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German Pages 554 [556] Year 2016
Wilhelm Köller Formen und Funktionen der Negation
Wilhelm Köller
Formen und Funktionen der Negation Untersuchungen zu den Erscheinungsweisen einer Sprachuniversalie
ISBN 978-3-11-045284-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-045533-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045288-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn. Johann Wolfgang von Goethe
Wo ist die Weisheit, die wir im Wissen verloren haben? Wo ist das Wissen, das wir in der Information verloren haben? T. S. Elliot
Jedes Problem wird unlösbar, wenn man es zu lange betrachtet. Erwin Chargaff
Wer alles durchschaut, sieht nichts mehr. Clive Stapels Lewis
Ja = Nein. Der Unterschied liegt in der Frage. Stanisław Jerzy Lec
Nur kleine Rätsel haben eine einzige Lösung. Erwin Chargaff
Inhaltsverzeichnis 1
Der Problemzusammenhang � 1
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Die Negation als Sprachuniversalie � 3 Die ontologischen Aspekte der Negation � 9 Die anthropologischen Aspekte der Negation � 13 Die semiotischen Aspekte der Negation � 18 Die pragmatischen Aspekte der Negation � 23
2
Die Negation als Evolutionsphänomen � 29
2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4
Der Evolutionsgedanke � 30 Die ontologischen Implikationen des Evolutionsgedankens � 30 Lamarck und Darwin � 32 Das Konzept der kulturellen Evolution � 35 Gene und Meme � 39
2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4
Die Negation und der Grenzgedanke � 42 Formen und Funktionen von Grenzen � 43 Assimilation und Akkommodation � 47 Phylo- und Ontogenese � 50 Der Umgang mit Grenzen � 51
2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3
Die Ausdifferenzierung von Negationsmöglichkeiten � 54 Gestische Negationsverfahren � 55 Die Negation im Spracherwerb � 57 Funktionen von Negationen in der Evolution der Kultur � 60
2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4
Die sinnstiftende Kraft von Negationen � 62 Die Negation als Kategorie des Werdens � 62 Die Negationsimplikationen des Opfers � 64 Die Negationsimplikationen des Spiels � 65 Die Negationsimplikationen der Kunst � 67
3
Die Negation als System- und Strukturphänomen � 72
3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3
Negation und Logik � 73 Negation und klassische Logik � 74 Negation und semiotische Logik � 78 Funktionen von Negationen in Denkprozessen � 83
VIII � Inhaltsverzeichnis 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3
Negation und Erkenntnistheorie � 84 Die Verschränkungen von Objekt- und Subjektsphären � 85 Die Genese des Wissens � 86 Fortschritte in den Wissenschaften � 88 Negation und Psychologie � 91 Negationen als Reaktionshandlungen � 91 Doppelte Negationen � 95 Negationen bei der Wissensbildung � 100 Negation und Konstruktivismus � 106 Negation und Pragmatik � 109 Die Negation als Sprechakt � 111 Verbote und Gebote � 116 Das Spracherneuerungspotenzial von Negationen � 119
4
Explizite sprachliche Negationsformen � 121
4.1 4.1.1 4.1.2 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4
Das Funktionspotenzial expliziter Negationsformen � 122 Die dialogischen Aspekte von Negationsformen � 123 Wahrnehmungsweisen für Negationsformen � 124 Die selbstständigen Negationswörter � 126 Die Negation mit nein � 128 Die Negation mit nicht � 134 Die Negation mit nichts � 139 Die Negation mit niemand � 142 Die Negation mit kein � 145 Die Negation mit ohne � 150 Unselbstständige Negationsaffixe � 153 Die Funktion von Negationspräfixen � 155 Das Negationspräfix un- � 157 Negationshaltige Präfixe � 160 Die Sinnbildungsfunktionen von Negationssuffixen � 163
5
Das Negationsproblem in der Begriffsbildung � 167
5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.2 5.2.1 5.2.2
Begriffe und Begriffssysteme � 169 Struktur und Funktion von Begriffen � 170 Oppositionsbegriffe � 173 Begriffsfelder � 177 Privativa � 180 Wahrnehmungsweisen für Privativa � 180 Kulturgeschichtliche Aspekte von Privativa � 182
Inhaltsverzeichnis � IX 5.2.3 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4
Wüste, Schatten und Loch als Privativa � 186 Der Begriff Nichts � 189 Zur Genese des Substantivs Nichts � 192 Sprachspiele mit dem Worte Nichts � 195 Heideggers und Carnaps Reflexionen über das Nichts � 198 Die möglichen Sinnimplikationen des Begriffs Nichts � 202
6
Implizite sprachliche Negationsformen � 210
6.1 6.1.1 6.1.2 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5 6.3.6 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5 6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3
Negationsimplikationen in lexikalischen Sprachformen � 212 Sprachgeschichtlich bedingte Oppositionsrelationen � 213 Mehrstellige Oppositionskonstellationen � 215 Negationsimplikationen im metaphorischen Sprachgebrauch � 217 Die Erschließungsfunktionen von Metaphern � 218 Das Substitutionsmodell � 221 Das Prädikationsmodell � 224 Das Interaktionsmodell � 228 Die Selbstbezüglichkeit von Metaphern � 232 Negationsimplikationen im ironischen Sprachgebrauch � 235 Die historischen Dimensionen des Ironiebegriffs � 236 Weinrichs Strukturmodell der Ironie � 241 Ironiesignale als Negationssignale � 243 Pragmatischen Funktionen der Ironie � 245 Erscheinungsformen ironischer Inkohärenzen � 248 Paradoxien als Inkohärenzphänomene � 252 Negationsimplikationen im modalen Sprachgebrauch � 257 Die Tempusformen � 260 Die Modusformen � 265 Der Konjunktiv I und II � 270 Die Modalwörter � 275 Die Modalpartikeln � 278 Das Schweigen � 283 Die phänomenologischen Aspekte des Schweigens � 285 Die Erscheinungsformen und Wirkungsweisen des Schweigens � 290 Die anthropologischen Aspekte des Schweigens � 296
7
Negationshaltige Textformen � 300
7.1 7.1.1 7.1.2
Der Aphorismus � 301 Genese und Funktion von Aphorismen � 303 Grenzziehungsfunktionen von Aphorismen � 308
X � Inhaltsverzeichnis 7.1.3 7.1.4 7.1.5 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.4 7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.4.4 7.4.5
Sinnbilder für Aphorismen � 311 Aphorismen als Formen des experimentellen Denkens � 314 Aphorismus und Wahrheit � 318 Der Witz � 320 Die Entwicklungsgeschichte des Witzbegriffs � 321 Die Pointe von Witzen � 325 Das Lachen als Reaktion auf Witze � 329 Die Selbstbezüglichkeitsstrukturen in Witzen � 336 Die Lüge � 340 Die Lüge in ethischer Sicht � 341 Die Lüge in anthropologischer Sicht � 346 Die Lüge in semiotischer Sicht � 351 Die Fiktion � 357 Die Fiktion als heuristisches Werkzeug � 358 Die Als-Ob-Struktur von Fiktionen � 360 Begriffliche Fiktionen � 363 Literarische Fiktionen � 368 Juristische Fiktionen � 374
8
Die Negation als Stilmittel � 383
8.1 8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.4 8.4.1 8.4.2 8.4.3
Die Herkunft und Entwicklung des Stilbegriffs � 385 Der Ursprung des Stilbegriffs � 386 Das neuzeitliche Stilverständnis � 387 Die semiotischen Aspekte der Stilproblematik � 389 Die stilistischen Implikationen von Negationen � 394 Stilanalysen im Dienste des Besser-Verstehens � 396 Negationsintentionen bei der Ausbildung von Stil � 398 Affirmationen als Negationen � 400 Die Negation als Spielphänomen � 402 Zur Phänomenologie des Spiels � 403 Der Sprachspielgedanke Wittgensteins � 408 Negationsformen als Ergebnisse und Prämissen von Stilformen � 413 Die ästhetischen Aspekte von Negationen � 417 Die Negation in der klassischen Ästhetik � 417 Die Negation in der semiotischen Ästhetik � 420 Der ästhetische Gebrauch des Negationswortes nicht � 423
9
Die Negation in Religion und Theologie � 427
9.1
Das Wahrheitsproblem im religiösen und theologischen Denken � 429
Inhaltsverzeichnis � XI 9.1.1 9.1.2 9.1.3 9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.4 9.4.1 9.4.2 9.4.3 9.4.4 9.5 9.5.1 9.5.2 9.5.3 9.5.4 9.6 9.6.1 9.6.2 9.6.3
Der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff � 429 Der kohärenztheoretische Wahrheitsbegriff � 433 Der pragmatische Wahrheitsbegriff � 434 Formen und Strukturen des religiösen Sprachgebrauchs � 437 Die sprachliche Bewältigung des Heiligen � 438 Der analogisierende Sprachgebrauch � 440 Religiöse Verbote und Gebote � 447 Der mystische Sprachgebrauch � 449 Die Sprachfremdheit der Mystik � 450 Die Sprachnähe der Mystik � 452 Der Negationsgebrauch im mystischen Sprechen � 455 Die Negation im theologischen Sprachgebrauch � 458 Die Zielorientierung des theologischen Sprachgebrauchs � 460 Der Negationsgebrauch bei transzendenten Denkinhalten � 463 Die Analogie des Seins (analogia entis) � 469 Der byzantinische Bilderstreit � 473 Die negative Theologie � 478 Der Denkansatz der negativen Theologie � 479 Die negative Theologie bei Pseudo-Dionysius Areopagita � 482 Die negative Theologie bei Nikolaus von Kues � 485 Die sprachtheoretische Bedeutsamkeit der negativen Theologie � 488 Die Schöpfung aus dem Nichts (creatio ex nihilo) � 494 Die erkenntnis- und sprachtheoretische Dimension der Formel � 494 Die Entstehungsgeschichte der Formel � 499 Die pragmatische Funktionalität der Formel � 501
10
Zusammenfassende Schlussbemerkungen � 506
Literaturverzeichnis � 515 Personenregister � 527 Sachregister � 532
1 Der Problemzusammenhang Wir können negieren, also können wir denken und kommunizieren, unsere Identität sichern sowie von den endlichen Mitteln unserer Sprache einen unendlichen Gebrauch machen. Mit dieser Variation der bekannten These von Descartes über das Denken als Grundlage der menschlichen Selbstgewissheit (cogito ergo sum) sowie durch ihre Anreicherung mit Humboldts Grundthese zur Funktionsflexibilität von natürlich gewachsenen Sprachen lässt sich sehr gut auf die zentralen Ziele des vorliegenden Buches aufmerksam machen. Es soll hier vornehmlich weniger um eine Bestandsaufnahme unserer konventionalisierten sprachlichen Negationsformen und deren Funktionen gehen, sondern vielmehr eher um die Erfassung des pragmatischen Stellenwerts des Negationsphänomens im geistigen Leben bzw. um seine kognitive, kulturelle und anthropologische Bedeutsamkeit. Die pragmatische Relevanz der Negation lässt sich dabei recht gut dadurch kenntlich machen, dass man sie als eine Sprachuniversalie ins Auge fasst, die zugleich auch als eine Denk- und Lebensuniversalie anzusehen ist. Um die komplexen Erkenntnisinteressen an dem Phänomen der Negation in einem konkreten Vorstellungsbild zu bündeln, bietet es sich an, die Denkfigur des homo negans einführen. Mit diesem Konzept lässt sich der Mensch nämlich als ein Lebewesen kennzeichnen, bei dem die Fähigkeit ganz besonders vielfältig ausgeprägt ist, sehr unterschiedliche semiotische Negationsformen zu entwickeln und flexibel zu verwenden. Dabei eröffnet dann gerade die Ausbildung von verbalen Negationsformen natürlich erheblich mehr pragmatische Sinnbildungsmöglichkeiten als die von rein gestischen Abwehrzeichen. Die Bestimmung des Menschen als eines negationsfähigen Wesens par exellence tritt sicherlich in eine gewisse Konkurrenz zu seiner Qualifizierung als spielendes Wesen (homo ludens), als denkendes Wesen (homo cogitans), als lachendes Wesen (homo ridens), als fragendes Wesen (homo interrogans), als werkzeugverwendendes Wesen (homo faber), als geselliges Wesen (animal sociale) oder als zeichennutzendes Wesen (animal symbolicum). Wenn man die Denkfigur des homo negans in Anspruch nimmt, dann muss man sich natürlich bewusst machen, dass dieses Sinnbild mit den anderen genannten anthropologischen Konzepten eigentlich nicht in einem ausschließenden, sondern eher in einem akzentuierenden Relationszusammenhang steht, da sich ja alle irgendwie überlappen bzw. implizieren. Dieses begriffliche Strukturverhältnis tritt gerade bei der Denkfigur des homo negans ganz besonders deutlich hervor, da diese insbesondere zu der des homo cogitans, des homo ludens oder des animal symbolicum nicht in einer ausgrenzenden, sondern vielmehr in einer hervorhebenden und ergänzenden Unterscheidungsrelation steht. Es ist
2 � Der Problemzusammenhang nämlich recht offensichtlich, dass die Fähigkeit des Menschen zur Ausbildung und Nutzung von sprachlichen Negationsformen dessen kognitive, spielerische und semiotische Fähigkeiten nicht nur voraussetzen, sondern diese zugleich auch immer umfassender und differenzierterer ausprägen können. Diese Wahrnehmungsweise von Negationen erscheint unserem klassifizierenden begrifflichen Denken vielleicht etwas fremdartig, wenn nicht sogar paradox. Dem kulturhistorischen bzw. evolutionären Denken ist sie dagegen durchaus vertraut. Für dieses Denken ist nämlich sowohl unsere geistige als auch unsere biologische Welt ganz fundamental dadurch gekennzeichnet, dass gegebene Grenzziehungen, Denkmuster und Wahrnehmungsweisen immer nur einen vorläufigen Bestand haben, insofern sie fortlaufend transformiert und variiert werden müssen, um als lebensdienliche Formen dauerhaft bestehen zu können. Als einer Sprachuniversalie können wir der Negation nur dadurch wirklich gerecht werden, daß wir ihren Funktionswert nicht nur in der verengten Wahrnehmungsperspektive für geschlossene Zeichensystemen zu erfassen versuchen, sondern vielmehr in der viel weiteren für offene, in der man sich für die Sprache vor allem als sinnbildendes Interaktionsmittel zwischen Mensch und Mensch sowie zwischen Mensch und Welt interessiert. Um diese mit Negationen verbundenen sehr komplexen Korrelations- und Strukturzusammenhänge vorerst einmal programmatisch und damit natürlich auch etwas global ins Auge zu fassen, wird nun folgender Weg beschritten. Ausgehend von der Basisthese, dass sich die Negation als eine Denk- und Sprachuniversalie ansehen lässt, wird zunächst versucht, die ontologischen, anthropologischen, semiotischen und pragmatischen Aspekte der Negation zu skizzieren, um eben dadurch kenntlich zu machen, wie vielschichtig und sinnträchtig das Negationsphänomen ist. Methodisch wird dabei dem gestaltpsychologischen und hermeneutischen Prinzip gefolgt, dass man bei wahrzunehmenden Phänomenen zunächst immer etwas Ganzes erfassen muss, um hernach dann deren Details besser erkennen zu können. Dabei ist natürlich zu beachten, dass das Erfassen von Einzelheiten wieder Rückwirkungen auf eine klarer durchstrukturierte Wahrnehmung des Ganzen hat. Bei diesem etwas zirkelhaften Verfahren ergeben sich dann natürlich immer wieder spezifizierende Bezüge zu bereits Gesagtem. Dadurch kann sich aber durchaus die prägnante Wahrnehmung des Ganzen erhöhen, weil sich nun sowohl die Wahrnehmungsbreite als auch die Wahrnehmungstiefe für das Negationsphänomen verbessert. In unserem Fall verknüpft sich damit außerdem die Hoffnung, dass die Negation nicht nur als ein Phänomen verstanden wird, das zur Sprache als logisch geschlossenes Zeichensystem gehört, sondern auch als eines, das zur Sprache als operativ offenes Zeichensystem gehört, nämlich zur Sprache als polyfunktionales Sinnbildungsmittel bzw. als Lebensform.
Die Negation als Sprachuniversalie � 3
1.1 Die Negation als Sprachuniversalie Mit dem Begriff Sprachuniversalie, der zugleich auch den Begriff Denkuniversalie spezifiziert und konkretisiert, fasst man üblicherweise diejenigen sprachlichen Formen zusammen, die aus systemtheoretischen oder aus pragmatischen Gründen in allen Sprachen vorkommen müssen, damit diese ihre vielfältigen kognitiven und kommunikativen Funktionen erfüllen können. In diesem Zusammenhang ist dann natürlich auch zu beachten, dass nicht nur Verbalsprachen Universalien haben müssen, sondern im Prinzip alle komplexen Zeichensysteme. So benötigt beispielsweise das Zeichensystem der Mathematik Zeichen für Größen bzw. für Zahlen sowie Zeichen für Operationen, die mit den jeweiligen Größen vorgenommen werden können oder sollen (Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division usw.). Verbale Zeichensysteme benötigen dementsprechend spezifische Zeichen für Denkinhalte (Inhaltszeichen, autosemantische Zeichen, lexikalische Zeichen) und spezifische Zeichen für Denkoperationen, die mit den jeweiligen Inhaltszeichen faktisch vorgenommen werden können oder sollen (Funktionszeichen, synsemantische Zeichen, grammatische Zeichen). Da nun grammatische Zeichen als genuin strukturbildende Zeichen anzusehen sind, stellt sich die Frage, ab welcher Abstraktionsebene bestimmte grammatische Zeichentypen als Sprachuniversalien anzusehen sind und ab welcher nur als sprach- oder kulturspezifische Differenzierungsmuster, die eigentlich keinen universalen Geltungsanspruch stellen können. Beispielsweise wird man den Zeichentyp Konjunktion als interpretierendes Verknüpfungszeichen für unterscheidbare Denkinhalte sicherlich als eine sprachliche Universalie ansehen können, aber einzelsprachlichen Konjunktionstypen mit ihren ganz speziellen Korrelationsfunktionen wohl nicht. Das exemplifiziert sich sehr schön dadurch, dass die deutsche Konjunktion wenn im Englischen entweder mit der temporalen Konjunktion when oder mit der konditionalen Konjunktion if zu übersetzen ist. In ähnlicher Weise lässt sich auch die Existenz von Wortarten und Satzgliedern wohl als eine Sprachuniversalie ansehen, aber die Existenz von ganz bestimmten Wortarttypen bzw. Satzgliedtypen wohl eher nicht, da diese durchaus sprachspezifisch ausfallen können. Im eingeschränkten Rahmen der indogermanischen Sprachen ließe sich vielleicht auch die Unterscheidung von Substantiven, Verben und Adjektiven als eine Sprachuniversalie betrachten, da sie ja mit den uns sehr vertrauten ontologischen Unterscheidungen von Substanzen, Vorgängen und Eigenschaften harmoniert. Ein Blick auf andere Sprachfamilien zeigt dann aber, dass diese ontologischen Unterscheidungen für das abendländische Denken zwar eine konsti-
4 � Der Problemzusammenhang tutive Rolle spielen, aber keineswegs für alle Kulturen und Sprachen. Schon innerhalb der indogermanischen Sprachen zeigt sich eine unterschiedliche Flexibilität bei der Zuordnung von Denkinhalten zu Wortarten. So fällt beispielsweise im Deutschen als einer Artikelsprache die Umwandlung von Verben in Substantive sehr leicht (laufen, das Laufen, der Lauf), während sie im Lateinischen als einer artikellosen Sprache sehr viel schwerer zu bewerkstelligen ist. Hier müssen bei Wortartwechseln morphologische Eingriffe in die Sprache vorgenommen werden, die sehr viel weitreichender sind als die Herstellung bestimmter syntaktischen Kombinationen von bereits gegebenen sprachlichen Einzelzeichen. In Analogie zu diesen Strukturverhältnissen lässt sich das Phänomen Negation sicherlich als eine Strukturuniversalie ansehen, ohne die sowohl aus systemtheoretischen als auch aus pragmatischen bzw. funktionalen Gründen eigentlich keine Sprache auskommen kann. Das Prinzip der Negation ist nicht nur in sprachlichen, sondern in allen sozialen Handlungsprozessen so tief verwurzelt, dass man sich eine flexibel nutzbare Sprache ohne die Existenz und den Gebrauch von Negationsmitteln gar nicht mehr vorstellen kann. Das heißt nun aber nicht, dass neben dem Prinzip der Negation auch alle einzelnen Negationsformen den Status einer Sprachuniversalie hätten, denn diese können sich hinsichtlich ihrer Menge, ihren Erscheinungsweisen und ihres Funktionsprofils von Sprache zu Sprache erheblich unterscheiden. Sicherlich braucht man in allen Sprachen bei der Beantwortung von Fragen nicht nur das Affirmationswort ja, sondern auch das Negationswort nein, aber wie letzteres funktional durch andere Negationswörter intensitätsmäßig modifiziert werden kann (vielleicht, möglicherweise, jein, na ja) kann sich in den einzelnen Sprachen dann doch ziemlich unterschiedlich gestalten. Ausgeschlossen ist allerdings nicht, dass es in einzelnen Kulturen und Sprachenfamilien bestimmte Negationsmittel gibt, denen man vielleicht den Status einer Universalie mit einem sprachtypologisch begrenzten Geltungsanspruch zubilligen könnte. Mit der These, dass das Negationsprinzip insgesamt als eine Sprachuniversalie anzusehen ist, dass aber die einzelnen Negationsformen durchaus einen sprach- und kulturspezifischen Charakter haben können, ist der sprachtheoretische Status der Negationsproblematik nun aber keineswegs geklärt, sondern allenfalls thematisiert. Die Bestimmung der Negation als Sprachuniversalie ist nämlich im Grunde weniger als eine Antwort zu verstehen, sondern eher als eine Frage. Wir sind nun nämlich dazu gezwungen, uns genauere Rechenschaft darüber abzulegen, was wir konkret meinen, wenn wir von Negationen und Negationsfunktionen sprechen, und ob es überhaupt zulässig bzw. sinnvoll ist, bei Negationen unterschiedliche Abstraktionsgrade, Bezugsbereiche, Intensitätsgrade und kulturspezifische Ausprägungsformen anzunehmen.
Die Negation als Sprachuniversalie � 5
Auf den ersten Blick sind wir wahrscheinlich geneigt, die pragmatischen Funktionen von Negationen im Denkrahmen einer klaren Opposition von ja und nein zu verstehen wie sie z. B. in der Mathematik durch den Gebrauch der Zeichen + und ‒ zu Ausdruck kommen. Das würde die Interpretationsbedürftigkeit von Negationsformen natürlich sehr herabsetzen. Eine genauere Betrachtungsweise zeigt dann aber, dass diese Opposition zwar eine erste Grundorientierung für das Verständnis von Negationen ermöglicht, aber keineswegs ein umfassendes Verständnis dieses Phänomens hinsichtlich seiner sehr vielfältigen Erscheinungsweisen, Aspekte und Funktionen. Gerade wenn wir die Negation als eine Sprachuniversalie ansehen, dann müssen wir ihre einzelnen Funktionsmöglichkeiten sehr viel differenzierter ins Auge fassen. Dabei haben wir dann insbesondere auch zu klären, wie wir eine solche These entstehungsgeschichtlich und pragmatisch rechtfertigen können. Dieser Ansatz hat dann gleichzeitig auch einen sehr heilsamen sprachwissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Nebeneffekt. Man kann sich in diesem Denkrahmen nicht mehr auf vereinfachende Weise nur noch mit dem Systemgebilde Sprache beschäftigen und mit den in ihr vorkommenden Formen und deren Funktionen. Vielmehr muss man auf sehr grundsätzliche Weise auch nach den lebensdienlichen bzw. pragmatischen Aufgaben sprachlicher Formen aller Art fragen. Die Sprache darf in dieser Perspektive nicht mehr nur als ein mehr oder weniger autonomes Systemgebilde von Zeichen wahrgenommen werden, sondern muss zugleich immer auch als eine umfassende Kultur- und Lebensform ins Auge gefasst werden, die mit anderen in einem dialogischen Interaktionsverhältnis steht. Unter diesen Umständen tritt dann natürlich die Negation nicht mehr nur als eine reine Sprachuniversalie in Erscheinung, sondern zugleich immer auch als eine Denk- und Kulturuniversalie. Gerade wenn man das Denken und Sprechen nicht darauf beschränkt, Vorgegebenes auf abbildende Weise zu objektivieren, sondern diesen Aktivitäten die umfassendere Aufgabe zuordnet, mögliche Denk- und Erfahrungsinhalte zu erschließen, zu strukturieren und über Zeichen intersubjektiv verständlich zu machen, dann darf man die Sprache nicht mehr nur als ein Systemgebilde wahrnehmen, sondern muss sie vielmehr auch als ein Perspektivierungsmittel ins Auge fassen. Das bedeutet, dass unser Nachdenken über Sprache methodologisch eigentlich immer durch einen prinzipiellen Skeptizismus geprägt sein muss, dem kein Dogma endgültige Schranken auferlegen darf. Das stützt dann auch die Auffassung, dass die Negation nicht nur als eine Sprach-, Denk- und Kulturuniversalie zu werten ist, sondern auch als eine anthropologische Universalie, die in allen biologischen und kulturellen Evolutionsprozessen eine konstitutive Rolle gespielt hat und weiterhin auch spielen wird. So gesehen gehört dann das Negationsprinzip ebenso wie das Frage-, Interaktions-, Arbeits- und
6 � Der Problemzusammenhang Lernprinzip nicht nur zu den genuinen Lebensformen der Menschen, sondern auch zu deren unabdingbaren Überlebensstrategien in Evolutionsprozessen. Wenn man dieser Sichtweise folgt, dann darf die Negation natürlich nicht nur ein Interessensgegenstand der Sprachwissenschaft und Logik sein, sondern muss vielmehr die Aufmerksamkeit aller Wissenschaften auf sich ziehen, die sich mit Relations-, Kultur- und Sprachphänomenen beschäftigen. Überall, wo es darum geht, Unterscheidungen zu treffen, etwas mit etwas anderem in Beziehung zu setzen, Grenzen zu ziehen und auch zu überschreiten, da spielen Negationen immer eine ganz wichtige sinnbildende Rolle. Dementsprechend muss die Negation dann auch als ein genuin semiotisches Phänomen verstanden werden, sofern man die Semiotik als diejenige Wissenschaft versteht, die sich mit dem Problem zu beschäftigen hat, wie sich Sinn mit Hilfe von Zeichen bilden und intersubjektiv vermitteln lässt. Außerdem tragen Negationen sicherlich auch in einem sehr hohen Maße zur menschlichen Identitätsbildung bei. Wer negieren kann, der kann perspektivisch wahrnehmen und denken. Er kann sich intentional auf eine Sache, auf seine objektivierenden Zeichen, auf andere Menschen und auf sich selbst beziehen und eben dadurch zu einer eigenständigen und profilierten Größe werden. Er kann nicht nur Inhalte passiv registrieren und reproduzieren, sondern auch gestalten, da er diese in neuartige Relationszusammenhänge einzubetten weiß. Man ist nicht nur so, wie man sachhaltig denken kann, sondern auch so, wie man operativ zu negieren vermag. Über die Frage nach der Ausbildung und den Gebrauch von Negationsformen ergeben sich dann also nicht nur Aufschlüsse über die Intentionen des menschlichen Denkens und Sprechens, sondern auch Hinweise auf die dahinterstehenden Emotionen und Wertehierarchien. Der Verstand braucht Negationen, weil er primär analytisch orientiert ist und etwas sowohl sachlich als auch sprachlich von etwas anderem unterscheiden will. Die Vernunft braucht Negationen, weil sie bestrebt ist, nicht nur das Einzelne zu erfassen, sondern auch das Ganze, in dem das Einzelne jeweils eingebettet ist. Deshalb gehören Negationen nicht nur zu den sachthematischen Denkverfahren des Verstandes, sondern auch zu den reflexionsthematischen Denkverfahren der Vernunft. Wer nicht verneinen kann, der kann auch nicht in umfassender Weise in Alternativen denken bzw. Utopien entwickeln. Wer nur verneinen oder in Frage stellen kann, der übersieht leicht die Besonderheit und Dignität des Individuellen, weil seine Denkmuster sehr schnell zu dogmatischen Maßstäben werden können, denen sich alle Einzelwahrnehmungen fügen müssen. Wer kontrastiv und relational denken und sprechen will, der braucht Negationen, weil er weiß, dass er seine jeweiligen Denkgegenstände sprachlich nicht immer direkt erfassen und objektivieren kann, sondern oft nur über Alternativen, Vorgestalten und Hilfskonstruktionen.
Die Negation als Sprachuniversalie � 7
Wenn wir mit Kant die Frage nach der Struktur der Welt letztlich nicht als Frage nach den Dingen an sich verstehen, sondern vielmehr als eine Frage nach der Struktur der Vernunft, über die wir uns die Dinge bzw. die Welt erschließen und auch vergegenständlichen können, oder wenn wir sie mit Peirce als eine Frage nach der Struktur der Zeichen verstehen, mit denen wir uns unsere Vorstellungen über die Welt interpretativ objektivieren und anderen vermitteln können, dann gehören sprachlichen Negationsverfahren und Negationsformen sicherlich zu den ganz grundlegenden Mitteln unserer Wissensbildung. Diese Mittel lassen sich dann allerdings kaum im Rahmen eines rein anatomischen Erkenntnisinteresses an der Sprache erfassen, sondern nur in einem sehr viel umfassenderen physiologischen. Der Titel des vorliegenden Buches ließe sich dementsprechend dann auch perspektivisch umdrehen: Funktionen und Formen der Negation. Jede pragmatisch wichtige Sprachfunktion braucht nämlich eine stabilisierende und stabilisierte Form, um auf intersubjektiv verständliche Weise wirksam werden zu können. Anatomisch orientierte Formwahrnehmungen und physiologisch orientierte Funktionswahrnehmungen müssen sich wechselseitig ergänzen. Die komplexen Sinnbildungsleistung von Negationen kann man nämlich nur dann wirklich erfassen, wenn man Formen im Spiegel von Funktionen wahrnimmt und Funktionen im Spiegel von historisch gewachsenen Formen. Wenn man nun aber sprachliche Formen und Funktionen letztlich als interaktive und sich wechselseitig bedingende Phänomene verstehen kann, dann lässt sich auch gut rechtfertigten, das Hauptinteresse hier auf ihr entwicklungsgeschichtliches, historisches und systematisches Zusammenspiel richten. Ähnlich wie Wohnbedürftige ein Haus brauchen und ein Haus Bewohner, so brauchen auch Sprecher Negationsformen und Negationsformen Sprecher, um sich als eigenständige Größen lebendig zu halten. Dieses wechselseitige Konstitutionsverhältnis zwischen Einzelgrößen lässt sich mit Franz Kafka auch paradox auf die Spitze treiben, wenn man sagt, dass der Vogel einen Käfig sucht und der Käfig einen Vogel. Ebenso wie man generell mit Humboldt davon ausgehen kann, dass die Sprache ein bildendes Organ des Denkens ist, so kann man auch speziell davon ausgehen, dass einzelne Negationsformen bildende Organe des Denkens sind, eben weil sich in ihnen eine ganz spezifische Gestaltungskraft des Denkens manifestiert. Ebenso wie man Sprachen insgesamt als Werkzeuge des experimentellen Denkens (cognitio experimentalis) ansehen kann, so kann man das insbesondere auch im Hinblick auf ihre Negationsformen. Diese gehören nämlich ganz ähnlich wie Metaphern zu den konstitutiven Möglichkeiten der natürlich gewachsenen Sprachen, sich selbst ständig zu korrigieren und zu erneuern. Beide Sprachformen haben gleichermaßen immer sowohl Bezüge zu sprachlichen Analyse- als auch zu sprachlichen Syntheseanstrengungen.
8 � Der Problemzusammenhang Wer nicht negieren kann, der ist leicht der Übermacht der aktuellen Eindrücke und Konventionen ausgesetzt, da er diese kaum transzendieren oder relativieren kann. Er sieht entweder nur Bäume und keinen Wald oder umgekehrt. Wer allerdings nur negiert, der ist immer der Gefahr ausgesetzt, nichts Konkretes mehr wahrzunehmen, insofern er ja alles durchschauen und relativieren kann. Wichtig ist nun, dass wir über sprachlich manifestierte Negationen einerseits zwar den Geltungsanspruch von ganz bestimmten Vorstellungen aufheben bzw. problematisieren können, dass wir andererseits aber gerade dadurch auch dazu motiviert werden, diese in ganz neue Zusammenhänge einzuordnen und dementsprechend auch umfassender zu verstehen. Dadurch können dann sprachliche Negationsformen ganz wesentlich zur Verbesserung von konkreten Wahrnehmungen beitragen. Rein gestische Abwehrstrategien, über die auch Tiere verfügen, erschöpfen sich dagegen in der Regel auf die sehr globale Zurückweisung von etwas, ohne diese auf differenzierte Weise zu spezifizieren, zu qualifizieren oder zu interpretieren. Wenn man die Negation in der beschriebenen Weise als eine sprachliche Universalie ansieht, mit der sowohl Analyse- als auch Synthesefunktionen verbunden sein können, dann muss man das faktische Inventar von sprachlichen Negationsmitteln natürlich immer als eine offene Menge von Einzelformen ansehen. Dieses umfasst dann sowohl schon konventionalisierte offensichtliche und verdeckte Negationsformen mit je unterschiedlichen Intensitäten und Bezugsbereichen als auch Negationsformen, die sich erst spontan über den konkreten faktischen Gebrauch anderer sprachlicher Zeichen konstituieren. Das bedeutet, dass Negationsformen nicht nur in das Reich unseres expliziten Sprachwissens fallen, sondern auch in das Reich unseres Sprachgefühls als einer Manifestationsform unseres impliziten Sprachwissens, das aus der praktischen Beherrschung von unterschiedlichen Sprachverwendungsweisen bzw. Sprachspielen resultiert. Negationen zu erfassen und in ihren Funktionen angemessen zu beurteilen, setzt deshalb ebenso wie das Verständnis von Metaphern und von Ironie immer ein sehr umfassendes Sprach- und Weltwissen voraus. Man muss also immer schon mehr als die etablierten Negationszeichen kennen, um faktische Negationsformen zu erfassen und sinnvoll zu verstehen. Um nun auf angemessene Weise für die vielfältigen Implikationen des Negationsproblems zu sensibilisieren, ist es nützlich, vor der systematischen Behandlung von einzelnen Negationsformen und Negationsfunktionen zunächst etwas näher auf die vielfältigen allgemeinen ontologischen, anthropologischen, semiotischen und pragmatischen Aspekte der Negationsproblematik einzugehen. Dadurch erschließen sich dann auch sehr viel besser die evolutionären, strukturellen und kulturellen Aspekte der Entwicklung und des Gebrauchs von konkreten sprachlichen Negationsformen und Negationsverfahren.
Die ontologischen Aspekte der Negation � 9
1.2 Die ontologischen Aspekte der Negation Obwohl in den bisherigen Überlegungen zum Negationsproblem schon ausdrücklich betont worden ist, dass die Negation als ein grammatisches Phänomen eigentlich nicht auf der Ebene des Seins anzusiedeln ist, sondern vielmehr auf der des Denkens und Kommunizierens über das Sein, so lohnt es sich dennoch, auf die Denkweisen und Argumente einzugehen, die versuchen, Negationen mit Hilfe des sprachlichen Abbildungsgedankens in den Griff zu bekommen und nicht mit Hilfe des sprachlichen Handlungsgedankens, bzw. die bestrebt sind, die Negationsproblematik auch als eine lexikalische Problematik wahrzunehmen und nicht nur als eine rein grammatische bzw. syntaktische. Allerdings hat nun schon Aristoteles ausdrücklich betont, dass Negationen eigentlich nichts direkt mit dem Sein selbst zu tun hätten, sondern nur etwas mit unseren Aussagen bzw. mit unseren behauptenden Urteilen über das Sein. Dafür macht er geltend, dass das Wahre und Falsche nicht in den Dingen selbst liege, sondern nur in den zutreffenden oder den nicht zutreffenden Verbindungen von Begriffen bzw. von Vorstellungen, die man im Denken über den Zusammenhang von Dingen herstelle.1 Das bedeutet dann natürlich, dass die Heimat der Negation im Prinzip immer in der Sphäre von Aussagen bzw. von Behauptungen liegt, aber nicht in der von Begriffen. Die Notwendigkeit, Negationen im Prinzip nicht seinstheoretisch, sondern handlungstheoretisch zu betrachten, ist im Laufe der Zeit immer unabweisbarer geworden. Der späte Wittgenstein hat das sehr klar akzentuiert. Er verweist nämlich ausdrücklich darauf, dass sprachliche Negationsformen als Manifestationen von Verneinungshandlungen evolutionär aus abweisenden Gebärden entstanden seien. Verneinen: eine ›geistige Tätigkeit‹. Verneine etwas, und beobachte, was du tust! ‒ Schüttelst du etwa innerlich den Kopf? Die Negation, könnte man sagen, ist eine ausschließende, abweisende Gebärde. Aber eine solche Gebärde verwenden wir in sehr verschiedenen Fällen.2
Die dennoch zu beobachtende Tendenz, die Negationsproblematik nicht nur als Handlungs-, sondern irgendwie doch auch als Seinsproblematik zu verstehen, hat unterschiedliche Wurzeln. Zum einen kann man in diesem Zusammenhang auf fiktive Begriffsbildungen verweisen (Einhorn, Nixe, Klabautermann). Deren �� 1 Aristoteles, Metaphysik 6.4, 1027 b, Philosophische Schriften, 1995, Bd. 5, S. 131f. 2 L. Wittgenstein, Philosophischen Untersuchungen, 1967, § 547, S. 179 und § 550, S. 180.
10 � Der Problemzusammenhang Eigenart besteht nämlich darin, dass man mit ihnen zwar sprachlich auf bestimmte vorstellbare Einzelphänomene verweisen kann, dass diese faktisch aber nicht in der Realwelt existieren, sondern allenfalls in Fiktivwelten. Das bedeutet dann, dass sich solche Begriffsbildungen hinsichtlich ihres konkreten Realitätsgehaltes gleichsam immer schon selbst dementieren bzw. negieren. In einzelnen Fällen kann dann allerdings durchaus ein Streit darüber entbrennen, wie realitätsgesättigt bestimmte lexikalische Begriffsbildungen faktisch sind bzw. wie fiktiv oder negationshaltig (Teufel, Hölle, Engel, Gott). Zum anderen kann man auch darauf verweisen, dass es neben den selbstständigen grammatischen Negationszeichen als grammatischen Handlungszeichen (nicht, kein, ohne) auch unselbstständige grammatische Negationszeichen gibt, die unmittelbar in bestimmte Begriffsbildungen zur Bezeichnung faktischer Tatbestände Eingang gefunden haben (Unrecht, missverstehen, heimatlos). Außerdem ist zu beachten, dass es in Form der sogenannten Privativa lexikalisch manifestierte Begriffsbildungen gibt, die ausdrücklich ganz bestimmte Mangelerscheinungen in der Realität thematisieren wollen (Loch, fehlen, leer). Am spektakulärsten ist in diesem Zusammenhang sicherlich die substantivische Begriffsbildung Nichts, die uns noch ausführlich beschäftigen wird. Die Versuchung, bestimmte Negationen nicht nur der Ebene des Denkens und Handelns, sondern auch der des Seins zuzuordnen, entspringt möglicherweise auch aus der ontologischen Grundüberzeugung, dass sich für uns die gegebene Welt grundsätzlich immer über klare, ontisch verstandene Oppositionsrelationen konstituiert (Leben‒Tod, wachen‒schlafen, gut‒schlecht). Solche begrifflichen Antonyme werden dann meist nicht auf die Bedürfnisse des strukturierenden Denkens zurückgeführt, sondern vielmehr ziemlich unmittelbar als sprachliche Repräsentationen von bestimmten Seinsformen verstanden bzw. als verlässliche Bezeichnungen für ontische Gegebenheiten. Gerade das klassifizierende wissenschaftliche Denken liebt nicht nur das Denken in klaren Begriffshierarchien, sondern auch das Denken mit Hilfe von klaren Oppositionsbegriffen. Der Gebrauch eines bestimmten Klassifikationsbegriffs verbietet bzw. negiert dann immanent die Möglichkeit, einen anderen zu verwenden, der derselben Abstraktionsebene angehört. Dabei wird dann allerdings oft übersehen, dass es in der Theorie natürlich immer sehr viel leichter als in der Realität fällt, bestimmte Grenzen zu ziehen bzw. konkrete Oppositionen zu postulieren. Ein typisches Exempel für dieses Problem ist die Entdeckung des sogenannten Schnabeltieres am Ende des 18. Jahrhunderts in Australien. Dieses konnte man nämlich wegen seiner spezifischen anatomischen und physiologischen Merkmale weder eindeutig der Klasse der Säugetiere noch der der Reptilien zuordnen, weil es sich einerseits über das Legen von Eiern fortpflanzte, aber andererseits seine Jungen auch auf eine ganz spezielle Art über die Absonderung
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eines Sekrets säugte, das die Jungtiere vom Fell des Muttertieres auflecken mussten. Das brachte dann natürlich nicht nur die Zoologen, sondern auch die Ontologen sehr durcheinander, weil die vertrauten Unterscheidungen bzw. die üblichen Bestätigungs- und Verneinungsstrategien bei der klassifizierenden wissenschaftlichen Begriffsbildung nicht mehr eindeutig griffen.3 Erst das entwicklungsgeschichtliche bzw. evolutionäre Denken machte dann auch dem klassifizierenden naturwissenschaftlichen Denken nachhaltig klar, dass unsere Begriffsbildungen keineswegs direkt mit ewigen Seinsformen korrespondieren, sondern vielmehr mit hypothetischen Denkformen zur sprachlichen Objektivierung von Erfahrungen. Das war allerdings schon lange vorher dem mittelalterlichen nominalistischen Denken durchaus vertraut gewesen. Ein anderes Motiv, das Negationsphänomen nicht nur im Denken, sondern auch irgendwie im Sein zu verankern, ergab sich daraus, dass man in bestimmten Denk- und Abstraktionsweisen bestrebt war, dem Sein eher eine dynamische Entfaltungsstruktur zuzuordnen als eine statische Ordnungsstruktur. Das dokumentiert sich beispielsweise darin, dass man im Anschluss an Hegel glaubte, dass sich das Sein nach dem Prinzip von These‒Antithese‒Synthese entfalte, wobei dann Synthesen durchaus wieder zu Thesen werden können, die neue Entwicklungsprozesse auslösen. Das schließt dann ein, dass eine konkrete Negation durchaus auch dazu provozieren kann, selbst wieder negiert zu werden (Negation der Negation). Dieses dialektische Denken versteht Negationen zwar zunächst durchaus noch als Denkformen, aber letztlich ist es dann doch der Überzeugung, dass Negationen irgendwie zum Entwicklungs- bzw. Entfaltungsrhythmus des Seins selbst gehörten, da sich in ihnen ein übergeordnetes strukturierendes Seinsprinzip repräsentiere. Diese Überzeugung ermöglicht es dann wiederum, die Negation letztlich nicht nur als eine bloße Denk-, sondern auf einer höheren Abstraktionsebene auch als eine Seinsform zu verstehen. Für die Frage nach den ontologischen Implikationen der Negation ist weiterhin die Idee der negativen Tatsache interessant, die insbesondere Russell beschäftigt hat, wobei er diesbezüglich allerdings zu keinem abschließenden Urteil gekommen ist. Das Denkkonzept der negativen Tatsache ist Russell insbesondere deshalb so wichtig gewesen, weil er es eng mit der Vorstellung von Wahrheit in einem korrespondenztheoretischen bzw. realitätsabbildenden Sinne verbunden sah.4 In diesem Wahrheitsverständnis gelten nämlich Sätze immer dann als wahr, wenn sie etwas aussagen, was tatsächlich der Fall ist bzw. was gegebenen Tatsachen entspricht. Dementsprechend kann dann die Aussage
�� 3 Vgl. U. Eco, Kant und das Schnabeltier, 2000, S. 277ff. 4 B. Russell, Die Philosophie des logischen Atomismus, 1976, S. 210ff.
12 � Der Problemzusammenhang ›Der Brief ist angekommen.‹ genauso wahr sein wie die Aussage ›Der Brief ist nicht angekommen.‹. Aus diesem Umstand hat Russell dann abgeleitet, dass es möglicherweise sowohl positive als auch negative Tatsachen geben könne, die sich jeweils mit Hilfe von positiv oder negativ formulierten Sätzen sprachlich objektivieren ließen. Gegen diese Denkposition kann man nun allerdings einwenden, dass es weder positive noch negativen Tatsachen gibt, sondern nur affirmierende oder negierende Aussagen. Durch eine negierende Aussage wird nämlich zunächst nur mitgeteilt, dass ein thematisierter Sachverhalt nach dem Kenntnisstand eines bestimmten Sprechers generell oder aktuell nicht existiert, aber keineswegs, dass ein Nicht-Sachverhalt existiert. Ontologisch wäre es außerdem höchst problematisch, positiv Vorhandenem und negativ Vorhandenem dieselbe Form von Existenz zuzubilligen. In diesem Fall würde sich nämlich das Inventar von gegebenen Tatsachen ins schier Unendliche vermehren. Außerdem ist auch zu beachten, dass sich negative Tatsachen gar nicht konkret beschreiben lassen, da sie ja eigentlich nur enttäusche individuelle Erwartungen repräsentieren. Diese Umstände haben dann auch einen Logiker zu folgender ironischen Feststellung inspiriert: Die Welt ist voll von Nicht-Elefanten. Diese Argumentation verdeutlicht, dass wir negierende Aussagen eigentlich nicht dazu benutzen, um eine gegebene negative Tatsache sprachlich zu objektivieren, sondern vielmehr dazu, um eine enttäuschte Erwartung bzw. eine nicht erfüllte Hypothese sprachlich zu artikulieren. Das beinhaltet, dass negierte Sätze im Prinzip nicht nur rein sachthematische bzw. objektbezogenen Informationen vermitteln wollen, sondern zugleich immer auch reflexionsthematische bzw. subjektbezogene Informationen, insofern sie ja auch enttäuschte Erwartungen des Sprechers sprachlich zu objektivieren versuchen. Mit Hilfe von Negationen werden so gesehen also nicht nur Informationen über den Zustand der Welt vermittelt, sondern zugleich immer auch Informationen über die Sicht des Sprechers auf die von ihm vorgefundene bzw. wahrgenommene Welt. Das lässt sich am Beispiel negierter Attribute sehr schön exemplifizieren. Ein bewohntes Haus unterscheidet sich in seiner rein physischen bzw. ontischen Gegebenheit nicht von einem unbewohnten Haus, aber sehr wohl hinsichtlich der Perspektiven und den Erwartungen, in denen ein Sprecher ein Haus wahrnimmt bzw. anderen davon Kenntnis geben will. Diese Überlegungen verdeutlichen, dass der Gebrauch von Negationen pragmatisch gesehen im Prinzip nicht dazu dient, negative Tatsachen zu objektivieren, sondern vielmehr dazu, bestimmte Hypothesen über die Existenz oder die Eigenart von denkbaren Phänomenen zu korrigieren. Wenn beispielsweise jemand danach fragt, welche Farbe ein bestimmtes Kleid habe, dann ist ihm mit der Antwort nicht sehr gedient, dass es nicht rot sei, selbst wenn damit ein un-
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bezweifelbarer und empirisch überprüfbarer Sachverhalt mitgeteilt wird. Eine solche Antwort ist nur dann pragmatisch sinnvoll, wenn vorab schon ganz klar ist, dass das Kleid nur eine rote oder eine weiße Farbe haben kann. Die Kenntnis sogenannter negativer Tatsachen mag sachlogisch bis zu einem gewissen Grade interessant und informativ sein, aber pragmatisch ist sie es in der Regel nicht. Diese These wird auch plausibel, wenn man sich beispielsweise die Frage stellt, ob oder wie man negative Tatsachen über ein optisch wahrnehmbares Bild objektivieren und vermitteln kann bzw. ob man negative Tatsachen fotografisch abbilden kann. Ein rotes Kleid oder ein Tisch mit einem Teller lässt sich sicherlich intersubjektiv sinnvoll und pragmatisch verständlich mit Hilfe eines visuell wahrnehmbaren Bildes objektivieren, aber ein nicht-rotes Kleid bzw. ein Tisch ohne einen Teller wohl schwerlich. Negationen müssen ontologisch und pragmatisch sinnvoll verwendet werden. Das geht nur, wenn man beachtet, dass sie funktional primär nicht dazu bestimmt sind, zur Mitteilung von Fakten beizutragen, sondern vielmehr dazu, bestimmte Wissensunsicherheiten in einem gegebenen Denkrahmen zu beseitigen. Deshalb ist die Aussage, dass die Tugend kein rotes Kleid trage, sicherlich wahr und unbezweifelbar, aber pragmatisch sinnlos, weil durch sie keine pragmatisch relevante Informationsunsicherheit beseitigt wird.
1.3 Die anthropologischen Aspekte der Negation Die Anthropologie als Lehre vom Menschen lässt sich auf der Basis unterschiedlicher Prämissen und Zielsetzungen betreiben. Daher kann sie in der Denkperspektive der Biologie, der Philosophie, der Theologie, der Kulturgeschichte, der Soziologie oder der Ökonomie eine je unterschiedliche konkrete Gestalt bekommen. Immer wird man aber zu beachten haben, dass die Anthropologie Bezüge zur konkreten Lebenswelt der Menschen herstellen muss bzw. zu den konkreten Formen, in denen Menschen ihr Leben gestaltet haben bzw. gestalten wollen. Dabei spielt die Sprache dann natürlich immer eine ganz dominierende Rolle, weil menschliche Lebewesen ohne deren Gebrauch inzwischen weder leben noch überleben könnten. Als sprachliche Universalie bzw. als ein grundlegender sozialer Habitus hat die Negation in allen anthropologischen Überlegungen sicherlich eine ganz zentrale Rolle zu spielen, insofern sie nicht nur eine lange evolutionäre Ausprägungsgeschichte aufzuweisen hat, sondern auch eine sehr aufschlussreiche kulturelle Ausdifferenzierungsgeschichte. Als Habitus kann man mit Bourdieu alle historisch entwickelten kollektiven Praktiken bezeichnen, in denen sich menschliche Erfahrungen in Form von bestimmten Handlungsschemata nieder-
14 � Der Problemzusammenhang geschlagen haben, die dann die Grundlage für das soziale Zusammenleben bilden.5 Als sozialer Habitus repräsentiert daher die Negation dann auch eine ganz bestimmte menschliche Handlungsstrategie (modus operandi) in konkreten sprachlichen Handlungs- bzw. Sinnbildungsprozessen. Als Handlungshabitus hat die Negation nicht nur einen sozialen Sinn, insofern sie dazu beiträgt, soziale Interaktionsprozesse auszubilden und zu fördern, sondern auch einen individuellen Sinn, insofern sie ebenfalls dazu beiträgt, persönliche Gestaltungsprozesse zu konkretisieren und eben dadurch dann auch menschliche Individualitäten und Identitäten zu festigen. Das hat der polnische Aphoristiker Lec sehr scharfsinnig auf den Punkt gebracht: „Man muß oft N e i n sagen, um sich selbst zu bestätigen.“6 Das Verständnis der Negation als Habitus bzw. die Entwicklung von Negationsformen als evolutionäre Ausbildung von Habitusformen führt uns die anthropologische Relevanz der Negation sowohl im sozial-kulturellen als auch im individuell-psychologischen Sinne sehr klar vor Augen. Außerdem verbietet es dieser Denkansatz, den Menschen nur im Rahmen eines ahistorischen Systemdenkens näher zu bestimmen. Vielmehr wird nahegelegt, ihn als ein Kulturwesen zu verstehen, das sich erst durch den interaktiven bzw. sozialen Gebrauch von Zeichen und insbesondere von Sprache konstituiert. Deshalb hat Ernst Cassirer den Menschen dann ja auch als „animal symbolicum“ gekennzeichnet.7 Die anthropologische Relevanz des Kultur- und Evolutionsgedankens für das Verständnis der Sprach- und Negationsproblematik tritt auch noch in einer anderen Hinsicht deutlich hervor. Die Phänomene Kultur und Sprache lassen sich nämlich nicht zureichend verstehen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit nicht auch darauf richten, dass beide Phänomene immer Rückkoppelungsrelationen zu ihren jeweiligen Erzeugern bzw. Nutzern haben. Diesbezüglich spielt dann gerade die Negation bzw. die Negationsfähigkeit immer eine ganz konstitutive Rolle. Nicht ohne Grund hat man daher ja auch in der materialistischen Anthropologie den Menschen als Produkt seiner Produkte bestimmt und in der kulturgeschichtlichen Anthropologie als Schöpfer und Geschöpf der Kultur.8 Gerade wenn man die Ausbildung der unterschiedlichen Negationszeichen in der Sprache als evolutionäre und kulturelle Fortentwicklung gestischer Abwehrzeichen versteht, dann gewinnen diese natürlich eine große anthropologische Relevanz und dürfen nicht mehr nur im Rahmen der Logik und Sprachwis-
�� 5 P. Bourdieu, Sozialer Sinn; Kritik der theoretischen Vernunft, 1987, S. 101. 6 St. J. Lec, Das große Buch der unfrisierten Gedanken, 1971, S. 57. 7 E. Cassirer, Versuch über den Menschen, 20072, S. 51. 8 M. Landmann, Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur, 1961.
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senschaft als bloße Operationszeichen in einem geschlossenen System untersucht werden. Sie gehören dann auf ganz genuine Weise zur Evolutionsgeschichte des Menschen, der sich im Laufe seiner Geschichte als kulturelles Wesen selbst herstellt und dessen Denk- und Interaktionsmöglichkeiten sich gerade durch die Ausbildung und Nutzung von ganz unterschiedlichen Negationszeichen gewaltig ausgeweitet haben. Wenn man auf diese Weise die Negation als einen wichtigen Faktor in der historischen und der individuellen Selbstkonstitution des Menschen wertet, dann kann man sein anthropologisches Denken an Herder, Gehlen und Landmann orientieren. Alle drei begreifen nämlich die Ausbildung von sozialen Institutionen, wie etwa Sittenordnung, Recht oder Sprache, als kulturelle Leistungen, um eine biologische Mängellage bzw. eine reduzierte Instinktausstattung beim Menschen kulturell zu kompensieren. Weiterhin ist festzuhalten, dass explizite und implizite Negationshandlungen als dialektische Gegenhandlungen zu entsprechenden Zustimmungshandlungen einen ganz wichtigen Beitrag zur historischen Entfaltung des menschlichen Bewusstseins und Selbstbewusstsein geleistet haben und weiterhin leisten. Beide Handlungsformen gehören zu den konstitutiven menschlichen Lebensprinzipien, die sowohl formal ausdifferenziert als auch funktional ausbalanciert werden müssen. Negationszeichen sind so betrachtet nicht nur Abwehrzeichen, sondern letztlich auch Gestaltungs- und Vermittlungszeichen, insofern sie immer eine sehr wichtige Rolle spielen, wenn Menschen in ihren Lebensprozessen Kontakt zur Welt, zu Mitmenschen und zu sich selbst bzw. zu ihrem schon vorhandenen Wissen aufnehmen wollen. Sie gehören ganz wesentlich zu den dialogischen Lebens- und Denkformen des Menschen und sind unerlässlich, wenn man mit den Widerständigkeiten von Dingen, Erfahrungen und anderen Menschen fertig werden muss. Negationshandlungen sind daher nicht nur Abwehrhandlungen, sondern auch Stabilisierungshandlungen, insofern sie einen ganz fundamentalen Beitrag zu Strukturbildungen leisten. Sie können nicht nur bestimmte Geltungsansprüche aktuell oder generell in Frage stellen, sondern auch Kontrast- und Oppositionsrelationen ausbilden und festigen. Einerseits kommen sie unserem Bedürfnis nach einer klaren Unterscheidung von ja und nein bzw. von wahr und unwahr entgegen. Andererseits können sie diese sehr klare, aber zugleich auch sehr schematisierende Zweiwertigkeit von Beurteilungen auch destabilisieren und flexibilisieren wenn wir beispielsweise unsere Aufmerksamkeit auf den konkreten Bezugsbereich und den Intensitätsgrad von einzelnen Negationsformen richten. Dementsprechende Fragen sind nämlich insbesondere bei impliziten Negationsformen wie etwa ironischen, paradoxen, aphoristischen, witzigen oder metaphorischen Äußerungen nicht so leicht zu beantworten.
