oder, im Muster der alten Diätetik, der paideia und der arete, die mithin ebenfalls ausgeschaltet bleiben. 38 Kommen wir nun, um mit den Daten fortzusetzen, zur Frage »Schönheit«. 46 Personen der Befragten bejahen sie als Grund zum Fitnesstreiben. Bei der Frageformulierung war überlegt worden, ob von »Aussehen« anstatt von »Schönheit« zu sprechen wäre, doch schien dann klar, dass erstens immer das schöne Aussehen gemeint ist und zweitens in beides gesellschaftliche Vorbilder im hohen Maß einfließen. Es gibt dafür keinen neutralen Begriff. Die Befragten antworteten anscheinend ohne Verständnisproblem zügig und hatten zum positiven Bekenntnis keine Hemmungen (es gab hier keine EntDer Verfasserin begegnete in der Fachpresse mehrmals diese Fotografie, »Fitness auf Amerikanisch«: Das im ersten Stock gelegene Fitnessstudio ist über eine Treppe und über eine Rolltreppe zu erreichen. Ein Mann in der Statur amerikanischer Fastfood-Esser ist bei seinem Weg zum Training auf der Rolltreppe zu sehen. Jetzt zu finden unter www.lustich.de/bilder/andere/fitness, 19. 5. 2014. 38 Erika Dilger beschreibt für die aktuelle Zeit in Deutschland eine allgemeine »Versportlichung«, wobei dieser Laiensport im Verbund mit dem allseitigen Kommerz ein »nicht-sportlicher Sport« genannt werden müsse: Fitnessbewegung, S. 409. Dazu passen wiederholte Meldungen, dass Deutsche aufs Ganze gesehen ungesund leben, vgl. die dpa-Meldung: Deutsche leben ungesund. Zu gestresst, zu dick, zu unbeweglich, in: NZ 11. 8. 2010, S. 1, dazu den dpa-Kommentar auf S. 2, wonach nur jeder Siebte gesund lebe und die meisten »Bewegungsmuffel« seien. Das darf aber nicht zu Vorurteilen gegen übergewichtige Menschen führen. Einem anderen Artikel zufolge gäbe es viele Deutsche, die sich reichlich bewegen und trotzdem übergewichtig sind. Insgesamt scheint in Deutschland auch der mentale Stress ein hoher Faktor zu sein, der den Speiseplan durchkreuze oder allein schon psychosomatisch in den Stoffwechsel eingreife. Das Übergewicht sei allerdings Problem aller Industrieländer, vgl. Scherfenberg, Evelyn: Dick und diffamiert. Eine vorurteilsbeladene Debatte …, in: NZ-Magazin am Wochenende, 9./10. 8. 2014, S. 1. D. Verf. erfährt in der komplementärmedizinischen Diskussion oft die Erwägung, dass es in D. auch um Stress gehe, den man sich selber mache durch Haben-Wollen / Erreichen-Wollen / Ansammeln zu vieler Güter und Ziele. Letztlich wirken beim Übergewicht individuell und kollektiv sicher viele Faktoren zusammen, die für harmonischere Lebensmuster plädieren lassen. Vgl. v. a. im Zusammenhang seelischen Leidens FN 224 u. 279. 37

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haltungen), was die Publizität der Sache mit unterstreicht. Heute braucht man sich nicht unbedingt ins Private zurückziehen beim Abspecken wie ähnlich beim Make-Up-Auflegen. Wie ist nun die hohe Motivation »Schönheit« zu beurteilen? Frappierend steht sie in ihrer Bewertung im Zusammenhang mit Körpergewicht, Bewegungsmangel und Entspannung / Ausgleich. Die Betroffenen wollen also nicht nur schöner aussehen, sondern speziell auch schlanker werden, empfinden ihre Bewegung als mangelhaft und suchen Ablenkung vom einseitigen Stress bzw. den positiven Ausgleich für den vernachlässigten Körper. Mit »Ausgleich« sind sicher auch körperliche Herausforderungen gemeint, die die heutige Lebensweise nicht mehr mit sich bringt. Es ist schwer zu ergründen, wie persönlich diese Motivationen gefärbt sind. Alle in den Fragen verwendeten Begriffe sind allgemeine Schlagworte, je nachdem, wie weit das Individuum vom Zeitgeist absorbiert ist und wie es die Begriffe versteht. Z. B. ist »Bewegungsmangel« sowohl ein medizinischer Appell mit der persönlichen Wirkung des »Ich muss mich mehr bewegen, damit ich abnehme / gesünder lebe« als auch einer der Schönheitsbilder: »Ich muss mich mehr bewegen, damit ich schlanker / besser aussehe«. Trotzdem lässt der auffällige Zusammenhang der vier Motivationen (Schönheit, Körpergewicht, Bewegungsmangel, Entspannung / Ausgleich) vermuten, dass auch persönliches Unwohlsein dahintersteckt und die Ahnung, dass das übliche Leben der Wohlstandsgesellschaft verkehrt ist. Weiterhin zum Beispiel der Bewegung sei angemerkt, dass diese ja nicht nur ein Ausüben ist, das mühsam sein oder Glücksgefühle verursachen kann, sondern sie meint auch die Beweglichkeit überhaupt, deren Verlust einen ständigen Verdruss bewirken kann und in häufigen Fällen auch körperliche Schmerzen. Um nochmals die Kritik am Wunsch nach dem straffen Körper zu entkräften: Unter den Besuchern eines gewöhnlichen Fitnessstudios (also abgesehen von elitären Männertreffs im traditionellen Sinne dieses Sports) bekommt der Betrachter zum Teil unförmige Körper zu sehen, die mit den Folgen des allgemein ungesunden Lebensstils kämpfen. Das muss wohl als allgemein positiver Effekt des Fitnessstudios angesehen werden: Gäbe es die übrigen WohlstandsElemente, aber das Fitnessstudio nicht, wäre es um die Volksgesundheit vermutlich noch schlechter bestellt. 39 Die Deutung wagt es, uns Vgl. nochmals die Begriffs-Zuschreibungen einer Sportwissenschaftlerin nach FN 38 sowie die Zahlen der Studios und Ausübenden nach FN 28.

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Zeitgenossen ein Leiden unter dem gängigen Lebensstil und ein Wissen um das aus dem Lot geratene Wohlstandleben zu unterstellen. Das soll durch einen Witz erhärtet werden. Die Karikatur und der Witz erreichen ja deshalb unsere Zustimmung, weil sie Tatsachen aussprechen, die uns innerlich beschäftigen. Folgender Gesundheitswitz begegnete der Verfasserin vor wenigen Jahren in einer Tageszeitung: Eine korpulente Frau bekommt vom Arzt drei Mal täglich hundert Pillen verschrieben. »Und die soll ich alle schlucken?« – »Nein! Auf den Fußboden schütten und wieder einsammeln!« Von einem Ist-Zustand einerseits, den wir als lädiert empfinden, zurück zu einem erahnten vormaligen Zustand mit insoweit günstigeren Lebensumständen und Effekten auf den Körper andererseits, soll nun hergeleitet werden, was am straffen Körper eigentlich so verkehrt sein soll, vorausgesetzt, dass er außer durch Marketing von einem gewissen Maß persönlichen und allgemeinen Leidens motiviert ist. Diese Herleitung soll in zwei Linien geschehen, die nachfolgend zwei Einschübe bilden werden. Die erste Linie leitet gedanklich her, inwiefern der gängige bewegungsarme Lebensstil, der zwangsläufig mollige Körper kreiert, abnorm ist (dabei spielt gewiss auch gewohnheitsmäßiges Fastfood eine Rolle). Der Blick in Biologie und Kulturgeschichte erweist Menschen ihren Möglichkeiten nach als Lebewesen mit äußerst großem Bewegungsspektrum, sowohl grob- als auch feinmotorisch gesehen. Menschen waren es, die Werkzeuge entwickelten, womit sich ihr Wirkbereich vergrößerte, zugleich ihr Körpereinsatz, aufs Ganze ihres Tuns bezogen, jahrtausendelang weiter gefordert wurde. Bis zur Industrialisierung war die Mehrzahl der Menschen den ganzen Tag auf den Beinen und körperlich aktiv. Von allen Menschen (auch von den Reichen mehr oder weniger) wurden rund um die Uhr die schweren Gegenstände des täglichen Bedarfs gehoben. Allein die Kleidung aus Leinen, Wolle, Pelz und Leder wurde buchstäblich am Leib »getragen«, bei den Reichen sogar üppig, noch dazu viel Schmuck, Waffen und Zubehör aus Metall bei Potentaten und Kriegern. Die Menschen dieser Zeiten, wenn wir sie nicht schon von Bildern her kennen, können gar nicht anders als eine trainierte Erscheinung besessen haben. Historisch bewertet und auch bemessen an den Anlagen und Möglichkeiten der Menschen, muss die abrupte Einstellung der Mobilität und Kraftausübung mit den körperlich bequem gewordenen Verhältnissen des Wohlstands, noch zuzüglich der rein mentalen Beanspruchung dieser Zeit, eine nie gewesene Degenerie259 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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rung für die entsprechenden Körperfunktionen bedeuten. 40 Zu berücksichtigen ist noch, dass das Nahrungsangebot früherer Jahrhunderte allgemein viel geringer als heute war. Die Redensart »viel Steine gab es und wenig Brot« ist ein Ausspruch, den man sogar noch jetzt von sehr alten Bewohnern ländlicher Gegenden hören kann. Er dürfte treffend das Verhältnis von Lebensvoraussetzungen und eigenem Einsatz im früheren Alltag ausdrücken und auf eine überwiegend zähe Erscheinung früherer Menschen schließen lassen. Die zweite Linie, eigentlich schon ein Beweis, liefert das Bild. Die diätetischen Aufzeichnungen der Vorfahren hinterließen reichlich Bildmaterial, an dem Körper studiert werden können. Zum einen, wie wir z. B. von Museumsexponaten her wissen, waren frühere Menschen kleiner, was mit den erwähnten Gewichtslasten zu tun gehabt haben kann sowie sicher auch mit ernährungsmedizinischen und anderen hier nicht zu erörternden Gründen. In der Regel sieht man außerdem sehr reine Haut, was vermuten lässt, dass die Künstler die damals allüblichen Pockennarben und Brandwunden außer im exemplarischen Fall geflissentlich wegließen. Suchen wir nun speziell nach dem »pummeligen« Körper und durchblättern wir dazu ein Buch mit vielen Abbildungen wie Heinrich Schipperges’ »Garten der Gesundheit. Medizin im Mittelalter«. Es handelt sich überwiegend um Illustrationen aus Handschriften für den medizinischen und volkstümlichen Gebrauch in der Art der Regimina. Zunächst fällt auf: Sämtliche abgebildete Menschen, ob Ärzte, Kranke, Reiche, Arme, Frauen, Männer, sind schlank. Von den ca. 25 Abbildungen, unter denen wenige wegen Darstellungsart und Bekleidung für die gewünschte Inspizierung nicht geeignet sind, sollen 10 vorgestellt werden: 41 S. 50: Ein Toter wird fürs Begräbnis zugerüstet. Am unbekleideten Körper sind trotz dessen Erschlaffung deutlich die Muskeln der Schultern, Ober- und Unterarme zu sehen. Dieser bewegungsarme Wohlstand dürfte in Deutschland ab den 1970er-Jahren anzusetzen sein. Vgl. den Bildband von Schmidt, Norbert: Landleben in den 50er und 60er Jahren: Außer bei relativ kurzen Strecken auf dem Traktor (den nicht jeder Bauer hatte) war die Landbevölkerung von morgens bis abends auf den Beinen. Der gesamte Band zeigt kaum Motorisierung. – Die deutschen Städte dieser Zeit wurden bestimmt von Trümmerbeseitigung und baulicher Erneuerung, beides zum großen Teil in Handarbeit. Öffentliche und private Motorisierung wurde aber immer begehrter. Vgl. den Bildband von Wisser, Horst: Stadtleben in den 50er und 60er Jahren. 41 Schipperges, Heinrich: Garten, Seitenangeben folgen im Haupttext. 40

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S. 59: Eine stilisierte Darstellung Hiobs, dessen Nacktheit hier wohl seine menschliche Mittellosigkeit symbolisieren soll. Dabei ist die ganze Muskulatur an Gliedmaßen, Füßen und Rumpf stark ausgeprägt nach Art griechischer Heldenbilder und unterstreicht eine zäh aufwärts gerichtete Körperhaltung hin zu Gott. Was hier offensichtlich als künstlerischer Ausdruck des Flehens gewählt wurde, unterscheidet sich dennoch stark von modernen Hiobsdarstellungen 42, die nicht den muskulären Ausdruck kennen. Das Muskelbild scheint demnach früher etwas Lebensübliches gewesen zu sein. S. 104: Eine Aderlass-Szene. Die konzentriert-geneigte Haltung des Mediziners lässt kräftige Muskeln der Ober- und Unterarme, der Schenkel und Waden erkennen. S. 105: Eine typische Wundenmann-Darstellung, mit praller Muskulatur an Schultern, Armen, Gesäß, Schenkeln und Waden, wie sie die heutige biologische und medizinische Literatur in ihren Skizzen nicht abbildet. S. 190: Ein Kranker liegt mit unbedecktem Oberkörper im Bett. Armmuskeln und ein robuster Oberkörper sind zu sehen. S. 210: Eine Hospitalszene lässt ähnlich wie soeben beschrieben die Armmuskeln zweier Kranker (trotz ihres evtl. schon längeren Liegens) erkennen. S. 215: Eine Badeszene. Bei dem Paar in einander zugewandten Badetrögen ist ein Arm des Mannes erkennbar, dessen Muskel sich in der Beuge stark wölbt. S. 218: Ein Ritter im Bad. Die Muskulatur des einen gespannten, des andern zu einer Dienerin ausgestreckten Armes ist deutlich erkennbar. Der Oberkörper dieses Trainierten wirkt sehr kräftig. Die einen Trank reichende Dienerin sowie eine Musikantin erzeugen jeweils mit ihren angespannten Unterarmen eine kräftige Muskelwölbung. S. 264: Der »Umgang mit den Leidenschaften«. Bei einem Zornigen zeigt sich prall der Wadenmuskel des gestreckten nackten Beines. S. 248: Ernte der Feldfrüchte. Ein mit Früchten Herbeieilender lässt unter einem fliegenden Rock pralle Muskeln der Schenkel und Waden erkennen. Z. B. die Hiob-Skulptur des Bildhauers Gerhard Marcks (1957) vor der Kirche St. Klara, Königstraße 64, 90402 Nürnberg.

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Diese Muskeldarstellungen insgesamt nur als künstlerische Mittel zur Darstellung etwa von Konzentration und Aktivität zu erklären, erscheint angesichts der oft entspannten Szenen (Kranke, Tote) unwahrscheinlich und gegenüber modernen Illustrationen, die eben die Muskeln (außer eben für Spezialzwecke) nicht oder nicht deutlich abbilden, falsch beurteilt. Die Üblichkeit von Muskeldarstellungen dieser und überhaupt früherer Bilder lässt vielmehr darauf schließen, dass muskulöse Menschen das alltägliche Bild abgaben. Hinzu kommt eine motorische Gespanntheit, wie sie diese und alte Darstellungen abbilden, die ein schwaches Körpergewebe nicht erzeugen würde. Von daher muss der straffe Körper eher als etwas Menschentypisches angesehen werden denn als etwas Abnormes. Im Grunde ist er etwas Biologisch-Typisches: Kein wildes Tier der freien Natur verliert bis ins hohe Alter seine Schnelligkeit, seine dynamische Statur und seine muskulöse Kraft. Jedoch domestizierte Tiere werden in ähnlicher Weise wie bewegungsarm lebende Menschen Opfer von Degeneration. Im Vergleich zu ihnen besäße der Mensch, der auf die naturhaft vorgegebenen Stoffwechselfunktionen zu einem großen Teil verantwortlich reagieren kann, gute Anlagen zur Gesunderhaltung. 43 Nach den beiden Einschüben muss also angenommen werden, dass heutige Aktivitäten zum Erreichen eines straffen Körpers stark mit einem individuell und kollektiv mehr oder weniger bewussten Leiden an der Abnormität unserer Lebensweise zu tun haben. Es stellt sich die Frage, was in der Gegenwart eigentlich zur gelungenen mesotes-Findung im Bereich der körperlichen Fitness selbstbestimmt getan werden kann? Wo die Phantasie zur Bewegung verlorengegangen ist, wirkt jeder Vorschlag moralistisch-spießig oder kommerziell manipulierend. Wirklich Sinn dürfte der pädagogische Weg machen, bereits bei den Kleinsten motorische Fähigkeiten sich bilden und ausleben zu lassen. Medizinisch ist heute klar, dass die Entwicklung zur weichen Körpermasse durch Bewegungsmangel, nämlich besonders ab dem Schulalter, absehbar ist und tatsächlich frühe und unheilbare Leiden evoziert. Zur Gegensteuerung überlassen Titel erfahrener Pädagogen wie »Schafft die Stühle ab« die Kinder ihrer eigenen Natur »Degeneration«: Der Begriff scheint auch beim Menschen berechtigt zu sein. Das zeigt sich u. a. darin: Viele Gegenstände im Zusammenhang mit der Körperhaltung (z. B. dem Sitzen oder Liegen) werden inzwischen so konzipiert, dass sich der allgemein als unbeweglich angenommene Körper nicht mehr an diese anpassen muss, sondern die Produkte sollen sich dem Körper anpassen. Z. B. Bürostühle, Bettmatratzen, Lattenroste sind damit sehr teure Hightech-Produkte geworden.

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und auch der freien Natur. So wird ihnen neben den psychosozialen Effekten, behandelt im Goethe-Kapitel, die sichtbar angeborene Lust an der Bewegung nicht abgewöhnt. Nach Bericht der hier zitierten Autorin, einer erfahrenen Sportpädagogin, entwickeln solche Kinder Sinn für Risikoeinschätzung und Beherrschbarkeit von Aufgaben aller Art, mithin Mut, Selbstbewusstsein und Verantwortlichkeitsgefühl, weil ihnen entsprechende Erfahrungen nicht von vorgesetzten Mitteln abgenommen wurden. Dass beim Kleinkind mit dem in ihm angelegten Bewegungsdrang prinzipiell das Lernen erfolgt (insofern dies über die Sinne verläuft anstatt kognitiv) sowie auch die körperliche Gesundheit aufgebaut und trainiert wird, ist dabei ein Programm der Biologie. Es kann den Hang zum Zweckrationalismus erwachsener Lebensführung und eine so gelenkte Sportausübung eigentlich überflüssig machen. 44 Das Fitnessstudio zeigt sich nach dem bisher hier Ermittelten als ambivalent: Für Menschen, die zum Bestreiten ihrer Existenz andauernd unter Strom stehen und den vernachlässigten Körper mitsamt seelischem Erleben notgedrungen durch den Tag bringen, kann der Fitnesssport eine gesundheitlich und diätetisch notwendige sowie hilfreiche Korrektur bilden. Zugleich kann er mit seinen beschriebenen Vorzügen und Effekten verhindern, dass allgemein mehr rebelliert wird gegen einen uns abverlangten Lebensstil (vgl. Lern- und Arbeitsbedingungen; ins Private reichender Zwang zum Mithalten am Computer) gegen unsere Biologie und Leiblichkeit. 45 Übrigens Vgl. Zimmer, Renate: Schafft Stühle ab, S. 8–28. Diese Autorin betont, wie unanatomisch sich generell die Sitzgesellschaft verhält und wie seelisch qualvoll das Sitzen im Verhältnis zur Neugierde der Kinder ist: S. 12–14. Vgl. in positive Richtung die Versuche mit dem Stehpult für Schüler, FN 327. In den orthopädisch-seelisch-geistigen Verbindungen bei Renate Zimmer meldet sich das Freiheitsgespür der Rousseauisten und der Goethezeit wieder, wie es im Kapitel 3.1.7 beschrieben wurde. 45 Leiblichkeit, Gesellschaftsdruck: Was Bewegung nicht nur körperlich, sondern auch gefühlsmäßig und geistig bedeuten kann, wird das nächste Kapitel zum Jogging und Walking behandeln. Beim Fitnesssport scheinen die leiblichen Beziehungen noch nicht sehr bewusst zu sein, wie sich sogleich im Fortgang der Untersuchung (zu Fragen 8.13–8.15) zeigen wird. – Beispiel zu Lernbedingungen und Bewegung: Der Verfasserin ist bekannt, dass technische Studiengänge immer mehr auf Laborpraktika (stehend an Experimentiertischen) verzichten und die Studenten stattdessen Versuche am Computer simulieren lassen. – Nochmals zum gängigen Lebensstil, medizinisch untersucht: Das Werk des in FN 14 zitierten engagierten Arztes Lothar Wendt wird heute umfassend fortgeführt von seinem Sohn Dr. Thomas Wendt. Dessen Botschaft könnte man auf den Punkt bringen: Wie werde ich am besten krank? Indem ich mich nie mit den naturgegebenen Funktionsweisen des eigenen Organismus beschäftige, 44

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liegt bei den zuletzt gründlich diskutierten Fragebereichen »Entspannung« und »Schönheit« wie schon auch vorher meistens das Land – zum Teil weit – vorn. Hier scheinen tatsächlich Bewusstsein und Motivation ernsthafter ausgeprägt zu sein als in der Stadt, und es mag sich das rousseausche-goethesche Empfinden bewahrheiten, dass eine natürliche Umgebung die menschliche Sensibilität schärft. Die Frage bleibt offen, was die in 8.1 den Gesundheitsaspekt hoch bejahenden Stadtbewohner darunter verstehen, insofern als sie die Unterpunkte eher verneinten. Es soll nun weiter mit den Befragungsergebnissen gehen. 8.13 psychische Gründe (Grenzerfahrung, Selbstbewusstsein, sicheres Gefühl) 8.14 soziale Gründe (um nicht allein zu sein, treffe Andere / Bekannte / Clique usw.) 8.15 Sport (auf alle ausgeübten Sportarten bezogen) und Naturerlebnis? Danach ist der Fitnesssport für nur 17 Personen der Befragten in psychischer Hinsicht wichtig, auch hier vom »Land« angeführt. Insgesamt wirkt das Ergebnis mager gegenüber häufigen Meldungen in Medien und Literatur, wonach das Sporttreiben glücklich machen soll und die Sporterfolge das Selbstbewusstsein stärken (vgl. auch das in der Einleitung zu diesem Kapitel 4.1.2 Postulierte). 46 Es passt zu den vorherigen Antworten, nach denen der Fitnesssport zweckorientiert ausgeübt wird. Da der stark besetzte »Ausgleich« in der Regel auch eine psychische Komponente hat, hätten dies bei 61 Ja-Sagern in Frage 8.11 an jetziger Stelle 44 Personen nicht bedacht. Auch das erweist die Akteure als eher pragmatisch ausgerichtet, wenig reflektierend. Bei geringem psychischen Gewicht kann außerdem kaum eine »Sucht« nachdem ich es schon von Eltern, Schule, Ausbildern, Hochschule, Medien nicht lernte. Vgl. Wendt, Thomas: Das Konzept der Eiweißspeicherkrankheiten, Vortragsfolien zu: 100stes Treffen der Arthrose-Selbsthilfe, Felsenberg 5. August 2008 (Kuratoren: Deutsche Rentenversicherung, J. W. v. Goethe-Univ. Frankf. u. a.). Allerdings müsste Eigenverantwortung verstärkt an psychotherapeutisch bestimmte Persönlichkeitsbildung gekoppelt sein, vgl. FN 224, FN 279. Bloße Gegenappelle äußern sich inzwischen laut, vgl. den Artikel von Hollersen, Wiebke: Wir sitzen uns zu Tode … Selbst Sport gleicht das nicht aus, Hauptart. in: Welt am Sonntag Nr. 31 / 3. 8. 2014, S. 14– 16. 46 Ein großer Verfechter der »ganzheitlichen Effekte« des Sports, ist der Sportmediziner und Publizist (»Fitnesspapst«) Ulrich Strunz, vgl.: Forever Young, S. 60–63.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

zutreffen, die als Motivation zum Weitermachen oft unterstellt wird, oder sie wäre den Ausübenden nicht bewusst. Letztlich entschärft sich der Punkt »Sucht / Übertreibung« schon angesichts einer wie erörtert eher gemäßigten Ausübungsweise der Masse, bei der die Übertreibung im allgemeinen Konsumverhalten liegt. Soziale Gründe (Frage 8.14) motivieren 21 Personen der Befragten zum Fitnesssport. Er gibt sich hiernach also überwiegend als Individualsport. 47 Unter den Ja-Antworten der letzten beiden Fragen liegt, wie nun schon fast zu erwarten, das Land höher. Die sich immer wieder zeigende Indifferenz der Städter ist nicht leicht zu interpretieren. Die Frage zum Naturerlebnis wurde komplett verneint, was erschließen lässt, dass für die Teilnehmer der zweckgerichtete Fitnesssport zentral steht und andere Sportarten, sofern ausgeübt, ebenso zweckgerichtet fungieren. Die Frage hätte auch allein auf den Fitnesssport bezogen werden können, insofern manche Studios es ermöglichen, mit Hanteln o. a. Zubehör auf einer Freiluftterrasse zu trainieren. Immerhin geht es beim Training stark auch um die eigene Natur, den Rhythmus des Atmens, den Stoffwechsel, aber das scheint viel zu tief gedacht zu sein. Fitnesssportler nach allen bisherigen Angaben sind Pragmatiker. Wer auf die Terrasse geht, will sich dort sicher nur den Schweiß von einer frischen Brise trocknen oder die gestraffte Haut bräunen lassen anstatt Ganzheit zu erfahren. Zur Frage des Naturverhältnisses beim Fitnesssport kann man gedanklich noch ergänzen, dass insbesondere großstädtische Studios einen 24-StundenÖffnungsturnus anbieten und damit eine von der Arbeitswelt verlangte widernatürliche Lebensweise unterstützen. Als weitgehend unnatürlich sind sicher auch die am Tresen eines Studios angebotenen Sportlernahrungsmittel sowie gewöhnlichen Imbisse anzusehen. Von Teilnehmern benutzte Kleidung und Kosmetik hat, der Beobachtung nach, eher wenig mit Naturbewusstsein zu tun. Nochmals zum Frischluft-Gedanken, sei daran erinnert, dass aer ein als eines der sex non naturales ein klassischer Ausübungsort des Diätetischen war (vgl. Kap. 3.1.1) und sei angemerkt, dass dies auch biologisch elementar der alten Vorstellung vom Leben als »Teilhabe« entspricht. 48An Vgl. die Beschreibung der Sportwissenschaftlerin Erika Dilger in FN 34. Dabei wird nicht allein an den Stoffaustausch der Herz-Blutkreislauf-Funktionen gedacht, sondern das ganze Leben der Erdsphäre ist als ein Ineinander von oxidativen und antioxidativen Systemen angelegt, an denen z. B. der Immunstatus des Körpergewebes, die Verdauungsfunktionen des Darmes, Formen von Katabolismus (Gärung, Fäulnis) u. v. a. m. beteiligt sind. Vgl. schon FN 15. Zugleich zeigt sich: Moderne na-

47 48

265 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

deren Stelle dürfte ein Lebensverständnis einer Arzt Ego-zentrierten Vorteilsmaschinerie getreten sein. 9

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Wenn »Gesundheit« bei 8 zutraf, wie bewerten Sie den Druck der Arbeitswelt (Fehlzeiten vermeiden, leistungsstark sein, im Alter noch mithalten können usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Druck, … 6 = sehr hoher) Wenn »Gesundheit« bei 8 zutraf, wie bewerten Sie den Druck aus dem persönlichen Umfeld (Familie, Freunde), etwas für die Gesundheit zu tun? Bitte Bewertungsnote vergeben Wenn »Gesundheit« bei 8 zutraf, wie bewerten Sie den Einfluss der allgemein gestiegenen Lebenserwartung auf Ihr persönliches Verhalten (lange Altersphase soll möglichst gesund verlaufen, wirtschaftlich: Menschen müssen evtl. länger arbeiten usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben Wenn »Schönheit« und / oder »psychische Gründe« bei 8 zutraf(en), wie bewerten Sie den Druck der Arbeitswelt (selbstbewusst wirken, gute Ausstrahlung haben, leistungsstark wirken, nicht alt wirken usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben Wenn »Schönheit« und / oder »psychische Gründe« bei 8 zutraf(en), wie bewerten Sie den Druck der Gesellschaft (selbstbewusst wirken, gute Ausstrahlung haben, nicht alt wirken usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben

Die Antworten auf die Frage »Druck« bewegen sich insgesamt überwiegend im unteren bis mittleren Bereich. Zur Erinnerung lag bei der Ernährung »Druck der Arbeitswelt auf Gesundheit« recht hoch; er bildete einen stärkeren Kontrast zum persönlichen Umfeld, das beim Fitnesssport als geringfügig mehr druckbelastet angesehen wird. Die Lebenserwartung wiegt insgesamt nicht so hoch wie bei der Ernährung. Schönheit und psychische Gründe werden, dies auch der Logik der vorangegangenen Antworten zufolge, für höher bewertet als in der Ernährungsgruppe. 8 Personen aller Befragten benannten hohen und sehr hohen Druck (Note 5 und 6 addiert) seitens der Arbeitswelt auf Aussehen und Psyche; 11 Personen entsprechend seitens der Ge-

turwissenschaftliche Erkenntnisse stützen das alte Paradigma, wenn hier nur der Gesamtblick mehr gewahrt würde.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

sellschaft. Druck wird also empfunden und zugegeben. Fitness erweist sich danach nochmals als ein Sport, mit dem die Betroffenen etwas wirksam für sich verändern wollen. 14

14.1 14.2 14.3 14.4 14.5 14.6 14.7 … 15

Was tun Sie sonst noch für Fit sein und Gesundheit (im umfassenden Sinn)? Bitte ankreuzen bzw. angeben (Mehreres möglich): gesunde Ernährung Saunabesuche Entspannungstechniken geistige Einstellung (religiöse Einstellung, positives Denken usw.) regelmäßige Kontrolle (evtl. Vorsorgeuntersuchungen) bei Arzt oder Heilpraktiker Kuren / Fasten nichts weiter (freie Antwortmöglichkeiten) Wenn etwas zutraf bei 14, seit wann tun Sie dies?

Die Teilnehmer sind auch anderweitig für die Gesundheit aktiv, am stärksten durch die gesunde Ernährung bei 66 Personen aller Befragten. Die Sauna besuchen 31 Personen. Entspannungstechniken, die geistige Einstellung und die medizinische Kontrolle haben ein gewisses Gewicht nur bei der Landbevölkerung. Zurück zum Saunabesuch, wird auch dieser von ihnen weit mehr bejaht als von den Städtern. Eine Person gab Kuren / Fasten an. Niemand gab »nichts weiter« an, also alle sind mehr als eingleisig aktiv. Die genannten Aktivitäten werden schon recht lange ausgeführt, durchschnittlich ca. 10 Jahre lang. Medizinisch gesehen unterstreichen die Angaben die pragmatische Gesinnung der Fitnesssportler, denn die am höchsten besetzte Kombination von Fitness plus günstiger Ernährung plus Sauna ergibt ein effizientes Stoffwechselprogramm für Körperaufbau und Entschlackung. Wie konsequent das im Einzelfall eingehalten wird, ist sicher eine andere Frage (vgl. das Beispiel der »Frühstücksfrauen«). Z. B. kann eine Sauna je nach Art der Anwendung (zu berücksichtigen auch die Pausenbeschäftigungen wie z. B. ruhen, lesen, sich unterhalten, am Handy telefonieren, essen, Bier trinken, wobei das Letztgenannte an das mittelalterliche Badehaus erinnern könnte) momentane Wohlgefühleffekte einbringen oder dauerhafte Gesundheitseffekte. Auf jeden Fall scheinen sich die Betroffenen von ihren 267 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

Maßnahmen etwas zu erhoffen oder können, wie wir gleich sehen werden, insgesamt Erfolge verbuchen. 16

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Wie bewerten Sie den Erfolg Ihres gesamten Fitness- und Gesundheitsverhaltens im Verhältnis zu Ihren Gründen / Zielen? Bitte Bewertungsnote vergeben Wie bewerten Sie den Aufwand Ihres gesamten Fitness- und Gesundheitsverhaltens im Verhältnis zum Erfolg (Anfahrt, Kosten, Verzicht auf Anderes, körperliche Erschöpfung hinterher, langfristig körperliche Überlastung usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben

Der Erfolg wird durchweg als hoch betrachtet, der Aufwand überwiegend als mittelmäßig bis niedrig. Dass auch niedrigere Erfolgszahlen vergeben wurden, liegt gewiss mit an der Dauer der Sportausübung, d. h. der Dauer, in der sich Erfolge einstellen. Der Kurvenverlauf ähnelt stark dem in der Ernährungsgruppe, mit dem Unterschied, dass dort die Note 4 ungerne vergeben wurde. Wenn die Ernährung somit mehr im Entweder-Oder-Schema bewertet wird, dürfte das stark an der weitgehend ignorierten Konstitutionsfrage liegen, ob man für sich die richtige Ernährung getroffen hat oder nicht (sie ist natürlich auch eine kritische Frage an das Angebot und an Standardisierungen, die sich auf Anbieter und Verbraucherseite manifestiert haben). Dagegen scheint der Fitnesssport unkomplizierten Erfolg zu zeitigen. Während die individuell richtigen Übungen im Fitnesssport leicht zu finden sind und auch die ungünstigste Veranlagung durch das Training beeinflusst werden kann, ist die Ernährung ein viel diffizileres Metier. Gewohnheiten, wie dort diskutiert wurde, schlagen in der Regel erst über Jahre zu Buche. Die Bewertung des Aufwands zeigt sich gegenüber der Ernährung leicht zum höheren Aufwand hin verschoben. Das könnte an der Zeit liegen, die er zur Ausübung abverlangt, wobei »Zeit«, wie in Teil 3 behandelt wurde, uns Heutigen ja als äußerst knappes Gut gilt, d. h. als zerlegbares, geschickt zu disponierendes Objekt und nicht mehr als Prozess, in den unser Leben verwoben ist. Bei der Ernährung fungiert vielleicht eher das Geld als ausschlaggebender Faktor. Der nächste Antwortblock enthält einen weiteren Hinweis zum sportlichen Aufwand.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

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Betreiben Sie ihren Sport gerne? ja teilweise nein

77 Personen aller Befragten bejahten diese Frage. Verneinungen gab es keine. Die »teilweise«-Antworter ergänzten ihre Antwort um Kommentare (ohne dass nachgefragt wurde) in Bezug auf die jeweilige Lust zum Sportbeginn, wie die Interviewerin es vermerkte. Also, das »Sich-Aufraffen-Müssen«, »den inneren Schweinehund überwinden« wirken dämpfend auf die Bewertung, während dann, wenn man erst einmal »drinsteckt« im Training, dieses positiv gesehen wird. Die Hinweise führen zurück zum »Aufwand«, in den solche Überwindungskämpfe vielleicht mit einfließen. Das insgesamt positive Ergebnis widerlegt das Vorurteil des Qualvollen. Selbst der »Schweinehund« wäre nichts spezifisch Qualvolles, denn ihn gibt es vor jeder anderen Art Training, z. B. einem Sprachkurs, auch. Der Fitnesssport erweist sich den soziobiografischen Daten nach wie erwartet als ein Breitensport, und zwar mit Neueinsteigern sowie langzeittreuen Akteuren. Sportwissenschaftliche Arbeiten unterstrichen die Wandlung dieses einst elitären Männersports zum »Sport für alle« (Erika Dilger). Überzeugung an der Sache der Gesundheit ergibt sich aus entsprechenden Bejahungen, so auch aus der genannten Breite der Aktivitäten. Insgesamt werden weit mehr Erfolge als Misserfolge erlebt, und der Sport wird gerne ausgeübt. Gemessen an den kritischen Stimmen, die diese Arbeit eröffneten, zeigt sich der Fitnesssport besser als sein Ruf. So erwiesen die Daten, dass in ihm Menschen Ausgleich suchen (eigentlich etwas Diätetisches) gegen ungünstige Einflüsse wie Stress, Bewegungsmangel und Mangel an körperlichen Herausforderungen sowie deren Wirkungen auf das Körpergewicht und das Aussehen. Ansonsten ergaben die Daten, begleitet von erfahrungsgestützten Überlegungen, dass das Fitnessstudio in seiner Bedeutung etwas äußerlich Vorgegebenes ist. Die persönliche Veranlagung und die Situation des Gesundheitswesens waren für die Befragten genauso wenig Thema wie in der Ernährungsgruppe. Diätetisch sind beide Parameter wichtig, weil sie ausdrücken, was Gesundheit ist von ihren Voraussetzungen her und in ihrer Bedrohtheit, d. h. was sie dem Individuum und der Gemeinschaft abverlangt. Es geht also um Eigenverantwortlichkeit im 269 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

Blick auf die gesamte gesundheitsdienliche Lebensführung. Außendruck in Bezug auf Gesundheit und Schönheit wurde als Grund für das Sporttreiben vielfach zugegeben. Im Antwortenkontext war ein zweckorientiertes, pragmatisches Sport- bzw. Gesundheitsverhalten zu erschließen. Die oft zu lesende Kritik am »Muskelprotz« wurde durch sachliche Erklärungen widerlegt. Dabei zeigte sich die wenige Literatur zum Thema zum Teil als zeitlich überholt. Bei Fitness als Massensport wird aktuell der schlanke, straffe Körper angestrebt. Ob er eine Übertreibung ist wie der »Muskelprotz«, wurde biologisch-kulturhistorisch diskutiert und verneint. Damit war die diätetisch wichtige mesotes-Frage jedoch nicht vom Tisch, genauso wenig wie die häufigen Kritiken von »Kult« und »Wahn«. Gedankenführungen und die Hinweise aus den Daten (Pragmatismus der Ausübenden, Indifferenz der Städter, insgesamt vielfältige Sportausübungen) ließen beim Fitnesssport auf ein beliebtes Produkt unserer breiten Konsumwelt schließen. »Wahn« und »Kult« wären von daher in einer Mitläuferhaltung zu sehen, die pragmatischen Nutzen, Schönheitsbilder (siehe die Angaben zum »Druck«) und allgemeinen Konsumstil vereint. Das heißt nicht, dass nicht Ausübende durch Fitness Hilfe für bessere Gesundheit und Lebensqualität anstreben und finden könnten. In den erstaunlich hohen Angaben zu »Bewegungsmangel« und »Entspannung / Ausgleich« ist sicher auch ein allgemein latentes Leiden und daher ein sehr ernst zu nehmendes Ausgleichsstreben zu lesen, insofern unser wohlständischer Lebensstil unphysiologisch ist und gesundheitliche Degenerationen bewirkt. Weil aber das Fitnessstudio mit vielen leicht verfügbaren Vorteilen eine umfassende Beschäftigung mit der Gesundheit (z. B. in ihrer Beziehung zur Natur und zur Charakterbildung – vgl. diätetisch paideia, arete –, wie es die Angaben sowie Beobachtungen zeigten) ausblendet, dürfte es das Gespür und die Frage, ob bereits in hergebrachter Weise zuträglicher für Muskeln und Gewebe gelebt werden kann, verhindern. Bewegung und Kraftanstrengung als Gegenzug zum Sitzen sowie seelischen Ausgleich zum Stress könnte man auch durch mehr körperliche Arbeit im Alltag erhalten. Der Logik sowie der Beobachtung nach könnte das Fitnessstudio sogar als Alibi fungieren, bequeme und ungesunde Seiten des Alltags beizubehalten. Die mesotes-Findung, die Reflexion macht damit einer Disponier-Mentalität Platz. Zwischen einem erwünschten Körperbild, vielleicht von einem Urbild herrührend (dem durch das Leben trainierten Körper früherer Zei270 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

ten), und dessen Realisierung liegt die Konsumwelt mit dem Fitnessstudio als einem Konsumgut, das die Tendenz hat, selbstbestimmte Lebensführung zu unterdrücken und die Abspaltung der zweckrationalen von der leiblichen Lebensausrichtung voranzutreiben.

4.1.3 Jogging und Walking Wenden wir uns nun einer sehr ursprünglichen Sportart zu, für die man außer dem eigenen Körper, Disziplin und geeignetem Schuhwerk eigentlich nichts weiter braucht. Mit der Joggingwelle der 80er- und 90er-Jahre wurde deutlich, dass sich die zivilisierte Menschheit körperlich vom Ursprünglichen entfernt hat. Klagen der Akteure und Warnungen von Orthopäden wegen geschundener Gelenke lieferten sich Wettläufe mit immer professionelleren Produkten der Sportschuhhersteller. Aus Finnland wurde dann eine Laufform importiert, die dort schon seit 50 Jahren beliebt war. Heute gibt es im Stammland über eine Million Akteure. Entweder im Originalbegriff »Sauvakävely« übernommen oder als »Nordic Walking« übersetzt, hat der drollig anzusehende Stöckellauf europaweit den Rang als Gesundheitssport des 21. Jh. inne. Da eine ähnliche Art schon vorher in den USA aufgekommen war, hat sich allgemein die Kurzform »Walking« durchgesetzt. Die natürliche Bewegung schnellen Gehens wird dabei durch die vorgebeugte Körperhaltung überbetont und durch Handstöcke unterstützt. Der Effekt gegenüber dem Jogging ist neben dem gedämpften Fußaufprall auch die rhythmische Beanspruchung der Motorik des Oberkörpers. In Deutschland soll es inzwischen über tausend Clubs für diesen Sport geben, der ähnlich wie der Fitnesssport kostengünstig ist und keine Altersgrenzen kennt. Krankenkassen unterstützen »Walking« als Therapiemaßnahme, wenn es von anerkannten Trainern geleitet wird. Für diese Untersuchung wurde nicht nach Jogging oder Walking unterschieden, weil sich die Gründe und Umstände für das Ausüben beider Arten zu ähneln schienen. Für untrainierte, ältere, gesundheitlich belastete oder schwangere Personen ist in der Regel nur das Walking angezeigt. Manche routinierten Sportler üben je nach Lust, Wetter- und Bodenverhältnissen beides aus. Im Blick auf die Belastung und den Verschleiß des Bewegungsapparates ist Walking sicher vorzuziehen. 49 49

Vgl. Steffny, Herbert: Laufbuch, S. 105.

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Gesundheitsaktivitäten heute

Jogging bzw. Walking ist nur eine Art dessen, was als Laufsport bezeichnet wird. Nach aktueller Sporttheorie steht hier das genießende Erleben im Vordergrund (»Der Weg ist das Ziel«), im Gegensatz zum wettkampforientierten Running (»Leistung ist das Ziel«). Außerdem gibt es Spezialformen wie z. B. Berg-, Wüsten-, Cross- oder Treppenlauf und natürlich den Marathon, der begrifflich mit dem Jogging verschwimmen kann, sofern eine 42,195-km-Strecke zurückgelegt wird. In der Regel ist es dort weniger, so wie bei den Teilnehmern dieser Studie die Durchschnittstour um die zehn Kilometern lag. Marathon, wie noch angemerkt sei, ist vor allem Mythos. Ob der Lauf eines Soldaten, den 490 v. Chr. der griechische Feldherr Miltiades nach dem Kampf gegen die Perser bei Marathon nach Athen schickte, um »Sieg« zu verkünden, wirklich stattgefunden hat, entzieht sich bisher der Forschung. Jedenfalls wurde er von Getreuen im Jahr 1908 zur Olympiadisziplin gemacht und außerdem in jüngerer Zeit volkstümlich reanimiert mit zahlreichen Veranstaltungen wie Städteläufe, Waldläufe usw. Darüber hinaus ist das Laufen in allen seinen Formen nicht nur Sport, sondern ein tragendes Element der menschlichen biologischen und kulturellen Evolution. 50 Dieser Aspekt soll an inhaltlich passenden Stellen der Dateninterpretation bedacht werden. Die zu behandelnden Daten stammen u. a. aus dem Kursus einer Trainerin im ländlichen Raum, die überwiegend von Kassenärzten empfohlene Patienten betreut. 1 2 3

Geschlecht Alter Formelle Bildung

Mit 56 zu 44 Personen ist die Mehrheit der Teilnehmer weiblich. Allerdings überwiegen nach der Stadt-Land-Aufteilung bei den Männern die Städter. Sollten freiwillige Jogger / Walker überwiegend männlich sein, während die weiblichen hier zum großen Teil aus dem kassenärztlich organisierten Kursus stammen (zumal bekanntermaßen weitaus mehr Frauen als Männer den Arzt aufsuchen)? Der

Vgl. ebd., S. 102, 160 f., 222. Der Autor ist ehemaliger deutscher Langstreckenläufer und betreibt im Schwarzwald eine Laufschule. Sein »großes Laufbuch« hat sich in den letzten Jahren zur Bibel für sportlich und gesundheitlich orientierte Lauforganisationen und Akteure entwickelt. Er kam selber u. a. über gesundheitliche Probleme zum Sport.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

Eindruck drängt sich auf. Das hieße dann, eigentlich ist das Laufen, ein Konditionssport, mehr bei Männern beliebt. Um hier gleich die Ursprünge des Laufens aufzugreifen: Evolutiv gesehen stehen Frauen den Männern im Laufen nicht nach. Wegen ihres geringeren Körpergewichts sind sie sogar im Vorteil. Die Wiege des Laufens liegt wie die Wiege der Menschheit in Ostafrika, wo die frühen aufrechtgehenden Gemeinschaften als Jäger und Sammler zum täglichen »Marathon« aus Überlebenstrieb gezwungen waren. Noch heute stammen die weltbesten Laufsportler aus Ostafrika, Männer wie Frauen. Seit Urzeiten gestaltet sich dort der Tagesablauf gehend und laufend. Er beginnt z. B. für Kinder mit dem Trab zum weit entfernten Schulort, besteht für Frauen in den Gängen zur Wasserbeschaffung und Holzsammlung zum Befeuern des Herdes sowie im stundenlangen Abschreiten der Felder bei deren Bearbeitung. 51 Der westliche Wohlstand hat solche Lebensmuster schon lange überholt. Welchen Motiven das Laufen in den westlichen Industrieländern folgt, werden die späteren Daten zeigen. Das Alter kulminiert stark im mittleren Bereich, bei den Unter50-Jährigen (insgesamt 41 Personen aller Befragten). Hierunter führt besonders das Land weit an. Der besagte Kursus kommt wieder in den Sinn und auch, dass das Laufen etwas mit dem Verspüren des Älterwerdens und der nachlassenden Leistungsfähigkeit ab der Lebensmitte zu tun haben kann. Die Kurve fällt dann relativ steil ab, so wie sie bereits anstieg: Die älteren Jahrgänge sind im Vergleich zum Fitnessstudio relativ schwach vertreten, besonders auch die Unter-20und Unter-30-Jährigen. Offensichtlich empfinden Senioren das angenehm ausgestattete Studio für zuträglicher als die Außenwelt, obwohl es sportmedizinisch für Ältere keine Hindernisse am Konditionssport gäbe. Dieser kann aber heute auch im Fitnessstudio auf Geräten wie dem Laufband ausgeübt werden, was in Kapitel 4.1.2 erwähnt wurde. Das Studio zeigt wieder einmal seine Vorzüge, obwohl physiologisch Sport an frischer Luft sinnvoller wäre. Beachtlich bildet allerdings das Diagramm neun städtische Jogger / Walker zwischen 70 und 80 Jahren ab (zum Vergleich beim Fitnessstudio nur insgesamt 2 Personen). Ob hier vielleicht ein angenehmes Park-

Vgl. ebd., S. 10 f. Der Autor berichtet, dass tatsächlich der europäische AmateurAusdauer(lauf)sport früher Männerdomäne war, doch in den letzten Jahren von Frauen fast eingeholt wird: S. 243.

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Gesundheitsaktivitäten heute

wege-Netz zugrunde liegt (eine beteiligte Stadt mit Schlosspark kommt in den Sinn), kann nicht ermittelt werden. Zur Historie der Fitness- und Gesundheitsbewegung ist anzumerken, dass das Laufen – auch dies ein Aspekt der genannten Volksläufe – vor dem Durchbruch des Fitnessstudios als Sport ohne Alter und insbesondere als Seniorensport galt. Der Fitness- und Gesundheitsbewegung wird heute der »Jugendkult« unterstellt, die Auflehnung gegen das Älterwerden. Ganz im Gegensatz dazu waren die Anfänge der Bewegung in diätetisch zu nennender Weise von der Sorge gekennzeichnet um die allgemein länger werdende Altersperiode und die mit ihr verbundenen Krankheitsleiden. In diesem Sinne trat der Arzt und Leichtathlet Ernst van Aaken ab Ende der 60er-Jahre als Pionier des Volks- und Seniorenlaufsports auf. Er machte gesundheitliche Zusammenhänge publik und begleitete als Arzt Schwerkranke erfolgreich mittels Lauftherapie. Durch seine Fachaufklärung wurde in Schulen und Vereinen dem Langstrecken- statt dem anaeroben (d. h. im Körper viel Sauerstoff verbrauchenden) Kurzstreckenlauf Raum gegeben. 1976 erhielt van Aaken für seine Leistungen an der Volksgesundheit das Bundesverdienstkreuz. Durch einen Verkehrsunfall schwerverletzt, trat er erst spät durch Bücher an die Öffentlichkeit, die sein Engagement widerspiegeln. 52 Im Kontext um van Aaken muss auch über die literarische Seite der Fitness- und Gesundheitsbewegung etwas gesagt werden. Die Bewegung brachte eine breite Medizin-Popularisierung durch das gedruckte Wort mit sich. Anders als bei den Hausfrauen-Ratgebern der Nachkriegszeit, in der die Familienversorgung Blickpunkt war, geht es jetzt um die individuelle Kenntnis des Körpers, das persönliche Fit- und LeistungsstarkSein. Van Aakens Kompendium aus dem Jahr 1974, das weit mehr allgemeinmedizinische Kenntnisse verbreitet als nur lauftechnische, ist wie ein Regimen dieser Phase anzusehen. Die Welle der Massenpublizierung von Fitnessthemen mit ständigen Neuerscheinungen, periodischen Printmedien und schließlich dem Internet hat dem gegenüber, wie es beobachtet werden kann, die Motiv- und Zielsetzungen von Fitness- und Gesundheitsverhalten seither stark veräußerlicht. Des Zusammenhangs Bewegung und Körpergewicht nimmt sich van Aaken fundiert an: Pro-grammiert, S. 189 f. Die Titel »Programmiert für 100 Lebensjahre« (1974) sowie »Das van Aaken Lauflernbuch« (1984) sind als seine Klassiker zu nennen.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

Bei der formellen Bildung überwiegt deutlich der Berufsausbildungsabschluss (insgesamt 30 Personen), gefolgt vom Studium (insgesamt 24 Personen); dabei werden beide von der Stadt angeführt. Die formell gesehen mittleren Bildungsabschlüsse sind schwächer besetzt als in der Ernährungs- und Fitnessgruppe. Interessanterweise liegt dagegen beim Jogging / Walking der Anteil der Personen mit akademischer Karriere, insgesamt 8 Personen, sichtbar höher als in den Vorgänger-Gruppen (Ernährung 3 Personen, Fitness 1 Person). Der Studienabschluss, um auch diesen zu vergleichen, liegt bei Jogging / Walking weit höher als bei Fitness (24 gegenüber 14 Personen). Akademiker scheinen sich wohl zu fühlen mit diesem Sport. Im Gegensatz zum Fitnesssport brauchen sie sich ihrer Sache nicht zu schämen: Sie haben nicht nur Joschka Fischer und ein überzeugendes Argument der Gesundheit auf ihrer Seite (denn Fischer lief außer wegen Übergewicht vor allem aus akuter Gesundheitsbedrohung), sondern auch den Nimbus des Klassischen. Bereits die griechische Mythologie kennt neben der Rennstrecke von Marathon nach Athen auch einen Achilles, den »Schnellfüßigen«, oder eine flitzende Jägerin Atalante, der nur ein Schnellerer als Bräutigam gut genug war. 53 Im Diagramm fällt weiterhin auf, dass diesmal mehr Personen ohne Abschluss als in den Vorgänger-Gruppen dabei sind (insgesamt 4 Personen). Vielleicht liegt das außer an evtl. regionalen, im Nachhinein nicht ergründbaren Besonderheiten generell an der Unkompliziertheit des Laufsports, der nicht nur Akademikern, sondern auch anderen Menschen keine sozialen Hemmungen auferlegt sowie keinen hohen Sachaufwand. 4 5 6

Seit wann joggen / walken Sie (mehrjährige Pausen bitte abziehen)? Treiben Sie außerdem noch Sport? Wenn ja, welche Sportart(en): Seit wann überhaupt treiben Sie Sport (mehrjährige Pausen bitte abziehen)?

Das Laufen wird von vielen Beteiligten, verglichen mit den Vorgänger-Gruppen, überwiegend seit kürzerer Zeitspanne ausgeübt. Ab über 10 Jahren flacht die Kurve ab. Die höchste Säule liegt bei 5 Jahren, angegeben von insgesamt 20 Akteuren. Dabei bildet eigentlich die Stadt die Spitze mit 14 Personen zu 6 Personen auf dem Land. Auffallend ist eine hohe Anzahl von Anfängern mit der Angabe von 53

Vgl. zur griech. Mythologie Steffny, Herbert, Laufbuch, S. 12.

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Gesundheitsaktivitäten heute

1, 2, 3 und 5 Jahren Laufdauer. Vermutlich hängt die überwiegend kurze Spanne mit der Altersverteilung (Frage 2) zusammen, wonach Zahlreiche diesen Sport erst ab einem bestimmten Alter für notwendig halten bzw. entdecken und wohl auch mit der Möglichkeit des Walking, die es erst seit Kurzem gibt. Das Diagramm im Ganzen bestätigt aber, dass das Laufen als Konditionssport eigentlich auf Dauer angelegt ist und somit ältere Jahrgänge nicht ausschließt: Über 30, über 35 und über 40 Jahre Dauer wurden angegeben – Größen, die beim Fitnessstudio nicht genannt wurden. Das wiederum erweist den Laufsport als Klassiker und den Fitnesssport dem gegenüber als die jüngere Sparte. Unter den weiteren Sportarten (Frage 5) ist das Fahrradfahren am beliebtesten, gefolgt vom Wassersport. Erinnert sei, dass es sich hier um freie Antwortoptionen handelte. Die angegebene Aufteilung in »Fitness« und »Kraftsport« ging von den Antwortenden aus. Nicht primäre Fitnessstudio-Sportler unterscheiden anscheinend genauer, ob sie mit dem ergänzenden Training im Studio ihre Kraft aufbauen wollen (also Kraftsport bzw. Bodybuilding betreiben) oder ihre Kondition stärken wollen (also Fitnessgeräte im Stil der Cardiogeräte benutzen). So gesehen und sicher auch nach dem sachlichen Zweck schneidet »Fitness« besser ab. Interessanterweise zeigt der Blick in die Vorgänger-Gruppe (Frage 6), dass mehr Fitnessstudio-Akteure zusätzlich auch joggen / walken angaben als umgekehrt, dass aber bei beiden Gruppen das Radfahren hoch im Kurs liegt. Die besondere Kombination von Laufen, Radfahren sowie dem überraschend hoch angegebenen Wassersport kann damit zusammenhängen, dass mehrere Organisationen aus dem Landkreis Roth, der deutschen Triathlon-Hochburg, beteiligt waren. 54 Insgesamt scheint es je nach Primärsportart spezifische Kombinationsmuster zu geben. Vermutlich gibt es darunter generell ein Muster, wonach Sport im Freien und im Kontakt zur Natur beliebt ist, wie es beim Laufen, Radfahren und insbesondere Wassersport vorliegt sowie eines, wonach mehr die Behaglichkeit und technische Geräte gefallen. Die Antworten aus Diagramm 6 lassen den Leser fragen, ob eigentlich die anderen Sportarten die primären sind? Denn diese werden weitaus länger ausgeübt (vgl. mit Diagramm 4) als das Laufen. Allein 25 der Teilnehmer treiben schon seit mehr als 40 Jahren überTriathlon ist ein Ausdauersport, der aus dem Mehrkampf der Disziplinen Schwimmen, Radfahren und Laufen besteht (Anm. d. Verf.).

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

haupt Sport. Das Laufen scheint tatsächlich eine Sportart zu sein, die erst mit dem Älterwerden gewählt wird. Sicherlich trägt, wie gesagt, zudem die noch neue Form des Walking dazu bei, dass erst in den letzten Jahren der Laufsport für viele Menschen attraktiv geworden ist, während sie vorher andere Sportarten wählten, mit denen sie die gesundheitlichen Nachteile des Jogging vermeiden wollten. Mit einer Nachfolge-Untersuchung sollte doch nach Jogging und Walking unterschieden werden, um ggf. deren verschiedene Zielgruppen und Motivationen zu ermitteln. 7

7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7

Was sind Ihre Gründe / Ziele, Jogging / Walking (und ggf. anderen Sport) zu betreiben? Bitte ankreuzen bzw. angeben (Mehreres möglich) Gesundheit (im engeren Sinne: als Gegenteil von Krankheit) – Wenn ja, akute Beschwerden – Wenn ja, auf ärztliches Anraten Vorbeugung nach früherer Krankheitserfahrung (selbst oder nahestehende Personen) Vorbeugung wegen Veranlagung (z. B. schwacher Kreislauf, Infektanfälligkeit) zum Leistungserhalt angesichts Berufs- und Lebensanforderungen wegen Kostenerhöhungen / Kürzungen im Gesundheitswesen

»Gesundheit ist mir wichtig« bejahten insgesamt 66 Personen (ähnlich der Ernährungs- und Fitness-Gruppe). Akute Beschwerden verspüren dabei nur 8 von 100 Personen, 6 von 100 Personen folgen mit akuten Beschwerden ärztlichem Anraten. Die beiden letzten Zahlen überraschen aufgrund der Vorgabe, dass ein Teil der Daten von kassenärztlich organisierten Läufern stammt. Da in der Gruppe Jogging und Walking die 100 verfügbaren Fragebögen auf 5 Organisationen aufgeteilt wurden (siehe Kapitel 2), müssen 20 aus dem Kreis der betreffenden Trainerin stammen. Eingeräumt sei, dass nicht jeder wegen akuter Beschwerden zum Arzt geht, sondern auch aus latenten Gründen und ggf. deshalb die damit verknüpfte Frage 7.1 nicht bejahen konnte. Doch ein Vorausblick auf das Diagramm, das den Arztbesuch mit der Vorbeugung verbindet (7.10), zeigt einen noch geringeren ärztlichen Einfluss (4 von 100 Personen). Gleich nach der insofern verwunderten Durchsicht des Rück277 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

laufs wurde die Trainerin befragt, ob sie diesmal keine kassenärztlichen Patienten betreut hatte, und sie bekräftigte ungefähr wörtlich: »Doch, doch, ich hab’ fast nur solche Leute. Aber die Leute sind nicht unbedingt krank. Viele kommen in die Jahre, in denen der Körper schlapper wird. Sie möchten Sport treiben, aber fühlen sich zu unsicher, um allein zu starten und haben Hemmungen, einem Club beizutreten. Und weil’s sich rumgesprochen hat, dass die Gesetzlichen das Laufen zahlen, holen sie sich Bekräftigung und Rezept vom Arzt und landen dann unter ihresgleichen. Die meisten sind begeistert und sagen es weiter. So läuft das.« Man könnte es so kommentieren: Die emotional unsichere und materiell gut versorgte Wohlstandsgesellschaft braucht Unterstützung, gesundheitliche Zusicherung und den schonenden Einstieg mithilfe des Arztes, und dann lässt sie sich die eigene Unselbstständigkeit von der Gemeinschaft bezahlen. Man versteht an diesem Beispiel einen Teil der Verfehlungen im deutschen Gesundheitswesen (vgl. FN 280, 23). Gedanken wie diese schwangen übrigens schon bei der Frageformulierung »auf ärztliches Anraten« (bezogen auf alle vier Fragegruppen) mit. Man hätte ja auch ein »Anraten durch den Heilpraktiker« mit aufnehmen können, aber ein Heilpraktiker hat nicht die Attestiermöglichkeiten wie ein Arzt. Nach den Erfahrungen der Verfasserin ist der Heilpraktiker der letzte Weg wirklich Leidender, wenn zuvor nichts anderes half. Selbst wenn in der Heilpraktiker-Sprechstunde meistens die gesamte Lebensführung des Patienten im Blick ist, so geht es selten noch um ein »Anraten«, sondern um ein Suchen nach bisher nicht angewendeten Impulsen für den kranken Organismus (z. B. durch Homöopathie, phytotherapeutische Entschlackungsmaßnahmen, Sauerstofftherapien), um ein langes Leiden doch noch umkehren zu können. Aber gewiss kann es im Einzelfall auch anders sein. Manch ein Patient kommt vielleicht erst durch den Heilpraktiker zur gesunden Ernährung oder zum Sporttreiben, evtl. weil dieser selber einen entsprechenden Lebensstil überzeugend repräsentiert. Jedenfalls sei mit diesen Gedanken bzw. am Bespiel des Laufkurses das unterschiedliche Gepräge von Schulund Alternativmedizin angesprochen. Eine frühere Krankheitserfahrung und der Wunsch zum Vorbeugen führen insgesamt 12 Personen zum Laufsport. Die Veranlagung ist, so wie in der Ernährungs-Gruppe, 10 Personen wichtig. Nicht ganz so krass, aber ähnlich auffällig wie bei der Ernährung zeigt sich eine Diskrepanz zwischen Leistungserhalt, also eine von der Außenwelt angeregten Motivation (Frage 7.6), und dem persönlichen 278 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

Parameter »Veranlagung«: Der Leistungserhalt wird insgesamt von 50 Teilnehmern bejaht, wobei die Stadt weitaus dominiert. Die Entwicklung des Gesundheitswesens (Diagramm 7.7), wie schon besprochen ein Indikator für die gründliche und generelle Beschäftigung mit dem Krankheitsthema, interessierte die hier Befragten so gut wie gar nicht im Blick auf ihren Sport, den sie doch aus gesundheitlichen Gründen, siehe 7.1, betreiben. 7.8 7.9 7.10 7.11 7.12

Körpergewichtskontrolle um Bewegungsmangel auszugleichen auf ärztliches Anraten Entspannung / Ausgleich Schönheit (schlank sein, straffe Haut, trainierten Körper erzielen usw.) 7.13 psychische Gründe (Selbstbewusstsein, sicheres Gefühl, Grenzerfahrung) 7.14 soziale Gründe (falls in Gemeinschaft ausgeübt) 7.15 Jogging / Walking verbunden mit Naturerlebnis (Frischluft, Waldluft usw.) … (freie Antwortmöglichkeiten) Das Körpergewicht hat bei den befragten Läufern einen noch höheren Stellenwert als bei den Fitnesssportlern: 56 Personen bejahten diesen Grund (Fitness 27 Personen). Das ist plausibel, denn das Laufen ist der katabol wirkende Sport (im Gegensatz zum Fitnesssport im engeren Sinne als Kraftsport, der Masse aufbauen soll). Dabei ist »Körpergewicht« eigentlich ein einseitiger Maßbegriff und umgangssprachlich zur Chiffre geworden für etwas, was Betroffene auch loswerden wollen: den Körperumfang. Das kann optisch-ästhetische Gründe haben oder Gründe der Bewegungsempfindung, der an früherer Stelle schon betonten Beweglichkeit. Der Vorausblick auf die »Schönheit« (Frage 7.12) zeigt, dass hier knapp die Hälfte (46 Personen) mit »Ja« antwortete (weniger als bei Fitness), während der Punkt »Bewegungsmangel« unter den Läufern mehr wiegt als hier die Schönheitsfrage (58 Bejahungen). Es scheint sich damit also eher um ein körperbezogenes Unwohlsein der Betroffenen in der eigenen Beleibtheit zu handeln, das sich vorstellbar äußert z. B. in beginnender Schwerfälligkeit und schwindender Lebensfreude. Zu der oben zitierten Aussage der Trainerin über die Gründe ihrer Klienten passt das Ergebnis. Der Punkt 7.10, das ärztliche Anraten, war in dem Zu279 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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sammenhang schon diskutiert worden. Nicht akute Krankheit, sondern Unwohlsein im eigenen Körper, das Gefühl, er wäre im Umfang und überhaupt »aus den Fugen geraten«, scheinen bei den Bejahenden maßgeblich zu sein. Der Aspekt »Bewegungsmangel« legt grundsätzliche biologische Betrachtungen nahe. Die hohe Bejahung des Fragepunktes liegt auch in der Logik der Sache, denn das Laufen ist nicht nur ein Verbrenner von Körpermasse, sondern auch der bewegungsreichste Sport, den es gibt. Und noch ein Axiom, wie in den Eingangsgedanken schon angedeutet, tritt hinzu: Der Mensch ist dem biologischen Stammbaum nach ein Lauftier. Die saloppe Aussage der Olympialegende Emil Zatopek »Fisch schwimmt, Vogel fliegt, Mensch läuft« gab 1976 die einschlägigste Begründung für die offizielle Motivierung der Massen zum Mitmachen bei der neuen Laufwelle. Der Slogan überzeugte damals Krankenkassen vom grundsätzlich-medizinischen Sinn des Laufsports. Die Anknüpfung an der menschlichen Evolution, also an der Natur in einer elementaren Weise, muss bemerkenswert diätetisch genannt werden. Was inzwischen Forscher verbreiten, fühlt die Sitzgesellschaft selber: dass das Sitzen orthopädisch und physiologisch einen misslichen Einbruch in die biologische menschliche Konstitution darstellt. 55 Nicht nur in Afrika, sondern überall auf der Welt, wo die Menschen noch als Kleinbauern und Handwerker ihren Tag verbringen, sammeln sich pro Person tägliche zwanzig bis vierzig Laufkilometer an. In Europa wurzeln daher Einbruch und Aufbegehren in Bezug auf dieses natürliche Muster in der Phase der Industriellen Revolution. Ein breites Netz an Laufvereinen entstand ab 1900. Die neuere europäische Bewegung wurde wie der Fitnesssport aus den USA importiert, wo die End-68er gegen die couch potatoes des freizeitorientierten lifestyle revoltierten. Um nochmals den offiziellen Rang des Laufsports zu betonen: Serienweise Stadt- und Landschaftsläufe wurden in den 70ern und 80ern von öffentlichen Trägern organisiert. »Lauf mal wieder« war ein öffentlicher Appell dieser Zeit. Während damalige Veranstaltungs-Teilnehmer eher leistungsorien-

55 Vgl. Steffny, Herbert: Laufbuch, S. 10–12, Zitat S. 12. Bereits der Homo erectus vor 2 Mio Jahren soll ein echter Läufer gewesen sein. Vgl. auch nochmals, wie schon mit FN 38 zitiert, die dpa-Meldung: Deutsche leben ungesund. Zu gestresst, zu dick, zu unbeweglich, in: NZ 11. 8. 2010, S. 1, mit dpa-Kommentar auf S. 2, der ernste Zusammenhänge zwischen dem »Bewegungsmuffel« und Krankheitsleiden beschreibt.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

tiert auftraten, steht heute allgemein das Genusslaufen im Vordergrund. 56 Das Diagramm 7.11 zur Frage von Entspannung und Ausgleich bildet so etwas wie einen Gipfel ab: 90 Personen aller Befragten treiben aus diesem Grund Laufsport. Schon bei der Fitnesssport-Gruppe lag in der hohen Beantwortung (dort 61 Personen) der Schlüssel des Verständnisses zur Ausübung der Sportart. Er scheint zum Schlüssel der Fitness- und Gesundheitsbewegung überhaupt zu rangieren. Dabei geht es heute sicher nicht allen Akteuren nur ums »Ent-Stressen«, sondern auch um die Suche nach Herausforderungen, wie sie die vielfach monotonen Arbeitsplätze, die bequem gemachten Tagesverrichtungen und eben die gesamte Bewegungsarmut nicht bieten. Der Laufsport mit seinem hohen Überwindungsmoment in Bezug auf Streckenlänge und Durchhaltedauer wäre dazu prädestiniert. 57 Psychische Gründe (Diagramm 7.13) wurden von 25 Personen angegeben, sodass die Betonung von Medizin und Werbung, Bewegung solle glücklich machen, nun nicht mehr realitätslos dasteht. Seit einigen Jahren liegt eine besondere Facette des Laufens im Blickfeld der Medien: die meditativ-harmonisierende Wirkung des Lauferlebnisses selber. In dem Sinne wurde mit Fußnote 327 von der spirituellen Kraft des Laufens gesprochen in Anlehnung an die traditionelle Verbindung von Bewegung und geistiger Anspannung. Ob der meditative Aspekt bei den Aussagen der hier Beteiligten mitschwang, wäre ein interessanter Punkt für eine nächste, tiefergehende Befragung. Er entfaltet sich vor allem, dem Selbstzurückzug der Meditation gemäß, im Individuallauf. 58 Vgl. Steffny, Herbert: Laufbuch, S. 11 f. Erika Dilger erwähnt die Erlebnisarmut unseres Alltags. Als Folge werden außerordentliche Erlebnisse beim Sport immer beliebter. Vgl.: Fitnessbewegung, S. 372 f. Zum seelischen Erleben beim Laufen wird sogleich mehr folgen. 58 Mit dem meditativen Laufen können verschiedene psychisch wirksame Übungen kombiniert werden. Ein aktueller Ratgeber aus der Feder eines Benediktinermönches schlägt das Einsuggerieren heilsamer, sakraler Textstellen vor entsprechend der klassischen christlichen ruminatio. Der Tenor des Buches liegt auf der Selbsttranszendierung. Vgl. Fr. Michael Bauer: Seele läuft, insbes. S. 128 f. Eine andere neuere Anleitung stammt von einem Psychologieprofessor, der das Laufen zur Behandlung und Vorbeugung psychischer Probleme einsetzt. Er betont dabei auch das egoistische, vereinsamende Verhalten exzessiven Laufens und die Möglichkeit, mit dem Seele-integrierenden Laufen das gesunde Maß zu finden. Vgl. Bartmann, Ulrich: Laufen für Psyche, insbes. S. 111. Laufen wird seit einigen Jahren auch bei schweren Krankheiten wie Herzinfarkt, Krebs oder Parkinson zur körperlich-seelischen Genesung bzw. Stär56 57

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Für diese Befragung kam der Aspekt des meditativen Laufens deshalb kaum in den Sinn, weil er allgemein noch unbekannt war. Erst in den Jahren nach Abschluss dieser Befragung wurde das meditative Laufen immer beliebter und zog die wissenschaftliche und publizistische Tätigkeit mit sich. Hierauf soll in den folgenden Ausführungen knapp eingegangen werden. Als Vorreiter kann der zurzeit im Schreiben sehr aktive japanische Romanautor Haruki Murakami gelten, der sich durch Laufen Inspiration, Kraft und vor allem Ausdauer zum Schreiben holt. 59 Im Fachbuch-Bereich vermittelt das »Spirituelle Laufbuch« der Kulturwissenschaftlerin und Sportlerin Regina Tödter (2014) wissenschaftliche Hintergründe und praktische Anleitungen. Unter dem psychologischen Aspekt schildert sie zerebrale Zustände ähnlich einer Trance, die als »Runners High« (nach etwa einer Stunde Lauf) oder als »Flow-Effekt« (nach etwa zwanzig Minuten) beim Läufer erleb- und beschreibbar seien. In beiden Fällen weichen Schmerz-, Raum- und Zeitgefühle einem schwebenden Glückgefühl, im ersteren kurz und intensiv, im zweiten anhaltend und schwächer. Neurophysiologisch sind Endorphine und andere körpereigene Drogenstoffe beteiligt. Der Läufer ist nun nur noch auf die reine Laufwahrnehmung konzentriert ohne bewusste Beachtung der Außenwelt, d. h. er ist mit dieser gefühlsmäßig verschmolzen. Zusätzlich können in das Erlebnis Bilder, Bibelverse, Mantras u. ä. integriert werden. Laut Forschungen sollen die beschriebenen Glückszustände evolutionär angelegt sein, um prähistorische Jäger auf langer Jagd zu »belohnen« bzw. zum ausdauernden Jagen – gleich einer Sucht – zu motivieren. 60 Der Artikel »Lauf dich glücklich« in einer führenden Naturheilzeitschrift geht mehr auf das moderate, regelmäßige Laufen für jedermann ein (wie es für diese Studie vorgefunden wurde) und regt dazu an, beim Laufen über das intensive Spüren der Natur, d. h. des Jahreskreislaufes, des Wetters, der Geräusche usw. eine Harmonisierung und Stärkung des eigenen Selbst zu erfahren. Für den Körper sowie für das seelisch-geistige Lebensgefühl ließen sich nennenswerte gesundheitliche Effekte verzeichnen. Es

kung therapiebegleitend eingesetzt (je nach Indikation in Form des Walking), vgl. Steffny, Herbert: Laufbuch, S. 105. 59 Vgl. Murakami, Haruki: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede, S. 7–9. Für Murakami bleibt Laufen ein ganz persönliches, nicht pauschal vermittelbares Glück, »Schmerz ist unvermeidlich, Leiden ist eine Option«, S. 8. 60 Vgl. Tödter, Regina: Spirituelles Laufbuch, S. 28–30, Zitate S. 28, 29.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

geht letztlich um die Balancierung des eigenen Organismus zum Gewinnen von Selbstzufriedenheit. 61 Die Verfasserin verweist auf eine bereits klassische literarische Behandlung der Thematik »Laufen und Selbstbild«, nämlich durch den englischen Erzähler Alan Sillitoe mit »The Lonelyness oft the Long-Distance-Runner« (1959). Ein in einer Strafanstalt inhaftierter Junge fällt als laufbegabt auf und macht hierin eine Karriere. Über die Wahrnehmung und Beherrschung seines Organismus findet er zu sich selbst, d. h. zu seiner »Ehrlichkeit« bzw. Freiheit, nicht deshalb siegen zu müssen, weil andere es von ihm verlangen. Dies macht ihn innerlich souverän gegen den Delinquentenstatus, wobei Einsamkeit die Kehrseite seines neuen Selbstgefühls bildet. 62 Die vier Beiträge zum meditierenden Laufen wurden hier erwähnt, weil sie anschaulich die leibliche Vernetzung des Selbst im Körper, im Fühlen, im Urteilen sowie auch in der Natur – und zwar Letztere in evolutionärer Dimension – vorführen. So wie Grundwahrnehmungen des Ich in einer unserem Bewusstsein und Zeitverständnis vorausliegenden seelischgeistigen Sphäre wurzeln, was mit Teil 5 dieser Arbeit genauer behandelt werden wird, scheinen dies auch komplexe Erlebnisse zu tun. Gerade aber mit der physisch-physiologischen Einbindung des Selbst ist die Möglichkeit zum Suchthaften biologisch vorgegeben, vor der gewarnt werden muss. Wo die Gesellschaft Zwänge ausübt und man bewusst gegensteuert, wie es der Läufer bei Sillitoe tut, kann eben auch das zwanghaft werden. Dieser tragische Kern der Erzählung entspricht Gesundheitsverhalten, mit dem man von einem Extrem ins andere fällt, z. B. im Mittelalter vom harten Alltagsdasein in den Übermut des Badehauses wie in 3.1.5 beschrieben, heute vom »Pfundsmädel« in die Magersucht, vom »Mitläufer« zum Marathonsieger usw. 63 Im Folgenden soll die Diagramm-Betrachtung fortgesetzt werden. Vgl. Kaden, Marion: Lauf dich glücklich, in: Natur und Heilen 9 / 2013, S. 22–28. Vgl. Sillitoe, Alan: Einsamkeit, S. 71 f., 83, 85 u. ö. zur eigenen Ehrlichkeit. In FN 58 wurde die Folge der Vereinzelung schon angesprochen. 63 D. Verf. macht darauf aufmerksam, dass Rauscherlebnisse wie beschrieben denen beim Hungern ähneln (vgl. in Kap. 3.1.6; ähnlich wirkt übrigens auch die Dehydrierung extremen Saunierens) und dass viele Magersüchtige zum effektiven Abmagern das Hungern mit dem Laufen verbinden, d. h. sich im betörten Zustand Pfunde ablaufen. Das erhebende Selbstgefühl – das im Übrigen bei der Sucht immer nur ein vorübergehendes Erlebnis ist – stellt sich in der Suchtkrankheit gewiss als Trug dar, als Flucht vor einem existenziellen Defizit, das besser im sozialen Raum ausgeglichen werden sollte. Regina Tödter beschreibt unsere Sozialräume als belastend (normend 61 62

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Mit Diagramm 7.14 werden gegenüber Fitness die sozialen Gründe auffällig, eine Bejahung durch 39 Personen und eine Entsprechung zur Aussage der Trainerin im Blick auf die Prämissen ihrer Schüler. Gewiss geht es dabei nicht nur um Hemmungen, sondern insgesamt bei den Befragten auch um den Wunsch, überhaupt mit anderen Menschen zusammen Sport zu treiben. Seit es die sanfte Laufart des Walking gibt, das außer der Fixierung auf den eigenen Kräftehaushalt auch andere Wahrnehmungen zulässt, bietet der Laufsport die Möglichkeit zum sozialen Erlebnis. Das Naturerlebnis (7.15) ist 42 Teilnehmern wichtig, was sie ebenfalls von den Fitnesssportlern wesentlich abhebt, weil außer einer Mittel-Ziel-Pragmatik auch zusätzliche Erlebnisse gesucht werden. Im Zusammenhang mit dem Kombinationssport (Frage 5) war eine relativ hohe Natur-Neigung der Läufer schon vermutet worden. Von daher ist auch anzunehmen, dass für noch mehr als nur 25 der Antwortenden die Psyche wichtig ist (s. o.), weil bekanntlich das Naturerlebnis Affekte auf die Psyche ausübt. Die Frage 7.13 war vermutlich von den meisten in einem üblicherweise betonten Sinn verstanden worden, nämlich als langfristige Wirkung des Laufens auf das seelische Grundbefinden. Die genannten Gründe der Psyche, der menschlichen Gemeinschaft und der Naturerfahrung werden jeweils von Nein-Sagern übertroffen. Und doch sind die Bejahungen dieser Fragen im Einzelnen aussagekräftig im soeben diskutierten Sinne, aber noch mehr, wenn sie in den Verbund von »Entspannung / Ausgleich«, »Körpergewicht« und »Bewegungsmangel« gestellt werden. Sie dürften das Syndrom einer modernen Lebensweise abbilden, der zufolge mit dem und stressend) und rät im Sinne Sillitoe’s zur läuferischen Selbsterstarkung als Gegenkraft, vgl. Spirituelles Laufbuch, S. 30 f. Doch Sillitoe hat die Vereinzelung vorausgesehen, zu der Maßnahmen führen, die dem Leidenden in der Abwendung von gesellschaftlichen Bedingungen Ausgleich verschaffen wollen. Das moderate Laufen gemäß FN 61, das diesem Artikel zufolge auch in Gemeinschaft ausgeübt werden kann, wäre von daher diätetischer zu nennen, insofern früher, wie in Teil 3 beschrieben, das therapeutische Verhalten gemeinschaftlicher verfasst war als heute. Außerdem können Ursachen des Leidens erreicht werden, die hier, im Bereich von Anerkennung und Selbstsicherheit immer mit sozialen Erlebnissen zu tun haben, vgl. die existenziell bezogenen Ausführungen am Ende von 3.1.6, insbes. mit Eugen Drewermann gemäß FN 237. Schließlich wäre mit dem moderaten Laufen wohl eher die mesotes der Lebensführung getroffen als im extremen Laufen; jedoch kann, wie schon zum Hungern beschrieben wurde, im Einzelfall das Extremverhalten auch eine herausragende Begabung wie spiritueller oder schriftstellerischer Art befördern, vgl. auch FN 59.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

rationalen sowie rationellen Primat der Körper verkümmert. Auch stellen die Ergebnisse der Jogging / Walking-Gruppe dar, wie zudem die Seele etwas unternehmen muss, um im Blick auf soziale Naturerlebnisse auf ihre Kosten zu kommen. Von daher muss die Antwort der Trainerin, die »Leute wollen unter ihresgleichen« sein, Verständnis erzielen, insofern als überall sonst soziale Räume aus Druck und Bewertung dominieren. Das Internet hat sogar das »Bewerten« zum Muster dessen gemacht, das eigentlich der geistig-sozialen Entfaltung dienen sollte, nämlich der Kommunikation und des privaten Kleinhandels. Und es verbreitet in seinen sozialen Netzwerken ein extremes Wertschema in Bezug auf das menschliche Körperbild. Sehr schlimm, so lässt es sich nachfühlen, müssen Menschen sozial leiden, die selber ihren Körper nicht mögen. Walking mindert damit die Einschätzung von der Ego-Gesellschaft, in der Einzelne mittels Fitnessund Gesundheitsverhalten nur um die Selbstverbesserung streben. Lässt es sich mit Walking gemeinsam, also unverkrampfter streben, oder ist Walking eine Form für eher Suchende statt Strebende nach Gesundheit? Diese Akteure wirken leidender und suchender als ihre Fitness-Kollegen. Es scheint ihnen nicht nur um das Ziel, sondern – zu schließen aus der hohen Bejahung zur »Psyche« und zum »Naturerlebnis« – um das Erleben selber zu gehen. Zum Naturerlebnis wäre noch aus der Außenbeobachtung anzumerken, dass bei weitem nicht alle von Joggern und Walkern gewählten Strecken idyllisch anmuten. Oftmals reicht anscheinend ein der Wohnstätte nahegelegener Radweg entlang einer Landstraße, um Bewegung und Frischluft zu erhalten. Vielleicht will man auf die Autofahrt in schönere Umgebung verzichten – es wirkt jedenfalls oft wie »Hauptsache raus«. Im Fall dieser Befragung liefen allerdings die 20 Teilnehmer der zertifizierten Trainerin wie bei ihr üblich auf Wald- und Feldwegen. Auch das dürfte solche Kurse attraktiv machen: Die ortskundige Wald- und Flurführung. Bei sämtlichen genannten auffälligen Parametern des Blocks 7, also in Zusammenfassung: Körpergewicht, Bewegungsmangel, Entspannung / Ausgleich, psychische Gründe, soziale Gründe und Naturerlebnis, lag die Stadt etwas höher. Damit erhärtet sich die Einschätzung von ungünstigen urbanen Lebensfaktoren, die die Menschen unzufrieden in ihrem gesundheitlichen Befinden machen. Wie einerseits auch die diffusen Antwortlagen zeigten (keine akuten Beschwerden, kein medizinischer Bedarf), andererseits die zuletzt diskutierten, das rein Körperliche übersteigenden Antworten, wird deutlich, dass 285 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

es das Leibliche ist, wie es das Diätetik-Kapitel behandelte und vor allem mit Friedrich Nietzsche betonte, das vom modernen Lebensparadigma ignoriert wird. Es wird sich noch zeigen, ob die Fitnessund Gesundheitsbewegung mit ihren Bemühungen dem »Leib« genüge tun kann. 8

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Wenn »Gesundheit« bei 7 zutraf, wie bewerten Sie den Druck der Arbeitswelt (Fehlzeiten vermeiden, leistungsstark sein, im Alter noch mithalten können usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Druck, … 6 = sehr hoher) Wenn »Gesundheit« bei 7 zutraf, wie bewerten Sie den Druck aus dem persönlichen Umfeld (Familie, Freunde), etwas für die Gesundheit zu tun? Bitte Bewertungsnote vergeben Wenn »Gesundheit« bei 7 zutraf, wie bewerten Sie den Einfluss der allgemein gestiegenen Lebenserwartung auf Ihr persönliches Verhalten (lange Altersphase soll möglichst gesund verlaufen, wirtschaftlich: Menschen müssen evtl. länger arbeiten usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben Wenn »Schönheit« und / oder »psychische Gründe« bei 7 zutraf (en), wie bewerten Sie den Druck der Arbeitswelt (selbstbewusst wirken, gute Ausstrahlung haben, leistungsstark wirken, nicht alt wirken usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben Wenn »Schönheit« und / oder »psychische Gründe« bei 7 zutraf (en), wie bewerten Sie den Druck der Gesellschaft (selbstbewusst wirken, gute Ausstrahlung haben, nicht alt wirken usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben

Das Diagramm 8 zum Druck der Arbeitswelt auf das Gesundbleiben ähnelt im Säulenverlauf der Fitness-Gruppe. Die Note 3 wurde von den meisten Lauf-Teilnehmern vergeben, nämlich von insgesamt 20 Personen (bei Fitness 24 Personen). Note 4 wiegt höher als bei Fitness, (12 Personen statt dort 8), Note 1, sehr geringer Druck, schlug dagegen bei Fitness weit höher aus (mit 18 Personen). Insgesamt zeigt sich damit eine Verlagerung zu mehr Druck-Empfinden als in der Fitness-, aber weniger als in der Ernährungs-Gruppe. Auch die hohen Noten 4 und 5 sind in der Läufer-Gruppe relativ stark besetzt. Der Druck aus dem persönlichen Umfeld dagegen zeigt sich wie in den Vorgänger-Gruppen eher niedrig. Die Stadt-Land-Verteilung

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

bildet eine leicht höhere arbeitsbezogene Anfälligkeit beim Land ab ebenso wie ein geringeres Unwohlsein im persönlichen Bereich. Der Einfluss der gestiegenen Lebenserwartung (Frage 10) wiegt bei den Läufern deutlich höher als in der Fitness-Gruppe. 15 Personen allein vergaben die Note 6, darunter mehr als die Hälfte Städter. Die Note 1 trägt im Diagramm den niedrigsten Wert, wobei sie Städter gar nicht vergaben. Anscheinend, zusammen mit dem sozialen Druck gesehen, kommen die städtischen Bewohner noch mehr durch Leidensfaktoren aus ihrem Lebensumfeld zum Laufsport als die Landbewohner. Wieder ergibt sich bei diesen Antworten eine Diskrepanz zu den politischen Rahmenbedingungen (Gesundheitswesen, 7.7) bzw. zum generellen Verständnis von Krankheit und Leiden, wie schon bei den Ernährungs- und Fitness-Teilnehmern diskutiert. Druck auf Schönheit und psychische Stabilität (Fragen 11, 12), und zwar seitens der Arbeitswelt wie auch der Gesellschaft, werden auf den ersten Blick überwiegend als leicht bis mittelmäßig empfunden, der Fitness-Gruppe vergleichbar. Der Einfluss der Gesellschaft liegt bei den Läufern aber deutlich höher als der Druck aus der Arbeitswelt bzw. seitens der Fitnesssportler empfunden. Jogger und Walker scheinen insgesamt anfälliger zu sein für die Einflüsse des äußeren Lebens und wollen offenbar ihre Gesundheit davor schützen. Von ihren Motiven her wirken sie besorgter, ernsthafter als die Fitnesssportler. 13

13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 13.6 13.7 … 14

Was tun Sie sonst noch für Fit sein und Gesundheit (im umfassenden Sinn)? Bitte ankreuzen bzw. angeben (Mehreres möglich) gesunde Ernährung Saunabesuche Entspannungstechniken geistige Einstellung (religiöse Einstellung, positives Denken usw.) regelmäßige Kontrolle (evtl. Vorsorgeuntersuchungen) bei Arzt oder Heilpraktiker Kuren / Fasten nichts weiter (freie Antwortmöglichkeiten) Wenn etwas zutraf bei 13, seit wann tun Sie dies?

So wiegt auch die Bejahung des Begleitfaktors »gesunde Ernährung« (Frage 13.1) sehr hoch – nämlich durch 77 Personen (gegenüber 287 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

66 Personen bei Fitness). Sauna, Entspannungstechniken und Kontrolle / Vorsorgeuntersuchungen werden stärker gefragt als seitens der Fitnesssportler. Vielleicht hängt das auch mit den Verschleißeffekten zusammen, die diese Sportart bei unsorgfältiger Ausübung mit sich bringen kann. Auffallend hoch wurde bei den Läufern die geistige Einstellung als Element der Gesundheitspflege bejaht, nämlich von 42 Personen. Somit wird die nicht explizit gestellte Frage nach dem spirituellen Laufen, das in diesem Kapitel im Zusammenhang mit Entspannung und Ausgleich beschrieben wurde, doch tangiert. Bei den befragten Teilnehmern hat eine Sportausübung, die zumindest nicht rein materiell-zweckhaft ausgeübt wird, einen hohen Stellenwert. Zum Vergleich urteilten so bei der Ernährung 31 Personen, bei Fitness 18 Personen. Ob bei den Antwortenden eine geistige Grundeinstellung gemeint ist oder eine wirklich spirituelle Haltung, die erst durch das Laufen geübt werden soll, lässt sich im Nachhinein nicht sagen. 64 Mit dieser Nuancierung wäre die Frage interessant für eine Nachfolge-Untersuchung. Die inzwischen erreichte Popularität des meditativen Laufens ist mit seiner raschen und auffälligen Präsenz (nebst Literaturangebot) sicher auch ein typisches Marktphänomen, aber wohl auch dies als Reaktion auf unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen: Der Wunsch, bei dem wie von selbst ablaufenden, keine Kontrolle erfordernden Körpereinsatz den Kopf frei zu bekommen, könnte ein starker Anreiz sein (so erleben es nämlich nach Kenntnis der Verfasserin auch manche Reiter). Alle Beteiligten engagieren sich außer durch Laufen mehrgleisig für ihre Gesundheit. Als freie Option wurde noch das Fasten erwähnt, allerdings nur von einer Person. Niemand gab »nichts weiter« an. Die Maßnahmen werden insgesamt länger ausgeübt als das Joggen / Walken (Diagramm 14 verglichen mit 4). Das erhärtet die Auffassung, dass es erst der Verbreitung der Walking-Form bedurfte, um generell Gesundheitsbewusste zur nachdrücklichen Aktion zu motivieren. Vgl. Fahlbusch, Erika: Spiritualität, in: EKL Bd. 4, Sp. 402 f.: Als wissenschaftlicher Fachausdruck meint dieser eine praktische oder existenzielle Grundhaltung, die verschiedene Lebensvollzüge und -gestaltungen abdecken kann, wobei die innere Devotion als Motivation dieser Lebensausdrücke fungiert. D. Verf.: Trainierende Handhabungen hätten demnach Mittelfunktion. Andernfalls, würde das meditative Element der Verbesserung sportlicher Leistung dienen (wie es im erwähnten Rausch einer Sucht der Fall sein kann), wäre nicht von »spirituellem Laufen« zu reden. Bei der Selbsttranszendierung, wie sie der Benediktiner gem. FN 58 verfolgt, wäre es hingegen der Fall.

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Wie bewerten Sie den Erfolg Ihres gesamten Fitness- und Gesundheitsverhaltens im Verhältnis zu Ihren Gründen / Zielen? Bitte Bewertungsnote vergeben Wie bewerten Sie den Aufwand Ihres gesamten Fitness- und Gesundheitsverhaltens im Verhältnis zum Erfolg (Anfahrt, Kosten, Verzicht auf Anderes, körperliche Erschöpfung hinterher, langfristig körperliche Überlastung usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben Betreiben Sie Ihren Sport gerne?

Die Erfolgs-Aufwand-Diagramme (15 und 16) stellen sich dar wie bei den Fitnesssportlern. Insgesamt überwiegt deutlich der Erfolg. Zur Frage des Aufwands vergaben 4 Personen – sie alle sind Städter – die Note 6. Das klingt bei einem unkomplizierten Sport wie dem Laufen unglaubhaft, aber vielleicht sind es spezifische, nicht rekonstruierbare Gründe wie Anfahrtswege, Terminplan – oder auch schmerzende Glieder? Die Frage zur Beliebtheit des eigenen Laufsports ergibt ein deutliches Ja: 93 Personen bejahten sie. Bei den »Teilweise«-Antworten kann auch in der Lauf-Gruppe die Erfahrung der interviewenden Person beigesteuert werden, dass hier der »innere Schweinehund« stark im Spiel ist. Außerdem wurde geklagt über Erschöpfung und – an dieser Stelle – schmerzende Glieder nach dem Sport. Dass nur 7 Personen von 100 so urteilten, bestätigt die hohe Beliebtheit des Laufsports. Schließlich gilt das Laufen heute als »Genusssport«. 65 Ein Breitensport ist auch das Laufen – besonders, seit es Walking gibt. Viele der Befragten übten Jahre vorher schon andere Gesundheitsaktivitäten aus, manche allerdings liefen auch schon sehr lange. Wer sanften Sport treiben und dabei mehr als nur den Körper versorgen will – die Daten ergaben Natursuche, Gemeinschaftssuche Vgl. nochmals Steffny, Herbert: Laufbuch, S. 12. Mit den aktuellen Laufratgebern werden nicht nur alle Menschengruppen (so auch Kinder) angesprochen, sondern einfühlsamer als mit der Fitness-Literatur wird auf ihre Konstitutionsmerkmale, ihre Stärken und Schwächen eingegangen, vgl. zum Seniorenlauf ebd., S. 255–257. Der eher aggressive Klang mancher Fitnesssport-Literatur (z. B. dem Magazin Fit for Fun) fehlt den gängigen Lauf-Publikationen. Beim Laufen tritt der Wettkampfsport heute gegenüber dem allgemeinen Phänomen stark zurück. Wettkampläufer sollten sich angesichts der hohen körperlichen Belastungen ihres Sport stets medizinisch begleiten lassen, vgl. Steffny, Herbert: Laufbuch, S. 127–129.

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Gesundheitsaktivitäten heute

sowie geistige Balancierung –, dürfte insbesondere mit Walking das Richtige gewählt haben. Die Befragten erwiesen sich auch sonst als gesundheitsbewusst und beurteilen speziell das Laufen in Bezug auf Erfolg und Beliebtheit positiv bis sehr positiv. Die Läufer wirkten suchender als die Fitnesstreibenden, dies aber nicht rein zielbezogen. Das Erlebnis selbst scheint wichtig zu sein, wie es eben die Interessen an Natur, Gemeinschaft und geistiger Einstellung zeigen. Das anhand von Literatur zitierte Motto »Der Weg ist das Ziel« oder auch die Verbindung mit dem Genießerischen scheint bei ihnen vorzuliegen. Das kann pragmatisch motiviert sein, ist aber sicher auch ein leiblich bezogener Wunsch, die eigene Gesundheit im Zusammenspiel ihrer Faktoren zu versorgen und sich als ganzer Mensch zu erleben, was besonders aus dem Folgenden hervorgeht: Die befragten Läufer suchen primär Entspannung / Ausgleich, Bewegung, Abhilfe gegen Übergewicht. Noch deutlicher als in der Fitness-Gruppe zeigt sich ein Leiden an einer üblichen Lebensweise, die vielfältig die gesundheitliche Verfassung schädigt. Allerdings beschäftigt sich kein nennenswerter Anteil der Befragten tiefer mit dem Gesundheitsthema. Wie schon in den Vorgänger-Gruppen sind persönliche Voraussetzungen (»Veranlagung«) und die allgemeine Versorgung (»Gesundheitswesen«) kein Thema. Dabei wird die öffentliche Versorgung gemäß dem Kommentar einer Lauf-Trainerin sogar noch ausgenutzt. Insofern muss wohl von einem latenten, diffusen Leiden gesprochen werden. Die Zahlenverhältnisse erwiesen die genannten Punkte (Entspannung / Ausgleich usw., s. o.) als Kollektivsymptome. Am anderen Pol muss daher ein Kollektivversagen konstatiert werden, nämlich dass die Wohlstandsgesellschaft Grundbedürfnisse der Gesundheit und des umfassenden Wohlbefindens (dazu gehören Bewegung, im Freien sein, vielfältig agierend / Eindrücke erhaltend / ausgeglichen leben u. a.) zu wenig unterstützt. Wie sich schon bei »Fitness« zeigte, untergräbt sie offenbar auch die eigene Initiative. Menschen ergreifen eher in Gruppen und angeregt durch entsprechende Organisationen Anstoß und Möglichkeit für ein gesünderes Leben. Dies ging nicht aus den Daten, sondern aus Begleitrecherchen hervor und müsste statistisch noch genauer untersucht werden. 66 Um hier weiter zu denken, kann ein immer größerer öffentlicher Einfluss auf unser Gesundheitsverhalten angemerkt werden. Die Unterstützung der Krankenkassen für Maßnahmen wie Kochen, Yoga, Pilates u. a. wird beobachtbar größer. Man kann über-

66

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

So wäre trotz hoher Leibesbezogenheit, insofern eben Läufer ihren Körper in der äußeren Umgebung und inneren Physiologie (erwähnt wurden Hormone und die Macht oder Ohnmacht gegen sie), ihre Bewusstseinslage, die Ausstrahlung und den Sog der Gruppe u. v. a. m. erleben wollen, also sich selbst in ihrem Natur- und Weltverhältnis, das moderne Laufen nicht unbedingt diätetisch zu nennen. Wenn öffentliche Instanzen einerseits Druck, andererseits Anreize ausüben, kann von fehlenden Begriffen wie paideia und nomos gesprochen werden bzw. modern von fehlender Capability, die, wie in Teil 3 beschrieben, an der Grundinitiative eines Menschen ansetzt. Der allgemeine Rückgang von Capability beim Gesundheitsverhalten hat sicher mit dem Verlust gewachsener Gemeinschaften zu tun (also primär der Familie, in der man, wie in Teil 3 erwähnt, eigentlich die Versorgung mit Nahrung lernt ähnlich wie das marschierende Zurücklegen des Schulweges). Dazu passt, dass das Laufen, auch wenn soziale Kontakte beteiligt sind, ein Individualsport bleibt. Die Entwicklung des meditativen Laufens bleibt abzuwarten. Dieser Zweig folgt sehr stark seelisch-geistigen Motivationen, impliziert also auch die Transzendierung, kann aber durchaus in Vereinzelung und suchthafte Extreme führen. Wenn man den Anreiz und das Angebot durch öffentliche Instanzen berücksichtigt, was in dieser Studie zum Teil vorlag, sowie auch den Mangel an Tiefenverständnis von Krankheit, wie es die Daten zeigten, muss generell der Laufsport trotz deutlich leibesbezogener und damit diätetischer Tendenzen heute als ein Konsumgut bezeichnet werden, wie es ähnlich der Fitnesssport aufwies. 67 Jedoch können die leibesbezogenen Motivationen, die sich ergaben, den Kritikern der Fitness- und Gesundheitsbewegung entgegengehalten werden, gerade wenn diese Kritiker Philosophen sind.

spitzt sagen: Anbieter wie Volkshochschulen oder Sportvereine ersetzen dem menschlich-evolutionären Potenzial sein verlorengegangenes Betätigungsfeld. Krankenkassen tragen die Kosten dieses Ersatzes. Es ist beim Laufen des heutigen Menschen wie bei einem eingesperrten Nutztier, das regelmäßig Auslauf (im weitesten Sinne von Bewegung, Frischluft, Sinneserlebnissen usw.) gegen das Degenerieren braucht. Damit es diesem Rhythmus folgt, erhält es gutes Futter. Die Mängel und das Angebot des Systems reichen sich damit die Hand. Im untersuchten Fall jedenfalls erwies der genannte Komplex aus bejahten Themen den radikal verlorengegangenen Auslauf. 67 Diese Einschätzung wird durch die kurz zuvor erwähnte Entwicklung zur Förderung von Gesundheitsverhalten aller Art unterstützt. Mit ärztlichem Attest kann man auf Kassenleistung inzwischen ein regelrechtes Hobbyprogramm ausüben.

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Gesundheitsaktivitäten heute

4.1.4 Yoga Der »westliche Yoga«, wie er als sanftes, gesundheitsförderndes Bewegungsprogramm in Kursen durch Sport- und therapeutische Stätten verbreitet wird, ist Denkern genauso suspekt wie das Fitnessstudio. Die Medien der 1970er-Jahre machten den Exoten zum Volkssport, bis er fünfzehn Jahre später zum Kultsport erhoben war. Langsam dämpfte sich die Euphorie, denn geistige Erleuchtungen, die man erwartet hatte, gab es selten. Inzwischen haben die westlichen Angebote und Anwendungen ein medizinisch-therapeutisches Profil gefunden, das wiederum der moderne indische Kontinent reimportiert. 68 Damit wird eine Verfälschung unterstellt, doch warum eigentlich? – fragt der Indologe Georg Feuerstein, der die einschlägige Literatur eines Michael von Brück oder Mircea Eliade studiert hat und aktuell als bester Kenner der Yoga-Philosophie auch von der Praxis her gilt. Yoga ist ein Sammelbegriff, der in den ältesten Upanishaden des Hinduismus (um 700 v. Chr.) wurzelt und vielfältige Formen unter hinduistischem und buddhistischen Einfluss hervorgebracht hat. Gewiss, wenn die buddhistisch zugespitzte Lehre vom »Nicht-Selbst« als fundamental betrachtet wird (mit ihren mystischen Parallelen des Westens), denen zufolge das reine Selbst nur als Bewusstheit gilt und das Körpertraining der Konzentration zur Erleuchtung des Geistes dient 69, steht die körperlich-gesundheitsorientierte Form des Westens dem diametral entgegen. Tatsächlich drückt die Wortbedeutung, aus dem Indogermanischen unserem »iugum – Joch« sehr nahe, eine Anspannung oder Ansammlung aus, die zum übernormalen Bewusstseinszustand samâdhi führen soll, dem im Sanskrit benutzten Wort für Ekstase. Hinduismus und Buddhismus kennen beide den Wagen als Symbol für den Körper, der anzuspannen ist nach der Lenkung des Kutschers »Verstand«, um den Fahrgast »Seele« zur Erlösung zu führen. 70 Körperübungen sollten zunächst nur dem beschwerdefreien Lotussitz und später anderen Meditationshilfen dienen. Deren positive Wirkungen, die auch für das körperliche Wohlbefinden bemerkt wurden, führten zu einer Weiterentwicklung dieser Asanas auf dem spirituellen Weg. Maßgeblich wirkte daran im 15. Jh. n. Chr. der aus dem 68 69 70

Vgl. Tietke, Mathias: Stammbaum, S. 23–29 Eingehend beschrieben bei von Brück, Michael: Buddhismus, S. 170–181. Vgl. Feuerstein, Georg: Yoga-Tradition, S. 33 f., 39 f.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

buddhistischen Tantra abgeleitete Hatha-Yoga, der zugleich den Körper nicht mehr als Sklaven, sondern als Partner am Erlösungsweg ansah, dem insofern Wohlbefinden zuteilkommen durfte. Georg Feuerstein findet darin den Anknüpfungspunkt für die Aufnahme von Yoga im Westen, der hier schon mit den Asienreisenden der Renaissance bekanntgemacht worden war. Das Wissen um das Leiden und die Erlösungsbedürftigkeit verbinde Asien und den Westen, und Yoga als therapeutische Übung könne helfen, durch die Linderung von Beschwerden das leidvolle Los der materiellen Existenz leichter zu ertragen. 71 Wenn derart metaphysische Überlegungen in ihrer unbestreitbaren Parallelität zu den Anschauungen des Judentums, Christentums und Islam bei den üblichen westlichen Yogaausübungen angestellt würden, hätte dieser Autor recht. Der westliche Yoga als neue Form schon traditionell »ganzheitlicher« Übungen wäre dann ein legitimes Kind der Ausbreitung, Wandlung und Anpassung von Religionen und ihren Kulturformen. Mit der modernen Sicht des Ganzheitlichen hätte Yoga das spirituelle Ziel jedenfalls nicht aufgegeben. Christliche Gemeinden bieten insofern Yoga als Meditationstechnik für mehr Gelassenheit und andere seelisch-geistig heilsame Haltungen an. In Indien pochen heute hinduistische Traditionalisten auf die philosophische Erkenntniskraft des Yoga und hierzu auf die bedingungslose Hingabe an den Gott Krishna. 72 Im rein weltlichen Yoga-Kontext hat Ganzheit, wie man beobachten kann, eine andere Bedeutung. Yoga fungiert als Training für die körperlich-seelisch-geistige Vitalität bzw. zur Unterstützung von Heilungsprozessen und wird heute durch die meisten Krankenkassen im Rahmen zertifizierter Kursangebote finanziert. Diese Befragung fand u. a. im Kursus einer städtischen Naturheilpraxis statt. Hieran waren 25 der 100 befragten Personen beteiligt. Die Befragungsdaten insgesamt dürften ein gewisses Licht werfen auf die Stellung des therapeutischen Yoga vor dem traditionellen Hintergrund, auch wenn aufgrund methodischer Angleichung an die anderen Gruppen der Aspekt von den Fragestellungen her nicht vertieft werden konnte.

71 72

Vgl. ebd., S. 585–588. Vgl. Tietke, Mathias: Stammbaum, S. 75.

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Gesundheitsaktivitäten heute

1 2 3

Geschlecht (bitte ankreuzen) Alter (bitte ankreuzen) Formelle Bildung

Der Teilnahme an dieser Studie zufolge ist Yoga ein Frauensport. 12 Männern stehen 88 Frauen gegenüber. Bei den besuchten ländlichen Organisationen zeigt sich dieses Verhältnis ähnlich wie in den städtischen. Ist Yoga generell ein Frauensport? Der Erfahrung der Verfasserin nach ja, und den Motivationen der hier Ausübenden gemäß wird sich vielleicht noch zeigen, welchen generellen Lebensmustern, mehr weiblichen oder mehr männlichen, sie entsprechen. Das Alter der Befragten kulminiert im mittleren Bereich, mit viel breiterer Streuung als in den Vorgänger-Gruppen. Danach wird dieser Sport erst für Personen in den Dreißigern interessant (hier die höchste Säule auf dem Land mit 18 Bejahern), bleibt anhaltend beliebt bei Unter-50-, Unter-60- und Unter-70-Jährigen und fällt dann, bei den Unter-80-Jährigen an Beliebtheit stark ab. Die relativ niedrige Präsenz der Senioren dürfte, dem vermeintlich »Sanften« dieses Sports zum Trotz, daran liegen, dass diese Gruppe sich bereits in mittleren Lebensjahren befand, als Yoga in Deutschland aufkam und dass sie zu einer Generation gehört, die noch nicht gleich jeden neuesten Fitnesstrend annahm. Die Daten erweisen jedenfalls, dass der Yogasport auch Älterwerdende anzieht. Etwas anderes ist auffällig: Während bei den Städtern der Yogasport mit zunehmenden Jahren mehr Anhänger findet, verläuft die Altersverteilungskurve der Land-Befragten dem diametral entgegengesetzt. Man beachte vor allem die Eckwerte des Kurvenverlaufs: Unter 40 Jahre – 18 Personen Land zu 4 Personen Stadt, dagegen unter 70 Jahre – 4 Personen Land zu 17 Personen Stadt. Als Begründung lässt sich vermuten, dass der Yogasport bei den Städtern mit zunehmendem Alter aus gesundheitlichen Gründen beliebter wird, während die Landbewohner weniger Sinn in ihm finden oder aus logistischen Gründen schwerer ein Studio erreichen. Zutreffend ist vielleicht auch der allgemein-demografische Hintergrund, wonach die Tendenz zur älter werdenden Gesellschaft sich relational besonders in den Städten auswirkt. Bei der formellen Bildung überwiegen der Berufsbildungs- und der Realschulabschluss. Die übrigen Ausbildungsgänge sind in etwa gleichmäßig stark vertreten, wobei der weitere akademische Werdegang sowie der unabgeschlossene Bildungsweg fehlen. Studierte gibt es mit insgesamt 16 Personen, doch als ein Akademikersport zeigt 294 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

sich der eigentlich anspruchsvolle Yoga nicht. Die Ausschläge ähneln stark dem Bildungs-Diagramm in der Fitness-Gruppe. Die Berufsoder Lebenspraktiker überwiegen. Sie scheinen diejenigen zu sein, die am vorbehaltlosesten den Boom des Yoga als Therapiesport aufnehmen. 4 5 6

Seit wann betreiben Sie Yoga (mehrjährige Pausen bitte abziehen)? Betreiben Sie außerdem Sport oder Entspannungsübungen? Wenn ja, welche Arten: Seit wann überhaupt treiben Sie Sport und / oder Entspannungsübungen (mehrjährige Pausen bitte abziehen)?

Bei den meisten Teilnehmern wird Yoga noch nicht sehr lange ausgeübt. Die Werte über 10 Jahren zeigen keine nennenswerten JaStimmen. Die Hauptverteilung liegt bei 1 bis 10 Jahren, der Kulminationspunkt bei 3 Jahren (21 der Befragten). Unter den höheren Angaben überwiegen die Städter, was in der Logik der städtisch-ländlichen Altersverteilungen gemäß Frage 2 liegt. Die überwiegend kurze Ausübungsphase insgesamt muss wiederum an der GesamtAltersverteilung nach Frage 2 hängen, d. h. der Ausübung erst ab den mittleren Jahren. Der Kultsport Yoga brauchte sicherlich einige Jahre, bis er, zum Gesundheitssport mutiert, diejenigen ansprach, denen altersbedingt ihre Gesundheit wichtig wurde. Bei Frauen spielt natürlich einerseits die höhere verfügbare Zeit erst nach der Kinderphase eine Rolle, andererseits die kritische Betrachtung des älter werdenden Körpers in früheren Jahren als bei den männlichen Kollegen. Das Diagramm 4 bildet immerhin 2 Personen ab, die schon 20 Jahre lang Yoga ausüben und eine Person, die dies schon 30 Jahre lang tut. Das beweist eine Treue zu diesem Sport, die die anderen Teilnehmer noch erreichen können. Die Vorgänger-Gruppen, Fitness, Laufen sowie besonders der Ernährungsbereich, offenbarten ebenfalls eine Treue der Ausübung, wie dort schon diskutiert wurde. Offensichtlich kommen Akteure aller Gruppen nach bestimmter Zeit zu der Erkenntnis: Diese Sache tut mir gut. Das Diagramm 5 zeigt, wie bei den Yogasportlern zusätzlich zu Yoga noch Radfahren, Fitness (als Cardiosport), Jogging / Walking sowie Wandern / Bergsteigen (bei der hohen Frauenbeteiligung wohl eher Wandern) gleichermaßen gewählt werden. Insofern stellt sich, ähnlich den Vorgänger-Gruppen, ein bestimmtes Profil der Yoga295 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

sportler dar: Ausdauer und Rhythmik erweisen hier Beliebtheit, dagegen kraftvolle Einsätze weniger, siehe die niedrigen Angaben bei Bodybuilding, Mannschaftssportarten und Wintersport. Ohne Rückgriff auf Gender-Diskussionen ist dies wohl eher eine weibliche Linie. Insgesamt (Diagramm 6) wird schon länger Sport ausgeübt als speziell der Yogasport (vgl. Diagramm 4). Das Verhältnis divergiert stärker als in der Fitness-Gruppe, ähnelt aber dem bei Jogging / Walking. Das Neue löst damit erst allmählich die Klassiker ab, wobei leider nicht gesagt werden kann, welches die Sportarten sind, die von den Yogatreibenden nach Diagramm 6 schon 30 Jahre und länger ausgeübt werden. Walking kann es nicht mehrheitlich sein, weil es sich gemäß der Behandlung dieser Gruppe ebenfalls als Neuling erwiesen hatte. Anzunehmen bleibt: Wir haben es bei diesen mehrseitig Sportausübenden wie schon in den Vorgänger-Gruppen mit Menschen zu tun, die generell gerne sportlich tätig sind. 7

7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7

Was sind Ihre Gründe / Ziele, Yoga (und ggf. anderes) zu betreiben? Bitte ankreuzen bzw. angeben (Mehreres möglich; für längere Ausführungen bitte Rückseite benutzen): Gesundheit (im engeren Sinne: als Gegenteil von Krankheit) – Wenn ja, akute Beschwerden – Wenn ja, auf ärztliches Anraten Vorbeugung nach früherer Krankheitserfahrung (selbst oder nahestehende Personen) wegen Veranlagung (z. B. anfällige Wirbelsäule, labiles Immunsystem) zum Leistungserhalt angesichts Berufs- und Lebensanforderungen wegen Kostenerhöhungen / Kürzungen im Gesundheitswesen

Und wiederum haben wir es mit Gesundheitsinteressierten zu tun. Der Anteil von insgesamt 63 Bejahungen liegt im Schnitt der Bejahungen aus den Vorgänger-Gruppen. Dabei kommen 19 Personen aufgrund akuter Beschwerden zum Yogasport (sehr ähnlich den Vorgänger-Gruppen), unter ihnen folgt aber nur ein Viertel (von allen Befragten 5 Personen) dem ärztlichen Anraten. Ähnlich niedrig, um auf Frage 7.10 vorzugreifen, liegt mit 7 Personen der Anteil, der aus vorbeugenden Gründen dem ärztlichen Rat zum Yogasport folgt. Vermutlich wirken sich die durch eine Heilpraktikerin organisierten Teil296 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

nehmer dämpfend auf diese Zahlen aus (es waren, wie eingangs schon gesagt, 25 Personen), denn wie bereits in Kapitel 4.1.3 erklärt wurde, ist der Kontakt einer kranken Person zu einer Naturheilpraxis in der Regel mit einem erfolgten Bruch zur Schulmedizin verbunden. Im Fall dieser Befragung bot die Therapeutin die Kurse selber an. Es ist zu vermuten, dass die Teilnehmer ihres Yogakurses weitgehend aus dem Patientenstamm hervorgegangen sind, der somit schon länger der offiziellen Medizin fern stünde. Umgekehrt wären natürlich solche Yogakurse starke Werbeanreize für die Naturheilbehandlung, wenn sie etwa auf chronisch leidende, heilerische Hilfe suchende Menschen treffen. Mit Diagramm 7.4 wird die Krankheitserfahrung, wieder sehr ähnlich den Vorgänger-Gruppen, von 21 aller Teilnehmer bejaht. Mit Frage 7.5, dem für sehr wichtig gehaltenen Punkt nach der Veranlagung, nimmt der Anteil der Bejahungen mit 26 Personen erstmals mehr als ein Viertel der Antworten ein – zum Vergleich waren es bei der Ernährung nur 10 Personen, bei Fitness 20, beim Laufen 10. Yogasportler befassen sich also besonders stark mit den in ihnen selbst liegenden Voraussetzungen ihrer Gesundheit. Sie erfahren damit ihre Kräfte, Schwachstellen und Grenzen, stoßen also auf das Naturhafte im Menschen, das hinzunehmen ist und sind hierin durchaus leiblich orientiert. 73 Der Leistungserhalt ist der Hälfte der Befragten wichtig – mit sehr ähnlichen Zahlen wie beim Laufen auch in der Stadt-Land-Verteilung: Die Städter lassen sich von diesem Gebot aus Beruf und Gesellschaft mehr beeindrucken als die Landbevölkerung. Am geringsten unter allen vier Gruppen klafft mit den Antworten aus 7.5 und 7.6 das Verhältnis von persönlicher Gesundheitsbeschäftigung und Außengebot auseinander. Vergleichsweise war es am meisten divergierend bei der Ernährungsgruppe, bei der Selbstbeschäftigung von 10 Personen eine Außenlenkung von 75 Personen gegenüberstand. Der Aspekt »Gesundheitswesen« rangiert bei den Yoga-Aktivisten genauso niedrig wie in den anderen Gruppen. Nachdem aber die Veranlagung im Verbund mit der Außenlenkbarkeit ernsthaft Gesundheitsinteressierte ans Licht bringt, offenbart der

Dabei wäre auch »Natur« ein originäres Thema des Yoga, nämlich in der Bedeutung des bei der Ausübung wichtigen Atmens. Nach »Naturbezug« als Grund oder Ziel für Yoga wurde im Block 7 nicht gefragt, weil die besuchten Kurse in Innenräumen stattfanden und die meisten Menschen mit »Natur« das Draußensein assoziieren. An späterer Stelle folgt hierzu mehr.