16 � Der Problemzusammenhang Am Beispiel der Negation lässt sich außerdem recht gut verdeutlichen, dass das sogenannte Ich, das wir gerne als Träger unseres Denkens und Handelns in Anspruch nehmen, wohl gar keine stabile eigenständige Substanz oder Wesenheit ist, sondern vermutlich eher eine Schnittstelle von neuronalen Aktivitäten, die aus der spezifischen Verarbeitung von Informationen unterschiedlicher Herkunft und Gewichtung resultiert. Daher sollte das sogenannte Ich auch eher als ein flexibles Organisationszentrum für die perspektivische Wahrnehmung und Interpretation von Welt bzw. von Informationen im Hinblick auf pragmatisch notwendige Handlungsentscheidungen betrachtet werden. Wenn dem so ist, dann ist es auch relativ sinnlos, nach einer anatomisch fassbaren Basis des Ichs im Gehirn zu suchen, weil es faktisch nur als Resultante von Entscheidungsund Interpretationsprozessen in Erscheinung tritt.9 Zu diesen gehören an sehr prominenter Stelle sicherlich dann auch unsere Negationsprozesse aller Art, weil in ihnen Informationen ganz unterschiedlichen Typs zusammenlaufen, die sowohl sachthematisch die Struktur der Welt als auch reflexionsthematisch den intentionalen Umgang des Menschen mit der Welt betreffen. Das Verständnis des Menschen als eines Kulturwesens, das sich in seinen Affirmations- und Negationsprozessen weitgehend selbst herstellt bzw. sich in diesen Anstrengungen seine spezifische Identität erarbeit, beinhaltet auch, dass der Mensch ein Lernwesen par exellence ist, das nicht nur zum Lernen befähigt, sondern sogar dazu verdammt ist. Das Lernen wäre dementsprechend dann als eine menschliche Überlebensstrategie anzusehen, die dazu dient, sich in der Welt zu behaupten. So gesehen darf man dann allerdings das Lernen nicht als einen rein passiven Informationsaufnahmeprozess betrachten. Es muss vielmehr als ein Selektierungs- und Korrelierungsprozess verstanden werden, in dem naturgemäß neben bestätigenden Affirmationen auch verwerfende Negationen eine ganz zentrale Rolle spielen. In diesem Zusammenhang ist aufschlussreich, dass Walter Guyer Lernprozessen eine Mittelstellung zwischen streng zielorientierten Arbeitsprozessen einerseits und recht offenen Spielprozessen andererseits zugeordnet hat, in denen Handlungs- und Strukturierungsmöglichkeiten nicht nur praktiziert, sondern auch erprobt werden.10 Diese Kennzeichnung von Lernprozessen ermöglicht es uns, Negationsprozesse nicht nur als Urteils-, sondern auch als Lernprozesse zu verstehen, da sich über sie konkrete Wahrnehmungsprozesse nicht nur strukturieren, sondern auch hinsichtlich ihres Inhalts qualifizieren lassen. Dabei können dann sowohl verwerfende als auch relativierende Beurtei-
�� 9 Vgl. G. Roth, Aus der Sicht des Gehirns, 20092, S. 147ff. 10 W. Guyer, Wie wir Lernen, 19675.
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lungen wichtig werden. Deshalb treten Negationen dann auch sowohl in bloßen Aneignungsprozessen von Wissen in Erscheinung als auch in kreativen Gestaltungsprozessen von Wissen. Gerade wenn man kognitive Prozesse als anthropologisch wichtige Unterscheidungs- und Grenzziehungsprozesse versteht, dann können Negationen recht ambivalente Implikationen haben. Einerseits können sie zur Verfestigung von Denkschemata und Interpretationen führen, insofern sie immer eine Tendenz zur Ausbildung von klaren Oppositions- bzw. Kontrastrelationen haben. Andererseits können sie aber auch zur Flexibilisierung des Denkens führen, weil sie über Ausschlussverfahren bestimmte Annäherungsmöglichkeiten an noch Unbekanntes ermöglichen, da ja immer vorhandenes Wissen zur Erschließung von neuem Wissens eingesetzt wird. Das schließt allerdings auch nicht aus, dass neues Wissen, das genetisch gesehen oft aus Negationen und Häresien hervorgeht, später dann doch wieder zu einem affirmativen oder dogmatischen Wissen werden kann, das wieder neuer Negationen bedarf. Wissen lässt sich nicht einfach quantitativ akkumulieren, da sein Erwerb immer mit der Umstrukturierung des alten Wissens verbunden ist. Deshalb muss man sicherlich akzeptieren, dass jedes Lernen immer auch ein Verlernen alter Wissensinhalte und Handlungsmöglichkeiten einschließt. Die Aufhebung alter Wissensstrukturen ist aber gleichwohl immer mit der Chance zur Ausbildung von neuen Wissensformen verbunden. Insofern gleichen Lernprozesse auch den Häutungen von Schlangen, die ihre alten Schutzhüllen abstreifen müssen, weil diese entweder abgenutzt sind oder weil sie die eigenen Wachstumsmöglichkeiten allzu sehr einengen. Da alle Lernprozesse im Prinzip Anpassungsprozesse sind, müssen sie so strukturiert werden, dass sie auch mit Störungen fertig werden. Sie brauchen deshalb immer wohldosierte Konflikte, die durch die Negation des scheinbar Selbstverständlichen ausgelöst werden können. Sokrates kann deshalb auf exemplarische Weise als eine Gestalt gelten, die durch provozierende Fragen bzw. durch die hypothetische Negation des anscheinend Selbstverständlichen jeweils neue Denkhorizonte eröffnet hat. Daher ist dann auch nicht nur das Fragen, sondern auch das theoretische Denken anthropologisch gesehen immer wieder als subtile Formen des Negierens von Denktraditionen aufgefaßt worden. Das zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass es oft sehr viel schwieriger ist, fruchtbare Fragen zu stellen als Antworten auf diese zu finden, da Fragen immer schon dezidierte Perspektivierungs- und Sinnbildungsfunktionen haben. Das Lernen bzw. das Fragen lässt sich auch als eine Manifestationsform der Weltoffenheit des Menschen verstehen. Dieses Denkkonzept spielt spätestens seit Herders Überlegungen zum Ursprung der Sprache eine ganz zentrale Rolle in allen anthropologischen Überlegungen, um kontrastiv die besondere Stel-
18 � Der Problemzusammenhang lung des Menschen im Vergleich mit der von Tieren herauszuarbeiten. Herders These, dass der Mensch hinsichtlich seiner Instinktausstattung im Vergleich mit den Tieren geradezu ein Mängelwesen sei, das sich erst mit Hilfe von Sprache und Kultur seine Lebenswelt gestalten müsse, beinhaltet letztlich, dass der Mensch nicht nur als Frage- und Lernwesen zu verstehen ist, sondern auch als Negationswesen. Negationen geben ihm nämlich die Freiheit und die Chance, sich von der normativen Kraft des Faktischen zu lösen und Alternativen zu dem zu entwickeln, was ihm unmittelbar begegnet und zu bestimmen scheint. Diese Freiheit hat insbesondere Max Scheler als Weltoffenheit des Menschen gedeutet, die diesem sehr große Handlungsspielräume eröffne, um sich aus der Schwerkraft dessen zu lösen, was anscheinend als unhintergehbare Realität für ihn unmittelbar in Erscheinung tritt. Die Fähigkeit des Menschen zu Negationen aller Art spielt deshalb für Scheler eine ganz zentrale Rolle, um den Geltungsanspruch bestimmter Realitätserlebnisse zumindest partiell in Frage stellen zu können, was Tieren in dieser Form bzw. in diesem Ausmaß nicht möglich sei. Der Mensch sei das einzige Lebewesen, das sich prinzipiell hinsichtlich seiner Triebimpulse versagend bzw. asketisch verhalten könne. Mit dem Tiere verglichen, das immer „ja“ sagt zum Wirklichsein, auch da noch, wo es verabscheut und flieht, ist der Mensch der „Neinsagenkönner“ der „Asket des Lebens“, der ewige Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit. Er ist zugleich im Verhältnis zum Tiere, dessen Dasein das verkörperte Philistertum ist, der ewige „Faust“, die bestia cupidissima rerum novarum, nie sich beruhigend mit der ihn umringenden Wirklichkeit, immer begierig, die Schranken seines Jetzthiersoseins und seiner „Umwelt“ zu durchbrechen, darunter auch seine eigene jeweilige Selbstwirklichkeit.“11
1.4 Die semiotischen Aspekte der Negation Wenn man sich entschlossen hat, die Negation letztlich als ein anthropologisches Phänomen wahrzunehmen und zu analysieren, dann müssen natürlich ihre vielfältigen zeichentheoretischen Implikationen aufgeklärt werden, und zwar nicht nur in einem rein systemtheoretischen Denkrahmen, sondern auch in einem sehr viel umfassenderen handlungstheoretischen. Wir dürfen nicht nur danach fragen, in welchen expliziten und impliziten Formen Negationen in Erscheinung treten und welche spezifischen Sinnbildungsfunktionen diese jeweils haben können. Wir haben immer auch danach zu fragen, aus welchen Vorformen sich die einzelnen sprachlichen Negationsformen entwickelt haben,
�� 11 M: Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1928, S. 65‒66.
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wie sich ihre Funktionsprofile kulturgeschichtlich ausdifferenziert und systematisiert haben, in welchen Denk- und Lebensformen sie Verwendung finden und wie sie sich in der konkreten Nutzung verändern können. Dieser mehrschichtige Problemzusammenhang lässt sich in einem ersten Ansatz durch die folgende rhetorische Frage und die auf sie bezogene Antwort ganz gut illustrieren: Könnte es denn eine funktionsfähige Sprache ohne Negationen geben? Nein, wohl kaum. In diesem kleinen dialogischen Sprachspiel tauchen mit den Wörtern ohne und nein zwei explizite Negationszeichen auf, die einen klaren Negationsbezug und eine klare Negationsintensität haben. Daneben gibt es mit den einschätzenden Kommentarwörtern wohl, kaum und denn aber auch noch Sprachzeichen, die etwas verdeckte Negationsimplikationen haben. Ihre Negationsfunktionen sind allerdings weniger sachthematisch als reflexionsthematisch orientiert, da sie eine ganz bestimmte persönliche Einschätzung eines Sprechers zum Geltungsanspruch eines Denkinhalts zum Ausdruck bringen. Weiterhin ist zu beachten, dass der Sprecher bei der Formulierung der Frage nicht den Indikativ, sondern den Konjunktiv II verwendet, der als eine relativierende negationshaltige Modusform beurteilt werden kann. Er dient hier nämlich dazu, die in der Frage thematisierte Basisvorstellung als eine problematische Hypothese zu qualifizieren, von deren möglichen Wahrheitsgehalt der Fragende selbst nicht ganz überzeugt ist. Das wird dann zusätzlich durch die Verwendung des Modalpartikels denn unterstützt. Die so konzipierte und strukturierte Frage wird dann von dem Antwortenden mit einem klaren Nein beantwortet, dessen Negationsintensität dann aber durch die Kommentarwörter wohl und kaum wieder etwas abgeschwächt wird. Zudem ist auch noch zu berücksichtigen, dass die gestellte Frage trotz ihrer äußeren Form nicht als wirkliche Entscheidungsfrage zu verstehen ist, sondern vielmehr als eine rhetorische Frage, die eigentlich eine Behauptungstendenz hat. Diese pragmatische Funktion wird hier dann allerdings durch die Verwendung des negationshaltigen Konjunktivs II wieder etwas relativiert. Aus Höflichkeitsgründen bestätigt der Antwortende diese implizite Negation des Fragenden durch sein eigenes explizites Nein, was er dann allerdings durch seinen Kommentar mit den beiden Wörtern wohl kaum wiederum etwas einschränkt. Dieses Frage-Antwort-Spiel verdeutlicht sehr schön, dass die unterschiedlichen Negationsformen in sehr komplexe reflexionsthematische Sinnbildungsprozesse eingebunden sein können und keineswegs nur in sachthematischen Behauptungssätzen vorkommen, die sich als wahr oder falsch qualifizieren lassen. Als interpretative Sinnbildungsmittel finden deshalb explizite und implizite Negationen gerade in dialogisch orientierten Kommunikations- und Interaktionsprozessen immer ein sehr großes und weites Anwendungsfeld.
20 � Der Problemzusammenhang Semiotisch ist weiterhin zu beachten, dass sich die Negation von bestimmten Vorstellungen und Aussagen natürlich auch mit gestischen, mimischen oder intonatorischen Mitteln realisieren lässt. Zudem kann auch die Wahl eines spezifischen Textmusters dazu dienen, den Geltungsanspruch von bestimmten Aussagen zu relativieren oder gar zu desavouieren. Grundsätzlich ist daher festzuhalten, dass Negationsinformationen aller Art strukturell im Prinzip immer den Status von interpretierenden Metainformationen zu bestimmten Basisinformationen bzw. Basiserwartungen haben und dass sie daher informationslogisch auch als interpretierende Kommentarinformationen des jeweiligen Sprechers zu einem ganz bestimmten Denkinhalt anzusehen sind. Für die Erfassung der konkreten Sinnbildungsleistungen von Negationsformen sind die zeichentheoretischen Überlegungen von Peirce recht hilfreich. Dieser geht nämlich von der Grundüberlegung aus, dass grundsätzlich alle wahrnehmbaren Phänomene eine Zeichenfunktion übernehmen können, wenn sie von Menschen als Phänomene wahrgenommen werden, die nicht nur faktisch da sind, sondern die zugleich auch auf etwas verweisen, was von ihnen selbst unterscheidbar ist. Diese These kann uns dafür sensibel machen, dass sich Negationszeichen nicht in dem Inventar der konventionalisierten sprachlichen Negationswörter erschöpfen, sondern sich durchaus auch in bestimmten Morphemen, Worttypen, Textmustern, Artikulationsweisen, Handlungsformen, Auswahlentscheidungen usw. repräsentieren können, die wir zwar nicht gleich mit dem Gedanken der Negation verbinden, die aber doch auf offensichtliche oder verdeckte Weise bestimmte Negationsfunktionen übernehmen können. Anders ausgedrückt: Negationszeichen können nicht nur als konventionalisierte sprachliche Negationszeichen in Erscheinung treten, sondern auch als Elemente, denen erst in ganz bestimmten Sprachspielen eine Negationsfunktion zuwächst. Die Identifizierung von Negationszeichen ist deshalb auch nicht nur eine Frage des reinen Sprachwissens von Kommunikanten, sondern auch eine Frage ihres Weltwissens und ihrer Sensibilität für Zeichenformen. Diese komplexen Strukturverhältnisse bei der Bildung, der Wahrnehmung und der Interpretation von Zeichen, die gerade bei Negationszeichen sehr exemplarisch in Erscheinung treten können, hat Peirce in seinem dreistelligen Zeichenmodell sehr klar zum Ausdruck gebracht.12 Die Pointe dieses Modells besteht nämlich darin, dass Zeichen nicht als zweistellige Relationsgebilde verstanden werden, bei denen ein Zeichenträger in konventionalisierter Weise auf einen bestimmten Zeicheninhalt verweist, sondern als dreistellige Relationsge-
�� 12 Vgl. W. Köller, Der sprachtheoretische Wert des semiotischen Zeichenmodells, in: K. H. Spinner (Hrsg.), Zeichen, Text, Sinn, 1977, S.7‒77.
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bilde, bei denen ein sinnlich fassbares Phänomen als Zeichenträger mit Hilfe einer bestimmten Interpretationsperspektive als Zeicheninterpretant auf einen ganz bestimmten Zeicheninhalt als Zeichenobjekt verweist. Der Vorteil dieses Zeichenmodells besteht darin, dass mit ihm die Wahrnehmung und das Verständnis von Zeichen nicht als ein mehr oder weniger mechanisch-assoziatives Korrelationsverhältnis zwischen einem Signifikanten und einem Signifikat im Sinne von de Saussure verstanden wird, sondern vielmehr als eine dynamischvariable Sinnbildungsanstrengung mit Hilfe von drei Zeichenfaktoren. Dabei hat dann insbesondere die Variabilität von Zeicheninterpretanten als Interpretationsperspektiven eine große Rückwirkung auf das, was konkret als Zeichenträger und Zeichenobjekt in Erscheinung tritt oder treten kann. Aus all dem ergibt sich, dass entsprechend dem dreistelligen Zeichenmodell von Peirce die Menge der sprachlichen Phänomene, die potentiell als Negationszeichen in Erscheinung treten können, zwar eine konventionsbedingte Basis hat, aber gleichwohl dennoch sehr offen ist. Im Prinzip lassen sich produktiv und rezeptiv immer wieder neue Negationszeichen ausbilden und wahrnehmen, die noch nicht konventionell gefestigt sind. Das setzt dann allerdings immer ein semiotisch sensibilisiertes heuristisches und hermeneutisches Denken voraus. Ein solches Denken muss auf fundamentale Weise dadurch geprägt sein, dass sich in ihm sachthematische Sinnbildungsziele (intentio recta) mit reflexionsthematischen (intentio obliqua) verbinden und dass wir die Vermittlungsleistung von Zeichen nicht nur sachthematisch auf der Ebene des Seins zu verankern haben, sondern auch reflexionsthematisch auf der Ebene der menschlichen Denkprozesse für die Wahrnehmung von Sein. Die Vermittlungsleistung sprachlicher Zeichen wäre daher sowohl im Hinblick auf die Welt der Sachobjekte zu qualifizieren als auch im Hinblick auf die Welt der Denksubjekte. Wenn wir die Leistungskraft sprachlicher Zeichen in dieser doppelten Perspektive zu bestimmen versuchen, dann ist offensichtlich, dass sich ein ganz besonderes semiotisches Wahrnehmungsinteresse immer auch auf sprachliche Negationszeichen zu richten hat. Diese tragen nämlich auf ganz entscheidende Weise dazu bei, dass man beim Gebrauch der natürlichen Sprache nach Humboldt „von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch“ machen kann.13 Die Bestimmung von Negationszeichen als metainformative grammatische Interpretationszeichen für sachthematische lexikalische Inhaltszeichen ist nicht ganz so problemlos, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Oft lässt sich eine solche Differenzierung praktisch nicht so stringent vornehmen, wie es theoretisch wünschenswert wäre, da bei bestimmten Zeichentypen die sach�� 13 W. v. Humboldt, Werke Bd. 3, S. 477.
22 � Der Problemzusammenhang thematischen Affirmationsfunktionen mit den reflexionsthematischen Negationsfunktionen auf kaum trennbare Weise miteinander verwachsen sind. Wie schon erwähnt gibt es nämlich schon Begriffsbildungen mit genuinen Negationsimplikationen (Unwahrheit, Lüge, Nichts, fehlen, unsinnig, ratlos). Negationsfunktionen können auch aus dem ironischen und metaphorischen Sprachgebrauch resultieren bzw. aus der Nutzung bestimmter grammatischen Formen wie etwa den Modus- und Tempuszeichen, da diese allesamt den faktischen Geltungsanspruch von Aussagen auf spezifische Weise abtönen. Zu rechnen ist auch damit, dass bestimmte Textmuster Negationsimplikationen haben, die nicht immer auf klar isolierbare sprachliche Einzelzeichen zurückzuführen sind, sondern sich als Resultanten von bestimmten Zeichenkonstellationen und Sinnbildungsintentionen ergeben, was beispielsweise Witze, Aphorismen oder Paradoxien recht gut veranschaulichen. Gleichwohl ist es semiotisch gesehen auch hier denkbar und sinnvoll, von Negationszeichen zu sprechen, eben weil die Semiotik von Peirce keine morphologischen Einschränkungen für diejenigen Phänomene vornimmt, die als Zeichenträger für eine bestimmte Zeichenbildung wirksam sein können. Für die Semiotik von Peirce ist es nämlich zulässig, neben morphologisch gut fassbaren und abgrenzbaren Negationszeichen auch formal etwas unübersichtliche Negationszeichen anzunehmen, deren Negationsfunktion sich als Konsequenz aus dem Korrelationszusammenhang anderer Zeichen ergibt bzw. aus dem Korrelationszusammenhang von gegebenen Zeichen, Situationen und Handlungsintentionen. Wie unverzichtbar Negationen für einen flexiblen und sinnvollen Gebrauch der natürlichen Sprache sind, lässt sich durch ein kleines Gedankenexperiment plausibel machen. Wir brauchten uns nur einmal zu vergegenwärtigen, in welche kognitiven und kommunikativen Turbulenzen wir gerieten, wenn wir im Sinne der Geschichte über den ›Sprachabschneider‹ von Hans Joachim Schädlich in unseren Kommunikationsaktivitäten plötzlich keine expliziten oder impliziten Negationsformen mehr verwenden dürften.14 Nicht nur unsere Mitteilungs- und Argumentationsprozesse brächen zusammen, sondern auch all unsere Bemühungen, unseren eigenen Sprachgebrauch auf das Wissen und den Erwartungshorizont unserer jeweiligen Partner abzustimmen bzw. diesen keine überflüssigen Informationen zu vermitteln. Allenfalls wäre ein rein deskriptiver Gebrauch der Sprache möglich, aber kein interpretierender, kontrastierender oder handlungssteuernder. Nicht nur die Inhaltsebene der Kommunikation wäre arg in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch die Beziehungsebene.
�� 14 H. J. Schädlich, Der Sprachabschneider, 1980. Vgl. dazu W. Köller, Narrative Formen der Sprachreflexion, 2006, S. 429‒474.
Die pragmatischen Aspekte der Negation � 23
1.5 Die pragmatischen Aspekte der Negation Wenn man von den pragmatischen Aspekten der Negation spricht, dann denkt man wahrscheinlich zunächst nur an die praktischen Verwendungsmöglichkeiten von Negationsformen im konkreten Sprachgebrauch. Dabei kann man dann allerdings leicht übersehen, dass mit den pragmatischen Funktionen der Negation auch sehr erhebliche philosophische und insbesondere erkenntnistheoretische Implikationen verbunden sein können. Insbesondere der philosophische Pragmatismus von Peirce, den dieser in enger Verzahnung mit seiner Zeichentheorie entworfen hat, versucht sehr nachdrücklich, auf diese Tiefendimension unseres Zeichengebrauchs aufmerksam zu machen. Mit seiner Semiotik will Peirce nämlich den seiner Meinung nach sehr unfruchtbaren Streit zwischen dem erkenntnistheoretischen Realismus einerseits und dem erkenntnistheoretischen Idealismus andererseits überwinden. Seiner Meinung nach widmen beide Denkrichtungen nämlich viel zu wenig Aufmerksamkeit dem Umstand, dass Zeichen aller Art eine konstitutive Vermittlungsfunktion zwischen dem Objektbezug des Denkens auf der einen Seite und dem Subjektbezug des Denkens auf der anderen Seite ausüben. Der erkenntnistheoretische Realismus geht nämlich für Peirce fälschlicherweise davon aus, dass die Gegenstände unserer Erkenntnis eine fest umrissene und beschreibbare Existenzform außerhalb unseres Bewusstseins hätten, die von uns nicht nur erfasst, sondern im Prinzip auch über Begriffe bzw. Zeichen sachgerecht objektiviert bzw. abgebildet werden könne. Der erkenntnistheoretische Idealismus geht für ihn fälschlicherweise davon aus, dass die Gegenstände unserer Erkenntnis letztlich erst durch die synthetisierende Arbeit unseres Denkens als konkrete Wahrnehmungsgegenstände konstituiert würden und kein eigenständiges und widerständiges Profil hätten, das man zu ergründen habe. Beide Denkansätze hält Peirce zumindest in ihren Extremformen für unfruchtbar, weil sie für ihn die fundamentale Tatsache außer acht ließen, dass all unsere Erkenntnisinhalte zeichenvermittelt seien und eben deshalb nicht nur einen Objekt-, sondern auch einen Subjektbezug hätten bzw. einen Sozialbezug, insofern sie immer auch auf intersubjektive Zustimmung ausgerichtet seien. Rein persönliche Erkenntnisinhalte befriedigten niemanden, weil Erkenntnisinhalte prinzipiell immer soziale Anerkennung beanspruchten. Dieser immanente Sozialbezug dokumentiert sich für Peirce insbesondere darin, dass Vorstellungsinhalte sich einerseits immer auf bewährte Wahrnehmungstraditionen gründeten und sich andererseits in gemeinsamen praktischen Handlungsprozessen bewähren müssten. Gerade dafür sei dann aber der Gebrauch von intersubjektiv verständlichen Zeichen ganz unabdingbar.
24 � Der Problemzusammenhang Während für Kant die Frage nach den Dingen an sich vor allem deshalb unfruchtbar ist, weil dabei keine Rücksicht auf die Struktur der Vernunft genommen wird, so ist sie für Peirce darüber hinaus auch noch deshalb unfruchtbar, weil dabei keine Rücksicht auf die Struktur und Funktion von Zeichen genommen wird, mit denen das Denken zwangsläufig immer arbeiten muss. Das bedeutet, dass für Peirce die Entstehungsgeschichte von Wissen auf der Basis der Bildung und Nutzung von Zeichen immer ein konstitutiver Bestandteil des Wissens selbst zu sein hat, von der man als einer bloßen Randbedingung des Wissens keineswegs absehen darf. Peirce zweifelt nicht daran, dass es eine vorgegebene subjektunabhängige Objektsphäre in der Welt gibt, auf die sich unsere Erkenntnisbemühungen zu richten haben. Insofern ist er daher auch erkenntnistheoretisch ein Realist. Gleichzeitig zweifelt er aber auch nicht daran, dass die vorgegebene Realität immer nur in konkreten kognitiven Handlungsprozessen bzw. mit Hilfe intersubjektiv verständlicher Zeichen aus einer ganz bestimmten Subjektsphäre heraus perspektivisch objektiviert werden muss. Insofern ist er daher erkenntnistheoretisch auch ein Idealist. Für ihn geht es letztlich nicht darum, die nackte Wahrheit über die Welt an sich zu erfassen, sondern vielmehr darum, sich ein belastbares Wissen für konkrete Handlungsprozesse in der gegebenen Welt zu erwerben. Dieses Wissen hat für ihn deshalb auch nicht nur eine realitäts- und subjektbezogene, sondern immer auch einen zeichenbezogene Dimension. Vor dem Hintergrund dieser erkenntnistheoretischen Überlegungen ist nun offensichtlich, dass für den Pragmatismus von Peirce sowohl die Bildung als auch der Gebrauch von Zeichen immer genuin erkenntnistheoretische Aspekte hat, die keineswegs von nachträglicher Relevanz sind. Für ihn ist das Problem des Erwerbs und der Strukturierung von Wissen immer mit dem Problem der sprachlichen bzw. semiotischen Vermittlung von Wissen verbunden. Die Negation hat dementsprechend für Peirce dann auch nicht nur eine rein operative Funktion für den Umgang von Wissen in sprachlichen Vermittlungsprozessen, sondern auch eine konstitutive Funktion für den Erwerb von Wissensinhalten, eben weil er sich immer auch für die Prämissen und die Dynamik von Erkenntnisprozessen interessiert. Für Peirce resultiert Erkenntnis bzw. Wissen nicht aus einer bloßen, wenn auch genauen Kontemplation von Phänomenen in einer einzigen Wahrnehmungsperspektive, sondern letztlich aus vielschichtigen praktischen und theoretischen Wahrnehmungs- und Handlungsprozessen. Über diese können für ihn dann sehr unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven auf die jeweiligen Phänomene eröffnet werden, die dann wiederum die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir uns eine sinnvolle und belastbare Meinung über sie bilden können. Diese muss allerdings grundsätzlich immer unter einem gewissen Gel-
Die pragmatischen Aspekte der Negation � 25
tungsvorbehalt stehen bzw. für Korrekturen offen sein, da sich in jedem neuen Handlungsprozess immer auch neue Sachaspekte der Phänomene offenbaren können. Diese erkenntnistheoretische Position bezeichnet Peirce als Pragmatismus, weil mit ihr immer die innere Hoffnung verbunden ist, sein Handeln verbessern zu können. Dementsprechend besagt dann die sogenannte pragmatische Maxime von Peirce, dass man den Begriff eines Gegenstandes aus den Wirkungen abzuleiten hat, die dieser in praktischen und theoretischen Handlungsprozessen zeitigt. Deshalb nimmt er dann auch explizit auf die biblische Maxime Bezug, dass man etwas immer an seinen Früchten zu erkennen habe.15 Da Peirce die Logik nun auch nicht nur als Lehre vom schlussfolgernden Denken versteht, das nur die beiden Wahrheitswerte wahr und falsch kennt, sondern in sehr viel umfassenderer Weise als Lehre von den Strukturen unserer Denkverfahren insgesamt, spielt für ihn naturgemäß der Begriff bzw. das Phänomen der Negation eine ganz zentrale Rolle. Für ihn ist es nämlich nicht sehr sinnvoll, den Negationsbegriff nur als Oppositionsbegriff zum Affirmationsbegriff zu verstehen, weil dadurch das zweiwertige erkenntnistheoretische Denken zu sehr gefördert werde. Das Denken könne sich erst dann voll entfalten, wenn es bei der Stiftung und Erprobung von Relationen nicht von vornherein allzu sehr normativ eingeengt werde. Es brauche immer große Freiheiten und Spielräume, wenn es sich nicht nur feststellend, sondern auch sinnstiftend und zeichensensibel orientieren solle. Im Rahmen des rein sachthematischen Denkens hat die Negation auch für ihn eine genuin logische Funktion im traditionellen Sinne, da sie ja bei der Qualifizierung des Wahrheitswertes von einzelnen Aussagen und Vorstellungen eine wichtige Rolle spielt. Gleichzeitig hat sie für ihn aber auch im Denken außerhalb von rein schlußfolgernden Denkprozessen eine ganz wichtige pragmatische Funktion, weil sie prinzipiell auch zu den konstitutiven Prämissen von kreativen Sinnbildungsprozessen gehört.16 Pragmatisch vordergründig betrachtet sind Negationen wertvoll, weil sie im Rahmen der zweiwertigen Entweder-Oder-Logik dabei helfen, einfache Oppositionsrelationen herzustellen, die dem Handeln klare Alternativen vorgeben. Das dokumentieren viele Sprichwörter: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass! Man kann seinen Kuchen nicht essen und gleichzeitig haben. Pragmatisch hintergründig betrachtet sind Negationen wertvoll, weil sie dabei helfen, das �� 15 Ch. S. Peirce, Collected Papers, 4.402. 16 Ch. S. Peirce, Collected Papers, 2.379. “The conception of negation, objectively considered, is one of the most important of logical relations; but subjectively considered, it is not a term of logic at all, but is prelogical. That is to say, it is one of those ideas which must have been fully developed and mastered before the idea of investigating the legitimacy of reasonings could have been carried to any extent.”
26 � Der Problemzusammenhang Denken zu ganz neuen Relationsbildungen und Sinnstiftungen anzuregen, in denen dann auch neue Aspekte der jeweiligen Vorstellungsinhalte hervortreten können. Beispielsweise können sie dazu motivieren, die Frage zu stellen, ob man einen Pelz auch ohne Wasser säubern kann bzw. ob der Verzehr eines Kuchens prinzipiell ausschließt, in auch anders als optisch oder taktil zu haben. Dementsprechend postuliert Peirce für das Denken dann auch nicht nur die beiden traditionellen Denkoperationen der Deduktion und Induktion, sondern zusätzlich auch noch das Denkverfahren der Abduktion, durch welches die Prämissen und Hypothesen erst hergestellt werden, die logische Deduktionen und Induktionen für ihre Arbeit benötigen. Grundsätzlich wird man zwar einzuräumen haben, dass es sehr hilfreich ist, sich im praktischen Handeln an binären Ordnungsschemata zu orientieren. Gleichzeitig haben wir aber auch zu bedenken, dass solche alternativ strukturierten Denkmuster und Handlungsschemata ein sachadäquates Handeln oft erschweren, weil damit auch ganz bestimmte Handlungsmöglichkeiten und Betrachtungsweisen blockiert werden können. Das dokumentiert sich nicht nur eindrucksvoll in wissenschaftlichen Forschungsprozessen, die in Form von Paradigmenwechseln aus eingeschliffenen Denkbahnen ausbrechen, sondern auch oft in Märchen, wo gerade diejenigen Personen bestimmte Klugheitsprüfungen bestehen, welche die üblichen Denk- und Entscheidungsalternativen verlassen und eben dadurch dann auch neue Wege zur Lösung eines Problems finden. Ohne Affirmationen und Negationen im Denkrahmen unseres gegebenen Wissens kommen wir in unseren konkreten Denk- und Handlungsprozessen nicht aus. Wir werden aber zu Gefangenen dieser Entscheidungshilfen, wenn wir sie nicht mehr im Hinblick auf ihre jeweiligen Prämissen und Konsequenzen überprüfen und gegebenenfalls auch umstrukturieren können. Negationen werden pragmatisch letztlich unfruchtbar, wenn man sie nicht als perspektivisch gebundene, sondern nur als prinzipielle Ausschlussverfahren versteht. Sie müssen so verwendet werden, dass sie tradiertes Wissen sowohl nutzen als auch transzendieren können. Sie haben dabei zu helfen, Unbekanntes über die Zurücknahme bzw. die Problematisierung von Bekanntem methodisch zu erschließen und umrissartig zu skizzieren. Deshalb ist es pragmatisch gesehen auch sehr wichtig, nicht nur den referenziellen Bezug von einzelnen Negationsformen so genau wie möglich zu bestimmen, sondern auch ihre jeweilige Verneinungsintensität, weil man ansonsten weder ihren Status als Erscheinungsformen einer sprachlichen Universalie noch das Feld ihrer möglichen Sinnbildungsfunktionen befriedigend erfassen kann. Weiterhin ist es auch hilfreich, danach zu fragen, welche faktischen Negationsimplikationen spezifische Sprachformen in bestimmten Gebrauchszusammenhängen bekommen können, die wir zunächst noch gar nicht zu den gängigen Negationsformen rechnen.
Die pragmatischen Aspekte der Negation � 27
Die Notwendigkeit, Negationsformen zu entwickeln und zu gebrauchen, liegt letztlich in den beschränkten Erkenntnismöglichkeiten und Wissensbeständen der Menschen begründet, die wiederum einen sehr flexiblen Zeichengebrauch notwendig machen. Faktisch vollkommene Wesen, wie man sie sich beispielsweise im Denkrahmen der Religion mit dem Gottes- oder Engelsbegriff konkretisiert hat, benötigen weder die semiotischen Hilfsmittel der Sprache im Allgemeinen noch die der Negation im Besonderen. Wer alles weiß und wer alles erkennen kann, der braucht weder abstrahierende Begriffe noch sprachliche Aussageformen noch operative Negationsverfahren, um sich bestimmte Denkinhalte zu objektivieren. Deswegen hat man im Mittelalter auch schon darüber spekuliert, ob die Engel überhaupt eine kommunikativ nutzbare Sprache benötigten, da es für sie ja schlicht genüge, ihre Gedanken zu parallelisieren, ohne dabei auf das Hilfsmittel einer Verbalsprache zurückgreifen zu müssen. Aber schon wenn die Engel oder Gott mit den Menschen kommunizierten, dann hätten sie natürlich auf die begrenzten menschlichen Fähigkeiten Rücksicht nehmen. Deshalb habe Gott dann natürlich auch zwangsläufig sowohl auf affirmierende Gebote als auch auf negierende Verbote zurückgreifen müssen. Die pragmatische Relevanz von Negationen als dialektisch wirksamen Faktoren für die Stimulation von Denk- und Handlungsprozessen dokumentiert sich auch in Goethes Mephisto. Dieser stellt sich selbst als einen Geist vor, „der stets verneint“ und „stets das Böse will und stets das Gute schafft.“17 Während Faust in kontemplativen und konstatierenden Erkenntnisprozessen ergründen möchte, was die Welt im Innersten zusammenhält, operiert Mephisto mit Negationen aller Art, um gerade mit Hilfe dieser Form von Intellektualität etwas aufzudecken, was auf andere Weise nicht oder schwer aufzudecken ist. Der Negationsgedanke lässt sich hinsichtlich seiner dialektischen Implikationen nun aber nicht nur mit der operativen Intelligenz des Mephisto in Verbindung bringen, sondern merkwürdigerweise auch mit einem gänzlich anderen Phänomen, nämlich dem Opfer. Jedes Opfer ist pragmatisch nämlich durch eine ganz bestimmte Negationshandlung geprägt, insofern sich der Opfernde immer einen Verzicht bzw. eine Askese auferlegt. Dadurch beinhaltet jedes Opfer dann die Negation einer bestimmten Lebensform zugunsten der Affirmation einer anderen. Diese wird dann im Hinblick auf eine allgemeine Werteordnung allerdings als höherrangig angesehen. Deshalb lassen sich über Opferhandlungen als spezifischen Negationshandlungen auch Wertsysteme organisieren und stabilisieren. Die Spannweite von solchen Opfern kann dabei von religiösen über kulturelle bis zu politischen Opferhandlungen reichen, die allesamt eine �� 17 W. von Goethe, Faust, Vers 1338 und 1336, Werke Bd. 3, S. 47.
28 � Der Problemzusammenhang bestimmte Orientierungs- und Strukturierungsfunktion haben, insofern sie immer die Relevanz von etwas bestätigen, indem sie etwas anderes negieren bzw. für nachrangig erklären. Wenn man in der hier skizzierten Weise den Negationsgedanken über den Handlungs-, Sinnbildungs- und Zeichengedanken strukturiert, dann unterliegt man natürlich leicht der Gefahr, ihn so auszuweiten, dass er seine Konturen verliert und sich dann kaum noch vom Modalitätsgedanken unterscheidet, der ja auch dazu dient, den Geltungsanspruch von Aussagen und Vorstellungen zu reduzieren. Negationszeichen werden unter diesen Umständen dann kaum noch als logische Operatoren verstanden, sondern nur noch als Ausdrucksformen von hermeneutischen Interpretationen. Dieser Gefahr ist sicherlich jeder semiotische und pragmatische Zugriff auf das Negationsproblem ausgesetzt. Umgekehrt besteht aber zugleich auch immer die Gefahr, dass man den Negationsbegriff pragmatisch so vereinfacht, dass er nur noch als logischer, aber nicht zugleich auch als semiotischer und anthropologischer Grundbegriff in Erscheinung tritt. Die Negation lässt sich dann weder als eine grundlegende menschliche Denk- und Lebensform verstehen noch als ein Mittel, um von den endlichen Mitteln der Sprache einen unendlichen Gebrauch machen zu können. Im Folgenden soll nun versucht werden, das Phänomen der Negation in recht unterschiedlichen Perspektiven wahrzunehmen, die von der Evolutionsgeschichte einzelner Negationsformen über die verschiedenen expliziten und impliziten Erscheinungsformen von sprachlichen Negationen bis zu den unterschiedlichen pragmatischen Verwendungsmöglichkeiten von Negationshandlungen reichen. Dieses Verfahren gleicht dem Rundgang um eine Skulptur, bei dem man einerseits zwar faktisch immer etwas anderes sieht, aber andererseits doch auch immer wieder dasselbe. Dieses Bild verdeutlicht zudem auch recht gut, dass die Wahrnehmung eines komplexen Phänomens wie etwa das der Negation immer eine gewisse Zirkelstruktur hat, insofern neues Wissen ergänzend, differenzierend und negierend auf altem Wissen aufbauen muss. Außerdem hat man bei der Konzentration des Erkenntnisinteresses auf ein ganz bestimmtes Wahrnehmungsphänomen ein nicht unwichtiges Problem zu beachten. Man gerät dabei nämlich leicht in die Gefahr, dieses Phänomen zum Konvergenzpunkt für alles zu erklären, was man persönlich als wichtig ansieht, wenn nicht sogar als konstitutiv für die Struktur der Welt schlechthin. Gottfried Keller hat nach dem Zeugnis von Leisegang diese Gefahr sehr eindrucksvoll in ein prägnantes Vorstellungsbild umgesetzt: Ein Hund, dem „man die Nase mit Quarkkäse verstrichen hat“, halte leicht „die ganze Welt für einen solchen“.18 �� 18 H. Leisegang, Denkformen, 1928, S. 442.
2 Die Negation als Evolutionsphänomen Solange man Negationszeichen nur als systemimmanente logische Strukturierungszeichen in Analogie zu mathematischen Minuszeichen betrachtet, solange erscheint es nicht sehr weiterführend, Negationsformen mit dem Evolutionsgedanken in Verbindung zu bringen. Unter diesen Rahmenbedingungen treten Negationszeichen nämlich für uns nur als relativ geschichts- und kulturlose logische Operationszeichen in Erscheinung, auf deren Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte man eigentlich nicht besonders zu achten hat. Erst wenn man auch ein Interesse an den Motiven für die Entstehung, die Fortentwicklung und die Ausdifferenzierung von sprachlichen Negationszeichen aufbringt bzw. an den Gründen für die Vielfalt ihrer konkreten Erscheinungsweisen, dann ändert sich die Sachlage ganz entscheidend. Unter diesen Umständen kann die Negation nun nämlich wirklich als ein Kulturphänomen in Erscheinung treten, das sich dann sowohl unter stammesgeschichtlichen (phylogenetischen) als auch unter individualgeschichtlichen (ontogenetischen) Gesichtspunkten genauer betrachten lässt. Die Korrelation der Negations- mit der Evolutionsproblematik ist nicht ganz so harmlos, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Dadurch wird das Interesse nämlich nicht nur explizit auf die Entstehungs- und Differenzierungsgeschichte von Negationsformen im Laufe der Kultur- und Sprachgeschichte gelenkt, sondern implizit auch nahegelegt, dass Entwicklungsprozesse in Natur und Kultur eigentlich nach ziemlich ähnlichen Grundprinzipien ablaufen bzw. dass sich kulturelle Evolutionen sogar als Fortsetzung von biologischen ansehen lassen. Diese Sichtweise mag diejenigen befremden, die es gewohnt sind, auf cartesianische Weise Materie und Geist als völlig getrennten Welten anzusehen, aber wohl nicht diejenigen, denen die Vorstellung nahe liegt, dass es sich bei Natur und Kultur um miteinander vernetzte, wenn nicht miteinander verwachsene Teilwelten handelt. Außerdem muss man sich unter diesen Umständen auch mit dem Gedanken anfreunden, dass man sein rein lineares Kausaldenken zugunsten eines interdependenten Kausaldenkens aufgeben sollte, in dem durchaus Rückkoppelungs- und Rückprägungsprozesse möglich sind. Weiterhin hat man sein ontologisches Denken nicht unerheblich umzustrukturieren, insofern nun der Relations- bzw. Funktionsgedanke eine sehr viel wichtigere Sinnbildungsfunktion bekommt als der traditionelle Substanz- bzw. Wesensgedanke.
30 � Die Negation als Evolutionsphänomen
2.1 Der Evolutionsgedanke Sofern man Natur und Kultur in einer historischen Perspektive betrachtet, dann wird ganz offensichtlich, dass sich die jeweilig wahrnehmbaren Einzelformen im Laufe der Zeit sowohl morphologisch als auch funktional beträchtlich verändert haben. Die Frage ist nur, wie man diese Veränderungsprozesse ontologisch zu erklären und zu beurteilen hat. Sind es Entfaltungsprozesse eines unveränderlichen Grundtypus oder Transformationsprozesse eines veränderungsfähigen Phänomens? Gibt es in Natur und Kultur stabile Seinsformen, die sich in variablen Erscheinungsformen repräsentieren können, oder entstehen im Laufe der Zeit ganz neuartige Seinsformen, die nur historisch mit ihren Vorgängerformen verknüpft sind, die aber durchaus als neue Seinsformen mit einem ganz eigenständigen Funktionsprofil und pragmatischen Stellenwert anzusehen sind? Auf jeden Fall zwingt uns das Evolutionskonzept immer dazu, uns Rechenschaft darüber abzulegen, in welche Relationen bzw. Lebenszusammenhänge wir Phänomene einordnen wollen und welche Funktions- und Relevanzprofile wir ihnen dabei jeweils zuordnen möchten.
2.1.1 Die ontologischen Implikationen des Evolutionsgedankens Das ursprüngliche ontologische Denken der Menschen, das natürlich nur auf sehr begrenzten Erfahrungen von Veränderungsprozessen in Natur und Kultur beruhte, war verständlicherweise nachhaltig vom Substanzgedanken geprägt, der auch heute noch unser alltägliches Denken weitgehend bestimmt. Man war grundsätzlich der Auffassung, dass alle Natur- und Kulturphänomene ein stabiles inneres Wesen hätten bzw. Erscheinungsformen eines vorgegebenen Seinstypus seien. Deshalb konnte man sich die nicht zu leugnende Entwicklungsgeschichte von einzelnen Phänomenen auch recht gut als bloße Entfaltungsgeschichte eines vorgegebenen Seinstypus vorstellen (Same ‒ Pflanze, Kind ‒ Erwachsener), die sich mit Hilfe des Entelechiekonzeptes beschreiben ließ. Aufschlussreich ist in diesbezüglich dann auch die Herkunft des Terminus Evolution. Mit dem Wort evolutio bezeichneten die Römer nämlich ursprünglich das zielgerichtete Entrollen von bereits beschriebenen Pergamentrollen. Im Rahmen dieses traditionellen substanzorientierten Denkens konnte man richtig gebildete Begriffe dann recht leicht als Denkmuster verstehen, die das innere Wesen von Phänomenen im Sinne platonischer Ideen repräsentierten. Dementsprechend wurden Begriffe ontologisch dann auch nicht als hypothetische Ordnungsmuster verstanden, die nur einem ganz bestimmten pragmati-
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schen Differenzierungsbedürfnis von Menschen entsprangen. Ihnen wurde daher auch kein konventioneller, sondern ein natürlicher Wert zugeschrieben. Je mehr Wissen man sich aber nun über die Formen und die Formgeschichte von natürlichen und kulturellen Erfahrungsphänomenen aneignete, desto mehr offenbarten sich die Schwächen des Substanzgedankens bzw. die Probleme, die sich mit der Annahme von überzeitlich gültigen Ordnungsbegriffen ergaben. Dabei spielte dann der mittelalterliche Nominalismus eine entscheidende Rolle, weil gerade in ihm darauf aufmerksam gemacht wurde, dass die Annahme ewiger Begriffe nicht mit der Vorstellung von der Allmächtigkeit Gottes vereinbar war, dem ja die Freiheit zugebilligt werden musste, seine Schöpfung ständig umzustrukturieren bzw. die natürlichen und begrifflichen Ordnungssysteme jederzeit zu verändern. Außerdem wurde der Substanzgedanke auch im säkularen ontologischen Denken immer fragwürdiger, weil er dem Relations- und dem Funktionsgedanken eine ganz untergeordnete Rolle zuwies.1 Er impliziert nämlich im Prinzip die Grundvorstellung, dass sich aus den jeweiligen Substanzen von vornherein ergibt, in welchen Relationsgeflechten die einzelnen Phänomene bzw. Begriffe stehen bzw. welche Funktionen sie übernehmen können. Dabei liegt dann die Annahme ganz fern, dass Phänomene auch als Relate betrachtet werden können, deren spezifische Charakteristika sich erst aus den Funktionszusammenhängen ergeben, in denen sie faktisch für uns fassbar werden. Mehr und mehr verstärkte sich auf diese Weise die Auffassung, dass unsere Erfahrungsphänomene gar kein festes überzeitliches Wesen haben, dessen wahrnehmbare Vielfalt sich befriedigend nach dem Entelechiekonzept beschreiben lässt. Die ontologische Erklärungskraft des Relationsgedankens lässt sich im Bereich der Naturgeschichte ganz gut durch folgendes Beispiel veranschaulichen. Nachdem die Lebewesen, die wir heute als Wale bezeichnen, ihren Lebensraum vom Land in das Wasser verlegten, behielten sie ihr Atmungs- und Fortpflanzungsverfahren zwar bei, aber ihre Extremitäten mussten sie zu Flossen umformen, um in ihrem neuen Lebensraum bestehen zu können. Dieses Exempel zeigt, dass man den Wesensbegriff allenfalls auf einer synchronen Betrachtungsebene aufrecht erhalten kann, aber nicht auf einer diachronen bzw. historischen. Im Bereich der Kulturgeschichte dokumentiert sich dieselbe Problematik auch dadurch, dass Wörter bzw. sprachliche Zeichen je nach ihrer Einbettung in neue Kontexte und Geschichten ihre Semantik bzw. ihre pragmatische Funktionalität im Lauf der Zeit ganz erheblich ändern können.
�� 1 Vgl. E Cassirer, Substanz und Funktionsbegriff 1910/19906. H. Rombach, System, Substanz Struktur, 2 Bde. 1965/66.
32 � Die Negation als Evolutionsphänomen Wenn wir diese Überlegungen nun auf das Phänomen der Negation beziehen, dann kann man zu folgendem Schluss kommen. Wir können dem Begriff der Negation kein überzeitliches stabiles Wesen zuschreiben, sondern allenfalls ein relationsbedingtes variables Spektrum von Ordnungsfunktionen, die sich kontextuell und historisch durchaus verschieben können. Das gilt dann nicht nur für den Begriff der Negation im Allgemeinen, sondern auch für das Sinnbildungsprofil einzelner Negationsformen im Besonderen. Dieses kann sich nämlich aktuell und historisch deutlich ändern, obwohl natürlich gerade unsere konventionalisierten Negationszeichen als grammatische Zeichen einem sehr viel stärkeren Normierungszwang unterliegen als lexikalische Zeichen. Über den Evolutionsgedanken lassen sich nun im Hinblick auf die Negationsproblematik insbesondere zwei wichtige Einsichten gewinnen. Zum einen können wir uns auf diesem Wege bewusst machen, dass sich der Inhalt und Umfang des Negationsbegriffs kulturhistorisch ebenso geändert hat wie das Inventar und die Funktionsprofile von einzelnen Negationsformen. Zum anderen können wir uns auf diese Weise auch verdeutlichen, dass Negationen wichtige Mittel sind, um das relationale Denken quantitativ und qualitativ auszuweiten, insofern sie als wichtige Verfahren anzusehen sind, dem korrelierenden Denken einen konkreten sprachlichen Ausdruck zu geben. Dabei können Negationen allerdings sehr ambivalente Funktionen ausüben. Einerseits kann man mit ihrer Hilfe Denk- und Begriffssysteme festigen, insofern sie vorhandene Differenzierungen und Grenzziehungen über Kontrastrelationen festigen. Andererseits kann man mit ihnen aber auch vorhandene Denk- und Begriffssysteme destabilisieren, da sich durch Negationen der Geltungsanspruch von Vorstellungen relativ leicht experimentell in Frage stellen lässt.
2.1.2 Lamarck und Darwin Wenn wir heute den Evolutionsbegriff verwenden, um die Entwicklungsgeschichte natürlicher und kultureller Phänomene aufzuklären, dann verstehen wir ihn wohl kaum noch im Sinne seiner etymologischen Herkunft. Mit ihm wollen wir nicht mehr historische Entwicklungsprozesse als zielgerichtete Prozesse im Sinne einer Entrollungs- bzw. Entelechievorstellung beschreiben, sondern vielmehr Entwicklungsprozesse thematisieren, die zwar kein vorgegebenes Ziel mehr haben, aber die sich gleichwohl doch darum bemühen, unterschiedliche Wirkungsfaktoren in ein gestaltbildendes Fließgleichgewicht zu bringen. Der heutige Evolutionsbegriff ist sicherlich weitgehend durch seine biologische Verwendungsweise bzw. Definition bestimmt. Darüber sollte aber nicht vergessen werden, dass er auch kulturgeschichtliche Wurzeln hat und dass wir heute
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recht selbstverständlich sowohl von biologischen als auch von kulturellen Evolutionen sprechen, wobei dann nicht nur die Überlegungen von Charles Darwin eine wichtige Rolle spielen, sondern auch die von seinem Vorläufer Jean Baptiste de Lamarck. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein hat man biologische Arten als ahistorische und unveränderliche Phänomene angesehen, was dann durch Lamarck und Darwin prinzipiell in Frage gestellt worden ist. Zwar haben beide noch keinen terminologisch definierten Gebrauch vom Begriff der Evolution gemacht, um der Auffassung Ausdruck zu geben, dass biologische Arten keine übergeschichtliche Konstanz haben. Dennoch sind beide aber der festen Überzeugung gewesen, dass biologische Arten nicht sinnvoll mit Hilfe einer unveränderlichen Substanzvorstellung beschrieben werden sollten, sondern eher mit Hilfe eines variablen Relationsgedankens. Dieser hat bei beiden zwar zwei recht unterschiedliche Ausprägungsweisen gefunden, die aber gleichwohl beide für die hier verfolgten Erkenntnisinteressen aufschlussreich sind. Obwohl Lamarck bei der Entstehung der Arten noch von einer Art Urzeugung (generatio spontanea) ausging und auf diese Weise doch noch irgendwie dem Substanzgedanken verpflichtet war, nahm er gleichwohl eine Anpassung der Arten an ihre jeweiligen Umweltbedingungen an, wodurch dann der Relationsgedanke auch für ihn wichtig wurde. Er führte nämlich die Veränderung von einzelnen Organen der Lebewesen auf ihren konkreten Gebrauch zurück und sah demgemäß einen Interdependenzzusammenhang von Formen und Funktionen. Dabei war für Lamarck der Gedanke entscheidend, dass bei Arten die über Anpassungshandlungen erworbenen Eigenschaften durchaus vererbbar seien. Das hat er dadurch exemplifiziert, dass Giraffen aus dem Grunde nach und nach längere Hälse bekommen hätten, weil sie durch ihre Lebensumstände gezwungen worden seien, ihre Blätternahrung in immer größerer Höhe zu finden. Die Idee der Vererbung erworbener Eigenschaften war allerdings keine originale Annahme Lamarcks, sondern im 18. und 19. Jahrhundert bis hin zu Darwin durchaus üblich. In der dogmatischen Biologie der Sowjetunion wurde sie sogar bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts vertreten, weil sie insbesondere für den stalinistisch-materialistischen Erziehungsgedanken sehr attraktiv war. Die Vorstellung, dass sich individuell erworbene Eigenschaften direkt im biologischen Erbgut verankern könnten, ist nach der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Genetik allerdings obsolet geworden. Etwas anders stellt sich die Sachlage allerdings im Hinblick auf die Verankerung von neu erworbenen Handlungsfähigkeiten im kulturellen Erbgut dar und insbesondere im Formeninventar der Sprache. Neu geprägte lexikalische und grammatische Formen können kulturell weitergegeben werden, wenn sie sich als lebensdienlich erwiesen haben. Dabei besteht allerdings natürlich immer die Gefahr, dass sie
34 � Die Negation als Evolutionsphänomen wieder verloren gehen, wenn die dafür maßgeblichen kulturellen Überlieferungstraditionen unterbrochen werden. Kulturformen können natürlich sehr viel schneller und differenzierter entwickelt werden als Naturformen, aber sie gehen zugleich auch sehr viel leichter wieder verloren, wenn sie aus dem Gebrauch bzw. aus der Mode kommen. Beispielsweise können auf diese Weise bestimmte kulturell verankerte Negationszeichen schlicht wieder verschwinden, wenn sie nicht mehr verwendet werden. Das könnte heute beispielsweise auf den aktiven Gebrauch des Konjunktivs II mit seinen spezifischen Negationsimplikationen zutreffen. Dagegen scheint das Prinzip der Negation als Sprachuniversalie aber wohl eine so starke anthropologische, wenn nicht sogar biologische Grundverankerung zu haben, dass es selbst bei massiven Traditionsbrüchen wohl nicht mehr verloren gehen würde. Ebenso wie Lamarck ist auch Darwin der Meinung, dass biologische Arten bzw. Lebensformen nicht unveränderlich bleiben. Aber für diesen Umstand macht er ganz andere ursächliche Relationszusammenhänge geltend als Lamarck. Diese beschreibt man heute meist mit Hilfe der Begriffe Variation bzw. Mutation und Selektion. Diese Kategorien, die Darwin selbst noch nicht sehr geläufig waren, sind ganz brauchbar, um die Entwicklungsdynamik aller historisch gewachsenen Ordnungen zu verstehen, seien es nun Ordnungen in der Natur oder in der Kultur bzw. in der Sprache. Das darwinsche Evolutionskonzept geht davon aus, dass es bei der Reproduktion von Arten zu einer spontanen Variation des Erbgutes kommen kann, sei es durch eine Mutation von Genen oder durch eine Neukombination von ihnen. Da sich nun Lebewesen weit über das Maß hinaus vermehren, das numerisch für die Erhaltung der Art eigentlich notwendig ist, erhalten diejenigen Lebewesen Vorteile im Überlebenskampf um beschränkte Ressourcen, deren verändertes Genmaterial bzw. deren veränderte Handlungsmöglichkeiten den jeweiligen Lebensumständen am besten angepasst sind. Selektionsprozesse dieser Art führen dann dazu, dass vorzugsweise nur diejenigen Lebewesen ihr Genmaterial weitergeben können, die am besten der jeweiligen Lebenssphäre angepasst sind bzw. die am flexibelsten auf neue Lebensbedingungen reagieren können. Während das Entelechiekonzept eigentlich nur auf die Entwicklungsdynamik von Einzelformen aufmerksam macht, lenkt das Evolutionskonzept mit seinen Prinzipien der Variation und Selektion unsere Aufmerksamkeit in sehr viel umfassenderer Weise auch auf die Entwicklungsdynamik von allgemeinen Ordnungsmustern, die allerdings kein bestimmtes vorgegebenes Entwicklungsziel haben. Für Evolutionsprozesse lässt sich allenfalls ein rein formales und strukturelles Ziel angeben. Dieses besteht dann darin, dass Einzelelemente optimal miteinander vernetzt werden und dass widerstreitende Kräfte in ein produktives Fließgleichgewicht gebracht werden, das sich ständig neu formieren muss.
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Diesen Prozess hat Jacques Monod auf die bündige Formel von Zufall und Notwendigkeit (Le hasard et la nécessité) gebracht. Er lässt sich aber auch auf die Formel von Innovation und Kontinuität oder von Traditionsbruch und Traditionsbefolgung bringen. Während es im Entwicklungsverständnis von Lamarck zu einer eigentlich aktiven Anpassung von Organismen an ihre jeweilige Umwelt kommt, bei der individuell erworbene Neuerungen weiter vererbt werden, kommt es in dem von Darwin eher zu einer passiven Anpassung von Organismen an ihre Umwelt, die durch Selektionsvorgänge gesteuert wird bzw. durch das praktische Austesten von Varianten. Deshalb lassen sich Evolutionsprozesse im Denkrahmen von Darwin auch als Prozesse der Selbstorganisation verstehen, in denen nicht nur vielfältige Einzelfaktoren in eine Fließgleichgewicht gebracht werden müssen, sondern in denen es auch zu vielgestaltigen Rückprägungsprozessen kommen kann, weil es letztlich immer um den Passungscharakter von Eigenschaften und den daraus resultierenden Lebensformen zu ihren jeweiligen Umwelten geht. So betrachtet lässt sich dann das darwinsche Verständnis von Evolutionen letztlich auch als eine spezifische Form des Wissenserwerbs von Organismen verstehen, insofern ausgetestet wird, welche Ordnungsstrukturen lebensförderlich sind und welche nicht. Hoimar von Ditfurth hat deshalb sogar die These entwickelt, dass selbst die Entwicklung des menschlichen Gehirns ein Verfahren gewesen sei, die Überlebenschancen von menschlichen Organismen zu verbessern. „Auch unser Gehirn ist ursprünglich kein Organ zum Verstehen der Welt, sondern ein Organ zum Überleben.“2
2.1.3 Das Konzept der kulturellen Evolution Wenn wir Evolutionsprozesse in der beschriebenen Weise als erkenntnisgewinnende Prozesse verstehen, in denen bestimmte lebensdienliche Ordnungsformen entwickelt und erprobt werden, dann liegt es nahe, die evolutionären Prinzipien von Variation, Selektion und Tradierung von der Ebene der Natur auch auf die der Kultur auszudehnen bzw. die Kultur als ein Phänomen zu verstehen, das die Differenzierungsprozesse in der Natur auf ganz spezifische Weise fortsetzt. Eine solche Annahme schließt zugleich auch immer die Auffassung ein, dass biologische und kulturelle Prozesse nicht völlig unabhängig von einander verlaufen, sondern über vielfältige Rückkoppelungs- bzw. Rückprägungsprozesse miteinander verbunden sind. Die Kultur kann dann sogar als ein Mittel �� 2 H. v. Ditfurth, Der Geist fiel nicht vom Himmel, 1976, S. 40.