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Gesundheitsaktivitäten heute

Punkt »Gesundheitswesen« wohl politisches Desinteresse. Dies läge im Wesen der individualisierten Wohlstandsgesellschaft. Ein Vorausblick auf die soziale Attraktivität des Yogasports (Frage 7.14) zeigt, dass sich hier eher Einzelgänger finden. 7.8 7.9 7.10 7.11 7.12

Körpergewichtskontrolle um Bewegungsmangel entgegenzusteuern auf ärztliches Anraten Entspannung / Ausgleich Schönheit (schlank sein, straffe Haut, trainierten Körper erzielen usw.) 7.13 psychische Gründe (Selbstbewusstsein, sicheres Gefühl, Grenzerfahrung) 7.14 soziale Gründe (um nicht allein zu sein, treffe Andere / Bekannte / Clique usw.) 7.15 geistige Gründe (Suche nach Ganzheit / Harmonie; Yoga evtl. religiös motiviert) … (freie Antwortmöglichkeiten) Das Körpergewicht hat weniger Bedeutung als in den VorgängerGruppen mit nur 17 Bejahungen (vgl. dagegen 56 beim Laufen). Bekanntermaßen fungiert Yoga nicht primär als kataboler Sport. Bewegungsmangel dagegen rangiert hoch mit 57 Bejahungen. Zum Vergleich waren es beim Laufsport, dem Bewegungssport schlechthin, 58 Bejahungen. Insofern mit der Bewegung nicht überwiegend Pfunde verloren werden sollen, kommt wieder der Aspekt der Beweglichkeit in den Sinn, wonach sich die Betroffenen als allmählich »einrostend« empfinden. Das liegt ganz im Bild dieser Sportart, die auf der körperlichen Ebene die Beweglichkeit und Elastizität des Körpers fördern soll, dabei auch die tiefwirkende Durchblutung und das Durchatmen sowie als Zusatzeffekt die straffe, geschmeidige Erscheinung. 74 Unterstrichen wird die Einschätzung der Beweglichkeit als Mangelhaftes durch Diagramm 7.11, wonach der Punkt Entspannung / Ausgleich mit 89 Bejahungen ähnlich extrem hoch wie beim Laufen liegt (dort 90 Bejahungen). Ferner hat der Punkt Schönheit (7.12) ein geVgl. Tietke, Mathias: Stammbaum, S. 28 f., der kritisiert, dass solche Effekte sich im westlichen Yoga verselbstständigt hätten und somit rein in die Kategorie äußerlichmateriellen Strebens fielen – eine Perversion der originären Anschauungen. Zu dieser Divergenz etwas weiter unten mehr.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

wisses Gewicht (sehr ähnlich den Fitness- und Laufsportlern). Mehr noch und von allen Gruppen am höchsten wiegen aber die psychischen Gründe (39 Personen Bejahungen). Es liegt auf der Hand, dass Yogasportler Stress entgehen und ihre innere Ruhe finden wollen. Bei einer Folgeuntersuchung sollte zu diesem Punkt, der sich von den anderen befragten Gruppen abhebt, gefragt werden, was Einzelne unter ihren psychischen Gründen verstehen. Soziale Gründe hingegen, um dies zu wiederholen, zählen kaum. Speziell bei Yoga kommen zu »Entspannung / Ausgleich« Gedanken an die heutige Lebensweise in den Sinn, insofern Yoga ein dezidiert ruhiger Sport ist, d. h relativ langsam (und dabei auch lautlos) in den Bewegungsabläufen. Von daher kontrastiert der Yogasport stark mit unserem allgemeinen Lebensmilieu, das wohl am auffälligsten von Leistungs- / Zeitdruck bzw. Hektik, d. h. in allen Verrichtungen insbesondere von Schnelligkeit gekennzeichnet ist. Dieses Schnelligkeitsgebot spricht aber nicht primär den Körper an (vgl. das zum Verlust des Laufens in Kapitel 4.2.3 Gesagte), sondern die mentale Anspannung und monotone Bewegungen, z. B. das Bedienen von Tastaturen. Vor allem dürfte Yoga wie kaum andere Körperübungen geeignet sein, bei intensiver Körperkontrolle und Kraftausübung zugleich den Körper deutlich zu erleben, d. h. sich konzentrierend als körperlich-geistig-seelische Einheit zu erfahren und dabei auch im Augenblick aufzugehen. Das für unsere Gegenwart ausgeprägte Phänomen der ständigen Eile oder Hetze wurde schon mit der Einleitung dieser Arbeit angesprochen und dann im Diätetik-Teil unter anderem im Nietzsche-Kapitel behandelt. Hier sei daran erinnert, wie der Kulturforscher Hartmut Rosa diese Hetze in eins setzt mit der Gier nach Materiellem bzw. beides in einer Kompensationsspirale betrachtet, verbunden mit verlorener innerer Geborgenheit der Menschen. Insofern setzt Rosa die Verdrängung des Zeitgefühls auch mit dem Verlust der Religion gleich. 75 Außerdem wurde der Arzt Olaf Koob zitiert, der den Verlust des Augenblicks durch das getaktete, auf einen Erfolgspunkt gerichtete Handeln der Menschen für das gesamt-leibGenau diese spirituelle und ethische Ausrichtung verfolgt der klassische Yoga, wie er u. a. durch den indischen Gelehrten Patanjali (zwischen dem 2. und 4. Jh. v. Chr.) mit dem Leitfaden »Yogasutra« überliefert wird: »Yoga ist jener Zustand, in dem die seelisch-geistigen Zustände zur Ruhe kommen.« Oder auch: »Yoga entsteht, wenn die nach außen gerichteten Fliehbewegungen unseres Geistes (des mentalen Bewusstseins) verlangsamt, unterbrochen, angehalten werden«. Übersetzungsauswahl, zit. in: Tietke, Mathias: Stammbaum, S. 236.

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Gesundheitsaktivitäten heute

liche Wohlbefinden als schädlich verzeichnete. In Einseitigkeit und Monotonie erzeuge dieses Muster (wie es ebenso Hartmut Rosa sieht) beim einzelnen Menschen neben Stress auch Langeweile, insofern eben seelisch-geistige Befriedigung ausbleibt. 76 Ob bei den befragten Yogasportlern aus diesen Gründen, also der Suche nach einem Kontrast speziell zur allgemeinen Hektik 77, die Be-

Zur Wiederholung vgl. Rosa, Hartmut: Beschleunigung, insbes. S. 43 f. und Koob, Olaf: Hetze, insbes. S. 117 sowie FN 11 und 278. 77 Unter »Hektik« könnte man außerdem Lärm verstehen, doch ist dieser mit schnellen Bewegungen und engen Zeitplänen zwangsläufig verbunden. Man denke an die Maschinisierung der Arbeitswelt, in der seit über 150 Jahren immer leistungsfähigere Maschinen immer mehr Lärm erzeugen, bis es jeweils gefordert wird bzw. durch weitere technische Entwicklungen gelingt, diesen Lärm durch Dämmtechniken o. ä. zu drosseln. Jetzt, unter Vorgabe der Wachstumswirtschaft, werden sogar auf dem Land mit der Zunahme riesiger Agrarmaschinen Stille bzw. Naturlaute immer mehr zurückgedrängt. Prägende Erfahrungen der Natur, die rhythmisch verläuft und nicht hektisch, sind fast unmöglich geworden (man denke etwa an Sören Kierkegaards »Auffliegen eines Auerhahns« in: Angst, S. 186). Das Stichwort, das heute Schnelligkeit und Lärm zusammenfasst, ist »Mobilität«, Hauptfaktor in Stadt und Land dabei der berufliche und private Fahrzeugverkehr, Letzterer grassierend durch die Wohlstands-Freizeitgesellschaft. Dazu: Jede halbe Minute startet über Deutschland ein Flugzeug, lärmend und luftverschmutzend, Frachtflugzeuge transportieren nachts möglichst billige Waren, viele zum Überfluss und zum Wegwerfen, insbes. auch Nahrungsmittel. Der Effizienzdruck bzw. der Freizeitstrom der gleichgültigen Wohlstandskonsumenten kennen keine Ruhephasen mehr wie die Nacht oder den Sonntag. Die Destruktion verbindet Zeit und Raum, indem schnelle Zweckmaßnahmen (z. B. Bauten von Straßen, Gebäuden, Energieversorgungsanlagen) die Außenwelt verschandeln. Auch muss noch die »Lichtverschmutzung« erwähnt werden, das Phänomen, dass es über Städten und Industrieanlagen nachts nicht mehr dunkel wird. Ärzte und Ökologen fordern bereits den »Schutz der Nacht« und klagen: »Lampen stören Lebensrhythmen«, so mit Artikel von Held, Martin, in: Naturarzt 11 / 2014, S. 33– 35. Speziell zum grotesken Umgang wohlhabender Menschen mit der Zeit äußern sich Hartmut Rosa und Fachkollegen in der Programmschrift »Zeitwohlstand«. Dieses Konzept für ein besseres Wirtschaften und Leben entlarvt z. B. die Angst der Deutschen vor ökonomischem Verzicht als maßgeblich für ihr Hetzverhalten, obwohl man ohne Hetze ein zufriedenes Auskommen haben könnte. Bei der Angst vor Verzicht seien wiederum Grundprämissen falsch wie die Gleichsetzung von Wohlstand und Wachstum. Suffizienz und Subsistenz wären dem entgegenzusetzen. Vgl. Zeitwohlstand, insbes. S. 25, 41–49. D. Verf. möchte anmerken, dass individuell gesehen viele Arbeitnehmer Selbstausbeutung betreiben mit einem Leistungsprofil, das oft gar nicht von Vorgesetzten verlangt wird, z. B.: »Ich bin auch am Wochenende für Kunden erreichbar.« Allerreichbarkeit scheint ein Statussymbol geworden zu sein. Mittel wie das Handy schaffen grenzenlose Möglichkeiten, die kritiklos auf das eigene Leben mit dessen leiblichen Bedingungen übertragen werden. Evtl. waren herkömmliche Zwänge nach dem Muster von »Herr und Knecht« mehr entkoppelt als hier, wo 76

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

jahung des Punktes »Entspannung / Ausgleich« sehr hoch ausfällt, lässt sich ohne Nachfragen nicht beantworten, aber es ist stark anzunehmen. Dann würden sie sich gemäß Hartmut Rosa auch ohne spezielle Meditationsinhalte (wie z. B. Mantras) durch die Yogaausübung in eine religiöse Sphäre begeben, weil mit dieser Ausübung das ganz säkulare Muster von Hetze, Gier und Streben aufgegeben wird. Wie bewusst das bei den Kursteilnehmern ist oder gesucht wird, müsste eben bei anderer Gelegenheit nachgefragt werden. Insofern man sich beim Yoga-Ausüben leiblich und im Augenblick erfährt, hat der Sport jedenfalls etwas eng an die alte Diätetik Anknüpfendes. Im heutigen Alltag ist ein solches Muster rar geworden. Man kann wohl an dieser Stelle sagen, Yogasportler bzw. hier überwiegend -sportlerinnen, zeigen sich nach dem bisher Ermittelten als Individualisten. Sie üben einen unspektakulären Sport aus, und sie suchen auch sozial gesehen ihre innere Ruhe, d. h. eine Umgebung mit Gleichgesinnten, die jeweils für sich ihren Körper und ihre Seele ins Lot bringen wollen. Die Sportart selbst, die Konzentration auf die körperliche und innere Haltung, bringt das mit sich. Wahrscheinlich suchen diese, vor allem Frauen, wie heute viele »Ausgepowerte« überhaupt einen Ort (räumlich und sozial gesehen), an den sie sich aus dem Alltag zurückziehen können, um Körper und Seele Gutes zu tun. Gutes – das wäre den Daten gemäß die Bewegungsanstrengung als Kontrastprogramm zu einem Alltag, der mit Hektik einerseits, Bewegungsmangel andererseits Körper, Seele und Geist verkümmern lässt und dagegen Stress bzw. Langeweile verursacht. 78 Bei vielen Frauen mit Familie, die in der knappen freien Zeit einen Kurs besuchen, bewirkt aber bekanntlich das familiär verursachte Schuldgefühl, etwas für sich selber zu tun, psychischen Stress. Der therapeutisch organisierte Kursus könnte dieses Problem erleichtern. Relativ hoch werden mit Frage 7.15 geistige Gründe angegeben mit insgesamt 48 Bejahungen. Diese vorgegebene Antwortoption fehlte aus sachlichen Gründen den Vorgänger-Gruppen. Bei der AufHerrscher und Beherrschter unter dem Anschein von Autarkie, angeblich durch die elektronische Technik ermöglicht, in einer Person zusammenfallen. 78 Deutlich kann in der Yogaübung ungestört der eigene Leib wiederentdeckt werden, nachdem es natürlich bestimmte menschliche »Existenzweisen« nirgends mehr gibt. Hiermit wird ein neuer Titel des französischen Philosophen und Soziologen Bruno Latour zitiert. Latour sieht heute nicht nur unsere Umwelt (vgl. Heideggers »Gestell«), sondern auch das Selbstgefühl des zeitgenössischen Menschen als komplett »instauriert« an: Existenzweisen, z. B. S. 236 f.

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Gesundheitsaktivitäten heute

nahme des Punktes in den Fragebogen stand die besondere, in der Einleitung skizzierte Tradition des Yoga im Hintergrund. Die Betroffenen suchen also in der Yogaausübung auch einen Ort geistiger Erfahrungen. Denkbar sind die Beruhigung sorgenvoller Gedanken, die Anregung zu positiven Gedanken, den eigenen Frieden finden bzw. »Gelassenheit«, wie es in der Einleitung erwähnt wurde, und vielleicht überhaupt einen Ort der Bewusstwerdung. Offenbar wird die heute sogenannte »ganzheitliche« Erfahrung erstrebt, womit meistens einen Gegensatz zur Dominanz des Denkens und äußerlichen Strebens gemeint ist. Die Vorstellung von »Ganzheit«, einem Stichwort der Frage, umfasst in ähnlichen Angeboten, wie sie der Verfasserin bekannt sind (z. B. Kräuterwanderungen, Qigong mit ähnlichem Problem der »Verwestlichung« wie beim Yoga) normalerweise den persönlichen, früher »Mikrokosmos« genannten Raum mit körperlichen, seelischen und geistigen Erfahrungen. In der Einleitung zu diesem Kapitel wurde das schon angeschnitten. Ursprünglich meinte diese Vorstellung auch eine Transzendierung und betraf so – vgl. besonders die Ausführungen zu Hildegard von Bingen – eine makrokosmologische Dimension. Es ging darum, die eigene Bestimmung und Orientierung aus der äußeren Natur sowie aus einer göttlichen Macht zu finden. Auf der Hand liegt, dass weltlich-therapeutische Yogakurse dies nicht leisten können, aus rechtlichen Gründen kaum dürfen und aus wirtschaftlichen Gründen nicht unbedingt wollen. Doch was passiert eigentlich in der typischen Yogaübung? Asana-Übungen dienen, der Grundabsicht des hinduistischen Yoga zufolge, nicht der direkten Einflussnahme auf den Körper, sondern der Aufnahme und blockadefreien Weiterleitung eines göttlichen Lebensprinzips, das sowohl mit dem Atem als auch als reine Energie im menschlichen Organismus wirken soll. Mystisch fortgesetzt, geht es um die Vereinigung mit der höchsten Gottheit. Die hinduistischen Traditionslinien rezipierten eine kosmische Lebensenergie Prana (vgl. das chinesische Qi, das japanische Hara u. ä.). Spezielle Atemübungen nennen sich Pranayamas. Unter heute vielseitigen und auch speziellen Anwendungen, z. B. Yoga für den Rücken oder Yoga zur Meditation, gibt es auffällig solche (überwiegend unter den gedruckten Anleitungen für Zuhause), die als bloße Gymnastikübungen zu bewerten sind. Vom klassischen Gymnastikbegriff her (vgl. bei den alten Griechen die Verbindung von körperlich-ästhetischem und ethischem Training im Begriff der kalokagathia) könnte aber auch in diesen ein geistiger Bezug gesehen werden. Für den 302 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

Yogakenner Mathias Tietke ist das alles viel zu weit gedacht. Anders als sein konzilianter Fachkollege Georg Feuerstein (beide bereits in der Einleitung zitiert), kritisiert Tietke in einem aktuellen Buch die letztjährige Entwicklung des westlichen Yoga scharf. Parallel zur ständig steigenden Beliebtheit sei die Entwicklung als Verflachung und Kommerzialisierung zu bezeichnen. Yogaübungen seien reine Fitnessübungen für den Körper geworden, die gewiss auch eine seelisch-geistige Harmonisierung böten wie jeder Sport, aber keine transzendenten Bezüge mehr hätten. 79 Worin unterscheidet sich dann Yoga noch von anderen Sportarten, etwa in Deutschland von dem sich ausbreitenden Pilatestraining, das, bereits 1883 erfunden, eine geistig gestützte umfassende Körperertüchtigung erstrebt? Ein der Verfasserin vorliegendes Volkshochschulprogramm spricht in der Einleitung zum Yoga-Teil von »Bewusstseinsöffnung«. Viele andere Programme sprechen nach Kenntnis der Verfasserin von »Energie« oder »Energiefluss«. Man will und muss mit solchen unbestimmten Formulierungen offensichtlich einen attraktiven (d. h. werbewirksamen) metaphysischen Zug vermitteln und zugleich möglichst neutral, d. h. an ein plurales Publikum anschlussfähig, bleiben. Durchaus gibt es aber nach Kenntnis der Verfasserin Angebote, die sich tatsächlich originärer Züge bedienen, z. B. in der Ausführung des schon thematisierten, beim Yoga wichtigen Atmens. Gar nicht selten verbreitet ist z. B. die Anschauung aus der psychotherapeutisch-psychosomatischen Praxis, belastende Gefühle an das Ausatmen und positive Gefühle an das Einatmen zu binden. Bei Kursen innerhalb von Kirchengemeinden (wie sie schon angesprochen wurden) wird dies gerne mit Gebetsformen des Lobens und Dankens oder des Klagens und Bittens verbunden. Die eigenen Gefühle geraten damit in Austausch mit einer göttlichen, harmonisierenden Sphäre und zunächst, soweit es den Teilnehmern bewusst ist, mit der Natur. Wenn dabei die Natur als göttliches Werk betrachtet wird, würde im Prinzip eine maximale Form von Partizipations-Bewusstsein erreicht werden. 80 Vgl. Tietke, Mathias: Yoga kontrovers, insbes. in seinem Resümee S. 113: »Die angeführten Beispiele zeigen deutlich, wie sehr die eingangs zitierte Feststellung … zutrifft, wie ein Menschheitserbe unmenschlich-kapitalistisch heruntergewirtschaftet wurde und weiterhin heruntergewirtschaftet wird.« 80 Interessant ist übrigens eine neuerliche Verbindung zum Yoga im meditativen Laufen. Einerseits wird dabei die immer schon für das Laufen wichtige Harmonisierung des Atems betont, nun nicht nur in funktionalisierter Form, sondern als lebendiges 79

303 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

So kann die strittige Frage nach Geistigkeit oder Spiritualität des jetzigen westlichen Yoga wohl am besten mit dem Begriff »Anschlussfähigkeit« beantwortet werden. Im Ansatz schwingt das spirituelle Ziel bei jeder Yogaausübung mit. Im weltlich-therapeutischen Kontext bleiben aber in der Regel tiefere geistige Öffnungen und speziellere Anschauungen den Anbietern bzw. einzelnen Teilnehmern überlassen. Insbesondere kann die Frage nicht beantwortet werden, was die Teilnehmer dieser Untersuchung unter ihren »geistigen Gründen« verstanden, und sie müsste (wie auch zu den psychischen Gründen) in einer Folgeuntersuchung nachgeholt werden. Dass aber die geistigen Gründe so zahlreichen Teilnehmern dieser Befragung wichtig sind, zeigt, dass sie im Yoga etwas suchen, was ihnen im Alltag verwehrt wird. Statistisch gesehen, insofern bei den Gründen für den Yogasport Mehrfachantworten möglich waren, werden die geistigen Gründe überlagert von der zahlenmäßig extrem hohen Suche nach Entspannung und Ausgleich. Von daher könnte es vielen GeistSuchenden allein schon darum gehen, bewusst unguten Kräften gegenzusteuern, nämlich bedrängenden Geboten unseres Alltags wie dem Funktionieren-Müssen, der ständigen Anspannung, dem Zeitdruck, dem ausschließlich rational Entscheiden-und-auftreten-Müssen. Umgekehrt vollziehen sich solche Zwänge unter Ermangelung eines kreativen Spielraums, lebendiger Abwechslung und Erholung – der Mensch empfindet sich als »ausgebrannt« und braucht Abstand, also Erholung, von diesem Muster. Messbar ist der Grad der Transzendierung bei einem befragten Individuum sicher nicht, aber eine Folgeuntersuchung sollte unbedingt das individuelle Verständnis von »geistigen Gründen« erfragen. Es ist eigentlich verwunderlich, dass diejenigen, die den westlichen Yoga als »entfremdet« bezeichnen, das nicht schon längst getan haben. Um vorzugreifen: Bei den freien Antwortoptionen des Fragekomplexes 13 (»Was tun Sie sonst noch?«) hätte, wer gewollt hätte, die geistige Einstellung explizieren können (z. B. Gottvertrauen, Kontemplation). So ist bei diesen Befragten doch eher die säkulare Form des Geistigen zu vermuten. Jedenfalls: Im Verbund mit den Angaben

Phänomen. Andererseits gibt es auch hier den Vorschlag zu einer Körperhaltung, die, ohne die motorischen Abläufe des Laufens zu behindern, den »Energiefluss« unterstützt: Z. B. solle die Zungenspitze den vorderen Gaumen berühren, um vordere und hintere Körperhälfte für die Energiedurchflutung besser zu verbinden, vgl. Fr. Michael Bauer: Seele läuft, S. 100.

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Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

zu Entspannung / Ausgleich sind die Zahlen, selbst im Fall einer seichten Behandlung des Geistigen, ein ernst zu nehmendes Indiz für das Wesen der Fitness- und Gesundheitsbewegung. Ganz offensichtlich fungiert sie als Substitut für Lebensgüter, die der moderne Alltag den Menschen vorenthält, womit er ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit schädigt. 81 Beachtet werden sollte noch das im Rahmen freier Antwortoptionen Nicht-Gesagte. Zur Förderung der Bewegung bzw. der seelisch-geistigen Öffnung und Harmonisierung könnte man z. B. Gartenarbeit tun (im traditionellen Sinne der Handarbeit und Fühlung, möglichst ohne jedem leicht verfügbare lärmende Maschinen) oder ein kreatives Hobby betreiben, lesen oder musizieren. Doch werden solche Ideen, angelehnt an die kommerziellen Angebote, deren Denken offensichtlich die meisten Menschen bestimmt, nicht mit Gesundheit assoziiert. Außerdem hätte im Rahmen der freien Antwortoptionen auch »Naturbezug« als Motivation angegeben werden können, wenn man an das Atmen denkt (schon angesprochen z. B. in FN 73). Die Verbindung mit dem Atem der Außenwelt ist ein wesentlicher Zug des originären Yoga. Der Atem kann dabei sowohl naturhaft als auch zugleich göttlich bewertet werden (und damit die Außen-Innenwelt insgesamt als Kosmos). Gezielt finden deshalb auch manche Yogakurse im Freien statt. Diese Befragung fand innen statt, womit vermutlich das Thema »Natur« niemals eingeführt worden war, und von selbst kam eben kein Teilnehmer darauf. 8

9

10

Wenn »Gesundheit« bei 7 zutraf, wie bewerten Sie den Druck der Arbeitswelt (Fehlzeiten vermeiden, leistungsstark sein, im Alter noch mithalten können usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben Wenn »Gesundheit« bei 7 zutraf, wie bewerten Sie den Druck aus dem persönlichen Umfeld (Familie, Freunde), etwas für die Gesundheit zu tun? Wenn »Gesundheit« bei 7 zutraf, wie bewerten Sie den Einfluss der allgemein gestiegenen Lebenserwartung auf Ihr persönliches Verhalten (lange Altersphase soll möglichst gesund verlaufen, wirtschaftlich: Menschen müssen evtl. länger arbeiten usw.)?

D. Verf. fügt aus ihrer Erfahrung an, dass Yogakurse für Kinder aufkommen, die besonders wegen ihrer ausgleichenden Wirkung gegen die einseitigen Leistungsbelastungen der Schule beliebt sind.

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305 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

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12

Wenn »Schönheit« und / oder »psychische Gründe« bei 7 zutraf (en), wie bewerten Sie den Druck der Arbeitswelt (selbstbewusst wirken, gute Ausstrahlung haben, leistungsstark wirken, nicht alt wirken usw.)? Wenn »Schönheit« und / oder »psychische Gründe« bei 7. zutraf(en), wie bewerten Sie den Druck der Gesellschaft (selbstbewusst wirken, gute Ausstrahlung haben, nicht alt wirken usw.)?

Der Druck der Arbeitswelt auf die Gesundheit wird als relativ hoch angegeben; nur in der Ernährungs-Gruppe wurde höher benotet. Verglichen mit den anderen beiden Sport-Gruppen votierten bei Yoga etwa gleich viele Personen für die hohen Noten wie für die mittleren (15 für Note 3, 14 für Note 6). Bei den anderen Sport-Gruppen fällt der Kurvenverlauf stärker ab. Zwischen Stadt und Land lässt sich keine Regelmäßigkeit im Urteil erkennen. Beim persönlichen Umfeld wird im Gegensatz zu allen drei Vorgänger-Gruppen mehr zum mittleren statt zum niedrigen Bereich tendiert. Aus alledem ergibt sich ein relativ hohes Druckempfinden bei den Yogasportlern. Im Blick auf die Lebenserwartung zeigt das Diagramm 10 die höchste Besetzung der Note 6 unter allen vier Gruppen, nämlich durch fast ein Drittel, 23 Personen. Innerhalb dieses einen Diagramms trägt ebenfalls die Note 6 den höchsten Ausschlag. Yogasportler befassen sich danach ernsthafter mit ihrer individuellen Gesundheit als die Befragten der anderen Gruppen. Aus der Perspektive der angegebenen Gründe und im Kontext dieser Sportart betrachtet, gehen sie offenbar davon aus, dass zum Erreichen eines gesunden Alters eine umfassende Harmonisierung des eigenen Organismus nötig ist. Vergleicht man das Druckempfinden auf die Schönheit durch Arbeitswelt und Gesellschaft (Fragen 11, 12) bei den Yogasportlern mit dem der Fitnesssportler und Läufer, so wiegt es ähnlich. Die Arbeitswelt wird dabei von den Yogasportlern für maßgeblicher gehalten als das gesellschaftliche Umfeld. Bei Fitness und Laufen war das umgekehrt. Yogasportler wirken damit etwas immuner gegen gesellschaftliche Strömungen, aber anfälliger im Fall der direkt erlebbaren Konkurrenz. Die Stadt, 8 Personen mit Note 4, zeigt sich hier besonders empfindlich.

306 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

13 13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 13.6 … 14

Was tun Sie sonst noch für Fit sein, Gesundheit, Wohlbefinden (im umfassenden Sinn)? Bitte ankreuzen bzw. angeben gesunde Ernährung Saunabesuche regelmäßige Kontrolle (evtl. Vorsorgeuntersuchungen) bei Arzt oder Heilpraktiker Kuren / Fasten Wellness / Massagen nichts weiter (freie Antwortmöglichkeiten) Wenn etwas zutraf bei 13, seit wann tun Sie dies?

Bei den zusätzlichen Maßnahmen für die Gesundheit rangiert äußerst hoch die gesunde Ernährung mit 84 Ja-Antworten (vgl. 67 Fitness, 77 Laufen). Yogasportler leben mithin besonders gesundheitsbewusst, denn die Ernährung ist ein tagtägliches Programm jedes Menschen. Saunabesuche dagegen werden etwas weniger gewählt als bei den anderen beiden Sport-Gruppen. Angesichts der harmonisierenden Effekte des Yoga wird vermutlich zusätzliche Entspannung, wie sie die Sauna unter anderem mit sich bringt, als weniger notwendig empfunden. Dennoch sind über ein Viertel der Yogasportler auch Saunierende. Weitaus höher als in allen anderen Gruppen wird mit 13.4 die Frage nach Kontrollen oder Vorsorgeuntersuchungen bejaht, nämlich von 60 Personen. Vielleicht stecken in dieser Zahl die Klienten der Heilpraktikerin, die, wie oben schon vermutet, auch ihre Patienten sind oder werden. Gewiss wirkt sich außerdem der insgesamt hohe Frauenanteil auf die Bereitschaft zur Kontrolle und Vorsorge aus. Dabei kommt die von vielen Frauen regelmäßig besuchte gynäkologische Vorsorge in den Sinn. Möglicherweise, von den bisherigen Eindrücken über die Yogatreibenden her gesehen, besuchen aber die meisten eher die Heilpraktiker- als die Arztpraxis. Besonders auch die hohe Affinität zur gesunden Ernährung spräche dafür. Es wurde ja im Rahmen der Ernährungs-Gruppe schon erklärt, dass die gesunde Ernährung im schulmedizinischen Kontext, wenn überhaupt, dann meistens eine oberflächliche Stellung hat. Die Verbindung zum Heilpraktiker würde gleichsam die Regelmäßigkeit des Kontakts erklären, denn den naturheilkundlichen Therapien wohnt die dauerhafte, beobachtende Anwendung inne. Freie Optionen wurden noch aus dem Kuren- / Fasten- und Wellness- / Massagenbereich genannt, aber 307 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

unbedeutend an Gewicht. Niemand gab »nichts weiter«, also keine sonstigen Ausübungen, an, d. h. alle Befragten sind mehrgleisig für ihre Gesundheit engagiert. Diagramm 14 zeigt, dass die Maßnahmen oder Einstellungen die Betroffenen im Durchschnitt schon mehr als 10 Jahre begleiten, also länger als das Yogatreiben (vgl. Frage 4). Die Werte ähneln denen der Vorgänger-Sportgruppen, nur bei der Ernährung lag der Schnitt dieser Ausübungszeit noch höher. Insgesamt wirken Yogasportler umfassend und durchdacht an ihrer Gesundheit interessiert. 15

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Wie bewerten Sie den Erfolg Ihres gesamten Fitness- und Gesundheitsverhaltens im Verhältnis zu Ihren Gründen / Zielen? Bitte Bewertungsnote vergeben Wie bewerten Sie den Aufwand Ihres gesamten Fitness- und Gesundheitsverhaltens im Verhältnis zum Erfolg (Anfahrt, Kosten, Verzicht auf Anderes, körperliche Erschöpfung hinterher, langfristig körperliche Überlastung usw.)? Machen Sie Ihre Körperübungen gerne? Ja Teilweise

Die Erfolg-Aufwand-Werte ähneln denen der anderen Gruppen. Erwähnenswert ist dabei, dass die Städter im Blick auf den Erfolg besonders hoch urteilten (20 Personen mit Note 6). Vielleicht liegt das einerseits, wenn logistischen Aufwand betrachtet, an der günstigeren Infrastruktur der Stadt (insbesondere der Studio-Dichte). Andererseits wird vielleicht der Erfolg, ausgehend vom stressenden Alltag, in der Stadt höher bewertet als auf dem Land. Frage 17 belegt wie bei den anderen Gruppen eine hohe Zufriedenheit mit dem gesunden Handeln. Der auch hier zu unterstellende »Schweinehund« liegt im Mittel, verglichen mit den beiden anderen Sport-Gruppen. Wenn im Zusammenhang mit »Entspannung und Ausgleich« von Wünschen und ihrer Erfüllung auf der Yogamatte gesprochen wurde, so bleibt dennoch zu berücksichtigen, dass Yoga wie jeder andere Sport auch das harte Training umfasst mit Übungen, die zunächst ungewohnt und schmerzhaft sind, und dass jedes Training den eingefahrenen Tagesablauf praktisch und im Empfinden sprengt, also Überwindung erfordert.

308 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten

Yogasportler, nach dieser Umfrage überwiegend Frauen, wirken unter den vier Befragungsgruppen besonders engagiert. Wie die Akteure der anderen drei Sport-Gruppen suchen sie in Bewegung, Entspannung und Ausgleich ein Kontrastprogramm zu den gesundheitlich wirkenden Vorenthaltungen und Schädigungen des Alltags. Bei vielen der befragten Yogasportler ist auch eine psychische Wirkung wichtig, und, noch viel mehr, eine geistige Suche inbegriffen. Yogatreibende sind besonders interessiert an der therapeutischen Kontrolle ihrer Gesundheit, worunter vor allem die naturheilkundliche Begleitung zu vermuten ist. Mit der eigenen Veranlagung befassen sie sich etwas stärker als die anderen Teilnehmer. Gesunde Ernährung ist ihnen äußerst wichtig. Die drei letztgenannten Eigenschaften hängen sicherlich mit dem hohen weiblichen Personenanteil zusammen. Die hoch besetzten Bejahungen von »Bewegungsmangel« und »Entspannung / Ausgleich« fielen, insofern dieses Antwortverhalten den anderen beiden Sport-Gruppen ähnelte, abermals auf. Bei der Bewegung ist hier an den Aspekt der Beweglichkeit zu denken. Vor allem aber fiel die hohe Bejahung geistiger Gründe auf. Dazu passt die Erscheinung der Interviewten: Der Interviewer bezeichnete die Befragung als »eindrucksvoll«, die Sprache der Antwortenden als »betont ruhig«; sie »strahlten Harmonie aus«, wollten ersichtlich ihr »eigenes Lot finden oder halten«. Geleitet vom Originärbegriff des Yoga wurde die Art der inner- oder überweltlichen Ausrichtung überprüft. Generell fehlt den heutigen Angeboten die konkrete und verbindliche Anleitung zur Transzendierung, wie es originär bei der religiösen Bindung an eine Gottheit der Fall war. Unter den hier vorliegenden Antworten wurden, z. B. durch freie Antwortoptionen, keine Hinweise auf Religiosität gegeben. Yoga besitzt seinem Wesen nach ein geistiges Potenzial, und das scheint ihn im säkularen Westen attraktiv zu machen. Der Begriff »Ganzheit« war außerdem im Spiel. Er wird heute im weitgehend weltlichen Zusammenhang benutzt und meint dort eine Erfahrung, die Körper, Seele und Geist erfüllt. In dieser Bedeutung ist er auch hier zu vermuten. Es dürfte daher in der sportlich-therapeutischen Anwendung auf die einzelnen Individuen ankommen, wie sie sich dem geistigen Potenzial auch spirituell öffnen, also das Leben als übergeordnete Größe verstehen. Eine Folgeuntersuchung sollte nach dem spezifischen Verständnis geistiger Gründe fragen. Yoga enthält mit dem Atmen auch ein naturhaftes Potenzial 309 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

sowie die Verbindung von Natur und Spiritualität im Kosmosbegriff, doch bei den Antwortenden war das nicht bewusst. Damit zeigt sich heute, wie es Kritiker implizieren, die quasi diätetische Seite des Yoga als verlorengegangen. Sehr deutlich erweist aber der Komplex an hochbesetzten Antworten eine leibliche Intention der Yogatreibenden. Noch mehr als die Vorgänger-Sportgruppen wird von ihnen der moderne Yoga als Ausgleich gegen Mängel oder schädliche Wirkungen des gängigen Lebensstils angesehen. Damit wäre die Ausrichtung nach der diätetischen mesotes inbegriffen. Außerdem könnte es positiv bewertet werden, wenn kommerzielle bzw. öffentlich unterstützte Einrichtungen keine inhaltlichen Vorgaben machen, insofern so jeder Teilnehmer Orientierungen wie paideia und nomos selber finden kann. Die Bewusstheitsform mag dabei heute fraglich sein, doch hat, wer einen Yogakurs betritt, mit dessen Kontrastmuster zur gesellschaftlichen Prägung, insbesondere der ständigen Hetze bzw. materiellen Gier, einen entscheidenden Schritt der Selbstorientierung schon getan bzw. hat Capability zur Selbstbestimmung seines Lebens gezeigt. Diese zuletzt genannten Aspekte können Kritikern entgegengehalten werden, die den westlichen Yoga nicht nur als angepasst, sondern als total verfälscht betrachten.

4.2 Resümee zur Fitness- und Gesundheitsbewegung Die eher unübliche Verwendung statistischen Datenmaterials in einer philosophischen Arbeit veranlasst noch einmal Gedanken zur Methodik. Die Befragungsdaten sind in möglichst breiter Weise bearbeitet worden. Die Vorbereitung entschied sich für Begriff und Durchführung einer »Interpretation« statt einer »Auswertung« (mit üblicherweise Signifikanzprüfungen zum möglichsten Ausschluss von Zufällen beim Antwortverhalten). So begab sich schon das Vorverständnis mit Zögern an der rein empirischen Methode in die Schnittmenge zwischen faktischem Purismus und philosophischem Erörtern. Wie ist dieses kritische Vorverständnis an der statistischen Methode rückblickend zu bewerten? Die Beschäftigung mit den Daten erbrachte bei vielen Antworten nur Vermutungen; manche Vermutungen erhärteten sich allerdings im Kontext des Weiterarbeitens. Interessante und damit auch wichtige Fragen zum Weiterforschen taten sich erst durch die Untersuchung selber auf. Insofern vorgefasste Eingrenzungen lagen u. a. 310 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Resümee zur Fitness- und Gesundheitsbewegung

daran, dass die Fragebögen absichtlich vor tieferer Einsichtnahme in das Diätetik-Thema formuliert worden waren. Zugleich war die Untersuchung geprägt durch das Ergebnis der Diätetik-Beschäftigung. Hieran tut sich die Frage nach der Richtung eines Vergleichs auf. Hätte die Reihenfolge vertauscht werden sollen? Das wäre in dem Fall ungünstig gewesen, denn die Diätetik als Tradition liefert grundlegende und notwendige Prämissen für die Perspektive auf das Thema. Unterschiede zur modernen Gesundheitspflege traten von Anbeginn dieser Untersuchung an so offensichtlich zutage (allerdings auf wesentlicherem Niveau als die rein oberflächliche Phänomenbetrachtung bei den genannten Kritiken), dass ihre Nichteinbeziehung problematisch gewesen wäre. Schließlich ist es notwendig, dem Wesen einer philosophischen Untersuchung zufolge, philosophische Kategorien als Orientierungshintergrund zu berücksichtigen. Zur Lösung ungelöster Fragen kann und sollte die gewählte Methode, wie schon mehrmals gesagt wurde, in einer differenzierenden Folgeuntersuchung fortgesetzt werden, z. B. zur Ergründung, was die Betroffenen genauer unter ihren »psychischen Gründen« verstehen oder unter ihrer »geistigen Einstellung«. Es wäre also eine Vertiefung notwendig, und hier zeigt sich nun ein Kernproblem: Ist mit den schwer erfassbaren Was-Fragen, die auf Qualitatives zielen, die statistische Methode, die quantitative Ergebnisse einbringt, für die Philosophie gescheitert? Die Verfasserin kommt zu einem differenzierten Urteil. Generell gibt es fließende Bereiche zwischen Quantität und Qualität. So werfen hohe Antwortzahlen immer auch ein Licht auf die Brisanz einer Sache und erhellen deren Begleitumstände. Als Beispiel sei daran erinnert, wie die Aspekte Bewegungsmangel und Ausgleich in ihrer numerischen Offensichtlichkeit Ursachen freilegten und erkennen ließen, wie sich die Fitness- und Gesundheitsbewegung aus einem Ursache- und Wirkkomplex generiert. So muss auch Statistik nicht nur an der Oberfläche graben. Als Folge können erkannte Ursachenhintergründe Verständnis wecken, womit wiederum Pauschalurteile von Kritikern relativiert werden können. Das von der Verfasserin kritisierte Vorurteilhafte vieler Publikationen gegen das Fitness- und Gesundheitsverhalten hing ja, um an die Zielstellung der Arbeit zu erinnern, zusammen mit der Nichtbeachtung tieferer Motivationen. Allerdings besäße allein – auch das wurde eingangs ausgesprochen – das gründliche Angehen der Sache gegenüber dem verbalen Vorurteil das Plus der größeren Redlichkeit. Im Einzelnen können nun tatsäch311 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

lich, nach der statistischen Erhebung, Vorurteile mit den Ergebnissen der Untersuchung widerlegt werden. Eine Bewertung dieser Vorurteile gehörte zur Zielstellung dieser Arbeit, eingebunden in das übergeordnete Ziel, die Fitness- und Gesundheitsbewegung vor dem Hintergrund der Diätetik zu beurteilen. Mit »Vorurteil« war gemeint, wie es die Einleitung erkennen ließ, dass die vorherrschenden Standpunkte geisteswissenschaftlicher Publikationen nicht gründlich oder vermutlich gar nicht an der Sache selbst, d. h. an den betroffenen Menschen, überprüft worden waren, sodass es sich eher um Meinungen zu handeln schien. Inhaltlich können nun die mit der Einleitung zitierten Vorurteile an der Fitness- und Gesundheitsbewegung anhand des statistischen Materials, d. h. gerade auch anhand der Vielzahl von Daten, wie sie eine solche Untersuchung ermöglicht, anschaulich widerlegt werden. Dabei würde im Sinne von Karl Poppers Falsifikationsprinzip schon eine einzige Gegentatsache reichen, um eine Pauschalaussage zu wiederlegen. 82 Hier brachten das Antwortverhalten mit zahlreichen Gegenstimmen folgende Züge der Fitness- und Gesundheitsbewegung deutlich ans Licht: •

Die Ausübenden sind nicht nur Mitläufer, sondern sie haben Gründe, die für sich gesehen oder aus dem Kontext der persönlichen bzw. gesamten Antwortdaten als ernsthaft anzusehen sind. Zu den persönlichen, ernst zu nehmenden Gründen gehören z. B. die »ethischen Gründe« bei der gesunden Ernährung oder die »geistigen Gründe« beim Yoga. Kontextbezogen, d. h. aus dem jeweils persönlichen Fragebogen sowie dem gesamten Datenkontext ersehen, fiel die numerisch hohe Beantwortung von »Bewegungsmangel« und insbesondere »Entspannung / Ausgleich« so sehr auf, dass dies ernsthafte Gedanken über die aktuellen Lebensumstände und das Zurechtkommen des Individuums mit ihnen evozierte. Umgekehrt gesehen, ist bei den befragten Ausübenden ein bewusstes reaktives Verhalten erkennbar. Die Ausübenden sehen ihre Aktivitäten keineswegs als sinnlos an, sondern in der überwiegenden Anzahl können sie Erfolge verbuchen, die sie für höher als ihre Aufwendungen bewerten. Außerdem zeigten sich in allen vier untersuchten Gruppen



82

Vgl. Popper, Karl: Vermutungen, S. 348–350, vgl. FN 6.

312 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Resümee zur Fitness- und Gesundheitsbewegung



Langzeitakteure, denen also offensichtlich klar ist, »mir« (oder auch »meiner Familie« bei familienbezogenem Einkauf gesunder Ernährung) tut diese Sache gut«. Das könnte persönliche Haltungen und Erkenntnisse einschließen wie: »Ich kann diese Beschäftigung gut in meine Lebensführung integrieren«, »mein erzieltes Wohlbefinden strahlt auf meine Umgebung aus« u. a. m. – jedenfalls dürften bei den heutigen pluralen Lebensanforderungen (man bedenke allein die ständige Zeitknappheit) geschickte persönliche Muster dermaßen notwendig sein, dass niemand etwas Sinnloses einfach weiterführen würde. Es sei denn, man wäre durch Nebenaspekte wie z. B. menschliche, gewohnte Kontakte im Studio zum Dabeibleiben angehalten, aber auch das wäre nichts »Sinnloses«, sondern etwas, das Geborgenheit gäbe und zum Wohlbefinden beitrüge. Fast allen Befragten der drei Sport-Befragungsgruppen macht ihre Ausübung Spaß. Zu einer Einschätzung, es wären neurotische Sadisten, passt das nicht. Einige Befragte antworteten mit »teilweise«, was angesichts der Überwindung, die eine Trainingseinheit mit sich bringt sowie angesichts eines naturgemäß anstrengenden Trainings eine normale Antwort sein dürfte. Vergleichsweise wäre die geistige Entwicklung eines Wissenschaftlers ebenfalls mit harten Anstrengungen verbunden, ohne selbstquälerisch sein zu müssen. Vielleicht ist auch der Spaßbegriff schwierig und hätte, ähnlich wie »psychische« oder »geistige Gründe«, vertieft werden sollen. Im diätetischen Teil stellte er sich unter einer kritischen Perspektive negativ dar, und möglicherweise gab es unter den mit »teilweise« Antwortenden derart kritische Personen. Jedenfalls gaben sich die Befragten in ihrer ganzen Wirkung weitgehend nicht gequält, sondern eher in Richtung einer Entspannung, die sie ja auch überwiegend suchten.

In den Interpretationen wurde an mehreren Stellen erklärt, wie das Gesundheitshandeln heute angenehm gemacht wird durch öffentliche Trägerschaften oder durch die Einrichtungs- und Organisationsart eines Studios. Die Lebens- und Arbeitsweise tendiert dem Zeitgeist gemäß, soweit dies im engen Korsett der Anforderungen möglich ist, zum Bequemen, wie es ein Zeitungsartikel über die Einstellungen der Jugend beschrieb. »Warum sollte ich mich quälen?« sei deren Lebensmotto. Im ähnlichen Sinne war im Diätetik-Teil, im Ka313 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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pitel über das Baden und Fasten, von der heutigen »Spaßgesellschaft« die Rede. Eine Massenbewegung, die den Teilnehmern Quälerei abverlangt, würde zu diesem Zeitgeist nicht passen (sondern eher z. B. in die Epoche des Turnvater Jahn). Vergleichsweise bedenke man auch, wie z. B. Anbieter von Diätkonzepten alles daran setzen, Klienten das Abnehmen leicht zu machen. Das gesamte Konsum- und Dienstleistungsangebot, das, wie in dieser Arbeit mehrmals erklärt wurde, unsere heutigen Lebensmuster stark bestimmt, läuft in Richtung eines »easy going« (vgl. das große Angebot sogar an Biolebensmitteln als »convenience food«). 83 Im Hinblick auf die Methodendiskussion kann an dieser Stelle also gesagt werden, dass das statistische Verfahren nicht nur als gründliches Vorgehen im Gegensatz zu den zitierten Kritikern anzusehen ist, sondern mit den soeben genannten Ergebnissen auch als taugliches Vorgehen in inhaltlicher Hinsicht. Die zahlenmäßige Ergründung von Verhaltensweisen hat nämlich Züge ans Licht gebracht, die von den Kritikern ignoriert bzw. verkannt worden sind. Insoweit muss die statistische Untersuchung für die Fragestellung dieser Arbeit als hilfreich angesehen werden. Ist sie aber auch hinreichend, um beispielsweise nochmals die Frage nach der notwendigen Anzahl von Daten ins Spiel zu bringen? Hierzu wurde in der Methodendiskussion des Teils 2 dargelegt, dass mangels spezifischer Vorschriften und im Vergleich mit üblichen Untersuchungen die Zahl 400 als hohe Anzahl anzusehen sei. Sind aber 400 Akteure aus vier Sparten geeignet, um – im Blick auf das übergeordnete Ziel dieser Arbeit – eine Beschreibung der Fitness- und Gesundheitsbewegung, eines Breitenphänomens in der westlichen Welt, abzugeben, insofern als es in Deutschland z. B. im Jahr 2011 allein schon 7,6 Millionen Personen mit Fitnessstudio-Vertrag gab (vgl. FN 28)? Die Frage kann sicher nicht pauschal beantwortet werden, sondern u. a. anhand von gewichtender Betrachtung der Ergebnisse selber. Im Fall dieser Studie zeigten sich derart markante Muster im Antwortverhalten (z. B. die übereinstimmend geringe Bewertung der persönlichen Veranlagung, die gemeinsam hohe Bewertung des BeEs gäbe dazu noch unzählige Beispiele, allein schon an einem saloppen Gesundheitsjargon zu bemerken, etwa »sich Gemüse (oft zusammen mit Nahrungsergänzungsmitteln) in den Mixer schmeißen« (um sich in der Küche »Grüne Smoothies« zuzubereiten, d. Verf.).

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wegungsmangels, bestimmte Kombinationsmuster von Vorlieben und Abneigungen je nach Gruppe), dass nach Einschätzung der Verfasserin durchaus von einer Gültigkeit gesprochen werden kann. Von daher wird sich die inhaltliche Bewertung am Schluss des Kapitels auf diese Daten stützen. Methodisch ergibt sich nochmals eine andere Frage, nämlich ob die personelle Zusammensetzung der Teilnehmer die Bewertung der Sache abdeckt. So sehr im Vorfeld Repräsentanz erstrebt wurde (vgl. speziell die zur Ernährungs-Gruppe getätigten Detailüberlegungen), so können auch dazu nun aus den Antwortdaten Hinweise gefunden werden. Bei dem Personenkreis der hier Teilnehmenden war mit Antworten wie geringer Akutbeschwerden-Belastung, der Missachtung von individueller Konstitution und gesellschaftlicher Stellung der Gesundheit sowie mit phantasielosem Antwortoptionen-Umgang aufgefallen, dass es sich um überwiegend gesundheitlich sorglose, also gesunde Menschen handelt. Waren kranke Menschen von vornherein von dieser Befragung ausgeschlossen? Dabei soll der Begriff »krank« im individuellen Sinne von »gesundheitlich leidend und unter Leidensdruck stehend« sowie im diätetischen Sinne nicht als Grenzbegriff verstanden werden. Hätten nicht auch Sparten hinzugezogen werden sollen, die auf den persönlichen Umgang mit gesundheitlichem Leiden bzw. auf die Vorbeugung bei Schwächen spezialisiert sind, also von der diätetischen Prämisse des Leidens ausgehen? Als solche Sparten kämen heute der Behindertensport in den Sinn, ähnlich auch das therapeutisch ausgerichtete Kieser-Training 84, die von Orthopäden verordnete Krankengymnastik und alles, was im Zwischenbereich von Volkssport und Medizin angeboten wird. Auch das ist sicher ein Zug unseres Zeitgeistes, dass solche Einrichtungen allgemein anerkannt sind, zunehmen und immer mehr Berührungspunkte zum Breitenangebot aufweisen. Die Sportwissenschaftlerin Erika Dilger sieht bereits eine Verschmelzung in den zunehmend mehr aufgefächerten und dabei auch therapeutisch agierenden Angeboten der Fitnessstudios (vgl. FN 38). Speziell angesichts der Zunahme von Senioren in der deutschen Gesellschaft könnte sich diese Einschätzung in der Zukunft erhärten. Auch könnte sich zukünftig aus Personen mit süd- und osteuropäischem Migrationshintergrund, die vielfach die Begabung zu Pflegeberufen haben, ein neues PersonalEin mehr präventives Krafttraining nach einem in der Schweiz 1967 entstandenen Konzept, das auch medizinische Therapien unterstützen kann.

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profil in Sporteinrichtungen ergeben. Die immer pluraler werdende Gesellschaft lässt sicher in fast allen Lebensbereichen neue und flexiblere Gestaltungsformen erwarten. Der Beobachtung nach zeigt sich aber bisher eine Verschmelzung von Fitness- und therapeutischen Angeboten nur sehr marginal gegenüber dem Breitenangebot. Und gerade das Breitenangebot, wie es Beobachtern weitläufig auffallen kann (z. B. im Jogger an der Landstraße, im Lebensmittel-Einkaufsverhalten), war Gegenstand dieser Untersuchung, zumal sich hieran die einbezogenen Kritiken entzündet hatten. Von daher erscheinen die genannten Einrichtungen als zu speziell für eine Berücksichtigung, doch sollen an späterer Stelle ihre Bedeutung und die Zukunftsprognose noch einmal diskutiert werden. So bleibt zunächst zu konstatieren, dass Kranke fehlen, und dass dies ein Defizit der Fitnessbewegung sei, denn es entzündet sich begrifflich ein Widerspruch, wenn eine Bewegung der Gesundheit dienen will, aber die kranke Seite nicht erkennen lässt. Methodisch wäre aber gerade deren Perspektive wichtig zur Bewertung eines Phänomens, das erklärtermaßen mit Gesundheit und damit zwingend auch mit Krankheit zu tun hat. Methodisch und in der Folge inhaltlich liegt hierin sicherlich das größte Defizit der bisherigen Untersuchung: Kranke Menschen fehlen. Dieses Defizit konstituiert den Teil 5, »Offene Fragen der Untersuchung«. Schon mit den offen gebliebenen Was-Fragen zeigte sich, dass eine vorgefasste Methode nicht erschöpft werden kann, wenn es um Menschen und ihre Befindlichkeiten geht. Von daher drängt es sich auf, in dem zu ergänzenden Teil 5 betroffene kranke Menschen (nochmals betont als: an ihren Beschwerden Leidende und Abhilfe Suchende) zu Wort kommen zu lassen, d. h. in nunmehr förderlich erscheinender phänomenologischer Untersuchungsweise. Nicht nur, dass damit Lücken ausgefüllt werden können, sondern viel mehr noch: Es wird nach der Methode der Phänomenologie von vornherein ein innenperspektivisches Betrachtungsraster von den Befragten selber aus ihrer Betroffenheit heraus gesetzt. Wie sich ihnen das Leiden und der Umgang mit dem Leiden im Rahmen der Fitness- und Gesundheitsangebote zeigt, das soll aus deren freier Erzählweise ermittelt werden. Dabei ist »Leiden« eben ganz und gar subjektiv zu verstehen. Es kann sich um etwas allgemein Harmloses wie z. B. eine Hautreizung handeln, die der betroffenen Person zu schaffen macht. Muss somit das phänomenologische Vorgehen gegenüber dem statistischen als geeigneter angesehen werden? Da es durchführungstech316 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Resümee zur Fitness- und Gesundheitsbewegung

nisch im Rahmen einer Arbeit wie dieser unmöglich gewesen wäre, mit phänomenologischem Material, das jeweils die Individualität ausdrückt, in die Breite zu gehen, erscheint der Methodenmix als der sinnvollere Weg. Und schließlich endete die statistische Untersuchung nicht ergebnislos. Wie ist nun die Fitness- und Gesundheitsbewegung inhaltlich zu bewerten, soweit dies in den vorigen Passagen nicht schon eingeflochten wurde? Im Positiven kann festgehalten werden, dass die Antwortdaten deutlich leiblich bezogenes Verhalten oder Suchen zeigen. Überhaupt – und dies kann den geisteswissenschaftlichen Kritikern am stärksten vorgehalten werden – handelt es sich bei den positiven Zügen der Fitness- und Gesundheitsbewegung um philosophische Kategorien. Dazu gehören das auf den ganzen menschlichen Leib bezogene Suchen nach Entspannung und Ausgleich, das Suchen geistiger Gründung im Yoga sowie das ethisch motivierte Einkaufen der Ernährungsgruppe. In den ethischen Gründen der Ernährungswahl wurde das diätetische Muster der »Sorge um sich selbst« als gleichsam »Sorge um die Natur« wiedererkannt. Hierbei kann sogar Genuss in bewusster Form beteiligt sein. In der Fitness- und in der Lauf-Gruppe wurden Sehnsüchte entdeckt, die mit Körperbildern und körperlichen Fähigkeiten zusammenzuhängen scheinen, die natürlicheren Lebensmustern als den heutigen entstammen. So schienen beim Laufen auch Aspekte wie das Draußensein und das frische Atmen wichtig für diese Sportausübung zu sein. Bei den Yogatreibenden war am stärksten von allen Gruppen ein Leiden an den vorherrschenden Lebensformen erkennbar. Vermutet wurde ein Leiden speziell unter der allgemeinen Hektik bzw. Zeitnot. Auch wenn eine originär bezogene Geistigkeit im säkularen Yoga kaum noch gefunden werden kann, so ist das Erstreben seelisch-geistiger Befindlichkeit zu vermuten, durch die der Druck des Alltags (z. B. Angst vor Arbeitsplatzverlust bzw. -schlechterstellung) besser bewältigt werden kann. Dass sich »Leben« immer in Vernetzungen vollzieht, ist heute deutlich im sozialen Kontext bewusst (vgl. im Diätetik-Teil die Ausführungen zu Kierkegaard), berührt aber in Folge auch den originären Zusammenhang der Natur, nämlich: Der Aspekt Entspannung / Ausgleich rangierte insgesamt zum Schlüssel der Bewegung. Er deckte auf, wie ihre Inhalte als Substitute erstrebt werden für elementare Lebensgüter, die der moderne Alltag den Menschen vorenthält, womit er ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit spürbar beeinträchtigt. Die Reaktion auf Schädigungen im 317 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Gesundheitsaktivitäten heute

Wohlbefinden ist von der Natur vorgegeben und stellt den Menschen in einen evolutionären Ablauf, nach dem das Leben weitergehen soll. Von daher wohnt der Fitness- und Gesundheitsbewegung eine makrokosmologische Dynamik inne. Dies mag vielleicht nach dem Alltagsgebrauch der Angebote abstrakt wirken, aber scheint doch im »ganzheitlichen« Suchen vieler Menschen gemeint zu sein. Es ist jedenfalls schade, dass geisteswissenschaftliche Kritiker der Bewegung diesen Zug und die anderen genannten ernst zu nehmenden Züge nicht gesehen haben. Von Platons eros (vgl. FN 230) her wissen wir, dass der Mangel oder Verlust eine geballte Kraft freisetzt. Die allgemein erkennbare Intensität des Fitnesstreibens, die hoch definierten Ziele erstrebter Körperbilder bis hin zum suchthaften Verhalten im Schlank- und Magersein, ähnlich auch in der athletischen oder »rassigen« Erscheinung (vgl. z. B. »Sixpack«, Solariumsmissbrauch), im HochleistungsHabitus (vgl. z. B. Vitaminmissbrauch) – all das hat sicher nicht nur mit dem individuellen existenziellen Mangel zu tun (oder mit dem persönlichen Mikrokosmos aus Arbeit, Sorge, Entspannung usw.), wie er ähnlich in Kapitel 3.1.6 zum Thema Fasten und Hungern diskutiert wurde. Es handelt sich mit diesen Phänomenen gewiss grundlegend auch um physische Konstanten und Erfahrungen, die heute gegenüber ursprünglicher Naturfühlung und -einverleibung, Bewegung und Lebensrhythmik verlorengegangen sind. Im übergewichtigen Körper, wie es im Fitness-Kapitel ausgiebig diskutiert wurde, wird offensichtlich nicht nur angesichts von Gesellschaftsmustern Sehnsucht und Scham empfunden, sondern subtil, aber viel tiefgreifender noch vor einer Natur und makrokosmischen Evolution, die für Gesundheit und Wohlbefinden eigentlich andere Körperformen vorgesehen hat. Es wurde in Kapitel 4.1.2 (zum Fitnesssport) auch der Vergleich mit den Tieren der freien Wildbahn gewagt, die nicht die Degenerationsformen des Alterns aufweisen, wie der Mensch es tut (der aktuell wiederum zwanghaft sein Alter hinauszuzögern versucht). Vielleicht rühren die Sehnsuchtsmuster menschlicher Körperbilder speziell von Erfahrungsräumen her, in denen uns die Tiere noch Freunde waren. Im Kapitel über Hildegard von Bingen wurde pointiert beschrieben, wie nach dem mittelalterlichen Weltbild dieser Äbtissin das Erzielen von Wohlbefinden an Lebensmuster zu binden wäre, die ihre Orientierung von der Gesamtschau aller Lebensphänomene her bezögen. Die Orientierung am Leben setzt Hildegard in

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eins mit einem Leben, das Gott, dem Schöpfer allen Lebens, wohlgefällig ist. 85 In der Gegenwart bewirkt offenkundig auch der spirituelle Verlust einen Allgemeinzustand existenziellen Vakuums (vgl. die Faszination von »Asien«, Esoterik usw.). Die Verfasserin sieht in der existentiellen Frage kosmologischer Dimension die Kraft der heutigen Bewegung begründet und befindet umgekehrt ein Verfehltsein dieser Bewegung, solange nicht nomos und paideia zur Anknüpfung an die kosmologischen Vorgegebenheiten des Lebens wieder aufgenommen werden. Ein Beispiel dieser Verfehlung wäre der »Bio«-Begriff bei Lebensmitteln, der u. a. eine Vielzahl importierter bzw. prozessierter Waren umfasst. Auf der spirituellen Ebene wären bei diesem Beispiel Haltungen wie das Verständnis des Lebens und Achtung vor dem Leben anzufragen. Im diätetischen Paradigma waren genau dies die Haltungen, die Epochen übergreifend tradiert und ins Leben transponiert wurde. Von »Verfehlung« sprach in eher pragmatischer Hinsicht auch eine zitierte GfK-Studie über den Konsum von gesundheitsbezogenen Artikeln (vgl. FN 23). Die gesamte Frage nach Heilung der kulturbedingten Verletzungen, heute insbesondere der ökologischen Zerstörungen, hängt nach Überzeugung der Verfasserin an diesem Punkt und politisch gesehen an solcher kosmologisch ausgerichteten paideia. Im »Ausblick« dieser Arbeit wird dazu mehr folgen. Auffallend erhellend war dazu jedenfalls in der statistischen Untersuchung die Stadt-Land-Unterscheidung. Deutlich zeigten die Datenzusammenhänge, dass Stadtbewohner stärker als Landbewohner auf der Suche sind nach ausgleichenden Bedingungen gegen die urban geformten Lebensstrukturen (Bewegungsmangel, Entspannung / Ausgleich). Landbewohner dagegen reagierten empfindlicher auf tatsächliche Einwirkungen wie z. B. Interessant zum Mensch-Tier-Verhältnis ist die Pädagogik einer der Verf. bekannten Yogalehrerin, die in Kindern Sinn für die Übungen weckt (vgl. FN 81), indem sie Tiere im Dschungel imitieren lässt. Die Kinder sollen also kriechen wie eine Schlange, brüllen wie ein Löwe usw. Das mag heute grotesk klingen, denn der Lebensraum Dschungel und seine Tiere sterben durch die menschlichen Umgestaltungen des Globus radikal aus. Zahlen von Löwen, Tigern u. a. liegen weltweit nur noch im Hunderter- und Tausender-Bereich. Damit leidet die menschliche Seele, denn die Vertrautheit mit den Wildtieren scheint archetypisch im menschlichen Geist-Seele-Inventar eingeschrieben zu sein, sonst würde sich der Mensch nicht immer wieder auf sie beziehen wie die genannte Yogalehrerin. Zum Aussterben und Vertrautsein mit den Wildtieren vgl. den Artikel von Weber, Andreas: Die Letzten ihrer Art, in: Greenpeace Magazin Sept.–Okt. 2014, S. 61–67. Vgl. schon FN 258.

85

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Druck am Arbeitsplatz und können den Daten gemäß traditionelle Strukturen besser bewahren (äußerten z. B. höheres Wohlbefinden im persönlichen Bereich). Dem höheren Verlustempfinden der Städter steht also ein höheres Bewahrungs-Empfinden der Landbewohner gegenüber. Die Bedrohung am Bestand äußern beide Seiten unüberhörbar. Markant lässt sich in der Fitness- und Gesundheitsbewegung das Reagieren auf einen Mangel vernehmen. Der Mangel wird vom vorherrschenden politisch-gesellschaftlichen System verursacht. Die Suche nach Ausgleich wäre im klassischen Sinn diätetisch. Doch wirkt das System offensichtlich so dominierend mit der Durchdringung menschlicher Lebensmuster durch Krankenkassen, Dienstleistungsangebote u. a., dass frei von ihm Ausgleich schwer gefunden werden kann. Verantwortung für das eigene Leben wird damit leicht abgegeben. Das System nimmt oder schädigt, und das System verheißt Ersatz oder Reparatur – Hand in Hand. Das hilfreiche Angebot wird außer durch öffentliche Institutionen insbesondere vom Markt (in Koppelung an die öffentlichen Institutionen) vermittelt, der durch Suggestivkraft die Menschen verstärkt an das System binden kann. Gerade das eingangs dieses Kapitels den Kritikern vorgehaltene Resultat, dass die Betroffenen ihre Aktivitäten überwiegend ohne Qualen ausüben, könnte das Abhängige nach der Weise eines BetörtSeins unterstreichen. Umgekehrt lindert die Verantwortungsabgabe die vermeintlich quälerische Seite der Sache. Eine so festgefahrene Abhängigkeit wirkt nicht diätetisch. Außer der Mangelsituation kam auch der Druck des Systems in Bezug auf das Fitness- und Gesundheitsverhalten deutlich zutage durch seine Vorgaben des Fit- (auch »Schön«) und LeistungsstarkSeins (vgl. die Antworten zu Druckempfinden aus Arbeit und Gesellschaft). So wirken Menschen mitunter institutionalisiert und in ihren wirklichen Bedürfnissen entmündigt. Ähnlich wie in schwach organisierten Zeiten die Existenzbewältigung, maßgeblich die Arbeit, Menschen gleichzeitig gesundheitlich strapazierte und sie zum Gesundbleiben nötigte, tun beides heute die Inhalte der Lehr- und Ausbildungspläne, der Anstellungs- und Arbeitsvorschriften, der Beurteilungsrichtlinien, also die materielle Leistungs- und Wohlstandsgesellschaft als konsensuelle Vorgabe, dies aber in einem straffen Organisationsnetz. Das den Daten gemäße Unwohlsein am Urbanen bestätigt den Charakter einer Verstädterung, die Menschen ihres natürlichen Umfelds beraubt und in Verhaltenszwänge einschließt. 320 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Resümee zur Fitness- und Gesundheitsbewegung

Auch ein solches, im systembedingten Gewalt-ausgesetzt-Sein begründete Abhängigkeitsmuster widerspricht dem Diätetischen. Auf wesentliche Unterschiede der Fitness- und Gesundheitsbewegung im Vergleich zum diätetischen Paradigma soll in den Schlusskapiteln dieses Teils, 5.2 und 5.3, genauer eingegangen werden. Hier kann zunächst resümiert werden, dass die Fitness- und Gesundheitsbewegung sehr ernst zu nehmende, komplexe und leibhaft ausgerichtete Züge aufweist, die aber nach den Vorgaben von heutiger Gesinnung bzw. privater und öffentlicher Infrastruktur nicht die – insbesondere makrokosmologische – Dimension erreichen wie die vormoderne Diätetik sie aufwies. Insofern können der Bewegung auch nicht die diätetischen Grundhaltungen zugesprochen werden (Verhalten nach mesotes, nomos, paideia, arete usw.), die mit der früheren naturhaft-geisthaften Dimension, wie sie mit Teil 2 erklärt wurde, zusammenhingen.

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5 Offene Fragen der Untersuchung

5.1 Therapeutische Phänomenologie und Einzelfallberichte Als wesentliche inhaltliche und methodische Lücke beim Untersuchen der Fitness- und Gesundheitsbewegung in Teil 4 ergab sich, dass gesundheitlich Leidende, die Kranken, fehlen. In dieser Fitnesswelt kommt Krankheit, kommt das Leiden kaum vor. Für das Verständnis der Sache wäre aber nicht nur die möglichst umfassende Außenperspektive auf die Sache wichtig, sondern insbesondere auch die Innensicht betroffener Personen. Ähnlich schnitten außerdem die offengebliebenen Was-Fragen die subjektive, eben nicht behandelte Komponente an. An diesen Erkenntnis- und Problemstand sollen im Folgenden einige methodologische Einordnungen in Bezug auf das philosophische Repertoire angefügt werden, bevor zur weiteren Untersuchung geschritten wird. Die Lücken verweisen auf die um 1900 gezogene erkenntniskritische Konsequenz eines Edmund Husserl, nach dem der apodiktische Grund der Philosophie im Bewusstsein aufzufassen wäre, also Erkenntnis unmittelbar subjektiv sei. Husserl sprach von der Korrelation des erkennenden Bewusstseins noesis und weltlichen Gegenstands noema, wobei Letzteres aufgrund der Intentionalität des Bewusstseins niemals empirisch aufgefasst werden könne. Die Gegenstände wären dem Bewusstsein in phänomenologischer Reduktion zugänglich. Mit einer solcherart ins Transzendentalphilosophische geöffneten Wendung »zu den Dingen selbst« pocht Husserl auf die Irreduzierbarkeit der subjektiven Erfahrung. Hermeneutisch ergibt sich daraus eine Unterhöhlung der positivistischen Weltdeutung mit ihrem Axiom von der Objektivierbarkeit der Welt und Menschen bzw. deren Freigabe als Zugriffsdinge (heute insbesondere als Waren, Konsumenten). 1 In einem Lebensbereich, der gesundheitsfördernde 1

Husserl, Edmund: Ideen I, Bewusstsein u. phänomenologische Reduktion § 33,

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Therapeutische Phänomenologie und Einzelfallberichte

Angebote verheißt, wäre die subjektive Erfahrung und Artikulierung seiner Phänomene besonders wichtig zur Urteilsfindung über dessen Bedeutung und Wert. Daher sollen in diesem Kapitel, im Anschluss an die hier erfolgenden Überlegungen, Menschen persönlich mit nicht gelenkten Beiträgen zu Wort kommen, und zwar gesundheitlich Belastete, bei denen aufgrund ihrer Betroffenheit eine entsprechend unverstellte Sicht auf die Sache der Fitness- und Gesundheitsbewegung zu erwarten ist. 2 Husserls Philosophietradition reanimierte im 20. Jh. gerade die leibliche Perspektive, wobei aus seinem Forschungskreis die HusserlSchülerin Edith Stein hervorgehoben sei, die in ihrer allerdings ganz eigenständigen Philosophie das Leibliche an das innere Leben gekoppelt beschrieb. Steins durchgehenden Tenor kann man zusammenfassen: Wo inneres Leben ist, ist die Person Leib. »Was dem Leib wiederfährt, das wird empfunden, gespürt« und mehr noch: »empfindender Leib nicht nur, sofern er äußere Reize spürt, sondern er empfindet sich selbst.« 3 Die Unhintergehbarkeit des Individuums macht sich also an deren leiblichen Erfahrungen fest, oder anders gesehen, um an dieser Stelle gleichsam ein Postulat aufzustellen: Pauschalangebote jenseits individueller Leibeserfahrung treffen den Menschen nicht. Seit den 1930er-Jahren hat parallel zu dem soeben Beschriebenen die französische Phänomenologie besonderen Einfluss auf die Geisteswissenschaften des 20. Jh. gewonnen. Als deren Vordenker führt Maurice Merleau-Ponty sowohl den Empirismus als auch den Intellektualismus – und zwar bedeutsamerweise mit Beispielen aus der Pathologie – an ihr Unbedachtes, ihre Grenzen und in die Aporie. Er entthront damit das ausschließliche Denken, die descartsche cogitatio, als übergeordnete Welterfahrung und weist den Leib als Primärinstanz des Weltzugangs auf. 4 Merleau-Pontys Werk birgt weitS. 66–69, Intentionalität § 36, S. 75–77, noesis u. noema § 87, S. 200 f., Sinnstiftung des Bewusstseins insbes. § 37, S. 75–77. 2 Die unverstellte Wahrnehmung ist in der Weltsicht der Künstler erhalten geblieben, auch wenn die Kunstwissenschaft gerade dies nicht immer versteht, die ganz subjektiven Äußerungen, die z. B. Schmerzensschreie sein können. Vgl. die falsche Einstufung der Frida Kahlo, die ihren schwergeschädigten Körper mittels Malerei verarbeitete: »Man hielt mich für eine Surrealistin. Das ist nicht richtig. Ich habe niemals Träume gemalt. Was ich dargestellt habe, war meine Wirklichkeit«, siehe Von Waberer, Keto: Frida Kahlo, zit. vom Bucheinband. 3 Zit. in: Knaup, Marcus: Leib und Seele, S. 345 f. 4 Als Hauptwerk des Philosophen gilt die »Phänomenologie der Wahrnehmung« (frz.

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Offene Fragen der Untersuchung

reichende Konsequenzen speziell für das therapeutisch bezogene Denken, wenn er z. B. den Eigenwert und die Interpretationsoffenheit von Diagnosen erkennen lässt, ebenso den Balanceakt der »Normalität« bzw. das Fließende zwischen Gesundheit und Krankheit sowie auch die Bedeutung der menschlichen Beziehung gegenüber einem administrativen und technischen Instrumentarium. In der jüngeren Forschung greift die responsive, leiblich verankerte Phänomenologie des Bochumers Bernhard Waldenfels insbesondere auf das Werk Merleau-Pontys zurück. 5 Zur Responsivität allen Seins, insbesondere unter den Lebewesen 6, macht Regine Kather auf Phänomene aufmerksam, z. B. wie Menschen durch eine Rose, mit der wir physikalisch wenig gemeinsam haben, in ihren Erscheinungsweisen fasziniert werden und verweist damit u. a. auf die Schwelle zwischen Philosophie und Naturwissenschaften. 7 An dieser Schwelle gibt es heute profilierte Positionen, die phänomenologisch aus den seelisch-geistigen Entsprechungen unter den Lebewesen auf einen übergeordneten Geist schließen lassen. Der Physiker Werner Heisenberg spricht in Bezug auf die unterschiedlichen Weltzugänge – nur Menschen können symbolvermittelt denken, sprechen, schreiben und so mit ihresgleichen kommunizieren – von »Komplementarität«. 8 Um den gesamten Kosmos in seiner Eigenständigkeit zu beschreiben, dürfte am besten die in FN 248 erwähnte Prozesstheorie Whiteheads dienen, nach der sich alles Sein nie in Fixstellungen, sondern immer in evolutionären Abläufen erkennbar zeigt. Whiteheads Ansicht dürfte auch der Lückensituation gerecht werden, dass die klassisch-naturphilosophische Teleologie-Vorstellung (hier erklärt in Kapitel 3.1.3) für kosmologische 1945, deutsch 1966). Daraus vgl. insbes.: Erster Teil: Der Leib, S. 91–96. Beispiele aus der Pathologie insbes. S. 97–122, darunter klassisch gewordene Beispiele der Organvertretung und Phantomgliedmaßen. 5 Vgl. schon zur Verschränkung von »Leib« und »Körper« in FN 17. 6 Der Biologe und Philosoph Andreas Weber brachte das innere Leben aller Lebewesen mit dem Titel »Alles fühlt« auf den Punkt, vgl. FN 137. – Marcus Knaup betont, wie schon Aristoteles’ Reflexionen über die Seele (»Hylemorphismus«, vgl. hier FN 12) damit dasjenige meinten, was die Person oder das Lebewesen zu dem machen, »was es ist« für sich selbst und in seiner Außenwirkung: Leib und Seele, S. 226. 7 Vgl. Kather, Regine: Der Mensch, S. 182 f. Dem hier gebrauchten Vergleich mit einer Kellerassel möchte d. Verf. hinzufügen, was gerade die von uns ungeliebten Lebewesen uns doch abverlangen z. B. an Ekel, Sorgen, Gedanken der Vorsichtnahme usw. 8 Vgl. u. zit. in: Kather, Regine: Der Mensch, S. 182 f.

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Perspektiven heute nicht mehr alleinerklärend fungieren kann, und sie bietet folgende methodologische Klärung: Descartes’ Lehre behalte ihren Platz als ontologisches Diktum. Die Verfasserin erinnert an dessen Entstehung aus der persönlichen (gemeint: des Descartes) inneren Ungewissheit heraus (hier am Schluss des Teils 1) und an die in dieser Arbeit mehrfach betonten humanitären Leistungen des sachbezogenen Denkens in der neueren Kulturgeschichte. Dieses Diktum diene aber nicht – »metaphysisch«, wie Whitehead es nennt – zur Welterklärung. 9 Um nun wieder philosophisch den methodologischen Topos des subjektiven Selbst- und Weltzugangs aufzugreifen, sei weiter die Forschungslage umrissen. Auf Husserl wurde als programmatischer Begründer der Phänomenologie eingegangen sowie als Impulsgeber für ein in Sinn- und Geltungskontexten stehendes Verständnis des menschlichen Seelenlebens. 10 Zu Husserl bliebe festzustellen, dass er im leiblichen Kontext in Blick auf den Eigenwert der Natur (wie ihn etwa Nietzsche mit künstlerisch getöntem Ausdruck und therapeutischen Impetus vehement betonte) zurückbleibt. Eine solchermaßen kosmologische Bestimmung des Menschen findet sich rein philosophisch bei Max Scheler. In seiner Schrift »Die Stellung des Menschen im Kosmos« (1928) zeichnet Scheler das menschliche Seelenleben nach einem vierstufigen Bau, den er in der organischen Natur vorfindet: Gefühlsdrang, Instinkt, assoziatives Gedächtnis, praktische Intelligenz. Weiterhin thematisiert Scheler die existenzielle Gebrochenheit (»Sonderstellung«) des Menschen, der durch das der Natur entgegengesetzte Prinzip des Geistes aus dem Naturzusammenhang enthoben sei. Allerdings seien der Geist und das Leben aufeinander angewiesen: Der Geist durchdringe das Leben mit Ideen, die diesem erst Bedeutung gäben; das Leben ermögliche den Geist und sein Verwirklichungsfeld. Ohne dass Scheler (in seiner kosmologisch-existenziellen Perspektive) den Begriff »Leib« gebraucht, zeichnet er im Vgl. Whitehead, Alfed North: Prozeß, S. 93. Prozesshaftigkeit: Das ist im Grunde schon die Ansicht Heraklits (vgl. FN 8). Whitehead, der wie alles Sein auch das Denken evolutionär verfasst sieht, setzt indes den Eruptionspunkt europäischen Denkens bei Platon an, auch in dessen Reinheit, d. h. noch nicht überfrachtet zu sein von Denksystemen, und kann so seinen berühmt gewordenen Satz äußern, dass die weitere europäische Philosophietradition aus nichts als Fußnoten zu Platon bestehe: A. a. O., S. 91 10 So nahm spätere, existenzielle Psychotherapeutik (z. B. mit Viktor E. Frankl) die Impulse der Husserlschen Erkenntnisse bereitwillig auf, d. Verf. 9

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Offene Fragen der Untersuchung

Blick auf die Wechselbezüglichkeit von natürlichen und geistigen Bestimmungen einen lebendigen Plan des menschlichen Leibes, veranschaulicht auch durch psychosomatische Beispiele, der die cartesianische Kluft überwindet. 11 Bei aller Anerkenntnis, die aus Erfahrung der Verfasserin einerseits das Diktum vom Selbsterleben des Patienten heute theoretisch erhält, leuchtet andererseits ein, dass die Standardisierungen einer Massenmedizin Heilkräfte für die Seele sowie Synergien von Natur und Geist nicht zulassen. Kliniken mit gestressten, unpersönlichen Pflegekräften, minderwertigem bzw. verkehrtem Essen – es gäbe zahllose Beispiele. Weiterhin erwähnenswert in diesen Einordnungen ist das von Max Scheler gefärbte, aber mehr auf die Positionierung des Menschen in der Welt gerichtete Werk Helmuth Plessners. Mit Plessner wurde schon in der Einleitung (Teil 1) die perspektivische Verortung des Leibes beschrieben. Seine Anthropologie geht von der Fragestellung nach Unterschieden zwischen belebten und unbelebten Phänomenen aus sowie nach deren Organisationsformen. Im Gegensatz zu der ohne Zentralorgan gesteuerten »offenen« Pflanze und dem aus einem instinktiven Mittelpunkt heraus lebenden Tier nennt Plessner die Organisationsform des Menschen »exzentrisch«. Der Mensch nämlich kann in ein reflexives Verhältnis zu seinem Leben treten. Ein Moment dieses Verhältnisses bildet das Selbstbewusstsein, das Plessner, anders als es die philosophische Tradition als geistiges Prinzip ansieht, biologisch ableitet. Aus diesem Doppelaspekt, dass sich beim Menschen die biologische Ausstattung und die seelisch-geistige Ausübung wechselwirkend verhalten, leitet er die schon zitierten Bestimmungen ab, einen Körper habe der Mensch und Leib sei er zugleich. 12 Plessners Doppelperspektive des Menschseins verwahrt sich gegen die immer schon strittige und besonders an Descartes aufklaffende Spaltung in Natur- und Bewusstseinsansicht genauso wie gegen einseitig »ganzheitliche« Menschenbilder, die den Menschen naturhaft vereinnahmen. Seine Doppelperspektive der Verschränktheit stellt den Menschen als paradoxes Wesen dar, der sich selber und der Welt in beiden Aspekten Aufgabe bleibt. 13 Die ethische Gedankenstellung verweist schließlich auf Hans JoScheler, Max: Stellung, S. 9–27 u. insbes. 48–52, 54–56. Vgl. FN 15. 13 Vgl. Plessner, Helmuth: Stufen, S. 185–293 sowie auch: Augen, S. 1–15, insbes. S. 12 11 12

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Therapeutische Phänomenologie und Einzelfallberichte

nas, der mit seinem 1979 erschienenen Hauptwerk »Das Prinzip Verantwortung« einer allgemeinen Öffentlichkeit bekannt wurde. Jonas gelangte, umgekehrt als Plessner, von den anthropologischen Dualismen der Philosophietradition (Subjekt – Objekt, Geist – Materie, Seele – Leib, Freiheit – Notwendigkeit) zu naturphilosophischen Fragestellungen. Von dem dabei vorgefundenen phylo- und ontogenetischen Primat des Naturhaft-Organischen sowie von Einsichten ausgehend über »Leben« als organische Einheit naturhafter und seelischgeistiger Wirkweisen leitete Jonas das Konzept einer philosophisch durchdrungenen Biologie bzw. leiblich gestützten Philosophie ab. 14 Daraus folgten ethische Themenstellungen, die das menschliche Verhältnis zwischen Natur und Technik betreffen. Für den Menschen als denkendes und handelndes Subjekt müsse in der Neuzeit der ontologische Gesichtspunkt bestimmend bleiben: Was gut und richtig ist, sei im natürlichen Sein vorgezeichnet. 15 Im »Prinzip Verantwortung«, das sich mit dem Titel gegen Ernst Blochs optimistisches »Prinzip Hoffnung« wendet, findet sich die an Kants kategorischen Imperativ angelehnte Formulierung, die als »ökologischer Imperativ« bekannt wurde: »Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden«, wobei er voraussetzt, dass solches Leben nur im natürlichen Zusammenhang gedeihlich verliefe. 16 Sein Denken gegen die Übernutzung der Erde durch Konsumismus wurde im Hildegard-vonBingen-Kapitel dieser Arbeit genannt. Jonas behandelte auf der beschriebenen ontologischen Grundlage in seinen letzten Lebensjahren (gest. 1993) konkrete Anwendungsfelder der Ökologie, der Medizin und der Bioethik. Die Bedeutung seines Ansatzes dürfte seitdem, also in einer Zeit, in der sich die natürlichen und lebendigen Grundlagen durch menschliches Einwirken in globaler Dimension sowie in jeder privaten Lebensführung aufs Äußerste verletzt zeigen, offenkundig sein, genauso auch im allgemeinen und individuellen Handeln der Fitness- und Gesundheitsbewegung. Wir erleben heute täglich z. B. Skipisten als naturzerstörend ebenso wie etwas vernünftig Klingendes wie Radwege und etwas Notwendiges wie unsere Ernährung. Individuell-gesundheitlich gesehen verweist Jonas’ kategorischer Gesichtspunkt in den Ohren der 14 15 16

Vgl. Jonas, Hans: Prinzip Leben, insbes. S. 39 Vgl. Jonas, Hans: Prinzip Leben, S. 44–49, 101–103. Jonas, Hans: Prinzip Verantwortung, S. 36.

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Offene Fragen der Untersuchung

Verfasserin darauf, dass nur durch eine zumindest gleich hohe Beachtung der Natur bzw. des Lebendigen, gemessen an unseren willensmäßigen Interessen (Geld, Konsum, Mobilität usw.), unsere gestressten Seelen von ihrer ethischen Verfehlung Entlastung finden könnten. Dazu passend wurde im Hildegard-von-Bingen-Kapitel zitiert, wie Jonas erkennt, dass die Übernutzung der Erde dem Menschen hohe Lasten auferlegt, praktisch und ethisch. An der Beachtung von »Leben« als etwas Vernetztem kommt man nicht vorbei. Als Tiefenauslotung der menschlichen Seele in ihrer ontologisch-natürlichen Konstitution soll zuletzt ein rein phänomenologischer Ansatz behandelt werden, der das weltliche Erscheinen nicht aus diesem selbst ergründen will, sondern es auf ein ursprüngliches Erscheinen transzendentaler Subjektivität im Leben zurückführt. Die maßgeblich auf Pierre Maine de Biran (1764–1824) zurückgehende »Lebensphänomenologie« eines Michel Henry (1922–2002) befasst sich, in der ursprünglichsten Form der Phänomenalität des Lebens selbst, mit dem »Erscheinen des Erscheinen selbst«. Sie geht dem nach, wie die Selbstempfindung nicht nur alle Außenheit oder Ankünftigkeit der Phänomene übersteigt; sie ist keine Erfahrung, kein Bewusstsein, sondern Gegebenheit des Lebens selbst. 17 Es handelt sich damit nicht um eine solche Absolutheitserfahrung, die Individualität auflösen würde, sondern um die Immanenz des absoluten Lebendigen in jeder Erfahrung des Individuums und insofern um die Begründung gerade von Selbstheit (»Ipseität«). 18 In Deutschland thematisiert heute Rolf Kühn solch eine primordiale Sphäre des Sich-Gegebenseins und betont abermals, das begründete »Sich« in solcher Weise »einmaliger, unvergleichbarer Lebendigkeit« sei nicht »Mensch, Person oder Ich in irgendeinem bloß anthropologischen, reflexiven oder sozialen Sinne« zu nennen, sondern ein »Sich« derart originärer »Ipseität«, die eben nicht mit »mit einer irgendwie vorgestellten ›Selbstheit‹ zu verwechseln« wäre. 19 Therapeutisch folgt daraus, die Deutung jeglicher menschlicher Krankheit oder Befindlichkeit könne nur in der Verfasstheit der Lebenspassibilität (Leben ist Widerfahrnis, Krankheit ist zunächst Hindernis) als Herausforderung gesehen werden. Heilung wäre dann im nietzscheschen

17 18 19

Henry, Michel: Affekt, S. 111–113, Zitat S. 112. Ders.: Inkarnation, S. 286 f. Kühn, Rolf: Gefühle, S. 12.

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Therapeutische Phänomenologie und Einzelfallberichte

Sinne das Weichen aller Illusionen über den Aufgabencharakter des Lebens. 20 Einig sind sich die in diesem Kapitel genannten Positionen darin, dass eine auf Erfahrungswissenschaft beruhende Therapeutik einschließlich Psychologie und Psychosomatik den Voraussetzungen des Menschseins nicht gerecht wird. Rolf Kühn betont heute in Weiterführung von Michel Henrys »Radikaler Lebensphänomenologie«, die reine Intentionalität eines Edmund Husserl reiche für die Beschreibung unserer Erfahrungsweisen nicht aus. Proto-ästhetisch betrachtet sei das, was wir an unserer Außenwelt empfinden und wir uns einverleiben, nicht ein Etwas wie z. B. »Erdboden«, sondern die Widerständigkeit, die keine Eigenschaft einer Sache oder meiner selbst sei, sondern Erfahrungsgrund für menschliche Absichten überhaupt. Mit dieser Betrachtung kann auf eine noch tiefere Urform der Ipseität zurückgegangen werden und die Verschmelzung des Individuums mit der Phänomenalität allen Lebens aufgewiesen werden. Die Betrachtung gewinnt auch ökologische oder makrokosmische Dimension, deren Fehlen bei Husserl oben schon bemerkt wurde. Es bliebe, so Rolf Kühn, nämlich trotz der technischen Macht, die der Mensch im Lauf seiner Entwicklungsgeschichte der Widerständigkeit etwa

Vgl. ebd., S. 52–57. Neben der Nietzscheschen Auffassung weist Kühn auch auf klassische Texte hin wie z. B. Boethius’ Trost der Philosophie (524 n. Chr.), Pascals ›Gebet um den rechten Gebrauch der Krankheit‹ (1666), Kierkegaards ›Krankheit zum Tode‹ oder Rosenzweigs ›Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand‹ (1921), S. 56. Es geht hier überall um die meditierend erworbene Gewissheit im Gegensatz zur reinen Verstandesentscheidung. Die Bedeutung von Krankheit oder Gesundheit ist in ihren speziellen Erscheinungen für den Betroffenen etwas ganz Anderes als die medizinische Diagnose, S. 52 f. (vgl. schon Wolfgang Wieland in FN 16). D. Verf. weist auf Leiden wie manche Schmerzen oder Entstellungen (durch z. B. Akne) hin, die medizinisch völlig harmlos, aber in den Lebensabsichten des Betroffenen einschneidend sein können (z. B. bei der Berufsausübung; im Blick auf die soziale Anerkennung). Umgekehrt können ausgewiesene Krankheiten den Lebensplan nicht nur nicht behindern, sondern ihn vielleicht prägnanter machen. Als klassisches Beispiel sei der oft als epileptisch, anankastisch und insgesamt körperlich-seelisch desolat bezeichnete Apostel Paulus genannt, was zum einen wohl eine Übertreibung ist, zum anderen über das epochale Werk dieser Biografie und Persönlichkeit im Ganzen nichts aussagt, erst recht nichts über deren leidenschaftliche Affiziertheit aufgrund von Frömmigkeit, vgl. Sparn, Walter: Einführung, in: Becker, Eve-Marie / Pilhofer, Peter (Hg.): Paulus, insbes. S. 26 f. Vgl. auch Göttel-Leypold, Monika / Demling, Joachim Heinrich: Persönlichkeitsstruktur, ebd., insbes. S. 135 f. mit Verweis auf Bibelstellen wie 2 Kor 12,9 und den dezidierten Heilungsaspekt im Kerygma der paulinischen Schriften.

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von Bodenschätzen entgegensetzen musste (wie Heidegger im Begriff »Gestell« es pointierte), die Unmittelbarkeit und Einheit der Welterfahrung allgegenwärtig. Man müsste Unmittelbarkeit und Einheit lediglich in der zwecklosen, meditativen Betrachtung gewinnen, womit sich ganz andere Erfahrungsweisen etwa einer Landschaft ergeben würden, als sie Geografie oder Touristik verbreiten. 21 Die Verfasserin möchte im Kontext dieser Arbeit anfügen, dass auch das herkömmliche Naturerlebnis etwa beim Sport im Freien (mit Absichten wie z. B. Frischluft / Sonne tanken), nicht unter die von Rolf Kühn gemeinte Erfahrungsweise fiele. Die Bedeutung der hiermit beschriebenen phänomenologischen Positionen für diese Arbeit liegt darin, dass menschliche Individualität (als »Leib« nach der husserlschen Richtung; als »Ipseität« nach henry-kühnscher Betrachtung) ein absolutes Verbot des Zugriffs durch Festschreibungen wie Standardisierungen impliziert, wie sie anders herum für die technisch-ökonomisch-bürokratische Weltgestaltung Grundprinzip sind. 22 Mit der auch insbesondere auf das Naturerleben gerichteten Behandlung des Rolf Kühn werden Urerfahrungen aufgewiesen, die menschlicher, weitgehend aggressiver Welt-Gerichtetheit vorausliegen und von daher auf harmonische Weise dem Menschen »Gewinne« zukommen lassen können wie Erholung oder Geborgenheitsempfinden. 23 Im Ausblick dieser Arbeit (Teil 6) wird über die Relevanz des phänomenologischen Weltzuganges angesichts unserer allgemeinen menschlich- und ökologisch-therapeutischen Herausforderungen mehr gesagt werden. Jedenfalls zeiKühn, Rolf: Natur und Leben, S. 102–106. Vgl. auch, wie Immanuel Kant ausdrücklich gegen die Empirie, die berühmte Formel aufstellte, der Mensch dürfe niemals als Mittel, sondern immer nur als Zweck seiner selbst behandelt werden, Kant, Immanuel: GMS II, S. 63–65, insbes. 65. 23 Als eine »›Beziehung‹, die rein in den Affekt als Lebensaffektion hineinweist«, wäre insbesondere das frühkindliche Mutter-Kind-Erleben zu nennen, Kühn, Rolf: Existenz, S. 92. Wohlbefinden, Geborgenheitsgefühl: Das phänomenologische Nachspüren der Weltaffizierbarkeit weist auf, dass das ursprünglichste Wohlgefühl ein Sich-Selbst-Ertragen-Können wäre. Alle Selbstfindungen und- akzeptierungen aufgrund bewusster Adaptionen der Äußerlichkeit wären daher nur als Kompensation zu verstehen, vgl. ders.: Bedürfen, S. 34 f. D. Verf. sieht in den Einsichten der Lebensphänomenologie einen therapeutischen Weg, über die unmittelbare Affiziertheit, etwa in der Naturmeditation, zu inneren Anerkenntnissen zu gelangen, die helfen, mit Leiden besser zurechtzukommen (i. S. v.: Frieden zu finden), bes. mit Krankheitsleiden, die – vgl. a. a. O., S. 35 – in spürbarer Weise auch immer Leiden unter sich selbst sind. Der Umgang mit dem Leiden als Kulturaufgabe unter heutigen Konditionen wird im Ausblick (Kap. 6) weiter behandelt werden. 21 22

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gen deutlich die Arbeiten Rolf Kühns, wie in der wahrnehmenden Einheit von Mensch und Natur harmonische Impulse hin und her schwingen, die auf der bewussten Ebene gerade auch dem in dieser Arbeit oft beschriebenen Beziehungsmuster »Sorge um mich – um die Natur« vorausliegen und diesem Muster insofern eine philosophische Tiefenfundierung liefern. Insbesondere wollen die soeben getätigten Ausführungen zu einem Tiefenverständnis menschlicher Aussagen über das gesundheitliche Erleben führen, wie sie der Verfasserin anhand von Erfahrungsberichten vorliegen. In den folgenden Fallbeispielen dürfte die ganz und gar subjektive Erfahrung des Leiblichen in den Unhintergehbarkeiten seiner natürlichen Bezüge (vgl. Nietzsches Aussage vom Leib als »Gebieter«) offensichtlich sein. Bis zu dieser Stelle wurde theoretisch aufgewiesen, dass eine solche subjektive Erfahrung eine Weise der Lebensverfasstheit selber ist, die immer nur unter Vorbehalten zu objektivieren wäre. Sie deckt sich mit Einsichten der Naturwissenschaften wie z. B. der mit Werner Heisenberg aufgekommenen Quantentheorie. 24 Durch den verhältVgl. auch »Leben« beschrieben im Beziehungsgefüge von Erstgründung und Wiederholung bei Kühn, Rolf: Individuationsprinzip, S. 209 f. Dass Kultur und Therapie ohne Objektivierung nicht möglich wären, wurde am Ende des Goethe-Kapitels (3.1.7) erklärt; dass das Nichtwissen früherer Zeiten grausam sein konnte, sprach insbes. das Mittelalter-Kapitel (3.1.3) aus. Dass es jedoch Grenzen menschlichen Handelns aufgrund der Nicht-Objektivierbarkeit der Welt und v. a. des Lebens geben muss, wurde in Anmerkungen z. B. über den Zugriff der Biotechnik gesagt (z. B. mit FN 2). Der phänomenologische Zugang zur Welt macht die Verwobenheit allen Seins besonders einsichtig. Naturwissenschaftlich hat bisher die Quantentheorie entdeckt, dass es nicht die »eine«, sondern nur jeweilige, situationsabhängige Objektivität gibt. Damit würde auch die Kantsche a priori gegebene Kausalität hinfällig. Vgl. Heisenberg, Werner: Quantentheorie und Philosophie, S. 79–71. Die Theorie hatte aber bisher auf die allgemeine Weltbetrachtung keine Auswirkungen etwa in Richtung größerer Besonnenheit und behält als Naturwissenschaft die objektivierende Methode bei. Weiterführend sind also Ansätze, die die ästhetische und ethische Dimension einbeziehen wie die in FN 248 genannte Prozesstheorie des Philosophen Whitehead mit Rezipienten wie Erwin Schrödinger, Carl Friedrich v. Weizsäcker u. a. In dieser Linie betont heute philosophisch Regine Kather die Modellhaftigkeit des Physikalismus, den Fluss des Erlebens und die Einheit in der Vielgestalt allen Seins. Vgl. Kather, Regine: Ordnungen, insbes. S. 274 f., 290 f., 303 u. ö. Vgl. auch zum »Verstehen« aus der Anschauung, zu entsprechender Legitimierung insbes. des religiösen Erlebens und zum kosmogonen (eben nicht umweltbezogenen) Erleben sowie entspr. lebensklugen Handeln dies.: Zeit und Ewigkeit, S. 37 f., 103–109 u. ö. Populärwissenschaftlich leitet der Heisenberg-Schüler Hans-Peter Dürr die Verantwortung für die Natur von einem unverkürzten und integrativ verstandenen Weltbild ab, Vgl.: Respekt, S. 30–32, 92 f. u. ö.

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nismäßig großen Umfang dieser theoretischen Fundierung sollte schließlich aufgezeigt werden, dass es in der neueren und aktuellen Gegenwart reiche Darlegungen von Welt- und Menschenbildern gibt, die der leiblichen Wesenheit und den natürlich-geistigen Beziehungsgefügen von Menschen bzw. Lebewesen Rechnung tragen. Dualistische oder monistische Erklärungen sind danach keineswegs so überzeugend, wie sie sich im Moment v. a. mit Neurologie und Biomedizin nach außen geben. 25 Die im Folgenden auftretenden Personen werden, wie hier nochmals erklärt sei, aus der sachlichen Perspektive – nicht nur der Einfachheit halber – »Kranke« genannt, insofern diese Arbeit »Krankheit« im traditionell diätetischen Sinn grundsätzlich nicht als Grenzbegriff ansieht. Die Verfasserin erfährt als Gesundheits- und Ernährungsberaterin sowie als Herstellerin kosmetischer Pflegemittel für kranke Haut regelmäßig Geschichten wie die nachstehenden mittels Zuschriften, Telefonaten oder persönlichen Gesprächen. Die Haltung sorgfältiger Beobachtung authentischer Aussagen leidender Menschen, wie sie von der Verfasserin im Lauf der Jahre durch die Begleitung dieser Menschen angenommen wurde, bezeichnet sie als »therapeutische Phänomenologie«. Der Begriff »therapeutisch« ist dabei an die altgriechische Originalbedeutung therapeuein – »begleiten« angelehnt und nicht auf ein medizinisches Handeln gesetzlich geschützter Berufsbezeichnungen bezogen, wie es in Deutschland z. B. für den Arzt, Heilpraktiker, Psycho- und Physiotherapeuten gemäß jeweiliger Rechtsbestimmungen gilt. Die Auswahl der Berichte geschah möglichst willkürlich. Das heißt, es wurden im Losverfahren zur einen Hälfte schriftliche Berichte, zur anderen Hälfte von der Verfasserin protokollierte mündliche Berichte einer aktuellen Sammlung entnommen, beides in chronologischer Reihenfolge. Die schriftlichen Berichte (im folgenden »Brief« oder »E-Mail«) werden sprachlich unverändert wiedergegeben (einschließlich Schreibfehlern), die mündlichen (»Erzählung«) annähernd umgangsnah. Die einzelnen Wortbeiträge wurden nachträglich als formelle Leithilfe für den Leser mit einer Überschrift versehen. Den hier nun ganz spezifischen Individualberichten sollte Ein monistisches Menschenbild verficht der Philosoph Thomas Metzinger: Er beschreibt das Ich statt als eines Trägers von Bewusstsein, Freiheit und Verantwortung als virtuelle Oberfläche zum Verarbeiten neuronal erregter, nicht solcherart erkannter Modelle des Selbst: No one, zusammenfassend vgl. S. 1 f., 634.

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möglichst wenig Zielrichtung vorangestellt werden. Wie schon mehrmals eingeräumt, ist eine gewisse Voranstellung nicht zu unterbinden. Am Ende der zwölf Beiträge dieses Kapitels werden Merkmale und Schlüsse aus den Inhalten der Fallberichte als »abschließende Gedanken« angefügt. Diese Gedanken stehen in 5.1 an der Stelle, wo sonst am Kapitelschluss ein »Resümee« gebildet wurde. Weil das Kapitel 5.1 nur eine Vertiefung sein kann und will, blieb die Anzahl auf zwölf Berichte begrenzt.

5.1.1 Verrückt wird zur Normalität – E-Mail einer Frau, 12. 11. 2010 Sehr geehrte Frau Luft-Steidl, Ich möchte Sie bitten, mir eine Probe Ihres […] Shampoos zu schicken. Vielleicht hilft es mir. Das übliche Angebot ist verrückt geworden. Man findet Shampoo gegen trockene Schuppen, gegen feuchte Schuppen, gegen talgige Kopfhaut, gegen spröde Kopfhaut, für weiches Haar, für kräftiges Haar, für gepflegte Spitzen, für wallende Fülle usw., usf. und dazu noch die vielen Zusatzmittelchen (Spülungen, Conditioner und, und, und, was ich nie brauchte). Meine Haare und Kopfhaut kommen mit diesen Einzelzielen nicht zurecht. Ich brauche ein Produkt für Kopfhaut und Haar zum Waschen. Ich habe nämlich ganz normale Haare, die ganz normalerweise alle paar Tage schmutzig werden. Dann sind sie sozusagen »stink-normal« […]. Der Brief liegt ein paar Tage, weil ich nicht zum Briefkasten kam. So kommt es, dass ich auch etwas gegen Pickeln brauche (wenn bei mir ein Pickel entsteht, tut es immer sehr weh). Vielleicht können Sie mir etwas mitschicken. Bisher nahm ich ein Gel von […] aus dem Drogeriemarkt. Es zieht den Pickel aus der Haut und spendet gleichzeitig Feuchtigkeit. So bleibt die Haut weich und spannt nicht so an der Stelle, die vom Pickel ohnehin schon drückt. Nun wird das Mittel nicht mehr hergestellt. Ich bin ganz von den Socken, weil es meine Befreiung von den »Pickel-Schmerzen« war. Von anderen Firmen finde ich nichts Ähnliches (diese Mittel enthalten zu viel Salicylsäure, die meine Haut angreift). Im Internet habe ich noch 3 Tuben bekommen. Der Hersteller macht jetzt stattdessen 2 Nachfolge-Produkte. Eines ist extrahierend gegen Pickeln und Hautunreinheiten, das andre ist Feuchtigkeit spendend. Verstehen Sie? Da sind die Eigenschaf333 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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ten des alten Gels auf zwei Produkte verteilt worden. Das erste Produkt trocknet die Haut aus, das zweite befeuchtet sie wieder. So kann der Hersteller gleich zwei Mal Geld kassieren. Jetzt geht mir auch ein Licht auf über die Shampoos! 1 Produkt wäscht und macht das Haar spröde, die Spülung soll es wieder weich machen und wenn die Spitzen noch zu spröde sind, nimmt man eine Haarkur. Und für die Kopfhaut, die von 100 Mitteln geschädigt ist, gibt es auch etwas zum einschmieren. Das ist eine ganz miese Abzocke und sehr schlimm, wenn man ein körperliches Leiden hat und an ein bestimmtes Produkt gewöhnt war. Ich glaube inzwischen, dass die Hersteller sich nicht drum kümmern, was den Kunden hilft, sondern nur um ihren Profit.

5.1.2 Halbierte Ganzheit – Erzählung eines 65-jährigen Mannes, 23. 11. 2010 Die Vorgeschichte (darin in Anführungszeichen Zitate des Mannes): Ein religiös suchender, körperlich mit der Verdauung sensibler, gesundheitsbewusster Witwer hatte mich (d. Verf.) ein halbes Jahr vorher telefonisch um Rat gebeten. Als Junge war er vom strengen Katholizismus seiner Mutter abgestoßen worden. Während der Lebensmitte wurde er für 10 Jahre Mitglied einer Sekte. Durch Negativerfahrungen schwer traumatisiert, mied er in den folgenden Jahren jeglichen religiösen Kontakt, suchte aber weiter danach, besonders nach dem frühen Tod seiner Frau. Der ihm »sympathische« evangelische Pfarrer der Ortsgemeinde gewann seine Teilnahme am Gemeindeleben. Die christlichen Inhalte begeisterten ihn neu. Probleme hatte der körperlich Angeschlagene mit dem »Nix-Verstehen der Christen von Gesundheitssachen«: »Beten für Kranke ist toll«, aber auch mehr »was für den Geist«, ansonsten bemängelte er die vielen »Kaffeetafeln« und »Sitzveranstaltungen« mit »Zuhören, Denken, Zuhören, Denken – so geht das immerzu«. Er suchte Spiritualität, »wo der Körper dabei ist«. Wir erörterten gemeinsam christliche Angebote wie Tanz, Musik, Geh-Meditation usw. Aus praktischen Gründen (Busverbindungen, Essenszeiten) kamen sie nicht in Frage. Begeistert war er von meiner Empfehlung eines Yoga-Kurses, angeboten von der Nachbar-Orts-Kirchengemeinde. Wiederum aus praktischen Gründen (Busverbindungen u. a.) besuchte er diesen aber nicht, sondern einen weltlichen Yogakurs im Heimatort. Dies sind seine Erfahrungen: 334 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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Ich dachte, die normalen Yogakurse sind auch religiös. Das war aber alles Humbug, was die da machten. Körperlich hat es mir sehr gut getan, aber für Geist und Seele war das nix. Die haben immer von »Energie« gefaselt, die man »harmonisieren« sollte und die sie spüren wollten. Einmal hab’ ich mir das auch eingeredet, aber zu Hause, beim Arbeitsstress mit dem Haus und mit meinem Bauchweh und der mageren Diät, was glauben Sie, wie schnell die Energie da weg war! Mit Religion hat Yoga nix mehr zu tun, jedenfalls nicht im Westen. Das Energie-Getue ist doch nur zum oberflächlichen Wohlfühlen, aber nix mit Religion. Glauben Sie mir, ich versteh’ ’was von Religion, Religion ist kein Spielzeug! Religion ist Verzicht, Disziplin – und dann kriegt man ’was: Befreiung, innere Ruhe, Frieden von all dem Stress im Alltag und dem Leiden [v. a. wegen seiner Frau]. Der eigentliche Yoga, das hab’ ich jetzt im Internet gelesen, war ganz anders. Aber so ’was würde hier kein Mensch machen, das verkauft sich nicht. Nachgeschichte: Glücklicherweise war der Mann wieder aufzurichten. Er bildete sich in Yoga und ähnlichen Techniken weiter und bietet diese heute in seiner Ortskirchengemeinde an: »Hier kann ich viel geben, was eigentlich aus meinem eigenen Suchen kommt. Und ich bekomme viel, für den ganzen Menschen!«

5.1.3 Gesundheit oder Wellness – Erzählung eines ca. 50-jährigen Mannes, 16. 12. 2010 Nein, ins »Plus« geh’ ich nicht mehr in die Sauna. Ich hatte mich so auf den Neubeginn gefreut (nach Eigentümerwechsel und Umbau). Das ist jetzt einer Kette unterstellt mit Namen »Schön[ … ]«. Was ich da erlebt hab’, fand ich gar nicht schön. Im Ruheraum war nur noch eine Sorte flache Liegen, nichts mehr zum Höherstellen und Zeitunglesen. Die Sauna war zur Hälfte verkleinert. Alles nur Sparmaßnahme und Augenwischerei? Auf die neuen Farben an den Wänden hätt’ ich verzichten können. Bei den Saunabänken traf mich der Schlag: Die obere Bankreihe war weg. Jetzt gab es nur noch 2 Sitzreihen, und die zweite lag ein gutes Stück tiefer als vorher die dritte. Klar, war es früher ein bisschen eng da oben. Ich bin wegen der Gesundheit hingegangen. Ich muss einmal die Woche sehr kräftig schwitzen mit meinem Hautekzem. Dann kommen die Gifte ’raus, und der Juckreiz ist gleich weniger für ein paar Tage. Weiter unten 335 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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kann ich nicht so stark schwitzen, das macht mein Körper nicht. In eine Sauna gehört nun ’mal ’ne Etage ganz oben, mein’ ich, für die Gründlichen sozusagen. Natürlich hab’ ich auch die Ernährung umgestellt, und die Haut ist besser geworden, aber auf die Schwitzkur kann ich nicht verzichten. Sie tut mir auch sonst gut. Ich hab’ dann dem neuen Betreiber das Problem gesagt. Der hat mich überhaupt nicht verstanden, hat nur immer erklärt, dass alles viel schöner geworden ist, nicht nur der Sportbereich, sondern besonders in der 1. Etage der Wellnessbereich. Aha, so denken die also! Sauna ist für die bloß »Wellness« – für mich ist es »Gesundheit«!

5.1.4 Vom Autositz – E-Mail eines Mannes, 24. 1. 2011 […] Der Hersteller meines PKWs hat beim neuesten Modell die Autositze »rückenfreundlicher« gemacht. Nun habe ich mit meiner kranken Hüfte keine Chance mehr, die für mich richtige Position einzustellen, sodass ich schmerzfrei fahren kann. Erst habe ich versucht, mit zurechtgeschnittenen Schaumstoffteilen meine alte Position zu simulieren, aber das war Krampf. Ein Bekannter hat mir dann aus einem schrottreifen Vorgänger-Modell »meinen« Sitz ausgebaut und bei mir ’rein. Das war ein Glücksgriff, aber die Suche war lang, und den Bekannten musste ich nach Stunden bezahlen, das wurde recht hoch. Dass die unterschiedlichen Sitze komisch aussehen, nehme ich gern in Kauf. Die Neuerung empfinde ich als totalen Blödsinn und bin sehr verärgert.