36 � Die Negation als Evolutionsphänomen der menschlichen Natur verstanden werden, das dazu dient, die Handlungsflexibilität von Menschen im Überlebenskampf entscheidend zu verbessern. Dieses Verständnis von Natur und Kultur hat weiterhin zur Konsequenz, dass wir uns von dem Glauben zu verabschieden haben, dass die Kultur insgesamt als ein völlig geplantes bzw. willentliches Produkt menschlicher Gestaltungskraft anzusehen ist. Diese Auffassung gilt allenfalls für die Gestaltung einzelner Kulturprodukte für ganz bestimmte überschaubare Zwecke (Bauwerke, Steuergesetze, Verkehrsregeln), aber nicht für die Entwicklungsgeschichte sehr komplexer Kulturformen, die gleichzeitig sehr vielfältigen Zwecken dienen können (Sprache, Recht, Geld). Solche Kulturformen haben sich nämlich ganz ähnlich wie Naturformen über Variations- und Selektionsprozesse relativ ungeplant entwickelt. Für die spannungsvolle Interdependenz und Dialektik von komplexen Natur- und Kulturformen haben Richerson und Boyd ein aufschlussreiches Denkbild ins Spiel gebracht. Sie thematisieren die Kultur als einen Hund am Ende der Leine der Natur bzw. der Gene. Dieser Hund sei groß, gewandt und unabhängig, aber im konkreten Fall ließe sich oft schwer entscheiden, ob die Natur den Hund führe oder der Hund die Natur.3 Die kulturelle Gestaltbildung und Informationsspeicherung ist zwar schneller und flexibler als die biologische, aber dafür auch sehr viel labiler. Höher entwickelte Lebewesen brauchen beide Wissensformen, um sich in Selektionsprozessen behaupten zu können. Deshalb ist für sie auch das Lernen eine ganz fundamentale Lebensbedingung. Nicht alle wichtigen menschlichen Handlungsdispositionen lassen sich genetisch codieren. Viele Denkinhalte können nur über kulturelle Zeichen sinnvoll fixiert und weitergegeben werde. Sowohl in der biologischen als auch in der kulturellen Evolution stoßen wir oft auf das Phänomen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, da Selektionsprozesse eine gewisse Trägheit haben und da nicht immer ganz klar ist bzw. sein kann, nach welchen Kriterien konkrete Selektionen zu erfolgen haben. Die daraus entstehenden systemtheoretischen Ungereimtheiten sind nun aber evolutionär gesehen keineswegs immer nur ein Nachteil, denn daraus können Funktionsreserven für die Bewältigung neuartiger Lebensprobleme resultieren. Was nicht direkt nachteilig ist, das muss auch nicht sofort ausgemerzt werden. Traditionsballast kann sich daher sowohl in biologischen als auch in kulturellen Ordnungssystemen durchaus als nützlich erweisen, weil es die Flexibilität dieser Systeme durchaus erhöhen kann. Davon legt der nicht immer sehr systematische Charakter von lexikalischen und grammatischen Ordnungssystemen �� 3 P. J. Richerson/R. Boyd, Not by genes alone, 2005, S. 194.
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ein recht klares Zeugnis ab. In diesem Zusammenhang kann man beispielsweise an die vielen Synonyme in lexikalischen Wortfeldern denken (Brötchen, Semmel, Schrippe, Wecke usw.), an die nicht sehr überzeugende Systematik von Negationspräfixen (averbal, nonverbal, nichtverbal) oder an die Merkwürdigkeiten von doppelten Negationen (nicht unbedeutend, nie kein Geld haben). Insbesondere Friedrich von Hayek hat immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die komplexen Ordnungsgestalten in Wirtschaft, Recht und Sprache nicht aus den Setzungen von rationalen Planungen hervorgegangen seien, sondern vielmehr aus ziemlich undurchschaubaren evolutionären Siebungsprozessen. Diese Formen seien zwar Ergebnisse menschlichen Handelns, aber keineswegs Produkte der planenden Vernunft. Letztlich resultierten sie aus kulturellen Optimierungsprozessen, in denen widerstreitende Ordnungsinteressen zu einem labilen Ausgleich gebracht worden seien. Die Strukturen dieser komplexen Ordnungszusammenhänge könne der Mensch theoretisch zwar nicht völlig durchschauen, aber im praktischen Handeln könne er durchaus erfolgreich mit ihnen umgehen. Kultur ist weder natürlich noch künstlich, weder genetisch übermittelt noch mit Verstand geplant. Sie ist eine Tradition erlernter Regeln des Verhaltens, die niemals erfunden worden sind, und deren Zweck das handelnde Individuum gewöhnlich nicht versteht.4
Hayek hat außerdem immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass das Evolutionskonzept im Sinne des Variations- und Selektionsgedankens bzw. der praktischen Siebung von Hypothesen aller Art ursprünglich auf britische Moralphilosophen und Sozialwissenschaftler des 18. Jahrhunderts zurückzuführen sei (David Hume, Adam Ferguson, Bernhard Mandeville). Es sei dann später über die Biologie als Erklärungsmodell wieder in die Sozial- und Kulturwissenschaften zurückgekehrt. Um den Unterschied zwischen historisch gewachsenen und rational geplanten Ordnungssystemen zu kennzeichnen, hat Hayek dann die Begriffe Kosmos und Taxis ins Spiel gebracht. Mit dem Kosmosbegriff fasst er alle Ordnungsgestalten zusammen, die nach langen Siebungsprozessen als sich selbst regulierende Systeme entstanden seien. Sie könnten zugleich vielen und ganz unterschiedlichen Zwecken dienen. Unter dem Taxisbegriff subsumiert er alle Ordnungszusammenhänge, die ihre Existenz rationaler Planung und expliziter Setzung verdankten. Sie dienten in der Regel nur einem ganz bestimmten definierbaren Zweck.5 �� 4 F. A. v. Hayek, Die drei Quellen der menschlichen Werte, 1979, S. 10. 5 F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, 2003, S. 37‒56.
38 � Die Negation als Evolutionsphänomen Hayeks Anliegen ist es nun, mit Hilfe des Kosmosbegriffs darauf aufmerksam zu machen, dass es gewachsene kulturelle Ordnungsphänomene gebe, die als Ergebnisse von sich selbst regulierenden Prozessen zu verstehen seien. Diese ließen sich rational zwar nicht vollständig durchschauen, aber auf sie könne man sein Handeln dennoch gründen, weil sie dafür sorgten, dass ein sinnvoller Ausgleich zwischen menschlichen Innovations- und Kontinuitätsbedürfnissen stattfinde. Wenn man sich bei der Handhabung solcher Systemzusammenhänge dann auf sein Gefühl berufe (Sprachgefühl, Rechtsgefühl), so möchte Hayek das nicht so verstanden wissen, dass damit bestimmte Defizite und Mängel des vernünftigen Handelns vertuscht werden sollten, sondern vielmehr so, dass es im Denken und Handeln auch vorbewusste Verrechnungsoperationen von Einzelinformationen gebe bzw. dass nicht all unsere geistigen Prozesse von uns rational völlig durchschaut oder analysiert werden könnten. Generell lässt sich in dieser Sichtweise festhalten, dass kulturelle Evolutionsprozesse natürlich sehr viel schneller ablaufen als biologische, insofern sie sich ja auf leicht variierbare kulturelle Zeichen gründen und nicht auf sehr viel stabilere Gene. Kulturelle Zeichen lassen sich dementsprechend auch sehr viel einfacher an neue Ordnungs- und Lebensbedürfnisse anpassen als Gene. Im Bereich der Natur müssen alle Lebewesen sterben, die sich nicht schnell genug an neue Lebensverhältnisse anpassen können. Im Bereich der Kultur müssen im Prinzip nur die Zeichen, Hypothesen und Verhaltensweisen sterben, die unzweckmäßig geworden sind, aber nicht unbedingt die Menschen, die sie jeweils verwenden. Das schließt dann zwar nicht aus, dass auch Hypothesenmacher auf dem Scheiterhaufen sterben können, aber es ermöglicht zugleich dennoch, dass ihre Hypothesen und Anschauungen durchaus weiterleben können. Auf jeden Fall kann man sagen, daß Kulturformen immer eine einfachere und schnellere Anpassungsfähigkeit als Naturformen haben. Während biologische Evolutionen im Prinzip wohl darwinistisch zu verstehen sind, können kulturelle Evolutionen durchaus lamarckistisch verstanden werden, da sich ihre Ergebnisse nicht über genetische Selektionsprozesse, sondern vielmehr durch kulturelle Lernprozesse von einer Generation auf jeweils folgende übertragen lassen. Wenn man das Problem der Evolution in dieser Perspektive sieht, dann liegt es nahe, das Inventar und die pragmatischen Funktionen von Negationsformen eher mit dem Kosmos- als mit dem Taxiskonzept zu korrelieren. Natürlich kann man die Gestalt und den Gebrauch von bestimmten Negationsformen normativ regulieren, was die formale Logik ja durchaus praktiziert, wenn sie beispielsweise doppelte Verneinungen als Bejahungen verstanden wissen will. Durch solche Regulierungen gerät man aber in Gefahr, die sehr vielschichtigen und natürlich gewachsenen Sinnbildungsfunktionen von sprachlichen Negationsformen eher zu übersehen als zu erfassen.
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2.1.4 Gene und Meme Um die Struktur von biologischen und kulturellen Evolutionen sowohl hinsichtlich ihrer spezifischen Differenz als auch Ähnlichkeit besser zu verstehen, ist es hilfreich, sich etwas näher mit dem Begriff Mem zu beschäftigen, den Richard Dawkins 1976 in Analogie und Opposition zu dem Begriff Gen zur Diskussion gestellt hat. Mit ihm will Dawkins vor allem plausibel machen, dass kulturelle Evolutionen als eine Art Fortsetzung von biologischen anzusehen seien.6 Unter Genen versteht Dawkins Erbfaktoren, die sich in Form von bestimmten Gensequenzen in den Chromosomen des Zellkerns befinden. Ihnen schreibt er eine natürliche immanente Tendenz zu, sich über Generationen hinweg zu replizieren bzw. zu vermehren, so dass sie im Prinzip zu den elementaren Ansatzpunkten von Selektionen in natürlichen Evolutionsprozessen werden, die selbst allerdings keine konkrete inhaltliche Zielorientierung haben. Die Kombination von Genen versteht er rein formal als einen Weg, der von der Einfachheit zur Komplexität führe. Bei der Selbsterneuerung von Genen und Genkombinationen könnten sich Fehler einstellen bzw. Varianten bilden, die dann in Selektionsprozessen ihre Lebensdienlichkeit unter Beweis stellen müssten. Die Rede vom egoistischen Gen will er dabei nicht wörtlich in dem Sinne verstanden wissen, dass Gene wie Menschen intentional ganz persönliche Ziele verfolgten, sondern metaphorisch in dem Sinn, dass zu ihrer Vitalität die Tendenz gehöre, sich auszubreiten und im Genpool präsent zu bleiben, wobei dann insbesondere Langlebigkeit, Fruchtbarkeit und Wiedergabetreue eine ganz fundamentale Rolle spielten. Zwar ist inzwischen etwas strittig geworden, ob Gene morphologisch direkt fixierbare Größen sind oder nur Denkhypothesen für die Erklärung der Weitergabe von biologischen Ordnungsstrukturen, aber gleichwohl hat dieses Denkmodell sicherlich einen gewissen heuristischen Erklärungswert. In Analogie zum Replikationsstreben von Genen auf der Ebene der Natur sieht nun Dawkins auch ein Replikationsstreben von Ordnungsmustern auf der Ebene der Kultur. Um das zu thematisieren, hat er zunächst den Terminus Minem eingeführt, den er dann zu Mem verkürzt hat, um die Analogie zum Terminus Gen deutlicher zu markieren. Infolgedessen versteht er unter Memen dann kulturelle Größen, die eine immanente Tendenz haben, sich im Mempool von Kulturen ebenso zu verbreiten wie Gene im Genpool der Natur. Exemplifikationen von Memen sieht er dementsprechend dann in konkreten Sprachzeichen, in bestimmten Melodien, in tradierten Handlungsritualen, in sinnvollen Arbeitsverfahren zur Herstellung von Handwerkswaren usw. Meme und Memkombina�� 6 R. Dawkins, Das egoistische Gen, 19962 (The selfish Gene, Oxford 1976).
40 � Die Negation als Evolutionsphänomen tionen reproduzierten sich in der Kultur in der Regel nach dem Imitationsverfahren.7 Das Typische für Meme ist nun, dass sie ungleich schnellere Evolutionsprozesse ermöglichen als Gene. Bei ihrer Reproduktion kommt es sehr viel häufiger zu zufälligen, spielerisch veränderten oder bewusst konzipierten Varianten. Deshalb kann man bei Memen dann auch von der Vererbung individuell bzw. kulturell erarbeiteter Ordnungsmuster im Sinne von Lamarck sprechen. Kulturelle Evolutionen vollziehen sich dementsprechend dann auch sehr viel schneller als biologische. Gleichzeitig sind die von ihnen erzeugten Ordnungsformen aber auch sehr viel labiler als biologische Ordnungsmuster. An der Tradierung von Sagen und Epen lässt sich das Prinzip memetischer Evolutionen gut demonstrieren. In oralen Kulturen werden diese Textmuster kontinuierlich den jeweiligen Sinnbildungs- und Verständnismöglichkeiten angepasst. In schriftlichen Kulturen bleiben sie dagegen hinsichtlich ihrer Strukturen sehr viel stabiler. Sie können dadurch aber auch an allgemeiner Verständlichkeit verlieren, wenn sich die entsprechenden Denk- und Sprachformen im Laufe der Zeit verändern. Kulturelle Traditionsabbrüche drohen schriftlich fixierten und tradierten Texten bzw. Memen sowohl durch die mangelhafte Lesefähigkeit späterer Rezipienten als auch durch den Verlust ihrer jeweiligen materiellen Repräsentationsformen, wofür der Brand der Bibliothek in Alexandria ein besonders spektakuläres Beispiel ist. Interessant ist nun, dass sowohl die Gene als auch die Meme einerseits durch die mit ihnen verbundenen Variations- und Selektionsprozesse ein gewisses Eigenleben entwickeln können, dass sie andererseits aber auch durch bestimmte Rückkoppelungs- bzw. Rückprägungsprozesse aufeinander einzuwirken vermögen. So haben beispielsweise memetische Evolutionen und neue Kulturformen ganz neuartige Ausprägungen des menschlichen Gehirns bzw. der menschlichen Denkfähigkeiten begünstigt. Umgekehrt hat die genetische Evolution des Gehirns wiederum die Ausbildung neuer memetischer bzw. kultureller Ordnungsformen ermöglicht, da Meme ja immer bestimmte genetische Voraussetzungen im Gehirn brauchen, um sich differenziert ausgestalten und ausbreiten zu können. Das Kriterium für die erfolgreiche Ausbreitung von Memen ist nicht ihr Wahrheitsgehalt bei der Abbildung von Welt, sondern vielmehr ihre Funktionalität bei der pragmatischen Bewältigung der Welt in kulturellen Ordnungs- und Handlungsanstrengungen. Deshalb lässt sich die Entstehung neuer Meme auch als Erzeugung von neuen Sinnbildungskonzepten verstehen, die sich verläss�� 7 R. Dawkins, a. a. O., 19962, S. 304ff.
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lich im Gehirn speichern und über Imitationen gut verbreiten lassen. Dementsprechend verweist Susan Blackmore dann auch auf eine Definition des Mems im ›Oxford English Dictionary‹, die folgendermaßen laute: „Ein Element der Kultur, das offenbar auf nichtgenetischem Weg, insbesondere durch Imitation weitergegeben wird.“8 Das bedeutet nun, dass sich konkrete Meme erst dann ausbilden können, wenn über Gene das Gehirn so strukturiert worden ist, dass Meme als Denkformen dort auch eine verlässliche Heimstatt finden können. Dieses Korrelationsverhältnis ist dabei aber nicht als ein lineares Kausalverhältnis im Sinne von Ursache und Folge anzusehen, sondern vielmehr als ein wechselseitiges Bedingungs- und Interaktionsverhältnis, das einen koevolutionären Hintergrund hat. Wenn man auf der Basis dieser Überlegungen zu Genen und Memen nun danach fragt, ob oder inwiefern sich die Sprache und die Negation bzw. die einzelnen Sprach- und Negationsformen als Meme betrachten lassen, dann ergeben sich vielleicht folgende Denkzusammenhänge. Diese fußen dabei auf der Grundüberzeugung, dass es eine Koevolution von Genen und Memen gibt und dass die Evolution von konkreten Sprach- bzw. Negationsformen ein Ergebnis von genetischen und memetischen Konstitutions-, Variations- und Selektionsprozessen ist. Durch neue Meme haben Menschen dann immer größere Handlungsspielräume bekommen und damit natürlich auch immer größere Überlebenschancen. Die historisch entwickelten expliziten und impliziten Negationszeichen lassen sich deshalb dann nicht nur als kulturell erzeugte Meme verstehen, sondern darüber hinaus sogar auch noch als ganz spezifische Intelligenzverstärker in Evolutionsprozessen. Wenn man das Negationsproblem in dieser Denkperspektive betrachtet, dann genügt es natürlich nicht, eine bloße Bestandsaufnahme der kulturell entwickelten Negationsformen zu machen. Wir haben immer auch danach zu fragen, welche genetisch verankerten anthropologischen Denkdispositionen den einzelnen Negationsformen bzw. Negationsmemen zugrunde liegen und wie sich beide koevolutionär entwickelt haben könnten. Weiterhin haben wir uns dafür zu interessieren, wie sich bei der Nutzung von Negationsformen Meme unterschiedlichen Typs kooperierend zusammenfinden. In diesem Zusammenhang ist dann nicht nur an sachthematische Informationsprozesse zu denken, in denen es darum geht, ob bestimmte Sachverhalte tatsächlich existieren oder nicht, sondern auch an reflexionsthematische Sinnbildungsprozesse, in denen man Unbekanntes über die Negation von Bekanntem zu erschließen versucht
�� 8 S. Blackmore, Die Macht der Meme, 2000, S. 86.
42 � Die Negation als Evolutionsphänomen und eben dadurch dann zumindest in einer vorläufigen und ergänzungsbedürftigen Weise auch fassbar macht. Außerdem ist zu erkunden, wie sich Menschen mit Hilfe von Negationsverfahren gegenüber genetisch oder memetisch verhärteten Denkweisen zur Wehr setzen können. Negationen wären so gesehen dann auch als Mittel zu betrachten, neue Meme zu erzeugen. All diese Probleme treten deutlich hervor, wenn wir uns damit beschäftigen, welche genetische und memetische Bedeutsamkeit das ambivalente Phänomen Grenze für Menschen hat. Grenzen haben nämlich für alle Lebewesen nicht nur eine Schutz-, sondern zugleich auch eine Einengungsfunktion, weshalb Menschen und Kulturen einerseits immer danach streben, Grenzen zu bilden und zu festigen, aber andererseits auch danach, Grenzen zu überschreiten oder gar zu beseitigen.
2.2 Die Negation und der Grenzgedanke Auf den ersten Blick erscheint es nicht besonders naheliegend, unsere übliche Vorstellung von Grenzen mit dem Evolutions- und Negationsgedanken in Verbindung zu bringen. Diese Sichtweise ändert sich allerdings, wenn wir Grenzen nicht als vorgegebene Barrieren verstehen, sondern nur als motivierte Trennlinien zwischen unterschiedlichen Sphären, die einerseits zwar etwas von etwas anderem absondern sollen, die aber andererseits auch etwas mit etwas anderem in eine besondere Beziehung zu setzen haben. Unter diesen Bedingungen lassen sich Grenzen dann als Kontaktstellen zwischen unterscheidbaren Welten verstehen, denen auch ganz bestimmte Korrelationsfunktionen zufallen können. Ebenso wie die Gegenwart eigentlich nur als die Kontaktstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft anzusehen ist, aber von uns dennoch als eigener Zeitraum mit eigenständigen Gestaltungsmöglichkeiten verstanden wird, so lässt sich auch eine Grenze als eine Art Zwischenwelt verstehen, über die unterschiedliche Eigenwelten in Interaktion miteinander treten können. In dieser Sichtweise wird dann eine Grenze auch zu einem Vermittlungsraum, der sich nicht nur auf variable Weise erfassen, sondern auch ausgestalten lässt. Eine solche Wahrnehmung der Grenzproblematik ermöglicht es, Grenzen methodisch und pragmatisch Ordnungs- und Gestaltungsfunktionen zuzuordnen, die viele Ähnlichkeiten mit denen von Negationen besitzen. Einerseits haben Grenzen nämlich die Aufgabe, Lebenssphären so voneinander abzusondern, dass diese sich selbstständig zu entfalten vermögen und damit dann auch als eigenständig wahrgenommen werden können. Andererseits haben sie aber auch die Aufgabe, zwischen unterschiedlichen Welten so zu vermitteln, dass auf kontrollierbare Weise Inhalte aus der einen Welt in die jeweils andere ge-
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langen können. Damit werden Grenzen zu Mitteln, die einerseits zwar etwas abwehren bzw. negieren, die andererseits aber auch etwas durchlassen bzw. etwas mit etwas anderem in eine konstruktive Beziehung zu setzen vermögen. Auf diese Weise können dann Grenzen durchaus zu Manifestationsformen von Lebendigkeit und Austausch werden, da sie etwas als unterschiedlich, aber dennoch als korrelations- oder gar symbiosefähig kennzeichnen. Aus der Grundfunktion von Grenzen, Identitäten faktisch zu ermöglichen und intern auszubalancieren, ergibt sich die Chance, den Grenzgedanken sowohl mit dem Evolutions- als auch mit dem Negationsgedanken in Verbindung zu bringen. Mit dem Phänomen der Evolution hat das der Grenze gemeinsam, dass das Streben nach Eigenständigkeit und Tradition auf der einen Seite immer wieder mit dem Streben nach Transformation und Innovation auf der anderen Seite austariert werden muss und dass bestimmte Lebenswelten und Lebensformen sich nicht einschränkungslos in andere ausdehnen dürfen, ohne ihre spezifische Identität zu verlieren. Mit dem Phänomen der Negation hat das der Grenze gemeinsam, dass etwas Fremdes abgewehrt und ausgeschlossen werden muss, damit etwas Vertrautes seine Eigenständigkeit bewahren kann und nicht von etwas anderem aufgesaugt wird. Das bedeutet, dass Grenzen nicht nur dazu da sind, etwas auszugrenzen, sondern auch dazu, etwas einzugrenzen, und dass sie Symbioseprozesse nicht grundsätzlich verhindern, sondern durchaus auch strukturieren können. Grundsätzlich tragen also Grenzen immer etwas zu Gestaltbildungsprozessen bei, da durch sie immer festgelegt wird, was wahrnehmbare Figur und was kontrastgebender Hintergrund ist bzw. sein kann.
2.2.1 Formen und Funktionen von Grenzen Wenn man nach den Implikationen von Grenzen fragt, dann darf man sich freilich nicht nur mit ihren aktuellen Abtrennungs- und Vermittlungsfunktionen zwischen unterscheidbaren Welten beschäftigen. Man sollte sein Interesse auch immer auf die Entstehungsbedingungen von Grenzen richten. Grenzen sind nämlich nicht einfach da, sondern sie bilden sich erst in bestimmten Handlungs- und Unterscheidungsprozessen heraus bzw. sie werden von Menschen intentional gesetzt. Aufgabe der Politik und der Ethik ist es, Grenzen zu ziehen bzw. zu bestimmten Handlungsmöglichkeiten ja oder nein zu sagen. Aufgabe der Wissenschaft ist es, etwas von etwas anderem zu unterscheiden und kategorial einzuordnen. Von dem, was wir nicht von etwas anderem unterscheiden können, gewinnen wir kein durchstrukturiertes Wissen. Was sich nicht von etwas anderem abgrenzen lässt, das hat für uns keine fassbare Eigenständigkeit. Wer keine
44 � Die Negation als Evolutionsphänomen Unterschiede machen kann, der verliert sein eigenständiges Differenzierungsvermögen. Wer zu sich selbst Ich sagen kann, der hat schon die Fähigkeit erworben, Grenzen zu ziehen. Wer Recht setzen will, der muss Grenzen ziehen und durchsetzen. Wer denkt, der muss Grenzen bilden und überschreiten.9 Wenn wir akzeptieren, dass Grenzen nicht einfach vorfindbar sind, sondern sich vielmehr erst im Kontext bestimmter pragmatischer Unterscheidungsbedürfnisse evolutionär herausbilden bzw. intentional gesetzt werden, dann ist es nicht sehr sinnvoll, mit eindeutig fixierbaren Grenzlinien zu rechnen. Es ist vielmehr angemessener, mit flexiblen Grenzräumen zu rechnen, die sich ganz unterschiedliche Erscheinungsgestalten geben können und müssen. Starre Grenzen erweisen sich evolutionär gesehen nämlich als ebenso lebensfeindlich wie völlig offene Grenzen. Rechts- und Sittenordnungen haben eine natürliche Tendenz, Grenzen zu stabilisieren, um Chaos zu vermeiden. Die Kunst hat dagegen ein natürliches Streben, gegebene Grenzen aufzulösen und neue zu bilden. Nietzsches Tatmensch, der sich selbst keine Grenzen auferlegt, ist daher letztlich genauso gefährlich, wie der Bürokrat, der in seinem Gefängnis von vorgegebenen Grenzen bleibt und auch bleiben will. Grenzen sind unverzichtbare kulturelle Phänomene. Die Kultur lässt sich deswegen auch als ein Verfahren zur Bildung, Erprobung und Variation von Grenzen verstehen. Wer Grenzen thematisieren kann, der hat sich im Prinzip schon von ihrer Übermacht befreit, weil er Hypothesen darüber hat, wie sie entstanden sind, welchen Zwecken sie dienen und was hinter ihnen liegen könnte. Erkannte Grenzen sind deshalb für ihn auch keine unüberwindlichen Barrieren mehr, sondern vielmehr pragmatisch motivierte und zu rechtfertigende Ordnungsphänomene. Die Sprache insgesamt und insbesondere die sprachlichen Negationsformen sind daher auch als ganz unverzichtbare semiotische Hilfsmittel anzusehen, um auf fruchtbare Weise mit Grenzen umzugehen.10 Als ein komplexer und historisch gewachsener Begriff lässt sich der Begriff der Grenze nicht auf sinnvolle Weise abschließend normativ definieren, eben weil er in sehr vielfältige Verwendungsgeschichten verstrickt sein kann und verstrickt werden muss. All diese Geschichten eröffnen insbesondere im Zusammenhang mit der Negationsproblematik sehr wichtige Wahrnehmungsperspektiven für das Problem von Grenzen in der Kultur und insbesondere in der Sprache. Etymologisch geht das deutsche Wort Grenze auf das slavisch-polnische Wort granica zurück, mit dem ursprünglich die Trennlinie zwischen zwei unter-
�� 9 Vgl. K. P. Liessmann, Lob der Grenze, 2012, S. 29‒44. 10 Vgl. I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik … § 57, Werke Bd. 5, S. 224ff.
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schiedlichen Herrschafts- und Siedlungsräumen bezeichnet wurde. Das Lehnwort Grenze hat dann nach und nach die germanische Wortprägung Mark als Bezeichnung für einen ganzen Übergangsraum verdrängt, weil es sich auch leichter auf nicht-räumliche Trennzonen und Trennlinien in kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und sprachlichen Bereichen übertragen ließ. Der Begriff der Grenze wurde nämlich schon bald so verwendet, dass mit ihm nicht nur geographische bzw. natürlich erfahrbare Trennlinien bezeichnet worden sind, sondern auch theoretische bzw. normativ postulierte. Dadurch wurde es dann auch erleichtert, Trennlinien nicht nur als ontisch vorgegeben anzusehen, sondern auch als konstruktiv gesetzt bzw. als intentional gewollt. Vor diesem Hintergrund wird nun auch verständlich, warum man die Philosophie insbesondere in ihren Erscheinungsformen von Ontologie und Ethik immer wieder als eine Wissenschaft von den Grenzen verstanden hat. Sei es, dass der Philosophie die Aufgabe zugeordnet wurde, natürliche Grenzen im Sein zu erkunden, was dann allerdings im Laufe der Zeit immer mehr in den Aufgabenbereich der Fachwissenschaften gefallen ist. Sei es, dass man der Philosophie die Funktion einer Metawissenschaft zugeordnet hat, deren Aufgabe es sein sollte, sinnvolle Grenzen zwischen den Fachwissenschaften abzustecken bzw. den konkreten Geltungsanspruch von fachwissenschaftlichem Einzelwissen genauer zu bestimmen. Wenn man in dieser Weise der Philosophie der Aufgabe stellt, die Reichweite und Funktionalität von Begriffsbildungen zu qualifizieren, dann wird auch verständlich, warum ihr mehr und mehr die Funktion zugefallen ist, eher Fragen zu stellen als diese zu beantworten. Auf diese Weise wuchs ihr auf ganz natürliche Weise nämlich die Aufgabe zu, Grenzziehungen zu erproben und zu beurteilen. Dadurch rückten dann natürlich nicht nur explizite Negationsformen in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit, sondern auch implizite wie etwa der metaphorische, der ironische oder der paradoxe Sprachgebrauch. Grenzen sind unabdingbare Prämissen dafür, um etwas geordnet wahrzunehmen bzw. um das eigene Denken übersichtlich zu strukturieren. Wer aber nun Grenzen als veränderbar ansieht und wer den Gebrauch von Negationen als heuristische Strukturierungsverfahren versteht, der hat sich schon aus der direkten Gefangenschaft von Grenzen und Negationen befreit. Er kann nämlich beide Phänomene in einer umfassenderen Metaperspektive wahrnehmen und pragmatisch als Sinnbildungsmittel nutzen und verändern. Grenzen werden dann Voraussetzungen dafür, etwas typologisch wahrzunehmen. Sie schränken nicht nur Bewegungsspielräume im Denken und Handeln ein, sondern ermöglichen es auch, diese konkret zu entfalten und zu strukturieren. Je klarer Grenzen in Erscheinung treten, desto stärker wird natürlich auch der Reiz, gegen sie zu opponieren oder sie zu überwinden.
46 � Die Negation als Evolutionsphänomen Die Überschreitung von Grenzen ist allerdings kein einmaliger Akt, sondern im Prinzip immer nur ein erster Schritt, um in neue Gestaltungsprozesse einzutreten. Jede überwundene Grenze macht nämlich neue Grenzen bzw. andersartige Grenzziehungen sichtbar. Jede Grenze lässt sich logisch stufen. Sie lässt sich als feste Form (forma formata) wahrnehmen oder als ein Formungsprinzip (forma formans), aus dem dann erst stabile Formen resultieren. Das bedeutet, dass Formen eigentlich immer Bestandteile von umfassenden Vernetzungsstrukturen sind, die sowohl Affirmations- als auch Negationsimplikationen haben. Mit Hilfe von sprachlich fixierten Begriffen ziehen wir feste Grenzen. Mit Hilfe von Metaphern bzw. analogisierenden Redeweisen versuchen wir, vermeintliche Grenzen zu überwinden und Ähnliches im Unähnlichen zu sehen und umgekehrt. Jede lebendige Form braucht flexible Grenzen, weil sie sich ansonsten nicht auf fruchtbare Weise mit ihren möglichen Umwelten vernetzen könnte. Dieses Phänomen hat Goethe ontologisch als Dauer im Wechsel beschrieben. Der Biologe Ludwig von Bertalanffy hat in diesem Zusammenhang die Denkfigur vom „Fließgleichgewicht“ geprägt, um hervorzuheben, dass die Einheit und Stabilität von lebendigen Formen und Systemordnungen in fast paradoxer Weise auf ihrer Variabilität bzw. auf ihrer Selbstorganisation und Selbsterneuerungskraft beruht.11 Für den Menschen können grenzenlose Räume psychisch ebenso belastend sein wie völlig begrenzte. Deshalb müssen sinnvolle Grenzen immer eine gewisse Flexibilität und Durchlässigkeit haben, die Lernprozesse als Strukturierungsprozesse bzw. als Spiel mit Grenzen zulassen. Das Pathos des Begriffs lebt zwar von der Vorstellung der Existenz von vorgegebenen natürlichen Grenzen, die es dann ermöglichen, begrifflich und syntaktisch durchgeformte Aussagen eindeutig als wahr oder als falsch zu klassifizieren. Die klassische Logik ist deswegen ja auch als zweiwertige Entweder-Oder-Logik konzipiert worden, weil sie ansonsten als Schlussfolgerungslogik kaum verwendbar wäre. Heraklit hat nun aber schon sehr früh darauf aufmerksam gemacht, dass eine starre Begriffslogik immer Gefahr laufe, die Wirklichkeit zu verfehlen, da in dieser alles im Fluss sei, und dass unser Denken nicht einfach von der Veränderungswirkung der Zeit abstrahieren dürfe. Zwar hat es immer eine Ehrfurcht vor Grenzen und natürlichen Oppositionen gegeben (gut‒böse, heilig‒profan, diesseits‒jenseits), aber immer auch eine Warnung davor, Grenzziehungen in einem absoluten und nicht in einem methodischen Sinne zu verstehen. Gerade die klassische griechische Tragödie lebt ja davon, das Problem von Grenzziehungen �� 11 L. v. Bertalanffy, Das biologische Weltbild, 1949, S. 120ff.
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zu thematisieren und moralische Werte hinsichtlich ihres ethischen Ranges bzw. hinsichtlich ihrer anthropologischen Bedeutsamkeit zu hierarchisieren.
2.2.2 Assimilation und Akkommodation Wenn man wie der Biologe und Psychologe Jean Piaget kognitive Prozesse aller Art als Prozesse der Anpassung von Organismen an ihre jeweiligen Umwelten versteht und damit im Prinzip als eine Fortsetzung von biologischen Anpassungsprozessen, dann eröffnet sich eine interessante Wahrnehmungsperspektive für die Negationsproblematik. Negationen können dann als lebenspraktische Handlungen verstanden werden, die Organismen dabei helfen, sich in ihren jeweiligen Lebenssphären besser zu orientieren und damit ihre Lebens- und Überlebensmöglichkeiten zu verbessern. In diesem Zusammenhang hat Piaget dann auf die Begriffe Assimilation und Akkommodation zurückgegriffen, um im Rahmen seiner genetischen Erkenntnistheorie den Übergang der Evolution von der biologischen auf die psychologische und kulturelle Ebene genauer zu erfassen und zu beschreiben. Mit Hilfe dieser beiden Begriffe lässt sich nämlich die biologische, anthropologische und geistige Tiefendimension von Entwicklungsprozessen recht gut in den Blick bekommen. Die Begriffe der Assimilation und Akkommodation sind für Piaget gegenläufige, aber letztlich doch sich ergänzende Begriffe, weil mit ihnen die die Interaktionsprozesse von Organismen mit ihrer Umwelt erfasst werden können, die Piaget ähnlich wie Bertalanffy prinzipiell als Prozesse der Gleichgewichtsbildung bzw. der Äquilibration ansieht. Für Piaget steht nämlich bei Erkenntnisprozessen nicht der Abbildungsgedanke bzw. der figurative Aspekt des Wissens im Vordergrund des Interesses, sondern vielmehr der Funktions- und Transformationsgedanke bzw. der operative Aspekt. Das ist nun natürlich insbesondere im Hinblick auf die Negationsproblematik von großer Bedeutsamkeit. Erkennen heißt, Realität an Transformationssysteme zu assimilieren. Erkennen heißt, Realität zu transformieren, um zu verstehen, wie ein bestimmter Zustand zustande kommt. [...] Nach meiner Ansicht bedeutet, ein Objekt zu erkennen nicht, es abzubilden, sondern, auf es einzuwirken. Es bedeutet, Transformationssysteme zu konstruieren, die sich an oder mit diesem Objekt ausführen lassen.12
Piagets Gründung des Erkenntnisgedankens auf den Operationsgedanken beinhaltet, dass er weder die objektive Realität noch das denkende Subjekt zum �� 12 J. Piaget, Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, 1973, S. 22‒23.
48 � Die Negation als Evolutionsphänomen Ausgangspunkt seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen machen kann, sondern nur das Zusammenspiel beider. Deshalb interessieren Piaget alle Verfahren, mit denen Subjekte mit der Welt der Objekte Kontakt bekommen können bzw. erfolgreich in ihre jeweilige Lebenswelt hineingleiten können. Für die Strukturierung dieser Interaktionsprozesse spielen dann natürlich Abwehrbzw. Negationshandlungen eine ebenso wichtige Rolle wie Bestätigungs- bzw. Affirmationshandlungen. In diesem Zusammenhang greift Piaget dann auf die biologischen Begriffsbildungen Assimilation und Akkommodation zurück, die ursprünglich nur bei der Beschreibung von Stoffwechselprozessen bei Organismen eine wichtige Rolle gespielt haben, die dann aber von ihm auch für die Analyse von geistigen Sinnbildungsprozessen in Anspruch genommen werden. Ein Organismus kann nicht alle Stoffe aus seiner Umwelt aufnehmen bzw. assimilieren, um seine Lebensfähigkeit aufrechtzuerhalten, sondern immer nur diejenigen, die zu seinen eigenen Strukturordnungen, Funktionsabläufen und Bedürfnissen passen. Schon die Zellmembran muss Stoffe abwehren, die für die jeweilige Zelle nicht verwendungsfähig sind. Das bedeutet weiterhin, dass ein Organismus komplexe Stoffe über Enzyme in solche Grundelemente aufspalten bzw. umbauen muss, die für ihn brauchbar sind, aber alle anderen konsequent auszuscheiden hat. Assimilationsprozesse sind dementsprechend als Aneignungs- und Einverleibungsprozesse zu verstehen, die zugleich immer auch Abwehrprozesse auf der Basis von selektiven Wahrnehmungen beinhalten. Ein Organismus muss sich nach außen hin abgrenzen, um sich nach innen hin erfolgreich organisieren zu können. Wenn nun ein Organismus aus seiner Umwelt nicht mehr das assimilieren kann, was er braucht, bzw. wenn er in seinen üblichen Interaktionsprozessen mit ihr gestört ist, dann muss er sich notwendigerweise aktuell oder evolutionär den neuen Rahmenbedingungen anpassen bzw. sich selbst verändern, um so das gestörte Gleichgewicht wieder herzustellen. Diesen Anpassungsprozess an neue Gegebenheiten bezeichnet Piaget dann als eine Akkommodation. Es ist nun offensichtlich, daß sich der Prozess der Gleichgewichtsbildung mit Hilfe von Assimilations- und Akkommodationsverfahren von der biologischen auch auf die kulturelle bzw. sprachliche Ebene ausweiten lässt. Solange Kultur- und Sprachkonventionen problemlos funktionieren, kommt es lediglich zu geistigen Assimilationsprozessen. Nur das wird wahrgenommen und verarbeitet, was in den eigenen Erwartungs- und Vorstellungshorizont passt. Alles andere wird auf frühen Stufen der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung schon ausgesondert, umgearbeitet bzw. als randständig und wertlos wahrgenommen oder sogar als falsch erklärt. Diese Situation ändert sich nun allerdings grundlegend, wenn ein Organismus mit seinen üblichen Assimilationsstrategien scheitert und weder biologisch
Die Negation und der Grenzgedanke � 49
noch geistig erfolgreich handeln kann. Dann muss er neue Assimilationsmöglichkeiten entwickeln, also sich selbst umstrukturieren, um wieder erfolgreich mit seiner Außenwelt interagieren zu können. Das zeigt sich auf der biologischen Ebene darin, dass ein Organismus evolutionär seinen Stoffwechsel bzw. seine Verdauungsorgane umstrukturieren muss, um sich neue Nahrungsquellen erschließen zu können, bzw. dass er seine Wahrnehmungsorgane verändern muss, wenn er überleben will. So mussten beispielsweise beutemachende Tiere auf evolutionäre Weise Frontalaugen mit einer genauen Zielsicht entwickeln und Fluchttiere Lateralaugen mit einer umfassenden Rundumsicht. Das zeigt sich auf der kulturellen Ebene darin, dass sich Personen, die sich in andere Lebenssphären begeben, sich auch anderen Rechts- Sitten- und Sprachnormen anpassen müssen, wenn sie hier erfolgreich handeln bzw. sozialverträglich leben wollen. Bei der Wahrnehmung von Kultur- und Sprachformen assimilieren wir spontan das, was zu unseren Wahrnehmungsgewohnheiten oder Wahrnehmungsbedürfnissen passt bzw. gestalten es schon auf einer vorbewussten Verarbeitungsebene so um, dass es dazu passt. Da wir etwas immer durch die Brille unserer schon gegebenen Wahrnehmungsmuster erfassen, bedeutet das, dass wir etwas sowohl erkennen als auch verkennen können, da wir es ja immer irgendwie an schon Vorhandenes anpassen. Erst wenn es für uns unabweisbar wird, dass die spontanen Assimilierungsverfahren nicht zu sinnvollen Ergebnissen führen, dann sehen wir uns gezwungen, unsere Wahrnehmungsschemata so zu verändern, dass wieder befriedigende Ergebnisse erreicht werden können. Solche Selbstkorrekturprozesse sind natürlich im dialogischen Sprachgebrauch leichter, schneller und besser zu realisieren als im monologischen. Die Veränderungsgeschichte von lexikalischen und grammatischen Ordnungsmustern legt ein klares Zeugnis von der Notwendigkeit kultureller Akkommodationsprozesse ab. Auch der Paradigmenwechsel in den Wissenschaften dokumentiert die sachliche Notwendigkeit bzw. das psychologische Bedürfnis, auch in Akkommodationsprozesse einzutreten, um neue Wahrnehmungsmöglichkeiten zu gewinnen. Für die Hermeneutik ist es geradezu eine Selbstverständlichkeit geworden, Texte nicht nur in einer einzigen Wahrnehmungsperspektive zu erfassen, sondern sich auch über Akkommodationsprozesse methodisch auf fremdartige bzw. anscheinend unverständliche Texte einzustellen. Im religiösen Bereich sind alle Formen der Mystik davon geprägt, dass sie von der Grundüberzeugung ausgehen, dass man sich erst selbst verändern müsse, wenn man neue Erfahrungen machen möchte. Nach Piaget prägt das Wechselspiel von Assimilations- und Akkommodationsprozessen mit ihren spezifischen Affirmations- und Negationsimplikationen unser ganzes biologisches und geistiges Leben. „Jede Eroberung der Akkommo-
50 � Die Negation als Evolutionsphänomen dation wird also zum Material für Assimilationen, die sich jedoch unaufhörlich wieder neuen Akkommodationen widersetzen.“13
2.2.3 Phylo- und Ontogenese Wenn man das Phänomen der Grenze nicht nur als System-, sondern auch als Evolutionsproblem sieht, dann müssen die mit diesem Phänomen verbundenen Assimilations- und Akkommodationsprobleme sowohl in ihrer stammesgeschichtlichen Entwicklung (Phylogenese) als auch in ihrer individualgeschichtlichen Entwicklung (Ontogenese) näher untersucht werden. Dabei wird dann erkennbar, dass evolutionär weiter entwickelte Lebewesen natürlich eine sehr viel größere Spannweite an Assimilations- und Akkommodationsmöglichkeiten haben als weniger differenziert entwickelte. Insbesondere für Menschen haben sich die entsprechenden Reaktionsmöglichkeiten durch die Entwicklung der Kultur und insbesondere der Sprache als einer Art zweiter Natur gewaltig ausgeweitet. Es ist deshalb auch nicht überraschend, dass jede Kultur im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte ein großes Inventar von unterschiedlichen Negationsmöglichkeiten hervorgebracht hat, um kognitiv und kommunikativ flexibel auf Erfahrungen reagieren zu können. Auf einer elementaren Ebene der Kultur ähneln sich die Negationsformen deshalb sehr, während sie sich auf weiter entwickelten Ebenen durchaus unterscheiden können, da sie natürlich auf recht unterschiedliche Unterscheidungsbedürfnisse zugeschnitten sind. Im Spracherwerb erlernen die Kinder die elementaren Negationsformen deshalb auch viel eher als die kulturspezifischen. Deshalb ist ja auch die These vertreten worden, dass Kinder in ihrem individuellen ontogenetischen Spracherwerbsprozess den allgemeinen phylogenetischen gleichsam in einem Schnellverfahren nochmals durchlaufen. Im elementaren Sprachgebrauch genügen die einfachen Negationsmittel (nein, nicht, kein, nie, niemand, nirgends usw.), um etwas auszuschließen bzw. zurückzuweisen. Im entwickelten Sprachgebrauch erweist es sich dagegen als notwendig, den Sachbezug und die Intensität von Ausschlussverfahren zu variieren und dabei nicht nur nach dem simplen Entweder-Oder-Prinzip zu verfahren. Das exemplifiziert beispielsweise der ironische Sprachgebrauch recht gut. Gerade Akkommodationsprozesse, die im Verlaufe der Kulturgeschichte immer
�� 13 J. Piaget, Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde, 1974, S. 340.
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wichtiger geworden sind, benötigen nämlich sehr differenzierte Negationsverfahren. Die Entwicklung der Akkommodationsfähigkeit im Laufe der Phylo- und Ontogenese ist deshalb auch eine ganz unabdingbare Voraussetzung dafür, dass sich das Phänomen Geschichte konstituieren kann. Völker und Personen, die in schon immer praktizierten Assimilationsverfahren verharren und unfähig sind, sich selbst zu verändern, bezeichnen wir gemeinhin als geschichtslos. Dagegen verstehen wir Völker und Personen als geschichtsfähig, die ihre Handlungsmöglichkeiten über Akkommodationsprozesse ausweiten und eben dadurch dann auch neue Lebensformen entwickeln können. Eine fundamentale Voraussetzung für die menschliche Anpassungsfähigkeit als Gattungs- und Individualwesen ist natürlich auch die Entwicklung von neuen neuronalen Strukturen, die dann ein differenzierteres Wahrnehmen, Denken und Sprechen ermöglichen. Je vielfältiger Neuronen im Gehirn über ihre Kontaktstellen (Synapsen) miteinander verknüpft sind und je vielfältiger Gehirnareale interaktiv miteinander verbunden sind, desto vielfältiger werden natürlich die menschlichen Assimilations- und Akkommodationsmöglichkeiten in der Phylo- und Ontogenese und damit natürlich auch die Chancen, sich von eingeschliffenen Reiz-Reaktionsmustern zu lösen. Gerade die Ausgestaltung unterschiedlicher Gedächtnisformen (Artgedächtnis, Kulturgedächtnis, Individualgedächtnis, semantisches Gedächtnis, episodisches Gedächtnis, prozedurales Gedächtnis usw.) ist eine unabdingbare Voraussetzung dafür, Assimilations- und Akkommodationsverfahren in der Phylo- und Ontogenese auf fruchtbare Weise miteinander zu kombinieren und eben dadurch traditionell gefestigte Handlungsgrenzen zu überwinden. Für solche Prozesse sind dann natürlich variable Negationsformen unabdingbar.
2.2.4 Der Umgang mit Grenzen Im alltäglichen Leben gehen wir wie bereits erwähnt davon aus, dass Grenzen irgendwie ontisch vorgegeben seien und deshalb nur richtig erfasst und sprachlich fixiert werden müssten. Diese Grundauffassung setzt dann natürlich unseren Negationen und Affirmationen ziemlich enge Operationsspielräume. Eine genauere Betrachtung zeigt nun aber, dass vernünftige und praktikable Grenzziehungen zwar einerseits durch vorgegebene Seinsstrukturen bedingt sind, dass sie aber andererseits im Prinzip je nach unseren Differenzierungsintentionen dennoch sehr vielfältige und unterschiedliche konkrete Realisationen erlauben. Das bedeutet, dass faktisch gezogene Grenzen letztlich auch als Konstruktionsergebnisse des Wahrnehmens und Denkens anzusehen sind, die sich
52 � Die Negation als Evolutionsphänomen nicht nur von Lebewesen zu Lebewesen unterscheiden können, sondern auch von Kultur zu Kultur bzw. von Sprache zu Sprache. Zweifellos sind die Freiheiten bei der Konstruktion und Transformation von Grenzen beim Menschen im Vergleich zu anderen Lebewesen am größten. Er hat durch seine vielfältigen Zeichensysteme und insbesondere durch die Sprache außergewöhnlich viele Möglichkeiten, Grenzen zu ziehen, zu fixieren und zu tradieren. Das eröffnet dann zugleich auch sehr vielfältige Möglichkeiten, etwas zu affirmieren oder zu negieren. Grenzen mit Hilfe sprachlicher Zeichen zu setzen, heißt im Prinzip immer, sie auch wieder aufheben oder verändern zu können, da ja mit ihnen natürlich immer auch die Phänomene der Angst und Hoffnung sowie der Einbildungs- und Gestaltungskraft eng verbunden sind. Im Laufe der Natur- und Kulturgeschichte ist immer deutlicher geworden, dass Grenzziehungen von ganz bestimmten faktischen und geistigen Handlungsfreiheiten abhängen und dass die Interaktionsmöglichkeiten eines Lebewesens bedingen, wie Grenzen konkret gezogen und gestaltet werden. Daraus ergibt sich, dass nicht nur die Wahrnehmung von Welt eine kulturspezifische Grundlage hat, sondern auch die faktische Ausgestaltung von Affirmations- und Negationsprozessen. Es bedeutet weiter, dass auch die produktive Dialektik von Beharren und Werden für einzelne Lebewesen je nach ihren konkreten Lernund Handlungsfreiheiten ganz unterschiedlich ausfallen kann. Der Biologe Jakob von Uexküll hat deshalb die These vertreten, dass jedes Lebewesen auf Grund seiner Sinnesausstattung und seiner Informationsverarbeitungsmöglichkeiten in einer artspezifischen Umwelt bzw. Eigenwelt lebe.14 Das bedeutet, dass Lebewesen je nach der Differenzierungskraft ihrer sinnlichen Rezeptionsorgane sowie den Nutzungsmöglichkeiten von unterschiedlichen Wahrnehmungsmustern und operativen Verfahren ihre konkrete Erfahrungswelt perspektivisch und inhaltlich anders wahrnehmen. Die Fliege erfasse die Welt daher fliegenförmig, der Hund hundeförmig und der Mensch menschenförmig. So gesehen legt also sowohl das Leibapriori als auch das Kulturapriori des Menschen fest, wie schematisch oder flexibel er auf Schlüsselreize bzw. Wahrnehmungsinhalte reagieren kann, welche Zustimmungs- und Ablehnungsmöglichkeiten ihm offenstehen und wie Denktraditionen sein Denken fördern und einengen können. Deshalb ist auch schon im Mittelalter der Topos entwickelt und bis in die Neuzeit tradiert worden, dass jede Generation auf den Schultern von früheren stehe und deshalb natürlich auch weiter sehen könne.15
�� 14 J. v. Uexküll, Theoretische Biologie, 1973. 15 R. K. Merton, Auf den Schultern von Riesen, 1989.
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Dieses Sinnbild ist gerade wegen seiner offensichtlichen Ambivalenz sehr aufschlussreich. Durch die kulturgeschichtliche Anhäufung von Wissen können spätere Generationen zwar weiter bzw. mehr sehen als frühere, aber gleichzeitig haben sich aber eben dadurch auch ihre Möglichkeiten zu einer unmittelbaren und elementaren sinnlich-empirischen Welterfahrung entscheidend reduziert. Spätere Generationen sehen alles weitgehend durch die Brille ihrer jeweils nutzbaren Denkmuster. Der Reichtum von solchen kulturellen und sprachlichen Differenzierungsmustern kann nun allerdings auch dazu führen, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht oder umgekehrt. Im Hinblick auf den hier thematisierten Problemzusammenhang kann das bedeuten, dass die Vielfalt von etablierten sprachlichen Negationsformen durchaus die Gefahr heraufbeschwören kann, dass wir die elementare Funktion von Negationen nicht mehr adäquat erfassen. Diese besteht nämlich darin, die Komplexität bzw. Differenziertheit der Welt konstruktiv auf ein für Menschen erträgliches Maß zu reduzieren. Das kann zur Folge haben, dass gerade aus der Vielfalt der relativierenden Modalitäts- und Negationszeichen die Sehnsucht nach ganz einfachen und eindeutigen Unterscheidungen erwächst. Wolfgang Borchert hat das nach dem 2. Weltkrieg in einem Manifest zum dichterischen Sprachgebrauch folgendermaßen formuliert:16 Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns Geduld. Wir brauchen die mit dem heißen heiser geschluchzten Gefühl. Die zu Baum Baum und zu Weib Weib sagen und ja sagen und nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv.
Diese Äußerung Borcherts verdeutlicht, dass ein zu hohes Maß an Differenzierungsmöglichkeiten die Orientierung in der eigenen Lebenswelt auch erschweren kann, weil Phänomene nicht mehr klar und kontrastiv voneinander unterschieden werden können, und dass der Kampf um handlungserleichternde Grenzen ebenso zum Überlebenskampf von Menschen gehört wie die Notwendigkeit, Grenzen zu verschieben oder zu überwinden. In diesem Zusammenhang kann dann auch an das Sinnbild von der sich häutenden Schlange erinnert werden, die ihre alte Haut abstreifen muss, wenn diese abgenutzt ist bzw. wenn diese sie in ihrem Wachstum behindert. Es darf deshalb auch nicht übersehen werden, dass die Fähigkeit des Menschen zur Entwicklung und Nutzung von Negationszeichen immer eine gewisse Ambivalenz hat. Einerseits werden durch sie sicherlich die kognitiven und kommunikativen Handlungsmöglichkeiten des Menschen auf ganz entschei�� 16 W. Borchert, Das ist unser Manifest, in: Das Gesamtwerk, 1965, S. 283.
54 � Die Negation als Evolutionsphänomen dende Weise ausgeweitet. Andererseits können durch sie aber auch seine konkreten Handlungsdispositionen gelähmt werden, weil ständig vielfältige Interpretationsprobleme in Erscheinung treten. Eine ganz fundamentale Funktion hat der Umgang mit Grenzen bzw. die Verwendung von Negationszeichen sicherlich im dialogischen Sprachgebrauch. Hier muss sich ein Sprecher bei der Wahl seiner Sprachmittel und Informationsstrategien immer auf den Kenntnisstand von konkreten Partnern einstellen. Das hat dann auch erhebliche Rückwirkungen darauf, welchen Gebrauch er von Affirmations- und Negationshandlungen macht, wenn er im Gespräch unterschiedliche Erfahrungs- und Denkhorizonte ineinander zu schieben oder gar miteinander zu verschmelzen versucht. Anstrengungen dieser Art dienen dann aber nicht nur dem besseren Verstehen des Denkens der jeweiligen Gesprächspartner, sondern auch dem besseren Selbstverstehen des Sprechers. Das hat Humboldt sehr prägnant formuliert: „Denn der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat.“17
2.3 Die Ausdifferenzierung von Negationsmöglichkeiten Wenn man die Negation grundsätzlich als eine Handlungsform versteht, durch die man mit Hilfe von intersubjektiv verständlichen Zeichen den Geltungsanspruch von Vorstellungen aufheben oder einschränken kann, dann ergibt sich eine interessante kulturhistorische Aufgabe. Es ist nämlich zu klären, welche Zeichentypen und Einzelzeichen historisch entwickelt worden sind, um Negationshandlungen zu objektivieren und nach ihrem jeweiligen Bezug und ihrer jeweiligen Intensität auszudifferenzieren. Dieser semiotische und kulturhistorische Zugriff auf die Negationsproblematik hat wichtige Implikationen. Einerseits wird dadurch nämlich deutlich, dass Negationen mit ontologischen Problemen verknüpft sind, insofern sich natürlich immer die Frage stellt, was als existent angesehen werden kann und was nicht bzw. wie sich Negationen in Bereich von Schlussfolgerungen verwenden lassen, die den Anspruch erheben, wahr zu sein. Andererseits wird auf diese Weise aber auch deutlich, dass Negationen immer wichtige pragmatische Funktionen haben, insofern sie ja eine bedeutende Rolle bei der Strukturierung von Erfahrungen bzw. bei der Erschließung von Welt spielen. Wir haben deshalb nicht nur zu klären, aus welchen Vorformen sprachliche Negationen hervorge-
�� 17 W. v. Humboldt, Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, Gesammelte Schriften, 1968, Bd. 5, S. 377
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gangen sind, sondern auch, was die mehr oder weniger konventionalisierten verbalen Negationsformen im Vergleich mit den nichtverbalen leisten. All diese Fragen sind kaum abschließend zu beantworten, da wir dabei von normativen Setzungen auszugehen haben, die durchaus unterschiedlich ausfallen können. Das ist aber erkenntnistheoretisch gesehen nicht unbedingt ein Nachteil, sondern vielleicht sogar ein Vorteil, weil auf diese Weise deutlich wird, welche systematischen und kulturhistorischen Dimensionen die Negationsproblematik hat und warum man sich davor hüten sollte, sie in einer unhistorischen und unhermeneutischen Weise als ein rein logisches bzw. systemtheoretisches Problem anzusehen, bei dessen Analyse man methodisch von allen pragmatischen Implikationen abstrahieren kann. Wenn man nun versucht, die Negationsproblematik in einer genetischen und semiotischen Perspektive ins Auge zu fassen, dann bietet sich folgender Weg an. Man kann danach fragen, ob bzw. inwiefern sich sprachliche Negationen aus gestischen entwickelt haben. Das macht es dann notwendig, sich insbesondere mit den Negationsmöglichkeiten von Tieren und Kleinkindern zu beschäftigen. Weiterhin kann man fragen, wie man über explizite konventionalisierte sprachliche Zeichen Negationshandlungen objektivieren und spezifizieren kann und welche impliziten Negationsfunktionen unseren komplexen kulturellen Sprach- bzw. Textformen im Laufe der Zeit zugewachsen sind.