5.1.5 Natur und Knoblauch – E-Mail eines ca. 25-jährigen Mannes, 21. 3. 2011 Hallo Frau Luft-Steidl, Ihre Knoblauch-Empfehlung hat mir ganz schön Probleme gemacht! Mir ging es wirklich besser mit der Durchblutung, zusammen mit meinem Jogging und Ihren anderen Tipps, also erst mal »dankeschön« dafür! Ich mag das Zeug ja auch, beziehungsweise sehe ein, dass der Duft nicht ins Büro gehört oder zum Rendezvous, aber beim Joggen, da hatte ich mir nichts gedacht. Wahrscheinlich denken Sie auch so wie ich, dass nämlich Joggen ein Gesundheitssport ist. Denkste!!! Die Kumpels und vor allem die Mädels 336 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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wollten mich rausschmeißen aus der Gruppe beziehungsweise haben mir den Knoblauch verboten. Erst hab ich Kapseln geschluckt, aber die bringen nichts für meine Gesundheitsprobleme, das meinten Sie ja auch schon. Gut, ich mach jetzt Ihren Ingwersaft und nehme die Kapillarkapseln. Also das geht schon. Aber die Mädels nennen mich immer noch kichernd »Stinker« und die Kumpels nennen mich »Bombe«. Das krieg ich wohl nie mehr los. Aber richtig traurig bin ich, dass sie so wenig von Natur verstehen. Wir joggen, sogar im Wald, wollen laut Plan die Naturstimmungen aufnehmen, den weichen Waldboden spüren und anderes für die Gesundheit, aber Knoblauch als Naturgut wird abgelehnt. Das passt für mein Verständnis in den Zusammenhang nicht rein. Da gibt’s noch andere Kritikpunkte, zum Beispiel die Kleidung von manchen Mädels. Sehr affig, mit Natur hat das auch nichts zu tun. Ich glaube, ich blick ein bisschen klarer, was wichtig ist und was nicht, das kommt durch die Krankheit. Als Moral aus der Geschicht kann ich nur sagen: Weiter machen mit dem Gesundwerden und sich nicht vom Unwichtigen beeinflussen lassen. Ihnen Schöne Grüße!

5.1.6 Natürlich glutenfrei – Erzählung einer Ende 20-jährigen Frau, 16. 4. 2011 Meine Verdauung haut’s immer noch von einem Extrem ins andere. Wegen der Reizdurchfälle meinte mein Arzt (ich war da beim vierten in drei Jahren!), ich hab’ ’ne Glutenallergie. Erst durchs Internet hab’ ich ein paar Wochen später erfahren, dass die jetzt so gut wie alle Menschen haben. Toll für die Hersteller, die Esssachen sind nämlich schweineteuer. Zuerst hab’ ich das also geglaubt und mir diesen Mampf besorgt [Produktarten und Marken aufgezählt, auch viel selbst Zubereitetes, dann weiter über die käuflichen Produkte]. Erstens teuer, zweitens schmecken nach Nichts, drittens machen nicht satt, viertens hab’ ich noch mehr abgenommen als bei den Durchfällen. Jetzt kommt der Hammer: Von den Fertigwaren hab’ ich durchweg Verstopfung bekommen. Das war so schmerzhaft, dass ich oft zwei Tage nichts essen konnte, bis auf Klo endlich alles draußen war. Klar, dass man da abmagert. Klar ist eigentlich auch, warum das stopft. Die Sachen sind ja schon von vornherein klumpig, trocken, fest, zäh wie normale Brote und Kuchen niemals sind. Klar: Da fehlt nicht nur Gluten, sondern auch Eier, Milch, Hefe. Die lassen gleich so 337 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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viel wie möglich weg, pappsen nur Mehl, Wasser und etwas Pflanzenklebstoff zusammen, erklären erst alle für krank und setzten es dann flächendeckend Kunden teuer vor. Für meine Verdauung fehlen flutschige Stoffe wie Eier, Hefe, Milch, die Teigwaren locker machen, und schließlich sind solche Backzutaten seit früher her übliche Naturstoffe. Dabei sind sogar Eiweiße, stammt daher nicht das Leben? Jetzt kommt der Gipfel: Da steht manchmal »Natürlich glutenfrei« drauf. Für mich sind das abgespeckte Industrieprodukte! […] Tja, was nur meiner Verdauung helfen kann. Zu dem Arzt geh’ ich nicht mehr. Im Internet hab’ ich gefunden, wie man auf Glutenallergie untersuchen kann. Ich hab’ das direkt von einem Labor machen lassen, natürlich selbst bezahlt. Der Befund war negativ. Heut’ kann ich nur alle warnen, die mit der Verdauung empfindlich sind, soll’n die Pfoten von diesem Glutenfrei-Mampf lassen. Wer wirklich glutenallergisch ist, soll lieber selber backen, da gibt’s schöne Rezepte, und eigene Ideen sind auch nicht das Schlechteste, wenn man sich schon so mit dem eigenen Körper ’rumschlagen muss.

5.1.7 Verwirrende Haarwäsche – Brief einer Mitte 30-jährigen Frau, 21. 4. 2011 Liebe Frau Luft-Steidl, vor 1 Jahr rief ich Sie an, weil ich in den Geschäften kein Shampoo mehr fand zum Waschen für meine Haare. Ich hatte immer bestimmte Sorten, die wenig Duft enthielten, weil starke Duftstoffe meine Kopfhaut reizen. Leider wurden diese Sorten verändert. Sie sollten wohl besonders gesund dastehen und waren plötzlich zusammengesetzt ohne Silikone und ohne Parabene, wie es auf den Packungen steht. Das ist jetzt bei immer mehr Shampoos so. Ich wusste gar nicht, was das für Stoffe sind. Mit den veränderten Shampoos waren meine langen Haare stumpf und verknotet nach dem Waschen, sodass ich sie nicht mehr kämmen konnte. Die Verkäuferinnen sagten, man braucht immer eine Spülung nach dem Waschen. Die brauchte ich vorher aber nicht, und ich will auch keine 2 Produkte, das ist mir zu teuer und zu umständlich. Und ehrlich gesagt, ich will das nicht alles konsumieren. Außerdem vertrage ich Spülungen mit der Kopfhaut nicht, ähnlich wie Duftstoffe. Meine Friseuse erklärte mir, dass bei Spülungen eine Art Weichmacher in den Poren zurückbleiben können und dort reizen und die Haarwurzeln zum Ausfallen bringen 338 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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können. Außerdem sagte Sie mir, mein struppeliges Haar kann man nur noch abschneiden und wollte mich zu einem stylischen (wie Sie das nannte) Kurzhaarschnitt überreden. Ich hatte aber vor dieser Shampoo-Veränderung schöne Haare gehabt und meine Kopfhaut war im Lot. Zum Abschneiden war gar keine Notwendigkeit. Ein anderes Problem war, dass bei sehr vielen Shampoos die Düfte verändert wurden und jetzt eher stärker sind als vorher. Auch die Düfte aus natürlichen Ölen in der Naturkosmetik vertrage ich nicht. Ich fand gar kein Produkt mehr und war total verwirrt und traurig. Sie haben mir dann erklärt, dass es Einzelfälle von Allergien gegen Silikone und Parabene gegeben hat und dass es eine Marketing Welle geworden ist, alle Menschen zu Allergikern zu erklären und die Stoffe wegzulassen. Ich war ganz geschockt, dass man so über einen Kamm geschoren wird als Kunde, aus lauter Verkaufstrieb. Diese Stoffe, haben Sie gesagt, sind normalerweise harmlos. Silikone machen das Haar geschmeidig, und wenn sie wegfallen kann das Haar nach dem Waschen ohne Spülung stumpf bleiben. Über die Duftstoffe haben Sie gesagt, dass sie keine Frage der Gesundheit sind, sondern der menschlichen Eitelkeit. Schon in Baby Shampoo tut man viel Duft hinein sagten Sie und zwar künstliche Stoffe, die für sensible Kopfhaut schlimmer sein können als Silikone und Parabene. Ich habe lange über Ihre Worte nachgedacht und lange gebraucht, um damit fertig zu werden, glauben Sie mir. Was da alles getrieben wird, in der Industrie, das ist schwer zu fassen. Ich habe Sie dann gefragt, ob Sie mir ein Shampoo herstellen können, weil Sie sich ja damit auskennen. […] Sie haben mir dann Rezepte genannt, wie ich mir selber Mittel zum Haare waschen herstellen kann. Die Mittel waren leicht zu machen. Alle wirkten sofort gut, aber am besten ist für mich die Paste mit Eigelb und Apfelessig (Nr. 3 in Ihrer Liste), bei der ich geblieben bin. Die Arbeit nehme ich gerne in Kauf. Meine Kopfhaut ist wieder im Lot und meine Haare sind noch schöner als vorher geworden. Aber die Kopfhaut ist glaube ich das wichtigste. Ohne gesunde Kopfhaut gibt es bestimmt keine guten Haare, aber das sagt die Industrie nicht immer so. Ich will Sie demnächst noch wegen der Ernährung anrufen, weil ich glaube, dass das, was aus der Kopfhaut ausgeschwitzt wird, auch mit der Ernährung zusammenhängt. Bestimmt hat das auch etwas damit zu tun, ob die Haut leicht reizbar ist oder nicht. So etwas steht natürlich auf keinem Shampoo drauf. Jetzt will ich mich erst einmal herzlich bei Ihnen bedanken, weil Sie mir nützliche Dinge erklärt haben und die Augen geöffnet haben 339 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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für das, was sogenannte Verbraucher alles ertragen müssen. Besonders danke ich Ihnen für das Rezept, das mir sehr geholfen hat. Nicht nur fürs Haare waschen, sondern für mich als ganzer Mensch. Es macht zwar etwas Arbeit, aber das macht nichts. Ich brauche mir übrigens nur noch 2-mal die Woche die Haare zu waschen. Von den Kosten her ist es jetzt sogar billiger. Vorher, in der verwirrten Zeit (bevor sie mir geholfen haben), fühlte ich mich nur noch zum Bezahl-Roboter gemacht, richtig ausgebeutet. Das ist schon ein schlimmes System geworden. Vielen herzlichen Dank an Sie.

5.1.8 Vom Ziegenkäse – Erzählung einer ca. 50-jährigen Frau, 6. 5. 2011 Die Fabrik meines Kräuter-Ziegenfrischkäses, der mir mit der Verdauung so gut tut, setzt jetzt Lactobazillen für bessere Verdaubarkeit bei. So ein Quatsch, wo Ziegenkäse noch das natürlichste Lebensmittel ist, das wir haben. Die Ziegen werden ja kaum gezüchtet, sind noch alte regional verschiedene Rassen, fressen Natur und kriegen wenig Pharmazie in den Körper. Ziegenkäse ist für mich ein »Naturprodukt« – was gibt es daran zu verbessern? Für mich war die Änderung ein GAU, ich kriegte immer Durchfall von dem Zeug. Ich kauf jetzt bei einem anderen Hersteller und mix’ meine Kräuter selber rein. Die Suche nach dem richtigen Käse hat aber lang gedauert, und viele probierte Sorten haben Probleme gemacht, weil für meinen Darm der Salzgehalt, der Wassergehalt, die Cremigkeit usw. stimmen müssen. Fett ist gut, das brauch ich reichlich. Aber das reduzieren jetzt alle, weil Fett »böse« ist. Was nicht stimmt, finde ich, es kommt ja auf die Zusammensetzung des ganzen Essens an. Jedenfalls, das mit den »gesunden« Zusätzen, alles »Gesunde« bei den Produkten, das sag’ ich Ihnen, ist alles Lüge, nur ein Werbetrick, um Käufer zu ködern, wo »Gesundheit« heutzutage so einen hohen Rang hat. Aber den Gesunden sind die Inhaltsstoffe in Wirklichkeit egal, die wissen ja gar nichts von Gesundheit! Die kaufen alles, was man ihnen vorsetzt. Vielleicht glauben sie wirklich, sie werden gesünder davon. Aber die Kranken, die fallen ’raus aus dem System, die ’was Bestimmtes brauchen und vor allem, nicht immer ’was Neues, Neues, Neues, sondern gleichbleibend das, was ihnen gut tut. Der Körper will ja seine Harmonie finden und nicht immer aufgewühlt werden. Diese Immer-Anders-Masche ist ganz schlimm für 340 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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Kranke, das sag’ ich Ihnen. Und was will man denn noch verbessern? Sollen lieber an alternativen Energien forschen oder kinderfreundlichen Schulen. Das meiste in den Regalen braucht man sowieso nicht. Bei mir ist das mit dem Käse zwar kompliziert, damit er mir hilft, aber die Zutaten sind die einfachste Sache. Glauben Sie, das Einfachste ist noch das Beste.

5.1.9 Wohlgefühl mit Reizstoffen? – Erzählung einer jüngeren Frau, 28. 5. 2011 Stellen Sie sich vor, die haben meine Shampooserie (aus der Apotheke) verändert, die optimal für meine gereizte Kopfhaut war. Ich nehm’ jetzt ein Mittel aus der Serie, das dem früheren Produkt am ähnlichsten ist, aber der Duftstoff ist so stark, das reizt extrem! Drei Wochen nach dem Wechsel ist meine alte Neurodermitis auf dem Kopf wieder ausgebrochen. Die Kopfhaut war 5 Jahre stabil gewesen. Ich kann aber nicht genau sagen, ob’s am Shampoo liegt. Ich hatte auch viele Umstellungen in der Ernährung wegen der Darmprobleme und psychischen Stress. Es kam wohl alles zusammen. Weil ich wissen muss, ob ich das Shampoo weiter nehmen kann, hab’ ich den Apotheker um Rat gebeten. Sonst find ich kein anderes Shampoo, hab’ auch schon Naturkosmetik probiert, aber da reizen die Öle. Ob das schädlich sein kann, fragte ich ihn, wenn’s schon aus der Apotheke ist und fünfmal teurer als andere. Er sagte mir, dass dieser Hersteller so sehr wie kein anderer seine Mittel auf Allergene testet, was sich im Preis niederschlägt. Natürlich kann man individuell gegen alles allergisch sein, aber die häufigsten Allergene sind hier ausgeschlossen. Deshalb, meinte er, ist die Serie gut für sensible Kopfhaut. Am Produkt kann es jedenfalls kaum liegen. Da fragte ich: »Und was ist mit den Duftstoffen?? Warum kommt so starker Duft ’rein, wenn es gut verträglich sein soll?? Ganz viele Menschen vertragen sie nicht, schauen Sie doch ’mal ins Internet, was da über Shampoos diskutiert wird!« Der Apotheker sagte: »Jaah, wissen Sie, ein Shampoo soll ja auch einen hohen Wohlfühlfaktor haben, deshalb kann man auf Duft nicht verzichten.« So! – Ich soll mich also wohlfühlen, wenn es meine Haut reizt und entzündet!? Das ist ja völlig verdreht! Sehen Sie, die machen gar nichts für Kranke, sondern nur für die Masse, die drauf abfährt wenn’s gesund klingt und dafür Geld zahlen, weil sie meinen, dass es gut ist. Ohne Duft würden sie’s nicht weiternehmen, weil 341 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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»Wohlfühl« fehlt. Aber die Probleme haben, die fallen ’raus, denen sagt man, das liegt an Ihrer Haut, Sie sind verkehrt, Sie sind krank. Und die irren herum und herum und finden nix. Das ist eine Sauerei geworden!! (Anm. d. Verf.: »Sauerei« als süddt. Wort für »Frechheit«). […] Außerdem hab’ ich im Internet gelesen, die tun eh nur das Billigste ’rein zusätzlich zu Werbetricks, aber nicht, was Menschen wirklich hilft. (Anm.: »eh« süddt. für »sowieso«).

5.1.10 Hygiene oder hygieia – Erzählung einer ca. 45-jährigen Frau, 21. 6. 2011 In meinem Fitnessstudio sprühen die seit der Ehec-Welle die Geräte mit Sagrotan ein. Die Dämpfe dringen bei mir durch die Sportkleidung oder kommen direkt an die Haut und verursachen Hautreizungen. Im Ruheraum, wo ich nach dem Sport ausruhe, läuft neuerdings eine Duftorgel mit Kirschduft. Schreckliches Mittel, das trocknet meine Schleimhäute aus, ich hab’ danach immer trockenen Husten und ’ne verstopfte Nase. Wenn’s nur natürlich wär – Melissenöl oder Lemongras, die sind schön und vertrag’ ich, aber gegen das Künstliche war ich schon immer empfindlich. »Wellness« nennen die das. Früher hab’ ich im Büro die PC-Ausdünstungen nicht vertragen und die trockene Luft. Die Büros sind heute viel besser geworden, aber die Gesundheitswelt verpestet uns mit künstlichem Zeug. Ich werd’ mir wohl ein anderes Studio suchen müssen, ich brauch’ ja das Training für die Gelenke. […] Mein Mann meint, ich soll mich nicht so anstellen mit den Dämpfen, die Gelenke sind wohl wichtiger. Ach, wer nix hat, weiß nix von Beschwerden! Zum Glück, muss ich ja sagen, ist er gesund, und die Kinder sind auch gesund, noch jedenfalls, ihnen wird ja nichts geschenkt. Der Große muss bis spät abends an Hausaufgaben sitzen, das find’ ich nicht gut. Ja, wenn man ’was hat [gemeint: Beschwerden, Krankheit], man muss damit leben und das Beste draus machen. Fortsetzung: Es folgten allgemeine Fachfragen zu Hygiene- und Reinigungsmitteln. Dabei ergab sich, dass ich (d. Verf.) der Frau sagte, hygieia hieß im antiken Griechenland eigentlich »Gesundheit«, die in einer gleichnamigen Göttin verkörpert war. Sie reagierte schockiert.

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5.1.11 Von Zittern, Hungern und Stärke – Brief einer ca. 40-jährigen Frau, 2. 7. 2011 Vorgeschichte: Eine Ehefrau und Mutter zweier jugendlicher Söhne erkrankte im 40. Lebensjahr an Parkinson, musste ihren Beruf als Lehrerin aufgeben und war auf Unterstützung ihres Mannes angewiesen. Obwohl sie ihr unheilbares Leiden durch medizinische und Zusatztherapien eindämmen konnte, rechnete sie mit dem Bruch ihrer Ehe und Familie durch die Krankheitsbelastungen. In einer Selbsthilfegruppe fand sie gleiche Schicksale und wirkte einer möglichen Vereinsamung schon entgegen. Sie würde einen Bruch akzeptieren können, wünschte aber, ihre Söhne noch großziehen zu können. Seit der Erkrankung war auch dieses Verhältnis gestört. Die Mutter meinte, die Heranwachsenden gefielen sich in ihrer körperlichen Stärke, besonders, seit sie regelmäßig Bodybuilding trieben. Auf die Erscheinung der Mutter mit Schwäche, Zittern und Verzerrungen würden sie herabsehen. Oft hat sie beide miteinander über sie lachen gehört. 26 Hierzu ihre Sätze: Ich bin sehr traurig, dass ein Fitnessstudio junge Männer arrogant macht. Eine Gesundheitseinrichtung sollte eigentlich Verständnis für Krankheit wecken. Trotzdem liebe ich meine Söhne und bin stolz auf sie. Der Älteste, 19, lernt jetzt Koch. Er absolvierte bereits drei Praktika in der gehobenen Gastronomie und hat nun seine Traumstelle in einem Elitehotel erhalten. Das Kochen ist seine Leidenschaft seit Kindheit. Früher aß er auch gerne, aber jetzt will er gertenschlank sein und muskulös. Wie glücklich ließe ich mich von ihm bekochen! Für meine jetzigen Diätvorgaben hat er wenig Sinn. Den Umgang mit seinem eigenen Körper würde ich als »Kult« bezeichnen. Gefragt, warum er sich stählt, sagte er, ein Koch gehobener Häuser sei heute kein Diener mehr im HinVgl. Siegetsleitner, Anne: Geschlecht behindert, S. 58–62. Diese Verfasserin verbreitete in den 1980ern, wie bei Frauen die malade Erscheinungsform besonders abstoßend wirkt, weil hier generell hohe Maßstäbe an das Äußere gelegt werden. Inzwischen wurde die Behinderten-Definition rechtlich über die anatomische Verstümmelung hinaus auch auf schwere Krankheiten erweitert. Dies darf nicht über bestehende alte und nun zusätzliche Ausgrenzungen hinwegtäuschen, z. B. indem anderweitig Kranke neidisch nach Behinderten-Parkplätzen schielen oder Frauen mit schmerzverzerrtem Gesicht ins Bild einer Fußgängerzone nicht passen. Bei ihnen kann Wut aufkommen auf »Behinderte«, deren Rollstuhl wie ein Alibi wirkt. Es wäre eigentlich ein neues Buch fällig mit Titel »Frauen in der Wohlstandswelt – immer gut drauf?«.

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tergrund. Aus Gründen »personeller Transparenz« müsse er »auftreten« können. Da dürfe kein »Mopps« am Buffet stehen, sonst denken die Gäste, das Essen dieses Hauses macht dick. Gesund müsse er aussehen und topfit. Ich weiß als Pädagogin, Jugendliche neigen zum Überbewerten von Ansichten, aber das macht manche Ansichten erst richtig schlimm. Es gibt so viele Menschen, die an ihrem kranken Körper leiden, und den jungen gesunden Menschen redet man das gute Körpergefühl aus?

5.1.12 Von den Inhaltsstoffen gesunder Nahrungsprodukte – E-Mail-Wechsel mit einer 51-jährigen Frau, 2. 10.–14. 12. 2011 Liebe Frau Luft-Steidl, durch Ihre Kurse bin ich im Jahr 2009 zur vegetarischen Ernährung gekommen. Seitdem sind meine Obstipation, mein saures Aufstoßen und meine Antriebslosigkeit verschwunden. Nur meine Akne ist geblieben, unter der ich seit Jugend schwer leide (ich bin jetzt 51). Kann es an vegetarischen Brotaufstrichen liegen, die ich bei der Arbeit unter Zeitdruck in großer Menge auslöffele? Vielen Dank und mit freundlichen Grüßen Liebe Frau […], sicherlich habe ich Ihnen keine Fertigprodukte empfohlen. Die Zusammensetzungen auch der besten Ernährungsrichtungen folgen hier primär marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, nicht gesundheitlichen. Ich kenne die Zeit- und Organisationsnot unserer Essgewohnheiten, auch persönlich. Versuchen Sie trotzdem die Selbstzubereitung. Bei Verwertungsstörungen, die zur Erwachsenenakne führen, sind oft die Fette maßgeblich. Olivenöl ist hier nach meiner Erfahrung das verträglichste. Mit meinen besten Wünschen Liebe Frau Luft-Steidl, tatsächlich konnte ich Besserung durch Verwenden von Olivenöl erleben, anstatt anderer Fette. Das Selbermachen ist mir aber zeitlich schwer möglich. Daher habe ich die großen Biomärkte in … [Stadt] nach Pasten / Pasteten mit Olivenöl abgesucht. Ich fand außer Pestos 344 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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(die sich nicht zum Auslöffeln eignen) mehrere Sortimente mit insgesamt etwa 100 verschiedenen Produkten. In einem einzigen Produkt fand ich Olivenöl (leider schmeckt es lasch), in allen anderen vor allem Sonnenblumenöl, weiterhin Palmöl oder »pflanzliches Öl«. Beim Suchen im Internet bekam ich heraus, dass sich hinter dem Dritten gemäß irgendeiner Definition in der Regel Rapsöl verbirgt. Zu meinem Entsetzen stieß ich außerdem auf mehrere medizinische Abhandlungen, in denen es heißt, Sonnenblumenöl würde wegen Omega-6-Fettsäuren entzündungsfördernd wirken. Jetzt ist mir der Zusammenhang mit meiner Akne klar! Ist es nicht kriminell, wenn Hersteller sogenannter gesunder Ernährung (wofür der Verbraucher vegetarische Biokost hält) entzündungsfördernde Zutaten verwenden? Mit vielen Grüßen Liebe Frau […], es freut mich, dass Ihnen Olivenöl hilft. Sonnenblumenöl ist ein Naturprodukt und von daher prinzipiell nichts Schlechtes. Wir jetzt Erwachsenen sind mehr oder weniger damit aufgewachsen in Zeiten, in denen es die heutige Vielfalt noch nicht gab. In den letzten Jahren haben intensive biochemische Laborversuche die Unterschiede u. a. zwischen Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren eruiert. In der Lebenspraxis sind sie nicht erwiesen. Trotzdem rät man speziell Herzkranken vom Risiko des hohen Verzehrs der Omega-6-Fette ab (pflanzlich: Sonnenblumen-, Maiskeim-, Traubenkern-, Sesam- und Distelöl). Persönlich sollten Sie am besten nach Ihrer Erfahrung gehen. Ihnen weiterhin Alles Gute! Liebe Frau Luft-Steidl, danke für Ihre Antwort. Verzeihen Sie, aber ich fühlte mich nicht ganz verstanden. Ich fand es grundsätzlich kriminell, wenn Hersteller problematische Inhaltsstoffe verwenden. Wenn Sie sagen, dass Omega-6-Fettsäuren für Herzkranke riskant sind, ist das Problem ja nicht vom Tisch. Auch Palmöl ist problematisch, denn für Palmölplantagen werden Urwälder gerodet. Warum nehmen sie (gemeint: die Hersteller, d. Verf.) nicht Olivenöl? Olivenöl schmeckt gut, lässt sich gut verarbeiten (ich habe mir Rezepte für vegetar. Aufstriche und Dipps beschafft und mache schon mehr selber) und soll von allen Ölen das bekömmlichste sein. Im Internet habe ich allerhand recherchiert über die Verträglichkeit der Fette. Allmählich beginne ich aber 345 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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zu begreifen, was Sie mir in Ihrer ersten Antwort sagen wollten, es komme Herstellern auf gesundheitliche Fragen gar nicht drauf an. Inzwischen habe ich auch die Rohstoffquellen, -preise und andere wirtschaftliche Faktoren im Internet recherchiert. Nennen wir es doch beim Namen: Die tun von allem das Billigste hinein! Viele Grüße Abschließende Gedanken zu den Fallberichten Sehr auffällig zeigt sich hier die Empörung und Verzweiflung kranker Menschen, die mit Mitteln und Möglichkeiten nicht zurechtkommen, wie man sie als typische Angebote der Fitness- und Gesundheitsbewegung bezeichnen kann. Dabei mündet oft ein Gesundheitsproblem, das in den Konflikt mit diesen Mitteln und Möglichkeiten gerät, in ein Feld an Systemkritik (vgl. pauschale Bezeichnungen wie »die« für Anbieter; »System« für das vorgefundene Gesundheitsangebot; Kranke und Gesunde gruppenartig voneinander abgegrenzt). Anders gesehen, zeigt sich deutlich das Komplexe der erlebten Leiden. Anscheinend wird dieses Komplexe im Umgang mit dem vorgefundenen Angebot erst richtig offenkundig, z. B. wenn ein Mittel (wie Kosmetikum, Nahrungsmittel) verändert oder vom Markt genommen wird und das Neue nicht nur das ursprüngliche Gesundheitsproblem unversorgt lässt, sondern zusätzliche Probleme für den Betroffenen schafft. In den komplexen Zusammenhängen der Gesundheit wurden von den Betroffenen deutlich auch seelisch-geistige Konditionen genannt, z. B. der Wunsch nach religiöser Tiefe gegen Sinnleere und Leiden 27; der Wunsch nach Anerkennung als Individuum (beim »gründlichen« Saunabesucher, beim Autositz-Tüftler); das Erstreben von »Harmonie« des kranken Organismus zugunsten einer Stabilisierung oder Genesung; eine starke Bewusstheit für das Leiden (»ach, wer nix hat«); das Werte- oder Qualitätsgefühl (z. B. beim Olivenöl); Verstanden-werden-Wollen (»fühle mich nicht ganz verstanden) 28; 27 Eine auf den ersten Blick anzunehmende naive Do-ut-des-Religiosität (»Einsatz, Verzicht«) sprach im Ganzen nicht aus diesen Sätzen, sondern der Wunsch, wesentlich zu werden, um damit eine Lebensbasis zu erhalten. 28 Die Phänomene des inneren Lebens wiederlegen die Ansichten der Hirnforschung: Geist ist nicht einfach kompatibel wie Zeichen. Vgl. nochmals Marcus Knaup über den aristotelischen Hylemorphismus: »Wenn Aristoteles über die Seele referiert, meint er

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ein Muttergefühl, das stärker ist als der Konflikt mit den Söhnen und das deren Irrungen gegenüber einer Indoktrination noch in Schutz nimmt. Ferner wurden im Kontext der Beschwerden (z. B. Hautreiz, Verdauungsreiz) praktisch-pragmatische Aspekte des Alltags genannt, die auch ins Ethische übergehen (»will das nicht alles konsumieren«; die Haarfrisur als unkomplizierte oder komplizierte Handhabung; benötigte und überflüssige Inhaltsstoffe; der Wunsch nach Tauglichkeit bzw. der Ärger über »das Billigste«). Schließlich geht aus den Berichten unüberhörbar eine Beziehung zur Natur und ein Sinn, ja ein ethischer Appell für diese hervor, was ganz eng mit dem Leiden in Verbindung steht. Dieser Natur-Sinn zeigt sich z. B. im Erstreben von Einfachheit bzw. Verzicht auf Künstliches und Prozessiertes (so bei der Haarwäsche, in den Nahrungsmitteln); im Zurück zum Selbermachen; im expliziten Vorzug natürlicher Produkte (z. B. ätherische Öle, herkömmlicher Ziegenkäse); in der positiven Bewertung von Naturstoffen schlechthin (beim Knoblauchesser), in der Kritik an Palmölplantagen und ganz originär wiederum im Muttergefühl. Eine bewusst-wahrnehmende Teilhabe des Menschen an der Natur zugunsten der Gesundheit ging aus den Aussagen des Knoblauchessers vielschichtig hervor. Offenkundig wird folglich mit den genannten Merkmalen, dass der Mensch leibhaft verfasst ist und mit seiner Leiblichkeit im Leiden – zum Teil hart – konfrontiert wird (vgl. bei Nietzsche den Leib als »Gebieter«). Umgekehrt scheint ohne Leiden oder Bewusstsein für das Leiden auch der »Leib« außer Bewusstsein zu sein. Als Gesunder kann man sorglos vor sich hinleben bzw. sich achtlos beliebigen Einflüssen aussetzen. So jedenfalls wirkt es in einem Wohlstandssystem, das dem Individuum die Sorge für sich selbst und erst recht für das Leben schlechthin abzunehmen verspricht. Dagegen befinden sich die zu Wort gekommenen Klienten in einer Selbstsorgestruktur, nachdem das Angebot sie als leibliche Wesen nicht erreicht bzw. als Kranke unversorgt lässt. Mit der ihnen auferlegten Notwendigkeit zur Suche, zur Geschicklichkeit, zur Geduld, zum Sich-Durchbeißen und zu jeder hilfreichen Form von Eigeninitiative, dabei eingeschlossen

das, was das Lebewesen (also Sie oder mich) zu dem macht, was es ist«, in: Leib und Seele, S. 226 (zit. schon mit FN 6). Nur die Leiblichkeit sei das Medium der Einfühlung, so Knaup weiter, nicht Parameter wie Knochendichte oder Gensequenz, S. 597. Vgl. auch eingangs zu diesem Kapitel die Philosophie Edith Steins, zit. mit FN 3. Weiter explizit zur Leiblichkeit ab nächstem Absatz.

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Formen der Selbstüberschreitung, können diese Menschen dem diätetischen Paradigma zugeordnet werden. 29 Offenkundig wird mit dem Selbst-Reden der hier sich Äußernden die Einbindung des Leibes selbst in die Natur, um dieses Merkmal speziell zu betonen. Ferner wird auch die Unhintergehbarkeit der Individualität (vgl. als Eingangsthese dieses Kapitels) deutlich (z. B. darin, dass Produkte überhaupt nicht zum individuell Benötigten passen) und dabei dies, wie die menschliche Individualität besonders eng mit der natürlichen Unhintergehbarkeit zusammenhängt (sehr anschaulich nochmals im Fall des Muttergefühls, das schwer leidet, wenn gewachsene Gemeinsamkeiten zu den Kindern durch Außeneinflüsse in Feindschaft umgestürzt werden). Sodann werden Fälle wie der des mütterlichen Leidens auch als eingangs skizziertes Originärphänomen einer Sich-Gegebenheit (Rolf Kühn) offenkundig. Damit schließlich hängt das ebenfalls eingangs benannte Phänomen zusammen, dass man sich in den erlebten Unhintergehbarkeiten selbst aufgegeben ist (vgl. Kühn mit Verweis auf Nietzsche). Dies zeigt sich nämlich in einer bestimmten Konstitution und Prägungen, was sich in Details äußert wie z. B. reizbarer Haut, sensiblen Haaren oder in Krankheitsneigungen, die das Individuum schwer herausfordern können. Und abermals zeigt sich mit Sujets wie der Leiblichkeit sowie mit naturphilosophischen, anthropologischen und ethischen Topoi, dass Gesundheit zutiefst ein philosophisches Thema ist, dem weder die Ignorierung noch die Pauschalabhandlung gemäß ist, wie es in dieser Arbeit bemängelt wird. Aus den Fallberichten kann das Waren- und Leistungsangebot der Fitness- und Gesundheitsbewegung charakterisiert werden als: 1.

Menschen institutionalisierend, in ihren wirklichen Bedürfnissen entmündigend (um nochmals bzw. besonders treffende Bei-

Der Verfasserin ist es eine Gewohnheit geworden, Kundinnen und Kunden (besonders sind es Frauen, weil sie sich offenkundig mehr um das Pflegerische kümmern) vor den Regalen der kosmetischen Pflegemittel und der Diät-Produkte zuzuhören, wie sie Verkäuferinnen fragen: »Was hilft meiner juckenden Haut?« – »Was hilft meinem Kind zum Einschlafen?« usw. Die Häufigkeit solcher Fragen insgesamt und die Dringlichkeit im Einzelnen erinnert an die Haltungen in den Fallberichten. Einerseits wird vermutlich in vielen Fällen nichts Richtiges auf Anhieb gefunden, andererseits ist der kommunikative, ja geradezu seelsorgerliche Charakter der Gesundheitsregale bzw. ihres Personals eine interessante Erscheinung geworden.

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spiele zu nennen, vgl. den Leistungsdruck der Schüler oder den Zwang zum äußerlich gesunden Erscheinungsbild im Beruf). Dies würde dem Merkmal 1 aus den Schlussgedanken zur Diätetik in Kapitel 3.2 umgekehrt entsprechen, das lautete: »Die Freiheit von staatlicher Kontrolle«. 30 Standardisiert nach marktwirtschaftlichen Vorgaben (vgl. treffend, wie Rohstoffe offensichtlich nach Kosten, nicht nach Anwender-Nutzen ausgewählt werden). Sowohl individuell notwendigen als auch komplexen Kaufentscheidungen (z. B. geleitet von Wertevorstellungen) kann nicht Rechnung getragen werden. Dies entspräche umgekehrt dem Merkmal 2 aus Kapitel 3.2, nämlich dass Diätetik »nicht den Regeln des Marktes« unterstand. Übermaterialisiert, Verwirrung stiftend in Überfluss und Kompliziertheit sowohl für das mentale Verständnis (vgl. treffend die Fachbegriffe der Zutaten) als auch für die individuelle gesamtleibliche Gesundheit, die »Harmonie« sucht. Immaterielle Seiten sind rar (vgl. treffend, wie Verständnis, Trost, Leidenschaft nur in Enklaven gefunden werden können, z. B. in einer Selbsthilfegruppe, Kirchengemeinde), wie ethische Vorstellungen fehlen. Es entspräche umgekehrt dem Merkmal 3 aus 3.2, dass Diätetik »transzendenzbezogen war«, während heute das gesellschaftliche Leben Selbstüberschreitungen schwer ermöglicht, weil es monetär vermittelt bzw. durch monetäre Zwänge begrenzt wird. Denaturiert, d. h. vielfach künstliche, auch überkomplizierte Stoffe fraglicher Wirkung einsetzend (vgl. treffend Duftstoffe). Diese Stoffe werden rein zweckmäßig gebraucht und nicht aufgrund einer biologischen oder gar seelisch-geistigen Stimmigkeit zum Anwender, geschweige denn zur Gesamt-Natur. Merkmal 4 aus 3.2 wäre damit umgekehrt getroffen, nämlich: Diätetik

Zum System-Vorgegebenen ist z. B. auffallend, wie aus dem Bericht der Parkinsonkranken zum Bodybuilding ein Malechauvinismus spricht, der Bezüge aufweist zum Chauvinismus der frühen Turnbewegung. Gewiss ist Bodybuilding auch deshalb ein Frauensport geworden, weil die Leistungsgesellschaft eine männliche ist. Nach dem Bericht der Parkinsonkranken wirkt die Fitness- und Gesundheitsbewegung als perfekte Selbstpräsentation. Das Magazin Publik-Forum stellte im Januar 2011 Fallgeschichten der Selbstoptimierung und des Coaching vor, getrieben von extremen Anpassungszwängen, vgl. Teupke, Andrea: Basteln am Selbst, in: Publik-Forum 1 / 2011, S. 28–31. Die Aspekte zur Fitnessbewegung sind also vielfältig und vermischen sich stark mit den Vorgaben der Berufswelt, wie es auch die Parkinsonkranke schilderte.

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beruhte »auf der Beziehung zur Natur«, was, wie dort erklärt wurde, wesenhaft zu verstehen war und im Sinne einer Offenheit zu einer umgreifenden Dimension. 31 Subjekt-Objekt-geteilt, den menschlichen Leib in seiner Komplexität (nach innen und außen gesehen) ignorierend (vgl. sehr treffend bei den nach Einzelzwecken differenzierten Kosmetika, sogar so sehr, dass »Wohlfühl«faktoren direkt dem Körper schaden). Anstelle von Fühlung und Sinnhaftigkeit bei Angebotsentscheidungen ist offensichtlich die Zweckratio getreten. Damit wäre umgekehrt das Merkmal 5 aus 3.2 getroffen, wonach die Diätetik auf der »Einheit von Subjekt und Objekt« beruhte, insofern menschliche Selbstsorge den Umgang mit der Natur, den Kontakt (kommunizierend, fühlend, reflektierend) zu Mitmenschen und aller Kreatur bis hin zur Öffnung für eine höhere Dimension bedeutete.

Nach den Fallberichten dieses Kapitels könnte das Waren- und Leistungsangebot der Fitness- und Gesundheitsbewegung als inhumanes Angebot bezeichnet werden. Kranke merken deutlich, dass es dem Profit folgt und nicht dem, was Menschen sowie auch andere Lebensstrukturen brauchen. Gravierend wirkt sich das bei täglichen Produkten des persönlichen Bedarfs aus (Ernährung, Körperpflege). Eine wenig humane Kommerzialisierung hätte sich damit Bahn gebrochen – und eine breite Masse reagiert unkritisch, weil sie im Wohlstand keinen Grund zum Aufbegehren hat. Manch sorgloser Zeitgenosse dürfte das Angebot sogar toll finden und konsumieren sowie kombinieren, relativ egal was und wie. So wäre diese Vielfalt in den Regalen, auf privaten Konsolen, auf den Esstischen und auf der Haut auch eine Form von Massenspektakel, vor sich selbst und untereinander, um diesen kritischen Topos nochmals zu äußern. 32 Wenige Anbieter des naturheilkundlichen Umfelds, das in dieser Arbeit schon als Traditionshüter genannt wurde, greifen den alten Gedanken der wesenhaften Stimmigkeit heute wieder auf oder sind ihm treu geblieben (z. B. die Firma Weleda). Unter der allgemeinen Naturentfremdung ist es aber schwer, Seriöses von Oberflächlichem, Esoterischen etc. zu unterscheiden. 32 Hierzu kann die der Verfasserin bekannte Kosmetik-Verordnung beigesteuert werden (aktuelle Fassung 2014), wonach nämlich der Inhalt und die Aufschriften eines Produkts genauestens übereinstimmen müssen. Für Hersteller wirken übliche Zweckbestimmungs-Aufschriften wie z. B. »Reinigt die Haare« bei einem Shampoo im heutigen Wettbewerb nicht mehr attraktiv. Angestrebte fesselnde Aussagen erfordern 31

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Therapeutische Phänomenologie und Einzelfallberichte

Klar ist, dass man leidvolle Erscheinungen wie die des Alters, des Abbaus, der Schwäche und der Krankheit in Einrichtungen wie Fitnessstudios nicht zu sehen bekommt. 33 Dagegen könnte hinter einem Jogger an der Landstraße durchaus ein Parkinsonkranker stecken, der damit sein Leiden in den Griff bekommen kann. Im allgemeinen Bild der Fitnessbewegung böte die kommerzialisierte Breitenöffnung des Gesundheitssektors vor dem Hintergrund der individualisierten Gesellschaft große Chancen zur Integration schwächerer Menschen, auch wenn es gewiss praktische Grenzen gäbe. Beispielsweise würde ein Körpertrainingskurs für Parkinsonkranke zwar in denselben Räumen wie Fitness für Gesunde erfolgen können, aber nicht (wegen des Zeitbedarfs am einzelnen Gerät, wegen zu achtender Gefühle beim Einzelnen usw.) zeitgleich mit Gesunden vermischt. Erika Dilger sah in ihrer Forschungsarbeit, wie schon zwei Mal zitiert wurde, den Trend zur Grenzöffnung gegeben, indem etwa Fitnessstudios Trainingsplätze für orthopädisch Kranke anböten. Die Verfasserin hat diesen Trend überprüft und die für diese Arbeit befragten Fitnessstudios wieder besucht, nunmehr ca. drei Jahre nach der Befragung. Zu Zeiten der Befragung wurden solche Angebote dort nicht vorgefunden. Inzwischen fand sich bei einem der Fitnessstudios (es waren insgesamt sechs) das Angebot »Seniorentraining«, durchgeführt von einer Spezialistin des Hauses zu bestimmten Wochenterminen. Wegen der älter werdenden Gesellschaft dürfte die Öffnung gerade für Senioren eine wirtschaftliche Notwendigkeit vieler Anbieter sein. Jedoch wurden von der Verfasserin andere Zeichen von Grenzöffnungen bei den besuchten Studios und auch anderweitig nicht vorgefunden, sodass weiterhin festzuhalten wäre, diese Entwicklung bleibt abzuwarten. 34 jedoch gemäß der gesetzlichen Strenge oftmals neue Rezepturen, und das mag ein Hintergrund sein, weshalb Produkte inhaltlich unsinnig werden. 33 Dazu passt ein Zug der deutschen Tourismuswirtschaft, wie er d. Verf. aus privaten Kontakten bekannt ist: Seit der Privatisierung des öffentlichen Kursystems ab den 1990er-Jahren haben Gesundheitsangebote einen hohen Rang. Da aber mangels staatlicher Alimentierung der Kranken betriebswirtschaftlich an diesen Menschen nichts mehr zu verdienen ist, richten sich Angebote und Marketing darauf, die Gesunden »noch gesünder« zu machen. Das Beispiel zeigt eine Ausgrenzung der Krankheit und Doppelzüngigkeit der Gesundheitsbewegung. 34 Vgl. nochmals Dilger, Erika: Fitnessbewegung, S. 406 f. – Mit FN 330 wurde auf die Ausgrenzung Behinderter in der allgemeinen Sportsituation eingegangen. Bernd Wedemeyer-Kolwe stellt dar, wie durch die Bemühungen des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS) ab der 2000er-Wende ein Integrationsmodell, wie es politisch

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Die therapeutische Phänomenologie dieses Kapitels dürfte das abschließende Urteil über die Fitness- und Gesundheitsbewegung (nachfolgend in Kapitel 5.2) mit färben. Der Philosophie Friedrich Nietzsches zufolge schließt sich erst in der Krankheit die Welt auf. 35 Die Verfasserin möchte Nietzsches Perspektive mit einer Türöffnung vergleichen, durch die man je nach Winkelstellung weniger oder mehr sieht. Die Perspektive der Fallberichte wäre die volle, kritischste Öffnung, aber es kann damit nicht ausgeschlossen werden, dass Einzelnen auch die geringere Öffnung gemäß ist, weil sie keinen Anlass zur scharfen Kritik haben. Das soll im Gang dieser Arbeit anhaltend heißen, dass es sicherlich Menschen gibt, die in den Angeboten der Fitness- und Gesundheitsbewegung Hilfen gegen ihre Beschwerden finden, sei es z. B. in einem privaten oder medizinisch initiierten Fitnesstraining Hilfe gegen Rückenschmerzen, sei es in dem soeben genannten Seniorentraining, sei es in der qualitätsreichen Ernährung der Naturkostsortimente oder auch – nachdem die Grenzen von Gesund und Krank fließend sind – in der mit Teil 4 dieser Arbeit vielfach geäußerten Bremse gegen das Körpergewicht. So können die Fallberichte dieses Kapitels wiederum nicht als repräsentativ gewertet werden, sondern nur als ein Urteilsausschnitt. Dass allerdings das Fitness- und Gesundheitsangebot, das sich an unzählige beliebige Menschen wendet und sich selbst oft als sehr hilfreich darstellt (z. B. das glutenfreie Brotsortiment als Lösung für Probleme des Essens und des Ausgegrenzt-Seins) – dass es zu Enttäuschungen wie den oben genannten führt, das wäre ihm am Schluss dieses Kapitels anzulasten. Philosophisch wäre ihm insofern anzulasten, dass es den leiblich verfassten Menschen zwar stark anspricht,

gesamtgesellschaftlich angestrebt wird, gefördert werden konnte. Der Behindertensport werde zunehmend anschlussfähig an den Rehabilitationssportbereich, den z. B. auch Herzkranke oder Senioren besuchen, und insgesamt würden die Grenzen zwischen Rehabilitations-, Präventions-, Breiten- und Leistungssport allmählich durchlässiger: Wedemeyer-Kolwe, Bernd: Versehrtenturnen, S. 254 f. 35 Nietzsches Philosophie ist grundlegend von der Leibesphilosophie und diese wiederum von der Krankheitserfahrung durchzogen. Eine treffende Stelle wäre Nietzsches Metapher der Schlange vita, ein Bild für den Lebenskampf, der mit dem Leiden aufbricht, der selbst aufgenommen werden muss und nicht delegiert werden kann an Institutionen, »die einem etwas vorsetzen«, würde man es heute ausdrücken. Damit wäre die ungetrübte Selbsterfahrung der Welt verbunden. Nietzsches Verhältnis zu Lüge und Wahrheit wurde in Kapitel 3.1.8 beschrieben. Vgl. Zarathustra I in: KSA 4, S. 27, 87 u. a.

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Beurteilung der Fitness- und Gesundheitsbewegung gegenüber der Diätetik

aber dennoch auch das Leibliche und überhaupt die Strukturen des Lebens ignoriert.

5.2 Beurteilung der Fitness- und Gesundheitsbewegung gegenüber der Diätetik Die Fitness- und Gesundheitsbewegung zeigt sich nach den Methoden und Möglichkeiten dieser Arbeit in vielfältigen Facetten. Mit dem Instrumentarium der statistischen Erhebung blieben zwar Fragen offen, aber es konnten Vorurteile, bestehend von Seiten der Wissenschaft und der öffentlichen Meinung, widerlegt werden, die Teilnehmer an dieser Bewegung wären so etwas wie reine Mitläufer. Diesen Vorurteilen zufolge müsste man die Fitness- und Gesundheitsbewegung als eine »Masche« bezeichnen. Den Erforschungen dieser Arbeit zufolge wurden ebenfalls wesentliche Anzeichen gefunden, die hier nun den Begriff »Masche« für die Fitness- und Gesundheitsbewegung bestätigen würden. Dies wäre nicht leichtfertig-umgangssprachlich gemeint, sondern etymologisch hergeleitet vom Feld des Wortes »Machen«, in das z. B. auch das Wort »Maschine« gehört, also etwa, das mit »Herstellen« zu tun hat. Aus dem Alltag wäre z. B. die Strickmasche ein Vergleichsbild. 36 Inhaltlich zeigte sich nämlich die Fitness- und Gesundheitsbewegung als etwas Konstruiertes, gewissermaßen Menschen Vorgesetztes, dies insbesondere nach Ermittlung der Unterschiede zum klassischen Paradigma der Diätetik. Mit »gewissermaßen« soll gemeint sein, dass die Möglichkeiten dieser Bewegung auch sehr bereitwillig von der Bevölkerung aufgenommen werden und nachgefragt werden – ein typisch marktwirtschaftlicher Kreislauf, in dem sich alle Beteiligten (Industrie, Anbieter, Händler, aber auch Nutzer) Vorteile verschaffen wollen. In der wirtschaftlichen oder gesellschaftsbezogenen Unterweisung (z. B. in Sozialkompetenzkursen) spricht man heute von einer win-win-Situation. 37 Von daher besitzt die Bewegung nicht eindeutig durchschaubare Seiten und wird nicht einstimmig zu beurteilen sein. Sie ist außerdem sachlich nicht abgrenzbar von medizinischen Aktivitäten

Vgl. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch, S. 543, Sp. 1. Vgl. Taylor, Charles, zum Utilitarismus, der das moderne Wertegefühl stark prägt: Quellen, z. B. S. 50 f., 150 f.

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oder rein erlebnishaften Freizeitbeschäftigungen. 38 Jedoch als auffälliges Phänomen in der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft geht sie mit der Feststellung einher (so die Einleitung dieser Arbeit), dass deren Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten wie selbstverständlich die marktwirtschaftlich und öffentlich bereitgestellten Möglichkeiten zur Fitness- und Gesundheitspflege nutzt. Von dieser Beobachtung her wurde in der Einleitung der Begriff Fitness- und Gesundheitsbewegung gesetzt. In typischer Weise ist die Bewegung, was hier mit dem Wort »Masche« pointiert werden soll, ein Kind der Moderne, ab europäischer Aufklärung und Industrialisierung gesehen, in der Menschen durch die öffentliche Versorgung und durch die Prinzipien des Marktes Waren, Einrichtungen und Werte (z. B. Bilder vom Leistungsbürger, Wohlstandsbürger, Ideen zum Sich-Verhalten und zur Lebensgestaltung oder überhaupt erst den Druck dazu 39 usw.) vorgesetzt bekommen. Technische Möglichkeiten und ein hohes Selbstbewusstsein gehen beim Einzelnen zwar einher mit dem Gefühl von AutoGerade die Motivation »Entspannung / Ausgleich« dürfte die Abgrenzung vom Freizeiterlebnis schwierig machen. Z. B. gibt es in Fitnessstudios Gruppenangebote für Jugendliche, bei denen die Teilnehmer an Ausdauergeräten aktiv sind und zu lauter Musikbegleitung rhythmisch brüllen wie eine Horde. Das mag zunächst an törichten Discotanz und blinden Herdentrieb erinnern, könnte aber unter dem gesundheitlichen Aspekt eine wichtige Gelegenheit zum Sich-Abreagieren / Befreien, SichAustoben / Aus-Sich-Herauskommen sein, wie sie Existenzmuster des VereinzeltSeins, der Sitz-, Technologie-, Leistungsgesellschaft usw. nicht ermöglichen bzw. nötig machen. Es wäre auch ein sehr naturhaftes, in der menschlichen Evolution verankertes Verhalten, wenn man etwa an das Jagdgebrüll denkt (vgl. auch das Simulieren von Tiergebrüll beim Kinderyoga, FN 85). Bruno Latour beschreibt die gegenwärtigen, ausschließlich unnatürlichen »Existenzweisen« (so der Titel), z. B. S. 32 f. sachfremde Diskursivität in der Klimadebatte. Man könnte auch sagen, in dieser Welt der Konstruktionen ist Lebendiges verschwunden, und das Schreien wäre ein Inbegriff von Lebendigkeit, wenn man etwa an den ersten Schrei des Neugeborenen denkt. 39 Charles Taylor beschreibt die individuelle Selbstverhaltung und -entfaltung, das Streben nach individuellem Sinn gemäß bestimmten Mustern, als typisch moderne Werte bzw. siedelt sie unter identitätsbildenden »Hypergütern« an (z. B. Platons Idee des Guten, der christliche Gott – vgl. Taylors Grundthese: der Mensch verhalte sich immer nach Werten). Sodann hätten diese Haltungen sich neuzeitlich (mit augustinischer Reflexivität / Reformation, bürgerlicher Innerlichkeit bzw. Moral) immer mehr ins profane Leben verlagert. Vgl. Taylor, Charles: Quellen, insbes. S. 50 f., 86 f., 95; S. 122–138 über Hypergüter). Speziell der bürgerliche Einfluss auf die moderne, gegenwärtige Identität wurde in dieser Arbeit in den Kapiteln 3.1.7 und 3.1.8 (zu Goethe und zu Nietzsche) erwähnt. 38

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Beurteilung der Fitness- und Gesundheitsbewegung gegenüber der Diätetik

nomie, aber tatsächlich regelt ein Instrumentarium das persönliche und öffentliche Leben. 40 Mit diesem Vorgang sind Handlungslenkungen verbunden, sowohl durch die öffentliche Erziehung (im Gesundheitsbereich z. B. das »Lauf mal wieder« der 70er-Jahre; später der Slogan »Fünf Mal am Tag Obst und Gemüse«) sowie durch das Marketing der Wirtschaftsbranchen (vgl. z. B. heute Trendbotschaften wie »vegan« oder »low carb«). 41 So träfe auch darin der Begriff »Masche« zu, dass diese im Originärsinn – siehe die »Strickmasche« – etwas ineinander Verwobenes bezeichnet und dass bei modernen Lebensführungen wie speziell dem Fitnessgeschehen Beeinflussungen, Lenkungen, Überredung, ja auch Verführungen, Tricks, Winkelzüge oder sogar Finessen beteiligt sind. Mit Ende des Teils 4 dieser Arbeit wurde resümiert, dass die Grundhaltungen der Diätetik in der Fitness- und Gesundheitsbewegung nicht zu finden sind, womit nicht von »Neuauflage« gesprochen werden kann. Diätetische Haltungen wurden in Jahrhunderten geprägt, deren Gesellschaften auf Basis der Subsistenzwirtschaft lebten, eines festen, wesenhaften Naturbezugs, der transzendenten Gründung und eines natürlich-geistig wechselseitig bezogenen Weltbildes. Die in dieser Arbeit mit Teil 2 erarbeiteten Haltungen wie insbesondere die persönliche Fühlung oder Selbsterziehung (nomos, paideia) werden von der Fitness- und Gesundheitsbewegung sogar unterminiert, indem diese einem easy way der Möglichkeiten, des Kommerzes und des Überflusses folgt. Trotzdem könnte bei der Fitness- und Gesundheitsbewegung von diätetischen Zügen gesprochen werden, wie es sich insbesondere beim Streben zahlreicher Teilnehmer nach Entspannung und Ausgleich zeigt, was an die alte Anschauung von Besonders bedrängend macht inzwischen die ökologische Krise deutlich, dass die auf Autonomie fixierte Tradition Unrecht hat. Im Zusammenhang mit dem Menschen als natürliches Wesen wurde in Teil 3 diese moderne Aporie mit Hans Jonas begründet, der philosophisch herleitet, wie die Ignorierung von Leben als etwas Vernetztes in eine neue Sorgestruktur zurückschlägt, vgl. FN 171. 41 Das Vorgesetzte solcher Trends zeigt sich in ihrer Pauschalität – manchmal so oberflächlich, dass sogar Allgemeinsituationen übergangen werden. Z. B. muss »Low Carb« für eine Leistungsgesellschaft ernährungsphysiologisch als verfehlt bezeichnet werden, denn Kohlehydrate ermöglichen die Leistung der Körperzellen. Es wird bei dieser Kampagne nicht die Art von Kohlehydraten unterschieden, sondern z. B. prozessiertes Weißmehl in einen Topf geworfen mit der Kartoffel oder komplexem Vollkornmehl. Die mit FN 39 beschriebene menschliche Neigung zur Werteorientierung erfährt mit der aktuellen Virulenz von Werbeinhalten und Trends offensichtlich eine Überforderung. 40

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Offene Fragen der Untersuchung

der mesotes erinnert. Es wurde außerdem resümiert, dass diese Züge in der modernen Lebensweise an elementare Mängel geknüpft sind (kaum körperliche Bewegung, kaum Ruhezeiten usw.), u. a. mit den Worten, dass sich Mängel und Möglichkeiten die Hand reichen würden. 42 Insofern soll zur Charakterisierung der Fitness- und Gesundheitsbewegung als etwas mit der modernen Lebensweise »Verstricktem« beim Begriff der »Masche« stehengeblieben werden. Um ebenfalls beim Begriff des Diätetischen den epochal bezogenen Anklang zu belassen, sollte anstatt von »diätetischen Zügen« der Fitnessbewegung besser von »leiblichen Zügen« gesprochen werden. Der Leiblichkeitsbegriff besitzt seine Anknüpfung am individuellen Menschen (vgl. Nietzsche: der Leib als das Selbst), und auch die ernst zu nehmenden Züge der Fitnessbewegung folgen letztlich den Befindlichkeiten und Bedürfnissen von Individuen. So wurde schon in der Einleitung dieser Arbeit gefragt, ob nicht Einzelne ernsthafte Motive haben bzw. von der Bewegung profitieren könnten. Zugleich verweist der Leiblichkeitsbegriff auf eine über-individuelle Dimension. Die Untersuchung dieser Arbeit brachte sehr deutlich solcherart leibliche Bezüge zutage, z. B. außer dem gerade aufgegriffenen Streben nach Ausgleich auch in der ethisch motivierten Wahl der Ernährung, im Erstreben oder gar Ersehnen eines gesünderen, wie vermutet wurde, naturhafteren Körperbildes durch Bodybuilding, im Wunsch nach Sport im Freien beim Laufen und im Suchen geistiger Gründung beim Yoga. Yogasportler, wie dort resümiert wurde, dürften innerhalb der vier Untersuchungsgruppen mit ihrer Orientierung am ganzen Menschen als körperliches und seelisch-geistiges Wesen dem Leiblichen bzw. auch dem Diätetischen besonders nahe stehen. Außerdem wurden diese Teilnehmer als sensibler und kritischer gegenüber dem vorherrschenden Lebensstil angenommen und hierin als motivierter zur Selbstständigkeit vermutet, sich anders und selbstüberschreitend auszurichten. Auf jeden Fall muss unterschieden werden zwischen der Sache selber und den Menschen, die sie befürworten und von ihr profitieren. Mit dem menschenbezogenen Skopus kann zwischen den Polen der Diätetik und der Fitness- und Gesundheitsbewegung eine Schnittmenge gesehen werden. In diese Schnittmenge dürfte eine sehr große Zahl von Gesundheitsakteuren fallen, denen ihre Gesundheit wichtig ist, die evtl. leichte Beschwerden haben und die das be42

Vgl. z. B. FN 66.

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Beurteilung der Fitness- und Gesundheitsbewegung gegenüber der Diätetik

stehende Angebot gerne und für sich vorteilhaft nutzen, weil es präsent ist, durchaus von Zeitgeist und Werbung gelockt. Außerhalb der Schnittmenge mag es auf der einen Seite reine Mitläufer geben, deren eindeutige Erkennung aber schwer gelingen wird (vgl. FN 38). Und es gibt auf der anderen Seite, was die phänomenologische Untersuchung des Teils 5 ergab, Kranke, die aus dieser Bewegung »herausfallen«, wie es eine Teilnehmerin wörtlich nannte. Dem impliziten Anspruch, der Gesundheit zu dienen, wird diese Bewegung letztlich nicht gerecht. An den Kranken spitzt sich zu, dass die Bewegung nicht leiblich verfasst ist, sondern kommerziell. Im fließenden Feld von Gesundheit und Krankheit öffnet gerade die Fitness- und Gesundheitsbewegung eine Schere, indem sie nicht erreichte Leidende (»Kranke«) von solchen Menschen mit weniger komplexen Beschwerden trennt, die in dieser Bewegung Hilfen finden. Sicherlich kann bei einer betroffenen Person auch beides möglich sein, dass etwa das Sporttreiben eine Allergie lindert, aber nicht die passende Ernährung gefunden werden kann. Somit geht es hier um die kategoriale Bewertung. Gerade beim menschenbezogenen Skopus bleibt das Ergebnis der Sache nach wichtig, um Einzelnen die Orientierung zu ermöglichen: Folge ich relativ sinnlos einer Masche, tut sie mir gut oder geht sie ggf. an meinen Leiden vorbei? Eine Orientierungsvermittlung in den Dingen des täglichen Lebens wäre Aufgabe der Philosophie, damit zwangsläufig verbunden die möglichst genaue Untersuchung einer Sache, wie sie mit dieser Arbeit unternommen wurde. Schon an früherer Stelle wurde gesagt, dass die Urteilsfähigkeit des Individuums in modernen, freiheitlichen Gemeinwesen besonders wichtig ist. Zugleich wird aktuell eine solche Urteilsfähigkeit von Werbung und Meinungsmachern erschwert. 43 An dieser Stelle soll auf die kranken Menschen eingegangen werden, die mit Kapitel 5.1 aus ihrer authentischen Perspektive ein besonders kritisches Licht auf die Fitness- und Gesundheitsbewegung warfen. Indem dabei wiederum die gefundenen fünf Wesenheiten der Diätetik ins Spiel gebracht werden, können diese Kranken als wirkliche diätetische Persönlichkeiten bezeichnet werden, nämlich in folgender Weise: Leidend-Kranke finden in der Fitness- und Gesundheitsbewegung kaum Hilfe. Sie sind überwiegend auf sich selbst gestellt. Sie sind durch ihre Not gezwungen, Vgl. Welzer, Harald: Selbst Denken, S. 85: Es ist jetzt kein »stählernes Gehäuse der Hörigkeit« mehr, von dem Max Weber sprach, sondern ein »smartes« Gehäuse.

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Standardisierungen und herkömmliche Vorstellungen der Gesundheitspflege zu verlassen, wie sie die Institutionen etablieren (in den Berichten z. B. durch Selbermachen der Kosmetik, der Ernährung, durch eine Selbsthilfegruppe), müssen lernen, sich durchzubeißen, müssen Odysseen durchlaufen, Enttäuschungen und Geduldsproben auf sich nehmen, diszipliniert sein, d. h. insgesamt sich ihre eigene paideia und arete schaffen; wider ein überbordendes und für sie selber unsinniges Angebot des Marktes das ihnen Zuträgliche und Wirkliche (auch immateriell) zu finden und zeigen damit eine Ausrichtung nach der mesotes in einer einseitig-haltlos gewordenen Produkte-Welt (z. B. Yoga sei mit Verzicht verbunden); die Problematiken der materialistischen Welt zu entlarven, sie kritisch zu reflektieren und deren Horizont zu überschreiten. Damit verorten sie sich in einem Makrokosmos (z. B. Sinnfindung durch Yoga); sich an der Natur von Gesundheit und Krankheit zu orientieren, an ihrer eigenen Natur, die wirklichen Zusammenhänge der physis kennenzulernen (z. B. Naturstoffe können besonders gut tun); sich in alledem vorsichtig, mit Fühlung und Vernunft, heranzutasten an die wirklichen Bedürfnisse ihres individuellen und organischen So-Seins, philosophisch »Leib« genannt, und überwinden am leiblichem nomos den subjekt-objektiv gespaltenen Weltzugang (z. B. das Gefühl, Ernährung sei wichtiger für die Haut als Kosmetik; ethische Bedeutung der Ernährung). 44

Zusammenfassend kann die Fitness- und Gesundheitsbewegung nicht als Neuauflage der Diätetik, sondern als eine Masche bezeichnet werden. Sie muss personenbezogen bewertet werden, da sie starke leibliche Anknüpfungspunkte beim Individuum hat. Sie trifft aber, eklatant im Fall der Krankheit, das Leibliche in dessen Vielbezüglichkeit (ganzer Mensch, Ethik, Natur, Weltzugang) nicht, obwohl sie doch der Gesundheit nützen will. Die »vielfältigen Facetten« (Formulierung eingangs dieser BeInteressant dazu ist, dass aus den Reihen der Kranken und Leidenden noch uns zeitgenössische, als diätetisch zu charakterisierende Therapeutenpersönlichkeiten hervorgehen, z. B. Maria Treben (gest. 1991). Die Bedeutung der Naturheilkunde in ihren leiblichen Bezügen wurde mit FN 339 erwähnt.

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Gesamtergebnis der Studie

wertung) ließen sich so in zwei ineinander fließende Perspektiven, eine allgemeine und eine wesentliche Perspektive, auffächern. Unter der ersten Perspektive wäre die Bewegung als Zeitphänomen einerseits für gegeben zu akzeptieren, andererseits kritisch zu betrachten. Unter der zweiten Perspektive ist sie als »inhuman« (Formulierung der Fallberichte-Abschlussgedanken) zu kritisieren. Das gilt besonders, insofern Kranke Hoffnungen und Geld in die Angebote dieser Bewegung investieren, bevor sie enttäuscht werden. Eine Schere im fließenden Feld von Gesundheit und Krankheit öffnet also die Bewegung selber, d. h. wer gesund ist oder krank bleibt, zeigt sich, kategorial gesehen, an ihr selber. Ob und wie zur Behebung der genannten Mängel an der Fitnessund Gesundheitsbewegung (Leiblichkeit bzw. Humanität) in der Moderne Impulse aus Traditionswissen geschöpft werden könnten, damit möchte sich der Ausblick (Teil 6) dieser Arbeit beschäftigen.

5.3 Gesamtergebnis der Studie In der zeitgenössischen Literatur schreiben namhafte Theoretiker und Ratgeber, wie Manfred Lütz, Gernot Böhme, Peter Koslowski und Bernd Wedemeyer, aber auch eine Tendenz der öffentlichen Meinung den Fitness- und Gesundheitsaktiven lebenslustfremde bis masochistische oder jedenfalls fragwürdige Motive zu (vgl. Kapitel 1), und zwar offenbar ohne hinreichende empirische Grundlage. Es war nun in dieser Arbeit zu untersuchen, ob a) die Fakten hinsichtlich der Motivlage der Fitness- und Gesundheitsaktiven überhaupt so stimmen und ob b) die Bewertungsgrundlage der Motive solche pauschalisierenden Abwertungen der Aktiven zulässt. Übergeordnet war diese Untersuchung eingebunden in eine Bewertung der Fitness- und Gesundheitsbewegung gegenüber dem klassischen Paradigma der Gesundheitspflege, nämlich der Diätetik, und ging der Frage nach, ob die Bewegung gegenüber der Diätetik eine neue Form (»Neuauflage«) sei. Auch wenn die Arbeit als philosophische Untersuchung angelegt ist und nicht allen Standards empirischer Sozialforschung genügen kann (vgl. Kapitel 2), können mit deren Hilfe quantitativ gesehen die pauschalen Behauptungen der skizzierten Allaussage (etwa: alle Aktiven in der Fitness- und Gesundheitsbewegung haben lebenslust359 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Offene Fragen der Untersuchung

ferne Motive) weit über den Maßstab von Poppers Falsifikationsprinzip hinaus als widerlegt gelten. Wenn so also den Befragungsergebnissen in dieser Arbeit – bei ggf. methodischen Vorbehalten – eine Bedeutung zukommt, dann haben wir es bei den Aktiven mit Motiven der natürlichen Vorsorge, der Lebenslust, der inneren Übereinstimmung mit sich selbst und dem Streben nach Ausgleich (mesotes), hier zu Alltagseinflüssen, zu tun. Vor allem in dem heute beliebten Yogasport sind solche Motive erkennbar. Nun stehen wir allerdings vor der quaestio iuris: Wie lassen sich diese Motive philosophisch bewerten? Der Gang der Untersuchung ließ erkennen, dass das Streben der Fitness- und Gesundheitsaktiven nach einer Art Wohlgefühl und guter Lebensführung 45, ob gesucht durch gesunde Ernährung, das Fitnessstudio, Jogging und Walking oder Yoga, zwar diätetische Züge trägt; es ist aber von einer diaita als philosophischem Anspruch aus der menschlichen Kulturtradition weit entfernt und somit keine »Neuauflage«. Daher, aufgrund einer erheblichen Kulturdifferenz, wurde die anthropologische Formulierung »leibliche Züge« vorgezogen. Die Fitness- und Gesundheitsbewegung impliziert nämlich kaum die Anstrengung oder das Leiden, wie es auf das frühere kulturelle Bewusstsein einflussreich war, sondern eher ein easy going, das sich gut vermarkten lässt. Sie kann als »Masche« bezeichnet werden, im etymologischen Sinne als etwas Konstruiertes und eng mit dem modernen Lebensstil Vernetztes. Der tiefere Blick, um den sich diese Arbeit bemühte, findet in ihr allerdings Sehnsüchte nach materiellen und immateriellen Lebensgütern, die es in der modernen Welt kaum noch gibt. Wie kommen nun Menschen, die an komplizierten Beschwerden leiden und Abhilfe suchen (»Kranke«), mit dem easy way zurecht? Deren Aussagen, die in dieser Arbeit phänomenologisch mittels Selbstberichten eingeholt wurden, spitzen den qualitativen Aspekt zu, dass sinnvolle Gesundheitspflege leiblich ausgerichtet sein müsse. In ihren Augen gibt sich das vorgefundene Fitness- und Gesundheitsangebot als eine kommerzielle Sache zu erkennen, vernetzt mit öffentlichen Interessen und Vorgaben, was von Gesunden zwar für die leibliche Pflege genutzt werden kann, aber im Ernstfall des Leidens die leibliche Dimension nicht erreicht (z. B. aufgrund Standardisierungen, Qualitätsmängeln der Produktzutaten) und so selber eine Schere zwischen Gesund und Krank öffnet. 45

Vgl. Gadamer, Hans-Georg, Über die Verborgenheit, S. 144.

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Gesamtergebnis der Studie

Schließlich erwiesen sich die untersuchten Kranken als wirklich diätetische Persönlichkeiten, insofern sie sich mit wachgerufener Kritik, Sensibilität und Initiative selbstbestimmt um hilfreiche Mittel zur Erleichterung ihrer Leiden kümmern müssen. Diese Menschen entwickeln aus ihrer Notlage Eigenschaften der Selbstverantwortung, die den diätetischen Tugenden entsprechen (z. B. paideia, heute dem psychologischen Begriff Capability vergleichbar, z. B. Naturverständnis, z. B. transzendierende – etwa ethische – Ausrichtungen). Die phänomenologische und auch hermeneutische Dimension der Herangehensweise hat schließlich gezeigt, dass ein Gegenwartssyndrom wie die Fitness- und Gesundheitsbewegung zu ihrem wesentlichen Verständnis nicht nur aus der empirischen Außenperspektive angegangen werden kann, sondern dass auch die Innensicht Berücksichtigung finden muss. Die Vernachlässigung des Leidens und die Ausgrenzung der Kranken wäre der Fitness- und Gesundheitsbewegung anzulasten, ähnlich wie eine Oberflächlichkeit, die Gesunden zwar nützen kann, aber Problematiken der modernen Lebensweise (Konsum, ökologische Belastungen, soziale Scheren) nicht unbedingt behebt. So wie die Fitness- und Gesundheitsbewegung personenbezogen gelesen werden muss, kommt es sehr darauf an, was Einzelne aus ihr machen. Man kann hier rein konsumieren oder auch zu bewussterer Gesundheitssorge kommen und dabei die Sorge für das Leben insgesamt einschließen. »Verantwortung« als ethische Kategorie ist dabei ein wichtiger Aspekt, der an vielen Stellen der Arbeit zur Sprache kam, den aber die vorherrschende Infrastruktur des Marktes und der öffentlichen Versorgung dem Einzelnen weitgehend abnimmt. Das Ergebnis dieser Arbeit soll nun so auf den Punkt gebracht werden: »Heute sind die Kranken die wahren Diätetiker.« Mit dieser Aussage will die Feststellung eingeschlossen sein, dass die Fitness- und Gesundheitsbewegung keine Diätetik bzw. keine »Neuauflage« der Diätetik ist, insofern sie, wie dargelegt wurde, die Krankheit meidet. Außerdem charakterisiert die Aussage die Kranken nach den Darstellungen dieser Arbeit als Persönlichkeiten, die im diätetischen Sinn um eine leibliche Dimension bemüht sind, wie es der gegenwärtige Zeitgeist und Lebensstil nicht anstreben. Im fließenden Feld von Gesundheit und Krankheit sowie der menschlichen Einstellungen dazu ist das kategorial zu lesen. Mit der genannten Ergebnisaussage schließen zugleich die untersuchenden Teile der Arbeit ab. 361 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

6 Ausblick

Durch die gesamte Arbeit traten Kontraste von traditionellen und modernen Lebensanschauungen und -formen im Umfeld der Gesundheitspflege zutage. Dabei zeigte die traditionelle Seite im wesentlichen humanitäre Mängel an Sicherheit und Lebenskomfort, die moderne an natürlicher und seelisch-geistiger Geborgenheit. Von Mängeln kann heute gerade in Wohlstandsgesellschaften gesprochen werden, weil sich Schmerzen und Gegenreaktionen latent oder offen äußern, wie es, was diese Arbeit ans Licht brachte, mit der Fitness- und Gesundheitsbewegung vehement geschieht. Im Gesundheitsbereich ist dabei philosophisch gesehen besonders der Kontrast der Perspektiven vom »Leib« des ganzen, in das Gesamte des Lebens eingebundenen Menschenwesens und vom »Körper« als physischem Menschen erkennbar. In alledem spiegelt sich schließlich eine große Kulturkontroverse der europäischen Moderne wider, das nicht gelöste Problem von Tradition und Fortschritt, die andere Kulturen (China, Japan, Indien) integrativer gelöst haben. Das jedenfalls offenbaren im Kontext dieser Arbeit die Anleihen, die der Westen hier tätigt, z. B. mit dem Yogasport. Offiziell ist Tradition im Westen nicht mehr sehr beliebt, wenn man von nostalgisch-oberflächlichen Formen im Genussbereich absieht. Ansonsten erfolgt die planvolle Abschaffung von Tradition allseitig (also auch solcher, die sich nicht wesentlich hinderlich auswirkt wie es z. B. soziale Verkrustungen tun), sei es in der Ausmerzung alter Baukultur oder in der Abschaffung des ideengeschichtlichen Denkens im Curriculum der Philosophie. Man kann viel Verständnis für die Überwindung der Tradition und den modernen Stolz darüber aufbringen, wenn man sieht (z. B. aus eigenen familiären Erinnerungen oder im inhaltlichen Gang durch diese Arbeit), wie sich frühere Epochen vor allem an den physischen Konditionen des Lebens abund aufgearbeitet haben. Die Natur haben Menschen nicht aus Gleichgültigkeit verlassen, sondern weil sie ihnen zu mühsam bis 362 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Ausblick

grausam war. Doch inzwischen beginnt der übertriebene Verlust der Natur bzw. der von ihr beeinflussten Tradition seelisch-geistig und sogar physisch deutlich zu schmerzen, d. h. es schmerzt auch ausgerechnet die Bequemlichkeit, die an ihre Stelle gesetzt wurde. Viele unserer leiblichen Leiden genauso wie die ökologische Zerstörungsdynamik heutiger Lebensweise zeigen, dass Mensch und Natur sowie Fortschritt und Tradition in Balance gesetzt gehören. Unsere Leiden lassen nun dringlich fragen: Könnten denn nicht auch in Europa mehr Ressourcen aus der Kulturtradition geschöpft werden, da heute Wissen und Ausführungsmöglichkeiten so reichlich wie noch nie vorhanden sind? Einige Beispiele des Rückgewinnens und Fruchtbarmachens von Traditionswissen und Traditionsformen wurden in dieser Arbeit genannt, auch gesellschaftliche Phänomene (vgl. insbes. FN 339) sowie wissenschaftliche Ansätze für ein komplexeres Weltverständnis. Unter den Beispielen waren christliche Klöster ebenso wie Wissenschaftler und Heiler, die sich für die menschliche Beziehung zur Pflanzenwelt einsetzen (z. B. das österreichische Kloster Geras; Jürg Stöcklin; Wolf-Dieter Storl), Wissenschaftler und Ethiker, die um eine ebenbürtige Mensch-Tier-Beziehung bemüht sind (z. B. Rainer Hagencord; Carola Otterstedt), die Naturheilkunde, soweit sie ein leiblich verfasstes Menschenbild verfolgt 1, Denker und Pioniere des ökologischen Landbaus 2, therapeutische Pioniere einer ursachenbezogenen Das ist nicht mehr selbstverständlich, denn eine physikalisch gestützte Gerätediagnostik und auch -therapeutik werden immer beliebter, die originäre Elemente wie die Fühlung zwischen Patient und Therapeut, das Selbstreden des Patienten u. a. einerseits unterstützen können, andererseits aber auch reduzieren bis eliminieren können, was in dieser Arbeit angesprochen wurde. 2 Hier müssten als interdisziplinäre Grundlagen noch Anschauungen wie die Systemtheorie ergänzt werden, insbesondere mit deren neuem Skopus auf die kybernetischen Regulationen der physischen Welt; Pionier: Frederic Vester, 1970er-Jahre. – Als langjähriger Pionier in praktischer Hinsicht wird heute Prince Charles immer bekannter. Er betont schon seit ca. 30 Jahren bei seinem ökologischen und gemeinnützigen Engagement, dass lebendige Systeme auf Gleichgewicht angelegt sind, jedoch der moderne Mensch ständig mehr »nehme« als »gäbe«; so zuletzt im Kinofilm »Der Bauer und sein Prinz« von Bertram Verhaag, 2014, nach Mitschrift d. Verf. Das Wissen um das Gleichgewichthafte des Lebens sei mit mangelnder Übersicht verlorengegangen, weil das moderne Wirtschaften nur Einzelzwecke verfolge. Es trägt damit den Kern der Zerstörung schon in sich. In der Ernährungswirtschaft sei die Rückkehr zum bäuerlichen Klein- bzw. Mischbetrieb allein heilsam: Gute Böden, gute Nahrung, frische Luft und Bewegung der hier Tätigen hängen zusammen. (So weiter nach Mitschrift d. Verf.). 1

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Heilung des ganzen, leiblich verfassten Menschen wie Viktor von Weizsäcker 3, Chronobiologen und Mahner im Umgang mit den natürlichen Ressourcen wie Jürgen Aschoff, Grundlagenforscher der Naturwissenschaften wie Werner Heisenberg, Wissenschaftstheoretiker wie Alfred North Whitehead, populärwissenschaftlich Engagierte wie Hans-Peter Dürr und schließlich auch philosophische anticartesianische Denklinien des 20. Jh. mit Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty, Max Scheler, Helmuth Plessner und Hans Jonas, wobei Letzterer auch als fundamentaler Mahner agiert. Gewiss gäbe es viele Gruppen und Einzelne mehr, die für ihren Beitrag zu einer sorgfältigen Umgangsweise mit dem Leben dieser Erde die Erwähnung verdienten. Die Aufzählung kann sich nur beispielhaft verstehen, doch sie zeigt, wie es der Sache nach um eine Umsichtigkeit auf der Ursachenseite geht, genauso wie – im Kontext dieser Arbeit – um eine der »Gesundheit« noch überlagerte Reichweite der »Heilung« auf der anderen Seite. 4 Letztlich haben viele Recherchen dieser Arbeit im Gegensatz zur modernen Autonomie-Vorstellung gezeigt, dass Leben, auch menschliches, immer nur durch Selbstüberschreitung möglich ist, sei es biologisch durch den an Sauerstoff und Nahrung gebunden Stoffwechsel, seelisch-geistig durch die Kommunikation mit Menschen und der übrigen Kreatur sowie schließlich durch die Offenheit für eine umgreifende Dimension, was sich in Haltungen wie der Verantwortlichkeit zeigen sollte. 5 Gewiss auch könnte und sollte man sich für weitere Bemühungen stark machen, nämlich in den Fächern Philosophie und Theologie Auf dem Heilsektor müsste heute auch Eugen Drewermann herausgestellt werden in seinem Bemühen, die seelischen Ressourcen des Individuums, angelegt in archetypischen Bildern der Seele, heilend im individuellen und gemeinschaftlichen Sinne zur Entfaltung zu bringen. Umgekehrt gesehen, weist Drewermann nachdrücklich darauf hin, dass der Verlust des Gefühlszugangs, primär zum eigenen Ich, einerseits gewolltes Erziehungsprogramm einer Leistungsgesellschaft sei, sich andererseits in fataler Weise gegen ursachenbezogene Heilungen verschließen würde, und hier läge im Schnittpunkt von Humanwissenschaft zu Theologie der Kern des Bösen begründet. Vgl. zusammengefasst bei Luft-Steidl, Silja: Sündenlehre insbes. S. 91. 4 »Umsichtigkeit«: Charles Taylor spricht für die cartesianisch geprägte funktionelle Vernunft von einer »desengagierten Vernunft« (im Gegensatz zum ontologischen Interesse Platons) sowie auch für das moderne, von kurzfristigen Einzelinteressen geleitete Handlungsinteresse vom »punktförmigen Selbst«, vgl.: Quellen, S. 262–287, 288–318. 5 Dies ist auch der Tenor des Werkes von Regine Kather, vgl.: Leben, S. 215, ethisch S. 216. 3

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dafür, das Gebiet der Leiblichkeit mehr zu behandeln (eine sicher dringliche Aufgabe) oder die eingangs dieser Arbeit monierten Trennungen zwischen Geisteswissenschaft und dem praktischen Leben durch gezielte Initiativen mehr aufzulockern. Des Weiteren gelte es gesellschaftlich, Kranke mehr zu integrieren und den Begriff der Krankheit wieder »weicher« zu machen (was in Deutschland vielleicht mit der immer pluraler sowie älter werdenden Gesellschaft einhergehen wird). Aufs Ganze gesehen haben diese Beispiele Inselcharakter. Denn indessen läuft der rationale Stil der Neuzeit weiter und findet unter dem Druck von Wirtschaftsmechanismen, politischem und militärischen Vormachtstreben, Kampf um Rohstoffe und Energieressourcen, Terror und kriegerischen Auseinandersetzungen, sozialer Not und mancherorts dem Druck um das blanke Überleben kaum Möglichkeiten, die Bestände der Natur, der Kultur und die Vielfalt an Lebensformen in natürlicher, kultureller und auch geistiger Hinsicht zu bewahren. Dabei kann nicht allein die »Ratio« der Misere beschuldigt werden. Denn angesichts von Manipulationen wie z. B. früher durch den Aberglauben (der in dieser Arbeit erwähnt wurde) oder heute durch die kommerzielle Werbung genauso wie allezeit durch haltlose Schwärmereien (heute im sog. Esoteriksektor) kann es – auch das wurde angesprochen – in modernen, freiheitlichen Gemeinwesen gar nicht vernünftig und beim Einzelnen kritisch genug zugehen. Diese Einsicht begründete das Denkwerk Immanuel Kants, doch war bei ihm keineswegs die Eliminierung von Erkenntniszugängen wie der Wahrnehmung, des Gefühls und des Gemüts damit verbunden. In seinem Zentralwerk weist er nach, inwiefern eine rein zweckrationale Kausalität der Erkenntnis des Lebendigen nicht gemäß ist. 6 Aus Kants phänomenologischer Basis ergibt sich, dass das Komplexe, Vieldimensionale und Vielbezügliche natürlicher, lebendiger sowie auch kulturell gewachsener Strukturen mit kurzsichtigem Verhalten zerstört zu werden droht. Das kritische Urteil gerade im Kontext natürlicher Gegenstände (der beim heutigen ökologischen Zustand der Welt immer betroffen wäre) muss sich (z. B. beim Konsumverhalten) auf selbständiges Wahrnehmen und Fühlen genauso stützen wie auf selbstständiges Denken. Kant, Immanuel: »In dem Ganzen aller möglicher Erfahrung liegen aber alle unsere Erkenntnisse …«, KdV, S. 221 f. u. a.; vgl. KdU, bes. deutlich § 66 f., S. 343–351, 343, 345, 347 über eine Eigen-Zweckmäßigkeit der Natur.

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Auf einer grundsätzlichen Ebene ließ diese Arbeit erkennen, dass die moderne Kluft zwischen Natur und Geist, Körper und Seele-Geist, Abstraktion und Leben nur überwindbar ist, wenn die Sache des Denkens und die des Lebens sich begegnen. Insofern Diätetik ein Paradigma der Einheit ist, klaffte dies im inhaltlichen Gang der Arbeit immer wieder auf. Geäußerte Kritiken der Arbeit gingen in beide Richtungen: Geistigkeit, die sich nicht für das Leben interessiert und Wissenschaft bzw. Markt, Politik und Administration, die sich vom Geistigen abgekoppelt haben. So wurde diese Arbeit seitens der Verfassermotivation auch in der Betroffenheit oder durchaus Vision einer Heilung des »modernen Bruchs« geschrieben. Alle heutigen Bemühungen um Gesundheit und Heilung, vom Individuellen bis zum Global-Politischen, sind im Szenario eines allgemein zerstörten Lebens- und Weltverhältnisses vermutlich nur erfolgsverheißend, wenn die kosmologische Verortung der materiellen Welt wieder gefunden wird. Doch welche Möglichkeiten gibt es? Im Folgenden sollen nach Ansicht der Verfasserin überzeugende weitere oder bereits erwähnte theoretische Ansätze aus dem Bereich der Universalwissenschaften ausführlicher vorgestellt werden. Anschließend wird die praktische Bedeutung dieser Ansätze erklärt werden. Darunter verbreitet zurzeit ein sogleich genannter Bestseller Furore. Fast apokalyptisch sieht Peter Sloterdijk mit seinem Erfolgstitel »Die schrecklichen Kinder der Neuzeit« (2014) keine Chancen, dass die westliche Gesellschaft humane Ressourcen aus Traditionswerten schöpfen könne, weil solche nicht verfügbar seien. Denn – so die Steilthese des Buches – das christliche Mitteleuropa werde nicht erst mit der Globalisierung, sondern seit jeher (für Sloterdijk durch Traditionsfeindlichkeit der Evangelien und des Urchristentums) vom Geist einer Auflösung vorangebracht. Heute sei Gemeingeist marktkapitalistischer Bedürfniserfüllung gewichen, im neueren Geschichtsverlauf motiviert durch politisch-ideologische Verschreibungen an Freiheitsaufbrüche und den US-Imperialismus. Speziell die ökologischen Kampagnen könnten aktuell dem globalen Aufbruch in den Wohlstand und seinen Destruktionen nicht standhalten. 7 Die Ver-

Vgl. Sloterdijk, Peter: Schreckliche Kinder, Eingangsthesen insbes. S. 51–55, 70–75, zum Geschichtsverlauf und Gegenwart z. B. S. 278–311 und 424–489. Zum Gemeingeist-Aspekt werden allerdings bei Sloterdijk in seinem Kapitel über den modernen Hiatus (S. 54–74) antike politische Grundlagen wie die die aristotelische politike koinonia und wichtige hegelsche Anknüpfungen nicht erwähnt.

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fasserin verweist zum ökologischen Pessimismus auf die Parallele zu FN 339, Punkt 4. dieser Arbeit. Sie hält jedoch Sloterdijks Monodiagnose an einer 2000-jährigen Kulturgeschichte für zu pauschal und erinnert an epochale Kulturschaffungen (z. B. Wohlfahrt und Bildung durch das Christentum). Doch sicher ist unter der gegenwärtigen Gesinnung (Sloterdijk spricht von Labilität, Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit der Wohlstandsgesellschaften) der Diagnose eines gedächtnislosen, zerstörerischen Fortschritts zuzustimmen. Am Ende des Buches keimt etwas Hoffnung auf, wenn Sloterdijk mit einem mystischen Impetus von der Umkehr der allgemeinen Anspruchs- in eine Duldungshaltung spricht. 8 Die Verfasserin möchte diese Empfehlung als eine reale mystische Haltung auffassen und dazu nun das religiöse Gebiet, allerdings im weitesten Sinne, behandeln, zumal die Religion einer o. g. Einholung der kosmologischen Dimension am nächsten stünde. Mehrere Denker der Gegenwart machten den westlichen Geschichtsverlauf an christlich-theologischen Prämissen und ihren Ambivalenzen zum Fortschritt fest – erwähnt wurden in dieser Arbeit Friedrich Gogarten, Ernst Troeltsch und Max Weber. Aus dem philologisch-humanistischen Terrain machte sich in den Aufbaujahren der Bundesrepublik Deutschland der Philosoph und Pädagoge Heinrich Weinstock mit einem Werk bekannt. Darin entfaltet er, wie der auf die menschliche Bedürftigkeit und das menschliche Annehmen von humanitas zugeschnittene augustinische Gott der Liebe im europäischen Geschichtsverlauf große Verzerrungen der Humanität befördert habe. Weinstock mündet in ein mystisch erfahrbares, gegenüber Augustin erweitertes Gottesbild der Wahrheit. Dies würde auch das Bejahen gegenüber einer vom Menschen als machtvoll oder leidvoll erfahrenen Natur und den unhintergehbaren Bedingungen Leiblichen einüben. 9 Im ähnlichen Sinne könnten weitere Stimmen angeführt werden Vgl. ebd., S. 486–489. So erklärt bereits Sloterdijks ethisches Werk »Du mußt dein Leben ändern« die Sinnlosigkeit der Erziehung und impliziert am Schluss das Mystische, vgl. FN 11. 9 Weinstock setzt und vertritt den Begriff »Realer Humanismus« im Gegensatz zum »Absoluten Humanismus« moderner Bestrebungen und Programme, die auf maximale Wohlfahrt und Gerechtigkeit setzten. Die realistischen Anthropologien Augustins und Luthers hätten in Form von nachreformatorischen Dogmatismen ihre Kraft verloren und so säkulare, absolut-humanistisch gesinnte Kräfte hervorgerufen. Vgl. Weinstock, Heinrich: Tragödie, insbes. S. 51–59, 348–353. 8

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wie der an gesellschaftlichen Totalitätsphänomenen interessierte Ethnologe und Soziologe Marcel Mauss mit seiner theologischen Implikation: Wenn Gott sich nach der christlichen Offenbarung selber gibt, den Schmerz der Welt erträgt, wäre diese Seite nicht nur als eine Gabe anzunehmen, sondern auch nachzuahmen (vgl. Mt 10,38 f. par.) 10 Und ganz besonders behielte Nietzsches Kernbotschaft von der Wahrheitsfrage recht im Beharren auf einer Versöhnung mit der Natur und der Leiblichkeit, wie sie durch größte Humanität nicht verzichtbar gemacht wäre. 11 Die ökologische Krise äußert das heute unüberhörbar. Sloterdijk schreibt auf den Einband seines o. g. Buches: »Die moderne Welt wird sich als eine Zeit erweisen, in der die Wünsche durch ihr Wahrwerden das Fürchten lehren«. 12 Man kann diese Aussage als Verhältnis von Verwöhntheit oder Anspruchshaltung der Menschen zur Überbeanspruchung der Erde präzisieren. Wünschenswerterweise wären allerdings Humanität und die physikalisch-kosmologische Dimension ineinander verzahnt. So kann es, ganz auch im Sinne von Sloterdijks Vorgängerwerk 13 gerade nicht um Erziehung gehen, sondern um Formen der Versöhnung. Sie wären mit Fragen der Weltwahrnehmung eng verbunden und insofern im weitesten Sinne mystisch zu nennen. Im kirchlichen Kontext formulierte der Jesuit Karl Rahner 1966 den seither vielzitierten Satz: »Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.« Rahner zielt also auf die Erfahrungsdimension des christlichen Glaubens ab, die er als Gnadengabe des Heiligen Geistes der Schrift entnimmt und die dogmatisch-kognitive Formen christlicher Religiosität ablösen würde. 14 Ein in den Augen der Verfasserin wegweisendes Werk, Rahner nahe stehend, aber den kirchlichen Kontext sprengend, ist Ernst Tugendhats »Egozentrizität und Mystik« aus dem Jahr 2006. Die Grundthese dieses Buches lautet, dass wir als Subjekte genötigt sind, uns absolut ernst zu nehmen, andererseits haben wir die Fähigkeit, von uns selber zurückzutreten; und das wäre die mystische Vgl. in: Seubert, Harald: Religion und Vernunft, S. 385 f. Z. B. Nietzsche, Friedrich: »Einen neuen Willen lehre ich die Menschen: diesen Weg wollen … Ihrem Elende wollten sie entlaufen (mit Religion bzw. Humanität, Anm.)«, in: Zarathustra / Hinterweltler (KSA 4), S. 37, 4–7. 12 Sloterdijk, Peter: Schreckliche Kinder, Rückeinband. 13 Vgl. FN 8. 14 Rahner, Karl: u. a. im Artikel Frömmigkeit heute und morgen, in: Geist und Leben 39 (1966), S. 335. 10 11

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Dimension. Tugendhat unterscheidet grundsätzlich Religion und Mystik voneinander. Wenn Religion Weltverständnis ist, so ist Mystik für ihn Transformation des Weltverständnisses, die durchaus Innenseite von Religion sein kann, aber auch, bis hin zur Ablehnung einer außerweltlichen Gottheit, eine religiöse Einstellung zum Leben gewinnen kann. Philosophisch steht Tugendhat mit seiner Orientierung an der erfahrbaren Welt in der Wittgenstein-Tradition, wobei er auf eine Verbindung von Religion und Mystik hinaus will, die in Anerkenntnis der Welt und nicht in Flucht von dieser besteht. Deutlich zeigt sich eine Affinität zu Fernost, ohne Jenseits und ohne den Einen Gott, d. h. innerweltlich gesehen. Wesentlich scheint an Tugendhats mystischen Elementen zu sein, dass es so etwas gibt wie den »Lehrer in mir«. Zwischenmenschlich kann dieser mystische Weg nur zur Stärkung des Mitmenschen bzw. der Außenwelt hingehen, und hierin läge der transzendente Charakter dieser Philosophie. Es wäre eine All-Liebe, die sich im Einzelnen äußert und eine kosmische, überpersonale Dimension hätte. Dabei könnten durchaus auch Dogmen Anleitungen sein, die Lebenskonkretion zu finden – also eine mystisch durchseelte Religion und das Umgekehrte. 15 Gemeinsam ist den zuletzt genannten Positionen die Verschmelzung mit einem Urgrund, wie er sich bei Rahner als Gott oder bei Nietzsche sowie Tugendhat als Bedingungen des Lebens selbst äußert. Hieran sei an dieser Stelle nochmals die Radikale Lebensphänomenologie der französischen Prägung insbesondere mit aktuellen Publikationen des Rolf Kühn angefügt. Sie wäre in ihrem Rückgang auf »Urformen der Affektion« (beschrieben in Kapitel 5.1) auch mystisch zu nennen sowie ferner in einem Verständnis, solche Affektibilität (des Leidens, der Freude u. a.) als »Selbstoffenbarung des Lebens« schlechthin anzusehen, d. h. für Kühn, als Offenbarung Gottes. Und dies wäre ganz und gar nichts Fluchtartiges. Wiederholt bzw. betont Tugendhat, Ernst: Egozentrizität und Mystik, S. 111–117 u. insbes. S. 124: »Warum ich bei Religion und Mystik von einer Gegensätzlichkeit spreche … Sowohl in der Religion wie in der Mystik rekurriert man in der Verarbeitung der effektiven oder zu befürchtenden Frustrationen der Wünsche auf das numinose Universum, aber in der Religion in der Weise, daß in das Universum Instanzen projiziert werden, die helfen können sollen; hingegen gilt dem Mystiker das Sichbewußtmachen der Existenz des Numinosen – mag er es nun das Universum oder Sein oder Tao nennen oder es auch als Gott sehen – als Bezugspunkt, auf den hin er von seinen Wünschen – sei es schlechterdings, sei es einen Schritt – zurücktritt und so versucht, einen Zustand des Seelenfriedens zu erreichen.«

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sei, dass eine Erlebensweise originärer Phänomenalität im Verhältnis zu den Polen menschlichen Strebens von vornherein auf eine VorErfahrungs-Sphäre zurückgeht und in dieser, insofern wertfrei, das mystische Erleben verortet, das jeder Handlung, aber auch jeder Regression innewohnen kann. 16 Als »individuierendes Prinzip« (um diesen Gedanken zu wiederholen) wäre eine noch vor-personale Sphäre betroffen, eine »originäre Selbsterprobung … als passibles Mich«, das sich allaugenblicklich aufs Neue erfährt in seiner SichGegebenheit im »absolut phänomenologisch verstandenen Leben«. Zu betonen ist trotz großer Ähnlichkeiten im Vergleich zum Buddhismus, dass bei dieser Art originären Erlebensweise das Ich nicht aufgegeben wird und absolute Diesseitigkeit gewahrt bleibt. Kühn spricht daher, wie schon zuvor Michel Henry, von der Erfahrung als »Fleisch« 17. Als Mystik, gemessen am üblichen mental-vorstellenden Weltbezug, wäre es insofern eine, wenngleich radikale, ins Vorbewusste bzw. Vorzeitliche zurückgehende Perspektivenänderung. In ihrer diesseitigen, so gesehen unreligiösen Art, würde sie prinzipiell dem Verständnis Tugendhats entsprechen. Sie wäre ferner, und so ist es die Erkenntnisabsicht Kühns, auch eine originär-religiöse Art. Im Besonderen läge hierbei das Tugendhatsche »Zurücktreten« des Selbst im Erfahren schlichtester selbstaffektiver Erscheinungsweisen von Empfindungen, Gefühlen, Gedanken, Wollen und Sich-Bewegen. Leid und Schmerz wären, theologisch angelehnt an Meister Eckhart, in der Lebensabsolutheit eingeschlossen und könnten in der radikalen Wahrnehmung (gleichsam mystischen Verschmelzung) Versöhnung finden. 18 Therapeutisch hinterfragt Eugen Drewermann fluchtartige Positionen: »Ist nicht die Abkehr von der Natur, von der Welt, von der menschlichen Geschichte, von allem Geschaffenen, ist nicht diese Regression in die zeitlose Ewigkeit vor aller Schöpfung, ist nicht ein solches Zurückwollen in den Ursprung eine Reduktion des Lebens auf ein noch nicht aufgelöstes symbiotisches Ideal, das die Verschmelzung an die Stelle der Beziehung setzt, wie es sich in manchen depressiven Wunschphantasien und Halluzinationen findet?« Drewermann kann eine solche, asiatisch gefärbte, regressive Lebensform nur als Komplement zur aktiven Agape christlichen Musters akzeptieren und wünschen: Sechster Tag, S. 340 f. Er schlägt mit mystischen Erfahrungsweisen der »Leere«, der »Liebe« und des »Augenblicks« Alternativen zur zweckrationalen, destruktiven Lebensdynamik der Moderne vor, dazu insbes. ebd., S. 312–318, 339– 348, 398–406. 17 Maßgeblicher Titel: Henry, Michel: Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg / München 22004. 18 Zum Absatz bis hierher Kühn, Rolf: Lebensreligion, S. 152 f. Vgl. zum mystischen 16

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Im Zusammenhang dieser Arbeit, wie in Kapitel 5.1 geäußert wurde, ist der Beitrag der radikalen Lebensphänomenologie wesentlich, um den modernen Primat des mentalen Weltzugangs von den tiefsten Wurzeln der Sich-Selbsterfahrung her zu widerlegen. Im Kontext dieses Ausblicks sei besonders der Aspekt betont, dass sich in der Selbstaffizierung eine originäre Phänomenalität des Lebens mit meinem Selbstsein deckt, was die descartsche These vom Innen und Außen der Welt (hier beschrieben besonders in Teil 1) widerlegt und das Verständnis meiner Selbst als Leib im Kosmos evident macht. In Kapitel 5.1 wurde, insbesondere mit den Ausarbeitungen Rolf Kühns, die Verwobenheit allen Seins von der ursprünglichen Selbsterfahrung her aufgewiesen. Eine solche Selbsterfahrung Lebens-inhärenter Geborgenheit könnte eine Weise des Umgangs mit dem Leiden im Sinne eines Friedensschlusses mit diesem sein, sodass der »Gewinn« dieser Erfahrung wiederum in einem »Zurücktreten« bestünde im Gegensatz zur Auflehnung oder Verzweiflung gegen das Leiden bzw. die leidvollen Lebensbedingungen. Es wäre eine Ich-Erfahrung jenseits aller Anthropozentrik. Nach christlicher Botschaft wäre es keine Erlösung, aber eine Befriedung. Von diesen Fundamentalgedanken zu einer Form von weltbezogener Mystik sollen im Folgenden konkrete Anwendungsmöglichkeiten überlegt werden. Nachdem auf dem ökologischen Hintergrund Verzichtsbotschaften inzwischen allgemein als wahre Prämissen einleuchten, aber dennoch nichts nützen 19, könnte die meditative Verinnerlichung, die mit Empathie, Übung, Entspannung und anderen Elementen des Lernens und der Entwicklung zu tun hätte, eine AlterCharakter auch S. 131; ferner, wie Kühn vom »Rückzug« spricht, den »die ontologische Positivität des Wesens der Immanenz selbst« heraufbeschwören würde, angelehnt an Meister Eckharts Erfahrung der verborgenen Absolutheit Gottes (oder des »etwaslosen Absoluten«, Kühn), ders.: Gottes Selbstoffenbarung, S. 166 f. Die Liebe Gottes gegenüber der menschlichen Seele, die Eckhart in seinen Predigten thematisiert, läge dann »im Sinne der selbstaffektiven Passibilität als Wesen des Lebens« (ebd., S. 167). 19 Z. B. die profunden Mahnungen durch den Club of Rome 1972, vgl. Meadows, Dennis / Meadows, Donella et al.: Grenzen, z. B S. 77–82; mit mehr sozialer Absicht in Bezug auf den Finanzkapitalismus z. B. durch Ulrich Duchrow vgl. FN 22. Erst recht unnütz war bisher eine vehemente, oft paradoxe deutsche Umweltpolitik (paradox z. B. aktuell mit einer Energiewende, die etwa durch die Förderung von Energiepflanzen den Ökolandbau – trotz steigender Verbrauchernachfrage – nicht mehr lohnenswert macht, wobei es sich mit Ersteren um konventionelle Intensivkulturen handelt, die als »Ökoenergien« bezeichnet werden, d. Verf.).

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native sein. Für die Fitness- und Gesundheitsbewegung und ihren Beitrag zu heutigen Herausforderungen, also möglichst das Wohlbefinden von Milliarden Menschen zu verbessern und zugleich die natürlichen Grundlagen der Erde zu bewahren, wäre es sehr hilfreich, sich die Welt in ihrer Leidhaftigkeit und Begrenztheit mehr zu verinnerlichen, um die Haltung der Mäßigung zu lernen. Eine solche Wendung war allerdings bisher nicht gerade die Gangart dieser kommerzialistischen Bewegung. Doch wären bei ihr Ansätze wie das Element des Übens sowie die Ausrichtungen nach der Gesundheit und auch dem Geistigen gegeben (Letzteres v. a. im Yoga, im spirituellen Laufen, in der bewussten Nahrungsmittelwahl), die man nutzen könnte. Man müsste sie, praktisch gesehen, im Rahmen spezieller Angebote thematisch füllen und eine entsprechende Didaktik (methodisch und personell) bereitstellen. So könnten meditative Botschaften etwa zur naturhaften Selbsterfahrung durch Gymnastik an Baumstämmen oder auf einem Wiesenboden vermittelt werden; fast alle rhythmischen oder gemächlichen Sportarten im Freien (z. B. Rudern, einfaches Klettern) könnten mit Botschaften gefüllt werden und vieles mehr. Im erst neueren Fachgebiet Naturpädagogik wird Ähnliches ohne den ausgesprochen mystischen Impetus schon mit viel Engagement gemacht. Für die Zuspitzung zum mystischen Training wären personelle Kooperationen von Sportpädagogen und inhaltsbezogenen Trainern (z. B. Naturpädagogen, Philosophen, Theologen) nötig und denkbar. Das könnte nebenher die bestehende gesellschaftliche Spaltung in Denker und Macher auflockern und auf Dauer neue interdisziplinäre Berufsbilder schaffen. Nachdem es seit einiger Zeit das Berufsbild des Philosophischen Beraters gibt, wäre durchaus ein »Philosophischer Trainer« denkbar. Schließlich dürfte es auch an einer räumlichen Organisation nicht fehlen, nachdem Bildungsstätten wie die Kirchen oder die heute sehr beliebten Volkshochschulen sich der Fitnessbewegung geöffnet haben. Gewiss müsste die Bewegung von einem Kapitalismus gelöst werden, der nicht Grenzen, sondern Wachstum will. Das wird nur über Individuen gelingen, und doch könnten heute Botschaften wie »Weniger ist mehr« oder Formen der »Spießigkeit« (vgl. FN 269) angesichts ihrer Entlastungsfunktionen salonfähig gemacht werden. Einrichtungen wie Klöster, Bildungs- und Erholungszentren bieten solche Programme schon an. Die Kirchen hätten als Mitwirkende noch viel mehr die Aufgabe, den diätetischen »Gewinn« herauszustellen, den speziell das Freiwerden von der Schulddimension des 372 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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globalen Kapitalismus und des westlichen Wohlstands mit sich brächte, nämlich eine innere Befriedung. Allerdings wäre dazu eine diätetisch ausgerichtete Theologie und Kirchlichkeit notwendig, die das Wohlbefinden des einzelnen leiblichen Menschen im kosmologischen Zusammenhang anerkennen würde und nicht zerteilt wäre in Kopfbotschaften und Seelendressur einerseits und angepasste Wohlstandspflege andererseits. 20 Zahlreiche Lebensbereiche könnten mit meditativen Erfahrungen verbunden werden, nicht nur der engere Fitness- und Gesundheitsbereich, wenn man an die Reichweite der einstigen Diätetik als Lebenskunst denkt. Vielleicht sollte man programmatisch einen »Neuauflage«-Begriff, nämlich »Lebensart«, bilden, der zwischen dem heute rein philosophisch situierten Begriff »Lebenskunst« 21 und dem unbestimmten Wort »Lebensweise« läge. Prädestiniert jedenfalls für die meditative Einübung von Botschaften wären alle Lebensbereiche, die mit der freien Natur zu tun haben, weil hier unverbrüchliche Muster wie Rhythmik, Grenzen und eine Gangart nach der mesotes vorgefunden werden können, die das Wachsen, aber auch das »Zurücktreten« implizieren. Gesamtgesellschaftlich wurde von einer neuen Beliebtheit etwa des Gärtnerns im Wildwuchs oder der Anwendung von Kräutern gesprochen ebenso wie von richtungsweisenden Ansätzen in der Kindespädagogik (z. B. durch Andreas Weber). Alles das geht in Richtung des Erfahrens harmonisierender seelischgeistiger Botschaften bzw. wird deshalb von Erwachsenen verlangt. Bei der neuen Garten-Sehnsucht schwingen bei vielen Betroffenen harmonische Bilder mit, die sie einst als Kinder einfingen (z. B. von duftenden Heuwiesen, plätschernden Bächen) und das Bewusstsein darum, an solchen Bildern selbst innerlich Ruhe finden zu können. 22 Allgemein drängt sich der Gedanke vom »Verzicht« als einer neuen »Sportart« auf, wobei ja die Ökonomie, die Askese und der Sport viel gemeinsam haben, vgl. FN 226, was allerdings auch neurotische Entwicklungen befürchten lässt, sogar gefährliche wie beim hungernden Joggen. Nachdem aber etwas derart Asketisches wie die vegane Ernährung in Deutschland binnen weniger Monate ein Renner werden konnte, scheint diese Gesellschaft auch für Abwegiges offen zu sein. 21 D. Verf. erfuhr bei einem Volkshochschul-Philosophicum für Laien, dass der Begriff außerhalb der Philosophie kaum bekannt ist. 22 Vgl. FN 28. Und vgl. (auch wegen der Häufigkeit solcher Artikel): Erbach, Susanne: Naturgärten. Nischen für ein Leben in Fülle, in: Natur und Heilen April 4 / 2014, S. 21. Ein Hinweis: Physikalisch bildet die Farbe Grün im Lichtspektrum eine stabilisierende Welle und wirkt deshalb auf organische Rezeptoren unmittelbar harmonisch. – Alle neuen Trends können heute schwer von Marketing und Kapitalwirtschaft ge20

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Und vermutlich ist speziell bei der Erfahrung von Pflanzen deren Ortsfestigkeit und ökologische, d. h. kosmologische Geschlossenheit eine Besonderheit, die auf Menschen harmonisch ausstrahlt. 23 Ein »Zurücktreten« wäre heute insbesondere im gemäßigteren Umgang mit der Zeit wichtig, für den sich Regine Kather stark macht, und hiermit wäre viel an persönlicher Erholung und allgemeiner Befriedung gewonnen. Regine Kather erinnert an das fast schwindende Wort »Muße«, die nicht primär Nichtstun ist, sondern innere Sammlung, wie sie jede Tätigkeit begleiten kann. Im Sinne Meister Eckharts wäre eine solche Sammlung ein hochkonzentriertes Im-AugenblickLeben, das gerade solche Arbeit mit sich bringen kann, in der das Ich ganz aufgeht. 24 Auch die Muße wird bereits didaktisch vermittelt (wiederum sind v. a. Klöster, Bildungs- und Erholungseinrichtungen beteiligt), und dies oftmals mit der Naturerfahrung in Verbindung. Wer sich schon solche Aus-Zeiten im Freien gönnte, kennt das beglückende Gefühl einer Resonanz zwischen Ich und Natur, das sich beim Erfahren ganz gewöhnlicher Natureindrücke, z. B. wogender Blätter oder schwirrender Luft, einstellt. In dieser Arbeit wurde die traditionelle Ruhebank des Bauern im meditativen Sinne genannt. Ausgesprochene Naturmeditationen, in dieser Arbeit am Beispiel der Pflanzen beschrieben, schließen in radikaler Form auch die ungeschönten Seiten der Natur ein. In der meditativen Wahrnehtrennt werden. Z. B. werden für die neuerlichen Gartenerfahrungen Bücher / Ratgeber vermarktet, Wildpflanzen werden evtl. aus Versandgärtnereien benötigt. Vielleicht können sich durch Gespür und Kritikfähigkeit Einzelner zunehmend sinnvolle und gemäßigte Konsumformen von sinnlosen und übertriebenen Formen trennen und Letztere zurückdrängen. 23 Über die Ausstrahlung der Pflanzen auf den Menschen wurde in dieser Arbeit berichtet, z. B. ihre Mitteilsamkeit durch Intelligenz (u. a. Jürg Stöcklin) oder Gefühl (Andreas Weber). Wolf-Dieter Storl betont den mikro-makrokosmisch ungetrennten Lebensraum der Pflanze (erzeugt ihren eigenen Nährboden durch Humusbildung und deckt ihren Energiebedarf aus Licht und CO2), woraus sie ihre Kräfte freisetzt und – was ebenfalls in dieser Arbeit erwähnt wurde – Erste in der Nahrungskette ist: Vgl. Storl, Wolf-Dieter: Erkenne dich selbst, S. 14–16. Ein d. Verf. bekannter Künstler spricht vom Begnadet-Sein der Berufe, die mit Pflanzen zu tun haben wie der Bauer, Gärtner, Bäcker, Winzer u. a., stets arbeitsreich und heute unter Existenzkampf stehend, dennoch »poetisch« einen Rest archaischer Traditionen vermittelnd. Preiß, Gerhard: Wurzelwerk, S. 18. 24 Vgl. Kather, Regine: Zeit und Ewigkeit, S. 81–95, darunter auch dies, wie philosophisch in der jüngeren Gegenwart Hannah Arendt daran erinnerte, dass durchaus die tätige Arbeit kontemplativ sein könne, nur seien solche Arbeitsformen in technisierten Gesellschaften kaum noch gegeben.