2.3.1 Gestische Negationsverfahren Grundsätzlich ist es plausibel, die verbale Kommunikation entwicklungsgeschichtlich auf Bemühungen zur Präzisierung der gestischen zurückzuführen.18 Das hat dann zur Folge, auch die sprachlichen Negationszeichen letztlich aus den Anstrengungen zur Ergänzung und Spezifizierung von gestischen Abwehrzeichen abzuleiten. Diese Wahrnehmungsperspektive für sprachliche Negationszeichen ist inhaltlich nicht ganz so neutral, wie sie vielleicht auf den ersten Blick erscheint. Durch sie wird nämlich von vornherein nahegelegt, seine Aufmerksamkeit eher auf die sozialen und pragmatischen Aspekte von Negationen zu konzentrieren als auf ihre logischen. Außerdem impliziert dieser Denkansatz, dass sich auch das sprachwissenschaftliche Erkenntnisinteresse zunächst auf die Appell- und Ausdrucksfunktionen der Sprache richtet und nicht gleich auf ihre Darstellungsfunktionen bzw. dass im Prinzip ihre Interaktionsfunktionen interessanter erscheinen als �� 18 Vgl. M. Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, 2009.
56 � Die Negation als Evolutionsphänomen ihre Abbildungsfunktionen. Es bedeutet weiter, dass man Negationszeichen auch immer im Kontext ihrer pragmatischen Handlungsziele zu analysieren hat. Selbst ihr unbestreitbarer Beitrag zur sprachlichen Repräsentation bestimmter Realitätsvorstellungen muss deshalb als eine pragmatische Funktion unter anderen betrachtet werden und nicht als ihre dominante bzw. ursprüngliche. In dieser Sichtweise sind dann auch sprachliche Negationsformen eher als Bestandteile eines polyfunktionalen sprachlichen Sinnbildungsspiels anzusehen und weniger als Bestandteile eines monofunktionalen sprachlichen Abbildungsspiels. Evolutionär betrachtet schließt das natürlich keineswegs aus, dass Negationsformen gerade auf späteren Entwicklungsstufen des Sprachgebrauchs auch einen ganz wesentlichen Beitrag zur Darstellungsfunktion der Sprache leisten. Das dokumentiert sich dann insbesondere in der Verwendung von unselbständigen Negationsmorphemen im Bereich von Begriffsbildungen. Die genetische Herleitung von sprachlichen Negationszeichen aus Negationsgesten legt auf jeden Fall nahe, sein Interesse nicht nur auf das Ergebnis von Negationshandlungen zu richten, sondern immer auch auf die Entstehungsgeschichte dieser Ergebnisse. Daher haben wir uns dann immer auch mit den Emotionen zu beschäftigen, die dem Gebrauch von bestimmten Negationszeichen als Ausdrucksformen von Abwehrhandlungen zu Grunde liegen. Auf diese Weise werden wir dann zugleich auch dafür sensibilisiert, dass die Verwendung von Negationszeichen immer auch der Steuerung der Aufmerksamkeit in einer sozialen Gruppe dient, die gewisse funktionale Ähnlichkeiten mit dem Knurren von Hunden, mit abwehrenden Handbewegungen oder mit dem Vorzeigen von Waffen hat. Diese Wahrnehmung von Negationen betrifft dann nicht nur das Verständnis von expliziten Negationswörtern, sondern auch das Verständnis von allen Sprachformen, die situationsbezogen als Indikatoren für emotionsgeladene Abwehrhandlungen verstanden werden können vom Tonfall über lexikalische Auswahlentscheidungen bis hin zur Variation tradierter Textmuster. Der unbestreitbare Vorzug von sprachlichen Negationsformen gegenüber gestischen liegt dann darin, dass durch sie der Negationsbezug und die Negationsintensität von einzelnen Negationshandlungen sehr viel präziser bestimmt werden kann. Semiotisch gesehen treten nun nämlich weitgehend symbolische bzw. konventionalisierte und normierte Negationszeichen an die Stelle von ikonischen oder indexikalischen. Auf diese Weise lässt sich dann insbesondere das Spektrum der Negationsmittel nicht nur morphologisch ausweiten, sondern auch funktional differenzieren, was dann natürlich die Zielgenauigkeit von sprachlichen Negationshandlungen im Vergleich zu gestischen sehr deutlich steigert. Gleichzeitig nimmt dadurch dann allerdings auch die Emotionsgeladenheit von Negationshandlungen deutlich ab. Da nun verbale Negationshandlungen im Vergleich zu ges-
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tischen in einem sehr viel höheren Maße sozial erlernt werden müssen, unterscheiden sie sich natürlich auch erheblich von Kultur zu Kultur bzw. von Sprache zu Sprache voneinander. Zugleich ergibt sich dadurch aber auch die Möglichkeit, dass sich ein Individuum durch den Gebrauch von verbalen Negationsmitteln in seinem Denken und Handeln sehr viel spezifischer als denkendes Individuum profilieren kann als durch den Gebrauch von gestischen. Alle sprachlichen Negationshandlungen stehen natürlich in einem engen Zusammenhang mit all den Problemen, mit denen sich auch die Theorie der Sprechakte beschäftigt. Diese geht davon aus, dass sich in sprachlichen Äußerungen immer zwei Informationsebenen überlagern. Die eine Ebene betrifft dabei den Sachinhalt einer Äußerung (propositionaler Gehalt), der auf sinnvolle Weise mit der Frage nach seiner faktischen Wahrheit konfrontiert werden kann. Die andere Ebene betrifft die Handlungsfunktion einer Äußerung (illokutive Funktion), die nur der Gelingensfrage unterworfen werden kann.19 Es ist recht offensichtlich, dass gestische und verbale Negationshandlungen im Prinzip dieser zweiten Ebene der Kommunikation zuzurechnen sind, da deren pragmatischer Sinn sich nur über die Frage nach ihrem jeweiligen Handlungserfolg erfassen lässt. Verbale Negationshandlungen mit Hilfe von konventionalisierten expliziten Negationsmitteln sind dabei natürlich weniger stark der Gefahr des Misslingens ausgesetzt als implizite verbale Negationshandlungen, die erst hermeneutisch aus ganz bestimmten Indizien erschlossen werden müssen.
2.3.2 Die Negation im Spracherwerb Wenn man annimmt, dass es gewisse Parallelen zwischen der Phylogenese und der Ontogenese des Menschen gibt, dann kann natürlich die fortschreitende Differenzierung der sprachlichen Negationsverfahren bei Kindern sehr aufschlussreich für die evolutionäre Entwicklung der Negationsfähigkeit der Menschheit sein. Das betrifft dann nicht nur die pragmatischen Intentionen und die emotionalen Implikationen von Negationshandlungen, sondern auch die typologische Ausgestaltungen und die morphologischen Verfestigungen von bestimmten sprachlichen Negationsmustern. In diesem Zusammenhang ist nun zunächst sehr bezeichnend, dass Kinder sehr viel früher lernen, das Abwehrwort nein zu verwenden als das Zustimmungswort ja. Dieser Tatbestand kann allerdings nur diejenigen wirklich überraschen, die die Sprache rein systemtheoretisch betrachten und deshalb anneh�� 19 J. Searle, Ausdruck und Bedeutung, 1982, S. 51.
58 � Die Negation als Evolutionsphänomen men, dass die Wörter ja und nein gleich ursprünglich sind. Für sie sind nämlich beide Wörter die Grundwörter eines Assertionsparadigmas, das dazu dient, auf eine Frage, Aussage oder Vorstellung zustimmend oder ablehnend zu reagieren. Erst wenn man auch ein Interesse an den Motiven und der Entstehungsgeschichte eines solchen zweiwertigen Beurteilungsparadigmas entwickelt, wird wirklich verständlich, warum die Nutzung des Wortes nein sowohl ontogenetisch als auch phylogenetisch eine Priorität gegenüber dem Wort ja hat. Offenbar ist der Gebrauch des Negationswortes nein mit einer sehr viel stärkeren Gefühlsregung verbunden als der Gebrauch des Affirmationswortes ja, weil Abwehrreaktionen in elementaren Erkenntnis- und Kommunikationsprozessen sehr viel wichtiger sind als Zustimmungsreaktionen. Letztere werden gleichsam immer als relativ natürliche und erwartbare Standardreaktionen angesehen, die sprachlich nicht explizit gemacht werden müssen. So betrachtet könnte man in der Priorität des Gebrauchs des Negationswortes nein bzw. im Gebrauch von sprachlichen Negationsformen gegenüber dem von Affirmationsformen ein grundlegendes sprachökonomisches Prinzip sehen. Das, was als erwartbar oder als selbstverständlich angesehen wird, muss nicht explizit sprachlich signalisiert oder bestätigt werden, sondern nur das, was von einer Standarderwartung abweicht oder was als Besonderheit aus einer diffusen Allgemeinheit herausgehoben werden soll. Pragmatisch wirklich relevant sind nämlich im Prinzip nur diejenige Informationen, die eine bestimmte Wissensunsicherheit beseitigen, aber nicht diejenigen, die etwas Selbstverständliches oder Erwartbares nur bestätigen. Daher werden Affirmationshandlungen auch meist nicht eigens verbalisiert, da sie ja eher redundante als relevante Informationen vermitteln. Aussagen, denen nicht widersprochen wird, gelten in der Regel nicht nur vor Gericht, sondern auch im alltäglichen Leben als sachlich akzeptiert. Nur in ausgesprochenen Verhörsituationen werden Affirmationssignale pragmatisch als ebenso relevant wie Negationssignale angesehen. Grundsätzlich lässt sich deshalb feststellen, dass sprachliche Negationsformen in der Regel immer eine größere lebenspraktische Relevanz haben als Affirmationsformen. Aus diesem Grunde ist dann auch ihr Formeninventar in allen Sprachen sehr viel differenzierter ausgebaut worden als das von Bestätigungs- oder Zustimmungsformen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird nun auch verständlich, warum der Gebrauch des Wortes nein als pauschale Abwehrgeste sowohl in der phylogenetischen als auch in der ontogenetischen Sprachentwicklung immer stärker differenziert und präzisiert werden musste, um nicht nur den Geltungsanspruch von sehr komplexen Gesamtzusammenhängen abwehren zu können, sondern auch den von ganz spezifischen Einzelvorstellungen in ihnen. Das bedeutet, dass das Negationswort nein nicht mehr nur dazu benutzt wurde, sehr
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unterschiedliche Abwehrgesten sprachlich zu artikulieren (Nein, so soll es nicht sein! Nein, das will ich nicht! Nein, das sollst du nicht tun!), sondern auch dazu, ein verneinendes theoretisches Urteil über die faktische Existenz eines möglichen Sachverhaltes zu fällen (Nein, das ist nicht so.).20 Auf diese Weise haben sich dann Negationsformen mehr und mehr von emotional geprägten Affekt- und Abwehrsignalen zu logisch geprägten Operationssignalen verwandelt, durch die die Gültigkeit von komplexen oder einfachen Einzelvorstellungen zurückgewiesen oder gar aufgehoben werden konnten. Sie haben sich kulturgeschichtlich von emotionalen Abwehrzeichen zu perspektivierenden Gestaltungszeichen verwandelt, die entscheidend dabei halfen, das spezifische Zusammenspiel von Informationserwartungen und Informationsvermittlungen unter den Kommunikanten übersichtlich zu gestalten. Dementsprechend hat sich dann auch die unmittelbare emotionale Einbindung von Negationen in Situationen mehr und mehr vermindert und sich ihre organisierende Strukturierungsfunktion für sprachlich erzeugte Vorstellungswelten mehr und mehr verstärkt. Daraus ergab sich dann auch die Konsequenz, dass man Negationen auch immer mehr dazu verwenden konnte, selbst gesetzte Hypothesen zu korrigieren oder zu relativieren. Wenn man diesen Funktionswandel von Negationszeichen im ontogenetischen Spracherwerb nicht zureichend beachtet, dann kann es zu ganz erheblichen Missverständnissen kommen. Dafür haben die beiden Sterns ein sehr instruktives Beispiel geliefert. Wenn man etwa ein Kleinkind frage, ob es seinem Brüderchen weh getan habe, dann müsse dessen Antwort „nein“ keineswegs bedeuten, dass es diese Frage verneine. Diese konkrete Antwort könne auch eine allgemeine Abwehrgeste repräsentieren, die sich folgendermaßen näher umschreiben lasse: „Lass mich damit zufrieden, ich will nichts davon hören.“21 Die evolutionäre Verwurzelung von sprachlichen Negationshandlungen in gestischen macht auch verständlich, warum im alltäglichen Sprachgebrauch doppelte Verneinungen im Gegensatz zum logischen oft nicht als Bejahungen verstanden werden, sondern vielmehr als Intensivierungen von Verneinungen. Die Wiederholung einer Abwehrgeste hat nämlich im Prinzip die Funktion, eine Abwehr nicht aufzuheben, sondern vielmehr zu verstärken. Dabei ist dann natürlich auch noch zu beachten, dass die unterschiedlichen sprachlichen Negationsmittel bei doppelten Verneinungen sich in der Regel auch auf ganz unterschiedliche Denkinhalte beziehen können, worauf noch näher eingegangen werden wird (Keiner liebt mich nicht. Frauen haben nie kein Geld.).
�� 20 C. und W. Stern, Die Kindersprache, 1928/1975, S. 267. 21 C. und W. Stern, a. a. O., 1928/1975, S. 269.
60 � Die Negation als Evolutionsphänomen Die sich steigernde Differenzierung von Negationsintentionen und Negationsformen in phylogenetischen und ontogenetischen Sprachentwicklungsprozessen ändert allerdings nichts an der grundlegenden Tatsache, dass das vereinfachende Binaritätsprinzip in unserem alltäglichen Denken und Sprechen eine ganz fundamentale pragmatische Rolle spielt. Trotz aller kulturellen Anstrengungen, die Negationsbezüge, Negationsintensitäten und Negationshandlungen zu differenzieren und dafür dann auch unterschiedliche Negationsmittel auszubilden und zu konventionalisieren, dürfen wir nicht vergessen, dass klare Oppositions- und Kontrastrelationen in unserem Denken immer eine ganz große Bedeutsamkeit haben. Deshalb benötigen wir dann auch in der Sprache so vereinfachende Affirmations- und Negationsformen wie ja und nein, schuldig und unschuldig, wahr und unwahr oder gut und böse. Wenn wir in der Welt effektiv und erfolgreich handeln wollen, dann brauchen wir sowohl simplifizierende Alternativen als auch differenzierende Kategorisierungen und Grenzziehungen. Deshalb ist es auch verständlich, dass verdeckte und spezifizierende Negationsanstrengungen wie sie beispielsweise in der Ironie zum Ausdruck kommen, in frühen Kulturen bzw. bei Kindern keine große Rolle spielen bzw. hier sogar zu gravierenden Missverständnissen führen können. Hier treten allenfalls nur die sehr groben Formen der Ironie in Erscheinung, bei denen genau das Gegenteil von dem gesagt wird, was eigentlich gemeint wird. Erst wenn die jeweiligen Kommunikanten Grenzen auch als kulturell gesetzte Grenzen verstanden haben, dann können sie auch auf subtile Weise ironisch mit ihnen spielen.
2.3.3 Funktionen von Negationen in der Evolution der Kultur Als im Verlaufe des menschlichen Evolutionsprozesses einmal entschieden worden war, gestische, mimische und prosodische Abwehrzeichen durch verbale zu ergänzen bzw. zu ersetzen, dann war damit zugleich auch entschieden, das Repertoire sprachlicher Negationszeichen morphologisch und funktional immer differenzierter auszugestalten und neben explizit konventionalisierten Negationsformen auch spontan erzeugte wirksam werden zu lassen. Alle Möglichkeiten mussten ausgeschöpft und ausgebaut werden, das faktisch Gesagte direkt oder indirekt aufzuheben, einzuschränken oder zu problematisieren. Der kulturelle Evolutionsprozess erzwang dabei einerseits geradezu den simplifizierenden Gebrauch des binären Oppositionsprinzips von ja und nein bzw. von wahr und falsch, aber andererseits auch die Notwendigkeit, dieses Prinzip zu flexibilisieren, um unterschiedlichen Negationsintentionen eine sprachliche Aus-
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drucksform zu geben. Davon legt nicht nur der negierende, sondern insbesondere auch der metaphorisierende Sprachgebrauch ein sehr klares Zeugnis ab. Für alle Kulturen ist es unverzichtbar, das Heilige vom Profanen, das Gute vom Bösen und das zu Integrierende vom Abzuwehrenden zu unterscheiden. Allerdings darf dieses Prinzip nicht so schematisiert werden, dass es sich selbst als strukturierendes Ordnungsprinzip ad absurdum führt. Unser Denken und Sprechen darf hinsichtlich seiner Integrations- und Abwehrhandlungen nicht in einer mechanischen Entweder-Oder-Strategie erstarren, sondern muss das Repertoire seiner semiotischen Vermittlungs- und Interpretationsformen ausbauen, zu denen zweifellos auch die die vielfältigen Erscheinungsweisen von Negationsformen gehören. Dem Phänomen der Negation kann deshalb auch eine Schlüsselfunktion zugeschrieben werden. Diese kann einerseits dazu zu dienen, Kulturen durch klare Unterscheidungen eine stabile Statik zu geben, aber andererseits auch dazu, Kulturen durch differenzierende Abstufungen von Geltungsansprüchen eine lebensdienliche Flexibilität zu garantieren. Kulturen ohne differenzierende Negationsmöglichkeiten bzw. Negationszeichen haben evolutionär gesehen keine großen Überlebenschancen. Sie haben nicht genügend semiotische Reaktionsreserven, um mit neuen Situationen kognitiv und kommunikativ fertig zu werden, da sie nur schematisch, aber nicht interpretativ auf neue Gegebenheiten reagieren können. Ihnen fällt es schwer, Negationen als Mittel eines heuristischen und operativen Denkens zu nutzen. Obwohl Negationen natürlich auch zur Systembildung und Systemfestigung eingesetzt werden können, so gehören sie gleichwohl doch auch immer zu den Verfahren der Systemflexibilisierung oder gar der Systemauflösung, weil sie Mittel des Lernens und der Selbstkorrektur sind, durch die kulturelle Evolutionsprozesse erst differenziert ausgestaltet werden können. Diese Betrachtungsweise ermöglicht es nun, Negationen nicht nur einen operativen, sondern immer auch einen kognitiven Wert zuzuordnen, insofern sie eine konstitutive Voraussetzung dafür sind, dass sich kognitive Prozesse evolutionär entfalten können. Das betrifft dann nicht nur ihre Verwendungen in spontanen und aktuellen Unterscheidungsprozessen und Wissensmanifestationen, sondern über bestimmte Rückkoppelungsprozesse auch die Entwicklung des Gehirns und seiner Funktionsmöglichkeiten. Dadurch kann dann sichergestellt werden, dass das Denken sowohl zu sachthematischen als auch zu reflexionsthematischen Sinnbildungsprozessen einsetzbar wird. Ohne differenzierte Negationsmöglichkeiten kann jedenfalls beim Sprechen nicht von endlichen Mitteln ein unendlicher Gebrauch gemacht werden.
62 � Die Negation als Evolutionsphänomen
2.4 Die sinnstiftende Kraft von Negationen In der Regel gehen wir davon aus, dass wir nur diejenigen Phänomene als genuine Phänomene der Kognition ansehen können, die sich schon in Form von darstellenden Begriffen, Aussagen und Theorien manifestiert haben bzw. auf diese Weise manifestiert werden können. Es lässt sich nun aber durchaus rechtfertigen, auch bestimmte Handlungsformen oder Handlungsschemata als kognitive bzw. ordnungsstiftende Phänomene zu betrachten. Auch in diesen hat sich nämlich ein ganz bestimmtes Wissen über die Welt bzw. über den sinnvollen Umgang mit ihr angesammelt, das sich als operatives Handlungswissen pragmatisch ebenso nutzen lässt wie das übliche Gegenstandswissen von ihr. Gerade weil sich in allen kulturell etablierten Handlungsstrategien und Handlungsmitteln eine bestimmte Wahrnehmungsperspektive für die Welt repräsentiert, lässt es sich rechtfertigen, auch solche Phänomene als genuine Wissensphänomene anzusehen, eben weil sie uns dabei helfen, mit Gegenstandswissen aller Art auf methodisch sinnvolle Weise umzugehen. Die Frage nach den kognitiven Implikationen von Negationsoperationen und Negationsformen ist deshalb ebenso wie die nach den Implikationen von grammatischen Regeln und Formen keine an den Haaren herbeigezogene Randfrage, sondern eine Kernfrage, um den pragmatischen Wert von Negationen näher zu bestimmen. Als spezifische Handlungsmuster bzw. als Methoden des Umgangs mit schon vorhandenem Wissen sind Negationsformen zweifellos ebenso spezifische Speicherformen von Wissen wie unsere Gegenstandsbegriffe und Gegenstandstheorien, wenn auch auf einer etwas anderen Ebene. Gerade weil Negationsformen eine evolutionäre Entwicklungsgeschichte haben und zur Korrelation von schon vorhandenem Wissens sowie zur Erschließung von neuem Wissens beitragen, können sie sowohl einen wichtigen Beitrag zur Bildung als auch zur Auflösung von Wissensformen und Wissenssystemen leisten. Die Frage ist nur, wie wir dieses Handlungswissen dann typologisch oder kategorial einordnen und zu unserem Gegenstandswissen in Beziehung setzen.
2.4.1 Die Negation als Kategorie des Werdens Dieter Wellershoff hat die Negation als eine „Kategorie des Werdens“ und damit zugleich auch als eine Kategorie des Lebens verstanden, die zur Selbsterneuerung des Wissens beitrage und die verhindere, dass Wissensformen versteiner-
Die sinnstiftende Kraft von Negationen � 63
ten. „Die Positivität, die nicht mehr negiert werden kann, ist gleichbedeutend mit der vollendeten Negativität. Sie wird zum Erscheinungsbild des Todes.“ 22 Diese kategoriale Einordnung von Negationen ist plausibel, wenn man unter Leben nicht nur das biologische, sondern auch das geistige Leben versteht. Die Fähigkeit zum Negieren befreit den Menschen nämlich aus der Herrschaft der unmittelbaren Anschauung, die zunächst keine Vorstellungsalternativen zulässt. Diese Form der Gefangenschaft kann man am Beispiel der optischen Täuschungen recht gut demonstrieren. Solche Täuschungen sind für unsere biologischen Augen und die mit ihnen verbundenen vorbewussten Verarbeitungsoperationen von Daten im Gehirn unaufhebbar, aber nicht für unsere geistigen Augen bzw. für unser Denken, das sich auch auf die Prämissen unseres Wahrnehmens und Denkens bzw. auf die damit verbundenen Konsequenzen konzentrieren kann. Ein gutes Beispiel für diese Problematik ist Platons Höhlengleichnis. Die Gefangenen in dieser Höhle sind in einem doppelten Sinne Gefangene. Sie sind nämlich nicht nur in einem ganz örtlichen Sinne in ihrer Bewegungsfähigkeit extrem eingeschränkt, sondern zugleich auch in einem geistigen. Sie sind Gefangene ihres Augenscheins bzw. ihrer unmittelbaren perspektivischen Wahrnehmungen, zu denen sie weder mit Hilfe ihrer räumlichen Bewegung noch mit Hilfe ihrer gespeicherten Gedächtnisinhalte noch mit Hilfe ihrer Einbildungskraft Alternativen entwickeln können und wollen. Einer der Gefangenen muss auf exemplarische Weise erst gewaltsam entfesselt und aus seiner Höhle herausgeführt werden, damit er neue Einsichten gewinnen kann. Dann aber will er natürlich um keinen Preis mehr in die extrem eingeschränkte Erfahrungs- und Denkwelt der Höhle zurückkehren.23 An drei Kulturphänomenen lässt sich gut zeigen, warum man zu kurz greift, wenn man Negationshandlungen nur als Aufhebungshandlungen versteht und nicht zugleich auch als geistige Gestaltungshandlungen bzw. als kulturelle Lebensformen, ohne die letztlich weder das biologische noch das geistige Leben der Menschen vorstellbar ist. Zu diesem Zweck sollen die Kulturphänomene Opfer, Spiel und Kunst, auf die auch später noch mehrfach eingegangen werden wird, hier kurz skizziert werden, insofern alle drei sehr eng mit Werdens- bzw. mit Strukturierungsprozessen verbunden sind. Üblicherweise werden diese Phänomene allerdings kaum mit dem Negationsgedanken in Verbindung ge-
�� 22 D. Wellershoff, Die Verneinung als Kategorie des Werdens, in: H. Weinrich (Hrsg.), Positionen der Negativität, 1975, S. 221. 23 Vgl. W. Köller, Das platonische Höhlengleichnis, in: Narrative Formen der Sprachreflexion 2006, S. 190‒221.
64 � Die Negation als Evolutionsphänomen bracht. Aber das rechtfertigt sich, wenn man sie auch als Such- und Gestaltungsprozesse versteht, in denen es zu Affirmations- und Negationshandlungen kommt bzw. zu Systembildungen und Systemtranszendierungen.
2.4.2 Die Negationsimplikationen des Opfers In den neuzeitlichen Konsumgesellschaften werden Opfer aller Art meist als Relikte aus archaischen, religiösen oder unaufgeklärten Kulturepochen verstanden bzw. als Elemente von ideologisch verbohrten und verholzten Ideologien. Opfer werden daher in der Regel allesamt entweder als gefährlich oder als irrelevant eingestuft, weil man ihnen keine wirklich sinnstiftenden Funktionen mehr zuordnen kann. Mit dem Negationsgedanken wird das Opfer meist nur in dem Sinne in Verbindung gebracht, dass es immer mit einem Verzicht auf etwas verbunden ist. Cassirer hat in Opposition zu dieser Sichtweise auf erhellende Weise geltend gemacht, dass Opfer eigentlich immer wichtige geistige und kulturelle Funktionen hätten, die sich über den Negationsgedanken recht gut erschließen ließen. Er möchte das Opfer als ein Phänomen verstanden wissen, bei dem das Ich einerseits zwar auf etwas verzichte, das ihm im Prinzip durchaus begehrenswert erscheine, das ihm andererseits aber auch ermögliche, bestimmte Wertabstufungen bei seinen Vorstellungsinhalten vorzunehmen. Das Opfer als eine Erscheinungsform der Selbstbescheidung und Askese wurzelt für ihn letztlich in der Grundüberzeugung, dass jede Erweiterung oder Erhöhung der Kräfte des Ichs auch immer an ganz bestimmte Beschränkungen gebunden sei, weil es nur auf diese Weise zu einer Konzentration der Kräfte kommen könne. Das führt ihn dann zu einem kulturphänomenologisch wichtigen Schluss. Jeder wichtigen Unternehmung muß die Enthaltsamkeit im Hinblick auf die Ausübung bestimmter natürlicher Triebe vorausgehen. Noch heute gilt bei den Naturvölkern fast allenthalben der Glaube, dass kein Kriegszug, keine Jagd, kein Fischfang gelingen kann, wenn ihnen nicht derartige asketische Sicherungsmaßnahmen, wenn ihnen nicht ein mehrtägiges Fasten, Beraubung des Schlafs und eine lange geschlechtliche Enthaltsamkeit vorausgegangen sind.24
Opfer sind so gesehen asketische Entbehrungen, durch die ein bestimmtes Begehren erst eine fassbare Gestalt bzw. ein bestimmtes Relevanzprofil bekommt. Durch das Opfer kommt es dadurch zu einer Art Negation des unmittelbar Ge-
�� 24 E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2, 19736, S. 266.
Die sinnstiftende Kraft von Negationen � 65
gebenen, Wirksamen oder Gewünschten. Auf diese Art und Weise erhält das eigentlich Begehrte dann immer einen ganz besonderen Wert und das verzichtende Individuum immer eine ganz spezifische Identität, weil es gerade über das Opfer sein Streben auf ein ganz bestimmtes Ziel konzentrieren kann. Das hat zur Folge, dass der Einzelne sich durch das Opfer nicht nur einer höheren Macht unterordnet, sondern dass er dieser Macht gegenüber auch ein eigenes Selbstwertgefühl entwickelt, insofern er das Opfer durchaus als ein freies Geschenk an die Götter verstehen kann, das aus seinem eigenen Willen resultiert. Wenn man vor dem Hintergrund dieser Überlegungen Cassirers auch Negationen als mögliche Formen von Opfern betrachtet, dann ergeben sich vielleicht folgende Einsichten. Jede Negation erklärt etwas eigentlich Bekanntes, Vertrautes oder Gedachtes für prinzipiell oder aktuell ungültig. Damit werden dann naheliegende Erwartungen oder Wissenstatbestände aufgehoben oder in Frage gestellt und damit natürlich immer auch mögliche Formen der Weltorientierung. Dieser Opferungsvorgang ist nun aber keineswegs nur als ein Verlust zu betrachten, sondern immer auch als ein Gewinn, da er zur Selbstvergewisserung des Negierenden dient bzw. zur Verwirklichung des Ziels, sich selbst als Interpret oder gar als Konstrukteur von Wirklichkeit zu verstehen und eben das auch anderen kenntlich zu machen. Vordergründig betrachtet scheinen Negationen immer nur der Aufhebung von etwas zu dienen, hintergründig betrachtet dienen sie aber auch immer zur Selbstvergewisserung dessen, der negiert.
2.4.3 Die Negationsimplikationen des Spiels Auf den ersten Blick erscheint es nicht ganz einsichtig, das Spielphänomen in eine Erläuterungsrelation zu dem Negationsphänomen zu bringen, da das Verständnis von Spielen bei uns emotional meist sehr positiv besetzt ist und deshalb kaum mit dem Gedanken der Verweigerung von Zustimmung in Verbindung gebracht wird. Diese Sichtweise läßt sich allerdings korrigieren bzw. ergänzen, wenn wir Spiele als Phänomene betrachten, bei denen es immer auch um die Ausbildung und um den Umgang mit Grenzen geht bzw. um die Entfaltung der biologischen und kulturellen Assimilations- und Akkommodationsfähigkeiten der Menschen sowie um die Entwicklung ihrer Interaktionsfähigkeiten mit Dingen, Kulturformen und anderen Menschen. Nietzsche hat das sehr treffend auf den Punkt gebracht. „Ich kenne keine andre Art, mit großen Aufgaben zu verkehren als das S p i e l.“25 �� 25 F. Nietzsche, Ecce Homo, Werke Bd. 2, 19737, S. 1097.
66 � Die Negation als Evolutionsphänomen Die Negationsimplikationen des Spiels werden insbesondere dann recht gut sichtbar, wenn wir es sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch als ein Verfahren verstehen, die biologischen, kulturellen und individuellen Strukturierungskräfte des Menschen auszubilden und eben dadurch dann auch der Gefahr vorzubeugen, dass es zur lebensfeindlichen Verfestigung von bestimmten Ordnungsstrukturen kommt. Spiele haben so gesehen die anthropologische Grundfunktion, Spontaneität und Regelhaftigkeit bzw. Zufall und Notwendigkeit in ein lebensdienliches Gleichgewicht zu bringen. Letztlich ist damit das Spiel auch der Sphäre der menschlichen Freiheit zuzuordnen, zu der sowohl die Handlungsmöglichkeiten des Affirmierens und Negierens gehören als auch die des Assimilierens und Akkommodierens. Gerade wenn man Spiele als Erscheinungsformen von Selbstorganisationsprozessen versteht, dann gehören natürlich Negationsprozesse als Erkenntnisund Lernprozesse auf genuine Weise zu ihnen. Da es keine Unterscheidungen ohne steuernde Motive gibt, ist das Spiel eine ideale Möglichkeit, die Konsequenzen von Entscheidungen zu erproben, ohne dabei bestimmte Fehlentscheidungen gleich mit dem Leben bezahlen zu müssen wie beispielsweise in biologischen Evolutionsprozessen. Beim Spielen gibt es zwar auch Niederlagen, aber nur solche, aus denen immer etwas für zukünftige Handlungsprozesse gelernt werden kann. Deshalb gehören Spiele dann auch auf ganz natürliche Weise zur Lebenswelt aller höher entwickelten Lebewesen, da diese ständig Entscheidungen zu treffen haben, die nicht alle instinktmäßig bzw. genetisch vorprogrammiert werden können, sondern vielmehr auf Prägungs- und Lernprozessen aufbauen müssen. Deshalb konstituieren sich soziale und kulturelle Welten auch immer über ausgesprochene oder unausgesprochene Gebote und Verbote. Aus diesen Rahmenbedingungen ergibt sich außerdem, dass Spiele im Prinzip immer mehreren Zwecken zugleich dienen und dienen können, da sie sowohl motorische, sensitive, kognitive als auch soziale Fähigkeiten schulen können. Deshalb sind Spiele auch nicht nur hinsichtlich ihrer immanenten Zweckorientierungen interessant, sondern auch hinsichtlich ihrer jeweiligen Verlaufsgestalten. Das Strukturierungsgeschehen in Spielen muss eine Eigendynamik haben, die großer Spielräume bedarf, in denen neben dem strategischen und taktischen Gestaltungswillen der Spielenden auch dem Zufall immer eine große Bedeutung zukommt. Spiele ohne Spielräume sind nicht nur langweilig, sondern anthropologisch auch folgenlos. Spielregeln dürfen nicht alle Handlungsmöglichkeiten vorherbestimmen, sondern tendenziell nur die unerlaubten ausgrenzen. Spiele verlieren ihren Reiz, wenn es in ihnen keinen Gestaltungsfreiräume zwischen vollständiger Reguliertheit und vollständiger Unreguliertheit gibt bzw. wenn es
Die sinnstiftende Kraft von Negationen � 67
in ihnen keine Tendenzen gibt, bestimmten Erwartungen zu entsprechen oder diese über den Haufen zu werfen. Aus diesen Rahmenbedingungen ist unschwer abzuleiten, dass Spiele eine genuine Ähnlichkeit mit der Sprache haben bzw. zu den Möglichkeiten, im konkreten Gebrauch der Sprache mit den Formen der Sprache affirmierend und negierend zu spielen. Das hat dann insbesondere bei der Ausbildung und Verwendung von Stilformen eine große Bedeutung bekommen, worauf noch in einem eigenständigen Kapitel eingegangen werden soll. Nicht zufällig ist daher auch das Spielen mit Sprache nicht nur ein bevorzugtes Betätigungsfeld von Narren und Künstlern, sondern auch von Kindern. 2.4.4 Die Negationsimplikationen der Kunst Vordergründig betrachtet scheint die Kunst ein Phänomen zu sein, dass für den elementaren Überlebenskampf von Menschen relativ nutzlos ist. Diese Einschätzung ist allerdings zu revidieren, wenn man die Kunst als eine Manifestation des Spiels betrachtet und damit auch als eine Einübungs- und Gestaltungsform von sensorischen, motorischen und geistigen Strukturierungsfähigkeiten. In dieser Sichtweise erscheint die Kunst dann nicht als ein zufälliges Nebenprodukt der Evolution des Menschen, sondern vielmehr als ein ganz wesentlicher Faktor dieses Prozesses.26 In Rahmen dieses Verständnisses von Kunst kann man dann geltend machen, dass höher entwickelte Lebewesen im Hinblick auf ihre konkreten Lebensmöglichkeiten relativ unfertig auf die Welt kommen und dass erst durch nachgeburtliche Einübungsprozesse ihre neuronalen Strukturen und Fähigkeiten voll entwickelt werden. In diesen Zusammenhang werden dann nicht nur Spiele aller Art wichtig, sondern auch der produktive und rezeptive Umgang mit Kunst. Der Umgang mit Kunst wäre dementsprechend evolutionär gesehen keineswegs nutzlos, da er die menschlichen Möglichkeiten zum Handeln und Denken auf eine konstitutive Weise steigert. Ebenso wie das Spielen nach Bühler mit einer gewissen „Funktionslust“27 verbunden ist, so ist es wohl auch der aktive und passive Umgang mit der Kunst. Diese Funktionslust gewährleistet dann auch, dass der Umgang mit der Kunst nicht als Arbeit angesehen wird, die der unmittelbaren Lebensvorsorge zu dienen hat, sondern als Steigerung von Lebensmöglichkeiten. �� 26 Vgl. Th. Anz/H. Kaulen (Hrsg.), Literatur als Spiel, Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte, 2009. 27 K. Bühler, Sprachtheorie, 19652, S. 136, 347.
68 � Die Negation als Evolutionsphänomen Wenn man die These akzeptiert, dass die Kunst keine abschließenden Formen finden kann, weil sie auf grundlegende Weise durch ständige Strukturierungs- und Umstrukturierungsprozesse geprägt wird, dann muss man auch einräumen, dass offensichtliche und verdeckte Negationsprozesse in ihr eine konstitutive Funktion haben. Einerseits ist nämlich klar, dass in der Kunst Wiedererkennungs- bzw. Affirmationsprozesse eine wichtige Rolle zu spielen haben, in denen sich Erfahrungen bündeln und ordnen können. Andererseits ist aber auch klar, dass die Kunst die Aufgabe hat, verfestigte Wahrnehmungsgewohnheiten und Ordnungsstrukturen aufzuheben oder in Frage zu stellen, um die Welt in neuen Perspektiven wahrnehmen zu können. Das beinhaltet dann, dass die Kunst sich ständig zu bemühen hat, neue Zeichen zu bilden bzw. neue Ordnungsstrukturen für die Kombination von schon vorhandenen Zeichen herzustellen. Gerade in historischen Umbruchssituationen muss deshalb die Kunst mit neuen Ordnungskonstellationen von Zeichen experimentieren und damit natürlich immer auch vertraute Wahrnehmungstraditionen negieren bzw. zumindest direkt oder indirekt in Frage stellen. Es gibt zwar eine lange Tradition, die Kunst als Nachahmung (Mimesis) von Welt zu verstehen, wobei sich die Nachahmung keineswegs nur auf die Abbildung und damit auch auf die Affirmation von konkret fassbarer Faktizität beziehen muss. Sie kann auch eine typologische Nachahmung von ideellen Ordnungen in einem platonischen Sinn anstreben. Daneben hat es aber auch immer eine gegenläufige Tradition gegeben, die der Kunst das Ziel setzte, eigene Welten experimentell hervorzubringen (Poesis), die dann dazu dienen sollten, gegebene Welten bzw. Welterfahrungen zu relativieren, aufzuheben oder zu transzendieren. Aus all dem lässt sich dann ableiten, dass es die Kunst immer mit der Bildung und Auflösung von Zeichen und Zeichensystemen zu tun hat bzw. mit Affirmations- und Negationsanstrengungen. Dabei ist dann natürlich ebenfalls zu berücksichtigen, dass jede Negation wieder zu einer Affirmation werden kann, die dann wieder Gegenstand einer neuen Negation zu werden vermag. So offensichtlich die Kunst immer etwas mit sinnlicher Unmittelbarkeit und Gewissheit zu tun hat, so sehr hat sie auch immer etwas mit der Transformation tradierter Wahrnehmungsperspektiven und Denkmöglichkeiten zu tun. Ihre Faszination besteht darin, dass sie spielerisch immer neue Verfahren für unsere Weltwahrnehmung erkundet. Das konstruktive Verständnis der Kunst spielt im neuzeitlichen Kunstschaffen natürlich eine sehr viel größere Rolle als in dem früherer Epochen. Das mögen ein paar Äußerungen von Picasso belegen, die zugleich die Negationsimplikationen der Kunst sehr deutlich zum Ausdruck bringen.
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Wir wissen alle, daß die Kunst nicht Wahrheit ist, Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt, wenigstens die Wahrheit, die wir als Menschen begreifen können. Durch die Kunst drücken wir unsere Vorstellung von dem aus, was die Natur nicht ist. Ich verwende in meinen Bildern alle Dinge, die ich gern habe. Wie es den Dingen dabei ergeht, ist mir einerlei ‒ sie müssen sich eben damit abfinden. Es gibt den Maler, der aus der Sonne einen gelben Fleck macht, aber es gibt auch den, der mit Überlegung und Handwerk aus einem gelben Fleck eine Sonne macht.28
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird nun auch ganz gut verständlich, warum Schiller die Kunst mit dem Spielgedanken in Verbindung gebracht hat und dabei zugleich postulierte, dass der Mensch seine höchsten Entwicklungsmöglichkeiten im Spiel finde. Im Spiel könne nämlich seine Sensibilität für den Reichtum des faktisch Gegebenen (Stofftrieb) und seine Fähigkeit zur Ausbildung von Regeln (Formtrieb) zu einem produktiven Ausgleich gebracht werden (Spieltrieb). Spiel und Kunst gehören deshalb für Schiller auf genuine Weise zur Selbstkonstitution des Menschen. Denn, um es auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.29
Der Synthese- und Differenzierungsanspruch der Kunst spielt in allen semiotisch orientierten Ästhetikkonzeptionen eine wichtige Rolle, auf die noch näher eingegangen werden wird. Insbesondere der russische Formalismus hat sehr intensiv auf die Negationsimplikationen der Kunst aufmerksam gemacht. Viktor Šklovskij hat beispielsweise darauf verwiesen, dass die Automatisierung der Wahrnehmung mit Hilfe tradierter Muster die Eigenständigkeit und Widerständigkeit unserer Wahrnehmungsgegenstände aufzehren könne. Aufgabe der Kunst sei es deshalb, die Routine von Wahrnehmungsprozessen aufzuheben bzw. zu stören, wobei dann natürlich alle Varianten von Negationen eine ganz wichtige Funktion bekommen können. Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der „Verfremdung“ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und die Länge der �� 28 P. Picasso, Wort und Bekenntnis, 154, S. 9. 10, 26, 22. 29 F. v. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 15. Brief, Nationalausgabe, Bd. 20, S. 359.
70 � Die Negation als Evolutionsphänomen Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig.30
Die von Šklovskij ins Spiel gebrachten Verfahren, in der Kunst die Schematisierung und Automatisierung von Wahrnehmungsprozessen aufzuheben (Verfremdungen, Komplizierungen von Formen), haben sicherlich eine ganz enge Verbindung zu Negationsverfahren aller Art. Zwar wird man immer einzuräumen haben, dass konventionalisierte Negationsformen durchaus schematisierenden Wahrnehmungsprozessen Vorschub leisten können, insofern sie ja immer auch das vereinfachende Entweder-Oder-Denken begünstigen. Gleichzeitig ist aber auch offensichtlich, dass insbesondere verdeckte Negationsformen routinierte Rezeptionsprozesse stören können, weil sie uns nämlich dazu zwingen, die Welt in variablen Perspektiven zu sehen und unsere jeweiligen Wahrnehmungsinhalte in eine Beziehung zu unseren jeweiligen Wahrnehmungsverfahren zu setzen. Wellershoff hat deshalb ja auch die Negation in einer alten Tradition als eine Kategorie des Werdens angesehen, durch die nicht nur die Lebendigkeit des Denkens gefördert werde, sondern durch die wir auch Distanz zu den tradierten Formen unserer Weltwahrnehmung gewinnen könnten. Freiheit kann also erkannt werden an der Fähigkeit, Nein zu sagen. Im Gegensatz zum distanzlosen Akzeptieren ist das eine schwierige Operation, die mehr Energie oder mehr Nötigung braucht.31
Aufschlussreich ist auch, wie Paul Valéry die Kunst bzw. die Erfahrung des Schönen mit der Negationsproblematik in Verbindung gebracht hat. Für ihn impliziert das Schöne etwas Unsagbares, Unbeschreibliches und Unaussprechliches, weil Schönheit alle Definitionsversuche scheitern lasse und weil sie einen unendlichen Durst auslöse.32 In seinem Brief über Mallarmé wagt er dann eine Bestimmung des Schönen, die allerdings weniger als eine kategoriale Einordnung zu verstehen ist, sondern eher als eine Kennzeichnung der Wirkungen, die vom Schönen ausgehen.
�� 30 V. Šklovskij, Die Kunst als Verfahren, in: J. Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus, 1971, S. 15. 31 D. Wellershoff, Die Verneinung als Kategorie des Werdens, in: H. Weinrich (Hrsg.), Positionen der Negativität, 1975, S. 224. 32 P. Valéry, Le Beau est négatif, Oeuvres, Vol. 1, 1957, p. 374‒375. “Le Beau implique des effects d’indicibilité, d’indescriptibilité, d’ineffabilité. […] Beauté est donc: négation, plus soif causée par ce qui s’exprime par cette impuissance, plus ‹infini› de cette soif, plus x […].”
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Das Schöne ist einfach zu definieren: es ist das, was uns verzweifeln läßt. Doch gelobt sei eine Verzweiflung, die uns einem Wahn entreißt, Klarheit schafft und ‒ wie bei Corneille der alte Horace sagt ‒ uns Rettung bringt.33
Die Korrelation des Kunst- bzw. Schönheitsgedankens mit dem Negationsgedanken hat für Valéry nichts Destruktives an sich, sondern vielmehr etwas Konstruktives, weil eben dadurch die eigenen Gestaltungskräfte angeregt würden, die sowohl zu einer Ich-Erneuerung als auch zu einer Spracherneuerung führen könnten. „Die Sprache beherrscht mich und ich beherrsche sie. In dem Maße, wie ich sie für meine Perspektive zurechtbiege, verändert sie diese auch.“34 Aus all dem zieht er den Schluss, dass die Kunst ebenso wie der Künstler letztlich dazu bestimmt sei, etablierte Wahrnehmungs- und Denkperspektiven zu Gunsten neuer aufzuheben und gegen den Strom des üblichen Wahrnehmens und Denkens zu schwimmen. Es müsse negiert werden, um etwas Neues in den Blick zu bekommen.35 Die Möglichkeiten zum Nein-Sagen haben sich im Verlaufe der kulturellen Evolution der Sprache fast unübersehbar ausgedehnt. Sie reichen von paraverbalen und verbalen Abwehrzeichen bzw. abwehrenden Verhaltensweisen bis zu expliziten und impliziten sprachlichen Negationszeichen, die bestimmte Inhaltsvorstellungen metainformativ hinsichtlich ihrer aktuellen oder generellen Gültigkeit in Frage stellen oder ganz aufheben. Es ist deshalb eigentlich eine unabschließbare Aufgabe, die in einer Sprache wirksamen Negationsmittel, Negationsstrukturen und Negationsstrategien morphologisch zu erfassen und funktional näher zu bestimmen. In den natürlich gewachsenen Sprachen liegt nämlich im Gegensatz zu den formalisierten Sprachen weder ein geschlossenes Inventar von Negationszeichen vor noch ein übersichtliches Repertoire von Negationsverfahren. Die Negationsimplikationen von bestimmten sprachlichen Formen oder Redeweisen werden oft erst dann fassbar, wenn man diesbezüglich fruchtbare Fragen stellt bzw. bestimmte Korrelationen herstellt. Das aber ist im Prinzip eine unabschließbare konstruktive und hermeneutische Aufgabe, die sich auf evolutionäre Weise ständig fortzeugen kann.
�� 33 P. Valéry, Werke Bd. 3, S. 259. „La définition du Beau est facile: il est ce qui désespère. Mais il faut bénir ce genre de désespoire qui vous détrompe, vous éclaire, et, comme disait le vieil Horace de Corneille,‒ qui vous secourt.“ P. Valéry, Ouevres, Vol 1, 1957, p. 637. 34 P. Valéry, Cahiers/Hefte, Bd. 1, 1987, S. 489. „Le langage me subit et me fait subir, Tantôt je le plie à ma vue, tantôt il transforme ma vue.“ P. Valéry, Cahiers, Vol. 1, p. 293. 35 Vgl. P. V. Zima, Ästhetische Negation. Das Subjekt, das Schöne und das Erhabene von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard, 2005, S. 86ff.
3 Die Negation als System- und Strukturphänomen Die Wahrnehmung der Negation als Evolutionsphänomen macht es eigentlich etwas problematisch, sie zugleich auch als Systemphänomen oder zumindest als wichtigen Faktor von Systembildungen wahrzunehmen, da der dynamisch orientierte Evolutionsbegriff anscheinend in einer natürlichen Spannung zum statisch orientierten Systembegriff steht. Evolutionsprozesse scheinen nämlich ganz genuine Feinde von übersichtlichen Systemordnungen zu sein. Gleichwohl macht man es sich aber zu leicht, wenn man Evolutionsprozesse nur als Störungen von stringenten Systemordnungen ansieht und nicht auch als Möglichkeiten, bewährte Systemordnungen geänderten Rahmenbedingungen flexibel anzupassen und damit funktionstüchtig zu halten. Diese Sichtweise legt es dann nahe, vom Strukturbegriff Gebrauch zu machen, mit dem besser als mit dem eher statisch orientierten Systembegriff auf die innere Dynamik von lebendigen Ordnungszusammenhängen aufmerksam gemacht werden kann. Gerade im Bereich der Kultur ist der Strukturgedanke wohl noch unverzichtbarer als im Bereich der Natur, da sich in ihr Ordnungszusammenhänge ganz besonders schnell verändern. Deshalb darf man hier sein Erkenntnisinteresse auch nicht ungestraft methodisch auf eine ganz bestimmte Betrachtungsebene reduzieren, weil man dabei immer Gefahr läuft, komplexe Ordnungsverhältnisse zu verfehlen oder gar zu verfälschen. Im politischen Bereich lässt sich der statisch orientierte Systembegriff prototypisch durch das Phänomen der Diktatur veranschaulichen und der dynamisch orientierte Strukturbegriff durch das der Demokratie. Beide Phänomene repräsentieren Ordnungszusammenhänge, allerdings solche von sehr unterschiedlichem Typ, insofern die Demokratie im Gegensatz zur Diktatur den Gedanken der Umstrukturierung von vornherein in ihr Verständnis von Ordnung integriert. Zu beachten ist dabei auch, dass Systemordnungen und Strukturordnungen nicht auf derselben Abstraktionsebene anzusiedeln sind. Strukturordnungen können nämlich durchaus Systemordnungen als Teilordnungen in sich integrieren, sofern sich diese nicht prinzipiell gegen Veränderungen abschotten bzw. sich nicht grundsätzlich dagegen sperren, sich zu wandeln und neue Funktionen zu übernehmen. Wie wichtig das Spannungsverhältnis zwischen dem System- und dem Strukturgedanken ist, zeigt sich deutlich in dem Unterschied zwischen den sprachlichen Ordnungszusammenhängen in formalisierten Fachsprachen und in natürlich gewachsenen Umgangssprachen. In Fachsprachen sollte im Prinzip jeder Begriff einen festen Systemplatz in bestimmten Wort- bzw. Begriffsfeldern
Negation und Logik � 73
haben und jede grammatische Form einen festen Systemplatz in grammatischen Formparadigmen, um die informative Präzision dieser sprachlichen Zeichen zu gewährleisten. Das hat dann zur Folge, dass der Gebrauch einer bestimmten Form im Prinzip immer als Abwahl bzw. als implizite Negation der Möglichkeit des Gebrauchs einer anderen Form verstanden werden kann, was natürlich den Systemgedanken ungemein stärkt. Gerade in den natürlichen Sprachen überlappen sich nun aber im Gegensatz zu den formalisierten Fachsprachen die Gebrauchsmöglichkeiten von lexikalischen und grammatischen Formen sehr oft, da nicht alle Kommunikanten dasselbe Wissen von dem Systemcharakter des entsprechenden Formeninventars haben. Der Gebrauch einer ganz bestimmten Sprachform kann deshalb nicht immer als bewusste Abwahl einer anderen Form verstanden werden, was sich gerade am Beispiel des Gebrauchs von Fachtermini und Metaphern sehr schön exemplifizieren lässt. Während sich der Gebrauch von Negationszeichen in den formalisierten Fachsprachen recht gut mit dem Gebrauch von Minuszeichen in der Mathematik analogisieren lässt, ist er in den natürlichen Sprachen eher mit abwehrenden Gesten zu vergleichen, die jeweils einer bestimmten situationsbezogenen Interpretation bedürfen. Um das Spannungsverhältnis zwischen einer system- und einer strukturtheoretisch orientierten Betrachtungsweise der Negationsproblematik herauszuarbeiten, empfiehlt es sich, unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven für beide zu erproben. Deren jeweilige Spannweite sollte dabei von einem eher statisch bis zu einem eher dynamisch geprägten Erkenntnisinteresse reichen. Um dieses Ziel zu erreichen, soll im Folgenden die Negationsproblematik in der Perspektive der Logik, der Erkenntnistheorie, der Psychologie und der Pragmatik näher untersucht werden, die alle recht unterschiedliche Erkenntnisziele haben und eben deshalb dann auch inhaltlich ganz unterschiedliche Wahrnehmungsakzente zu setzen versuchen.
3.1 Negation und Logik Je nachdem, ob man die Logik in einem aristotelisch-klassischen Sinne als Lehre vom Begriff, Urteil und Schluss bzw. als Lehre von den Bedingungen des richtigen argumentativen Denkens und Sprechens versteht oder in einem etwas umfassenderen stoisch-semiotischen Sinne als Lehre von dem menschlichen Verstande und den Möglichkeiten des sinnvollen Denkens und Sprechens, wird man die Form- und Funktionsaspekte des Negationsphänomens in recht unterschiedlichen Relationszusammenhängen thematisieren. Grundsätzlich sollte man aber diese beiden unterschiedlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten von
74 � Die Negation als System- und Strukturphänomen Logik nicht gegeneinander ausspielen, sondern sie eher als sich ergänzende Sichtweisen mit einer je eigenen Wahrnehmungskonzentration ansehen. Als Systemphänomen tritt die Negation am klarsten im Rahmen der klassischen Logik in Erscheinung, die insbesondere dazu dienen soll, Aussagen mit Hilfe der binären Werte wahr und falsch zu beurteilen. Das ist dadurch bedingt, dass dieses Verständnis von Logik sich im Prinzip nur auf sprachliche Aussagen im Sinne von prädikativ fassbaren Urteilen bezieht, aber nicht auf Begriffe bzw. Denkmuster. Sehr viel unübersichtlicher wird die Lage nun allerdings, wenn wir die Logik in einem semiotischen Sinne als Lehre vom Denken bzw. als Lehre von der Struktur von Sinnbildungsprozessen verstehen und ihr Operationsfeld auch auf die Bildung von Denkmustern und Hypothesen sowie von kognitiven Strategien ausdehnen. Es ist offensichtlich, dass unter diesen Umständen Strukturvorstellungen ein sehr viel größeres Gewicht bekommen als Systemvorstellungen, da nun nicht mehr nur der Abbildungsgedanke bei der Beurteilung von sprachlichen Äußerungen eine wichtige Rolle spielt, sondern auch der Interpretations- und Interaktionsgedanke.
3.1.1 Negation und klassische Logik Obwohl die semiotisch orientierte Logik einen sehr viel größeren Operationsrahmen beansprucht als die klassische, weil es ihr nicht nur um rein sachthematische Relationszusammenhänge geht, sondern auch um reflexionsthematische, so ist doch festzuhalten, dass die klassische Logik eine sehr elementare Bedeutsamkeit für uns hat. Dafür lassen sich sowohl evolutionstheoretische als auch pragmatische Gründe ins Feld führen. Diese laufen alle auf die Einsicht hinaus, dass binär strukturierte Vereinfachungsschemata auf fundamentale Weise zu unseren Wahrnehmungs- und Handlungsprozessen gehören. Carl Friedrich von Weizsäcker hat deshalb die klassische Logik mit ihrem binären Beurteilungsschema von wahr und falsch entstehungsgeschichtlich darauf zurückgeführt, dass wir im praktischen Leben unsere Handlungsentscheidungen nach einem einfachen Ja-Nein-Prinzip ausrichten müssten. Deshalb sei es auch plausibel, gedankliche Analyseprozesse auf alternative Entscheidungen zulaufen zu lassen. Die Logik ist zweiwertig, weil sie auf Handlungen bezogen ist, die ausgeführt oder unterlassen werden können. […] der Verstand kann denken, was der Wille wollen kann, der Wille kann wollen, was der Verstand denken kann. Die Zweiwertigkeit, die Zerlegbarkeit der Wirklichkeit in Alternativen ist nicht eine Eigenschaft, die uns die Welt ohne unser Zu-
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tun zeigt; sie ist die Weise, wie wir auf Wirklichkeit ‒ erfolgreich ‒ zugreifen. Der Verstand ist machtförmig.1
Diese Interpretation der Genese der klassischen Logik in der Perspektive pragmatischer Überlegungen transzendiert zwar schon den Denkrahmen dieser Logik, aber gerade deshalb ist sie für die hier verfolgten Zielsetzungen besonders interessant. Durch sie wird nämlich nicht nur darauf aufmerksam gemacht, welche Motive der Entstehung dieser Logik zu Grund liegen, sondern auch darauf, wo ihre Grenzen liegen. Diese bestehen insbesondere darin, dass sie nur sachthematische, aber keine reflexionsthematischen Interessen hat, und dass in ihr weder der Subjektbezug noch die Reflexion auf die Objektivierungskraft von sprachlichen Aussage- und Denkformen einen besonderen Raum beanspruchen. Das bedeutet dann auch, dass die sinnbildenden Interpretationsfunktionen von Negationen in ihr nur eine sehr begrenzte Aufmerksamkeit finden. Da die klassische zweiwertige Logik nicht die Intention hat, uns Einsicht in die Strukturen und Hilfsmittel unseres Denkens zu vermitteln, sondern vielmehr das Ziel verfolgt, uns Aufschluss über die Form wahrer Aussagen und die Struktur von zulässigen Schlussfolgerungsprozessen zu geben, hat sie auch eher einen normativen als einen deskriptiven Charakter. Das dokumentiert sich sehr klar in ihren drei Prämissen, die für sie gleichsam den Status selbstverständlicher und unhintergehbarer Axiome haben. Es handelt sich dabei um das Axiom der Identität, des verbotenen Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten. Diese Axiome sind im Hinblick auf unser sachthematisches Denken allesamt sehr plausibel, aber sie sind keineswegs selbstverständlich für unsere Denkmöglichkeiten schlechthin. Deshalb sollten wir uns bei der Beurteilung der pragmatischen Funktionen von Negationen keineswegs allein auf die klassische Logik und ihre Axiome verlassen. Diesen drei Axiomen liegt nämlich die Grundhypothese zu Grunde, dass sich in Denkprozessen die Denksubjekte ganz klar von den Denkobjekten unterscheiden lassen, dass die Denksubjekte ihren Denkobjekten in einer kontemplativen Gelassenheit gegenüberstehen und dass der Entstehungsprozess von Wissen bei der Beurteilung seines Wahrheitsgehaltes keine entscheidende Rolle spielt. Weiterhin wird meist vorausgesetzt, dass das Wissen aus Schlussfolgerungsprozessen denselben oder sogar einen noch höheren Grad an Vertrauenswürdigkeit hat als das Wissen aus empirischen Einzelerfahrungen. Das Axiom der Identität besagt, dass Dinge unabhängig von unseren Denkprozessen und perspektivischen Wahrnehmungen immer mit sich selbst iden-
�� 1 C. F. v. Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen, 19844, S. 303.
76 � Die Negation als System- und Strukturphänomen tisch bleiben und sich unter dem Einfluss der Zeit nicht wesentlich verändern. Deshalb wird in seinem Rahmen die Vorstellung von einem Ding an sich auch nicht als eine bloß regulative Idee verstanden, sondern eher als ein schlichtes Faktum. Wenn wir nun aber der Auffassung sind, dass empirisch vorfindbare Dinge sich im Laufe der Zeit nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich ändern, dann müssten wir die wahren Aussagen über sie eigentlich immer mit einem bestimmten Zeitindex versehen, was praktisch natürlich große Probleme aufwerfen würde. Deshalb gehen wir in unserem Denken auch meist stillschweigend davon aus, dass zwar nicht die empirisch vorfindbaren Einzeldinge mit sich selbst identisch bleiben, aber durchaus deren inneres Wesen bzw. die Ordnungsbegriffe, mit denen wir sie uns kognitiv objektivieren. Das ist natürlich nicht minder problematisch, weil insbesondere sprachlich manifestierte Begriffe kulturgeschichtlich und kontextuell natürlich laufend ein anderes Profil bzw. einen anderen semantischen Stellenwert in ihren jeweiligen Wort- bzw. Begriffsfeldern bekommen. Das Axiom vom verbotenen Widerspruch besagt, dass zwei sich widersprechende Aussagen über denselben Sachverhalt nicht beide wahr sein können bzw. dass in einer der beiden Aussagen Begriffe falsch verwendet worden sind. Das lässt sich aber nicht immer leicht entscheiden. Da hilft es auch wenig, sich auf die Verteidigungslinie zurückzuziehen, dass widersprüchlich verwendbare Begriffe keine richtigen Begriffe seien, sondern nur Pseudobegriffe. Gleichwohl hat aber auch dieses Axiom eine nicht zu bezweifelnde praktische Relevanz. Das Axiom vom ausgeschlossenen Dritten ist eigentlich eine Konsequenz der anderen beiden Axiome. Es besagt, dass eine Aussage entweder wahr oder unwahr ist bzw. einen gegebenen Sachverhalt entweder zutreffend oder unzutreffend abbildet. Um das aber letztlich verlässlich entscheiden zu können, müssten wir eigentlich eine göttliche Wahrnehmungsfähigkeit haben, die keinerlei Einschränkungen unterworfen wäre. Außerdem müssten wir davon ausgehen können, dass die Welt unserer Begriffe im Prinzip passgenau auf die Welt der gegebenen Sachverhalte passt bzw. dass Begriffe keine pragmatisch motivierten Ordnungshypothesen sind, sondern gleichsam platonische Ideen mit einem zeitlosen Objektivierungsanspruch für gegebene Realitäten. Die drei Grundsätze der klassischen Logik zeigen, dass diese eine ausgesprochen sachthematische Gegenstandslogik ist, die sowohl von den verändernden Wirkungen der Zeit als auch von der Genese von Vorstellungsinhalten als auch von den Interaktionsintentionen der jeweiligen Denksubjekte abstrahiert. All das sind nun aber Faktoren, die im Verlaufe der Kulturgeschichte immer wichtiger geworden sind und die eben deshalb bei der Analyse von Denkprozessen auch nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Das dokumentiert sich auch darin, dass wir auf die Frage, ob eine Aussage wahr sei, zwar in der Regel
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mit ja oder nein antworten, aber spaßeshalber zuweilen auch mit jein, um darauf aufmerksam zu machen, dass über schlichte alternative Beurteilungen ein faktisch gegebener Tatbestand auch unzulässig vereinfacht werden kann. Trotz oder gerade wegen ihrer vereinfachenden Abstraktionen ist die klassische Logik für die Denkprozesse unseres alltäglichen Lebens unverzichtbar, denn in diesen werden ja ständig Entscheidungen verlangt und nicht nur Interpretationen, was die Hamletgestalt ja prototypisch exemplifiziert. Aus diesem Grund hat dann auch Nietzsche die drei Axiome der klassischen Logik letztlich als eine Ausdrucksform des Willens zur Macht verstanden. In ihnen manifestierten sich keine wirklichen Erfahrungserkenntnisse, sondern vielmehr „regulative Glaubensartikel“, die „aller Erfahrung vorausgehen.“2 Allerdings hätten sich diese Regularien des Denkens im Laufe der Zeit nach und nach zu ganz eigenen Wahrheiten verselbstständigt. „Die Welt e r s c h e i n t uns logisch, weil w i r sie erst logisiert h a b e n.“3 Deshalb scheut er sich auch nicht, die klassische Logik als eine Art Heilslehre zu verstehen, die für die „begriffliche Verständlichkeit des Daseins selbst für Idioten“ dienstbar gemacht werden könne.4 Nietzsches Polemik gegen den Wert der klassischen Alternativlogik, die letztlich natürlich auch eine Polemik gegen den Erkenntniswert der binären Opposition von Affirmation und Negation zu verstehen ist, wird verständlich, wenn man Nietzsches Vorbehalte gegen vereinfachende Denk- und Sprachmuster teilt. Sie wird allerdings relativiert, wenn man bedenkt, dass Nietzsche selbst ständig Gebrauch von diesen Vereinfachungsmustern macht. Ohne sie könnten nämlich Erfahrungen nicht effektiv für das Handeln verwertet bzw. Herrschaftsbestrebungen nicht ausgelebt werden. Ohne klare Negationszeichen wären nämlich kohärente und verständliche Argumentationen kaum möglich. Eine ganz andere Frage ist nun aber, in welchem Ausmaß wir uns unter die Herrschaft dieser drei Axiome begeben sollten und warum wir Negationen in komplexen Sinnbildungsprozessen sowohl nach ihrer Intensität als auch nach ihren Sachbezügen differenzieren müssen. Dieses Problem ergibt sich insbesondere dann, wenn wir nicht nur die Darstellungs- bzw. Abbildungsfunktion der Sprache ins Auge fassen, sondern auch ihre Interpretationsfunktion. Dann ergibt sich nämlich unausweichlich das Problem, welche spezifischen Rollen Negationszeichen bei der Entfaltung der menschlichen Einbildungskraft, bei der Bildung von Hypothesen, bei der Bewältigung von Emotionen und beim Umgang mit tradierten Wissens- und Zeichenbeständen spielen. All diese Fra-
�� 2 F. Nietzsche, Aus dem Nachlaß der achtziger Jahre, Werke Bd. 3, 19737, S. 886. 3 F. Nietzsche, a. a. O., S. 526. 4 F. Nietzsche, Wir Antipoden, Werke Bd. 2, 19737, S. 1048.
78 � Die Negation als System- und Strukturphänomen gen liegen nämlich außerhalb des Denkrahmens der klassischen Logik, eben weil diese sich ja im Prinzip nur mit Abbildungs- und Schlussfolgerungsproblemen beschäftigen will, aber nicht mit hermeneutischen, heuristischen und strukturierenden Denkformen. Wenn man rein systemtheoretisch denkt, dann hätte man eigentlich zu erwarten, dass es in der Sprache neben den Negationszeichen aus Gründen der Symmetrie auch immer Affirmationszeichen geben müsse. Aus sprachökonomischen Gründen ist allerdings ganz gut verständlich, dass ein solches Symmetriepostulat ziemlich unsinnig wäre. Es genügt, die Abweichung von Standarderwartungen explizit zu signalisieren und nur in Ausnahmefällen die Gültigkeit von Vorstellungen auf metainformative Weise explizit kenntlich zu machen, um mögliche Missverständnisse auszuschließen. Zu Affirmationszwecken werden dann in der Regel neben Intonationssignalen vor allem Kommentaradverbien bzw. Modalwörter verwendet (Dein Freund kommt sicherlich.). Angesichts dieser Verhältnisse hat Weinrich das Konzept eines grammatischen Gültigkeits- bzw. Assertionsparadigmas entwickelt, das auf den Basiswerten ja und nein bzw. Affirmation und Negation basiert. Während Negationen im Prinzip durch selbstständige oder unselbstständige Negationsmorpheme gekennzeichnet würden, setzt er für die Kennzeichnung von Affirmationen sogenannte Nullmorpheme an, die tiefenstrukturell in Äußerungen präsent seien, aber oberflächenstrukturell nur in Sonderfällen in Erscheinung träten.5 Mit diesem grammatisch-pragmatischen Assertionsparadigma und der Idee von der Existenz von grammatischen Nullmorphemen in Kommunikationsprozessen hat Weinrich das Binaritätsprinzip für die Logik formal gerettet. Offen bleibt aber gleichwohl, wie die Logik mit dem Problem der Intensität von Negationshandlungen in Denkprozessen umgehen soll und wie sie diese wahrheitstheoretisch beurteilen soll. Diese Probleme lassen sich im wissenschaftlichen Sprachgebrauch noch als logisch irrelevante Probleme abstraktiv ausklammern, aber kaum im alltäglichen, im emotionalen und im ästhetischen Sprachgebrauch, in dem sich die Wahrheitsfrage dann doch etwas anders stellt.
3.1.2 Negation und semiotische Logik Da sich die semiotische Logik weniger mit dem Problem beschäftigt, wie sich das Sein im Denken adäquat abbilden lässt, sondern eher mit dem Problem, wie man einen adäquaten Zugang zum Sein finden kann, der sich pragmatisch auf �� 5 H. Weinrich, Sprache in Texten, 1976, S. 79.
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fruchtbare Weise nutzen lässt, bekommt in dieser Logik das Phänomen der Negation auch ein ganz anderes Relevanzprofil als in der klassischen Logik. Die Negation wird hier weniger als eine grammatische Operation ins Auge gefasst, mit der sich der Wahrheitswert von Aussagen umpolen lässt, sondern eher als eine grammatische Operation, mit der sich Sinnbildungsverfahren strukturieren lassen. Deswegen richtet sich in ihrem Denkrahmen die Aufmerksamkeit auch weniger in einem sachthematischen bzw. korrespondenztheoretischen Sinne darauf, ob eine Aussage wahr oder unwahr ist, sondern eher reflexionsthematisch darauf, wie man sich die gegebene Welt über Zeichen so wahrnehmbar machen kann, dass man sinnvolle Handlungsentscheidungen treffen kann. Wenn man nun aber danach fragt, wie man sich über den Gebrauch von Negationsformen die gegebene Welt zugänglich machen kann bzw. wie man sich über die Nutzung alter Wissensinhalte neue erschließen kann, dann wird die Qualifizierung von Aussagen als fruchtbar oder weniger fruchtbar wichtiger als die nach wahr oder falsch. Dementsprechend organisiert sich das Denken dann auch eher durch ein spezifisches Interesse an Wenn-Dann-Relationen als durch eines an Abbildungsrelationen. Das hat zur Folge, dass sich die Logik als Lehre vom Denken auch für diejenigen Probleme zu öffnen hat, die mit der Bildung von Hypothesen und Fiktionen zu tun haben, bzw. für solche, welche die medialen und prozessualen Implikationen des Denkens betreffen. Es bedeutet weiter, dass sich die Logik auch damit zu beschäftigen hat, welche Funktionen Negationen bei der Vermittlung der Subjektsphäre mit der Objektsphäre des Denkens übernehmen können. So betrachtet überrascht es dann auch nicht, dass Peirce die Auffassung vertreten hat, dass Logik und Semiotik letztlich die gleichen Aufgaben zu bewältigen hätten und daher in begrifflicher Hinsicht als Synonyma anzusehen seien. Beide hätten sich mit dem Problem zu beschäftigen, wie man mit Hilfe von Zeichen Sinn bilden und vermitteln könne.6 Diesbezüglich ist aber auch zu beachten, dass Peirce die Logik klar von der Psychologie abgegrenzt wissen will, insofern letztere auf deskriptive Weise individuelle Denkprozesse zu beschreiben habe, während die Logik die überindividuellen allgemeinen Strukturbedingungen sinnvollen Denkens aufzuklären habe. Da sich nun die Semiotik primär für die Vermittlungsfunktion von Zeichen mit Einschluss von Negationszeichen zu interessieren hat, kann sie ihr Verständnis von Logik auch nicht auf das binäre Prinzip von wahr oder falsch gründen. Gerade weil die Semiotik nicht nur sachthematisch (intentio recta),
�� 6 Ch. S. Peirce, Collected Papers, 2. 227. “Logic, in its general sense, is, as I believe I have shown, only another name for semiotic […] the quasi-necessary, or formal, doctrine of signs.”
80 � Die Negation als System- und Strukturphänomen sondern auch reflexionsthematisch (intentio obliqua) ausgerichtet ist, bzw. weil sie sich auch für die Vermittlungsfunktionen von Zeichen zu interessieren hat, ist ihre Hauptaufmerksamkeit natürlich auf Wenn-Dann-Relationen konzentriert. Dementsprechend sollten in ihr Negationen auch nicht als abschließende Stellungnahmen zu bestimmten Vorstellungsinhalten verstanden werden, sondern nur als Verfahrensschritte bei der Ausbildung von Wahrnehmungsperspektiven für bestimmte Sachverhalte, durch welche die Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Einzelaspekte gelenkt wird. Deshalb bevorzugt Peirce dann ja auch kein bilaterales, sondern ein trilaterales Zeichenmodell. Peirce legt seinem semiotischen Denken ganz bewusst ein ontologisches Konzept zu Grunde, in dem Einzelphänomene nicht nach ihrem angenommenen substanziellen Wesen eingeordnet werden, sondern vielmehr nach dem Grad von Relationalität, der in ihnen zum Ausdruck kommt oder kommen kann. Zu diesem Zweck entwickelt er dann die ontologischen Fundamentalkategorien Erstheit (firstness), Zweitheit (secondness) und Drittheit (thirdness). Diese sehr sperrigen Bezeichnungen hat Peirce ganz bewusst gewählt, um Phänomene nicht nach substanziellen Gesichtspunkten zu klassifizieren, sondern nach rein strukturtheoretischen bzw. relationalen.7 Unter die Kategorie Erstheit fallen für Peirce alle Phänomene, deren Seinsmodus so beschaffen ist, dass sie für uns weitgehend unabhängig von ihren Relationen zu anderen in Erscheinung treten. Das gilt beispielsweise für unsere unmittelbaren Sinnesempfindungen und Gefühlsqualitäten, sofern wir einmal von der Frage nach ihren Entstehungsbedingungen absehen. Unter die Kategorie Zweitheit fallen für ihn alle Phänomene, die sich im Prinzip durch ihre Bezogenheit auf etwas anderes konstituieren. Das trifft dann beispielsweise auf das Phänomen der Kraft zu, das für uns nur im Zusammenhang mit dem Phänomen des Widerstandes fassbar wird. Unter die Kategorie Drittheit fallen für ihn alle Phänomene, deren Seinsmodus so beschaffen ist, dass ein Erstes mit einem Zweiten über ein Drittes in Beziehung gesetzt wird. Das trifft dann beispielsweise für alle Phänomene zu, die wir als Zeichen wahrnehmen, weil bei diesen ein Zeichenträger in einer ganz bestimmten Interpretationsperspektive auf etwas von ihm selbst Unterscheidbares als Denkobjekt verweist. Wenn man nun wie Peirce in der skizzierten Weise relationstheoretisch und nicht substanztheoretisch denkt, dann ist klar, dass Zeichen eigentlich keine Stellvertreter oder gar Abbilder für Dinge oder Vorstellungen sein können, sondern vielmehr nur Repräsentanten von ganz bestimmten kulturellen oder individuellen Interpretations- bzw. Vermittlungsanstrengungen, aus denen ganz �� 7 Ch. S. Peirce, Collected Papers 4.3.; 8. 328ff.
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bestimmte Vorstellungen hervorgehen. Daraus ergibt sich dann weiter, dass sprachliche Aussagen letztlich auch weniger nach dem binären Schema von wahr und falsch beurteilt werden können, sondern eher nach dem pragmatischen Kriterium von sinnvoll und weniger sinnvoll oder von brauchbar und weniger brauchbar. Es bedeutet weiter, dass wir bei der Beurteilung von Aussagen unser Interesse nicht nur auf ihren jeweiligen Behauptungsinhalt zu richten haben, sondern auch auf die Genese dieses Inhalts bzw. auf die semiotischen Strategien, die bei der sprachlichen Konkretisierung und Objektivierung dieses Inhalts wirksam gewesen sind. Es ist nun offensichtlich, dass in diesem Zusammenhang nicht nur die Bildung und die Variation von Begriffen eine ganz wichtige Rolle spielt, sondern auch die Nutzung von Negationsverfahren aller Art. Auf diese kann man nämlich überhaupt nicht verzichten, wenn man sich neue Denkinhalte durch die Aufhebung, Relativierung oder Variation von alten zu strukturieren und zu objektivieren versucht. Immer wenn man neue Relationszusammenhänge herstellen möchte bzw. neue Assimilations- und Akkommodationsverfahren erproben will, dann kommt man um die Nutzung von Negationsverfahren nicht herum, da man ja nur über die Kritik bzw. Aufhebung von vorhandenem Wissen und Denken neues konkretisieren kann. Das zweistellige Zeichenmodell von de Saussure ist für die Analyse der Zeichenfunktionen in formalisierten Fachsprachen bzw. für die Anwendung der klassischen zweiwertigen Logik natürlich bestens geeignet. Es stößt aber an seine Grenzen, wenn es für die Analyse von Zeichenfunktionen verwendet wird, wie sie bei Äußerungen in den natürlichen Sprachen anzutreffen sind, da dieses Modell den Relationsgedanken sowohl im Hinblick auf lexikalische als auch auf grammatische Zeichen ganz erheblich verkürzt. Das zweistellige Zeichenmodell thematisiert die Zeichenproblematik nämlich nur als Stellvertretungs- bzw. Codeproblematik und sensibilisiert uns nicht dafür, die Zeichenproblematik darüber hinaus auch als Interpretationsproblematik wahrzunehmen, bei der sich sachthematische mit reflexionsthematischen bzw. heuristischen Strukturierungsintentionen überlagern können. Der semantische Gehalt von rein sachthematisch orientierten Äußerungen kann mit Hilfe des zweistelligen Zeichenmodells und der klassischen Logik mit ihren beiden alternativen Wahrheitswerten recht gut erfasst werden. Der semantische Gehalt von Äußerungen, in denen sich sachthematische und reflexionsthematische Sinnbildungsfunktionen überlagern, lässt sich dagegen strukturtheoretisch nur mit Hilfe des dreistelligen Zeichenmodells übersichtlich beschreiben. Dieses macht uns nämlich insbesondere dafür sensibel, dass sprachliche Sinnbildungsprozesse immer auch Prozesse der Perspektivenbildung sind, die mit dem Abbildungsgedanken nicht zureichend erfasst werden
82 � Die Negation als System- und Strukturphänomen können. Das kann man sich ganz gut mit Überlegungen exemplifizieren, die Miranda Lundy zur Ontologie und Metaphysik von Zahlen angestellt hat.8 Nach Lundy symbolisiert die Zahl 1 eine Größe, die sich als Monade verstehen lasse, insofern in ihr schon alles enthalten sei, was zu ihrem Verständnis nötig sei. Ihre Funktion könne man sich gut mit Hilfe unserer Vorstellungen Kreis, Kugel oder Gott veranschaulichen. Die Zahl 2 symbolisiere dagegen eine Größe, die als Dyade zu verstehen sei, weil sie auf Teile aufmerksam mache, die konstruktiv aufeinander bezogen seien und sich eben deswegen auch wechselseitig ihre Identität gäben. Das könne man sich durch die zwei Seiten einer Münze oder durch das Wechselspiel von Ruhe und Bewegung veranschaulichen. Die Zahl 3 symbolisiere schließlich eine Einheit, die als Triade zu verstehen sei, insofern zwei Teile über ein drittes Teil so miteinander verbunden seien, dass diese Einheit erst in diesem Korrelationsverhältnis ihre spezifische Charakteristik und Funktionalität bekomme. So gebe beispielsweise erst das dritte Bein einem Stuhl seine Standfestigkeit und erst der dritte Strang ermögliche es, einen Zopf zu flechten. Wenn man vor diesem Hintergrund Zeichen als zweistellige oder dreistellige Relationsgebilde ansieht und danach fragt, welche Faktoren die Logik zu berücksichtigen hat, dann wird man auf folgende Strukturverhältnisse aufmerksam. Die Wahrnehmung von sprachlichen Zeichen und Formen im Rahmen des zweistelligen Zeichenmodells, seien es nun Wörter, Sätze oder Texte, legt es nahe, sein Interesse darauf zu konzentrieren, ob die jeweiligen Zeichenträger einen gegebenen Sachinhalt zutreffend oder unzutreffend objektivieren. Die Wahrnehmung von sprachlichen Zeichen als dreistellige Relationsgebilde legt es dagegen nahe, zwei Teilgrößen immer als Relate in einer komplexen Gesamtgröße zu verstehen, deren jeweiliger Stellenwert erst durch eine dritte Teilgröße konkretisiert wird. Das hat dann die Konsequenz, dass das ganze Zeichengebilde eigentlich nicht mehr sinnvoll mit dem Gedanken der Abbildung und Wahrheit in einem korrespondenztheoretischen Sinne in Verbindung zu bringen ist, sondern nur mit dem Gedanken der Interpretation und Vermittlung. Je stärker bestimmte Differenzierungsbedürfnisse konventionalisiert sind, desto leichter lassen sich sprachliche Formen als zweistellige Relationsgebilde verstehen, was Fachbegriffe und Fachaussagen gut exemplifizieren. Je mehr sprachliche Formen als hermeneutische Werkzeuge verstanden werden, desto eher lassen sie sich als dreistellige Relationsgebilde verstehen, deren Wert sich nicht nur aus ihren Sachobjektivierungen ableiten lässt, sondern auch aus den Prämissen, Intentionen und Konsequenzen, die in ihnen zum Ausdruck kom�� 8 M. Lundy, Symbolik der Zahlen, 2010, S. 8ff.
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men. Unter diesen Bedingungen werden dann auch die Beurteilungskategorien von fruchtbar und unfruchtbar wichtiger als die von wahr und unwahr.
3.1.3 Funktionen von Negationen in Denkprozessen Da beim Gebrauch von formalisierten Fachsprachen die Darstellungs- und Argumentationsfunktion der Sprache im Mittelpunkt des Interesses steht, dienen Negationszeichen in ihnen hauptsächlich dazu, ganz bestimmten sprachlich erzeugten Vorstellungsinhalten die Korrespondenz zu faktisch gegebenen oder angenommenen Sachverhalten abzusprechen. Sie sollen gleichsam immer denkbare Annahmen faktisch richtig stellen. Eine ideale nur weltabbildende Fachsprache käme deshalb eigentlich ohne Negationsformen aus. Diese sind nämlich nur dann wirklich gefragt, wenn die jeweiligen Kommunikanten aktuell auf den gleichen Wissens- oder Sprachstand gebracht werden müssen. Beim Gebrauch von natürlichen Sprachen gibt es dagegen einen sehr viel weiteren Funktionsrahmen, bei dem sich der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff zur Qualifizierung von Äußerungen als zu eng erweist. Hier werden Wahrheitsvorstellungen aktuell, die nicht nur auf die Darstellungsadäquatheit von sprachlichen Formen abzielen, sondern auch auf die Verlässlichkeit von bestimmten Vorstellungen bzw. Informationen für unsere Handlungsprozesse. Das exemplifizieren Ausdrucksweisen wie wahrer Freund oder wahres Wort sehr deutlich. Deshalb arbeiten wir hier auch mit einem Wahrheitsbegriff, der semantisch ganz wesentlich dadurch geprägt ist, dass bestimmte Informationen mit schon vorhandenem Wissen oder mit bestimmten normativen Vorstellungen vereinbar sind (Kohärenzgedanke) oder dass diese sich auf sinnvolle Weise in lebensnahen Handlungsprozessen verwenden lassen (Fruchtbarkeitsgedanke). Das bedeutet, dass wir mit statisch orientierten Wahrheitsvorstellungen nicht recht weiterkommen, sondern nur mit dynamisch orientierten, die auch die möglichen Handlungsimplikationen von Vorstellungen berücksichtigen. Es ist nun offensichtlich, dass unter diesen Rahmenbedingungen der Negationsgedanke nicht mehr auf alternative Weise dem Affirmationsgedanken gegenüber gestellt werden kann, sondern allenfalls in einer abgestuften Weise, die nicht nur verschiedene Grade von Negationsintensitäten kennt, sondern auch unterschiedliche Negationsbezüge. Der Gebrauch von Negationszeichen wäre dementsprechend dann auch als ein Hinweis auf Denkschritte zu verstehen, die ganz bestimmte Brückenfunktionen haben, welche wiederum im Rahmen der klassischen Alternativlogik nicht zureichend zu erfassen sind. Weiterhin stellte sich auch die semiotische Aufgabe, die Negationsimplikationen zu erfassen, die möglicherweise mit bestimmten Sprachformen verbunden sind,
84 � Die Negation als System- und Strukturphänomen welche wir zunächst gar nicht mit dem Negationsgedanken in Verbindung bringen (Modalitätsformen, Auswahlentscheidungen, Textsorten usw.) Wenn nun aber Denkprozesse nicht nur im Hinblick auf ihre Abbildungsfunktionen interessant sind, sondern auch im Hinblick auf ihren Beitrag zur Entfaltung unserer Einbildungskraft und im Hinblick auf ihre Sensibilität für das Denken von Kommunikationspartnern, dann hilft die klassische Alternativlogik nicht viel weiter, um die komplexe Struktur des Sinns von Denkprozessen aufzuklären. Sie muss durch eine semiotische Logik ergänzt werden, die prinzipiell eine größere Bereitschaft hat, das Wechselspiel von analytischen und synthetischen Strukturierungsanstrengungen aufzuklären und sich dem Problem der intersubjektiven Verständlichkeit von Denkmitteln zu stellen. Das Verständnis von Negationszeichen als Minuszeichen hat natürlich auch in der semiotischen Logik einen Platz, aber keinen dominanten. Diese Wahrnehmungsweise lässt nämlich die heuristischen Funktionen von Negationen kaum in den Blick treten und fördert auch nicht unsere Sensibilität für Werdensprozesse. Auf diese Problematik hat schon früh Vico gerade im Hinblick auf die poetische Sprache aufmerksam gemacht, als er postulierte, dass in dieser das Wahre und das Gemachte ihre Relevanzpositionen tauschen würden.9 Denkformen und Sinnbildungsanstrengungen, die sich eher dem heuristisch orientierten Strukturierungs- als dem abbildenden Systemgedanken verpflichtet fühlen, brauchen deshalb Formen der Logik, die auch heuristisch und hermeneutisch orientiert sind und die nicht nur zwei alternative Wahrheitswerte kennen. Wenn Äußerungen pragmatisch gesehen nicht nur einen behauptenden Charakter haben, sondern hintergründig auch einen hypothetischen, metaphorischen und spielerischen, dann greift man zu kurz, wenn man sie nur alternativ als wahr oder als falsch zu qualifizieren versucht. Unter diesen Umständen müssen wir nach Denk- und Informationsformen in Sinnbildungsprozessen suchen, die komplexere bzw. vielschichtigere Sinnbildungsfunktionen haben.
3.2 Negation und Erkenntnistheorie Die Überlegungen zu den logischen Aspekten der Negation haben gezeigt, dass diese mit sehr grundlegenden erkenntnistheoretischen Problemen verquickt sind. Es ergibt sich nämlich bei Negationen sofort die Frage, welche Rolle sie spielen, wenn Menschen sich bemühen, mittels Zeichen Kontakt zwischen Sub-
�� 9 Vgl. K. Löwith, Vicos Grundsatz: verum et factum convertuntur, in: Sämtliche Schriften Bd. 9, 1986, S. 195‒227.
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jektsphären und Objektsphären herzustellen. Gerade Negationen scheinen nämlich wichtige Funktionen zu haben, wenn Menschen in ihren begrifflichen Objektivierungsanstrengungen mit den Widerständigkeiten von Objektsphären fertig zu werden versuchen und mit Hilfe des schon vorhandenen auch neues Wissen erschließen möchten.
3.2.1 Die Verschränkungen von Objekt- und Subjektsphären Die klassische Logik geht ziemlich selbstverständlich von der Prämisse aus, dass sich die jeweiligen Erkenntnisgegenstände klar von den jeweiligen Erkenntnissubjekten unterscheiden lassen bzw. dass es eine erfassbare selbstständige Außenwelt gibt, die nicht ein bloßes Produkt oder gar Konstrukt subjektbedingter Wahrnehmungsanstrengungen ist. Dieses Denkmodell prägt bis heute nicht nur unser Alltagsdenken, sondern auch weitgehend die alltägliche Forschungspraxis der Fachwissenschaften, obwohl es sowohl aus erkenntnistheoretischen als auch aus forschungspraktischen Gründen seine Fragwürdigkeiten hat. Man hat es gleichwohl als Grundmodell dadurch zu retten versucht, dass man es zu einer sinnvollen Hypothese erklärt hat, über die im sachthematischen Alltagsdenken und Forschungsgeschehen nicht mehr diskutiert werden muss, sondern allenfalls in den Metareflexionen des philosophischen und insbesondere des erkenntnis- oder wissenschaftstheoretischen Denkens. Zwar wird heute niemand mehr ernsthaft die These Kants zurückweisen können, dass uns nicht die Dinge an sich zugänglich sind, sondern nur ihre Erscheinungsweisen in ganz bestimmten Erkenntnisperspektiven, und dass wir es dementsprechend in unseren Erkenntnisprozessen auch nicht mit der Welt an sich zu tun haben, sondern immer nur mit einer Welt für uns. Aber diese erkenntnistheoretische Einsicht hat relativ wenig Einfluss auf unsere alltäglichen sachbezogenen Wahrnehmungs- und Denkprozesse, die natürlich nicht ständig ihre eigenen Voraussetzungen mitbedenken können. Auch die Heisenbergsche Unschärferelation spielt für das übliche fachwissenschaftliche Denken keine große Rolle, obwohl sie uns darüber belehrt, dass zumindest im mikrokosmischen Bereich unsere Wahrnehmungsgegenstände nicht völlig mit sich selbst identisch bleiben, sondern sich allein schon durch den Einfluss unserer Messverfahren, also durch Wahrnehmungs- bzw. Subjekteinflüsse, minimal verändern können. Obwohl wir in unserem sachthematischen Denken von diesen erkenntnistheoretischen Einsichten abstrahieren und wohl auch abstrahieren müssen, um uns nicht in endlosen Reflexionsschleifen zu verfangen, ist erkenntnistheoretisch doch Folgendes festzuhalten. Die erkennenden Subjekte werden durch die
86 � Die Negation als System- und Strukturphänomen Strukturen ihres Leibes bzw. durch die ihrer Sinnesorgane (Leibapriori) sowie durch die Strukturen ihrer Denkmuster (Kulturapriori) erheblich in dem beeinflusst, was sie faktisch wahrnehmen. Das sachthematische Denken lässt sich im Einzelfall zwar methodisch vom reflexionsthematischen trennen, aber nicht grundsätzlich, weil beide sich letztlich eben doch wechselseitig bedingen. Aus alldem wird dann auch erkenntnistheoretisch plausibel, warum Negationsformen sowohl sachthematisch als auch reflexionsthematisch eine ganz wichtige Funktion haben. Sie tragen nämlich nicht nur dazu bei, uns im Rahmen unseres gegebenen Wissens sachthematisch zu orientieren (Assimilationsprozesse), sondern auch dazu, uns selbst in unserem Denken an neue Gegebenheiten und Erfahrungen anzupassen (Akkommodationsprozesse). Sie eröffnen Wege zur Wahrnehmung und zum Umgang mit der Welt, aber sie tragen auch zur Flexibilisierung des Denkens und damit auch zu der individuellen Identitätsausbildung der erkennenden Subjekte bei. Der Naturwissenschaftler Erwin Schrödinger hat sehr eindringlich darauf aufmerksam gemacht, dass man von der faktischen Objektwelt keine wirkliche Erkenntnis gewinne könne, wenn man sie vollständig von der Subjektwelt isoliere und dem Wahn verfalle, sie von einer außerweltlichen bzw. subjektfreien Position wahrnehmen zu wollen. Er kommt deshalb auch zu der These, dass das denkende Ich sich prinzipiell über seine strukturbildenden Aktivitäten, zu denen sicherlich auch seine Negationshandlungen gehören, immer schon irgendwie in seine faktischen Wahrnehmungsinhalte integriere. Der Grund dafür, dass unser fühlendes, wahrnehmendes und denkendes Ich in unserem naturwissenschaftlichen Weltbild nirgends auftritt, kann leicht in fünf Worten ausgedrückt werden: Es ist selbst dieses Weltbild. Es ist mit dem Ganzen identisch, und kann deshalb nicht als Teil darin enthalten sein.10
3.2.2 Die Genese des Wissens Die klassische Erkenntnistheorie ist weitgehend gegenstandsorientiert. Sie will klären, wie die gegebene Welt zutreffend mit Hilfe von Begriffen und Aussagen erfasst bzw. abbildend objektiviert werden kann. Dabei abstrahiert sie weitgehend davon, welchen Einfluss die Entstehungsgeschichte von Wissen auf die Konkretisierung von bestimmten Wissensinhalten haben kann und welche Auswirkungen die Erkenntnisinteressen der jeweiligen Subjekte bzw. die verwendeten Zeichenformen auf die konkrete Strukturierung unseres Wissens haben �� 10 E. Schrödinger, Geist und Materie, 1986, S. 77.
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können. Wenn man nun aber die Erkenntnistheorie semiotisch orientiert, dann ist offensichtlich, dass man immer sowohl die Genese des Wissens als auch die Denkstrategien und Denkmittel der beteiligten Subjekte in seine Überlegungen einbeziehen muss, wozu nicht zuletzt auch der Gebrauch von Negationsstrategien und Negationsmitteln gehört. Gerade wenn man sein Wissen von der Welt nicht rein ontisch, sondern auch pragmatisch orientieren möchte, dann sind natürlich seine Entstehungsbedingungen von ganz erheblicher Bedeutsamkeit, weil dadurch immer schon mitbedingt wird, wie es sich sinnvoll verwenden lässt. Es muss beispielsweise geklärt werden, ob es deduktiv oder induktiv erzeugt worden ist, ob es durch Ausschlussverfahren oder durch Verallgemeinerungsverfahren Gestalt gewonnen hat, ob es durch eine bestimmte Autorität legitimiert worden ist oder ob es Ausdruck eines allgemeinen und meist unausgesprochenen Konsenses ist. Wenn wir allerdings die Möglichkeit eines absoluten Wissens annehmen oder dieses gar anstreben, dann spielt natürlich seine Entstehungsgeschichte letztlich keine große Rolle mehr, eben weil es ja nur auf die Endgestalt des jeweiligen Wissens ankommt, aber nicht auf seine Vorformen und Prämissen. Wenn wir dagegen ein pragmatisch brauchbares Wissen anstreben, dann spielen natürlich seine Entstehungsbedingungen immer eine ganz wichtige Rolle, weil sich durch sie schon entscheidende Hinweise auf seine praktische Verwendbakeit ergeben. Das Wissen um die Gefährlichkeit einer heißen Herdplatte läßt sich natürlich theoretisch vermitteln, aber es ist sicherlich gerade dann besonders nachhaltig, wenn man faktisch schon selbst einmal mit einer heißen Herdplatte in Berührung gekommen ist. Für die pragmatische Wertung des Wissens spielt auch die Reihenfolge seines Erwerbs eine wichtige Rolle. Das zuerst erworbene Wissen hat für uns in der Regel eine höhere Geltungskraft als das später erworbene Wissen, weil es auf ganz natürliche Weise zu einem Maßstab wird, an dem das später erworbene Wissen bestätigend, ergänzend oder negierend beurteilt wird. Wenn das zuerst erworbene Wissen aufgehoben werden soll, dann bedarf es dazu bedeutend größerer kognitiver und psychischer Anstrengungen, als wenn es nur präzisiert werden soll, weil es nun ja einen ganz anderen Stellenwert bzw. Systemplatz in unserem Gesamtwissen bekommt. Das Wissen, das zu unserem schon vorhandenen Wissen passt oder dieses gar bestätigt, übernehmen wir sehr viel leichter als das Wissen, das dieses in Frage stellt. Wer noch kein durchsystematisiertes Wissen hat, der akzeptiert Negationen des tradierten Wissen natürlich auch leichter als derjenige, dessen Einzelwissen schon in einen bestimmten Wissenssystem verankert ist, da für ihn die Negation einzelner Wissensinhalte ja keine großen Konsequenzen für die Umstrukturierung seines Gesamtwissen hat.
88 � Die Negation als System- und Strukturphänomen Ideologien und etablierte wissenschaftliche Theorien zeigen hinsichtlich des Gebrauchs von Negationen eine aufschlussreiche Ambivalenz. Einerseits haben sie eine Neigung, immer wieder von Negationen Gebrauch zu machen, um klare Oppositions- und Kontrastrelationen herzustellen. So gesehen tragen Negationen dann auch zur Stabilisierung solcher Denksysteme bei (FreundFeind-Denken; relevante und nicht-relevante Daten). Andererseits können Negationen aber auch zur Destabilisierung solcher Systeme beitragen, da sie natürlich auch dazu anregen können, neue Relationszusammenhänge und Strukturbildungen bzw. Denkordnungen herzustellen. Besonders wirksam können in dieser Hinsicht dann vor allem verdeckte Negationsformen werden, deren konkrete Negationseffekte sich nicht immer eindeutig einschätzen lassen (Metaphern, Ironie, Anspielungen). Deshalb ist es erkenntnistheoretisch auch höchst interessant, welche Formen von Negationen bei der Aufhebung und Transformation von Denksystemen in Erscheinung treten. In diesem Zusammenhang lässt sich auch auf die Überlegungen von Thomas S. Kuhn zur Struktur wissenschaftlicher Revolutionen bzw. zu den Paradigmenwechseln in den Einzelwissenschaften verweisen.
3.2.3 Fortschritte in den Wissenschaften Kuhn möchte zeigen, dass der Fortschritt in den Wissenschaften nicht immer in dem Sinne kontinuierlich verläuft, dass falsche Vorstellungen beseitigt und durch richtige bzw. bessere ersetzt werden.11 Er geht vielmehr davon aus, dass es in diesem Prozess auch Diskontinuitäten geben könne bzw. wissenschaftliche Revolutionen. Diese Revolutionen dokumentierten, dass der Fortschritt in den Wissenschaften keineswegs nur durch die Negation bzw. Korrektur von nicht mehr akzeptablen Einzelaussagen geprägt werde, sondern auch durch die Negation grundlegender Denkperspektiven und umfassender Denkkonzepte, über die bisher das faktische Wissen erzeugt und strukturiert worden ist, was er dann als Paradigmenwechsel bezeichnet hat. Unter einem Paradigma versteht Kuhn dementsprechend ein Schema, nach dem wir unser Wissen erzeugen und systemhaft ordnen bzw. jedem Einzelwissen einen ganz bestimmten Systemplatz zuweisen, der dann durch ganz bestimmte Affirmations- und Negationsimplikationen geprägt ist. Jede normale Wissenschaft braucht die Bindung an eine solche Rahmentheorie bzw. an ein solches Paradigma, weil sie nur dann Einzeldaten effektiv sammeln und korre�� 11 Th. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 19762.
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lieren kann. Bei der Nutzung solcher Paradigmen besteht nun allerdings immer die Gefahr, dass nur solche Daten erfasst bzw. assimiliert werden, die zu dem jeweiligen Paradigma passen. Mit Paradigmen ist so gesehen immer auch eine normative Funktion verbunden, insofern durch sie bestimmt wird, welche Erfahrungen und Beobachtungen wichtig bzw. unwichtig sind. Paradigmen helfen dementsprechend zwar dabei, Wissen zu finden, aber sie bergen auch die Gefahr, nur das Wissen zu finden, auf welches das jeweilig verwendete Paradigma von vornherein unsere Aufmerksamkeit lenkt. Deshalb ergibt sich auch immer wieder die Notwendigkeit oder zumindest ein Motiv, neue Paradigmen zu entwickeln, um neues Wissen zu finden und um altes Wissen in einem ganz anderem Licht bzw. in ganz anderen Zusammenhängen als neuartig wahrzunehmen. Entscheidend ist für Kuhn nun, dass der Fortschritt in den Wissenschaften keineswegs immer nur durch die bloße Korrektur von unhaltbarem tradierten Einzelwissens erfolgt, was er als Standardgeschäft der normalen Wissenschaft ansieht, sondern auch dadurch, dass alte Paradigmen global negiert werden. Ein typisches Beispiel für einen solchen grundsätzlichen Paradigmenwechsel ist für ihn die Ersetzung des ptolemäischen Weltbildes durch das kopernikanische in der abendländischen Wissenschaftsgeschichte. Gerade dadurch sei dann nicht nur für das astronomische, sondern auch für das kulturelle Denken gleichsam eine ganz neue kognitive Landkarte hergestellt worden. Für die Negationsproblematik ist Kuhns Theorie des Paradigmenwechsels nun insbesondere aus zwei Gründen interessant. Zum einen betont er nämlich, dass sich die alten Paradigmen meist nicht dadurch auflösten, dass ihre Defizite bzw. ihre unzutreffenden Behauptungen Punkt für Punkt benannt würden. Vielmehr würden oft neue Ordnungsmodelle hypothetisch gesetzt und spielerisch ausprobiert. Oft blieben die alten Paradigmen praktisch sogar noch erklärungsstärker als die neuen, weil sie im Laufe der Zeit viele Selbstkorrekturen in sich aufgenommen hätten, mit denen man dann auch einzelne Problemfälle bzw. Wissenssystematisierungen recht gut hätte bewältigen können. Gleichwohl ginge aber von den neuen Paradigmen oft auch eine ganz besondere Faszination aus, weil durch sie die allgemeine Wissensordnung zumindest im Hinblick auf ganz bestimmte Erkenntnisinteressen meist sehr viel eleganter zu bewältigen gewesen sei als mit den alten. Zum anderen betont Kuhn aber auch, dass die alten Paradigmen nicht nur dadurch ihre Geltungskraft verlören, dass sie weniger erklärungsstark und weniger elegant seien, sondern schlicht und einfach auch dadurch, dass ihre Vertreter faktisch ausstürben bzw. dass eine neue Generation von Wissenschaftlern ganz andere Erkenntnisinteressen entwickelten, die dann zum bloßen Vergessen der alten führen könnten. In diesem Zusammenhang führt Kuhn dann auch eine These von Max Plank an, nach der sich eine Wahrheit nicht immer deswe-
90 � Die Negation als System- und Strukturphänomen gen durchsetze, „daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, daß die Gegner allmählich aussterben[…].“12 Wenn man so wie Kuhn denkt, dann muss man sicherlich einräumen, dass das Phänomen der Negation in der Erkenntnistheorie und in der Praxis der Wissenschaften auf sehr unterschiedliche Weise wirksam werden kann. Negationen können im Rahmen der normalen Wissenschaft ähnlich wie in ideologischen Systemen dabei helfen, Wissen über die Postulierung von Oppositionen zu systematisieren und zu stabilisieren. Sie können im Zusammenhang mit der Bildung innovativer Hypothesen aber auch dabei helfen, verfestigte Denkordnungen aufzulösen und Sinnbildungsprozesse eher mit Hilfe des Spielgedankens als im Rahmen des Argumentationsgedanken zu strukturieren. Deshalb muss eine lebendige Wissenschaft nach Kuhn auch zum Vergessen als einer ganz besonderen Form des Negierens bereit sein bzw. drastischer formuliert zu bestimmten Formen des geistigen Vatermordes an alten Paradigmengebern. In diesem Zusammenhang erinnert Kuhn dann auch an eine These Whiteheads, die folgendermaßen lautet: „Eine Wissenschaft, die zögert, ihre Begründer zu vergessen, ist verloren.“13 Für die Beurteilung des Wertes von Negationen in Erkenntnisprozessen ist auch erhellend, dass Popper der Widerlegung bzw. der Falsifikation einer Hypothese im Prinzip einen sehr viel größeren Wert beimisst als ihrer Bestätigung bzw. Verifikation. Im alltäglichen Leben suchten wir zwar immer nach einer Bestätigung unserer Auffassungen, aber im wissenschaftlichen Leben sollten wir eigentlich immer intensiv nach ihren möglichen Widerlegungen suchen, weil wir auf diesem Wege die Verlässlichkeit von Hypothesen am besten abschätzen könnten. Diese Form des indirekten Wissenserwerbs hat für Popper auch im Hinblick auf die kulturelle Evolution des Wissens einen außerordentlichen Vorteil. Während bei Tieren die Auffassungen über die Struktur der Welt immer ein Teil ihrer selbst sei, könne der Mensch und insbesondere der Wissenschaftler seine Hypothesen über die Struktur der Welt immer als etwas betrachten, was er selbst hergestellt habe und was er deshalb auch selbst verhältnismäßig leicht korrigieren könne; „[…] der Wissenschaftler kann seine Hypothese durch seine Kritik vernichten, ohne selbst mit ihr zugrunde zu gehen. In der Wissenschaft lassen wir unsere Hypothesen für uns sterben.“14
�� 12 Th. S. Kuhn, a. a. O., 19762, S. 162. 13 Th. S. Kuhn, a. a. O., 19762, S. 150. 14 K. R. Popper, Alles Leben ist Problemlösen, 1994, S. 26.
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3.3 Negation und Psychologie Wenn man das Negationsphänomen in der Wahrnehmungsperspektive der Psychologie zu thematisieren versucht, dann kann man seine Aufmerksamkeit insbesondere darauf konzentrieren, welche Rolle es in dialogischen Prozessen faktisch spielt bzw. potenziell spielen kann. Das bedeutet, dass man sich nicht nur für den individuellen, sondern auch für den sozialen Sinn von Negationen interessieren kann. Dabei ist dann nicht nur an die Interaktionsprozesse einer Person mit anderen Personen bzw. mit sich selbst in Reflexionsprozessen zu denken, sondern auch an ihre Interaktionsprozesse mit der vorgefundenen Welt. Es geht dabei dann also vorrangig um die möglichen Funktionen von Negationen bei der Kontaktaufnahme einer denkenden und sprechenden Person mit Partnern und mit Phänomenen aus ihrer unmittelbaren sozialen und faktischen Erfahrungswelt, aber zugleich auch immer um die Funktionen von Negationen bei der methodischen Strukturierung ihres eigenen Denkens. In dieser Betrachtungsweise treten dann Negationen vor allem als verbale Ausdrucksformen von abweisenden Gebärden in Erscheinung, die einerseits zwar etwas zurückweisen, aber die andererseits eben dadurch auch auf die Relevanz des Zurückgewiesenen für denjenigen aufmerksam machen, der von dem Verfahren der Negation bzw. der Zurückweisung in Interaktionsprozessen Gebrauch macht. Dadurch wird dann auch klar, dass Negationen immer in einem engen Zusammenhang mit ganz bestimmten Emotionen, mit der Herstellung eines ganz bestimmten Kommunikationsklimas und mit der Konkretisierung von ganz bestimmten Denkzielen und Denkverfahren stehen. Aus den dialogischen Bezügen von Negationen ergibt sich weiterhin, dass diese auch eine wichtige Rolle in Gedankenexperimenten aller Art spielen. Auf eine fast paradoxe Art verknüpfen nämlich Negationen bestimmte Phänomene psychisch für uns gerade dadurch miteinander, dass sie ihre Zusammengehörigkeit negieren bzw. in Frage stellen. Zuweilen scheinen Phänomene, die von anderen abgetrennt bzw. unterschieden werden, gerade dadurch ihre spezifische Identität und Wahrnehmbarkeit zu bekommen, dass sie als Relate in eine bestimmte Negations- bzw. Kontrastrelation zu anderen gebracht werden.
3.3.1 Negationen als Reaktionshandlungen Die genetische Verankerung von Negationen in dialogischen Prozessen bzw. in Abwehrhandlungen leugnet natürlich nicht ihre Relevanz auch für monologische Denk- und Sprachprozesse, sondern gibt ihnen nur einen ganz bestimmten
92 � Die Negation als System- und Strukturphänomen pragmatischen Stellenwert neben dem in dialogischen. Grundsätzlich wird auf diese Weise nämlich darauf aufmerksam gemacht, dass Negationen in FrageAntwort-Spiele gehören und daher im Prinzip als Reaktionshandlungen zu verstehen sind. Durch sie wird auf bestimmte Vorstellungen, Emotionen, Situationen und Menschen reagiert, die gleichsam als Probleme bzw. Fragen wahrgenommen werden, auf die man irgendwie zu reagieren hat. Das bedeutet, dass man in einer psychologisch orientierten Wahrnehmungsperspektive für Negationen immer auch nach den Motiven fragen sollte, die einzelnen Negationshandlungen zu Grunde liegen. Das ist allerdings nicht immer leicht zu bewerkstelligen, da sich bei Negationen meist sehr vielfältige Handlungsintentionen überlagern. Einen ersten Zugang zu dieser Problematik finden wir, wenn wir uns zunächst einmal mit Entscheidungsfragen beschäftigen, auf die wir mit ja oder mit nein antworten können (Hast du deinen Freund betrogen? Gibt es Leben auf dem Mars?). Die Besonderheit von Entscheidungsfragen besteht nämlich darin, dass in ihnen eine Prädikation in Form einer Frage gemacht wird, deren Wahrheitsgehalt wir affirmieren oder negieren sollen. Es wird also nicht wie bei Ergänzungsfragen nach einem fehlenden Glied in einem Relationszusammenhang gefragt (Was hast verloren?), sondern nach dem möglichen Wahrheitsgehalt einer in Frageform vorgetragenen Sachbehauptung. Die kognitive Brisanz von Entscheidungsfragen liegt darin, dass der Reaktionsrahmen des Antwortenden von vornherein auf eine ganz bestimmte Weise eingeschränkt wird. Er muss sich nämlich der Denkperspektive und der Begrifflichkeit des Fragenden bei der Objektivierung von Sachverhalten unterwerfen und kann selbst keinen Beitrag zu deren Strukturierung leisten. Das gilt auch, wenn man Entscheidungsfragen mit Modalwörtern beantwortet (vielleicht, sicherlich, bestimmt). Entscheidungsfragen werden insbesondere dann gern gestellt, wenn es nicht um die Objektivierung und allgemeine Strukturierung von Tatbeständen geht, sondern um ihre Kategorisierung in einem ganz bestimmten Denkrahmen (War das ein Mord?). Das begünstigt zwar das zielgerichtete Handeln des Fragenden, aber hat für den Befragten den erheblichen Nachteil, dass er sich mit einer direkten Antwort immer der Denkperspektive des Fragenden unterwerfen muss und sich nicht mehr aktiv an der sprachlichen Strukturierung von konkreten Vorstellungsinhalten beteiligen kann. Die kognitive und kommunikative Brisanz von Entscheidungsfragen tritt besonders deutlich in Strafverfahren vor angelsächsischen Geschworengerichten hervor. Hier ist nämlich der Ankläger im Gegensatz zum Staatsanwalt im deutschen Prozessrecht durchaus Partei. Er darf einen Fall den Geschworenen aus seiner eigenen bzw. ganz persönlichen Sicht darstellen, die dann der Verteidiger in Frage stellen kann. Das hat dann zur Folge, dass sowohl Ankläger als
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auch Verteidiger gerne Entscheidungsfragen stellen, die den jeweils Befragten in ihren Antworten keine wirklichen Interpretationsspielräume lassen. Beide versuchen über Entscheidungsfragen indirekt einen ganz spezifisch strukturierten Sachverhalt zu postulieren, den die Befragten dann nur noch zu bejahen oder zu verneinen haben. Daher gilt dann sowohl für den Ankläger als auch für den Verteidiger die Grundmaxime: Stelle keine Frage, auf die du selbst die Antwort nicht schon weißt! Diese Maxime ist natürlich bei Entscheidungsfragen sehr viel leichter zu realisieren als bei Aufforderungs- und Ergänzungsfragen.15 Das Verständnis des Negationsgebrauchs in Fragehandlungen lässt sich auch mit Hilfe des Begriffs Präsupposition plausibel machen. Unter diesem Begriff lassen sich alle Wissensinhalte zusammenfassen, die wir bei sprachlichen Handlungen schon als bekannt voraussetzen und die wir infolgedessen bei sprachlichen Äußerungen immer auch unausgesprochen ins Bewusstsein rufen oder sogar mitbehaupten. Solche unausgesprochenen Präsuppositionen können die Semantik der verwendeten Sprachzeichen, die Intentionen des Sprechers, den Wissensstand des Hörers, die Struktur der Situation, das Sachwissen der Kommunikanten usw. betreffen. Im Rahmen des Gebrauchs von formalisierten Fachsprachen sind solche Präsuppositionen natürlich sehr viel klarer zu fixieren als in dem von natürlichen Sprachen, die immer sehr viel größere Interpretationsspielräume haben und auch haben müssen. Für die Hermeneutik sind Negationen insbesondere deshalb so interessant, weil sich mit ihrer Hilfe erschließen lässt, von welchen Denkvoraussetzungen ein Sprecher ausgeht, welche Ziele er verfolgt und wie er den jeweiligen Kommunikationspartner einschätzt. Negierte Sätze sollen im Prinzip ja nicht etwas direkt abbilden, sondern vielmehr einen bestimmten Denkhorizont eröffnen. Dieser kann sich dann auf die Korrektur einer bestimmten Begriffsbildung, einer vermuteten Vorstellung, eines bestimmten Gedächtnisinhaltes, einer unausgesprochene Intention usw. beziehen. Das Verständnis der Negation als einer reaktiven Abwehrgeste, das hier am Beispiel von Entscheidungsfragen und Präsuppositionen erörtert worden ist, lässt sich natürlich auch noch an anderen sprachlichen Phänomenen exemplifizieren. So lassen sich beispielsweise Flüche als Negationshandlungen verstehen, mit denen man abwehrend auf Missgeschicke oder bedrohliche Situationen reagiert. Auch Witze können dazu dienen, mit der Bedrohlichkeit von Situationen und Strukturen fertig zu werden. Wortspiele lassen sich dazu nutzen, die Übermacht der konventionalisierten begrifflichen Sprache zu relativieren.
�� 15 Vgl. W. Köller, Perspektivität im Bereich von Fragen, in: Perspektivität und Sprache, 2004, S. 660‒685.
94 � Die Negation als System- und Strukturphänomen Auch neue Textformen können Mittel sein, um aus der Schwerkraft der Sinnbildungsstrategien von alten Textmustern auszubrechen usw. Diese Aufzählung von korrigierenden Reaktionshandlungen verdeutlicht, dass die sprachlichen Mittel für Negationshandlungen nicht abschließend aufgelistet werden können, weil deren sachlicher Gegenstand bzw. deren emotionale Intensität sehr unterschiedlich ausfallen kann. Festzuhalten ist aber, dass psychologisch gesehen Negationen in allen Fällen dazu dienen, die allgemeine Gültigkeit und Macht von bestimmten Vorstellungen und Annahmen abzuwehren oder zumindest zu relativieren. Deshalb sind Negationen aus intersubjektiv verständlichen Handlungs- und Sinnbildungsprozessen bzw. aus Formen des dialogischen Sprachgebrauch auch nicht wegzudenken, da es in diesen ja nicht nur um die sprachliche Objektivierung von bloßen Fakten geht, sondern auch um die Beurteilung des pragmatischen Stellenwerts der jeweiligen Denkinhalte. Die Möglichkeit, die Negation als eine reaktive Abwehrhandlung zu verstehen, hat auch Freud fasziniert. Um gerade das zu erfassen, was ein Patient verdrängt habe, bietet sich seiner Meinung nach an, insbesondere danach zu fragen, woran er am wenigsten glaube. Freud ist nämlich der Meinung, dass verdrängte Vorstellungsinhalte gerade dadurch wieder ins Bewusstsein gebracht werden könnten, dass man sie direkt verneine bzw. zu verneinen versuche. Die Verneinung von etwas ist nämlich für ihn ein Verfahren, um etwas Verdrängtes wieder zur Kenntnis zu nehmen. Das hieße nun allerdings nicht unbedingt, es als etwas Verdrängtes auch anzunehmen, da ja die Verneinung zunächst nur anzeige, dass man etwas verdrängen möchte. Wenn jemand etwas verneine, dann könne das durchaus bedeuten, dass er es eigentlich in sich aufnehmen möchte, dass er es aber aus ganz bestimmten Gründen nicht könne oder dürfe. Einerseits solle es in ihm sein (Lustprinzip), aber andererseits müsse er es doch ausschließen (Realitätsprinzip). Die Fähigkeit zur Negation gründe sich darauf, etwas durch Reproduktionsprozesse in der Vorstellung präsent zu machen und es gleichzeitig abzuwehren. Bejahende Urteile könnten als Indikatoren eines Vereinigungsbestrebens dem Reich des Eros angehören und verneinende Urteile als Indikatoren eines Ausstoßungsbestrebens dem Reich des Destruktionstriebs.16 Der Argumentation von Freud kann man folgen, ohne sie unbedingt mit seiner Verdrängungs- und Triebtheorie in Verbindung bringen zu müssen. Wenn man sie als eine strukturtheoretische Analyse versteht, dann ist sie in allgemein-psychologischer Hinsicht deshalb interessant, weil sie darauf aufmerksam macht, dass beim Gebrauch von Negationsmitteln insbesondere zwei�� 16 Vgl. S. Freud, Die Verneinung, Gesammelte Werke, Bd. 14, 19722, S. 1‒15.