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mung des Werdens und Vergehens, der lebenden und der auch stets leidenden Natur, könnten insbesondere kranke, v. a. chronisch oder unheilbar kranke Menschen, zu einer Anerkenntnis ihres eigenen Leib-Seins und Leidens kommen, nämlich in der Einsicht, dass dies, prinzipiell gesehen (jenseits aller humanitären, moralischen und individuell bezogenen Bewertungen), der Gang des Lebens sei und dass er richtig sei. 25 Die christliche Theologie könnte eine solche Therapeutik als naturreligiöse Verortung ablehnen, jedoch wäre diese seitens der Verfasserin als Trostform gemeint, die die christliche Erlösungsbotschaft nicht ersetzen würde und in Letztere integriert werden kann. Die Kirchen allerdings, um nicht evtl. hilflos oder gar neidisch der Konkurrenz von »Naturgurus« zuzusehen, sollten zur Hilfe am schweren Leiden ihrerseits eine elementare Meditationsbotschaft stärker machen, nämlich diese (und zwar unabhängig von Anlässen wie Passion oder Exerzitien), im Leiden Christus ähnlich zu werden. Das wäre ganz und gar nicht moralisch gemeint, sondern als Mittel innerer Befreiung. Es ist eigentlich der Sache nach, angesichts der Belastungen und Destruktionen des allgemeinen Wohlstands, unverständlich, warum eine solche Form von Christusnachfolge heute nicht häufiger eingeübt wird. Abgesehen von Armutsaufrufen des Papstes Franziskus scheint es allgemein an einem verlorenen spirituellen Habitus zu liegen. Botschaften des Zurücktretens in theologischen und kirchlichen Publizierungen haben ähnlichen Charakter wie die Botschaften der Umweltorganisationen, nämlich appellativen anstatt meditativen. Um wieder zurück auf die Naturmystik zu kommen, könnte die Christusmystik an die symbolhaft verstandene Naturmeditation geknüpft werden, wie es in der alten Kräuterkunde, so in dieser Arbeit beschrieben, der Fall war. Damit könnte die christliche Theologie sachlich und methodisch ein ausgewiesen integrierender Pol von Tradition und Gegenwarts-Herausforderungen werden. An der Schwelle von Theologie und Naturkunde (um bewusst Es wäre einmal der Überlegung etwa eines philosophischen Seminars wert, ob die Leiden, die der technische Fortschritt verursacht (vgl. Tschernobyl und Fukushima), nicht inzwischen weit größer sind als die Leiden, verursacht von der Natur, die dieser Fortschritt einst zähmen wollte. Es gäbe dazu auch wissenschaftliche Standpunkte, die an Alltagsbeispielen durchgespielt werden könnten, etwa den Streit um Keim oder Milieu zwischen Pasteur und Bechamp (vgl. FN 62), übertragen auf die jetzige prozessierte, die menschliche Immunabwehr schwächende Massenernährung. Wer verursacht damit den Darmpilzbefall, die Natur oder der Mensch? Die Frage möchte sich nur als Denkanstoß verstehen.

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nicht von Naturwissenschaft zu sprechen), macht der Theologe und Biologe Rainer Hagencord das geschöpfliche Erleben in der Gemeinschaft von Mensch und Tier zum Ort einer meditativen Selbsterfahrung. Auch Hagencord spielt mit den Gedanken einer »Naturmystik« 26, die er anthropologisch in der evolutiv entstandenen Außengerichtetheit des Menschen (vgl. Ernst Tugendhat sowie insbes. Helmuth Plessner) und so vor allem in der Liebe ansiedelt. In der liebevollen Zuwendung zum Tier könnten Urerfahrungen völliger Absichtslosigkeit bei der seelischen Verschmelzung zweier Wesen gemacht werden, die die anthropozentrische Weltsicht überwinden ließen. Exemplarisch seien so für die Primatologin Jane Goodall die Erfahrungen inniger Vertrautheit mit Schimpansen mystische Erfahrungen geworden. 27 Gegen alle diese Beispiele oder Ansätze für eine Lebensart, die traditionelle Weisen zugunsten einer kosmologischen Weltbetrachtung, einer Berücksichtigung der menschlichen Gesamt-Leiblichkeit und einer Entspannung des rationalistisch-materialistischen Strebens einholen möchte, könnte in der Praxis nun wieder dieser allgemeine Lauf selbst eingewendet werden. Denn dieser hat flächendeckende Verhaltensmuster geprägt. Beispielsweise ziehen heute unzählige Menschen in der Handhabung und im ästhetischen Urteil die technisch-sterilen Annehmlichkeiten dem »schmutzigen« Naturkontakt vor. Weiterhin: Für Theoretiker, deren Ansatzpunkt zur ökologischen Krise meistens das Bevölkerungswachstum ist (so einst beim Club of Rome), kann sich die Zukunft der Erde nur in Megastädten abspielen. Doch offenbar ist nicht jeder der Natur fernstehend und nicht jeder denkt rein pragmatisch, wie es in Deutschland die genannten neuen Sehnsüchte zeigen, insofern als hier zudem weniger die Bevölkerungsdichte, sondern viel mehr der entfesselte Konsum zerstörerisch wirkt. Eine Pragmatik der Wohnsilos ließe zudem anthropologischethische Anfragen stellen, die hier nicht behandelt werden können. 28 Des Weiteren könnte speziell gegen die naturmystische Erfahrung Begriff d. Verf. aufgrund ihrer Beschäftigungen mit der Thematik. Vgl. Hagencord, Rainer: Tiere in der Theologie, S. 36. 28 Pragmatisch werden Megastädte die Kapazitätsprobleme der Menschheit viel besser lösen können als ländliche Wohnorte, vgl. Randers, Jorgen: 2025 an Club of Rome, S. 206–211. D. Verf. meint dazu, dies würde die Einplanung üppigen Grüns, z. B. durch Anbautürme und architektonisch angepasste Anlagen, nicht ausschließen, um Menschen den Naturbezug zu erhalten. Desweiteren treten Prognosen in der Regel nur abgeschwächt ein. 26 27

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eingewendet werden, dass sie aufgrund schwindender Plätze der Stille in Deutschland kaum noch möglich sei. Durch eine virulent steigende Motorisierung und Mobilität (vgl. FN 77) findet man in vielen Regionen keinen Waldweg mehr, der frei wäre von Autogeräuschen. In den Regionen rund um Flughafenstädte ballt sich Flugverkehr und »zersägt«, gerade auch bei Höhenflügen, mit seinen Geräuschen buchstäblich den Himmel selbst über Dorfbewohnern, und noch viele Lärmstörungen mehr könnten genannt werden. Gleichwohl dürften gerade Flüge, die immer häufiger zum Preis von Kaffeefahrten angeboten werden, mit ihrem Energieverbrauch und ihren Emissionen exemplarisch sein für einen zerstörerischen Billigwohlstand. 29 Entlegene Regionen sind in Bezug auf Immissionen begünstigt und erkennen zum Teil diese Qualität. Der Verfasserin sind Projekte, zumeist von Therapeuten geleitet, bekannt, die z. B. im Ostseeraum meditative Häuser eröffnen. An der Qualität des Angebotes und an der Ernsthaftigkeit der Besucher wird es liegen, inwieweit hier räumlich und zeitlich begrenzte Urlaube stattfinden oder harmonisierende Impulse in Umgebung und Alltag ausstrahlen. Wo immer therapeutisch oder didaktisch wirksame Stimmen und Instanzen die Möglichkeit dazu haben, sollte versucht werden, den rein mentalen Weltzugang und das zweckbestimmte Denken zu ergänzen durch die Einübung wahrnehmender, verinnerlichender und harmonisch prägender Erfahrungen. Mit dieser Gangart könnte eine Lücke verringert werden, die klafft zwischen einem »Milliardenmarkt Gesundheit« (vgl. FN 23) und den verfehlten Hoffnungen von ungezählten Menschen der Welt, die Wohlbefinden und Glück suchen und dazu eine gesundende Umwelt und einen Lebensraum seelisch-geistiger Entspanntheit brauchen. Es ginge letztlich nicht um »Gesundheit«, die nach dem Wohlstandsparadigma viel zu materiell vermittelt wird. Sondern in der kosmologischen Ausrichtung ginge es Das Schlimme für Betroffene von Lärmimmissionen »von oben« ist, dass diese durchdringender sein können als z. B. Autolärm und man sich mit praktischen Mitteln nicht schützen kann. Außerdem gibt es bei Fluglärm über dem weiten Land politisch keine Möglichkeiten der Abwehr. »Stillschweigend« wird hier erwartet, dass Betroffene Lebensqualitäts-Einbußen »stillschweigend« hinnehmen. – Die Destruktionswirkung des materiellen »Wohlstands«, eines politischen Fetischbegriffes, insbes. auf die Natur, Kultur und Menschlichkeit, wäre ein ähnlich steiles, ja unerhörtes Thema wie die Frage in FN 25. Wie weit nähert sich die Destruktion durch »Wohlstand« weltweit den Destruktionen durch Armut, Not, Krankheiten, Naturkatastrophen, Kriege schon an? Auch dies sei nur ein Denkanstoß.

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um »Heilung«, nämlich des zerbrochenen Verhältnisses zu unseren geistigen und natürlichen Grundlagen sowie als Befreiung des Selbst zu einem unmanipulierten Lebenszugang verstanden. 30 In Landwirtschaft und Energieversorgung wäre man vielleicht besser gegen voreilige Maßnahmen gefeit wie nach dem Beispiel der Fraß-Marienkäfer (vgl. FN 10, um hier Beispiele dieser Arbeit aufzugreifen), wobei der Mensch zu meinen scheint, die Natur müsse sich partout in seinem Sinne verhalten 31 – genauso wie es bei einem schwärmerischen Tierkontakt geschieht, der die Gesetze der Biologie ignoriert (vgl. FN 258). Man betrachte allein die zerrissenen Botschaften des Gesundheitsmarktes sowie auch der Gesundheitspolitik – etwa: Rotwein sei gesund, weil er Resveratrol enthält, doch niemand spricht vom Alkohol; oder: »Fünf Mal am Tag Obst und Gemüse«, dabei vertragen manche Menschen nur zwei bis drei Mahlzeiten 32 – wenn es mehr Menschen gelänge, mit allen vom Leben gegebenen Zugängen, nämlich der Sinne, des Herzens und der kritischen Vernunft das Leben zu erfahren und entsprechend zu führen, könnte die Dominanz des einseitigen materiellen Strebens erweicht werden, könnten traditionelle Elemente zur Lebensgestaltung hilfreich – anstatt entweder oberUnter »Gesundheit« dagegen kann man in dieser Zeit bloße Angebots- oder Konsumgrößen verstehen wie z. B. Pharmaindustrie, Medizintechnik, Freizeit, genormtes Essen. 31 Der Kultur-Vordenker Meinhard Miegel würde das Beispiel als Zeichen von Überforderung ansehen, die das Wachstumsparadigma mit sich bringt (ähnlich wie in dieser Arbeit philosophisch Hans Jonas von Zurückforderungen der Natur sprach). Auch dieser Autor sieht nur im Drosseln einen Ausweg, darunter gegen die leiblichen Leiden dieser Zeit. Vgl. Miegel, Meinhard: Hybris, z. B. S. 15, 55 f., 227 f. D. Verf. möchte als Beispiel von auffälligen Gesundheitszerstörungen die steigenden Allergikerzahlen anfügen, die medizinisch auf ein Übermaß künstlicher Stoffe bzw. billiger Massenernährung (so bei Weizen, Glutenallergien) zurückgeführt werden. Vgl. den dpa-Artikel: Zahl der Allergiker hat sich verdoppelt … in den letzten zehn Jahren, in: NZ 23. 6. 2014, S. 8. 32 Gegen solcherart Aktivismus sei nur aus der Natur zu lernen, sagt auch Hans-Peter Dürr, der als Physiker aus der Wahrnehmung und theoretisch aus der Systemtheorie zu weitreichenderen Ergebnissen über Naturthemen gelangt als die rein messende Methodik, vgl.: Keine Materie, z. B. S. 51–60. – Und vgl. v. a. den Duktus der diätetischen Beiträge dieser Arbeit, nämlich dass von der Antike über deren spätmittelalterliche Rezeption, vom Judentum bis zum christlichen Kloster, von der Frühen Neuzeit bis zur Romantik und schließlich Nietzsche in verschiedensten Zeit- und Kulturanschauungen an der Überzeugung festgehalten wird, Gesundheit hätte seelisch-geistig und faktisch mit der Orientierung an einer vorgegebenen Ordnung zu tun. Gegen das unkritische Übernehmen von Polit- und Werbebotschaften kann daher nur gelten: Wahrnehmen, mitfühlen und überdenken, was wirklich ist. 30

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flächlich-nostalgisch (siehe im ersten Absatz dieses Ausblicks) oder zwanghaft-aufgesetzt – integriert werden, könnte es impulshaft für das Menschsein als ganzer Leib sein. Rainer Hagencord spricht theologisch bei der innigen Tiererfahrung als Meditationsmethode von einer umfassenden, nämlich einer Trinitätserfahrung. Er findet darin Gott als Schöpfer jedes Wesens, als Gegenüber im Du und als Erfahrbarkeit der Ich-und-Du-Beziehung durch den alles Leben durchdringenden Geist. 33 Philosophisch könnte man einen solch umfassenden Zugang als Lebendigkeit bezeichnen. Wenn hierbei das Leben als Gesamtes gemeint ist, wäre wiederum auch eine metaphysische Begrifflichkeit geeignet. Prince Charles bezeichnet, ähnlich wie es z. B. von Indianerstämmen überliefert ist, die eingeschriebene und zugleich fragile Harmonie von Geben und Nehmen in der Natur sowie die Erkenntnis, dieses Muster gelingend in die Kultur übertragen zu können, als »heilig«. 34 Das träfe zugleich die in dieser Arbeit ermittelte Definition von Leben als permanente »Teilhabe« an anderen Strukturen, der etwas Wunderbares innewohnt. Es ginge mit der in diesem Ausblick beschriebenen Mystik um Impulse der Heilung in einer künstlich konstruierten, entheiligten und inzwischen sehr demolierten Welt.

Vgl. FN 27. The Prince of Wales: Harmonie, S. 107 (vgl. ähnlich in FN 2). – Vgl. dazu den amerikanisch-methodistischen Priester und Psychologen Howard Clinebell (gest. 2005), der sich in seinen letzten Wirkungsjahren um eine ökologisch ausgerichtete Seelsorge bemühte. Clinebell hat die Vision, dass sich auf einer undogmatischen Ebene, entstehend durch ein Naturverhältnis der Wahrnehmung, Achtung und Emotion (d. h. fundiert und nicht spekulativ oder rauschhaft wie oftmals im Esoteriksektor) in interreligiöser Weise eine Spiritualität der Zukunft ergibt, die jeweils Bestandteil der bestehenden Religiosität sein könnte oder in säkularen Gesellschaften überhaupt wieder Religiosität schaffen könnte: Ecotherapy, S. 83.

33 34

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7 Zusammenfassung

Aus persönlichen und fachlichen Enttäuschungen über die bisherige Nichtbeachtung und über rein außenperspektivische Vorurteile mancher Wissenschaftler in Bezug auf die »Fitness- und Gesundheitsbewegung« entstand die Idee, dieses heutige soziale Breitenphänomen vor allem auf die Motive der hier Aktiven hin näher zu untersuchen. Damit verbunden war auch ein generelles Unbehagen an der modernen Kluft zwischen Geist und Lebenspraxis. Der Begriff »Fitness- und Gesundheitsbewegung« selber wurde als empirisch hergeleiteter Begriff der Arbeit vorangestellt und erörtert. Als Vergleichsmaßstab fungierte die traditionelle, wissenschaftlich noch heute vielbeachtete Diätetik – daher das Thema: Fitnessbewegung als »Neuauflage«? –, die alle Maßnahmen umfasste, die zur Gesunderhaltung oder Heilung beitrugen. Dies galt sowohl körperlich als auch seelisch-geistig im Sinne einer harmonischen Lebensweise und war so mit der Anschauung des Menschen als Ganzes, als »Leib« verbunden. Allein aus kulturhermeneutischen Gründen ist die Betrachtung der Diätetik für das Thema grundlegend. In diesem Kontext wurde in der Einleitung, Teil 1, schon angedeutet, dass das moderne, cartesianisch bestimmte Weltbild den Begriff des Leibes nicht mehr kennt. Im philosophischen Zugriff dieser Arbeit ging es aber nicht nur um begriffliche, sondern vor allem auch um begriffstopologische und ideengeschichtliche Ergründungen. Um angesichts des Massenphänomens »Fitness- und Gesundheitsbewegung« für die Untersuchung Betroffener zahlenmäßig in die Breite gehen zu können, wurde die Methode einer Befragung mit integrierter statistischer Erhebung gewählt. Eine persönliche Involviertheit in die Materie sowie die menschenbezogene Befragungsform konnten unter die Methodenart der »empirisch personenbezogenen Untersuchung« subsumiert werden, wie sie auch die Sozialwissenschaften vorsehen und anwenden. Die Erarbeitung von Fragebögen und die Befragung der Teilnehmer (400 Personen aus 4 380 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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als repräsentativ ausgewählten Sparten) lag zeitlich dieser schriftlichen Arbeit um 1 Jahr voraus (gemessen am Beginn der empirischen Arbeiten im Verhältnis zum Beginn des Schriftlichen). Als erster Schritt des Schriftlichen wurden die zuvor erfassten Untersuchungsdaten in Diagrammform abgebildet, hier im Anhang. Das genannte Vorverständnis (persönlich, methodisch) wurde in Teil 2 verhandelt. Die dann angegangene hermeneutische Untersuchung der Diätetik (Teil 3, erster Hauptteil) aus Primär- und Sekundärquellen – dabei sollte es in philosophischer Manier betont um Wesenszüge gehen (»Was ist Diätetik?«) – bemühte sich um einen möglichst lebensnahen Blick. Die benutzten Quellen wurden in paradigmatischer Hinsicht gelesen und untersucht, d. h. es wurden markante Epochen bzw. Personen gefunden und vorgeführt, nämlich folgende: • • • • • • • • •

die antike Grundlegung und Ausstrahlung der Diätetik Maimonides das Mittelalter und seine Ausstrahlung Hildegard von Bingen Paracelsus das Baden und das Fasten J. W. v. Goethe Friedrich Nietzsche Turnvater Jahn

Betont unabhängig von den klassischen und oft zitierten sechs Ausübungsbereichen des Diätetischen (sex res non naturales) ergab die Untersuchung bestimmte überepochale individuelle und kollektive Haltungen zur Leibespflege. Dabei wies dieser Hauptteil nach, dass die altgriechischen Tugendbegriffe, die schon damals tief im Diätetischen fußten, die diätetischen Haltungen auch in gewandelten Kulturformen weiterhin bestimmten. Wichtige diätetische Haltungen waren z. B. – deutlich fortgesetzt im christlichen Bewusstsein – die Prämisse des Leidens und die Ausübung des Diätetischen als Vorbeugung, somit eine Lebensweise nach dem richtigem Maß (mesotes). Die humanitären Mängel früherer Epochen brachten das einerseits mit sich und schufen darüber hinaus eine vielschichtige Lebenskultur bis Lebenskunst in Selbstverantwortung und natürlichen sowie geistigen Einbindungen. Übergeordnet wurden fünf miteinander korrelierende Wesenszüge der Diätetik gefunden. Die griechischen Tu-

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gendbegriffe wurden diesen trotz ihrer Vielschichtigkeit möglichst passend zugeordnet: 1. 2. 3. 4. 5.

Die Freiheit von staatlich-administrativer Kontrolle – dies betrifft besonders die Haltung der Selbsterziehung, paideia, arete; Diätetik untersteht nicht den Regeln des Marktes – betrifft besonders die Berücksichtigung des Maßhaltens, mesotes; Diätetik ist transzendenzbezogen – betrifft besonders den kosmos als Ineinander von Mikro- und Makrokosmos; Die Beziehung zur Natur – betrifft die Natur als Lebensmatrix physis; Die Einheit von Subjekt und Objekt – betrifft besonders die persönliche innere Richtschnur nomos im Gesamt der Lebensgefüge.

Genauer heißt das: Diätetische Maßnahmen wurden in Zeiten fehlender oder schwach organisierter Gesundheitspflege vom Individuum oder engen Kollektiv überwiegend autonom organisiert und durchgeführt bei gleichzeitig transzendenzbezogenem Welt- und Menschenbild, sie orientierten sich an der Natur, sie zielten nicht nur auf die körperliche Gesundheit, sondern auf den ganzen Menschen als Leib ab sowie auf eine umfassende Harmonie. Das »Ganzheitliche«, das in dieser Arbeit philosophisch als »Teilhabe« bzw. »Partizipation« am Leben ermittelt wurde, spiegelte sich auch gesellschaftlich in der Interaktion zwischen Leben und Geist, Volk und Gelehrten wider, wobei z. B. Klöster Orte des Transfers waren. Die Ausarbeitungen erklärten Bedeutungen der Wesensbegriffe genauer, z. B. dass die Beziehung zur Natur sowohl nutzungsorientiert als auch geistig überhöht war. Der Punkt der geistigen Überhöhung wurde intensiv bedacht in seiner inhaltlichen Spanne zwischen destruktivem Aberglauben und gesamt-leiblich heilerischen Potenzial. So galt in heilvoller Absicht für das Mittelalter, zugespitzt bei Hildegard von Bingen, leibliche Gesundheitspflege, Pflege der Schöpfung und Gottesdienst als Eines. Ferner zeigte sich der Begriff der mesotes, des Maßhaltens, in vielen Fällen als Kriterium zur Beurteilung des Nicht-mehr-Diätetischen. Er hing schon im Altertum mit anderen Tugenden zusammen und fungiert noch heute in lexikalischen Definitionen der Diätetik. Besondere Beachtung erhielt im Kontext der Begriffe paideia und arete auch das Kriterium der Selbstverantwortung, der der aktuelle psychologische Begriff Capability vergleichbar 382 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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ist, die aber damals u. a. im besonderen Bezug zur physis und zum kosmos stand, insofern die Sorge um sich selbst gleichsam Sorge um die Natur und das Leben schlechthin war. Diätetik war der Wahrnehmung des Lebens in seiner Gesamtheit von Mikro- und Makrokosmos abgewonnen. Menschliches Leben verstand sich der Idee nach als teilhabend (partizipierend) am letztlich geistig getragenen Kosmos. Sehr deutlich wurde, gerade an der doppelten Begriffssystematik, dass Diätetik ein Vergangenheitsparadigma ist und das Dargestellte eine Verfallsgeschichte. Schon früh hatten sich Risse gezeigt, z. B. die Überschreitung der mesotes beim antiken und mittelalterlichen Baden, allezeit beim Fasten oder auch in der zerbrechenden Beziehung zur physis ab der Goethezeit. Trotzdem hielt sich insgesamt eine longue durée offensichtlich dem menschlichen Leben förderlicher Traditionen. Einsichten der Vorfahren, sich an natürlichen und geistig-ethischen Bestimmungen orientieren zu müssen, führten z. B. zu Gestalten wie dem engagierten Mahner gegen den Luxus, die seitdem nicht verhallt sind. Schließlich bedeuteten die vorherrschende Sachlichkeit und Institutionalisierung im 19. Jh. (wissenschaftlich, wirtschaftlich, politisch, moralisch) das Ende des Diätetischen. Friedrich Nietzsche konnte ihm nur noch ein letztes und philosophisch größtes Statut setzen, wobei sein eigenes Leben unter dem Mangel an existenzieller Verortung schwer litt. Turnvater Jahns Turnsport überschritt deutlich die Grenze, indem hier diätetische Ausübungen politisch instrumentalisiert wurden. Das Diätetische war prinzipiell zu allen Zeiten anfällig für Instrumentalisierungen. Trotz der »Aus«-Diagnose am Ende des Teils 3 wurden nachfolgend die gegenwärtigen Aktivitäten des Fitness- und Gesundheitsbereichs untersucht, zumal an dieser Stelle der Eindruck ihrer Aufrichtigkeit anhaltend bestand. Es schloss sich die Interpretation der statistischen Befragungsdaten an (mit zweitem Hauptteil, also Teil 4) nämlich aus den vier ausgewählten Sparten: • • • •

Gesunde Ernährung Fitnessstudio Jogging und Walking Yoga

Ein von Anfang an mitschwingender methodischer Zweifel verwahrte sich gegen die reine Auswertung durch Auszählung. Aufgrund des Menschlichen, quantitativ nicht Messbaren der Thematik ergaben 383 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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sich auch reflexive Passagen. Aus den so insgesamt erfolgenden Interpretationen, die sich gleichwohl primär an den Daten orientierten, ergab sich inhaltlich, dass die Fitness- und Gesundheitsbewegung eine Antwort auf elementare Mängel ist, die der moderne, weitgehend urbanisierte Alltag den Menschen in Bezug auf ihre Gesundheit vorenthält. Schwer wog hier die fehlende oder zu geringe körperliche Bewegung. Dieses Kriterium äußerten besonders die Akteure des Fitnesssports und des Joggens oder Walkens laut. Außerdem fungiert die Fitnessbewegung als Ausgleich gegen Alltagseinwirkungen wie Leistungsdruck seitens des Arbeitsplatzes und der Gesellschaft. Die moderne Hetze wurde in dem Kontext bedacht. Mittels der Antwortdaten konnten auch die Vorurteile widerlegt werden, die die Entstehung dieser Arbeit mit ausgelöst hatten, z. B. die Ansicht, hier würden sich nur Masochisten quälen. Vor allem in numerischer Hinsicht, weit über Carl Poppers Falsifikationsmaßstab hinaus, stellten sich diese Vorurteile als unzutreffend dar. Das wiegt hoch, denn immerhin ging es im Kontext des Leiblichen um dezidiert philosophische Themen. Von daher erwies die statistische Methode einen guten Dienst. Qualitative Wesenszüge der Fitness- und Gesundheitsbewegung insgesamt konnten dagegen aus der statistischen Methodik nur annähernd ermittelt werden. Die Akteure dieser Bewegung zeigten im Rahmen ihrer Fitnessaktivitäten dem Diätetischen ähnliche Verhaltenseigenschaften wie z. B. ernsthaft, vorbeugend, verantwortlich und einsatzfreudig, am deutlichsten abzulesen bei den Yogasportlern. Darüber hinaus fielen aber auch Überlagerungen des Verhaltens durch die Vorgaben aus Markt und Gesellschaft auf. Z. B. war es dies, dass sich die Mehrzahl der Befragten mit ihrer persönlichen Gesundheitskonstitution nicht beschäftigte. Das war zugleich ein deutlicher Hinweis auf das verloschene Verständnis von »Leben« als »Teilhabe« an einem den Menschen bestimmenden Gesamtgefüge. Und vor allem, das fiel am Schluss des Interpretationsganges auf, fehlten kranke Menschen und das Leiden ganz allgemein in dieser Gesundheitswelt, die eigentlich eben Gesundheit verspricht. Schon methodisch gesehen waren eigentlich Kranke aus dem Personenkreis der Befragten ausgeschlossen worden. Dabei wurde »krank« als unpolarer Begriff im Sinne gesundheitlich leidender und Abhilfe suchender Menschen verwendet. Im Resümee stellte sich die Fitness- und Gesundheitsbewegung bis hierher als eine Sache enger Verflechtung mit dem marktkapitalistischen und öffentlichen Versorgungssystem dar. Eine derartige Dimension 384 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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wie bei der Diätetik, nämlich das Gesamt-Leibliche, das Transzendente und das makrokosmisch Verortete erstrebend, wird hier nicht erreicht. Ansätze sind wohl vorhanden, erkennbar insbesondere bei den Yogasportlern oder auch bei vielen ethisch motivierten Einkäufern gesunder Ernährung (und interessanterweise den Zahlen nach wohl auch eher bei Land- als bei Stadtbewohnern), aber nicht der volle Begriff des Diätetischen. Hiermit endete das vorläufige Ergebnis der Arbeit. Um die zutage geführte personell-methodische und inhaltlicherkenntnistheoretische Lücke zu schließen, fügte sich als dritter Untersuchungsgang ein weiterer Hauptteil (Teil 5) an, ein phänomenologischer. Zunächst wurden auf dem Hintergrund der Prämisse des Irreduziblen menschlicher Erfahrung grundlegende philosophische Forschungspositionen des 20. Jh. vorgeführt, nämlich Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty, Max Scheler, Helmuth Plessner, Hans Jonas sowie die Radikale Lebensphänomenologie mit aktuellem Vertreter Rolf Kühn, die mittels der phänomenologischen Methode die moderne Dichotomie in Denken und Leben bzw. die Abspaltung des Körpers vom Leib als unhaltbar erwiesen. Die dann erfolgende Untersuchung aus dem Selbst-Reden kranker Menschen wurde von der Verfasserin als »Therapeutische Phänomenologie« bezeichnet. Der Untersuchung lagen methodisch nämlich Berichte kranker Menschen zugrunde, d. h. diese Personen hatten mit dem Angebot und den Möglichkeiten der Fitness- und Gesundheitsbewegung aufgrund ihres Leidensdrucks zu tun und der Verfasserin, beruflich als Gesundheitsberaterin tätig, ihre authentischen Erfahrungen berichtet. Der Teil konnte aus Gründen des Umfangs und Schwerpunkts nur eine Vertiefung darstellen. Dabei förderte die Untersuchung – es waren zwölf inhaltlich ganz verschiedene Berichte – qualitativ sehr kritische Urteile über die Fitness- und Gesundheitsbewegung zutage. So wurde von den Kranken z. B. das als gesundheitsdienlich beworbene Warenangebot (der Ernährung, der Körperpflege usw.) als verwirrend differenziert bemängelt, dabei in Wirklichkeit grob standardisiert und persönlich wenig brauchbar. Weiterhin wurden etwa Herstellertricks durchschaut (z. B. billige Rohstoffe), die Qualität und ein Übermaß künstlicher Stoffe bemängelt, eine geistige Gründung (beim Yoga) vermisst, körperbezogene Perfektionsvorgaben kritisiert (zum Fitnesssport) und besonders ein Primat von Einzelaspekten und -zwecken bemängelt, wie er der gesamt-leiblichen und individuellen Situation der Betroffenen nicht ge385 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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recht wurde. Aus dem System des gängigen Waren- und Leistungsangebots fielen diese Menschen deutlich heraus. Anders herum gesehen, stellte sich nach den zwölf Fallberichten die Fitness- und Gesundheitsbewegung im deutlichen Kontrast zum Diätetischen dar, nämlich in Anlehnung an deren fünf Kriterien als: 1. 2. 3. 4. 5.

eine von staatlich-administrativen Wertvorgaben beherrschte Form der Gesundheitspflege; von Marktmechanismen beherrscht; prinzipiell säkular ausgerichtet; eine Sammlung überwiegend naturentfremdeter Formen der Gesundheitspflege; nach rationalen Einzelzwecken strikt Subjekt-Objekt-geteilt.

Wie kann die Fitness- und Gesundheitsbewegung letztlich beurteilt werden? Für das Systembezogene, kommerziell Vorgesetzte und bereitwillig Angenommene dieser Bewegung wurde der Begriff einer »Masche« gefunden. Er will in etymologischer Herleitung (vgl. »machen«) das typisch Modern-Konstruierte dieser Sache sowie auch das Vernetzte (vgl. die »Strickmasche«) mit den heute dominierenden Wirklichkeiten, Staat und Markt, ausdrücken. Doch gibt es, menschenbezogen, Einwände gegen den Begriff. Es sind diese, dass die oben vorgeführte Seite der Kranken nur eine Extremperspektive auf die Sache ist und dass es im weiten Feld von Vorbeugung, Wohlergehen und Beschwerden-Linderung bis hin zur Krankheit viele Menschen gibt (wie der statistische Teil zeigte) und geben dürfte, denen diese Bewegung Vorteile verschafft oder hilft. Weil sich letztlich die Bewegung in typisch marktwirtschaftlicher Manier für alle an ihr Beteiligten als win-win-Situation darstellt, besitzt sie schwer greifbare Seiten. Sie trägt nicht wirklich diätetische Züge, wohl aber leibbezogene Ansätze, die wiederum nicht wirklich eingeholt werden. Sie kann nicht als »Neuauflage« der Diätetik bezeichnet werden und sollte der Sache nach als »Masche« benannt bleiben. Menschenbezogen kommt es darauf an, was Einzelne aus dieser Bewegung machen oder nicht. In einem kommerziellen Versorgungssystem des easy going kann Verantwortung abgegeben werden, aber es können auch Möglichkeiten bewusster Sorge um sich und das Leben überhaupt gefunden werden. Die Bewegung an sich stellt sich eher oberflächlich dar – jedenfalls anzulasten ist ihr, dass sie Kranke und das Leiden ausgrenzt. Eine Aufweichung dieses Makels im Zuge 386 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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des demografischen Wandels bliebe abzuwarten. Das Gesamtergebnis der Arbeit wurde jedenfalls, in kategorialer Lesart der Sache und unter der menschlichen Perspektive, so formuliert: »Heute sind die Kranken die wahren Diätetiker.« Diese von der Bewegung unversorgten, Abhilfe suchenden Menschen entwickeln nämlich Eigenschaften der Selbstverantwortung und der Selbstsorge, die den diätetischen Haltungen nahekommen oder entsprechen und die derart um eine leibliche Dimension bemüht sind, wie es in der gegenwärtigen Gesellschaft sonst nicht üblich ist. Durch die Not ihrer Krankheit müssen sie sich dabei an natürlichen und geistig-ethischen Bestimmungen des Lebens abtasten. Die gegenüber der Eingangsfrage mithin vertiefte Ergebnisfindung erweist die phänomenologische Herangehensweise als ergiebig, so wie sich überhaupt die Innensicht als notwendig darstellt zum Beurteilen eines komplexen Syndroms wie der Fitness- und Gesundheitsbewegung. Ein Ausblick am Schluss der Arbeit (mit Teil 6) gründet sich auf Problemlagen der aktuellen Gesundheitspflege, wie sie der Untersuchungsverlauf ergab. Es ging um die Frage, ob nicht aus der Tradition, deren humanitäre Mängel im Gesundheitsbereich heute überwunden sind, Wertvolles bzw. Notwendiges geschöpft werden könne. Übergeordnet ging es dabei um Impulse zugunsten des Leiblichen und schließlich zugunsten einer Heilung des modernen Bruchs von Geist und Leben, des Bezugsverlusts von Makro- und Mikrokosmos. Überall äußert sich dieser Bruch heute auch ökologisch eklatant. Es wurde angeregt, den üblichen rein zweckrationalen Weltzugang zu erweichen mittels umfassender Zugänge des Wahrnehmens, des Fühlens und auch des kritischen Denkens. Therapeutisch-trainierend dürfte dies vor allem in der Meditation und dem im weitesten Sinne Mystischen gelingen. Die Verschränkung von Theorie und Praxis, der philosophischen (bzw. auch theologischen) mit der empirisch-medizinischen bis lebenspraktisch-phänomenologischen Seite und die ideengeschichtliche Schürfung sind nicht zuletzt gewollte Kennzeichen dieser Arbeit. Denn Diätetik erweist sich hier als lange und zum Teil sehr fruchtbare Tradition einer praktischen und geistigen Orientierung an den Lebenskonditionen. Das besondere Erbe vergangener diätetischer Positionen, Selbstsorge und Weltsorge in eins zu setzen und das menschliche Leben als Teilhabe anstatt als autonome Herrschaft zu verstehen, dürfte heute auf dem ökologischen Hintergrund besondere Evidenz erhalten. 387 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

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Personenregister

Aaken, E. v. 274 Aristoteles 33 f., 36, 38, 41 ff., 54, 64, 91 f., 195 Aschoff, J. 109, 364 Asklepios 46 Avicenna 34 Bingen, H. v. 28, 34, 69 f., 100 ff., 103, 111, 117, 124 f., 140 f., 167, 171, 205, 302, 318, 327 f., 381 f. Biran, P. M. de 328, 381 Bircher-Benner, M. 76 Bock, H. 85 Böhme, G. 13, 359 Bruker, M. O. 76 Cassirer, E. 164 Cheyne, G. 129 Charles, Prince 379 Christus 145 Descartes, R. 17, 37., 92 ff., 151, 325 f. Dilger, E. 315 Dioskorides, P. 32 Dionysos 188 Drewermann, E. 60, 97 Dürr, H.-P. 364 Düsing, E. 186 Durantes, C. 35 Ekkehart, »Meister« 103 Eliade, M. 292 Eliot, Th. 35 Engelhard, D. v. 43

Felke, E. 82, 203 Feuchtersleben, E. v. 180 Feuerstein, E. 292 Fischer, J. 12 Fonda, J. 254 Foucault, M. 16 f., 177 Fuchs, L. 83 Gadamer, H.-G. 12, 17, 119, 122 Galen 31 f., 36, 61, 112, 116 Ghandi, M. 144 Goethe, J. W. 9, 28, 63, 92, 151 ff., 202, 207, 223, 240, 263 f., 381, 383 Gogarten, F. 367 Goodall, J. 376 Gull, W. 146 GutsMuths (sic!), Ch. 193 Hagencord, R. 111, 151, 363, 367, 379 Hardenberg, F. Freih. v. 124 Hegel, G. W. F. Heisenberg, W. 364 Henry, M. 328 f., 370 Heraklit 36 Hertzka,W. 102 f. Hessel, S. 112 Hiob 60 Hippokrates 31 ff., 36 Hohenheim, Th. B. v. 116 Holm, H. 186 f. Hygieia 46 Homer 40 Hufeland, W. 162 Husserl, E. 322 f., 364, 385 Ibn Butlan 34

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Personenregister Jahn, F. L. 28, 191 ff., 203 f., 220, 314, 381 Jesus 75 Jonas, H. 110, 326 f., 364, 385 Kafka, F. 149 Kant, I. 42, 48, 92, 149, 167, 207, 327, 365 Karl d. Große 33, 73 Katharina v. Siena 144 Kather, R. 152, 324, 374 Kierkegaard, S. 149, 153 Kneipp, S. 49, 129, 135 f., 163, 203 Kollath, W. 76 Koob, O. 176, 299 Koslowski, P. 13, 359 Kriele, M. 97 Kühn, R. 328 ff., 330 f., 348, 369 ff., 385 Künzle, J. 63, 82 Küenzler, G. 196 f. Kues, N. v. 111 Lasègue, E. 146 Liebig, J. 201 Locke, J. 137 Löhnlechner, M. 177 Ludwig d. Fromme 33 Lütz, M. 13, 359 Luther, M. 175 Madaus, M. 82 Maimonides 28, 34, 51 ff., 106, 140, 204, 207, 212, 223 f., 251, 381 Mauss, M. 368 Merleau-Ponty, M. 323 f., 364 f., 385 Mises, L. v. 144 Murakami, H. 282 Napoleon 194 Niemeyer, Chr. 186 Nietzsche, F. 28, 63, 92, 99, 119, 165, 174 ff., 198, 203, 206 ff., 222 f., 286, 299, 325, 331, 347 f., 352, 356, 368 f., 381, 383 Novalis 35, 124 Nussbaum, M. 220

Osterhammel, J. 174 Otterstedt, C. 363 Paracelsus 28, 35, 112, 116 ff., 133, 140 f., 153, 170, 176, 183, 203 f., 207, 223, 381 Pettenkofer, M. v. 130 Platon 39 ff., 43, 131, 145, 202, 223, 318 Plessner, H. 17, 326 f., 364, 376, 385 Plinius, C. 32 Popper, K. 312, 360, 384 Prießnitz, V. v. 135 Rahner, K. 368 Renner, K. N. 159 Rousseau, J.-J. 165, 184 Rosa, H. 37, 88, 299 ff., 301 Scheler, M. 96, 325 f., 364, 385 Schipperges, H. 15, 43 f., 117, 134, 176 f., 203, 236, 260 Schmid, W. 137 Schulze, G. 137, 139 Schwarzenegger, A. 254 Scipio, P. C. 132 f. Seneca, L. A. 132 Seuse, H. 103 Sillitoe, A. 283 Sloterdijk, P. 224, 366 ff. Stöcklin, J. 67, 363 Storl, W.-D. 98, 363 Strehlow, W. 102 f. Thales v. Milet 19 Tauler, J. 103 Troeltsch, E. 367 Truntz, E. 166 Tugendhat, E. 368 f. Volz, P. D. 179, 186 Wagner, R. 188 Waldenfels, B. 79, 364 Weber, A. 96, 373 Weber, M. 367 Wedekind, G. v. 178

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Personenregister Wedemeyer, B. 13 f., 191, 197, 359 Weidinger, H.-J. 63, 82 f. Weinstock, H. 367 Weizsäcker, V. v. 95, 364

Whitehead, A. N. 324 f., 364 Zatopek, E. 280 Zink, J. 112

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Sachregister

Aberglaube 81, 84, 89, 100, 200, 205, 226, 365, 382 Achtsamkeit 47, 111 absolute Örtlichkeit 79 administrativ, Administration 44 f., 185, 366, 382 Affektivität 79 Ahimsa 69 amor fati 184 Anthropologie, anthropologisch 86, 143, 165, 184, 190, 326 ff., 348, 360, 376 Anthroposophie, anthroposophisch 59, 97, 113, 164 Anthropozentrismus, anthropozentrisch 69, 100, 110, 371, 376 antik, Antike 28, 33 ff., 47, 49, 51, 57, 64, 71, 128, 130, 132 ff., 141, 143, 151, 164, 196, 202, 208, 253, 342, 381, 383 – Spätantike 47, 60 Anorexia – hysterica 146 – nervosa 146 Anthropologie, anthropologisch 165, 184, 190, 326 ff., 348, 360, 376 apokalyptisch 71, 366 Aporie 323 arete 34, 42, 45 f., 51, 64, 100, 115, 128, 138, 173, 190, 198, 201, 204, 257, 270, 321, 358, 382 aristotelisch 33 ff., 38, 43 Aufklärung 154 ff., 159, 165, 168, 171 ff., 178, 182, 206, 209, 354 – aufgeklärt 149, 155, 171, 173, 189, 206

Athen (vgl. Sparta) 33, 41, 196, 202, 272, 275 Athlet 40 f., 196 Ausgewogenheit 37, 46, 112 Außenperspektive, außenperspektivisch (vgl. Innenperspektive) 14, 19, 48, 322, 361, 380 authentisch, Authentizität 29, 165, 171, 173 f., 179, 226, 332, 357, 385 Balance 324, 363 balaneion, balneia (vgl. Therme) 132 Begriff, begriff- 15 ff., 31, 384 f., 386 – Begriffstopologie, begriffstopologisch 15 f., 31, 380 – Grenzbegriff 315, 332 Behaviourismus 94 Bewegungsmangel 270, 280, 301, 311 biblisch 70, 107 Biodiversität 66 Brahman 69, 96 Buddhismus, buddhistisch 189, 292 f., 370 Bürger, bürgerlich 58, 65, 134, 146, 156, 163, 165, 175, 177 f., 180, 193, 207 Bulimia nervosa 147 capability 54, 123, 204, 219 f., 231 f., 239, 257, 291, 310, 361, 382, 394 caritas 72 f. causa (vgl. Teleologie) 92, 101 – efficiens 92 – finalis 92, 94

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Sachregister Christen, Christentum 38, 46, 60, 62, 64, 68 ff., 73, 98, 142, 148, 293, 334, 366, 367, christlich 32, 33 f., 58, 69, 71 ff., 75, 87, 89, 97, 99 f., 106, 115, 142 ff., 148 f., 154, 189, 203, 293, 334, 363, 366 ff., 371, 375, 381, 395 constitutio 72 Corpus Hippocraticum 32, 140, 207 circadian 109 Chronobiologe, Chronobiologie 109, 364 cogitatio 323 Demut 120 denaturiert 174, 349 deportare, desport 192 Desinteresse 50 destitutio 72, 112, 115 Diät 77, 139, 178 Diätetik 7, 8, 15 f., 28 f., 31 f., 35 ff., 40 f., 43 ff., 56 f., 60, 62 ff., 73 f., 76, 82 ff., 90, 100, 102 f., 111, 113 f., 116 f., 120, 123, 127 ff., 131, 133 f., 136 ff., 146, 149 ff., 154 f., 158 f., 161 ff., 168 ff., 183 ff., 188 ff., 192, 195 f., 198 ff., 213, 218, 221 f., 225 f., 231, 235 f., 238 ff., 245, 250, 253, 256 f., 260, 263, 265, 269 f., 274, 280, 286, 291, 299, 301, 310 ff., 317, 319 ff., 332, 335, 343, 348 ff., 353, 355 ff., 366, 372 f., 380 ff. Diskursivität 226 Doppelperspektive (bei Plessner) 326 easy going, easy way 355, 360, 386 Effizienz 93, 108 Ekklesiologie 95 Einklang (mit Außenwelt) 170 empirisch 16, 20, 21, 76, 117, 164, 214, 310, 322, 359, 361, 380 f., 387 – empirisch-personenbezogen 20 f. Endlichkeit 38, 47, 235 Ens 116 – naturale 116 – spirituale 116 – veneni 116

Erlösung 70, 142, 187, 292 f., 371, 375 eros (bei Platon) 318 eudaimonia (vgl. Glückseligkeit) 41 Evolution 272, 280 Familie 175 Fragilität 47, 62, 138, 184, 235, 240 Garten (ideengeschichtlich) 73, 81, 86 ff., 97, 163, 202, 227, 260, 305, 373 Ganzheit, ganzheitlich 36, 49, 51, 63, 128, 155, 164, 223, 257, 265, 293, 298, 302, 309, 318, 326, 334, 382 Geist, geistig 48 f., 55 f., 63, 71, 85 f., 92, 94 ff., 99, 103, 106, 111 ff., 141, 151, 178 f., 183, 190, 206, 208, 324 ff., 355, 363, 366, 379 Geister 88, 90, 155, 184 Geisteswissenschaft, geisteswissenschaftlich 12, 14 f., 19 ff., 27, 312, 317 f., 323, 365 Germanen 64, 71, 90 Gesundheit (vgl. Krankheit) 11 f., 31 ff., 52, 59, 61 ff., 119, 122 ff., 382 – Gesundheitsbewegung 13 f., 16, 19, 21, 25, 62, 242, 274, 281, 286, 289 f., 291, 305, 310 ff., 314, 317 f., 320 ff., 327, 346, 348, 350, 352 ff., 372, 380 ff. – gesundheitsbewusst- 14, 43, 224, 244, 288, 290, 307 – Gesundheitsfürsorge 45, 203 – Gesundheitsverhalten 11 f., 14 f., 22 f., 25, 29, 31, 213, 235 ff., 268, 270, 274, 283, 285, 289, 291, 308, 311, 320 – Gesundheitswesen 14, 38, 199, 221 f., 234, 251, 269, 277 ff., 287, 290, 296 ff. Glückseligkeit (vgl. eudaimonia) 41, 157, 204 global, Globalisierung 239, 327, 366, 373 Gott 37 f., 46, 57 ff., 64, 67 ff., 71, 88, 95, 101, 103 ff., 112, 115 f., 120, 124,

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Sachregister 142 ff., 149, 185 f., 188, 261, 293, 302 ff., 309, 319, 342, 367 ff., 379 – Gottesdienst 382 Grundlagenforscher 364 gymnastike techne 40 harmonia 36 Harmonie, harmonisch 36, 89, 107, 111, 115, 158, 170, 180, 206, 223, 298, 309, 340, 346, 349, 379, 382 Hausfrau 175 Hausvater 175 – Hausväter-Literatur 175 Heil 40 heilig 379 Heilkunde 20, 34, 36, 40, 43, 45, 93, 173 – Naturheilkunde 31, 61, 63, 163, 170, 177, 203, 236, 363 – Volksheilkunde 73, 80 Heilung 36, 364, 366, 378, 379, 380, 387 hinduistisch 292 humanitas 367 Hygiene 61, 81, 129 f., 161, 193 Ideengeschichte, ideengeschichtlich 16, 18, 31, 45, 137, 169, 174, 190, 362, 380, 387 – Ideentradition 63 Identität 107, 157 Imperium Romanum 70 f., 130, 132 Individualisierung, individualisiert 14, 153, 191 Individualismus, individualistisch 105, 117, 150, 224, 235, 240, 351 Industrialisierung 354 Information (vgl. Kommunikation) 159 Innenperspektive, innenperspektivisch (vgl. Außenperspektive) 14, 316 Interpretation 27, 29, 156 f., 159, 172, 211, 213, 272, 310, 313, 324, 384 Ipseität 330 Islam 34, 142, 293

Judentum, jüdisch 34, 51 f., 57, 60, 62, 64, 69, 144 Jugendbewegung 136 Kalobiotik (vgl. Makrobiotik) 36, 180 kalokagathia 37, 40 f., 180, 302 Kapitalismus, kapitalistisch 136, 202, 226, 366, 372 f., 384 Kelten 64, 70 f., 90 Kirche 64, 70 ff., 83, 89, 105, 303, 334 f., 349, 372, 375 Klischee 246 Kloster, Klöster 33, 73, 81 f., 97, 100 f., 105, 115, 133, 143 f., 152, 202, 363, 374, 382 Körper (vgl. Leib) 16 f., 158, 202 Kompensation 37, 186, 299 Kommunikation 37, 186, 299 Kommerz, kommerzialisiert, kommerziell 65, 111, 262, 303, 350 f., 357, 386 Kommunikation (vgl. Information) 17, 55, 81, 96, 131, 157 ff., 171, 173 f., 207, 215, 285, 364 Konstitution 116, 118, 124, 239 f., 268, 315, 328, 384 Konsum, konsumieren 142, 147, 167, 201, 240, 255 f., 361, 376 Kontingenz 18, 38, 198 Konstrukt, konstruiert 182, 379 kosmogon 69, 97, 111 kosmos 34, 38, 42, 47, 51, 56 f., 65, 75, 85, 96, 105 ff., 112, 115, 138, 206, 302, 305, 310, 318, 324 f., 358, 371, 382 f., 387 Kosmologie, kosmologisch 56, 64, 96, 100, 106, 116, 124, 128, 148, 302, 318 f., 321, 324 f., 366 ff., 373 f., 376 f. Krankheit (vgl. Gesundheit) 61 f., 95, 111, 119, 123 f., 183 ff., 324, 328, 359, 361, 365 Labyrinth 179 Lebenskunst 62, 100, 127, 194, 201, 207, 373, 381

414 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Sachregister Lebensreformbewegung 163 Leib, leiblich (vgl. Körper) 49, 85, 114, 119, 159, 182 f., 188, 326 f., 331, 348, 353 f., 363, 368, 371, 380 f., 386 f. Leitfaden (des Leibes) 185 logos 91 longue durée 35, 383 machina 359 Magie, magisch 33, 83, 90, 98 Manifestation 90 f., 96 Manipulation, manipuliert 14, 152, 198, 200, 202, 205, 254, 365, 378, Marathon 272 Makrobiotik (vgl. Kalobiotik) 36, 162 f. Makrokosmos, makrokosmisch (vgl. Mikrokosmos, mikrokosmisch) 38, 65, 75, 85, 96, 358, 382 f. Markt 12, 24, 45, 67, 70, 75, 86, 100, 114, 147, 169 f., 173, 200 f., 203, 205, 212, 214, 229 f., 234, 241, 255, 288, 320, 346, 349, 353 f., 358, 360 f., 366, 377 f., 382, 384, 386 Masochist, masochistisch 13, 384 Maß, Maßhalten, maßhalten 34, 64, 99, 107, 110, 111, 114 f., 123 ff., 127, 148, 172, 196, 200 f., 204, 257, 259, 381 f. Massenphänomen 380 Materialistisch 94, 168, 358, 376 materiell 37, 46, 56, 96, 99, 112, 115, 124, 129, 133, 173, 202, 217, 255, 278, 288, 293, 299, 310, 320, 349, 358, 360, 366, 377 f. Mechanismus, mechanisch, mechanistisch (vgl. Organismus, organisch) 17, 48, 79, 85, 151, 182, 247, 365, 386 medial 225 Meditation 138, 140, 143, 281, 292 f., 301, 302, 374 f., 379, 387 Medizingeschichte 31, 43, 52 Medizinwesen 127 Mentalitätsgeschichte, mentalitätsgeschichtlich 28, 64

Menschenwürde 148 Mensch-Tier-Beziehung 363 mesotes 34, 42, 46, 50, 53, 62 f., 110, 115, 123 f., 138, 153 f., 168, 171, 173, 190, 196, 204 f., 207 f., 240, 248, 253, 255, 257, 262, 270, 310, 321, 356, 358, 360, 373, 381 ff. mens sana in corpore sano 41 methodologisch 211, 322, 325 Mikrokosmos, mikrokosmisch (vgl. Makrokosmos, makrokosmisch) 38, 85, 106, 302, 318, 387 Mikwe 130 Mitwelt (vgl. Umwelt) 17, 105, 133, 170, 173 modern, Moderne 16 ff., 149, 158, 170, 173, 179 f., 190, 197, 206, 206 ff., 354, 356 ff., 360 f., 363 ff., 366, 368, 371, 380, 385, 387 monastisch 69, 101 Moralisierung 203 Muße 374 Mystik, Mystiker, mystisch 103 ff., 111, 144, 189, 292, 302, 367 ff., 375 f., 379, 387 Nahrungskette 65, 67 Natur – Natur-Defizit-Syndrom 160 – Naturschutz 66, 161 – Zurück zur Natur 168 Naturwissenschaft, naturwissenschaftlich 18, 20, 48, 151, 164, 200, 209, 324, 331, 364, 376 Neolithikum 131 neolithische Revolution 74 Neuer Mensch (vgl. Übermensch) 197 f. nomos 34, 42, 49, 51, 53, 58, 63, 68, 100, 115, 128, 138, 154 f., 174, 185, 190, 198, 200, 208, 225, 230, 240, 291, 310, 319, 321, 355, 358, 382 Normierung 11, 128 Objekt, Objektivität, objektiv (vgl. Subjekt, Subjektivität, subjektiv) 19 ff., 36, 38, 40, 46, 49 ff., 56, 114,

415 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Sachregister 151, 153 f., 170, 182, 201, 207 f., 213, 268, 327, 350, 358, 382, 386 Ökologie, ökologisch 11, 37, 48, 66, 69, 107, 110, 115, 124, 138 f., 167, 173, 206, 209, 231, 319, 327, 329 f., 355, 361, 363, 365 ff., 371, 374, 376, 387 ökologischer Imperativ 327 Organismus, organisch (vgl. Mechanismus, mechanisch, mechanistisch) 17, 48, 51, 62, 85, 103, 110, 112, 118, 128 f., 140 f., 154, 162, 173, 182, 206, 208, 222, 228, 246, 278, 283, 302, 306, 325, 327, 346, 358 paideia 34, 45 f., 50, 64, 100, 115, 128, 152, 154 f., 174, 185, 190, 198, 200, 204, 223, 257, 270, 291, 310, 319, 321, 355, 358, 361, 382 Pädagoge, Pädagogik, pädagogisch 160, 164, 168, 190, 262, 372 f. pathisch 18, 188 Pauschal-, pauschal 138, 153, 311 f., 314, 384, 359, 367 Perspektive, perspektivisch 14, 17, 48 Phänomenologie, phänomenologisch 16, 28 f., 92, 164, 166, 185, 206, 316, f., 323 ff., 330, 357, 360 f., 365, 370 f., 387 – Lebensphänomenologie, radikale Lebensphänomenologie 329, 385 – phänomenologische Reduktion 322 – therapeutische Phänomenologie 322, 323, 352 Philanthropin 201 f. physis 34, 42, 47, 51, 115, 207, 358, 382 f. platonisch 244 – neuplatonisch 244 Phytotherapie 73, 83, 99 polis 28 positivistisch 91, 180, 322 primordiale Sphäre 328 Psychotherapie 58, 104 Pythagoräer 67, 141, 223 pursuit of happiness 137

quaestion iuris 360 ratio, rational 365 Zweckratio, zweckrational 350, 365 Reflexion 47, 58, 99 f., 151 f., 173, 200, 206, 209 Reformation 82, 142 Regimen, Regimina 34 f., 52, 76, 207, 260, 274 restitutio 72 Rhythmus, rhythmisch 47, 106, 207, 265, 271 – Derhythmisierung 109 Romantik 124, 155, 165, 207 Säftelehre 35, 53, 112, 129, 135, 297 Schöpfung 62, 75, 106, 382 Seelsorge 83, 97, 103 Selbstbestimmung 45, 54, 165, 310 Selbsterziehung 138, 198, 355, 382, Selbstübersteigerung sex non naturales, sex res non naturales 34, 47, 208, 265, 381 Sinnverlust 14, 37 Sorge, sorgen 16 ff., 41 – Selbstsorge 347, 350, 387 – Sorge um die Natur 66 f., 383 – Weltsorge 387 Soteriologie 95 Sozialwissenschaft, sozialwissenschaftlich 20 f., 24 f., 380 Sparta (vgl. Athen) 40, 196, 202,f. Spaß, Spaßgesellschaft 136 f., 139 Standardisierung, standardisiert 127, 203, 268, 349, 358, 385 Statistik, statistisch 19 ff., 27, 29, 213, 310 ff., 314 f., 353, 380, 383 f., 386 Stoffaustausch 17, 47 Spießigkeit 372 Subjekt, subjektiv, Subjektivität (vgl. Objekt, objektiv, Objektivität) 16 f., 20, 25, 49, 51, 151 ff., 165, 181 f., 207 f., 316, 322 f., 325, 327 f., 331, 350, 358, 368, 382, 386 Subsistenzwirtschaft 355 Systematik, systematisch 36, 44, 103, 117, 209, 363