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erlei zu beachten ist. Einerseits haben wir den Relationsgedanken angemessen zu berücksichtigen, da ja immer an schon gegebene Erfahrungs-, Vorstellungsund Gedächtnisinhalte angeknüpft werden muss. Andererseits ist aber auch zu beachten, dass mit Negationen immer ganz spezifische Zwecke verfolgt werden. Beide Tendenzen können dann allerdings in konkreten Negationen in sehr unterschiedlichen Intensitäten hervortreten. Außerdem lässt sich in diesem Zusammenhang auch recht gut darauf aufmerksam machen, dass Menschen in ihren Denkprozessen immer zweierlei miteinander zu verbinden haben. Einerseits müssen sie sich nämlich sachthematisch immer auf die Verarbeitung von konkreten Sinnesreizen konzentrieren und andererseits reflexionsthematisch immer auch auf die Interpretation und Verwertung der Ergebnisse dieser ersten sachorientierten Denkanstrengung. Das bedeutet, dass die Negation keineswegs nur der Sphäre des Gefühls und der Emotionen zuzuordnen ist, was ihre Herkunft aus Abwehrhandlungen zunächst natürlich nahelegen könnte. Zumindest sprachlich objektivierte Negationen können deshalb durchaus dabei helfen, ursprünglich affektive Prozesse in intellektuelle umzugestalten.
3.3.2 Doppelte Negationen Am Beispiel der sogenannten doppelten Negationen lässt sich die Differenz zwischen einer logischen, ontologischen und psychologischen Wahrnehmungsweise der Negationsproblematik recht gut demonstrieren. Mit dem Terminus der doppelten Negation bezeichnet man üblicherweise den etwas merkwürdigen Umstand, dass insbesondere im kindlichen und alltäglichen Sprachgebrauch in einem Satz durchaus zwei Negationsausdrücke vorkommen können, die es bei einer rein sachlogischen Betrachtung erschweren, klar zu erfassen, welcher faktische Sachverhalt in der jeweiligen Äußerung objektiviert werden soll bzw. was der jeweilige Sprecher tatsächlich meint. Den kommunikativen Sinn solcher Äußerungen verstehen wir aber meist problemlos, wenn wir nicht nur auf den Wortlaut der jeweiligen Äußerung achten, sondern auch auf ihre intonatorische Repräsentation, ihre situative Einbindung und ihre naheliegende pragmatische Funktion. Das erklärt dann auch, warum doppelte Negationen im situationsnahen mündlichen bzw. dialektalen Sprachgebrauch wesentlich häufiger vorkommen als im schriftlichen, wo sie im Prinzip ziemlich verpönt sind. Folgende Beispiele können das vielleicht veranschaulichen.
96 � Die Negation als System- und Strukturphänomen Ist kein Arzt nicht da? / Seine Gesundheit lässt sich nie durch nichts erschüttern. / Er nimmt an nichts keinen Anteil. / Er hat sich niemals nicht zu Wort gemeldet. / Nicht unweit von hier habe ich ihn getroffen. / Er betrachtete sie nicht ohne Missfallen.
Es ist offensichtlich, dass solche Sätze nach den Maßstäben der klassischen Logik und der normativen Stilistik schwer zu tolerieren sind. Pragmatisch sind sie nämlich nicht nur dazu bestimmt, Informationen über einen sachlichen Tatbestand zu vermitteln, sondern auch Informationen über die Sichtweise des jeweiligen Sprechers auf diesen Tatbestand. Diese doppelte Funktionalität macht es dann erforderlich, die Negationsproblematik auch in einer psychologischen Perspektive zu erörtern und danach zu fragen, welche Denkstrukturen und Intentionen hinter dem Gebrauch von doppelten Negationen stehen, bzw. danach, was denn mit den einzelnen Negationszeichen negiert wird und was nicht. Die klassische sachthematische Aussagenlogik postuliert, dass sich eine doppelte Negation in einer Aussage selbst aufhebe. Demnach würden dann zwei Negationen in einem Satz diesen von einem negierenden zu einem affirmierenden Satz umwandeln (duplex negatio affirmat). Die beiden folgenden Sätze sind deshalb für die klassische Logik und ihrem Axiom vom ausgeschlossenen Dritten gleichbedeutend: Der Vorsitzende hat sich zu diesem Problem nicht nicht geäußert.= Der Vorsitzende hat sich zu diesem Problem geäußert. Diese Argumentation ist rein sachlogisch betrachtet plausibel. Sie unterschlägt allerdings mindestens zwei wichtige Gesichtspunkte, die psychologisch, pragmatisch und morphologisch von ganz erheblicher Bedeutung sind. Erstens wird der Frage keine Aufmerksamkeit geschenkt, welche Motive dem Gebrauch doppelter Negationen zu Grunde liegen. Zweitens wird das Problem meist vernachlässigt, dass bei doppelten Negationen in der Regel zwei verschiedene sprachliche Negationszeichen verwendet werden, die durchaus unterschiedliche Negationsbezüge und Negationsintensitäten haben können. Wenn man nun aber in Betracht zieht, dass die sinnbildenden Funktionen der beiden sprachlichen Negationsmittel in einer Aussage möglicherweise auf ganz unterschiedlichen Ebenen liegen, dann kann man schwerlich behaupten, dass aus einer doppelten Negation automatisch eine Affirmation resultiere, weil sich mit ihnen durchaus ganz unterschiedliche Verneinungsintentionen verknüpfen können. Dieser Sachverhalt lässt sich recht gut an der Funktion von doppelten Negationen in der Kinder- bzw. Alltagssprache demonstrieren, bei denen verständlicherweise nicht nur die Darstellungs- und Argumentationsfunktion der Sprache aktuell und wichtig ist, sondern auch die Ausdrucks- und Appellfunktion. Er lässt sich aber auch am Gebrauch mehrfacher Negationen in Fachsprachen zeigen, in denen ja nicht nur das Negationswort nicht verwendet wird, das in
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der Regel das Prädikat und damit die Satzsaussage negiert, sondern auch noch andere selbstständige Negationswörter (keiner, niemand, niemals) oder unselbstständige Negationsmorpheme (un-, a-, -los, -frei) sowie negationshaltige Begriffsbildungen (fehlen, auflösen), die sachlich sehr viel eingeschränktere Negationsfunktionen ausüben. Gerade beim Gebrauch von doppelten Negationen im kindlichen Sprechen wird sehr deutlich, dass diese in der Regel nicht zu affirmierenden Sachdarstellungen führen sollen, sondern vielmehr zu einer Intensivierung von Abwehrhandlungen, die durchaus unterschiedliche inhaltliche Orientierungen haben können. Das lässt sich sehr gut an dem folgenden Satz demonstrieren: Keiner liebt mich nicht! In dieser Äußerung bezieht sich das Negationswort keiner, das etymologisch aus einem verneinten Pronomen hervorgegangen ist (keiner = nicht einer) auf eine nur pronominal thematisierte Subjektvorstellung und das Negationswort nicht auf die konkrete Prädikatsvorstellung lieben. Das bedeutet, dass mit der ersten Negation eine mögliche Personenvorstellung verneint wird und mit der zweiten Negation eine mögliche Handlungsvorstellung. Wenn ein Kind also eine solche Äußerung macht, dann will es intentional darauf aufmerksam machen, dass sowohl die Person fehle, die liebt, als auch die Handlung, die sie realisieren kann, bzw. dass es selbst unter zwei gravierenden Defiziten leide. Sofern ein Kind sich in dieser Weise sprachlich äußert, dann ist ganz offensichtlich, dass für es nicht nur die Darstellungsfunktion der Sprache wichtig ist, sondern auch ihre Ausdrucksfunktion (Ich bin allein!) bzw. ihre Appellfunktion (Hilf mir!). Bildlich gesprochen lässt sich sagen, dass ein Kind mit einer doppelten Negation in einer aktuellen Aussage sowohl seine jeweilige sprachliche Subjektvorstellung als auch seine jeweilige sprachliche Prädikatsvorstellung mit einer Negationsfarbe anstreicht, um seiner gefühlten Einsamkeit einen besonders intensiven Ausdruck zu geben. Dabei ist es sachlogisch für das Kind ganz unerheblich, dass beim Fehlen einer Handlungsperson natürlich auch die Handlung ausfällt, die diese ausführen könnte. Nur wenn man beim Verständnis einer solchen kindlichen Äußerung von der irreführenden Grundhypothese ausgeht, dass es eine rein sachthematische Äußerung machen möchte, dann kann man zu der pragmatisch ziemlich unsinnigen Auffassung kommen, dass seine Aussage einen affirmativen Inhalt hat, da die doppelte Negation sich ja eigentlich selbst aufhebt (Keiner liebt mich nicht. = Jeder liebt mich.). Außerdem ist in diesem Zusammenhang auch zu berücksichtigen, dass ein Kind in der Frühphase seines Denkens und Sprechens noch gar nicht in der Lage ist, eine Subjektsnegation und eine Prädikatsnegation auf einer einzigen Vorstellungsebene sachthematisch zusammenzuführen und hinsichtlich ihrer jeweiligen faktischen Implikationen zu beurteilen, inso-
98 � Die Negation als System- und Strukturphänomen fern der kindliche Gebrauch von Negationen vorwiegend emotional und handlungsthematisch, aber nicht sachthematisch gesteuert wird. Auf einer rein kognitiven Denkebene kann eine Negation durchaus eine andere aufheben, aber auf einer psychischen nicht immer. Ontogenetisch und phylogenetisch gesehen haben wir sogar damit zu rechnen, dass sich in Äußerungen einzelne Negationsakte anfangs völlig verselbständigen können, eben weil die Prüfung ihrer sachlogischen Konsequenzen zunächst noch gar nicht möglich ist. Das exemplifiziert eine von Derek Bickerton angeführte Äußerung aus einer sogenannten Kreolensprache sehr gut. Mit diesem Terminus wird eine Mischsprache bezeichnet, die sich in Kolonialgebieten spontan als Umgangssprache bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen aus Versatzstücken von sehr unterschiedlicher Herkunftssprachen herausgebildet hat: „Non dag na bait non kyat.“ (Kein Hund hat nicht gebissen keine Katze.)17 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zur Funktion von Negationen im Spracherwerb überrascht es auch nicht, dass es beim mündlichen im Gegensatz zum schriftlichen Gebrauch der Sprache immer wieder zur Verwendung von doppelten Negationen kommt. Diese sind in der Regel als Intensivierungen von Negationshandlungen zu verstehen und nicht als Aufhebung einer Negation durch eine andere. Das mögen folgende umgangssprachlichen Redewendungen und Liedertexte veranschaulichen: Ich habe keine Zeit nicht. / Das Messer ist kein Spielzeug nicht. / Das sieht kein Mensch nicht ein. Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß wie heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß. Resi ich hol dich mit dem Traktor ab, der macht nie nicht schlapp.
Aus all diesen doppelten Negationen resultieren ganz ähnlich wie beim kindlichen Sprechen keine Affirmationen, sondern Intensivierungen von Negationshandlungen. Deshalb hat dann auch die hermeneutisch orientierte Stilistik ein besonderes Interesse am Gebrauch solcher Negationsweisen entwickelt, weil man die Hoffnung hatte, über sie Zugang zu den Substrukturen des Denkens finden zu können, die den jeweiligen Sprechern zwar selbst meist gar nicht bewusst sind, die die Hörer aber über ihr Sprachgefühl als ihrem impliziten Sprachwissen durchaus pragmatisch zutreffend erfassen können. Es ist nämlich ziemlich offensichtlich, dass Äußerungen mit doppelten Negationen keines�� 17 D. Bickerton, Kreolensprachen, Spektrum der Wissenschaft, 1983, H. 9, S. 117.
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wegs sinnidentisch mit affirmativen Äußerungen sind, die ihnen rein sachlogisch gesehen zu entsprechen scheinen (nicht uninteressant ‒ interessant; kein Unmensch ‒ ein Mensch; Ich verneine das nicht. ‒ Ich bejahe das.). In den formalisierten Fachsprachen ist der Gebrauch doppelter Negationen eigentlich verpönt, weil diese Sprachen von vornherein eine ausgesprochen sachthematische Darstellungsfunktion haben. Diese lässt es natürlich als ziemlich umständlich erscheinen, eine eigentlich affirmativ gemeinte Aussage über den Umweg einer doppelten Negation zu formulieren. Dadurch wird nämlich die Konzentration auf die Sache gestört, insofern wir ja zusätzliche Hinweise auf die individuelle Denkperspektive des jeweiligen Sprechers bekommen. Außerdem kann man sich beim Gebrauch von doppelten Negationen auch leicht in seinen sachthematischen Schlussfolgerungsprozessen verheddern. Diese Gefahr ergibt sich insbesondere dann, wenn bestimmte Begriffsbildungen oder Floskeln schon verdeckte Negationsimplikationen beinhalten. Das mag der Beschluss eines Verwaltungsgerichtes aus den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts illustrieren, dessen Sachgehalt rein sachlogisch gesehen genau das Gegenteil von dem beinhaltete, was er eigentlich besagen sollte. Eine Stadtverwaltung hatte einem arbeitslosen Ausländer die Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung verweigert, weil sie befürchtete, ihm dauerhaft Sozialhilfe zahlen zu müssen. In dem anschließenden Rechtsstreit wurde dann vor einem Verwaltungsgericht folgender Vergleich zwischen der beklagten Stadt und dem klagenden Ausländer geschlossen, dessen Sinn darin bestand, die Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, wenn der Kläger darauf verzichtete, einen Antrag auf Sozialhilfe zu stellen. Dieser Vergleich hatte dann folgenden Wortlaut: „Die Beklagte duldet den Aufenthalt des Klägers bis zum […] unter der auflösenden Bedingung, daß der Kläger keinen Antrag auf Sozialhilfe stellt.“ Dieser Beschluss enthält zwei Negationen, nämlich eine explizite (keinen Antrag) und eine implizite (auflösende Bedingung), die sich beide rein sachlogisch gesehen aufheben. Das wird deutlich, wenn man die negationshaltige juristische Formel „auflösende Bedingung“ (ein zukünftiges ungewisses Ereignis, das eine rechtliche Verpflichtung auflöst), die im Wortlaut des faktischen Gerichtsbeschlusses syntaktisch nur die Rolle eines präzisierenden Modaladverbials spielt, zum grammatischen Subjekt einer eigenständigen Aussage macht. Dann hätte der Beschluss nämlich folgenden Wortlaut gehabt: Die Beklagte duldet den Aufenthalt des Klägers bis zum […]. Auflösende Bedingung für diesen Vergleich ist, dass der Kläger keinen Antrag auf Sozialhilfe stellt. Nach dieser Umformung wird sofort klar, dass an Stelle des Negationswortes „kein“ der unbestimmte Artikel „ein“ hätte benutzt werden müssen, um die sachliche Intention des Vergleich sprachlich adäquat zu formulieren. Der sachlogische Wortlaut des Gerichtsbeschlusses würde nämlich den Kläger paradoxerweise
100 � Die Negation als System- und Strukturphänomen dazu zwingen, einen Antrag auf Sozialhilfe zu stellen, wenn er nicht ausgewiesen werden möchte.
3.3.3 Negationen bei der Wissensbildung Solange wir Wissen in einem positivistischen Sinne als rein ontisches Abbildungswissen verstehen, solange ist es nicht plausibel, Negationen mit dem Problem der Wissensbildung in Verbindung zu bringen, da wir dann ja unser Wissen ja nicht als Interpretations- oder Zugangswissen verstehen möchten, sondern als faktisches Gegenstandswissen. Negationen scheinen dann nur etwas mit dem Umgang von schon gegebenem Wissen bzw. mit existierenden Begriffen zu tun zu haben, aber nicht etwas mit dem Vorgang der Wissensbildung selbst. Nun ist bei den Überlegungen zu den Bezügen der Negationsproblematik zur Erkenntnisproblematik (Kap. 3.2.2) aber schon darauf aufmerksam gemacht worden, dass die Genese von Wissen immer schon bestimmte pragmatische Implikationen hat und dass bestimmte Wissensinhalte nicht losgelöst von ihrer Entstehungsgeschichte beurteilt werden sollten. Wissen kann nämlich nur in einem bestimmten Denkrahmen bzw. Paradigma eine konkrete Gestalt gewinnen und eigentlich nicht als Wissen an sich in Erscheinung treten. Dieser Denkansatz soll hier wieder aufgenommen werden. Dabei werden dann allerdings nicht erkenntnistheoretische Überlegungen im Mittelpunkt des Interesses stehen, sondern eher psychologische. Dieser Perspektivenwechsel rechtfertigt sich auch dadurch, dass Wissen im Denkrahmen der Psychologie eigentlich nie als positives Gegenstandswissen mit einer Endgültigkeitsfarbe in Erscheinung treten kann, sondern vielmehr nur als pragmatisch orientiertes Interpretationswissen, bei dem Entstehungs- und Funktionsaspekte immer eine konstitutive Rolle spielen. Gerade weil die Negationsproblematik in einen Zusammenhang mit der Werdensproblematik gebracht werden kann, spielt sie auch eine zentrale Rolle, wenn nach den psychologischen Implikationen der Wissensbildung und der Wissensverwendung gefragt wird bzw. nach den Faktoren, die bei der Transformation von Wissen wichtig werden. Bei der Aufklärung der Prämissen der Wissensbildung in der Denkperspektive der Psychologie ist unsere Aufmerksamkeit immer auch darauf zu richten, welche Rolle Negationen beim Aufbau von Kontrastrelationen spielen, wie vorhandenes Wissen zur Erzeugung neuen Wissens eingesetzt werden kann und wie mit altem Wissen umzugehen ist, um es als Schlüssel für den Zugang zu neuem Wissen nutzen zu können. Mit Negationen wird zwar die Gültigkeit alten Wissens eingeschränkt oder gar verworfen, aber damit wird ja noch nicht konkretisiert, was stattdessen gelten soll. Nur in einem festen Denkrahmen ist das
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Gegenteil von dem gültig, was konkret negiert wird. Deshalb vernichten Negationen eigentlich auch nicht das in ihnen verneinte Wissen, sondern qualifizieren es nur als einen ganz bestimmten Typus bzw. Modus von Wissen im Verfahren einer neuen konkreten Wissensbildung. Nur im Rahmen eines Denkens, das lediglich zwei Wahrheitswerte kennt und das die Abbildung von Realität als Grundfunktion der Sprache ansieht, ließe sich die Negation als ein Verfahren zur Vernichtung falschen Wissens verstehen, aber nicht als Mittel zur Bildung neuen Wissens im Fluss der Zeit bzw. neuer Erfahrungen. In der sehr komplexen Denkperspektive der Psychologie haben wir die Negation als ein heuristisches Mittel zu betrachten, mit dem sich über die Problematisierung des schon gegebenen Wissens neues Wissen erarbeiten lässt. In ihr lassen sich nämlich über Kontrastrelationen neue Vorstellungen thematisieren, ohne sie begrifflich schon zu objektivieren bzw. ohne ihnen einen festen Systemplatz in unserem Gesamtwissen zuzuordnen. Die Einbeziehung von Negationen in den Prozess der Wissensbildung impliziert natürlich immer die Gefahr, auch vorläufiges, unscharf begrenztes und rein hypothetisches Wissen schon als wirkliches Wissen zu akzeptieren und bei der Wissensbildung auch bestimmte Prägnanzdefizite zu tolerieren. Aber wenn man nun zur Prägnanz von Wissen im Sinne der Gestaltpsychologie nicht nur dessen Gestaltschärfe, sondern auch dessen Gestalttiefe bzw. dessen pragmatische und anthropologische Relevanz rechnet, dann relativieren sich natürlich solche Vorbehalte gegenüber einem unscharfen Wissen, das mit Hilfe von Negationen erzeugt, lokalisiert und strukturiert werden kann. Zu dem Wissen, das sich mit Hilfe von Negationen bilden lässt, gehört vor allem das Wissen, das erfahrungstranszendente Phänomene, komplexe Gefühle, ethische Normen, ästhetische Qualitäten oder sehr abstrakte Strukturordnungen betrifft. Immer wenn wir solche Wissensinhalte sprachlich thematisieren wollen, dann können oder müssen wir auf den Gebrauch von Negationen zurückgreifen, weil uns gerade dadurch immer eine erste Orientierung bei der Wissensbildung ermöglicht wird. Ausschlussverfahren lassen sich so gesehen durchaus als Voraussetzungen für anschließende Kategorisierungs- bzw. Benennungsverfahren verstehen. Dabei ist dann natürlich nicht nur an den Gebrauch von konventionalisierten expliziten Negationsmittel zu denken, sondern auch an den von impliziten, mit denen Geltungsansprüche von Basisinformationen relativiert werden können, ohne diese gänzlich zu verwerfen. Psychologisch gesehen dienen Negationen nämlich nicht nur dazu, Geltungsansprüche aufzuheben, was die klassische Logik ja in den Mittelpunkt ihres Interesses an Negationen stellt, sondern vor allem auch dazu, bestimmte Differenz- und Kontrastrelationen herauszuarbeiten, um eben dadurch ein erstes Umrissbild von denjenigen Phänomenen zu gewinnen, auf die sich unsere Aufmerksamkeit
102 � Die Negation als System- und Strukturphänomen richten soll. Das wird uns dann insbesondere im Hinblick auf den Negationsgebrauch im religiösen und theologischen Denken noch intensiv beschäftigen. Strukturell betrachtet werden die ersten Schritte bei neuen Wissensbildungen nur dann möglich, wenn schon elementare Wissensgestalten in Form von Begriffen, Aussagen, Vorstellungen, Erwartungen oder Situationsinterpretationen vorliegen, die sich negieren, modifizieren und nutzen lassen. Das bedeutet, dass Negationen im Prinzip immer dazu dienen, eine gegebene Positivität in ihre Schranken zu verweisen und eben dadurch auch ihre faktische Dominanz zu überwinden. Dieses Strukturverhältnis hat Martin Seel sehr einprägsam aphoristisch thematisiert: „Nur im Strom kann man gegen ihn schwimmen.“18 Ebenso wie sich alles ordnende Denken auf der Basis von Chaoserfahrungen entfaltet, so entfaltet sich auch das negierende Denken an gegebenen, aber als aktuell oder prinzipiell unbefriedigend empfundenen Einzelvorstellungen. Auf diese Weise leistet dann gerade auch das negierenden Denkens einen ganz wichtigen Beitrag zur Selbstvergewisserung bzw. zur Identitätsbildung bei den denkenden Subjekten. „Kein Mensch könnte ungehindert handeln; sobald ihm nichts mehr im Weg stünde, wüsste er weder aus noch ein.“19 Negieren, ironisieren und scherzen können wir nur auf der Basis von vorgegebenem Wissen bzw. von etwas, was wir nicht als akzeptierbar ansehen, obwohl es faktisch doch da ist. Negationen können uns von der Macht gegebener Situationen, konventionalisierter Objektivierungsmuster oder vorgefundener Wahrnehmungstraditionen befreien. Sie gehören deshalb merkwürdigerweise sowohl zu den Anpassungsfähigkeiten der Menschen an die vorgegebene Welt als auch zu ihren Distanzierungsmöglichkeiten von dieser Welt. Über Negationen wird die Gültigkeit von etwas Wahrgenommenen oder Gedachten zwar aufgehoben, aber zugleich auch in gewisser Weise bewahrt, weil es ja zunächst einmal für das Bewusstsein thematisiert werden muss, bevor es als ungültig erklärt werden kann. Deshalb hat Christoph Sigwart auch schon betont, dass Affirmationen und Negationen logisch und psychologisch nicht gleichursprünglich seien. „Denn das verneinende Urtheil setzt für seine Entstehung den Versuch einer Bejahung voraus, und hat einen Sinn nur indem es einer solchen widerspricht oder sie aufhebt.“20 Vorstellungen lassen sich durch Negationen nicht aus der Welt schaffen, sondern nur für ungültig erklären. Aber eben dadurch bleiben sie dann auch im Bewusstsein präsent. Dieser psychologische Effekt zeigt sich deutlich, wenn
�� 18 M. Seel, Theorien, 2009, S. 117. 19 M. Seel, a. a. O., 2009, S. 268. 20 Ch. Sigwart, Logik Bd. 1, 1873, S.120.
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man Kindern versichert, dass es keine Gespenster gebe, und eben dadurch dann diese Vorstellung lebendig erhält, oder wenn ein Mann seiner Frau beteuert, er habe sie nicht wegen ihres Geldes geheiratet. Je dezidierter ein Sachverhalt negiert wird, desto präsenter bleibt er im Bewusstsein, womit gerade Atheisten wider Willen ständig zu kämpfen haben. Ein schönes Beispiel dafür, dass die Psychologie der Negation der Logik der Negation einen Streich spielen kann, ist auch der Versuch des alten Kants, die Erinnerung an seinen entlassenen Diener Lampe dadurch aufzuheben, dass er sich auf einen Erinnerungszettel folgendem Satz schrieb: „Der Name Lampe muß nun völlig vergessen werden.“21 Während affirmierende Äußerungen Wissen anzuhäufen versuchen und Kontinuität in der Wissensbildung anstreben, ist mit negierenden Äußerungen in der Regel die Erfahrung oder das Streben nach einer gewissen Diskontinuität oder einem Neuanfang in der Wissensbildung verbunden. In ihnen werden alte Wissensinhalte präsent gemacht, um sie zu Gunsten neuer gleich außer Kraft zu setzen. Eine ideale wissenschaftliche Protokollsprache, die nur Gegebenes mit Hilfe bewährter sprachlicher Formen abzubilden versucht, braucht eigentlich gar keine Negationen, sondern nur ein reichhaltiges, verlässliches Begriffsinventar. Sprachliche Objektivierungen, die sich nun aber nicht als Abbildungs-, sondern als Interpretationsanstrengungen verstehen, sind dagegen immer auf den Gebrauch von Negationen angewiesen bzw. auf Strategien der Ausschließung, Relativierung oder Variation von Gewusstem bzw. von Begriffen. Die Einsicht, dass etwas nicht so ist oder sein muss, wie man es eigentlich annehmen könnte, impliziert oft nicht nur ein Wissensdefizit, sondern auch ein Sprachdefizit. Der Gebrauch von Negationen ist dann als ein erster Schritt anzusehen, mit diesen Defiziten kognitiv und kommunikativ fertig zu werden. Wenn man nun eine Negation als ein implizites Urteil über eine Basisinformation bzw. ein Basisurteil versteht, dann ist offensichtlich, dass Negationen immer über die Tatbestände hinausgehen, die sinnlich fassbar sind, und dass in ihnen immer die Sphäre des denkenden Subjekts mit der Sphäre der gegebenen Erfahrungsobjekte in Korrelation gebracht wird. Deshalb ist für Wilhelm Jerusalem die Zurückweisung von etwas auch immer „ein lebhafter, gefühlswarmer Willensact.“22 Aus diesem Grunde wird nun auch verständlich, warum jede positivistisch orientierte Wissenschaft, die die Welt auf neutrale Weise so zu objektivieren versucht, wie sie anscheinend ist, den Gebrauch von Negationsmitteln möglichst zu vermeiden versucht. Durch diese kann nämlich leicht das subjektive Denken und Wahrnehmen als Konterbande in die deskriptive Wissen-
�� 21 Zitiert nach H. Weinrich, Lethe, Kunst und Kritik des Vergessens, 1997, S. 94. 22 W. Jerusalem, Die Urteilsfunction, 1895, S. 183.
104 � Die Negation als System- und Strukturphänomen schaftssprache eingeschmuggelt werden. Dasselbe gilt dann übrigens auch für den Gebrauch von nur verstärkenden und damit logisch eigentlich überflüssigen Affirmationsmitteln (Drei mal drei ist ganz genau neun.). Aufschlussreich ist aus logischen und psychologischen Gründen auch die Verwendung der Null in der Mathematik. Ursprünglich galt nämlich die Null nicht als Zahl, sondern als metainformatives Interpretations- und Organisationszeichen für den Umgang mit Zahlen, da sie lediglich den Stellenwert von Zahlen präzisieren sollte. Ähnlich wie man auch heute weit davon entfernt ist, das Komma als autosemantisches Sprachzeichen anzusehen, so war man zunächst auch weit davon entfernt die Null als Zahl zu betrachten. Das dokumentiert sich auch schon durch ihre sprachliche Benennung. Unser Terminus Null leitet sich nämlich von dem mittellateinischen Ausdruck nulla figura (keine Zahl) ab.23 Die Null ist für die hier entwickelten Fragestellungen deshalb so interessant, weil sie sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht Beziehungen zur Negationsproblematik aufweist. Man hat sie anfangs ganz ähnlich wie grammatische Zeichen als ein synsemantisches Instruktionszeichen zum Umgang mit Zahlen als Inhaltszeichen angesehen. Deshalb sieht Robert Kaplan die Null auch auf ganz genuine Weise mit der Struktur unserer Denkprozesse verknüpft. Bemerkenswert ist dabei allerdings, dass man sich letztlich nicht damit zufrieden gegeben hat, die Null nur als ein reines Operationszeichen zu verstehen. Man hat sich nämlich die Frage gestellt, ob die Null nicht auch ein spezifisches Sachobjekt außerhalb unserer reinen Denkprozesse repräsentieren könne, wenn man sie auf einer höheren Abstraktionsebene näher ins Auge fasse. Dies liegt natürlich nahe, wenn man berücksichtigt, dass wir im Prinzip alle synsematischen Metazeichen auf einer höheren Abstraktionsebene als autosemantische Inhaltszeichen betrachten können. So impliziert beispielsweise der sprachliche Ausdruck 4 Bäume sprachgenetisch gesehen ursprünglich die Aufforderung, sich viermal einen einzelnen Baum vorzustellen.24 Auf einer abstrakteren Denkebene ergibt sich aber nun durchaus die Möglichkeit, sich die Zahl 4 auch als eine eigene Denkgröße zwischen den Größen 3 und 5 vorzustellen bzw. die ursprüngliche sprachliche Handlungsaufforderung in eine eigenständige Sachvorstellung umzuwandeln. In ganz ähnlicher Weise ließ sich nun auch die Null als ein Zeichen verstehen, das je nach Sichtweise einerseits synsemantisch eine Instruktionsaufforderung beinhalten kann, aber andererseits auch autosemantisch eine Sachvorstel-
�� 23 R. Kaplan, Die Geschichte der Null, 2000, S. 80. 24 R. Kaplan, a. a. O., S. 152.
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lung. So lässt sich nämlich im Hinblick auf Geldscheine sowohl vom Besitz von vier Tausendern als auch vom dem von null Tausendern sprechen. Auf diese Weise wuchs der Null dann eine sehr merkwürdige Doppelnatur zu. Einerseits wurde die Null nämlich zu einer Zahl unter Zahlen und gehörte eben dadurch in das Reich der Zahlen. Andererseits konnte man sie aber auch als eine Art Metazahl verstehen, insofern sie dazu dienen konnte, den Stellenwert anderer Zahlen zu qualifizieren. Unser Koordinatenkreuz exemplifiziert diese Doppelnatur der Null sehr schön, da hier die Null einerseits als Zahl unter Zahlen auftritt, aber andererseits auch als Quellpunkt positiver und negativer Zahlenreihen und damit als ein Phänomen außerhalb der Zahlen im üblichen Sinne. Auf ganz ähnliche Weise ergab sich dann für das Denken bzw. den Sprachgebrauch die Möglichkeit, über die Negation einer positiven Sachvorstellung zu der Idee zu kommen, dass es neben den positiv benennbaren Tatsachen auch negativ benennbare Tatsachen geben könne (Ein Hund bellt. Kein Hund bellt.). Diese Denkmöglichkeit exemplifiziert sich auch darin, dass man das grammatische Negationswort bzw. das synsemantische Negationspronomen nichts sprachlich leicht zu dem autosemantischen Substantiv das Nichts machen kann. Dadurch wird dann nahegelegt, dass dieses Substantiv ebenso wie andere Substantive auch einen referenziellen Bezug in der gegebenen Welt habe. Diese Problemstruktur wird uns noch im Zusammenhang mit der Frage der Funktion der Negation im religiösen und theologischen Denken beschäftigen. Merkwürdig aber auch bezeichnend ist nämlich, das im mystischen Denken Gott immer wieder als Nichts bezeichnet worden ist. Er wird damit ganz ähnlich wie die Null als ein Phänomen bestimmt, das einerseits nicht zur empirischen Erfahrungswelt gehört, aber diese andererseits doch generiert und strukturiert und eben deshalb auch indirekt irgendwie doch zu ihr gehört. Damit stellt sich dann aber zugleich auch das grundsätzliche Problem, wie man über Gott in einer Sprache reden kann, die eigentlich nur für den Umgang mit der empirischen Erfahrungswelt entwickelt worden ist. Die Verwobenheit von sachthematischen und reflexionsthematischen Informationen in negationshaltigen Äußerungen bedingt auch, dass diese im Vergleich zu affirmativen Äußerungen von Hörern viel langsamer verarbeitet werden. Das ist dadurch bedingt, dass in solchen Äußerungen ja Informationen ganz unterschiedlichen Typs sinn- und gestaltbildend aufeinander bezogen werden müssen und dass Hörer sich in ihren Verstehensprozessen immer auch mit dem Problem zu beschäftigen haben, warum ein Sprecher überhaupt von Negationen Gebrauch macht. Um diese Aufgaben zu bewältigen, genügt es nicht, sein Denken nach den Kriterien der klassischen Logik zu regulieren, die uns immer gewisse Scheuklappen auferlegt, welche nicht nur eine konzentrierende, sondern auch eine einschränkende Wirkung auf unsere Wahrnehmungs-
106 � Die Negation als System- und Strukturphänomen prozesse ausüben. Beim Verständnis von negationshaltigen Äußerungen kommen wir aber mit einem mechanischen Denken meist nicht weiter und müssen deshalb hermeneutische Denkverfahren aktivieren, die im Prinzip natürlich auch unsere Sensibilität für die Wahrnehmung von Zeichen aller Art steigern. Mit Negationen ist psychologisch gesehen immer das Problem der Janusköpfigkeit verbunden. Einerseits werden wir nämlich beim Gebrauch von Negationen dazu gezwungen, auf etwas Vergangenes, Tradiertes und Verstandenes zu schauen, um dieses aufzuheben oder zumindest in seinem Geltungsanspruch einzuschränken. Andererseits werden wir beim Gebrauch von Negationen aber auch dazu motiviert, auf etwas Neues zu schauen, dem wir allerdings noch eine konkretere Gestalt zu geben haben. Negationen versteht man deshalb auch zu einfach, wenn man ihnen nur eine Abwehrfunktion zuordnet und nicht zugleich auch eine Aufbau- und Synthesefunktion. Für diese Problematik sensibilisiert uns die klassische Logik kaum, aber die Psychologie und die Semiotik durchaus.
3.3.4 Negation und Konstruktivismus Der sogenannte Konstruktivismus der Gegenwart ist ein erkenntnistheoretisches und psychologisches, aber letztlich auch ontologisches Denkkonzept, das sich ganz besonders für die Genese, die Strukturierung und Umstrukturierung von Denkinhalten interessiert.25 Dabei geht er von der phänomenologisch eigentlich recht unanfechtbaren Grundvorstellung aus, dass zu jeder Beobachtung nicht nur ein beobachteter Sachverhalt, sondern auch ein aktiver Beobachter gehört, und dass in jedem Wahrnehmungsinhalt nicht nur etwas aus der Objektsphäre der Welt einfließt, sondern auch etwas aus der Subjektsphäre der Welt bzw. aus den praktizierten Denkweisen der jeweils beteiligten Subjekte. Deshalb sieht der Konstruktivismus dann auch die Vorstellung einer reinen Objektivität unseres Wissens, wie sie beispielsweise im Positivismus in Erscheinung tritt, als eine unhaltbare und unfruchtbare Illusion an. Er strebt deshalb auch keine Theorie des Seins an, sondern vielmehr eine Theorie der Wissensbildung auf der Basis der kognitiven Interaktionsprozesse der wahrnehmenden Subjekte mit ihren möglichen Erfahrungswelten. Dementsprechend wird unser Wissen dann auch nicht als Abbildungswissen von einer gegebenen Realität verstanden, sondern vielmehr als ein Ergebnis von Aktivitäten der erkennenden
�� 25 Vgl. E. v. Glasersfeld, Einführung in den radikalen Konstruktivismus, in: P. Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit, 1981, S. 16‒38.
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Subjekte. Unser Wissen könne die Welt nicht abbilden, sondern nur den Umgang mit ihr erleichtern bzw. Wege zu einem erfolgreichen Handeln in der Welt eröffnen (Viabilität des Wissens). Wenn man nun die Negation als ein spezifisches Sinnbildungsverfahren bei der Wahrnehmung, Strukturierung und Objektivierung von Welt betrachtet, dann ist offensichtlich, dass Negationen immer eine zentrale Aufmerksamkeit im konstruktivistischen Denken beanspruchen dürfen. Über sie lässt sich nämlich nicht nur Aufschluss über die Denkprämissen, Denkmotive und Emotionen derjenigen gewinnen, die Negationsformen verwenden, sondern auch Aufschluss über die spezifische Widerständigkeit von Denkgegenständen gegenüber begrifflichen Strukturierungs- und Einordnungsprozessen. Das bedeutet, dass wir über die Analyse von Negationen auch Aufschluss darüber finden können, wie neues Wissen mit Hilfe von altem Wissen konstituiert werden kann. In diesem Zusammenhang ist nun auch die zunächst etwas provokante These von Gerhard Roth interessant, dass das Gedächtnis „unser wichtigstes Sinnesorgan“ sei, weil seine Struktur ähnlich wie die von anderen Sinnesorgane bedinge, wie bloße Wahrnehmungsdaten zu konkreten Wahrnehmungsgestalten zusammengeführt werden könnten.26 Das bedeutet, dass das, was wir konkret wahrnehmen, sich aus dem konstruktiven Zusammenspiel von Sinnesorganen, verwendeten Denkmitteln und der Struktur des informationsverarbeitenden Gehirns mit Einschluss unseres Gedächtnisses ergibt. Es ist nun offensichtlich, dass in diesen Interaktionsprozessen Negationen ganz wichtige Komponenten von Sinnbildungsprozessen sind, insofern sie Strategien beinhalten, wie sich bestimmte Einzelvorstellungen, selbst wenn sie als unzutreffend qualifiziert werden, dennoch bei der Bildung von komplexen Sinngestalten konstruktiv nutzen lassen. Dabei haben wir uns dann grundsätzlich folgende Fragen zu stellen: Wie passen unsere aktuellen Erfahrungen, Vorstellungen und Aussagen zu unseren schon vorhandenen Gedächtnisinhalten? Wie werden unsere konkreten Wahrnehmungen von unseren Gedächtnisinhalten strukturiert und geprägt? Wie können unsere aktuellen faktischen Wahrnehmungsinhalte unsere Gedächtnisinhalte umstrukturieren oder gar negieren? In unserem Alltagsverständnis haben Negationen nicht selten einen gewissen Schwefelgeruch bzw. etwas Destruktives, Diabolisches oder gar Pferdefüßiges an sich, was ja die Mephistogestalt sehr eindruckvoll exemplifiziert. Mit diesem Verständnis von Negationen kann sich der Konstruktivismus allerdings kaum anfreunden, weil er in Negationen auch ein positiv zu beurteilendes Verfahren sieht, alle denkbaren Wissensinhalte konstruktiv zu nutzen, um das �� 26 G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 19975, S. 201 und S. 263.
108 � Die Negation als System- und Strukturphänomen Denken zu flexibilisieren, das Unterscheidungsvermögen zu stärken und neues Wissen zu erzeugen. Wie kaum ein anderes Denkverfahren offenbaren Negationen für die Konstruktivisten nämlich, wie eng Beobachtungsobjekte und Beobachtungssubjekte bei der Wissensbildung aufeinander bezogen sind bzw. wie eng das individuelle Denken immer mit dem kollektiven Wissen verbunden ist. Das lässt sich insbesondere am Beispiel der Lernens und des Umgangs mit Ironie und Witzen sehr gut exemplifizieren. Für Gerhard Frey sind Wahrnehmungen bzw. wahrgenommene Sachverhalte im Prinzip positiv gegebene Phänomene, während Verneinungen Akte des Bewusstseins bzw. Denkprozesse repräsentierten. „Die Negation ist eine Funktionsform unseres Bewußtseins, sie ist Reflexion.“27 Aus dieser These lässt sich nun ableiten, dass Negationen eine genuine Beziehung zu Lernprozessen haben, da das Lernen immer ein Prozess ist, in dem Unterscheidungen zu treffen bzw. Wissen zu präzisieren und umzustrukturieren ist. Deshalb hat dann auch Fritz B. Simon betont, dass Wissen und Lernen im gewissen Sinne Gegensätze seien, insofern beim Lernen altes Wissen umstrukturiert oder gar zerstört werde, weil sich vorhandene und vertraute Unterscheidungen nicht mehr aufrechterhalten ließen. Lernen gebe es nur da, wo neue Sichtweise eröffnet würden, die altes Wissen in Frage stellten. Lernprozesse seien immer ambivalent, insofern wir sowohl beim Lernen als auch beim NichtLernen einen Preis zu zahlen hätten. Deshalb komme es beim Lernen darauf an, in welcher Richtung wir lernten bzw. welche Unterscheidungen wir dabei bestätigen oder verwerfen würden.28 Aus dieser Argumentation wird nun auch gut verständlich, warum Kinder im Vergleich zu Erwachsenen leichter und schneller lernen. Sie müssen nämlich nicht soviel von ihrem schon objektivierten und systematisierten Wissen in Frage stellen, umstrukturieren oder gar negieren, wenn sie neues Wissen erwerben. Deshalb sind auch ältere Menschen mit einem großen und schon durchstrukturierten Wissensschatz in gewissen Weise durchaus ‘lernbehindert’, da es ihnen sehr viel schwerer als jüngeren fällt, ihre schon erarbeiteten Wissensordnungen zu verändern oder gar zu negieren. In der Phase des Aufbaues von Wissen bzw. von Gedächtnisinhalten fallen uns deshalb auch Akkommodationsprozesse relativ leicht, während uns nach dem Aufbau von umfassenden Wissensordnungen Assimilationsprozesse leichter fallen. Man nimmt nämlich gerne genau das wahr, was man eigentlich schon
�� 27 G. Frey, Sprache Ausdruck des Bewusstseins, 1965, S. 129. 28 Vgl. F. B. Simon, Die Kunst, nicht zu lernen, in: H. R. Fischer (Hrsg.), Die Wirklichkeit des Konstruktivismus, 1995, S. 353‒365.
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immer gewusst zu haben glaubt bzw. was den eigenen Denktraditionen und Wissenserwartungen am besten zu entsprechen scheint. Um die eigene Lernfähigkeit lebendig zu halten, ist es deshalb notwendig, das individuelle Denken an Umstrukturierungs- bzw. an Negationsprozesse unterschiedlicher Art zu gewöhnen und die Fähigkeit lebendig zu fördern, unterschiedliche Synapsen im Geflecht seiner neuronalen Netzwerke zu aktivieren. Dafür kann dann sowohl die Kunst mit ihren neuartigen Gestaltungsprovokationen einen wichtigen Beitrag leisten als auch der metaphorische, ironische, paradoxe und witzige Sprachgebrauch. Alle diese verdeckten Formen der Negation wirbeln unsere Standarderwartungen und unser Systemdenken erheblich durcheinander und gewöhnen das Denken nicht nur an perspektivierende Anstrengungen, sondern auch an unaufhörliche Lernprozesse, die natürlich immer auch Negationsimplikationen haben. Gerade am Beispiel des Witzes lässt sich gut zeigen, wie mit Sprach- und Denkkonventionen gespielt werden kann und wie wir unsere Erwartungen umorganisieren müssen, um sprachlichen Gebilden einen Sinn zuordnen zu können. Das hat Jean Paul das sehr schön in einem Vorstellungsbild veranschaulicht. Für ihn ist der ästhetische Witz „der verkleidete Priester, der jedes Paar kopuliert“ wenn auch „mit verschiedenen Trauformeln.“29 Praktisch lässt sich das auch durch einen konkreten Witz exemplifizieren, bei dem auf etwas absurde Weise über eine Negation etablierte Denkmuster ironisiert werden bzw. die Verwertbarkeit von Zeugenaussagen. Richter: Leugnen hat keinen Sinn. Hier stehen zwei Zeugen, die gesehen haben, dass sie das Auto gestohlen haben. Angeklagter: Aber Herr Richter, ich kann ihnen Tausende von Zeugen herbeischaffen, die das nicht gesehen haben.
3.4 Negation und Pragmatik Wenn wir das Phänomen der Negation in einer pragmatisch orientierten Wahrnehmungsperspektive zu erfassen versuchen, dann sind wir nicht dem Ziel verpflichtet, danach zu fragen, welchen Seinstatbestand bzw. welche platonische Idee wir mit dem Begriff der Negation zu erfassen oder gar abzubilden versuchen. Wir sind vielmehr der Aufgabe verpflichtet, näher aufzuklären, was wir eigentlich tun, wenn wir negieren. Damit wird der Begriff der Negation ontologisch nicht als Gegenstands-, sondern als Handlungsbegriff aktuell. Ein sol�� 29 J. Paul, Vorschule der Ästhetik § 44, Werke Bd. 9, S. 173.
110 � Die Negation als System- und Strukturphänomen ches Ziel lässt sich allerdings leichter postulieren als erreichen, weil sich kulturhistorisch nicht nur die Intentionen und Motive von Negationshandlungen verändert haben, sondern auch das Inventar von Negationsformen, durch die Negationshandlungen zum Ausdruck gebracht werden können. Die Verlagerung des Erkenntnisinteresses an Negationen von der Seinsbzw. Ideenebene auf die Handlungsebene bzw. auf den Versuch, Negationshandlungen nur als bestimmte Interaktionshandlungen typisierend zusammenzufassen, löst den gordischen Knoten der Negationsproblematik nicht. Aber dadurch werden wir doch auf Korrelationszusammenhänge aufmerksam gemacht, die wir methodisch nicht ausklammern dürfen, wenn wir nach den sinnbildenden Funktionen von Negationsformen fragen. Auf jeden Fall harmoniert dieser Denkansatz mit der sogenannten pragmatischen Maxime von Peirce. Diese besagt, dass der Wert von Begriffsbildungen bzw. von Zeichen nicht aus metaphysischen Ordnungskonzepten abgeleitet werden sollte, sondern vielmehr aus den praktischen Hilfen, die sich aus ihnen für das Denken und Handeln ergeben. Deshalb verweist er auch zustimmend auf die biblische Maxime, dass man den Wert von etwas immer an den Früchten zu erkennen habe, die es hervorbringe.30 Die pragmatische Orientierung bei der Untersuchung der Negationsproblematik motiviert uns insbesondere dazu, auch solche Fragen zu stellen, die wir ansonsten kaum stellen würden. Diese lassen sich zwar nicht immer befriedigend oder gar abschließend beantworten, aber sie eröffnen uns gleichwohl doch wichtige Wahrnehmungsperspektiven auf die Negationsproblematik. Zu Fragen dieses Typs wären beispielsweise die folgenden zu rechnen: Welche Motive liegen der Genese und dem konkreten Gebrauch von Negationszeichen zu Grunde? Welche Rolle spielen Negationen im monologischen und dialogischen Sprachgebrauch? Wäre ein Sprachgebrauch denkbar, der ohne Negationszeichen auskommt? Dienen Negationszeichen primär dazu, Denkprozesse abzuschließen, oder eher dazu, Denkprozesse zu eröffnen? Welche Rolle spielen Negationen für die Strukturierung von kulturellen Ordnungssystemen und insbesondere für die Ethik? Gehören Negationen zu den Mitteln, die konstitutiv zur Selbsterneuerung der Kultur und der Sprache beitragen? Da alle diese Fragen wieder neue Fragen aufwerfen und eben deswegen auch immer nur partiell und vorläufig beantwortet werden können, kann hier nur exemplarisch auf die Gesamtproblematik eingegangen werden, die durch sie sichtbar wird. Daher soll im Folgenden auch nur die pragmatische Relevanz von Negationen im Rahmen der Sprechakttheorie, der Gebote und Verbote bzw. �� 30 Ch. S. Peirce, Collected Papers, 5.402.
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der Ethik sowie des Gedankens der Selbsterneuerung von Zeichensystemen genauer untersucht werden. Das schließt allerdings nicht aus, dass in anderen Zusammenhängen auf die hier gestellten Fragen nochmals präzisierend und illustrierend eingegangen wird.
3.4.1 Die Negation als Sprechakt Die Sprechakttheorie hat uns sehr nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass nicht die Darstellungs- oder gar die Abbildungsfunktion die ursprüngliche Sprachfunktion ist, sondern vielmehr die Interaktionsfunktion, aus der dann alle anderen als Teilfunktionen abgeleitet werden können. Das hat dann die Konsequenz, sprachtheoretische Überlegungen nicht beim monologischen, sondern vor allem beim dialogischen Sprachgebrauch anzusetzen und das Phänomen Sprache über das Sprechen als einer spezifischen Form des Handelns näher zu erschließen. Das sprachliche Handeln lässt sich genauer als Handeln im sozialen Raum bzw. als soziales Handeln charakterisieren. Seine Besonderheit besteht darin, dass als Handlungswerkzeuge nicht materielle Dinge, sondern vielmehr sprachliche Zeichen verwendet werden, deren konkrete Handlungsfunktionen von den jeweiligen Adressaten einer Handlung erst verstanden werden müssen, bevor sie in dem gewünschten Sinn wirksam werden können, was beispielsweise bei manuell verwendbaren Werkzeugen nicht zutrifft. Ein Hammer muss vom Nagel nicht verstanden werden, damit er im gewünschten Sinne wirksam werden kann. Die Struktur des sprachlichen Handelns als eines sozialen Handelns mit mehrschichtigen Handlungsfunktionen birgt Risiken und Chancen. Das Hauptrisiko des sprachlichen Handelns besteht darin, dass der Adressat der jeweiligen sprachlichen Handlung die Intention dieser Handlung nicht oder ganz anders als vom Sprecher intendiert versteht. Das hat dann zur Folge gehabt, dass sich für den Gebrauch von sprachlichen Zeichen stabile Konventionen herausgebildet haben, um die Genauigkeit ihrer jeweiligen Informationsintentionen in Interaktionsprozessen abzusichern. Das gilt insbesondere für die Herausbildung von formalisierten Fachsprachen. Diese Entwicklungstendenz hat dann allerdings auch die Konsequenz gehabt, dass sich mit diesen speziellen Erscheinungsformen von Sprache nicht mehr über alles sinnvoll sprechen lässt, aber über bestimmte Dinge und Themen auf sehr präzise Weise. Der Preis, den die formalisierten Fachsprachen für ihre informative Präzision zu zahlen haben, besteht darin, dass sich das Handlungsspektrum des Sprechens auf die Darstellungs- und Argumentationsfunktion der Sprache verkürzt und dass alle anderen
112 � Die Negation als System- und Strukturphänomen sprachlichen Sinnbildungsfunktionen mehr oder weniger als randständig angesehen werden können. Die Chancen des sprachlichen Handelns mit Hilfe der natürlich gewachsenen Sprache insbesondere im dialogischen Sprachgebrauch bestehen nun darin, dass die informativen bzw. die sinnbildenden Funktionen der einzelnen Sprachformen nicht schon vorab streng konventionalisiert sind, sondern sich meist erst im faktischen Sprachgebrauch aus einem Spektrum von Möglichkeiten konkret herausbilden. Das bedeutet, dass die Sprache als Handlungswerkzeug nicht schon verbindlich vorgegeben ist, sondern eigentlich erst im konkreten Gebrauch hergerichtet wird. Das erscheint auf den ersten Blick etwas merkwürdig. Es ist aber die grundlegende Voraussetzung dafür, dass man die natürliche Sprache als universales Sinnbildungswerkzeug im Sinne Humboldts verwenden kann. Die Sprechakttheorie hat uns nun insbesondere darauf aufmerksam gemacht, dass der Sinn des Sprechens nicht nur darin besteht, außersprachliche Sachverhalte mit Hilfe der Sprache intersubjektiv verständlich zu objektivieren, sondern auch darin, die pragmatischen Intentionen von Sachaussagen durch verbale, paraverbale und averbale Zusatzinformationen metainformativ zu interpretieren, um auf diese Weise auch soziale Beziehungen zwischen den Kommunikanten herzustellen. Zu sinnvollen Kommunikationsprozessen gehört deshalb auch, dass Sachaussagen nicht nur als Aussagen über den Zustand der Welt verstanden werden, sondern zugleich immer auch als interaktive Handlungsformen (Feststellungen, Behauptungen, Begründungen, Andeutungen, Warnungen, Hypothesen, Zitate, Spiele usw.). Während es auf der Betrachtungsebene des Sachgehalts von Äußerungen darum geht, ob Aussagen wahr oder falsch sind, geht es auf der Betrachtungsebene ihres Handlungsgehalts darum, ob sie hinsichtlich ihrer Handlungsintention glücken oder missglücken. Searle hat deswegen auch zwischen dem propositionalen Gehalt einer Äußerung einerseits, der explizit ausgesagt wird, und ihrer illokutionären Handlungsfunktion andererseits unterschieden, die zwar in der Regel nicht explizit ausgesagt, aber die doch mehr oder weniger klar durch bestimmte Indikatoren implizit mitthematisiert wird. Der Gesamtsinn einer Äußerung ergibt sich dementsprechend für ihn dann auch aus der Synthese beider Informationskomponenten.31 Der propositionale Gehalt einer Aussage resultiert dabei aus ihrer prädikativen Struktur, also daraus, dass einem grammatischen Subjekt als einer spezifischen Sachvorstellung auf determinierende und präzisierende Weise ein Prädikat als Bestimmungsvorstellung zugeordnet wird (Der Hund ‒ ist bissig.) �� 31 J. R. Searle, Sprechakte, 1973, S. 48ff.
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Im Gegensatz zum propositionalen Gehalt einer Äußerung ist ihre illokutionäre bzw. pragmatische Funktion nicht so leicht zu identifizieren, weil sie meist nicht durch eine eigenständige metainformative Prädikation thematisiert wird (Mit dieser Aussage will ich dich warnen/deine Neugier befriedigen/dir etwas empfehlen usw.) Üblicherweise ist sie nur auf interpretative Weise über recht variable Illokutionsindikatoren zu erschließen. Zu diesen können beispielsweise folgende Zeichentypen gerechnet werden: Modalpartikeln, Auswahlentscheidungen beim Vokabular, Stimmführung, Gestik, Mimik usw. Wenn man nun Negationen im Lichte der Sprechakttheorie betrachtet, dann ergibt sich ein etwas doppeldeutiges Bild. Je nach den verwendeten Negationsformen und dem eigenen Erkenntnisinteresse kann man nämlich Negationen sowohl in die Sphäre des propositionalen Gehalts als auch in die der pragmatischen bzw. illokutionäre Funktion einer Äußerung integrieren. Das erscheint zunächst als ein Widerspruch. Dieser löst sich aber auf, wenn man berücksichtigt, dass sich die pragmatische Funktion einer Äußerung in unterschiedlichen Perspektiven betrachten lässt. Einerseits kann man sich nämlich auf ihren faktischen Vollzug konzentrieren, aber andererseits auch auf ihr inhaltliches Ergebnis, das zu einer konkreten Sachvorstellung (Proposition) führt. Diese kann dann selbst in bestimmten Kontexten wegen ihrer pragmatischen Bedeutsamkeit wieder eine ganz spezifische illokutionäre Funktion übernehmen. Diese Strukturverhältnisse lassen sich folgendermaßen exemplifizieren. Eine Aussage mit einer Negation (Der Hund ist nicht bissig.) lässt sich strukturell in eine Basisaussage und eine weitere metainformative Interpretationsaussage zerlegen, welche die Basisaussage pragmatisch interpretiert (Der Hund ist bissig. Diese Aussage ist unzutreffend.). Die Aussage (Der Hund ist nicht bissig.) lässt sich aber auch als eine komplexe Basisaussage bzw. Tatsachenbehauptung ansehen, die je nach Kontext und Intonation hinsichtlich ihrer pragmatischen Funktion unterschiedlich zerlegt werden kann (Der Hund ist nicht bissig. Diese Aussage ist als Beruhigung/als Empfehlung/als Sachbeschreibung zu verstehen). Wenn bei Negationen keine konventionalisierten Negationswörter (nicht, kein, nie usw.) verwendet werden, sondern sprachliche Zeichen mit bestimmten Negationsimplikationen, dann fällt es natürlich sehr viel schwerer oder sogar unmöglich, das Ergebnis von Negationshandlungen in konkrete Sachverhaltsvorstellungen zu integrieren. In diesen Fällen treten dann die einschränkenden metainformativen Zeichen recht klar als eigenständige Indikatoren für die Qualifizierung der pragmatische Funktion von Äußerungen in Erscheinung (Der Hund ist anscheinend/vielleicht/wohl/schon bissig.). Eine ganz andere Situation ergibt sich, wenn Negationen nicht dazu bestimmt sind, irrtümliche Sachvorstellungen aus der Welt zu schaffen, sondern vielmehr dazu, bestimmte denkbare kommunikative Handlungen aufzuheben.
114 � Die Negation als System- und Strukturphänomen Die Negation einer solchen Handlung besteht im konkreten Normalfall ja nicht darin, sie faktisch zu vollziehen und sie dann nachträglich oder gleichzeitig für nicht vollzogen zu erklären, sondern vielmehr darin, eine denkbare oder erwartbare Handlung einfach zu unterlassen. Die Sprache gibt uns zwar die Möglichkeit, eine bestimmte kommunikative Handlung mit verbalen Mitteln zu vollziehen und sie nachträglich dann wieder verbal zu negieren oder umzuinterpretieren (Ich wünsche ihnen einen guten Morgen. Das ist allerdings nicht ein wirklicher Wunsch, sondern nur ein ironischer Ausdruck meiner Empörung über Sie.). Eine solche Negation bzw. Uminterpretation einer explizit objektivierten verbalen Handlung kann natürlich auf eine viel elegantere Weise auch durch averbale Mittel (Intonation, Gestik, Mimik) erfolgen. Aus all dem ergibt sich nun, dass insbesondere Negationshandlungen, die nicht durch konventionalisierte selbstständige Negationswörter bzw. durch unselbständige Negationsmorpheme angezeigt werden, sondern vielmehr durch bestimmte verbale oder averbale Modalisierungsmittel mit spezifischen Negationsimplikationen, zuweilen gar nicht erfasst bzw. hinsichtlich ihrer pragmatischen Intentionen richtig verstanden werden. Das betrifft beispielsweise konjunktivische, ironische und metaphorische Ausdrucksweisen, auf die noch gesondert eingegangen werden wird. Deshalb müssen sich sowohl die Sprecher als auch die Hörer dafür sensibilisieren, welche sprachlichen Mittel zur Realisierung von negierenden Sprechakten potenziell in Frage kommen können. Zu beachten ist auch, dass bestimmte Textsorten im Hinblick auf ihre faktischen Aussagen immer schon ganz spezifische Negationsimplikationen haben können. Beispielsweise enthalten Verfassungstexte Sätze, die formal als deskriptive Aussagesätze bzw. als Sachbehauptungen in Erscheinung treten (Männer und Frauen sind gleichberechtigt. / Eine Zensur findet nicht statt.). Verfassungssätze sind nun allerdings pragmatisch gesehen im Prinzip keine deskriptiven, sondern vielmehr normative Sätze, weil sie dazu bestimmt sind, den jeweils thematisierten Tatbestand nicht abzubilden, sondern vielmehr herzustellen. So gesehen enthält dann die Textsorte Verfassungstext gleichsam das immanente pragmatische Illokutionssignal, einzelne Aussagen nicht als deskriptive Sachaussagen zu verstehen, sondern vielmehr als regulative Postulate, die erst das herstellen sollen, was sie formal behaupten. Ähnliches gilt auch für Sachaussagen in fiktionalen Texten. Auch diese sollen keine historischen oder faktischen Realitäten abbilden, sondern imaginierte Wirklichkeiten objektivieren. Das ist uns normalerweise ganz selbstverständlich. Es kann aber zum Problem werden, wenn wir einen bestimmten Text nicht als Fiktivtext wahrnehmen, sondern als deskriptiven Sachtext. Das mag folgendes Beispiel verdeutlichen.
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Als im Radio die ersten Hörspiele gesendet wurden, waren die Rezipienten zunächst noch nicht darauf eingestellt, in diesem Medium fiktionale Texte vermittelt zu bekommen. Deshalb brach 1938 in Amerika eine Panik aus als das Hörspiel ›Krieg der Welten‹ von Orson Welles gesendet wurde, in dem von einer Invasion der Marsbewohner auf der Erde die Rede war. Aus diesen Rahmenbedingungen ist nun abzuleiten, dass man zu kurz greift, wenn man das Phänomen der Negation nur als ein Mittel begreift, um die Gültigkeit klar benannter Vorstellungen und Sachverhalte in Abrede zu stellen. Wir müssen Negationen pragmatisch gesehen vielmehr als ein Verfahren begreifen, mit dem der Geltungsanspruch von einfachen und komplexen Basisvorstellungen, seien es nun Aussagen oder Begriffe, auf vielfältige Weise metainformativ spezifizierend bestimmt werden kann. Dabei geht es dann keineswegs immer nur darum, den deskriptiven Aussageinhalt von sprachlichen Äußerungen als unzutreffend oder falsch einzustufen, sondern auch darum, die pragmatische Relevanz und die spezifischen Handlungsintentionen von Äußerungen metainformativ zu interpretieren und eben dadurch diese dann auch hinsichtlich ihrer jeweiligen pragmatischen Sinnbildungsfunktionen genauer zu qualifizieren. Bei der Analyse der Negationsproblematik sollten wir uns nicht nur um die Funktionen von Negationen in konkreten Begriffsbildungen, Aussagen und Texten kümmern, sondern auch um ihre Wirkungsmöglichkeiten in Bezug auf kulturelle Traditionen und soziale Konventionen. Das bedeutet dann allerdings auch, dass das Inventar von Negationsmitteln und die metainformativen bzw. interpretativen Funktionen von Negationen sehr unübersichtlich werden, da es diesbezüglich ja ständige Fluktuationen gibt. Schlussfolgerungen auf der Basis der klassischen Logik stoßen hier dann schnell an ihre Grenzen, während die stärker kontextuell ausgerichtete Sprechakttheorie durchaus noch Interpretationsansätze finden kann, um aus gegebenen Informationen hermeneutisch andere Informationen zu erschließen. Gerade weil die Sprechakttheorie sich nicht nur für das interessiert, was prädikativ direkt ausgesagt wird, sondern auch für das, was unausgesprochen mitgemeint wird, sensibilisiert sie uns auch für die semantische Mehrschichtigkeit von sprachlichen Äußerungen. Das ist nun insbesondere dann wichtig, wenn auf indirekte Weise allgemein akzeptierte Wissensinhalte oder Überzeugungen in Frage gestellt werden, ohne diese direkt zu negieren. Das kann dann faktisch unausgesprochene, aber gleichwohl wirksame Annahmen über den Zustand der Welt, die Leistungskraft der Sprache oder die Belehrbarkeit von Gesprächspartnern betreffen. Paradoxe Redeweisen, vor denen die klassische Logik in der Regel kapitulieren muss, sind für die Sprechakttheorie deshalb auch keine Tabuzonen. Wäh-
116 � Die Negation als System- und Strukturphänomen rend die klassische Logik diese Redeweisen im Prinzip als unsinnig einordnen muss bzw. als etwas umständliche Formen eines intellektuellen Schweigens, kann die Sprechakttheorie sie durchaus als Mitteilungsformen oder zumindest als Formen eines beredten Schweigens wahrnehmen, mit denen sich bestimmte Sinngehalte bzw. bestimmte intentionale sprachliche Handlungen zum Ausdruck bringen lassen. Das lässt sich sehr schön durch zwei literarische Beispiele illustrieren, in denen sprachlich auf spezifische faktische Situationen reagiert wird. Diese Reaktionen erscheinen vordergründig bzw. auf der propositionalen Mitteilungsebene absurd und sinnlos, aber auf der illokutionären keineswegs. Im ersten Akt von Büchners Drama Dantons Tod fordert Camille Danton zu einer politischen Aktion auf: „Danton, du wirst den Angriff im Konvent machen!“ Büchner lässt daraufhin Danton antworten: „Ich werde, du wirst, er wird.“ Diese Artikulation eines grammatischen Ordnungsparadigmas ist auf der propositionalen Ebene der aktuellen Kommunikationssituation völlig absurd, aber auf illokutionären keineswegs. Danton negiert damit nämlich indirekt recht eindeutig, dass eine solche Angriffsrede politisch noch irgendetwas bewirken könnte. Eine strukturell ganz ähnliche Situation ergibt sich, als Büchner Lucile am Ende des Dramas angesichts der Guillotine rufen lässt: „Es lebe der König!“ Das ist als politische Äußerung und programmatische Aussage natürlich völlig absurd, aber als expressive keineswegs.
3.4.2 Verbote und Gebote Verbote und Gebote sind klassische Mittel, um das menschliche Handeln im sozialen Raum zu ordnen und zu gestalten. Verbote können diesbezüglich in bestimmten Zusammenhängen zuweilen wichtiger sein als Gebote, weil sie nicht vorschreiben, was konkret zu tun ist, sondern nur festlegen, was unbedingt zu unterlassen ist. Das bedeutet nun wider den ersten Anschein, dass Verbote auch dazu beitragen können, Freiheitsspielräume für gestaltende Handlungen zu eröffnen und zu sichern, während Gebote durchaus dazu führen können, die Handelnde zu Marionetten eines höheren Willens zu machen. Das lässt sich gerade am Beispiel von Spielregeln recht gut veranschaulichen. Spielregeln kennen zwar auch Gebote, insofern sie die Rahmenbedingungen von Spielen festlegen (Spielfeld, Spielmittel, Spielerzahl, Spielzeit usw.), aber solche Gebote legen im Prinzip eigentlich nur fest, welche Grenzen die Spielwelt als eigenständige Welt haben soll. Viel wichtiger für die gestaltenden Handlungsabläufe im Spiel sind hingegen Verbote. Diese legen nämlich das fest, was in einem Spiel keineswegs geschehen darf, aber nicht das, was in ihm geschehen muss. Sie haben Grenzen zu setzen, die es gewährleisten sollen, dass
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im Spiel Handlungsmöglichkeiten gestaltet und erprobt werden können. Sie sollen im Prinzip nur ganz bestimmte Handlungsmöglichkeiten ausschließen, damit sich andere umso besser entfalten können. Als Garanten für bestimmte Gestaltungsräume im Spiel dürfen Verbote einerseits nicht zu zahlreich bzw. zu engmaschig sein, um kreative Handlungsmöglichkeiten nicht zu sehr einzuschränken, aber andererseits auch nicht zu randständig bzw. zu grobmaschig, um allen möglichen Handlungsweisen Raum zu geben. Verbote dürfen insbesondere die Einflussmöglichkeiten von Zufällen nicht ausschließen, weil dadurch dem faktischen Spielgeschehen seine innere Spannung genommen würde. Sie dürfen Zufällen aber auch nicht einen zu großen Spielraum geben, weil dadurch eine sinnvolle Gestaltung des Spielgeschehens sehr erschwert oder gar unmöglich gemacht wird. Gerade weil Verbote nicht vorschreiben, was zu tun ist, sondern nur verhindern sollen, dass bestimmte destruktive Handlungsweisen spielerische Interaktionsformen beeinträchtigen, sind Verbote für das Spiel auch als gestaltende und freiheitsstiftende Maßnahmen anzusehen. Sie werden den Spielen und insbesondere den Mannschaftsspielen nicht diktatorisch von außen aufgezwungen, sondern entwickeln sich in solchen Spielformen mehr oder weniger auf evolutionäre Weise von selbst. Sie werden im Laufe der Zeit dann meist nur noch übersichtlich systematisiert. Pragmatisch gesehen sind Verbote Reaktionen auf negative Erfahrungen, die man nicht immer wieder machen will. Sie sollen nämlich denkbare, aber unerwünschte Handlungen ausschließen. Deshalb ist bei Verboten aus pragmatischen Gründen auch der Umkehrschluss unzulässig, dass alles erlaubt sei, was nicht verboten ist, den die Alternativlogik ja durchaus nahelegen könnte. Wenn in den Amtsstuben de 19. Jahrhunderts durch Aushänge verboten wurde, auf den Fußboden zu spucken, dann durfte man daraus keineswegs folgern, dass es erlaubt sei, an die Wände zu spucken. Verbote dienen nur dazu, diejenigen Handlungen auszuschließen, die zwar potenziell naheliegen könnten, aber die aus bestimmten Gründen doch unzulässig sind. Das exemplifiziert auch folgender Witz sehr schön, der die Zulässigkeit von bestimmten Umkehrschlüssen betrifft. Fritzchen fragt: Herr Lehrer, kann man für etwas bestraft werden, was man nicht getan hat? Der Lehrer antwortet erwartungsgemäß: Nein, Fritzchen. Daraufhin beichtet Fritzchen: Herr Lehrer, ich habe meine Hausaufgaben nicht gemacht! Die pragmatische Funktion von Verboten, naheliegende oder zumindest denkbare Handlungen zu verhindern, mit denen unerwünschte Konsequenzen verbunden sind, dokumentiert sich auch in der seit der Antike überlieferten goldenen Regel: Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Diese praktische Lebensweisheit hat Kant in seinem kategorischen Imperativ
118 � Die Negation als System- und Strukturphänomen dann wesentlich abstrakter formuliert: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“32 Generell lässt sich sagen, dass Verbote auf Vorerfahrungen reagieren und das Ziel haben, ein mögliches Fehlverhalten zu verhindern, um ein konstruktives Handeln im sozialen Raum zu begünstigen. Das lässt sich sehr schön an den sogenannten 10 Geboten exemplifizieren, die eigentlich aus 8 Verboten und nur zwei Geboten bestehen. Das ist pragmatisch gesehen durchaus sinnvoll, wenn man die 10 Gebote nicht nur als normative göttliche Setzungen versteht, sondern auch als Manifestationen kultureller Lebensweisheiten bzw. als Fundamente eines konfliktreduzierten sozialen Zusammenlebens. Von den sogenannten 10 Geboten sind 8 negativ formuliert und konkretisieren sich eben dadurch eigentlich als Verbote, die ganz bestimmte Handlungen ausschließen sollten, die erfahrungsgemäß immer wieder vorkamen, aber kontraproduktiv für den sozialen Frieden insbesondere in monotheistischen Kulturen waren: Du sollst keine anderen Götter haben! Du sollst dir kein Bildnis machen! Du sollst nicht töten! Du sollst nicht ehebrechen! Du sollst nicht stehlen! Du sollst nicht falsch Zeugnis reden! Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus! Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat! Lediglich 2 Gebote schließen keine konkreten Handlungsweisen aus, sondern fordern vielmehr explizit zu ganz bestimmten Handlungsweisen mit ganz konkret benannten Handlungszielen auf: Du sollst den Feiertag heiligen! Du sollst Vater und Mutter ehren! Dieses Verhältnis von verbotenen und gebotenen Handlungen ist insofern aufschlussreich, als dadurch klar kenntlich wird, dass über die 10 Gebote überwiegend Störfaktoren im sozialen Zusammenleben eliminiert werden sollen. Lediglich 2 Gebote stellen Gestaltungsaufgaben, die produktiv zu konkretisieren sind. Dabei lässt sich das Gebot, den Feiertag zu heiligen, vielleicht als Exempel für die umfassende Aufgabe verstehen, kulturelle Zielsetzungen produktiv auszugestalten, und das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, als ein Exempel für die komplexe Aufgabe, sinnvolle soziale Umgangsformen zu entwickeln. Pragmatisch und funktional betrachtet lässt sich daher der Schluss ziehen, dass die 8 biblischen Verbote nicht als willkürliche bzw. diktatorische Setzungen zu verstehen sind, sondern eher als produktive Spielregeln, die vordergründig betrachtet zwar etwas explizit verbieten, die hintergründig aber dazu dienen, geschützte Freiräume für kreative Handlungsweisen zu konstituieren. So gesehen schränken dann insbesondere evolutionär gewachsene Verbote das soziale Zusammenleben nicht ein, sondern ermöglichen dieses erst. Vielleicht �� 32 I. Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, BA 52, Werke Bd. 7, S. 51.
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lassen sich deshalb dann auch Verbote als spezifische Ausdrucksformen einer höheren Dialektik (These‒Antithese‒Synthese) ansehen bzw. als Ausdrucksform der Alltagsweisheit, dass sich erst in der Beschränkung der Meister zeige. Grundsätzlich wird man aber immer in Betracht ziehen müssen, dass strikte Handlungsgebote durchaus den Effekt haben können, die kreative Handlungsphantasie zu lähmen, weil sie bestimmte Handlungswege vorschreiben. Dagegen können Handlungsverbote durchaus den kreativen Effekt haben, ganz neue Handlungswege zu finden und zu erproben, eben weil sie andere ausschließen. Gebote haben so gesehen dann auch eine genuine Nähe zu einem sachthematischen Denken, während Verbote eine Nähe zu einem reflexionsthematischen Denken haben, weil sie dazu provozieren, bestimmte Ziele auf anderen als den üblichen Wegen zu erreichen. Das exemplifiziert sich auch darin, dass staatliche Zensurmaßnahmen den kreativen Sprachgebrauch eher fördern als lähmen, weil eben dadurch die schöpferischen Sinnbildungsfähigkeiten sowohl der Sprecher als auch der Hörer intensiv angeregt werden, insofern nun schon bloße Andeutungen als relevante Mitteilungen wahrgenommen werden können.
3.4.3 Das Spracherneuerungspotenzial von Negationen Oberflächenstrukturell betrachtet scheinen Negationen sprachliche Mittel von Formzerstörungen oder zumindest von Formrelativierungen zu sein, da sie den Geltungsanspruch von Vorstellungen, Aussagen und Denktraditionen aufheben, also das für nichtig erklären, was wir wissen, glauben oder erwarten. Diese Wahrnehmungs- und Beurteilungsweise von Negationen ist nicht falsch, aber nur eine Seite der Medaille. Tiefenstrukturell gesehen ergibt sich nämlich noch eine andere Wahrnehmungsmöglichkeit für sie. Die Aufhebung von Wissensund Denkformen bei Negationen ist kein Selbstzweck, sondern steht im Dienste von Anstrengungen für den Aufbau von neuen Formbildungen. Negationen lassen sich dementsprechend auch als Übergangserscheinungen verstehen bzw. als Denkoperationen, welche die Funktionen von Brücken haben, über die sich Neuland erschließen lässt. Negationszeichen heben als grammatische Organisationszeichen zwar den Geltungsanspruch von lexikalischen Zeichen, von Prädikationen oder von komplexen Vorstellungen auf, aber dadurch wird keineswegs ausgeschlossen, dass neue Denkmuster, Inhaltsvorstellungen und Wissensformen entstehen. Das tritt besonders deutlich bei der Verwendung von Negationsmorphemen in Wortbzw. Begriffsbildungsprozessen hervor. Aus spontan negierten Begriffsmustern können nämlich neue Begriffsmuster hervorgehen, deren Entstehungsgeschichte aus Negationsoperationen im Lauf der Zeit ganz verblassen kann. Über Nega-
120 � Die Negation als System- und Strukturphänomen tionsmorpheme lassen sich daher auch Kontrast- und Oppositionsbegriffe herstellen, die dann auch eigenständige semantische Merkmale bekommen können (Freiheit/Unfreiheit, brauchen/mißbrauchen, schuldig/unschuldig). Ein solches Begriffsbildungsverfahren ist natürlich sehr viel einfacher, übersichtlicher und systematischer als das Verfahren, völlig eigenständige lexikalische Kontrastund Oppositionsbegriffe herzustellen, die auch noch durch unübersichtliche Konnotationen geprägt sein können (Liebe/Hass, geben/nehmen, gut/böse). Wenn wir von den pragmatischen Sinnbildungsfunktionen von Negationen sprechen, dann dürfen natürlich auch nicht die sogenannten Privativa (lat. privare = berauben) vergessen werden. Mit diesem Terminus fasst man diejenigen Begriffsbildungen zusammen, deren Eigenart darin besteht, dass sie die Abwesenheit bzw. die Wegnahme von etwas eigentlich Erwartbarem bezeichnen. Solche Begriffsbildungen lassen sich in der Regel nicht mit Hilfe positiv benennbarer semantischer Merkmale beschreiben, sondern nur mit Hilfe der Thematisierung von enttäuschten Erwartungen bzw. Mängeln (Loch, fehlen, leer). Privativa werden deshalb noch im Zusammenhang mit den Überlegungen zur Negationsproblematik in der Begriffsbildung zum Thema gemacht (5.2). Wenn man in der beschriebenen Weise die Negation als ein grammatisches Verfahren betrachtet, mit dem sich sehr leicht das Inventar von sprachlichen Begriffen und Objektivierungsverfahren ausweiten lässt, dann sind Negationen natürlich nicht nur wichtige Mittel des Sprachgebrauchs, sondern auch der Spracherneuerung. Sie helfen dabei, die vorgefundene Sprache so zu verwenden bzw. fortzuentwickeln, dass sie neuen Sinnbildungsbedürfnissen gerecht werden kann. Gerade wenn über Sachverhalte gesprochene werden soll, die jenseits unserer empirischen Erfahrung und unserer traditionellen Denk- und Sprechmöglichkeiten liegen, dann lässt sich auf den Gebrauch von Negationen weder beim aktuellen Sprechen noch bei der Bildung neuer Denkmuster verzichten, weil über sie Brücken bzw. Relationen zwischen alten und neuen Denkinhalten hergestellt werden können. Negationen gehören deshalb nicht nur in das Reich der Sprachverwendung sondern auch in das der Sprachbildung, weil sie im Sinne Humboldts nicht nur dem Werkaspekt der Sprache (Ergon) zuzuordnen sind, sondern auch dem Tätigkeitsaspekt (Energeia). Sie helfen auf vielgestaltige Weise dabei, die Sprache flexibel zu nutzen und neuen Bedürfnissen anzupassen. Wir greifen zu kurz, wenn wir die Negationsproblematik semiotisch nur in einer morphologischen Perspektive betrachten (forma formata) und nicht auch in einer sinnerzeugenden (forma formans). Das heißt, dass wir nicht nur den recht unterschiedlichen morphologischen Erscheinungsformen von Negationen unsere Aufmerksamkeit zu schenken haben, sondern auch ihren stilistischen Verwendungsweisen, ihre ästhetischen Qualitäten sowie ihren sprachbildenden Funktionen.
4 Explizite sprachliche Negationsformen Die bisherigen Überlegungen zur Negationsproblematik hatten das Ziel, den Denkrahmen zu konkretisieren, in dem man die Frage nach den konkreten sprachlichen Mitteln stellen kann, die der Kategorie der Negation Ausdruck geben können bzw. mit denen man Negationshandlungen vollziehen kann. Eine solche Frage lässt sich nun allerdings leichter stellen als befriedigend beantworten. In den natürlich gewachsenen Sprachen gibt es nämlich wegen der vielfältigen pragmatischen Funktionen von Negationshandlungen kein geschlossenes und übersichtliches Inventar von Negationsformen. Ein solches kann es allenfalls im Bereich von formalisierten Fachsprachen mit vergleichsweise eingeschränkten kognitiven und kommunikativen Aufgaben geben. Gleichwohl gibt es aber aus verständlichen Gründen auch in den natürlichen Sprachen eine überschaubare Menge von gut fassbaren expliziten Negationsformen mit ganz bestimmten konventionalisierten Negationsfunktionen. Daneben gibt es in ihnen aber immer auch noch eine Vielzahl von Sprachformen, die ein mehr oder minder deutlich ausgeprägtes Negationspotenzial von unterschiedlicher Intensität aufweisen, sowie eine etwas diffuse Menge von sprachlichen Formen, die im konkreten Gebrauch über bestimmte Kontrastierungsleistungen auch Negationsfunktionen übernehmen können. Das kann im Rahmen des sehr großen Funktionsspektrums natürlicher Sprachen auch gar nicht anders sein, eben weil in ihnen das Negationsproblem nicht nur als ein logisches Problem in Erscheinung tritt, sondern immer auch als ein psychologisches bzw. semiotisches und sinnbildendes. Deshalb ist es ein Problem, ob die primär systemtheoretisch orientierte Sprachwissenschaft im Sinne ihres Selbstverständnisses als synchron akzentuierte Linguistik sich zu Recht darauf beschränken kann, das Negationsproblem nur als ein sprachliches Systemproblem zu betrachten, das im Rahmen des Inventars von direkt beobachtbaren expliziten Negationsmitteln sinnvoll analysiert werden kann.1 Für diese methodische und zugleich abstrahierende Reduktion des Erkenntnisinteresses an Negationen muss nämlich ein hoher Preis gezahlt werden, insofern sich das Interesse an Negationen nun von vornherein auf die offenkundigen sprachlichen Negationsformen mit morphologisch und syntaktisch gut fassbaren Charakteristika beschränkt. Dabei können dann natürlich �� 1 Vgl. G. Stickel, Untersuchungen zur Negation im heutigen Deutsch, 1970. J. Jacobs, Syntax und Semantik der Negation im Deutschen, 1982. W. Kürschner, Studien zur Negation im Deutschen, 1983. K. Adamzik, Probleme der Negation im Deutschen, 1987. H. Blühdorn, Negation im Deutschen, 2012.
122 � Explizite sprachliche Negationsformen auch pragmatische Fragen angesprochen werden, sie müssen aber weder zum Ausgangspunkt noch zum Mittelpunkt des Wahrnehmungsinteresses an der Negationsproblematik gemacht werden. Bei diesem Untersuchungsansatz läuft man allerdings auch keine große Gefahr, seinen Untersuchungsgegenstand nicht klar abgrenzen zu können und sich in unübersichtliche erkenntnistheoretische, psychologische, semiotische, stilistische oder ästhetische Aspekte der Negationsproblematik zu verwickeln. Dadurch setzt man sich dann auch nicht dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit in einem empirischen bzw. positivistisch orientierten Sinne aus. Die Frage ist nun allerdings, welche geistigen Anregungskräfte von Analyseergebnissen ausgehen können, die sich auf ein rein deskriptives wissenschaftliches Feststellungsethos gründen. Dieser Hinweis soll die Ergebnisse dieses Forschungsansatzes nicht schmälern, aber diesen doch hinsichtlich seines allgemeinen erkenntnistheoretischen Stellenwertes kennzeichnen. Eine ganz andere Wahrnehmungsperspektive für explizite, aber auch für implizite sprachliche Negationsformen ergibt sich schon, wenn wir die Kategorie der Negation mit Wladimir Admoni im Prinzip als eine modale Kategorie verstehen.2 Negationen aller Art lassen sich dann nämlich von vornherein in einem pragmatischen Sinne als interpretierende Modalisierungshandlungen verstehen, die sich sowohl mit Hilfe gut fassbarer expliziter Negationszeichen realisieren lassen als auch über die Nutzung der spezifischen Negationsimplikationen von anderen Sprachzeichen. Die Spannweite von Negationsformen reicht dann recht selbstverständlich von den selbstständigen Negationswörtern und unselbstständigen Negationsmorphemen über lexikalische, grammatische und textuelle Sprachzeichen mit Negationsimplikationen bis zu Negationsverfahren, wie sie etwa in mehr oder weniger spontanen Sprachgebrauchsweisen bzw. in Stilformen zum Ausdruck kommen können.
4.1 Das Funktionspotenzial expliziter Negationsformen Bei der Diskussion von expliziten Negationsformen greifen wir im Hinblick auf die natürlichen Sprachen eigentlich auch schon zu kurz, wenn wir die in ihrem Rahmen realisierten Negationshandlungen nur als logische Verfahren ansehen, um den Geltungsanspruch von Aussagen, Vorstellungen und Begriffen semantisch im Sinne eines mathematischen Minuszeichens operativ umzupolen. Diese Funktion von konventionalisierten Negationszeichen spielt zwar in unseren �� 2 Vgl. W. Admoni, Der deutsche Sprachbau, 19703, S. 154 und 242.
Das Funktionspotenzial expliziter Negationsformen � 123
formalisierten Fachsprachen insbesondere in argumentierenden Zusammenhänge eine ganz dominierende Rolle, aber beim Gebrauch von natürlichen Sprachen ist sie im Prinzip nur eine, wenn auch recht wichtige Funktion unter anderen. Das ist vor allem dadurch bedingt, dass formalisierte Sprachen im Prinzip einen monologischen Grundcharakter haben, insofern in ihnen die Darstellungsfunktion der Sprache dominiert, und dass natürliche Sprachen im Prinzip einen dialogischen Grundcharakter haben, insofern in ihnen die Interaktionsfunktion dominiert. Das bedeutet, dass wir in den natürlichen Sprachen auch die Darstellungsfunktion eigentlich immer aus ihrer Interaktionsfunktion abzuleiten haben. Es bedeutet weiterhin, dass wir in den natürlichen Sprachen auch unser Verständnis der sinnbildenden Funktion von expliziten Negationszeichen in Aussagen und Begriffsbildungen letztlich nicht ontisch, sondern eher pragmatisch zu fundieren haben.
4.1.1 Die dialogischen Aspekte von Negationsformen Auf die dialogischen Implikationen von expliziten sprachlichen Negationsmitteln ist schon im Zusammenhang mit den Überlegungen zu ihrer evolutionären Herkunft aus gestischen Abwehrhandlungen aufmerksam gemacht worden. Wenn wir nun daran anknüpfen, dann haben wir unsere Aufmerksamkeit einerseits auf den Tatbestand zu richten, dass die Verwendung von verbalen Negationsmitteln uns Auskunft über die psychische Verfassung des jeweiligen Sprechers und seine spezifische Wahrnehmung von Welt gibt, und andererseits auf die Frage, was dieser denn durch den Gebrauch von bestimmten Negationsformen konkret bewirken will bzw. wie er das Denken und Handeln anderer dadurch steuern möchte. Daraus ergibt sich dann die Einsicht, dass der Gebrauch von verbalen Negationsmitteln im Prinzip immer mit bestimmten Hypothesen bzw. mit bestimmten Handlungsintentionen des jeweiligen Sprechers verbunden ist. Diese können sich auf die Struktur der Realität, auf die Struktur der aktuellen Kommunikationssituation, auf die Struktur der Wissensbestände der aktuellen Kommunikationspartner oder sogar auf die Struktur der jeweils verwendeten Sprachformen beziehen. Um das Verständnis von Negationen in ein dialogisch orientiertes Grundverständnis von Sprache zu integrieren, hat deshalb Wolfgang Heinemann ausdrücklich betont, dass bei der Analyse von konkreten Negationen beispielsweise folgende Gesichtspunkte eine ganz zentrale Rolle zu
124 � Explizite sprachliche Negationsformen spielen hätten: Sprechhandlung, Kontrastivität, Antecedensbedingungen, Präsuppositionen, Sprechereinstellungen usw.3 Das Verständnis der Negationsformen als dialogische Sinnbildungsmittel begünstigt dann auch, sie methodisch als Indikatoren für die Sprechakte des Aufhebens, Zurückweisens, Absprechens, Bestreitens, Modalisierens usw. zu beurteilen. Es legt weiterhin nahe, Negationsformen sowohl hinsichtlich ihrer Relationen zu gegebenen Sachwelten als auch hinsichtlich ihrer Relationen zu gegebenen Denkwelten näher zu betrachten, weil sich nur auf diese Weise ihre pragmatischen Funktionen befriedigend ermitteln und spezifizieren lassen. Im Hinblick auf die Präzisierungsfunktionen von Negationen für Sachverhaltsdarstellungen und Interaktionshandlungen im dialogischen Sprachgebrauch hat Harald Weinrich auf erhellende Weise für Negationszeichen das semantische Merkmal Einspruch geltend gemacht. Jede Negation erhebt Einspruch gegen eine bestehende Erwartung und setzt diese außer Kraft. Durch den »Erwartungsstopp« wird das Sprachspiel umorientiert: es ist nun wieder alles offen für neue Bedeutungen und neue Feststellungen. Wir beschreiben daher die allen Negations-Morphemen gemeinsam zugrunde liegende Bedeutung mit dem semantischen Merkmal (EINSPRUCH).4
Der explizite, aber auch der implizite Einspruch von Negationen gegen bestimmte Vorstellungen und Erwartungen ist dann natürlich noch hinsichtlich seines konkreten Sachbezuges und seiner Intensität näher zu qualifizieren. Dafür lassen sich dann beispielsweise folgende sprechaktqualifizierende Verben verwenden: verneinen, aufheben, bestreiten, absprechen, relativieren, problematisieren, zu Bedenken geben, modalisieren usw. Außerdem haben wir uns natürlich auch die Frage zu stellen, was sich überhaupt sinnvoll negieren lässt und was nicht bzw. wozu wir Alternativen entwickeln können und wozu nicht. In diesem Zusammenhang sind dann nicht nur morphologische, syntaktische und logische Fragen zu stellen, sondern natürlich auch heuristische, hermeneutische und pragmatische.
4.1.2 Wahrnehmungsweisen für Negationsformen Um das Funktionspotenzial expliziter Negationsformen zu erfassen, sind vielleicht folgende Fragestellungen nützlich: In welchen Wortklassen und syntakti-
�� 3 Vgl. W. Heinemann, Negation und Negierung, 1983. 4 H. Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache, 1993, S. 864.
Das Funktionspotenzial expliziter Negationsformen � 125
schen Funktionsrollen können selbstständige Negationswörter in Erscheinung treten? Sind Negationszeichen immer der Klasse der grammatischen Operationszeichen zuzuordnen oder können sie auch in lexikalische Inhaltszeichen integriert sein? Ist die Verwendung von unselbständigen Negationsaffixen bei der Wortbildung vergleichbar mit der Bildung von Komposita? Bei welchen kognitiven und kommunikativen Zielsetzungen lässt sich möglicherweise auf den Gebrauch von Negationszeichen verzichten? Welche pragmatischen Motive gibt es dafür, die Form und den Gebrauch von Negationsmitteln konventionell klar zu regulieren und unter welchen Kommunikationsbedingungen sollte das so weit wie möglich offen gehalten werden? Um die Relevanz dieser Fragen zu ermessen, ist es hilfreich, sich den Umstand zu vergegenwärtigen, dass auch selbstständige Negationswörter syntaktisch gesehen meist keine obligatorischen Glieder von Sätzen sind, sondern zusätzliche Bestandteile von Sätzen, die uns auf metainformative grammatische Weise etwas über die faktische Gültigkeit von Aussagen, von Satzgliedern von Satzelementen oder von möglichen Sachvorstellungen und Erwartungen mitteilen. Prinzipiell ließe sich nämlich ein Gebrauch von Sprache vorstellen, bei dem auf die Verwendung von Negationsmitteln generell verzichtet werden könnte. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn wir uns ausschließlich darauf konzentrierten, die Welt mit Hilfe eines rein sachthematisch orientierten Fachvokabular zu beschreiben, ohne dabei zu argumentieren, von reflexionsthematisch bedingten Hypothesen Gebrauch zu machen oder uns dialogisch auf den spezifischen Wissensstand bzw. die Erwartungen von bestimmten Kommunikationspartnern einzustellen. Ein solcher Sprachgebrauch ist hypothetisch denkbar, aber selbst in den Fachwissenschaften höchst unrealistisch, weil er im Prinzip eine ideale Symmetrie zwischen Sprach- und Weltformen voraussetzte und weil er keinerlei Anstrengungen nötig machte, den jeweiligen Sprachgebrauch ganz bestimmten Sachgegenständen oder Kommunikationspartnern anzupassen. Gerade das gehört nun aber zum genuinen Funktionsprofil zumindest von natürlich gewachsenen Sprachen, weil diese prinzipiell als soziale Interaktions- und Sinnbildungswerkzeuge anzusehen sind, in denen der Gebrauch von Negationsformen immer eine ganz konstitutive Rolle spielt und spielen muss. Ansonsten hätten diese Sprachen nicht die kognitive und kommunikative Flexibilität, die es rechtfertigt, dem Phänomen der Negation den Status einer unverzichtbaren sprachlichen Universalie zuzuordnen. In diesem Zusammenhang ist nun interessant, dass Kant betont hat, dass jede konkrete Empfindung und damit wohl auch jede konkrete Sachwahrnehmung einer kontinuierlichen Verminderung bis hin zum Verschwinden fähig sein müsse. Das bedeutet dann natürlich, dass auch die Sprache als ein Mittel
126 � Explizite sprachliche Negationsformen für die intersubjektiv verständliche Objektivierung von Empfindungen und Vorstellungen bestimmte Verfahren und Formen ausbilden muss, über die sich die Intensität und Geltung von Empfindungen und Vorstellungen abstufen lässt. Das gilt natürlich umso mehr, wenn die Sprache nicht nur dazu verwendet wird, bestimmte Empfindungen und Vorstellungen zu objektivieren, sondern auch dazu, diese hinsichtlich ihres jeweiligen Geltungsanspruchs näher zu qualifizieren. Nun ist aber jede Empfindung einer Verringerung fähig, so daß sie abnehmen, und so allmählich verschwinden kann. Daher ist zwischen Realität in der Erscheinung und Negation ein kontinuierlicher Zusammenhang vieler möglicher Zwischenempfindungen, deren Unterschied von einander immer kleiner ist, als der Unterschied zwischen der gegebenen und dem Zero, oder der gänzlichen Negation.5
Um nun im Rahmen der hier verfolgten Erkenntnisinteressen die Negationsfunktion von expliziten Negationsmitteln zu erfassen, wird nun folgendes Verfahren gewählt. Zunächst sollen die konventionell stabilisierten expliziten Negationszeichen näher untersucht werden, die sich kategorial als selbständige Negationswörter zusammenfassen lassen. Diese Zusammenfassung ist zwar insofern etwas problematisch, weil diese Negationswörter recht unterschiedliche morphologische, syntaktische und semantische Charakteristika aufweisen und sich eben deshalb auch noch weiter subklassifizieren lassen (Negationspartikel, Negationsartikel, Negationspronomen, Negationspräpositionen, Negationsadverbien, Negationskonjunktionen usw.). Pragmatisch rechtfertigt sich aber diese Zusammenfassung, um sie von den unselbständigen Negationsaffixen bzw. von Negationsmorphemen abzugrenzen, die gesondert untersucht werden sollen. Dieser Typ von expliziten, aber syntaktisch unselbständigen Negationszeichen wird nämlich informationspsychologisch ganz anders wahrgenommen als die selbstständigen Negationszeichen, insofern sie für uns nicht als metainformative Teile von Aussagen bzw. Vorstellungen verstanden werden, sondern als konstitutive Bestandteile von konkreten Begriffsbildungen, die uns schon ganz bestimmte fertige Grundvorstellungen für Aussagen zur Verfügung stellen.
4.2 Die selbstständigen Negationswörter Als Negationswörter sollen hier im Anschluss an den Duden alle morphologisch und syntaktisch selbstständigen Wörter bezeichnet werden, die ganz offensicht�� 5 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 210, Werke Bd. 3, S. 210.
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lich eine Negationsfunktion haben.6 Ihr Negationsbezug und ihre Negationsfunktion können dabei inhaltlich recht unterschiedlich ausfallen. Von einer Negation können nämlich folgende Phänomene betroffen sein: Entscheidungsfragen (nein), Sachaussagen oder Sachvorstellungen (nicht), pronominal thematisierte Sachvorstellungen (nichts), pronominal thematisierte Personenvorstellungen (niemand), Zeitvorstellungen (nie, niemals), Ortsvorstellungen (nirgends), Richtungsvorstellungen (nirgendwohin) usw. Auch die Zuordnung von Negationswörtern zu den traditionellen Wortarten kann unterschiedlich ausfallen, insofern sie morphologisch als unveränderbar (nein, nicht) bzw. veränderbar (kein, niemand) in Erscheinung treten können und syntaktisch als Pronomen (nichts, niemand, keiner), als Adverbien (nie), als Artikelwörter (kein, keinerlei) oder als Modalpartikeln (nicht).7 Obwohl es problematisch ist, Negationswörter als eigene Wortklasse anzusehen, da sie morphologisch, syntaktisch und funktional unterschiedliche Charakteristika aufweisen, so rechtfertigt es sich aus praktischen Gründen doch, sie unter einem Sammelbegriff zusammenzufassen. Der Sammelbegriff Negationswörter ist nämlich aus zwei Gründen durchaus hilfreich. Einerseits kann er nämlich dazu dienen, auf die pragmatischen Gemeinsamkeiten von recht unterschiedlichen Worttypen aufmerksam zu machen. Andererseits kann er uns auch dazu zwingen, die unterschiedlichen Negationsbezüge und Negationsintensitäten der verschiedenen Negationswörter so klar wie möglich voneinander abzugrenzen. Dabei kann dann außerdem berücksichtigt werden, dass bestimmte Negationswörter bestimmte idiomatische Äquivalente haben können (sich nicht darum kümmern = sich einen Dreck darum kümmern; nichts wert sein = keinen Pfifferling wert sein; nichts verstehen = nicht die Bohne verstehen; das werde ich nicht tun = den Teufel werde ich tun). Da hier nicht das Ziel verfolgt wird, alle Negationswörter im Deutschen systematisch zu erfassen und zu ordnen, sondern nur das Ziel, die sinnbildenden Funktionen der wichtigsten Negationswörter typologisch auf exemplarische Weise zu beschreiben, wird hier nun folgendes Verfahren gewählt. Die wichtigsten bzw. häufigsten Negationswörter werden einzeln hinsichtlich ihrer entstehungsgeschichtlichen, morphologischen und syntaktischen Besonderheiten beschrieben, um ihre möglichen Beiträge zu komplexen Sinnbildungsprozessen zu erfassen. Damit soll dann auch zugleich ihr spezifischer kognitiver und kommunikativer Wert für sprachliche Objektivierungs- und Mitteilungsprozesse genauer qualifiziert werden.
�� 6 Duden, Bd. 4, Die Grammatik, 20098, S. 906, § 1427. 7 Vgl. G. Helbig, Sind Negationswörter, Modalwörter und Partikeln im Deutschen besondere Wortklassen? In: G. Helbig, Studien zur deutschen Syntax, Bd. 2, 1984, S. 82‒94.
128 � Explizite sprachliche Negationsformen 4.2.1 Die Negation mit nein Etymologisch ist das Negationswort nein aus der morphologischen Verschmelzung des ahd. Negationspartikels ni mit einem Indefinitpronomen hervorgegangen (nicht ein = nein). Es diente dazu, Entscheidungsfragen kurz und bündig beantworten zu können (Hast du eine Katze? Nein = Nicht eine.) Diese Genese bzw. Funktion von nein legt es nahe, dieses Negationswort nicht nur als Einzelwort zu betrachten, sondern vielmehr als abgekürzte Form eines ganzen verneinten Antwortsatzes bzw. als einen satzwertigen sprachlichen Ausdruck. Dieses Verständnis des Wortes nein als Satzäquivalent ist insbesondere dann plausibel, wenn wir die Wörter nein und ja als verbindliche Antworten auf Entscheidungsfragen ansehen (Hast du das Auto gefahren? Nein = Ich habe das Auto nicht gefahren.). Das bedeutet, dass das Negationswort nein im Prinzip dazu dient, den propositionalen Gehalt einer Entscheidungsfrage metainformativ als unzutreffend zu qualifizieren. Falls man diese Zurückweisung emotional bzw. illokutionär verstärken will, dann kann man statt mit nein auch mit oh nein, aber nein, keineswegs oder keinesfalls antworten. Wenn nun in einer Entscheidungsfrage zwei implizite Propositionen enthalten sind, dann kann man natürlich weder mit einem affirmierenden ja noch mit einem negierenden nein antworten, weil unter diesen Umständen nicht klar ist, auf welche der Propositionen sich die jeweilige Antwort bezieht. In solchen Fällen muss man den Sachbezug des Negationswortes nachträglich erläutern. (Weißt du, ob die Rechnung bezahlt ist? Nein, das weiß ich nicht. / Nein, sie ist nicht bezahlt.). Das Negationswort nein leistet in Opposition zum Affirmationswort ja bei Entscheidungsfragen in Dialogen einen wichtigen Beitrag zur Weltorientierung der Kommunikanten. Es hilft, die Komplexität der Welt im Hinblick auf ganz bestimmte Oppositionen bzw. Alternativen zu reduzieren. Während Ergänzungsfragen dazu dienen, eine Leerstelle in einer bestimmten Vorstellungsbildung inhaltlich zu füllen (Wer hat das Auto gefahren?), dienen Entscheidungsfragen dem Sprecher dazu, die implizite Prädikation bzw. den propositionalen Gehalt einer Frage bestätigt oder verneint zu bekommen. Bei Entscheidungsfragen geht es nicht um den Aufbau oder die Präzisierung von bestimmten Sachvorstellungen, sondern lediglich um die Affirmation oder Negation von eigentlich schon formulierten Sachbehauptungen (Du hast das Auto gefahren!), die in der Form einer Frage versteckt werden (Hast du das Auto gefahren?). Bei der Beantwortung von Entscheidungsfragen wird dem Antwortenden keine Chance gegeben, sich an der inhaltlichen Strukturierung einer Sachvorstellung zu beteiligen. Diese steht schon fest und soll nur noch hinsichtlich ihrer faktischen Gültigkeit qualifiziert werden.
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Der mit Entscheidungsfragen verbundene kognitive und kommunikative Vereinfachungsprozess kann unter bestimmten Rahmenbedingungen pragmatisch gesehen sehr sinnvoll sein, weil er eine schnelle Orientierung über eine bestimmte Sachlage erleichtert. Er kann allerdings auch problematisch werden, wenn es um Sachverhalte geht, die einer solchen simplifizierenden Entscheidungsalternative nicht unterworfen werden können. Das trifft etwa zu, wenn es um Inhalte geht, für die wir keine empirisch fundierten Objektivierungsbegriffe haben bzw. über die sich keine Aussagen machen lassen, die sinnvoll mit wahr oder falsch bzw. mit ja oder nein zu beurteilen sind (Können Engel fliegen?). Hier wäre nämlich immer auch zu klären, was die Begriffe bedeuten sollen, die wir in den Entscheidungsfragen verwenden. Außerdem wäre zu beachten, dass Entscheidungsfragen so mit Vorwegannahmen (Präsuppositionen) angereichert sein können, dass der Angesprochene weder mit ja noch mit nein antworten kann, weil er in beiden Fällen dann auch die impliziten Prädikationen bzw. Behauptungen von Fragen als gültig oder denkbar anerkennen würde (Haben sie aufgehört, ihre Frau zu betrügen?). Die pragmatische Ambivalenz von Entscheidungsfragen (Konkretisierung von bestimmten Wahrnehmungsperspektiven; immanenter Zwang, bestimmte Denkperspektiven übernehmen zu müssen) färbt natürlich auch auf das Negationswort nein ab. Einerseits kann es in Dialogen natürlich dabei helfen, über Ausschlussverfahren Klarheit über die Existenz oder Nicht-Existenz eines Sachverhalts herzustellen und damit Handlungsentscheidungen zu erleichtern. Andererseits kann es aber auch die Gefahr heraufbeschwören, nur noch im Rahmen der jeweils vorgegebenen Alternativen zu denken und zu handeln und sich nicht mehr mit den Prämissen von Behauptungen bzw. Entscheidungsfragen zu beschäftigen. Wenn beispielsweise gefragt wird, ob Engel fliegen oder sprechen können, dann wäre vorab wohl zu klären, ob Engel überhaupt als körperliche Wesen zu verstehen sind, ob mit fliegen eine Fortbewegung im Luftraum gemeint ist und ob mit sprechen eine akustische oder eine mentale Erscheinungsform des Kommunizierens gemeint ist. Die ambivalenten Implikationen von Entscheidungsfragen bzw. des Gebrauchs des Negationswortes nein und des Affirmationswortes ja tritt wie schon erwähnt sehr deutlich in Verhören und insbesondere in Kreuzverhören im angelsächsischen Strafprozessordnungen hervor. Hier ist nämlich der Ankläger im Gegensatz zum deutschen Staatsanwalt Partei, da er die Geschworenen von seiner Sicht des Ablaufs einer Straftat zu überzeugen hat. Er wird sich deshalb immer bemühen, vereinfachende Entscheidungsfragen zu stellen, um Aussagemöglichkeiten im Hinblick auf klare Alternativen vorzustrukturieren. Gegen eine solche Strategie des fragenden Anklägers kann sich der Befragte nur wehren, wenn er faktisch und psychisch in der Lage ist, aus diesem Typ eines Frage-
130 � Explizite sprachliche Negationsformen Antwort-Spiels auszusteigen und damit zugleich auch ein Nein zu diesem ganzen Sinnbildungsverfahren zu äußern. Das wird möglich, wenn er Gegenfragen stellt, welche die in den Fragen jeweils verwendete Begrifflichkeit problematisieren, wenn er auf diskussionswürdige Implikationen von Entscheidungsfragen hinweist oder wenn er schlicht und einfach die Antwort auf solche Fragen verweigert. Verteidiger können außerdem vom Richter verlangen, dass er bestimmte Entscheidungsfragen als unzulässig verbietet, weil sie zu viele gravierende Vorwegannahmen enthalten. Aus diesen Überlegungen zum Status und zur Verwendung des Negationswortes nein in Dialogen lassen sich nun zwei wichtige Schlüsse ziehen. Zum einen kann das Negationswort nein so in ein Frage-Antwort-Spiel integriert werden, dass sein prinzipiell metainformativer Status gar nicht mehr auffällt, weil sich das Wahrnehmungsinteresse ganz auf das Ergebnis der sprachlichen Objektivierung von Sachverhalten richtet bzw. auf die faktische Existenz oder Nicht-Existenz der jeweils thematisierten Sachverhalte. Der metainformative Status des Negationswortes nein wird dann so in eine sachthematische Sachverhaltsobjektivierung integriert, dass sein sprachlogischer Status völlig verblasst und keinerlei besondere Aufmerksamkeit mehr auf sich zieht. Zum andern lässt sich das Negationswort nein so verwenden, dass es metakommunikativ immer anzeigt, dass man das jeweils praktizierte sachthematische Sinnbildungsverfahren für problematisch oder gar für unzulässig hält. Das setzt dann allerdings einen Wechsel der Aufmerksamkeit im Hinblick auf die Intentionsebene des jeweiligen Denkens und Sprechens voraus, der eine bestimmte mentale und psychische Stärke voraussetzt, insofern die bisherige sachthematische Kooperationseinstellung im Dialog gleichsam aufgekündigt wird. Dadurch isoliert sich der Antwortende in gewisser Weise vom Fragenden, was psychisch nicht immer leicht zu ertragen ist, weil man dadurch leicht in die Gefahr geraten kann, in die Rolle des Neinsagers bzw. Querulanten zu kommen. Das schließt nun allerdings nicht aus, auf einer anderen Ebene mit dem Dialogpartner doch wieder zu kooperieren. Diese unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten des Negationswortes nein bedeuten, dass es je nach Wahrnehmungsperspektive pragmatisch sowohl dem Verweigerungs- als auch dem Kooperationsprinzip zugeordnet werden kann. In beiden Fällen spielt es jedenfalls eine ganz zentrale Rolle in dialogisch orientierten Sinnbildungsprozessen, die ziemlich tief in den zerebralen Strukturen der Menschen verwurzelt sind. Das lässt sich recht gut im Hinblick auf bestimmte pathologische Sprachstörungen zeigen, die meist unter dem Sammelbegriff Aphasie zusammengefasst werden. Der Sprachverfall ermöglicht nämlich ebenso wie der Spracherwerb sehr interessante Rückschlüsse sowohl auf die Struk-
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turen unseres faktischen Sprachgebrauchs als auch auf die unseres faktischen Sprachsystems. Roman Jakobson hat diesbezüglich auf einen ganz bestimmten Typ von Aphasie verwiesen. Dieser bestehe darin, dass ein Sprecher unfähig werde, seinen eigenen Sprachgebrauch metareflexiv zu objektivieren und dabei einzelne Wörter so aus ihren jeweiligen aktuellen Gebrauchszusammenhängen herauszulösen, dass er sie im Hinblick auf ihre konventionalisierte Bedeutung bzw. ihre jeweiligen pragmatischen Funktion thematisieren und beschreiben könne. Diesen Sprachverlust interpretiert Jakobson als Verlust der Fähigkeit, die Sprache metasprachlich zu verwenden bzw. zu reflektieren, was natürlich eine konstitutive Voraussetzung dafür ist, die Sprache als universales Sinnbildungswerkzeug nutzen zu können. Diese Problematik illustriert Jakobson durch den Hinweis auf einen Patienten, der dazu aufgefordert worden war, auf ganz isolierte Weise nur das Wort nein zu äußern. Dazu war er zunächst völlig außerstande. Als er diesbezüglich immer wieder bedrängt wurde, äußerte er sich dann spontan folgendermaßen: „Nein, ich weiß nicht, wie man das macht!“8 Diese Reaktion ist insofern sehr aufschlussreich, als sie zeigt, dass der Patient das Wort nein in seiner situativen und pragmatischen Kontexteinbindung spontan sehr wohl sachthematisch und zweckdienlich verwenden kann, dass er aber unfähig ist, es zum Gegenstand einer isolierten und theoretischen Betrachtung zu machen. Dieses Beispiel einer aphatischen Störung dokumentiert wohl auch, dass der Gebrauch sprachlicher Negationsformen offenbar eine ganz bestimmte biologische bzw. neuronale Basis in den Ordnungsstrukturen und Operationsmöglichkeiten unseres Gehirns hat, die pathologisch gestört sein kann. Daraus lässt sich dann ableiten, dass sowohl die Ausbildung als auch die flexible Handhabung von Negationszeichen nicht nur eine ontogenetische und individuelle Grundlage hat, sondern auch eine phylogenetische und kulturelle. Klaus Heinrich hat deshalb auch facettenreiche kulturgeschichtliche Überlegungen über die Schwierigkeiten des Nein-Sagens angestellt.9 Das Nein-Sagen versteht er dabei in ambivalenter Weise sowohl als eine Ausdrucksform des Protestes als auch als eine des Defätismus. Einerseits könne man es nutzen, um Stärke zu demonstrieren, aber andererseits könne man seinen Gebrauch auch peinlich vermeiden, da man von der Angst geplagt werde, sich zu isolieren und in Einsamkeit zu geraten. Das Nein-Sagen könne man kultivieren, um sich von
�� 8 R. Jakobson, Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen, In: R. Jakobson, Aufsätze zur Linguistik und Poetik, 1974, S, 126. 9 K. Heinrich, Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, 1964.
132 � Explizite sprachliche Negationsformen anderen klar abzugrenzen und auf diese Weise seine eigene Identität auszubilden. Seinen Gebrauch könne man aber auch hintansetzen, um seine sozialen Bindungen nicht zu gefährden. Deshalb müsse das Nein-Sagen immer wieder neu mit dem Ja-Sagen ausbalanciert werden, weil beide Äußerungsformen zur individuellen und kulturellen Identitätsausbildung gehörten bzw. zu Gestaltungsprozessen im sozialen Raum. In diesem Zusammenhang ist es deshalb auch nicht überraschend, dass der Gebrauch des Negationswortes nein auch in psychoanalytischen Überlegungen eine besondere Aufmerksamkeit gefunden hat. Das Nein wird hier meist in den Bereich von Abfuhrbestrebungen eingeordnet bzw. als eine Abwehrgeste gegenüber einem Aggressor verstanden, die durchaus einen Autonomiezuwachs bei dem jeweiligen Nein-Sager erbringen könne. Die Verneinung sei ein Werk des Ichs und stehe im Zusammenhang mit Urteilsfunktionen. Nach Freud soll im Unterbewussten kein Nein existieren, da Triebe ihrer Tendenz nach immer bejahend seien. Deshalb kommt René A. Spitz dann auch zu folgendem Schluss: Die Erwerbung des „Nein“ ist der Indikator für die neu erreichte Stufe der Autonomie, für die Wahrnehmung des „Anderen“ und die Gewahrung des „Selbst“. Es bezeichnet den Beginn einer Neustrukturierung der Denkvorgänge auf einer höheren, komplexeren Ebene. Es gibt den Anstoß zu einer ausgedehnten Ichentwicklung, in deren Rahmen die Vorherrschaft des Realitätsprinzips über das Lustprinzip immer ausgeprägter wird.10
Aus alldem lässt sich nun schließen, dass man zu einfach urteilt, wenn man die Verwendung des Negationswortes nein nur als ein Mittel der Abwehr oder der Ablehnung versteht und nicht auch als ein Mittel der Gestaltung oder gar der Versöhnung auf einer höheren Sinnbildungsebene. Der Gebrauch des Wortes nein in dialogischen Sprech- und Handlungsprozessen ist ein dialektischer Faktor, der Sinnbildungsprozesse nicht nur akzentuiert und strukturiert, sondern auch vorantreibt, da damit immer auch Werdensprozesse verbunden sind. Wenn man dieser Argumentation hinsichtlich der anthropologischen Relevanz von Negationen folgt, dann ist die differenzierte Ausbildung und Nutzung von Negationszeichen eine kulturelle und individuelle Notwendigkeit, weil sich nur dadurch soziale und kognitive Interaktions- und Sinnbildungsprozesse voll entfalten können. Die differenzierte Verwendung des Negationswortes nein und anderer Negationszeichen gehört zu den Verfahren, bestimmte Inhaltsvorstellungen zurückzuweisen, um sie gerade dadurch in neue Relationsgeflechte einzufügen und auf einer anderen Ebene wieder nutzbar zu machen. So gesehen ist das Nein-Sagen dann auch ein Absicherungsverfahren gegen die Sprach�� 10 R. A. Spitz, Nein und Ja. Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, 19924, S. 111.
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losigkeit, die aus dem absoluten Einssein oder der absoluten Differenz sowohl in der sinnlichen als auch in der sozialen Welt resultiert. Das Nein-Sagen, in welcher faktischen Form auch immer, hält das Denken, Wahrnehmen und Kommunizieren in Fluss, weil daraus immer wieder neue Wissensbedürfnisse resultieren. Die These, dass das Wort nein nicht nur als Abwehrgeste bei Entscheidungsfragen zu verstehen ist, sondern dass es ebenso wie andere Negationsmittel auch als ein Gestaltungsmittel zu werten ist, lässt sich auch noch durch folgende Beobachtung stützen. Das Wort nein verwenden wir nämlich nicht nur als Negationsmittel, um den Geltungsanspruch von bestimmten Aussagen bzw. Propositionen abzuwehren, sondern auch als ein Signal, um bestimmten Modalisierungsintentionen Ausdruck zu geben bzw. seiner Verwunderung über die Existenz bestimmter Tatbestände: Nein, ist das schön! / Nein, damit habe ich aber überhaupt nicht gerechnet! Bei dieser Verwendung des Negationswortes nein will man seine eigene Erwartung korrigieren bzw. seiner eigenen positiven Überraschung einen sprachlichen Ausdruck geben. Eine ähnliche selbstinterpretative Gestaltungsfunktion kommt dem Wort nein zu, wenn wir es als Warn- und Korrektursignal in Selbstgesprächen verwenden (Nein, das sollte ich lieber nicht machen!). In diesem Zusammenhang lässt sich auch darauf verweisen, dass im alltäglichen und insbesondere im kindlichen Sprachgebrauch das Wort nein häufig auch als eine generelle Abwehrgeste im Sinne von „lass mich in Ruhe“ verwendet wird (vgl. Kap. 2.3.2). Sofern man das Wort nein als eine recht pauschale verbale Abwehrgeste versteht, dann ist auch interessant, dass die entsprechenden rein körperlichen Abwehrgesten durchaus unterschiedliche kulturelle Ausprägungsformen gefunden haben. Beispielsweise versteht man in den meisten Gebieten Europas das Kopfnicken als Bejahungs- und das Kopfschütteln als Verneinungsgeste. Jakobson hat nun aber darauf aufmerksam gemacht, dass beispielsweise auf dem Balkan und in bestimmten Gebieten des östlichen Mittelmeerraumes diesbezüglich ganz andere Konventionen gelten, was dann natürlich in interkulturellen gestischen Kommunikationsprozessen zu erheblichen Missverständnissen führen kann. So gelte etwa bei den Bulgaren das Heben und Senken des Kopfes als Verneinungsgeste, was natürlich sehr leicht mit dem in Europa sonst üblichen Kopfnicken als Zustimmungsgeste verwechselt werden könne.11
�� 11 Vgl. R. Jakobson, Motor signs for ‘Yes’ and ‘No’, Language in Society, 1, 1972, S. 91‒96.