416 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Sachregister Teilhabe, teilhabend 115, 222, 265, 347, 379, 382 ff., 387 Teleologie (vgl. causa) 92, 94 Theologie, theologisch 97, 101 ff., 144, 190, 364, 367 f., 370, 373, 375, 379 therapeuein 332 Therme, therme (vgl. balaneion, balneia) 130, 132, 136, 150, 202 Tierschutz 225 transzendental, Transzendentalphilosophie 322, 328 Transzendenz, transzendent, transzendieren, Transzendierung 46, 64, 128, 149, 154, 173, 190, 200, 205 f., 226, 240, 291, 302 f.f., 309, 349, 355, 361, 369, 382, 385, Tugend, tugend- 34, 43 ff., 58, 105 f., 110, 115, 202, 204, 209, 361, 381 f. – Kardinaltugend 43 Übermensch (vgl. Neuer Mensch) 184 f., 190, 198, 206 umgreifende Dimension 364 Umwelt (vgl. Mitwelt) 17, 68, 129, 207, 375, unhintergehbar, Unhintergehbarkeit 119, 323, 331, 348 vegan 67, 77, 214, 355,

Vegetarismus 66 f., 69, 77, 96, 107 Vision, visionär 101, 104 ff., 366, 256 Verantwortung, verantwortungsvoll 49, 62, 68, 92, 99, 128, 170, 173, 240, 320, 386 – Eigenverantwortung, Selbstverantwortung 83, 114 f., 123 f., 255, 361, 381, 387 Verdinglichung 17 Völkerwanderung 71 Vorurteil 21, 253, 269, 311 f., 353, 380, 384 weise Frauen 44, 64, 83 f., 203 Wesenheit 63, 91, 98, 202, 204, 239, 357 win-win-Situation 353, 386 Wohlstand 66, 76, 99, 110, 115, 132, 137, 140, 150, 178, 199, 203, 209, 225, 240, 251, 255 f., 259, 347, 350, 354, 366, 373, 377 – Wohlstandsgesellschaft 137, 140, 225, 278, 290, 296, 320, 362, 367 Yoga-Philosophie 292 Zeitdruck 299 Zoroastrismus 67 zu den Dingen selbst (bei Husserl) 322

417 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Die Fragebögen Untersuchung zum Fitness- und Gesundheitsverhalten Gruppe: Bewusste Ernährung (Anmerkung: Es geht hier nicht um den speziellen Ernährungsstil, sondern wie Sie das, was Sie unter bewusster Ernährung verstehen, beurteilen. Pro Frage sind mehrere Antworten möglich, Nicht-Zutreffendes freilassen.) 1

Geschlecht (bitte ankreuzen) M □ W □

2

Alter (bitte ankreuzen) Unter 20 □ Unter 30 □ Unter 40 □ Unter 50 □ Unter 60 □ Unter 70 □ Unter 80 □ Unter 90 □

3

Formelle Bildung Ohne Schulabschluss □ Hauptschulabschluss □ Realschulabschluss □ Fachhochschulabschluss, Abitur □ Berufsausbildungsabschluss □ 419 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Studium □ Weiterer akademischer Werdegang □ 4 Kaufen Sie regelmäßig »bewusst« Ernährung ein? Ja □ Nein □ Wenn ja, seit Jahren 5

Wählen Sie nur bestimmte Lebensmittel, ein breites Sortiment oder Ihre Gesamternährung entsprechend? Nur bestimmte □ Breites Sortiment oder Gesamternährung □

6

Was sind Ihre Gründe für die Wahl dieser Lebensmittel, gleich, ob bestimmte oder zahlreiche / alle? Die Frage betrifft auch Haushalts-Mitglieder, für die Sie einkaufen. Gesundheit (im engeren Sinne: als Gegenteil von Krankheit) – Wenn ja, 6.1.1 wegen akuter Beschwerden (z. B. Allergie) – Wenn ja, 6.1.1.1 auf ärztliches Anraten □ 6.1.2 Vorbeugung – Wenn ja, 6.1.2.1 nach Krankheitserfahrung (selbst / Haushaltsmitglied oder andere bekannte Personen □ 6.1.2.2 wegen Veranlagung (z. B. Infektanfälligkeit) □ 6.1.2.3 zum Leistungserhalt angesichts Schul- / Berufs- / Lebensanforderungen 6.1.2.4 wegen Kostenerhöhungen / Kürzungen im Gesundheitswesen □ 6.1.2.5 Körpergewichtskontrolle (z. B. durch Vollkorn, hochwertige Fette) □ 6.1.2.6 auf ärztliches Anraten □ Grundsätzlich-vorbeugende gesundheitliche Gründe (z. B. Sicherheit betreffs Zusatzstoffe; besserer Gesundheitserhalt durch bessere Qualität) □ 6.2.1 Wenn Sie Kinder haben: Gilt Ihnen die Ernährungsqualität für Ihre Kinder besonders hoch? □ Geschmackspräferenz □ Schönheit (z. B. bessere Haut durch Vitamine; meint nicht den Kauf von Kosmetika) □

6.1

6.2

6.3 6.4

420 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

6.5 Ethische Gründe (z. B. keine konventionelle ethisch unbedenkliche Alternative) □ 6.6 Einstellung: Naturbezug, Sinn für die Natur in mir, Suche nach »Ganzheit«, Harmonie □ 6.7 (freie Antwortmöglichkeiten) 6.8 7

Seit wann überhaupt befassen Sie sich mit Ernährung? Seit Jahren

8 Was waren die Auslöser für diese Beschäftigung? 8.1 Krankheitserfahrung (selbst / Haushaltsmitglied oder andere bekannte Personen) □ 8.2 Bewusstseinswandel unabhängig von Krankheitserfahrung □ 8.3 8.4 9 Auf welche Weise beschäftigen Sie sich mit Ernährung? 9.1 Lesen von Literatur □ 9.2 Lesen von Heften, Broschüren, Werbung, gedruckten Infos aller Art □ 9.3 Lesen und Stöbern im Internet □ 9.4 Gespräche mit Mitmenschen, Erfahrungsaustausch □ 9.5 Austausch / Lernen in Gruppen (z. B. Selbsthilfegruppe, Naturheilverein, gelegentliche Kurse, Seminare) □ 9.6 (freie Antwortmöglichkeiten) 9.7 10

Wenn »Gesundheit« bei Frage 6 zutraf, wie bewerten Sie den Druck der Arbeitswelt / bei Kindern: Schule (z. B. Fehlzeiten vermeiden, leistungsstark sein, im Alter noch mithalten können)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Druck, … 6 = sehr hoher): □

11

Wenn »Gesundheit« bei Frage 6 zutraf, wie bewerten Sie den Druck aus dem persönlichen Umfeld (Familie, Freunde), etwas für die Gesundheit zu tun? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Druck, … 6 = sehr hoher): □

421 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

12

Wenn »Gesundheit« bei Frage 6 zutraf, wie bewerten Sie den Einfluss der allgemein gestiegenen Lebenserwartung auf Ihr persönliches Verhalten (lange Altersphase soll möglichst gesund verlaufen, wirtschaftlich: Menschen müssen evtl. länger arbeiten usw.)?: Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Einfluss, … 6 = sehr hoher): □

13

Wenn »Schönheit« bei Frage 6 zutraf, wie bewerten Sie den Druck der Arbeitswelt (z. B. gute Ausstrahlung haben, leistungsstark wirken, nicht alt wirken usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Druck, … 6 = sehr hoher): □

14

Wenn »Schönheit« bei Frage 6 zutraf, wie bewerten Sie den Druck der Gesellschaft (z. B. gute Ausstrahlung haben, leistungsstark wirken, nicht alt wirken usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Druck, … 6 = sehr hoher): □

15

Was tun Sie sonst noch für die Gesundheit (im umfassenden Sinn)?) 15.1 Sport treiben □ 15.2 Saunabesuche □ 15.3 Entspannungstechniken □ 15.4 geistige Einstellung (religiöse Einstellung, positives Denken usw.) □ 15.5 regelmäßige Kontrolle (evtl. Vorsorgeuntersuchungen) bei Arzt oder Heilpraktiker 15.6 nichts weiter 15.7 (freie Antwortmöglichkeiten) 15.8 16

Wenn etwas zutraf bei Frage 15, seit wann tun Sie dies (bei mehreren Antworten bitte mehrere Zeitangaben machen, mit Komma getrennt)? Seit Jahren

422 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

17

Wie bewerten Sie den Erfolg Ihres Ernährungsverhaltens im Verhältnis zu Ihren Gründen / Zielen? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Erfolg, … 6 = sehr hoher): □

18

Wie bewerten Sie den Aufwand Ihres Ernährungsverhaltens im Verhältnis zum Erfolg (z. B. Kosten, Verzicht auf Anderes, Spaltung in Familie)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Aufwand, … 6 = sehr hoher): □

19

Wenn etwas bei Frage 15 zutraf, wie bewerten Sie den Erfolg Ihres gesamten Gesundheitsverhaltens im Verhältnis zu Ihren Gründen / Zielen? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Erfolg, … 6 = sehr hoher): □

20

Wenn etwas bei Frage 15 zutraf, wie bewerten Sie den Aufwand Ihres gesamten Gesundheitsverhaltens im Verhältnis zu Ihren Gründen / Zielen? (z. B. Kosten, Verzicht auf Anderes, Spaltung in Familie)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Aufwand, … 6 = sehr hoher): □

423 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Gruppe: Fitnessstudio 1

Geschlecht (bitte ankreuzen) M=1 □ W=2 □

2

Alter (bitte ankreuzen) Unter 20 □ Unter 30 □ Unter 40 □ Unter 50 □ Unter 60 □ Unter 70 □ Unter 80 □ Unter 90 □

3

Formelle Bildung Ohne Schulabschluss □ Hauptschulabschluss □ Realschulabschluss □ Fachhochschulabschluss, Abitur □ Berufsausbildungsabschluss □ Studium □ Weiterer akademischer Werdegang □

4

Seit wann besuchen Sie dieses / ein Fitnessstudio (mehrjährige Pausen bitte abziehen)? Seit Jahren

5

Anzahl und Art der im Fitnessstudio ausgeübten Sportarten (z. B. Kraftsport, Spinning):

5.1 5.2 6 Treiben Sie außerdem noch Sport? Wenn ja, welche Sportart(en): 6.1 6.2

424 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

7

Seit wann überhaupt treiben Sie Sport (mehrjährige Pausen bitte abziehen)? Seit Jahren

8

Was sind Ihre Gründe / Ziele, Fitness im Fitnessstudio zu betreiben? Bitte ankreuzen bzw. angeben (Mehreres möglich; für längere Ausführungen bitte Rückseite benutzen): Gesundheit (im engeren Sinne: als Gegenteil von Krankheit) – Wenn ja, 8.1.1 akute Beschwerden – Wenn ja, 8.1.1.1 auf ärztliches Anraten □ 8.1.2 Vorbeugung – Wenn ja, 8.1.2.1 nach früherer Krankheitserfahrung (selbst oder nahestehende Personen) □ 8.1.2.2 wegen Veranlagung (z. B. schwache Durchblutung, anfällige Wirbelsäule) □ 8.1.2.3 zum Leistungserhalt angesichts Berufs- und Lebensanforderungen □ 8.1.2.4 wegen Kostenerhöhungen / Kürzungen im Gesundheitswesen □ 8.1.2.5 Körpergewichtskontrolle □ 8.1.2.6 um Bewegungsmangel entgegenzusteuern □ 8.1.2.7 auf ärztliches Anraten □ Entspannung / Ausgleich gegenüber einseitig-strapazierenden Lebensbedingungen Schönheit (schlank sein, straffe Haut, trainierten Körper erzielen usw.) □ psychische Gründe (Grenzerfahrung, Selbstbewusstsein, sicheres Gefühl) □ soziale Gründe (um nicht allein zu sein, treffe Andere / Bekannte / Clique usw.) □ Sport (auf alle ausgeübten Sportarten bezogen) wegen Naturerlebnis? (freie Antwortmöglichkeiten)

8.1

8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7 8.8

425 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

9

Wenn »Gesundheit« bei 8 zutraf, wie bewerten Sie den Druck der Arbeitswelt (Fehlzeiten vermeiden, leistungsstark sein, im Alter noch mithalten können usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Druck, … 6 = sehr hoher): □

10

Wenn »Gesundheit« bei 8 zutraf, wie bewerten Sie den Druck aus dem persönlichen Umfeld (Familie, Freunde), etwas für die Gesundheit zu tun? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Druck, … 6 = sehr hoher): □

11

Wenn »Gesundheit« bei 8 zutraf, wie bewerten Sie den Einfluss der allgemein gestiegenen Lebenserwartung auf Ihr persönliches Verhalten (lange Altersphase soll möglichst gesund verlaufen, wirtschaftlich: Menschen müssen evtl. länger arbeiten usw.)?: Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Einfluss, … 6 = sehr hoher): □

12

Wenn »Schönheit« und / oder »psychische Gründe« bei 8 zutraf (en), wie bewerten Sie den Druck der Arbeitswelt (selbstbewusst wirken, gute Ausstrahlung haben, leistungsstark wirken, nicht alt wirken usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Druck, … 6 = sehr hoher): □

13

Wenn »Schönheit« und / oder »psychische Gründe« bei 8 zutraf (en), wie bewerten Sie den Druck der Gesellschaft (selbstbewusst wirken, gute Ausstrahlung haben, nicht alt wirken usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Druck, … 6 = sehr hoher): □

14

Was tun Sie sonst noch für Fit sein und Gesundheit (im umfassenden Sinn)?) Bitte ankreuzen bzw. angeben (Mehreres möglich; für längere Ausführungen bitte Rückseite benutzen): 14.1 gesunde Ernährung □ 14.2 Saunabesuche □ 14.3 Entspannungstechniken □ 14.4 geistige Einstellung (religiöse Einstellung, positives Denken usw.) □

426 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

14.5 regelmäßige Kontrolle (evtl. Vorsorgeuntersuchungen) bei Arzt oder Heilpraktiker 14.6 nichts weiter 14.7 14.8 15

Wenn etwas zutraf bei 14, seit wann tun Sie dies? Seit Jahren

16

Wie bewerten Sie den Erfolg Ihres gesamten Fitness- und Gesundheitsverhaltens im Verhältnis zu Ihren Gründen / Zielen? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Erfolg, … 6 = sehr hoher): □

17

Wie bewerten Sie den Aufwand Ihres gesamten Fitness- und Gesundheitsverhaltens im Verhältnis zum Erfolg (Anfahrt, Kosten, Verzicht auf Anderes, körperliche Erschöpfung hinterher, langfristig körperliche Überlastung usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Aufwand, … 6 = sehr hoher): □

18

Betreiben Sie Ihren Sport gerne? ja □ teilweise □ nein □

427 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Gruppe: Jogging und Walking (regelmäßig betrieben) 1

Geschlecht (bitte ankreuzen) M=1 □ W=2 □

2

Alter (bitte ankreuzen) Unter 20 □ Unter 30 □ Unter 40 □ Unter 50 □ Unter 60 □ Unter 70 □ Unter 80 □ Unter 90 □

3

Formelle Bildung Ohne Schulabschluss □ Hauptschulabschluss □ Realschulabschluss □ Fachhochschulabschluss, Abitur □ Berufsausbildungsabschluss □ Studium □ Weiterer akademischer Werdegang □

4

Seit wann joggen / walken Sie(mehrjährige Pausen bitte abziehen)? Seit Jahren

5 Treiben Sie außerdem noch Sport? Wenn ja, welche Sportart(en): 5.1 (freie Antwortmöglichkeiten) 5.2 5.3 6

Seit wann überhaupt treiben Sie Sport (mehrjährige Pausen bitte abziehen)? Seit Jahren

428 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

7

7.1

7.2 7.3 7.4 7.5 7.6

Was sind Ihre Gründe / Ziele, Jogging / Walking (und ggf. anderen Sport) zu betreiben? Bitte ankreuzen bzw. angeben (Mehreres möglich; für längere Ausführungen bitte Rückseite benutzen): Gesundheit (im engeren Sinne: als Gegenteil von Krankheit) – Wenn ja, 7.1.1 akute Beschwerden – Wenn ja, 7.1.1.1 auf ärztliches Anraten □ 7.1.2 Vorbeugung – Wenn ja, 7.1.2.1 nach früherer Krankheitserfahrung (selbst oder nahestehende Personen) □ 7.1.2.2 wegen Veranlagung (z. B. schwacher Kreislauf, Infektanfälligkeit) □ 7.1.2.3 zum Leistungserhalt angesichts Berufs- und Lebensanforderungen □ 7.1.2.4 wegen Kostenerhöhungen / Kürzungen im Gesundheitswesen □ 7.1.2.5 Körpergewichtskontrolle □ 7.1.2.6 um Bewegungsmangel auszugleichen □ 7.1.2.7 auf ärztliches Anraten □ Entspannung / Ausgleich □ Schönheit (schlank sein, straffe Haut, trainierten Körper erzielen usw.) □ psychische Gründe (Selbstbewusstsein, sicheres Gefühl, Grenzerfahrung) □ soziale Gründe (falls in Gemeinschaft ausgeübt) □ Jogging / W. verbunden mit Naturerlebnis (Frischluft, Waldduft usw.)

7.7 7.8 8

Wenn »Gesundheit« bei 7 zutraf, wie bewerten Sie den Druck der Arbeitswelt (Fehlzeiten vermeiden, leistungsstark sein, im Alter noch mithalten können usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = triff nicht zu, 2 = sehr schwacher Druck, … 6 = sehr hoher): □

429 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

9

Wenn »Gesundheit« bei 7 zutraf, wie bewerten Sie den Druck aus dem persönlichen Umfeld (Familie, Freunde), etwas für die Gesundheit zu tun? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Druck, … 6 = sehr hoher): □

10

Wenn »Gesundheit« bei 7 zutraf, wie bewerten Sie den Einfluss der allgemein gestiegenen Lebenserwartung auf Ihr persönliches Verhalten (lange Altersphase soll möglichst gesund verlaufen, wirtschaftlich: Menschen müssen evtl. länger arbeiten usw.)?: Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Einfluss, … 6 = sehr hoher): □

11

Wenn »Schönheit« und / oder »psychische Gründe« bei 7 zutraf (en), wie bewerten Sie den Druck der Arbeitswelt (selbstbewusst wirken, gute Ausstrahlung haben, leistungsstark wirken, nicht alt wirken usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Druck, … 6 = sehr hoher): □

12

Wenn »Schönheit« und / oder »psychische Gründe« bei 7 zutraf (en), wie bewerten Sie den Druck der Gesellschaft (selbstbewusst wirken, gute Ausstrahlung haben, nicht alt wirken usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = sehr schwacher Druck, 6 = sehr hoher): □

13

Was tun Sie sonst noch für Fit sein und Gesundheit (im umfassenden Sinn)? Bitte ankreuzen bzw. angeben (Mehreres möglich; für längere Ausführungen bitte Rückseite benutzen): 13.1 gesunde Ernährung □ 13.2 Saunabesuche □ 13.3 Entspannungstechniken □ 13.4 geistige Einstellung (religiöse Einstellung, positives Denken usw.) □ 13.5 regelmäßige Kontrolle (evtl. Vorsorgeuntersuchungen) bei Arzt oder Heilpraktiker 13.6 nichts weiter 13.7 (freie Antwortmöglichkeiten) 13.8

430 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

14

Wenn etwas zutraf bei 13, seit wann tun Sie dies? Seit Jahren

15

Wie bewerten Sie den Erfolg Ihres gesamten Fitness- und Gesundheitsverhaltens im Verhältnis zu Ihren Gründen / Zielen? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Erfolg, … 6 = sehr hoher): □

16

Wie bewerten Sie den Aufwand Ihres gesamten Fitness- und Gesundheitsverhaltens im Verhältnis zum Erfolg (Anfahrt, Kosten, Verzicht auf Anderes, körperliche Erschöpfung hinterher, langfristig körperliche Überlastung usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Aufwand, … 6 = sehr hoher): □

17

Tun Sie Ihren Sport gerne? Ja □ Teilweise □ Nein □

431 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Gruppe: Yoga 1

Geschlecht (bitte ankreuzen) M=1 □ W=2 □

2

Alter (bitte ankreuzen) Unter 20 □ Unter 30 □ Unter 40 □ Unter 50 □ Unter 60 □ Unter 70 □ Unter 80 □ Unter 90 □ Unter 100 □

3

Formelle Bildung Ohne Schulabschluss □ Hauptschulabschluss □ Realschulabschluss □ Fachhochschulabschluss, Abitur □ Berufsausbildungsabschluss □ Studium □ Weiterer akademischer Werdegang □

4

Seit wann betreiben Sie Yoga (mehrjährige Pausen bitte abziehen)? Seit Jahren

5

Betreiben Sie außerdem Sport oder Entspannungsübungen? Wenn ja, welche Arten: 5.1 (freie Antwortmöglichkeiten) 5.2 5.3 6

Seit wann überhaupt treiben Sie Sport u. / o. Entspannungsübungen (mehrjährige Pausen bitte abziehen)? Seit Jahren

432 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

7

7.1

7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8 8

Was sind Ihre Gründe / Ziele, Yoga (und ggf. anderes) zu betreiben? Bitte ankreuzen bzw. angeben (Mehreres möglich; für längere Ausführungen bitte Rückseite benutzen): Gesundheit (im engeren Sinne: als Gegenteil von Krankheit) – Wenn ja, 7.1.1 akute Beschwerden – Wenn ja 7.1.1.1 auf ärztliches Anraten □ 7.1.2 Vorbeugung – Wenn ja, 7.1.2.1 nach früherer Krankheitserfahrung (selbst oder nahestehende Personen) □ 7.1.2.2 wegen Veranlagung (z. B. anfällige Wirbelsäule, labiles Immunsystem) □ 7.1.2.3 zum Leistungserhalt angesichts Berufs- und Lebensanforderungen □ 7.1.2.4 wegen Kostenerhöhungen / Kürzungen im Gesundheitswesen □ 7.1.2.5 Körpergewichtskontrolle □ 7.1.2.6 um Bewegungsmangel entgegenzusteuern □ 7.1.2.7 auf ärztliches Anraten □ Entspannung / Ausgleich □ Schönheit (schlank sein, straffe Haut, trainierten Körper erzielen usw.) □ psychische Gründe (Selbstbewusstsein, sicheres Gefühl, Grenzerfahrung) □ soziale Gründe (um nicht allein zu sein, treffe Andere / Bekannte / Clique usw.) □ geistige Gründe (Suche nach Ganzheit / Harmonie; Yoga evtl. religiös motiviert) □ (freie Antwortmöglichkeiten)

Wenn »Gesundheit« bei 7 zutraf, wie bewerten Sie den Druck der Arbeitswelt (Fehlzeiten vermeiden, leistungsstark sein, im Alter noch mithalten können usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Druck, … 6 = sehr hoher): □

433 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

9

Wenn »Gesundheit« bei 7 zutraf, wie bewerten Sie den Druck aus dem persönlichen Umfeld (Familie, Freunde), etwas für die Gesundheit zu tun? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Druck, … 6 = sehr hoher): □

10

Wenn »Gesundheit« bei 7 zutraf, wie bewerten Sie den Einfluss der allgemein gestiegenen Lebenserwartung auf Ihr persönliches Verhalten (lange Altersphase soll möglichst gesund verlaufen, wirtschaftlich: Menschen müssen evtl. länger arbeiten usw.)?: Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Einfluss, … 6 = sehr hoher): □

11

Wenn »Schönheit« und / oder »psychische Gründe« bei 7 zutraf (en), wie bewerten Sie den Druck der Arbeitswelt (selbstbewusst wirken, gute Ausstrahlung haben, leistungsstark wirken, nicht alt wirken usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Druck, … 6 = sehr hoher): □

12

Wenn »Schönheit« und / oder »psychische Gründe« bei 7. zutraf (en), wie bewerten Sie den Druck der Gesellschaft (selbstbewusst wirken, gute Ausstrahlung haben, nicht alt wirken usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Druck, … 6 = sehr hoher): □

13

Was tun Sie sonst noch für Fit sein, Gesundheit, Wohlbefinden (im umfassenden Sinn)? Bitte ankreuzen bzw. angeben (Mehreres möglich; für längere Ausführungen bitte Rückseite benutzen): 13.1 gesunde Ernährung □ 13.2 Saunabesuche □ 13.3 regelmäßige Kontrolle (evtl. Vorsorgeuntersuchungen) bei Arzt oder Heilpraktiker 13.4 nichts weiter 13.5 (freie Antwortmöglichkeiten) 13.6 14

Wenn etwas zutraf bei 13, seit wann tun Sie dies? Seit Jahren

434 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

15

Wie bewerten Sie den Erfolg Ihres gesamten Fitness- und Gesundheitsverhaltens im Verhältnis zu Ihren Gründen / Zielen? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Erfolg, … 6 = sehr hoher): □

16

Wie bewerten Sie den Aufwand Ihres gesamten Fitness- und Gesundheitsverhaltens im Verhältnis zum Erfolg (Anfahrt, Kosten, Verzicht auf Anderes, körperliche Erschöpfung hinterher, langfristig körperliche Überlastung usw.)? Bitte Bewertungsnote vergeben von 1–6 (1 = trifft nicht zu, 2 = sehr schwacher Aufwand, … 6 = sehr hoher): □

17

Machen Sie Ihre Körperübungen gerne? Ja □ Teilweise □ Nein □

435 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung Ernährung Stadt

Anzahl der Befragten

1 Geschlecht

50 41

40

39

30 20 11

8

10 0

m

w

Stadt

2 Alter

Anzahl der Befragten

Land

Land

25 20

20 15

11 11

11

10

9

8 5

5

6

5 3

2

2

1

te un

0 r2

2

0

0

te un

0 r3

te un

0 r4

te un

0 r5

te un

0 r6

te un

0 r7

te un

0

0 r8

e üb

436 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

r8

0

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Stadt

3 Formelle Bildung

Anzahl der Befragten

25 19

20 15

13

10

7

6 2

2 0

s ng du

c Fa

7

4

5

il fsb ru

sc ab

hs oc hh

s us hl

s l ab u ch

ss lu h c

r tu bi A , H

sc pt u a

la hu

c bs

s us hl

O

e hn

a Re

ls

sc l ab u ch

Anzahl der Befragten

50

s us hl

m iu ud t S

Stadt

4 Kaufen Sie regelm. bewusst Ernährung?

Land

46

40 32

30 18

20 10

3

0

Ja

Nein

Stadt

4.1 Wenn ja, seit wieviel Jahren?

Anzahl der Befragten

13

12

10

0

Be

Land

Land

15 10

9

9

8

6

5

5

4

3

1

1

0

3

5

10

66

5

2

15

1

0

20

25

30

0

35

11

40

https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

1

0

mehr als 40

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

5. Wie wählen Sie Ihre Lebensmittel?

50 40

37 30

30 20

20

12

10 0

Breites Sortiment

Nur bestimmte Lebensmittel

Stadt

Anzahl der Befragten

6.1 Ernährung wegen Gesundheit

Land

50 40

34

33

30 20

15

17

10 0

Ja

Nein

Stadt

6.2 Ernährung wegen akuter Beschwerden

Anzahl der Befragten

Land

Land

50 40

40

39

30 20 10 0

11

9

Ja

Nein

438 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Stadt

Anzahl der Befragten

6.3 Ernährung wegen ärztlichen Anratens

50

45

45

40 30 20 10

5

4

0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

6.4 Vorbeugung nach Krankheitserfahung

50

Land

43

40

34

30 20

15

10

7

0

Ja

Nein

Stadt

6.5 Vorbeugung wegen Veranlagung

Anzahl der Befragten

Land

50

Land

47 42

40 30 20 10 0

7 3

Ja

Nein

439 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Anzahl der Befragten

6.6 Vorbeugung wegen Leistungserhalts

Stadt

Land

50

50 40 30

25

24

20 10 0

Ja

Nein

6.7 Vorbeugung wegen Kostenerhöhung im Gesundheitswesen

Anzahl der Befragten

Land

60

0

60 48

50

43

40 30 20 10

6

0

2

Ja

Nein

Stadt

6.8 Vorbeungung wegen Körpergewicht

Anzahl der Befragten

Stadt

Land

60 48

50 40

40 30 20 10 0

9 2

Ja

Nein

440 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Stadt

Anzahl der Befragten

6.9 Vorbeugung wegen ärztlichen Anratens

50

45

40

37

30 20 10

13 4

0

Ja

Nein

Anzahl der Befragten

7.1 Grundsätzlich vorbeugend wegen Zusatzstoffen, Qualität usw.

Stadt

Land

50 40

38

37

30 20 11

10 0

Ja

13

Nein

Stadt

7.2 Ernährungsqualität für Ihr Kind besonders hoch?

Anzahl der Befragten

Land

Land

50 40 30

36 26

23

20

14

10 0

Ja

Nein

441 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

8.1 Ernährung wegen Geschmackspräferenz

50 40

41 35

30 20

15 8

10 0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

8.2 Ernährung wegen Schönheit

Land

50 40

37 33

30 20

16

13

10 0

Ja

Nein

Stadt

8.3 Ernährung wegen ethischer Gründe

Anzahl der Befragten

Land

Land

50 40

37 33

30 20

17 12

10 0

Ja

Nein

442 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Stadt

Anzahl der Befragten

8.4 Ernährung wegen persönlicher Einstellung

50 40

37

30

26

24

20 12

10 0

Ja

Nein

Stadt

9 Seit wann befassen Sie sich mit Ernährung in Jahren?

Anzahl der Befragten

Land

Land

20 16

15 10

7 5

5 1

0

1

2

3

3

9

8 6

7

7

5

4 2

1

5

3

2

1

7

10

15

20

30

35

1

40 mehr als 40 Jahre

Stadt

10.1 Krankheitserfahrung als allgemeiner Auslöser

Anzahl der Befragten

3 1

1

Land

50 38

40

34

30 20

15

12

10 0

Ja

Nein

443 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

10.2 Bewusstseinswandel als allgemeiner Auslöser

50 40

39

39

38 34

30 20 10 0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

11.1 Bzgl. Ernährung beschäftige ich mich mit Literatur

Land

50 40

34 29

30 21

20

15

10 0

Ja

Nein

11.2 Bzgl. Ernährung beschäftige ich mich mit Printmedien

Anzahl der Befragten

Land

Stadt

Land

50 40 30

35 26

23

20

15

10 0

Ja

Nein

444 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Anzahl der Befragten

11.3 Bzgl. Ernährung beschäftige ich mich mit dem Internet

Stadt

50 40

34

35

30 20

15

15

10 0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

11.4 Bzgl. Ernährung betreibe ich Erfahrungsaustausch

Land

50 42

40

40 30 20 10

10

7

0

Ja

Nein

Stadt

11.5 Bzgl. Ernährung organisiere ich mich in Gruppen

Anzahl der Befragten

Land

50

Land

47

40

35

30 20

14

10 0

3

Ja

Nein

445 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

12 Druck der Arbeitswelt, bzgl. Gesundheit

25 20 15

13

10 5

10 8

5 5

5 5

4 4

3

2

1

2

3

4

5

6

enthalten

Stadt

13 Druck aus pers. Umfeld bzgl. Gesundheit

Anzahl der Befragten

13

12 10

0

Land

25 20

20 18

15

12 10

10

8

7

6

5

5

6 2 0

0

1

2

3

4

2

1

1

5

14 Einfluss d. gestiegenen Lebenserwartung bzgl. Gesundheit

Anzahl der Befragten

Land

6

enthalten

Stadt

Land

25 20 15

13

10 5 0

11

10 7 3

2

4

10 7

6 6

4

1

10 5

3

3

4

5

6

enthalten

446 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Anzahl der Befragten

15 Druck d. Arbeitswelt auf Schönheit u. psychische Gründe

Stadt

50 40

37 31

30 20 10

5

0

2

1

4

2 3

2

1

0 1

3

3 2

4 4

5

6

4

16 Druck d. Gesellschaft bzgl. Schönheit u. psychische Gründe

Anzahl der Befragten

Land

enthalten

Stadt

Land

50 40

37 32

30 20 10

6

3

0

1

1

1 1

2 1

2

3

4

1

5

6

enthalten

Stadt

17.1 Außerdem treibe ich Sport

Anzahl der Befragten

7

5

2

0

Land

50 40

41 37

30 20 12

10 0

Ja

9

Nein

447 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

17.2 Saunabesuche

50 40

40

33

30 20

16 10

10 0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

17.3 Entspannungstechniken

Land

50 39

40 30

27 22

20 11

10 0

Ja

Nein

Stadt

17.4 Geistige Einstellung

Anzahl der Befragten

Land

Land

50 40

40 30

27 22

20 10

10 0

Ja

Nein

448 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Stadt

Anzahl der Befragten

17.5 Kontrolle / Vorsorgeuntersuchungen

60 50

50

50

40 30 20 10 0

0

0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

17.6 Ernährung einziger Einsatz

Land

60 50

50

50

40 30 20 10 0

0

0

Ja

Nein

Stadt

18 zu 17 Seit wann in Jahren?

Anzahl der Befragten

Land

Land

15 10 9

10 66

5

5

33 1

0

2

3

4 2

5

4

6

55

5 3

2

7

2

1

10

15

20

25

5

0

30

35

1

2

4 22

40 mehr entals hal40 ten

449 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

19 Bewertung Erfolg Ihrer Ernährung

25 21

20

20 14

15 10

10

8

7

5

3

6

3 3

3

1

0

1

1

2

3

4

5

6

Anzahl der Befragten

0

enthalten

Stadt

20 Bewertung Aufwand Ihrer Ernährung

Land

25 20

20

17 15

15 10

9

9

8

8 6

5

6

2 2

1

0

0

1

2

3

4

5

21 Bewertung Ihres kompl. Gesundheitsverhaltens gegenüber Gründen

Anzahl der Befragten

Land

6

0

enthalten

Stadt

Land

25 19

20

19

15 10

8

8

9

10

9

7

6

5

2

1

0

1 1

0

1

2

3

4

5

6

enthalten

450 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Anzahl der Befragten

22 Bewertung Aufwand gegenüber Gründen des kompletten Gesundheitsverhaltens

Stadt

Land

25 20

17 17

16

15

12

10

7

6

5 5

5

4

5

3 1 1

0

1

2

3

4

5

6

enthalten

Fitnesssport Stadt

Anzahl der Befragten

1 Geschlecht

50 40 29

30

27

23

21

20 10 0

m

w

Stadt

2 Alter

Anzahl der Befragten

Land

Land

25 20 16 14

15 10 5

8

8

10

9

8

5

5

6

5

3 1 1

0 0

0

te un

0 r2

te un

0 r3

te un

0 r4

te un

0 r5

te un

0 r6

te un

0 r7

te un

0 r8

er üb

80

451 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

3 Formelle Bildung

25

23

20

18

15 11

10

10

8

8

7 7

5

5

2

1

0 0

0

sc ab

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ak

a

Land

25 20 15

15 10

13

12 9

8

8 4

5

5

5

6 4

5 3 1

0

1

2

3

5

7

0

ng um ga di e u d St er W r he i sc m de

Stadt

4 Seit wieviel Jahren besuchen Sie ein Fitnessstudio?

Anzahl der Befragten

Land

10

15

452 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Anzahl der Befragten

5.1 Treiben Sie Kraftsport?

Stadt

Land

42

40

37

30 20

13 8

10 Ja

Nein

5.2 Treiben Sie Hochleistungs-, Ausdauersport?

Anzahl der Befragten

Land

50

0

60 50

50

49

40 30 20 10 0

1

0

Ja

Nein

Stadt

5.3 Treiben Sie Aufwärm-, Cardio-, Ausdauersport?

Anzahl der Befragten

Stadt

Land

50 40

35 28

30 22

20

15

10 0

Ja

Nein

453 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

6 Treiben Sie außerdem noch Sport?

15 12

10

8

9

9

5

5

55 2

0

0

5

4

2

0

4 2

1

0

0

t t t g n n n n ic or or or in te re ze ge ob p p p r i k h n r s s s l a e a a r r t t a f pf Ae te se or /T gs W ad in as ik am er sp rr g/ t s K B h n e t W W i l af n/ Fa th gg er ch ta Jo s d h n n a ic an W Le M

Stadt

7 Wie lange treiben Sie Sport in Jahren?

Anzahl der Befragten

Land

Land

15 10

8

7

5

3

4

44

5 3

3

1

2

3

6 44

3

2

1

0

5

4

5

7

10

15

20

4

3

2

30

35

Stadt

30

36 26

24

20

14

10 0

Ja

40

Land

50 40

4

11

25

Fitnesssport wegen Gesundheit

Anzahl der Befragten

5

Nein

454 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Stadt

Anzahl der Befragten

Fitnesssport wegen akuter Beschwerden

50 40

35

38

30 20

15

12

10 0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

Fitnesssport wegen ärztlichen Anratens

50

Land

44

40

36

30 20

14

10

6

0

Ja

Nein

Stadt

Vorbeugung nach Krankheitserfahrung

Anzahl der Befragten

Land

50

Land

43

40

35

30 20

15

10 0

7

Ja

Nein

455 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

Vorbeugung wegen Veranlagung

50 39

40

41

30 20 10

11

0

9

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

Vorbeugung wegen Leistungserhalts

50

Land

45

40 30

27 23

20 10

5

0

Ja

Nein

Vorbeugung wegen Kostenerhöhung im Gesundheitswesen

Anzahl der Befragten

Land

Stadt

Land

60 49

50

50

40 30 20 10 0

1

0

Ja

Nein

456 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Stadt

Anzahl der Befragten

Vorbeugung wegen Körpergewicht

60 48

50 40 30

25

25

20 10

2

0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

Vorbeugung wegen Bewegungsmangel

Land

50 40 30

25

24

25

26

20 10 0

Ja

Nein

Stadt

Vorbeugung wegen ärztlichen Anratens

Anzahl der Befragten

Land

Land

60 48

50 37

40 30 20

13

10 0

2

Ja

Nein

457 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

Fitnesssport wegen Entspannung / Ausgleich

50 40

34

30

27 23

20

16

10 0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

Fitnesssport wegen Schönheit

Land

50 40 30

30 26

24 20

20 10 0

Ja

Nein

Stadt

Fitnesssport wegen psychischer Gründe

Anzahl der Befragten

Land

50 40

40

Land

43

30 20 10 0

10

7

Ja

Nein

458 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Stadt

Anzahl der Befragten

Fitnesssport wegen sozialer Gründe

50

44

40

35

30 20

15

10

6

0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

Fitnesssport und Naturerlebnis

Land

60 50

50

50

40 30 20 10 0

0

0

Ja

Nein

Stadt

9 Druck der Arbeitswelt bzgl. Gesundheit

Anzahl der Befragten

Land

Land

15 10

9 9

5

9

8 5

4 4

4 4

3 3

2

0

1

2

3

4

5

6

459 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

10 Druck aus pers. Umfeld bzgl. Gesundheit

25 20

19 19

15 11

10

10 8 5

5

2 2

0

1

2

3

1 1

4

Anzahl der Befragten

0 0

5

11 Einfluss d. gestiegenen Lebenserwartung bzgl. Gesundheit

6

Stadt

Land

15 12

11

11

10 7

5

5

4

0

1

5 5

5

5

4

3

2

3

4

5

12 Druck d. Arbeitswelt auf Schönheit u. psychische Gründe

Anzahl der Befragten

Land

6

Stadt

Land

10 6

5

5

5

5

4 3 2

2

2

2

1

0

1

2

1

3

4

5

6

460 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Anzahl der Befragten

13 Druck d. Gesellschaft bzgl. Schönheit u. psychische Gründe

Stadt

Land

15 10

9 7

7 5

5 2

5

2

3

2

2

1

0

0

1

2

3

4

5

Stadt

Anzahl der Befragten

14.1 Gesunde Ernährung

Land

50 40

35 31

30

19

20

15

10 0

Ja

Nein

Stadt

14.2 Saunabesuche

Anzahl der Befragten

6

50

Land

43

40 30

26

24

20 10 0

7

Ja

Nein

461 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

14.3 Entspannungstechniken

60 48

50 40

35

30 20

15

10

2

0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

14.4 Geistige Einstellung

Land

60 50

50 40

32

30 20

18

10 0

0

Ja

Nein

Stadt

14.5 Kontrolle / Vorsorgeuntersuchungen

Anzahl der Befragten

Land

Land

60 50

50 40

32

30 20

18

10 0

0

Ja

Nein

462 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Stadt

Anzahl der Befragten

14.6 Kuren / Fasten

60 50

50

49

40 30 20 10

1

0

0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

14.7 Fitness einziger Einsatz

Land

60 50

50

50

40 30 20 10 0

0

0

Ja

Nein

Stadt

15 zu 14 Seit wann in Jahren?

Anzahl der Befragten

Land

Land

15 11

10

8 5

5 0

9

0

1

1

2

3

2

2

3

3

6

5 3

5

7

2

10

15

3 1

20

2

3

3

1

1

25

30

00

35

1

40

463 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Anzahl der Befragten

16 Bewertung Erfolg Ihres Fitness- und Gesundheitsverhaltens

Stadt

25 19

20

15

14 14

15

13

10 6

5

6 4

3 3 1 1

0

1

2

3

4

5

17 Bewertung Aufwand Ihres Fitness- und Gesundheitsverhaltens

Anzahl der Befragten

Land

6

Stadt

Land

25 19

20

18

15

12 10

10

11

8

8

5

5

4

0

1

2

3

4

5

Anzahl der Befragten

6

Stadt

18 Betreiben Sie Ihren Sport gerne?

Land

50 40

39

38

30 20 10

10 0

Ja

2

1

0

12

Teilweise

464 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Jogging und Walking Stadt

Anzahl der Befragten

1 Geschlecht

50 40 30

30

26

24 20

20 10 0

m

w

Stadt

2 Alter

Anzahl der Befragten

Land

30

Land

26

25 20 15

15 10 5

8 4 1

10 7

9

9 4 3

1 2

0

0

te un

0 r2

te un

0 r3

te un

0 r4

te un

0 r5

te un

0 r6

te un

0 r7

te un

0 0

0 r8

er üb

80

465 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

3 Formelle Bildung

25 20

18 16

15

12

11

10 6

5

8

7

6

5

4

3

4 2 0

0

sc ab

s us hl

bi ,A

r tu

ss gs lu ch un s d ts il up l ab sb a u u h H sc fsa ch ru o e h B ch Fa

sc l ab u ch

s us hl

O Re

e hn

c al s

la hu

W

c bs

ei t

e

s us hl

r re

ak

a

ng um ga di e u d St er W r he i sc m de

Stadt

4 Seit wann joggen / walken Sie in Jahren?

Anzahl der Befragten

Land

Land

20 14

15

9

10 5 0

77

7 5

6

4

7 5

4

2

2

3

4 2

0

1

2

3

5

7

10

15

20

2

1

25

2

1

30

2

35

466 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

3 1

40

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Stadt

Anzahl der Befragten

5 Treiben Sie außerdem noch Sport?

20 15

15

1010

10

10

7

6 4

5 0

4 2

4

4

3

2

2 2

2

1

0

t t t s n n n n ic es or or or te re ze ge ob p p p r n i h n r t s s s a e a i t a r r t t f F Ae af te se or /T gs ad in as ik Kr er sp rr t s B h e t W W l af n/ Fa th er ch ta s d h n n a ic an W Le M

Stadt

6 Wie lange treiben Sie Sport in Jahren?

Anzahl der Befragten

Land

Land

20

17

15 99

10

7

5

3

0

00

00

1

2

1

2

3

2

6 3

7

6 2

3

2

2

0

3

5

7

10

15

20

25

30

35

Stadt

7.1 Jogging / W. wegen Gesundheit

Anzahl der Befragten

8

5

40

Land

50 40 30

37 29 21

20

13

10 0

Ja

Nein

467 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

7.2 Jogging / W. wegen akuter Beschwerden

50

47

45

40 30 20 10

5

3

0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

7.3 Jogging / W. wegen ärztlichen Anratens

Land

60 48

50

46

40 30 20 10

4

2

0

Ja

Nein

Stadt

7.4 Vorbeugung nach Krankheitserfahrung

Anzahl der Befragten

Land

50

45

Land

43

40 30 20 10 0

7

6

Ja

Nein

468 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Stadt

Anzahl der Befragten

7.5 Vorbeugung wegen Veranlagung

50

46

44

40 30 20 10

6

4

0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

7.6 Vorbeugung wegen Leistungserhalts

Land

50 40 30

27

27

23

23

20 10 0

Ja

Nein

7.7 Vorbeugung wegen Kostenerhöhung im Gesundheitswesen

Anzahl der Befragten

Land

Stadt

Land

60 49

50

50

40 30 20 10 0

1

0

Ja

Nein

469 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

7.8 Vorbeugung wegen Körpergewicht

50 40 30

29

27

23

20

21

10 0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

7.9 Vorbeugung wegen Bewegungsmangel

Land

50 40 30

30

28

22

20

20

10 0

Ja

Nein

Stadt

7.10 Vorbeugung wegen ärztlichen Anratens

Anzahl der Befragten

Land

Land

60 48

50

48

40 30 20 10 0

2

2

Ja

Nein

470 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Anzahl der Befragten

7.11 Jogging / W. wegen Entspannung / Ausgleich

50

Stadt

Land

48 42

40 30 20 8

10

2

Ja

Nein

7.12 Jogging / W. wegen Schönheit

Anzahl der Befragten

Land

60

0

50 40 30

27 23

27

23

20 10 0

Ja

Nein

Stadt

7.13 Jogging / W. wegen psychischer Gründe

Anzahl der Befragten

Stadt

Land

50 42

40

33

30 20 10 0

17 8

Ja

Nein

471 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

7.14 Jogging / W. wegen sozialer Gründe

50 40

33 28

30 22

20

17

10 0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

7.15 Jogging / W. und Naturerlebnis

Land

50 40 31

30

27 23 19

20 10 0

Ja

Nein

Stadt

8 Druck der Arbeitswelt bzgl. Gesundheit

Anzahl der Befragten

Land

Land

15 11

10

9

9

8

7

5 0

5

4

3

1

9

2

3

4

4

3 3

5

6

472 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Stadt

Anzahl der Befragten

9 Druck aus pers. Umfeld bzgl. Gesundheit

25 20 15

18 13

12

13

10 6

5

5

3 3

1

2

3

4

1

0

5

10 Einfluss d. gestiegenen Lebenserwartung bzgl. Gesundheit

Anzahl der Befragten

2

1

0

6

Stadt

Land

15 11

11

10

9 6

5

5

8 8

9

4

4

3

0

0

1

2

3

4

5

11 Druck d. Arbeitswelt auf Schönheit u. psychische Gründe

Anzahl der Befragten

Land

6

Stadt

Land

15 12

10 5

9

4

3

8 5

4

6 4

3

4 1

0

1

2

3

4

5

6

473 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Anzahl der Befragten

12 Druck d. Gesellschaft bzgl. Schönheit u. psychische Gründe

Stadt

Land

15 12

10

8

8

6

5

6

4

4

3

1

2

3

4

5

Anzahl der Befragten

13.1 Gesunde Ernährung

6

Stadt

Land

Stadt

Land

50 40

41 36

30 20

14 9

10 0

Ja

Nein

13.2 Saunabesuche

Anzahl der Befragten

3

2

1

0

4

50 40

37

30 20

24

26

13

10 0

Ja

Nein

474 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Stadt

Anzahl der Befragten

13.3 Entspannungstechniken

50 40

40

40

30 20 10

10 0

10

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

13.4 Geistige Einstellung

Land

50 40 30

30 20

28

22

20

10 0

Ja

Nein

Stadt

13.5 Kontrolle / Vorsorgeuntersuchungen

Anzahl der Befragten

Land

Land

50 42

40

39

30 20 10 0

11

8

Ja

Nein

475 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

13.6 Kuren / Fasten

60 49

50

50

40 30 20 10

1

0

0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

13.7 Jogging / Walking einziger Einsatz

Land

60 50

50

50

40 30 20 10 0

0

0

Ja

Nein

Stadt

14 zu 13 Seit wann in Jahren?

Anzahl der Befragten

Land

Land

10 7 66

5

6

5

5 4

4 3 2

11

0

11

1

11

1 0

1

2

3

5

7

11

1 0

0

10

15

20

15 Bewertung Erfolg Ihres Fitness- und Gesundheitsverhaltens

25

30

35

Stadt

40

Land

476 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Anzahl der Befragten

16 Bewertung Aufwand Ihres Fitness- und Gesundheitsverhaltens

Stadt

20 16 14

15

13

13 10

10

9

9

6

5

3

2 0

0

1

1

2

3

4

5

6

Stadt

17 Betreiben Sie Ihren Sport gerne?

Anzahl der Befragten

Land

Land

25 20

18 14

15 11 11

10

9

8 6

6 4

5 0

4

3 0

1

2

3

4

5

6

477 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Yoga Stadt

Anzahl der Befragten

1 Geschlecht

50

44

43

40 30 20 10

7

5

0

m

w

Stadt

2 Alter

Anzahl der Befragten

Land

Land

25 20

18

17

15

13

12

17

13

10

10

4

4

5 1

0

te un

4

2 2 0

0 r2

0 0

te un

0 r3

te un

0 r4

te un

0 r5

te un

0 r6

te un

0 r7

te un

0 r8

478 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

er üb

80

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Stadt

Anzahl der Befragten

3 Formelle Bildung

20

17 14

15

12

10

8

5

8

13 8 8

7

3 0 0

0

sc ab

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W

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ak

a

ng um ga di e u d St er W r he i sc m de

Stadt

4 Seit wann betreiben Sie Yoga in Jahren?

Anzahl der Befragten

Land

Land

15 10 5

11 10 8

8

7

11

6

5

5

10

4 2

0

1

2

3

5

7

10

3 1

15

2 0

20

1

2

25

0

1

30

00

00

35

40

479 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

5 Treiben Sie außerdem noch Sport?

25 19

20

18

15 10

7

66

6

5

4

5

2 0

0

bi

ro Ae

c

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0

s a Kr

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M

1

or

00

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0

r ta or sp

2

1

te

1

0

n W

as

se

p rs

2

t or

Stadt

6 Wie lange treiben Sie Sport in Jahren?

Anzahl der Befragten

Land

Land

15 10

8 6

5

5 0

0

1

1

22

9 6

3

2

4

6 4

5 3

3

5

7

10

15

20

0

25

Anzahl der Befragten

30

35

Stadt

7.1 Yoga wegen Gesundheit

33

30

30 20

17

20

10 0

Ja

40

Land

50 40

6

2

1

0

2

5

44

Nein

480 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Stadt

Anzahl der Befragten

7.2 Yoga wegen akuter Beschwerden

50 40

40

41

30 20 10

10

0

9

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

7.3 Yoga wegen ärztlichen Anratens

50

Land

46 39

40 30 20 10 0

4

1

Ja

Nein

Stadt

7.4 Vorbeugung nach Krankheitserfahrung

Anzahl der Befragten

Land

Land

50 42

40

37

30 20

13 8

10 0

Ja

Nein

481 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

7.5 Vorbeugung wegen Veranlagung

50 38

40

36

30 20

14

12

10 0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

7.6 Vorbeugung wegen Leistungserhalts

Land

50 40 30

27

24

26

23

20 10 0

Ja

Nein

7.7 Vorbeugung wegen Kostenerhöhung im Gesundheitswesen

Anzahl der Befragten

Land

Stadt

Land

60 48

50

48

40 30 20 10 0

2

2

Ja

Nein

482 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Stadt

Anzahl der Befragten

7.8 Vorbeugung wegen Körpergewicht

50

46

40

37

30 20 10

13 4

0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

7.9 Vorbeugung wegen Bewegungsmangel

Land

50 40 30

29

28 21

20

22

10 0

Ja

Nein

Stadt

7.10 Vorbeugung wegen ärztlichen Anratens

Anzahl der Befragten

Land

50

47

Land

46

40 30 20 10 0

4

3

Ja

Nein

483 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Anzahl der Befragten

7.11 Yoga wegen Entspannung / Ausgleich

50

46

Stadt

Land

43

30 20 10

7

4

Ja

Nein

7.12 Yoga wegen Schönheit

Anzahl der Befragten

Land

40

0

50 38

40

35

30 20

15

12

10 0

Ja

Nein

Stadt

7.13 Yoga wegen psychischer Gründe

Anzahl der Befragten

Stadt

Land

50 40 31

30 20

30

20

19

10 0

Ja

Nein

484 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Stadt

Anzahl der Befragten

7.14 Yoga wegen sozialer Gründe

60 49

50

44

40 30 20 10

6 1

0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

7.15 Yoga wegen geistiger Gründe

Land

50 40 30

29

27 23

21

20 10 0

Ja

Nein

Stadt

8 Druck der Arbeitswelt bzgl. Gesundheit

Anzahl der Befragten

Land

Land

15 12

10

8 6

6

5

5

3 1

0

1

9

8

2

3

5

4 2

4

5

6

485 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

9 Druck aus persönl. Umfeld bzgl. Gesundheit

15 12

11

10

10

11

10

5

4

4 1

0

1

2

3

4 1 1

4

Anzahl der Befragten

1

5

10 Einfluss d. gestiegenen Lebenserwartung bzgl. Gesundheit

6

Stadt

Land

15 12 10

10 7

5

11

6

3 3

3

4

4 4

1

0

1

2

3

4

5

11 Druck d. Arbeitswelt auf Schönheit u. psychische Gründe

Anzahl der Befragten

Land

6

Stadt

Land

10 8 6

6

6 5

5

5 4

3 2

0

1

2

3

2

2

4

2

5

6

486 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Anzahl der Befragten

12 Druck der Gesellschaft auf Schönheit u. psychische Gründe

Stadt

Land

10 8 6 5

5

5

4 4

4

4

3 2 2 1

0

1

2

3

4

5

Anzahl der Befragten

13.1 Gesunde Ernährung

50 40

Stadt

Land

Stadt

Land

45 38

30 20 12

10

4

0

Ja

Nein

13.2 Saunabesuche

Anzahl der Befragten

6

50 40

34

37

30 20

16

13

10 0

Ja

Nein

487 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Stadt

Anzahl der Befragten

13.3 Kontrolle / Vorsorgeuntersuchungen

50 40 30

30

30 20

20

20

10 0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

13.4 Kuren / Fasten

Land

60 50

50

49

40 30 20 10

1

0

0

Ja

Nein

Stadt

13.5 Wellness / Massagen

Anzahl der Befragten

Land

Land

60 49

50

48

40 30 20 10 0

2

1

Ja

Nein

488 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung

Stadt

Anzahl der Befragten

13.6 Yoga einziger Einsatz

60 50

50

50

40 30 20 10 0

0

0

Ja

Nein

Stadt

Anzahl der Befragten

14 zu 13 Seit wann in Jahren?

Land

15 10

8

5

3 1

0

1

0

1

2

5

4

33

9

8

7 4

5 3

2

11

3

5

44

3

2

2 0

7

10

15

20

25

30

15 Bewertung Erfolg Ihres Fitness- und Gesundheitsverhaltens

Anzahl der Befragten

Land

35

40

Stadt

Land

25 20

20 15

13 9

10

7

6

5

4

5 1

0

10 8

8

0

1

2

3

4

5

6

489 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

Anhang

Anzahl der Befragten

16 Bewertung Aufwand Ihres Fitness- und Gesundheitsverhaltens

Stadt

Land

25 20

18 18

15

13 9

10

5

4

5 0

1

5

5 3

3

2

2

3

4

5

Anzahl der Befragten

6

Stadt

17 Betreiben Sie Ihren Sport gerne?

50

2

Land

45

43

40 30 20 10 0

7

Ja

5

Nein

490 https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

https://doi.org/10.5771/9783495817193 .

https://doi.org/10.5771/9783495817193 .