134 � Explizite sprachliche Negationsformen 4.2.2 Die Negation mit nicht Das Negationswort nicht ist sicherlich als unser häufigstes und wichtigstes verbales Negationsmittel anzusehen, ohne das eine funktionierende sprachliche Kommunikation und Argumentation gar nicht mehr vorstellbar ist. Wenn man nun die sprachlichen Negationsformen im Prinzip zu den interpretierenden Modalisierungsformen der Sprache rechnet, dann ist mit dem Negationswort nicht eine sehr extreme Modalisierungsfunktion verbunden. Es kann nämlich nicht nur dazu dienen, den konkreten Informationsanspruch von einzelnen Begriffen und Vorstellungen aufzuheben, sondern auch den Wahrheitsanspruch ganzer Aussagen. Immer wenn ein ganz bestimmter individueller Denkinhalt im Sinne der Gestaltpsychologie als Wahrnehmungsfigur kontrastiv von einem allgemeinen Hintergrund abgehoben bzw. kontrastiv unterschieden werden soll, ist der Gebrauch dieses Negationsmittels ganz unverzichtbar. Die pragmatische Relevanz dieses Negationszeichens ergibt sich aber nicht nur durch seine Funktionen in konkreten sprachlichen Objektivierungs- und Argumentationsprozessen, sondern auch durch die Verschränkung seiner Gebrauchsmöglichkeiten mit unseren allgemeinen empirischen Wissensbeständen und Denkmöglichkeiten. Das illustriert folgendes kleines Sprachspiel recht gut: Was man nicht verloren hat, das hat man noch. Hörner habe ich nicht verloren, also habe ich sie noch. Die konkrete Negationsfunktion des Wortes nicht lässt sich nicht so leicht beschreiben, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, weil mit ihm ganz unterschiedliche Negationsbezüge und Kontrastierungsfunktionen verbunden sein können. Je nach seiner Position in einer Aussage, je nach seiner Intonation und je nach seiner Situationseinbindung kann der konkrete Negationseffekt dieses Negationswortes recht unterschiedlich ausfallen. Es lässt sich nämlich nicht nur bei der Formierung von prädikativen Aussagen, sondern auch bei der von einzelnen Satzgliedern bzw. Satzelementen verwenden. In bestimmten Gebrauchszusammenhängen wie etwa rhetorischen Fragen kann es sogar die Rolle eines Abtönungs- bzw. Modalpartikels übernehmen und damit eine Negationsfunktion, die gar nicht mehr auf einer sachbezogenen bzw. propositionalen Ebene liegt, sondern auf einer handelnden bzw. illokutionären Ebene (Willst du nicht kommen?). In manchen Gebrauchszusammenhängen kann es dann auch durch die intensivierenden Negationswörter nie bzw. niemals ersetzt werden (Sie klagt nicht/nie/niemals.), die dann allerdings zusätzlich auch zeitliche Aspekte mit ins Spiel bringen. Die sprachhistorische Herkunft des deutschen Negationswortes nicht verrät, dass es aus der Verstärkung des einfachen grammatischen Negationspartikels ni durch eine zusätzliche lexikalisch-bildliche Vorstellungsverstärkung hervorge-
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gangen ist, wie wir es beispielsweise auch im Französischen finden (ne … pas = nicht einen Schritt). Etymologisch geht das Wort nicht nämlich aus der ahd. Wortprägung ni-eô-wiht bzw. niowicht hervor, die ursprünglich soviel wie nichtein-Ding bedeutet hat. Daraus lässt sich entnehmen, dass das Negationswort nicht zunächst dazu gedient hat, eine bestimmte Sachvorstellung hinsichtlich ihrer faktischen Gültigkeit bzw. ihrer Korrespondenz zu Realität nachhaltig in Frage zu stellen bzw. zu negieren. Dabei war es dann zunächst unerheblich, ob es sich dabei um den sachlichen Inhalt eines Aussagesatzes, eines Satzgliedes oder eines Wortes handelte. Da sich diese unterschiedlichen Negationsbezüge aber nach und nach doch als sehr wichtig herausgestellt haben, hat der Duden dann zwischen einer Satznegation, die sich auf die ganze Satzaussage bezieht, und einer Sondernegation, die sich auf einzelne Satzglieder bzw. Satzelemente bezieht, unterschieden. Diese Unterscheidung ist nicht allgemein akzeptiert worden.12 Sie ist aber gleichwohl hilfreich, um unsere Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass je nach Positionierung und Betonung des Wortes nicht in Äußerungen seine konkrete Einspruchsinstruktion bzw. sein Geltungs- und Wirkungsbereich (Skopus) ganz unterschiedlich ausfallen kann. Dabei sollte man dann allerdings auch nicht vergessen, dass formallogisch gesehen der mögliche korrespondenztheoretische Wahrheitsgehalt einer ganzen Aussage nicht mehr als gegeben angesehen werden kann, wenn einzelne Aussageelemente keine faktische Referenz haben. Von einer Satznegation lässt sich beim Negationswort nicht immer dann sprechen, wenn es in einer Aussage so platziert wird, dass es das jeweilige Prädikat bzw. den ganzen Prädikatsverband mit Einschluss der jeweiligen Objekte und Adverbiale betrifft. Unter diesen Umständen signalisiert es dann, dass die jeweilige Satzaussage zu Unrecht dem jeweiligen Satzgegenstand bzw. Subjekt zugeordnet worden ist bzw. dass zwischen dem Gegenstandsbegriff und dem Bestimmungsbegriff einer Prädikation keine gültige Determinationsrelation vorliegt (Paul ist gestern nicht mit dem Auto nach Berlin gefahren). Demgegenüber kann man von einer Sondernegation immer dann sprechen, wenn das Negationswort nicht syntaktisch so platziert wird, dass damit nur die �� 12 Vgl. J. Jacobs, Syntax und Semantik der Negation im Deutschen, 1982, S. 39ff. Der Gegenvorschlag von Jacobs, zwischen einer kontrastierenden und einer nicht-kontrastierenden Negation zu unterscheiden, ist aber nicht übersichtlicher und erklärungsstärker und hat sich deshalb in der Folgediskussion auch nicht durchgesetzt. Zur Unterscheidung von Satznegation und Sondernegation vgl. auch folgende Publikationen: G. Stickel, Untersuchungen zur Negation im heutigen Deutsch, 1970, S. 153ff. M. Nussbaumer/H. Sitta, Negationstypen im Spannungsfeld von Satznegation und Sondernegation, Deutsch als Fremdsprache 23, 1986, S. 348‒359. K. Adamzik, Probleme der Negation im Deutschen, 1987, S. 169ff.
136 � Explizite sprachliche Negationsformen aktuelle referenzielle Gültigkeit des jeweils nachfolgenden Satzelementes aufgehoben werden soll. Zur Akzentuierung der Negation als Sondernegation lässt sich in Zweifelsfällen außerdem auch noch die nachdrückliche Intonation der jeweiligen Bezugsgröße einsetzen (Nicht P a u l ist gestern mit dem Auto nach Berlin gefahren. Paul ist nicht g e s t e r n mit dem Auto nach Berlin gefahren. Paul ist gestern nicht m i t d e m A u t o nach Berlin gefahren. Paul ist gestern mit dem Auto nicht n a c h B e r l i n gefahren.). Sondernegationen verwendet man nur, wenn man seine Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Einzelaspekte der Ungültigkeit der jeweiligen Gesamtaussage richten will. Deshalb bietet sich dann auch an, bestimmte korrigierende und präzisierende Zusatzinformationen zu vermitteln, die über das kontrastierende grammatische Instruktionszeichen sondern eingeleitet werden (Paul ist nicht gestern, sondern heute mit dem Auto nach Berlin gefahren.). Wahr im Sinne der Korrespondenztheorie können natürlich nur solche Äußerungen sein, die als Aussagen bzw. als Tatsachenbehauptungen in Erscheinung treten und nicht als Fragen oder als Aufforderungen. Solche Tatsachenbehauptungen lassen sich durch die Verwendung des Negationswortes nicht dann semantisch durchaus umpolen (Das Glas ist zerbrochen. Das Glas ist nicht zerbrochen.). Eine solche semantische Umpolung ändert an der Struktur einer Tatsachenbehauptung, die wahr oder falsch sein kann, allerdings nichts. Auch negierte Aussagen können natürlich sachthematisch wahr oder falsch sein. Bei dem Wahrheitsverständnis von deskriptiven Behauptungssätzen ist zu beachten, dass es neben den expliziten prädikativen Behauptungen auch noch implizite gibt. Diese konstituieren sich dadurch, dass in jeder expliziten Aussage gleichsam implizit immer mitbehauptet wird, dass die jeweils verwendeten Wörter im Rahmen der üblichen Sprachkonventionen kategorial bzw. syntaktisch richtig verwendet werden. Wenn solche impliziten Mitbehauptungen unzutreffend sind, dann ist eine Aussage von vornherein unsinnig bzw. falsch und braucht hinsichtlich ihres faktischen Wahrheitsgehaltes auch nicht mehr empirisch überprüft zu werden (*Primzahlen sind grün.). Eine semantische Umpolung der Aussage durch das Negationswort nicht ändert dabei am Wahrheitsgehalt des Satzes gar nichts (*Primzahlen sind nicht grün.). Probleme ergeben sich in diesem Zusammenhang allerdings bei metaphorischen Redeweisen. Hier nehmen wir an, dass diese uns auch dann etwas Sinnvolles mitteilen wollen, wenn sie gegen übliche begriffliche Kombinationskonventionen verstoßen (Die Ruinen reden. Die Ruinen reden nicht.). Beide Sätze können sinnvoll sein bzw. wahr oder unwahr, wenn wir das Verb reden nicht als Bezeichnung für eine akustische sprachliche Mitteilungsform verstehen, sondern als Bezeichnung für eine zeichenbasierte Mitteilungsform schlechthin.
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Die relativ übersichtliche Lage beim Gebrauch des Negationswortes nicht in deskriptiven Aussagesätzen bzw. im Rahmen der sachthematischen Darstellungsfunktion der Sprache ändert sich beträchtlich, wenn wir unser Interesse auf die Verwendung dieses Wortes in sprachlichen Äußerungen richten, in denen die Sprache primär eine Ausdrucks- oder Appellfunktion hat bzw. eine soziale Interaktionsfunktion. Unter diesen Umständen kann nämlich das Wort nicht eine ganz andere Sinnbildungsintention als in rein deskriptiven Äußerungen bekommen, die sich primär ja nur auf die Welt der Objekte beziehen sollen. Auf einen solchen auch in der Welt der Subjekte verankerten Sprachgebrauch treffen wir beispielsweise in Höflichkeitsfloskeln oder in rhetorischen Fragen. Hier geht es primär nämlich nicht um die sprachliche Thematisierung von möglichen Sachverhalten, die in einer affirmierenden oder negierenden Denkperspektive objektiviert werden können, sondern eher um die Kontaktaufnahme zu anderen Personen bzw. um die Beeinflussung von Dialogpartnern. Deskriptive Sachinformationen werden unter diesen Umständen dann allenfalls als Transportvehikel für die Vermittlung von ganz anderen Informationskategorien verwendet. Beispielsweise wollen Höflichkeits- oder Unmutsfloskeln pragmatisch gesehen keine Feststellungen treffen, sondern nur bestimmten sozialen Beziehungen Ausdruck verleihen bzw. solche herstellen (Was du nicht alles weißt! Wo du dich nicht immer herumtreibst!). Das Wort nicht fungiert in solchen Äußerungen nicht im üblichen Sinne als sachthematisch orientiertes Negationswort, sondern eher als ein Mittel, mit dem ein Sprecher Bewunderung oder Kritik ausdrücken kann. In ganz ähnlicher Weise lässt sich das Wort nicht auch in rhetorischen Fragen verwenden, auf die keine konkrete Antwort erwartet wird, weil in ihnen ja eigentlich Feststellungen getroffen werden, die nur in die Form einer Frage verkleidet sind (Habe ich das nicht schon gesagt? Ist das nicht schön?) Im Hinblick auf diese Verwendungsweisen des Wortes nicht, stellt sich nun die Frage, ob es bei diesem Gebrauch seine Negationsfunktion gänzlich verliert oder nur funktional verändert. Oft wird argumentiert, dass in dieser Gebrauchsweise das Wort nicht seinen Status als Negationswort verliert und zu einem Modal- bzw. Abtönungspartikel mutiert.13 Diese Beurteilung kann sich darauf stützen, dass das Wort nicht in dieser Verwendungsweise immer unbetont verwendet wird bzw. bei einer akzentuierten Betonung wieder des Status eines normalen Negationswortes bekommen kann (Ist er nicht intelligent? Ist er n i c h t intelligent?). Außerdem lässt sich in diesem Zusammenhang auch darauf verweisen, dass die Kategorie �� 13 Vgl. G. Helbig, Lexikon deutscher Partikeln, 1988, S. 179ff.
138 � Explizite sprachliche Negationsformen der Negation eine genuine Verwandtschaft mit der Kategorie der Modalität hat, worauf ja wie schon erwähnt insbesondere Admoni aufmerksam gemacht hat. Peter Eisenberg hat daher auch betont, dass die Verneinung der Extremfall einer allgemeinen Gültigkeitseinschätzung sei. Das Wort nicht ist deshalb für ihn „der Extremfall eines modalen Adverbs, mit dem etwas über die Geltung von Sachverhalten ausgesagt wird.“14 Eine kategoriale Unterscheidung zwischen dem Negationswort nicht und dem Modal- bzw. Abtönungspartikel nicht ist zweifellos möglich. Sie ist gleichzeitig aber auch etwas unbefriedigend, weil dadurch die Komplexität der Negationsinstruktionen dieses Wortes abstraktiv vereinfacht wird. Die logische Bewältigung der Funktionen des Negationswortes nicht wird auf diese Weise zwar erleichtert, aber die pragmatische eher nicht, weil man nun die mit diesem Negationszeichen verbundenen kommunikativen Intentionen nicht auf eine einheitliche Wurzel zurückführen kann. Das lässt sich aber mit Hilfe des Begriffs Korrektursignal ganz gut bewerkstelligen. Wenn man so ansetzt, dann kann die Verwendung des Wortes nicht auch in Floskeln und rhetorischen Fragen als ein Negationswort im Sinne eines Korrekturzeichens verstanden werden. Es hat dann freilich eine ganz andere Bezugsebene als in deskriptiven Sachaussagen. Die pragmatische Funktion des Wortes nicht darf nun nämlich nicht mehr im Kontext der Wahrheitsfrage diskutiert werden, sondern nur noch im Kontext der Gelingensfrage, wie sie beispielsweise im Rahmen der Sprechakttheorie ausgearbeitet worden ist. Während in deskriptiven Aussagesätzen das Wort nicht als Korrektursignal das Ziel hat, bestimmte Sachvorstellungen als aktuell unzutreffend abzuwehren, ist es in Floskeln und rhetorischen Fragen immer in die Bemühungen des Sprechers eingebunden, das übliche Verständnis der sprachlichen Handlungen zu korrigieren. Beispielsweise kann ein Sprecher auf diese Weise die Direktheit von Fragehandlungen aus Gründen der Höflichkeit abmildern (Willst du nicht schlafen?). Das bedeutet, dass auch in diesen Gebrauchsfällen das Wort nicht seine Negationsfunktion nicht einbüßt, sondern nur auf eine andere Kommunikationsebene verlagert. Die metainformative Korrekturinformation dieses Negationswortes richtet sich dann nicht mehr auf bestimmte sachthematische Vorstellungsinhalte, sondern auf die pragmatischen Umstände, in denen diese in Erscheinung treten sollen. Daher kann unter diesen Gebrauchsumständen seine Korrekturfunktion auch mit den Phänomenen der Höflichkeit, der Schmeichelei, des Unmutes oder der Kritik in Verbindung gebracht werden. �� 14 P. Eisenberg, Grundriß der deutschen Grammatik Bd. 2, 1999, S. 215.
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Hinsichtlich der pragmatischen Grundfunktionen des Negationswortes nicht ist außerdem zu beachten, dass es sich durch bestimmte Zusätze auch hinsichtlich seiner Negationsintensität verstärken lässt (gar nicht, überhaupt nicht, nicht im Geringsten). Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass es Synonyme hat, durch die auf bestimmte zeitliche, räumliche und modale Negationsimplikationen aufmerksam gemacht werden kann (nie, niemals, nirgendwo, nirgendwohin, keinesfalls, keineswegs). All das ist nicht wirklich überraschend, wenn man das Negationspotenzial von Negationszeichen über ihre pragmatische Einspruchs- bzw. Korrekturfunktion aufzuklären versucht, die natürlich nicht nur rein sachthematisch, sondern in vielen Fällen auch reflexionsthematisch orientiert sein kann.
4.2.3 Die Negation mit nichts Die Klärung der konkreten Negationsfunktionen des Wortes nichts ist nicht einfach. Dabei muss nämlich beachtet werden, dass es zwar historisch aus dem Negationswort nicht abgeleitet worden ist, aber dass es sich dann zu einem Negationspronomen entwickelt hat, welches sich natürlich syntaktisch ganz anders verwenden lässt als das ursprüngliche Negationswort nicht. Diese Problemlage hat sich außerdem noch dadurch verschärft, dass es seit dem 16. Jh. im Deutschen sogar substantiviert verwendet werden konnte (das Nichts) und dass es auch bei der Bildung von Komposita genutzt wurde (der Nichtsnutz). Etymologisch gesehen ist das Wort nichts aus der negationsverstärkenden mhd. Genitivkonstruktion nihtes niht hervorgegangen, wobei dann das zweite niht im Laufe der Zeit getilgt worden ist. Das bedeutet, dass es sich bei der Wortprägung nichts ursprünglich um eine Verdoppelungs- bzw. Intensivform des negierenden Ausdrucks nicht (mhd. niwiht = nicht ein Ding/nicht etwas) gehandelt hat, die sich grammatisch dann zu einem negierten Indefinitpronomen bzw. zu einem Negationspronomen transformiert hat. Dieser Prozess ist morpho-syntaktisch gesehen natürlich sehr bedeutsam, insofern nun das Negationswort nichts als Negationspronomen in konkreten Äußerungsprozessen problemlos die syntaktische Funktionsrolle eines Subjekts bzw. Objekts übernehmen konnte, was dann natürlich auch seine Substantivierung sehr erleichtert hat. Die Negationsimplikationen des Wortes nichts lassen sich am besten erschließen, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass es genetisch aus einer Negationswiederholung im Sinne einer intensivierenden Verneinung hervorgegangen ist. Das kann man dann etwas umständlich folgendermaßen paraphrasieren: nichts = nicht ein Ding von nicht einem Ding bzw. pronominal gewendet nicht
140 � Explizite sprachliche Negationsformen etwas von nicht etwas. Diese pronominalen und intensivierenden Implikationen des Wortes nichts sind nun natürlich sehr bedeutsam, um die mit ihm verbundenen Negationsintentionen adäquat zu erfassen. Hinsichtlich seiner grammatisch-syntaktischen Funktionsrolle als Pronomen bzw. als Umrisswort oder Leerform fordert uns das Wort nichts im aktuellen Gebrauch formal immer dazu auf, es semantisch zu füllen bzw. referenziell einer konkreten Vorstellungsgröße zuzuordnen. Das ist nun aber aus zwei Gründen faktisch unmöglich. Einerseits tritt es nämlich als ein Indefinitpronomen in Erscheinung, dessen realer referenzieller Bezug sich nicht präzisieren lässt. Andererseits wird es als Indefinitpronomen auch noch negiert und damit von jeder denkbaren konkreten semantischen Füllung ausgeschlossen. Als Negationswort bleibt dem Worte nichts also nur noch eine rein formale syntaktische Funktionsrolle in prädikativen Strukturen übrig, die entgegen unseren üblichen sprachlichen Erwartungen weder referenziell konkretisiert noch semantisch gefüllt werden kann. Aus dieser Gegenläufigkeit von grammatisch bedingter Informationserwartung einerseits und faktischer Informationsleistung andererseits können sich dann beim Gebrauch des Negationspronomens nichts recht paradoxe Mitteilungsformen ergeben, die bei der sprachlichen Gestaltung von bestimmten Redewendungen, Aphorismen und Rätseln weidlich genutzt werden. Das mögen folgende Beispiele exemplifizieren und illustrieren: Von nichts kommt nichts. Ich weiß, dass ich nichts weiß. (Sokrates) Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug. (Epikur von Samos). Wenn weniger mehr ist, ist dann alles nichts? (Markus Prem) Ich spreche gerne von nichts, das ist das einzige, wovon ich wirklich etwas verstehe. (Oscar Wilde) „Nichts ist unmöglich“, sagt ein berühmter Werbespruch. Ich tue schon seit Jahren nichts und beweise damit, dass „nichts“ möglich ist. (Willy Meurer) Was ist das? Es ist größer als Gott, die Toten essen es, und wenn die Lebenden es essen, dann müssen sie sterben. (mittelalterliches Rätsel)
Psychologisch gesehen ist mit der Verwendung des Negationspronomens nichts in sprachlichen Mitteilungs- und Sinnbildungsprozessen weniger ein normaler Erwartungsstopp hinsichtlich der Geltung von ganz bestimmten Aussagen,
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Begriffen oder Vorstellungen verbunden, sondern eher die sprachliche Objektivierung einer weitreichenden Erwartungsenttäuschung über die darstellende Leistungskraft der Sprache für ganz bestimmte Inhalte. Daher lässt sich dem Negationspronomen nichts dann auch in einem dialektischen Sinne durchaus eine ganz spezifische reflexionsthematische Sinnbildungsfunktion zuschreiben. Es wird nämlich dazu verwendet, kenntlich zu machen, dass im aktuellen Fall die konventionell verwendbare Sprache für den Sprecher an die Grenze ihrer erwartbaren sachthematischen Darstellungsleistung gekommen ist. So betrachtet lässt sich daher der Gebrauch des Negationswortes nichts auch als ein Indikator für einen spezifischen individuellen Reflexionsvorgang beim jeweiligen Sprecher betrachten. Während das einfache Indefinitpronomen etwas als ein Umrisswort in Erscheinung tritt, das durch ein konkretes Substantiv oder Verb ersetzbar ist (Sie lernt etwas. Sie lernt Englisch. Sie lernt zu sprechen.), ist das Negationspronomen nichts durch keine sprachlichen Ausdrücke ersetzbar, die konkretisierbare Sachvorstellungen bezeichnen. Es fungiert zwar formal als Pronomen bzw. als Zeigewort, aber es signalisiert zugleich auch, dass es prinzipiell nicht durch lexikalische Nennwörter ersetzt werden kann. Damit steht es einerseits in einer kontradiktorischen Opposition zu dem Indefinitpronomen etwas und andererseits in einer konträren Opposition zu dem Indefinitpronomen alles, obwohl es formal bzw. syntaktisch genau wie diese beiden verwendet werden kann (Er trinkt etwas/alles/nichts.) Auch das Bonmot eines Journalisten kann diese Problematik recht gut veranschaulichen: Was hat er denn in seiner großen Rede im Parlament gesagt? Nichts. Ja, ich weiß, aber wie hat er das formuliert? Sprachordnungen und Sachordnungen geraten bei einem solchen Gebrauch des Negationspronomens nichts in eine deutliche Spannung zueinander, die uns zeigt, dass wir in die Irre geführt werden können, wenn wir uns im Denken und Wahrnehmen ganz auf den Leitfaden der Sprache bzw. auf den von Lexik und Grammatik verlassen. Das exemplifizieren insbesondere sophistische Sprachspiele sehr gut, die sich den äußeren Anschein von sachthematischen Schlussfolgerungsprozessen geben, obwohl sie faktisch keine solchen sind. Das mag folgendes Beispiel veranschaulichen. Nichts ist besser als die ewige Glückseligkeit. Aber ein Käsebrötchen ist besser als nichts. Folglich ist ein Käsebrötchen besser als die ewige Glückseligkeit.
Dieses paradoxe Sprachspiel lebt davon, dass das Wort nichts im Verlaufe des Argumentationsprozesses in einer je unterschiedlichen Funktion verwendet wird, was die klassische Schlussfolgerungslogik natürlich zu Recht strikt verbietet. Im ersten Satz wird das Wort nichts auf ganz übliche Weise als negiertes
142 � Explizite sprachliche Negationsformen Indefinitpronomen verwendet, das uns zu einer negierenden sachthematischen Denkoperation auffordert, aber nicht zur Aktivierung einer bestimmten Inhaltsvorstellung, wofür dann ja üblicherweise bestimmte Substantive in Anspruch zu nehmen wären. Deshalb wäre der erste Satz auch folgendermaßen inhaltlich paraphrasierbar: Man kann sich nicht etwas konkret vorstellen, was besser wäre als die ewige Glückseligkeit. Im zweiten Satz wird das Wort nichts nun aber nicht als negiertes Indefinitpronomen verwendet, sondern vielmehr als Bezeichnung für eine leere Menge, also als ein Begriff, dem kein konkreter Erfahrungs- oder Vorstellungsinhalt zugeordnet werden kann und der damit als eine empirisch nutzbare Ordnungskategorie auch völlig nutzlos ist. Deshalb wäre hier auch in Erwägung zu ziehen, das Wort nichts groß zu schreiben und es als Repräsentanten eines Substantivs anzusehen. Dadurch ließe sich nämlich signalisieren, dass es syntaktisch nicht als semantisch füllbares Pronomen verwendet wird, obwohl es grammatisch natürlich eine solche Formhülse repräsentiert, für die es dann allerdings keinen konkret vorstellbaren oder denkbaren Inhalt gibt. Deshalb wäre der zweite Satz auch folgendermaßen zu paraphrasieren: Ein Käsebrötchen ist besser als das Hirngespinst einer leeren Menge.15 Wenn wir uns vor Augen führen, dass uns das Negationswort nichts leicht dazu verführen kann, es nicht nur als ein negiertes Indefinitpronomen zu verstehen und damit im Prinzip als eine bloße sprachliche Denk- bzw. Reflexionsfigur, sondern auch als Hinweis auf eine eigenständige semantische Größe oder gar als Hinweis auf einen kategorialen ontologischen Ordnungsbegriff, dann wird auch unsere Neigung verständlich, es einfach zu substantivieren. Dazu soll dann noch näher im Zusammenhang mit den Überlegungen zur Negationsproblematik in Begriffsbildungsprozessen eingegangen werden (Kap. 5.3).
4.2.4 Die Negation mit niemand Auf ganz ähnliche Struktur- und Sachprobleme wie bei dem Negationspronomen nichts stoßen wir bei dem Negationspronomen niemand. Allerdings werden bei diesem nicht mögliche Sachvorstellungen, sondern vielmehr mögliche Personenvorstellungen zum Bezugsgegenstand der jeweiligen Negationshandlung.
�� 15 Einen ähnlichen inadäquaten Schlussfolgerungsprozess hat auch G. Ch. Lichtenberg thematisiert: Sudelbücher Bd. 1, S. 191, C 179. „A leg of mutton is better than nothing,/ Nothing is better than heaven,/ Therefore a leg of mutton is better than heaven.”
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Dieses Negationspronomen lässt sich nämlich sprachgeschichtlich aus der Negation des personenbezogenen Indefinitpronomens jemand ableiten (niemand = nicht jemand). Semantisch gesehen steht das Negationspronomen niemand in einer kontradiktorischen Oppositionsrelation zu dem Indefinitpronomen jemand und in einer konträren Oppositionsrelation zu dem Indefinitpronomen alle. Syntaktisch gesehen ist für das Negationspronomen niemand bezeichnend, dass es trotz der fehlenden Möglichkeit, es auf eine faktisch existierende Person zu beziehen, es dennoch wie normale Pronomen die Funktionsrolle von Subjekten oder Objekten übernehmen kann und dass es sich sogar flektieren lässt, um seine jeweilige syntaktische Aufgabe klar zu kennzeichnen (Er schuldete niemandem Dank). Merkwürdigerweise lässt sich das Negationspronomen niemand ähnlich wie das Negationspronomen nichts trotz seiner fehlenden faktischen Referenzialisierbarkeit und ontischen Leere in seiner Negationsintensität abstufen (Er kennt hier fast niemanden. Er trinkt fast nichts). Sachlogisch betrachtet ist dieser Sprachgebrauch ziemlich paradox. Wie soll man das negierte Indefinitpronomen niemand, das ja im Prinzip eine leere Menge bezeichnet, hinsichtlich der Zahl seiner Mitglieder abstufen? Das mag bei einem normalen Indefinitpronomen noch hingehen (nicht viele), aber bei einem negierten Indefinitpronomen ist es rein sachthematisch gesehen doch schon recht seltsam. Eine solche Redeweise dient pragmatisch gesehen offenbar nur dazu, die Menge der möglichen Personen einzuschränken, auf die das Negationspronomen niemand Bezug nehmen soll, aber nicht dazu, grundsätzlich zu verneinen, dass mit diesem Negationspronomen irgendeine Person benannt werden kann. Wenn eine Person in einer Stadt fast niemanden kennt, dann kann sie durchaus einige kennen. Solche Redeweisen dienen nicht dazu, einen bestimmten ontischen Tatbestand zu thematisieren, sondern nur dazu, bestimmte Erwartungsnormen zu relativieren. Das entspräche dann auch den unterschiedlichen stilistischen Benennungsweisen halbleeres Glas und halbvolles Glas. Aus der syntaktischen Möglichkeit, das Negationspronomen niemand wie andere Pronomen auch als Subjekt oder Objekt zu nutzen, ergeben sich wie schon angedeutet erhebliche ontologische und logische Probleme. Grammatisch gesehen wird nämlich dadurch suggeriert, dass dieser sprachliche Ausdruck ebenso wie andere Pronomen auch als ein Zeigewort in Anspruch genommen werden kann, das im Prinzip durch ein lexikalisches Nennwort ersetzbar ist. Dabei wird dann aber leicht übersehen, dass mit dem Negationspronomen niemand keine faktische Person sachthematisch erfasst werden kann, sondern dass mit ihm nur eine Denkform aktiviert wird, die etwas in die Vorstellung rufen soll, was eigentlich nur über einen negierenden Interpretationssatz the-
144 � Explizite sprachliche Negationsformen matisiert werden kann (Ich kenne niemanden in der Stadt. = Es ist nicht der Fall, dass ich eine Person in der Stadt kenne.) Aus der Spannung zwischen der grammatischen Formstruktur einer Aussage mit dem Negationspronomen niemand und der sprachlich darzustellenden ontischen Sachstruktur können sich dann erhebliche kommunikative Turbulenzen ergeben. Das wird uns immer wieder in bestimmten Sprachspielen vor Augen geführt. Als der listenreiche Odysseus mit seinen Gefährten zu den Kyklopen verschlagen wird und hier von dem einäugigen Riesen Polyphem nach seinem Namen gefragt wird, bezeichnet er sich als Niemand. Das ist zwar grammatisch unzulässig, aber es erweist sich später als ein genialer pragmatischer Schachzug. Als nämlich Polyphem nach seiner Blendung durch Odysseus grässlich zu schreien anfängt und die anderen Kyklopen aus der Ferne fragen, wer ihm denn ein Leid angetan habe, antwortet er naiv: „Niemand“. Daraufhin beruhigen sich seine Genossen und gehen ihrer Wege, weil sie Polyphem für etwas verwirrt halten. Das trifft in einem sprachtheoretischen Sinne auch tatsächlich zu, weil das Wort niemand von Polyphem nicht als ein negiertes Indefinitpronomen verwendet wird, sondern als ein Eigenname, wodurch seine pragmatische Sinnbildungsfunktion gleichsam auf den Kopf gestellt wird. Auch Lessing hat auf ganz ähnliche Weise wie Homer mit dem Negationspronomen niemand gespielt. Gerade dadurch konnte er dann allerdings die Aufmerksamkeit seiner Leser auf sich und sein Anliegen richten. In seiner Auseinandersetzung mit den Denkpositionen Gottscheds schrieb er 1759: „Niemand, sagen die Verfasser der Bibliothek wird leugnen, daß die deutsche Schaubühne einen großen Teil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe.“ Ich bin dieser Niemand, ich leugne es gerade zu.16
Lewis Carrol lässt es sich ebenfalls nicht nehmen, mit diesem Negationspronomen so zu spielen, dass die Spannungen zwischen seinen möglichen syntaktischen Funktionsrollen und seinen inhaltlichen Bezeichnungsmöglichkeiten sehr deutlich hervortreten. „Auf der Straße sehe ich niemand“, sagte Alice. „Ach, wer solche Augen hätte!“ bemerkte der König wehmütig, „mit denen man selbst Niemand sehen kann! Noch dazu auf diese Entfernung! Und ich muß schon froh sein, wenn ich in diesem Licht noch die wirklichen Leute sehen kann!“
�� 16 G. E. Lessing, Briefe die neueste Literatur betreffend, Brief vom 16.2. 1759, Werke Bd. 5, 1973, S. 70.
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„Wem bist du auf dem Weg begegnet?“ sagte der König und streckte die Hand nach einer zweiten Portion Heu aus. „Niemand“, sagte der Läufer . „Ganz recht“, sagte der König; „die junge Dame hat ihn auch beobachtet. Das heißt also, Niemand läuft langsamer als du.“ „Ich tue, was ich kann“, sagte der Läufer mürrisch. „Aber soviel weiß ich, daß niemand viel schneller läuft als ich.“17
Im Deutschen lässt sich das Vexierspiel mit dem Wort niemand durch die Möglichkeit der Groß- und Kleinschreibung besonders gut steigern, weil dadurch signalisiert werden kann, ob es als Pronomen oder als eine Art Eigenname verstanden werden soll. Psychologisch und sprachtheoretisch ist in diesem Zusammenhang auch ein Satz von Walter Ulbricht, dem Staatsratvorsitzenden der ehemaligen DDR, sehr interessant. Ulbrichts Äußerung kann wohl auch als ein besondere Variante dessen gewertet werden kann, was man üblicherweise als Freudsche Fehlleistung bezeichnet, insofern jemand gerade das unbeabsichtigt offenbart, was er eigentlich verschweigen möchte. Zwei Monate vor dem Berliner Mauerbau am 13. 8. 1961, der planerisch schon vorbereitet wurde, äußerte Ulbricht auf einer Pressekonferenz am 15. 6. 1961 nämlich den eigentlich sehr verräterischen Satz: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“
4.2.5 Die Negation mit kein Das Negationspotenzial des Negationswortes kein und seiner Varianten ist nicht leicht zu beschreiben, weil dieses Wort in recht unterschiedlichen syntaktischen Funktionsrollen verwendbar ist. Es kann nämlich als flektierbares Negationspronomen ganz ähnlich wie das Negationspronomen niemand grammatische Subjekt- und Objektrollen übernehmen. Es kann aber auch ähnlich wie ein unbestimmter Artikel oder ein Possessivpronomen gebraucht werden und dadurch fast attributive Funktionsimplikationen bekommen (kein Haus ‒ ein Haus/mein Haus/großes Haus). Sprachhistorisch ist das Negationswort kein aus der ahd. Wortprägung nihein hervorgegangen, also aus der Negation eines Pronomens bzw. eines unbestimmten Artikels. Aus dieser Genese lassen sich schon wichtige Charakteristika dieses Negationsmittels ableiten, die insbesondere seine morphologischen, syntaktischen und pragmatischen Grundaspekte betreffen.
�� 17 L. Carroll, Alice hinter den Spiegeln, 19804, S. 96 und 99.
146 � Explizite sprachliche Negationsformen In seiner Verwendung als flektierbares Negationspronomen ähnelt das Negationswort kein mit Einschluss seine Varianten (keiner, keine, keins) dem Negationspronomen niemand, weil es syntaktisch auch als Subjekt und Objekt verwendbar ist (Keiner hilft ihm. Er hilft keinem.) Bei dieser Verwendungsweise sind mit dem Negationswort kein dieselben ontologischen und logischen Probleme verbunden wie mit dem Negationspronomen niemand. Während das einfache Indefinitpronomen einer auf eine Größe Bezug nimmt, von der angenommen wird, dass sie faktisch existiert, nimmt das negierte Indefinitpronomen keiner auf eine Größe Bezug, bei der von vornherein angenommen wird, dass sie faktisch nicht existiert. Formal fungiert es als ein Umrisswort, aber inhaltlich als eine Leerform, mit der auf nichts faktisch Existierendes Bezug genommen werden kann. Als reflexionsthematische Denkgröße ohne sachthematischen Gehalt ergeben sich deshalb bei der Verwendung dieses Negationspronomens dieselben ontologischen und logischen Probleme wie bei der Verwendung des Negationspronomens niemand (Niemand/keiner hat Steuern bezahlt). Eine andere Situation ergibt sich nun allerdings, wenn man das Negationswort kein syntaktisch wie einen unbestimmten Artikel oder wie ein Possessivpronomen verwendet und flexivisch dem jeweiligen Bezugssubstantiv anpasst (Er hat einen/seinen/keinen Freund getroffen.). In dieser Verwendungsweise signalisiert das Negationswort kein dann einen Erwartungsstopp hinsichtlich der möglichen empirischen Referenz des nachfolgenden Substantivs. Es wird dann paradoxerweise formal gleichsam zu einem negierenden Attribut der jeweiligen Bezugsgröße. Bei dieser Gebrauchsweise ergeben sich nun interessante Differenzen hinsichtlich der Nutzungsweise der Negationswörter nicht und kein (Er hat den Stein nicht geworfen. Er hat keinen Stein geworfen.). Mit beiden Aussagen kann man auf denselben empirisch beobachtbaren Tatbestand Bezug nehmen, aber diesen dann perspektivisch ganz unterschiedlich wahrnehmen bzw. sprachlich objektivieren. Bei der Negation mit nicht richtet sich die Aufmerksamkeit darauf, dass es faktisch nicht der Fall ist, dass eine Person einen bestimmte Stein geworfen hat, was aber prinzipiell nicht ausschließt, dass sie diesen geschleudert, gerollt oder gestoßen hat. Im Gegensatz dazu richtet sich beim Gebrauch des Negationswortes kein unsere Aufmerksamkeit perspektivisch darauf, dass nicht ein Stein geworfen worden ist, was dann wiederum nicht ausschließt, dass ein anderer Gegenstand geworfen sein könnte. Im ersten Fall wird unsere Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Vorgang fokussiert, im zweiten Fall dagegen auf einen bestimmten Gegenstand. Für ein rein empirisch orientiertes Wahrnehmungsinteresse könnten beide Aussageweisen semantisch gleichwertig sein, weil sie ein identisches empirisch fassbares Faktum sprachlich objektivieren. Für ein pragmatisch orientiertes
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Wahrnehmungsinteresse sind beide Aussageweisen nun aber keineswegs semantisch gleichwertig, weil dabei dasselbe Faktum in ganz unterschiedliche Relationszusammenhänge bzw. Geschichten eingeordnet wird, insofern entweder der jeweilige Handlungsvorgang oder der jeweilige Handlungsgegenstand im Zentrum der Vorstellungsbildung bzw. des Interesses steht. Die Flexionskongruenz des Negationswortes kein mit dem jeweiligen Bezugssubstantiv kann durchaus paradoxe Implikationen haben, wenn man aus dieser formalen grammatischen Verschmelzung ableitet, dass dieses Negationswort grammatisch im Sinne eines adjektivischen Attributs zu verstehen ist, das dazu dient, sein jeweiliges Bezugssubstantiv semantisch zu präzisieren. (Er besitzt große Häuser. Er besitzt keine Häuser.) Ein solcher Schluss wäre aber unzulässig, weil das Negationswort kein nicht dazu bestimmt ist, ein bestimmtes Bezugselement attributiv zu präzisieren, sondern vielmehr dazu, es als eine Vorstellungsgröße in Frage zu stellen, die bei einer konkreten Vorstellungsbildung wirksam werden könnte. Allenfalls ließe sich davon sprechen, dass bei der Kombination des Negationswortes kein mit einem Substantiv ein extremer Fall der Modalisierung vorliegt, insofern eine bestimmte Grundvorstellung nicht für eine konkrete Aussage spezifiziert wird, sondern vielmehr als mögliche sinnvolle Vorstellungsgröße gänzlich verworfen wird. Die Diskrepanz zwischen der syntaktischen Verwendungsweise des Negationswortes kein, die einem adjektivischen Attributsgebrauch ähnelt, und der faktischen Information dieses Wortes lässt sich natürlich in Wortspielen trefflich nutzen. Das exemplifiziert ein bekannter Slogan sehr schön: Du hast keine Chance, nutze sie! Karl Kraus hat einen Aphorismus formuliert, der dieses Problem ebenfalls sehr plastisch vor Augen führt. „Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können ‒ das macht den Journalisten.“18 Wenn wir in diesem Aphorismus die Wendung „keinen Gedanken haben“ durch „nicht einen Gedanken haben“ ersetzten, würde er nämlich ziemlich schal. Eine ähnliche Situation ergibt sich bei einem Witz, in dem mit der Verwendung des Negationswortes kein in einer konkreten Frage gespielt wird. Normalerweise gilt in Bezug auf Fragen die Denkprämisse, dass Fragen sich auf existente, aber dem Fragenden noch unbekannte Sachverhalte beziehen, aber nicht auf inexistente bzw. auf faktisch nicht greifbare Sachverhalte. Deshalb ist die Verwendung des Negationswortes kein in Fragen auch ziemlich unüblich. Wenn man es dennoch verwendet, dann können sich erhebliche kognitive und kommunikative Turbulenzen ergeben: Haben sie keine Schuhe? Keine Schuhe haben sie nebenan, hier haben wir keine Hosen! �� 18 K. Kraus Aphorismen, 1986, S. 212.
148 � Explizite sprachliche Negationsformen In Fragen dieses Typs mutiert das Negationswort kein ähnlich wie das Negationswort nicht in rhetorischen Fragen zu einem Mittel der Modalisierung bzw. zu einem Abtönungspartikel, insofern es bei seinem Gebrauch nun nicht nur um reine Informationsbedürfnisse geht, sondern handlungsmäßig zugleich auch um die Äußerung von Unmut. In der Antwort auf diese unorthodox formulierte Frage wird nämlich darauf verzichtet zu sagen, dass man eine bestimmte Sache nicht hat. Stattdessen wird auf sehr ironische Weise mitgeteilt, dass man aktuell am besten von ganz bestimmten Sachvorstellungen keinen Gebrauch machen sollte. Die grammatische Möglichkeit, das Negationswort kein syntaktisch genauso zu verwenden wie den unbestimmten Artikel bzw. das Indefinitpronomen ein, kann erhebliche Verwirrung stiften. Dabei gerät nämlich leicht in Vergessenheit, dass mit dem Negationswort kein dem jeweiligen Substantiv ja sein mögliches Referenzobjekt genommen wird und dass sich eben dadurch auch alle präzisierenden Aussagen über dieses Objekt erübrigen. Rein sachthematisch gesehen ist es nämlich ziemlich unsinnig, spezifizierende Aussagen über etwas Nichtvorhandenes zu machen (Keine Katze sitzt auf dem Baum.). Nun kommen solche Aussagen aber zweifellos vor. Sie lassen sich aber nicht abbildungstheoretisch, sondern nur denkpsychologisch bzw. reflexionsthematisch rechtfertigen, weil sie sprachlich einer enttäuschten Erwartung des jeweiligen Sprechers Ausdruck geben, aber nicht einem faktisch existierenden Sachverhalt. In der alltäglichen Kommunikation wird dieses Strukturverhältnis normalerweise nicht zum Problem, weil wir unsere Informationsverarbeitung perspektivisch leicht und schnell umorientieren können. Es wird allerdings zu einem Problem, wenn wir rein sachthematisch orientierte Schlussfolgerungssätze aus solchen Basissätzen abzuleiten versuchen, für die wir dann auch noch einen korrespondenztheoretischen Wahrheitsanspruch stellen. Dabei geraten wir dann in Fallen, die schwer zu erkennen sind und aus denen wir uns argumentativ auch nicht leicht befreien können. Das mögen drei Varianten eines quasilogischen Sprachspiels mit Hilfe des Negationswortes kein exemplifizieren, mit dem schon die Sophisten Verwirrung gestiftet haben. Eine Katze hat einen Schwanz mehr als keine Katze. Keine Katze hat zwei Schwänze. Also hat eine Katze drei Schwänze. Eine Katze hat einen Schwanz. Keine Katze hat zwei Schwänze. Also haben beide Katzen zusammen drei Schwänze.
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Wie viel Schwänze hat keine Katze? Keine Katze hat keinen Schwanz. Eine Katze hat einen Schwanz. Also hat eine Katze einen Schwanz mehr als keine Katze. Nun ist bekannt, dass keine Katze zwei Schwänze hat. Also hat eine Katze einen Schwanz mehr. Also hat eine Katze drei Schwänze.
Warum stiften diese Aussagen und die aus ihnen abgeleiteten Folgerungen so viel Verwirrung? Gegen diejenigen Sätze, in denen die Ausgangsprämissen für die Schlussfolgerungssätze formuliert werden, lassen sich keine grundsätzlichen Bedenken erheben, weil sie auf analytische Weise nur das formulieren, was Kenner des Begriffs und des Phänomens Katze immer schon wissen. Formal könnte nun allerdings gegen den ersten Beispieltext Folgendes eingewendet werden. In einem logischen Schlussfolgerungsprozess muss im Obersatz eine allgemeingültige Aussage gemacht werden, und im Untersatz darf keine Negation enthalten sein. Das ist auch plausibel, wenn man davon ausgeht, dass Schlussfolgerungssätze im Prinzip analytische Sätze sind, die keine wirklich neuen Erkenntnisse formulieren, sondern nur das explizit machen, was in den jeweils verwendeten Ausgangsbegriffen im Prinzip schon als Information enthalten ist.19 Diese normativen Überlegungen zu den Formprämissen von Schlussfolgerungen lassen sich auch sprachtheoretisch untermauern, ganz abgesehen davon, dass die praktische Erfahrung uns sagt, dass Katzen nicht drei Schwänze haben und dass der vorgeführte Schlussfolgerungsprozess nur ein reflexionsthematisches Wortspiel ohne wirklichen Realitätsbezug ist. Der unbestimmte Artikel ein dient im Sprachgebrauch dazu, ein Element einer bestimmten Menge hervorzuheben, um es zum Gegenstand einer präzisierenden Aussage zu machen bzw. um dann eine präzisierende Nachinformation für den jeweils thematisierten Denkgegenstand zu liefern. Das Negationswort bzw. der Negationsartikel kein wird zwar syntaktisch genauso wie der unbestimmte Artikel ein verwendet, aber sachlogisch gesehen dient er dazu, ausdrücklich zu negieren, dass es ein Element der Menge gibt, über das eine präzisierende Aussage gemacht werden könnte. Es wird nämlich in Abrede gestellt, dass das benennende Substantiv ein Referenzobjekt in der Realität hat. Da durch das Negationswort kein die faktische Existenz des sprachlich thematisierten Phänomens bestritten wird, wird im Prinzip natürlich immanent auch die Möglichkeit bestritten, dieses Phänomen durch Zusatzinformationen näher zu charakterisieren. Der sprachliche Ausdruck keine Katze kann allenfalls als eine
�� 19 Vgl. F. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache Bd. 3, 1982, S. 473.
150 � Explizite sprachliche Negationsformen rein reflexionstheoretische Hypothese angesehen werden, über die keine faktisch wahren bzw. realitätshaltigen deskriptiven Schlussfolgerungssätze formuliert werden können. Vielleicht lässt sich das Verwirrspiel mit den sprachlichen Ausdrücken eine Katze und keine Katze in scheinbar argumentativ aufeinander bezogenen Sätzen auch noch denkpsychologisch beschreiben. Der syntaktische Gebrauch der Wörter ein und kein legt nahe, sie kraft Analogie im Sinne von präzisierenden Attributen zum Bezugssubstantiv Katze zu verstehen. Das mag bei dem unbestimmten Artikelwort ein noch irgendwie durchgehen, weil es signalisiert, dass die allgemeine Grundvorstellung Katze noch durch eine konkrete Nachinformation näher bestimmt werden kann. Beim Gebrauch des negierten unbestimmten Artikels bzw. des Negationswortes kein trügt diese Annahme nun aber, weil dadurch ja signalisiert wird, dass der Bezugsbegriff Katze nicht auf ein real existierendes Element im konkreten Erfahrungsraum verweist und dass infolgedessen auch kein real existierendes Phänomen näher qualifiziert werden kann. Der sprachliche Ausdruck keine Katze lässt sich dementsprechend auch nicht in Analogie zu dem sprachlichen Ausdruck alte Katze verstehen. Während das Adjektiv alt als lexikalisches bzw. attributives Präzisierungszeichen verstanden werden kann, ist das Negationszeichen kein als grammatisches Instruktionszeichen zu verstehen, das nicht zur Präzisierung einer Inhaltsvorstellung dienlich ist, sondern zur Aufhebung einer solchen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die Verwendung des Negationswortes kein in idiomatischen Wendungen: kein Aas kann das verstehen; keinen Deut besser sein; keine Menschenseele; keine zehn Pferde usw. Hier wird deutlich, dass mit dem Negationswort kein weder eine konkrete lexikalische noch eine konkrete grammatische Information vermittelt werden soll. Es repräsentiert lediglich eine bildlich unterstützte suggestive Abwehrgeste.
4.2.6 Die Negation mit ohne Das sprachliche Zeichen ohne wird grammatisch üblicherweise zu den Präpositionen gerechnet, was sich morphologisch, syntaktisch und funktional auch ganz gut rechtfertigen lässt. Gleichwohl spricht aber vieles dafür, es grammatisch nicht nur als Präposition wahrzunehmen, sondern auch als Negationszeichen, weil mit ihm nicht nur bestimmte Relationen in komplexen Sachvorstellungen hervorgehoben werden, sondern auch konkrete Negationshandlungen realisiert werden können. Für die Klassifizierung des Wortes ohne als Präposition lassen sich folgende Gesichtspunkte geltend machen. Mit ihm lässt sich nämlich eine Präpositional-
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gruppe bilden, bei der die substantivischen bzw. pronominalen Bezugselemente im Akkusativ stehen müssen. Es dient als Verhältniswort dazu, eine bestimmte Relation zwischen zwei Einzelvorstellungen näher zu bestimmen. Es fügt sich als modale Präposition ganz gut in das Gesamtfeld der lokalen, temporalen und kausalen Präpositionen ein. Es steht außerdem auch in einer recht klaren Oppositionsrelation zu der Präposition mit, die allerdings den Gebrauch des Dativs erforderlich macht. Für die ergänzende Zuordnung des Wortes ohne in die morphologisch und syntaktisch sehr viel heterogene Gruppe der Negationswörter sprechen vor allem Gesichtspunkte, die auf die Sinnbildungsfunktionen dieses grammatischen Zeichens Bezug nehmen, die ja nur recht grob bestimmt werden, wenn man sie als modal bezeichnet. Zwar ist einzuräumen, dass grammatische Negationsinstruktionen als Extremfälle von modalen Instruktionen angesehen werden können, aber damit ist hinsichtlich der Klärung der kognitiven und kommunikativen Funktionen dieses Negationswortes noch nicht viel gewonnen. Syntaktisch ist zunächst festzuhalten, dass die Präposition ohne in ihrer Funktion als Negationsmittel in ziemlich unterschiedlichen Präpositionalkonstruktionen in Erscheinung treten kann (Sie liest das Buch ohne wirkliches Interesse. Ohne sie wird das Problem nicht zu lösen sein. Er kann lügen, ohne dass andere das bemerken. Lerne leiden, ohne zu klagen!). In alle diesen Fällen wird durch das Wort ohne eine bestimmte Inhaltsvorstellung als unzutreffend gekennzeichnet. Mit Weinrich ließe sich deshalb auch sagen, dass mit dem Negationsmittel ohne ein Einspruch gegen eine im Prinzip naheliegende Vorstellung oder Erwartung eingelegt wird.20 Wenn ein Sprecher zu der negierenden Präposition ohne greift, dann geht es ihm insbesondere in Dialogen weniger darum, eine bestimmte deskriptive Sachaussage zu machen, die sich als wahr oder falsch klassifizieren lässt. Ihm geht es eher darum, eine denkbare, aber im konkreten Fall faktisch unzutreffende Vorstellung oder Erwartung des jeweiligen Kommunikationspartners zu korrigieren und eben dadurch eine pragmatisch wichtige Information an den Gesprächspartner weiterzugeben (Er hat das Auto ohne Führerschein gefahren. Er redet oft, ohne nachzudenken.) Die Nähe der negierenden Präposition ohne zu dialogischen Interaktionsprozessen eröffnet auch die Möglichkeit, ihren Gebrauch als einen Hinweis darauf zu betrachten, welche Vorstellungen sich der jeweilige Sprecher über die Denkwelt des jeweils Angesprochenen bzw. über dessen Informationsbedürfnisse macht. Das dokumentiert sich als hermeneutisches Problem besonders �� 20 Vgl. H. Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache, 1993, S. 681ff.
152 � Explizite sprachliche Negationsformen deutlich in Witzen, bei denen mit den Vorerwartungen der Rezipienten gespielt wird (Gast: Bitte einen Kaffee ohne Zucker! Kellner: Darf es auch ein Kaffee ohne Süßstoff sein?). Die pragmatische Funktion der Negationspräposition ohne, den Geltungsanspruch einer naheliegenden Grunderwartung in einer bestimmten Kommunikationssituation aufzuheben, kann sich pragmatisch als so nützlich und notwendig erweisen, dass lexikalische Denkmuster ausgebildet werden, in die diese semantische Funktion konstitutiv integriert wird. Das hat dann dazu geführt, dass das unselbständige grammatische Wortbildungsmorphem –los die Negationsfunktion des selbstständigen grammatischen Negationswortes ohne übernommen hat (ohne Zweifel = zweifellos, ohne Mühe = mühelos). Wie sehr und wie leicht im dialogischen Sprachgebrauch gerade die Negationswörter nicht und ohne zu sprachlichen Mitteln werden können, mit denen nicht nur sachthematische Negationsfunktionen verbunden sind, sondern auch reflexionsthematische Modalisierungsfunktionen, die ein bestimmtes Kommunikationsklima herstellen sollen, mag folgendes Beispiel veranschaulichen. Ein kleiner Junge hat sich verlaufen und wendet sich hilfesuchend an einen Polizisten: Haben Sie nicht eine Frau ohne einen kleinen Jungen gesehen, der so aussieht wie ich? Dieses Beispiel zeigt sehr schön, dass der faktische Gebrauch von Negationswörtern sich pragmatisch nicht befriedigend beschreiben lässt, wenn man sich dabei nur auf ihre kognitiven bzw. sachlogischen Funktionen für die Bildung deskriptiver Sätze bzw. wahrer Aussagen konzentriert und darüber ihre interaktiven bzw. beziehungsstiftenden Implikationen für den dialogischen Sprachgebrauch vergisst. Der kleine Junge will nicht nur etwas erfragen, sondern zugleich auch indirekt etwas über seine eigene Situation mitteilen. In dieser Lage macht er dann von zwei Negationswörtern Gebrauch, die rein sachthematisch gesehen keine wirklich deskriptive Objektivierungsfunktion haben, die aber gleichwohl sehr viel über die psychische Lage und die Denkoperationen des kleinen Jungen mitteilen und eben deshalb auch eine sehr wichtige kommunikative Funktion haben, wenn auch auf einer ganz anderen als der rein sachthematischen Inhaltsebene. Im Kontext dieser Überlegungen zu den Negationsimplikationen der Negationspräposition ohne ist auch auf ähnliche Implikationen bei der Präposition außer zu verweisen bzw. auf die Kombination von negationsträchtigen Präpositionen mit Konjunktionen (ohne dass, außer dass). Selbstverständlich könnte in diesem Zusammenhang auch noch auf die Negationsimplikationen von einschränkenden Adverbien hingewiesen werden (kaum, selten, fast, nahezu), mit denen sich der faktische Geltungsanspruch von Aussagen und Vorstellungen ebenfalls modifizieren lässt.
Unselbstständige Negationsaffixe � 153
4.3 Unselbstständige Negationsaffixe Neben den syntaktisch selbstständigen Negationswörtern, die in sprachlichen Äußerungen zu Satz- oder zu Sondernegationen verwendet werden können, gibt es nun auch syntaktisch unselbstständige Negationsmittel, die in Form von negierenden Bestimmungswörtern in Komposita und insbesondere in Form von Negationsaffixen (Präfixe, Suffixe) nur einen Negationsbezug zu Einzelwörtern haben. Ohne den Gebrauch dieser morphosyntaktisch unselbstständigen Wortbildungsmittel könnten Sprachen ihre kognitiven und kommunikativen Aufgaben gar nicht auf befriedigende Weise erfüllen. Sie tragen nämlich ganz entscheidend dazu bei, dass sich das Vokabular einer Sprache durch ein grammatisches Verfahren zur Wort- bzw. Begriffsbildung auf eine durchsichtige und spontan verständliche Weise ständig ausweiten und den aktuellen Bedürfnissen anpassen lässt. Bei der Bildung von negationshaltigen Komposita gilt wie bei allen Kompositabildungen das Grundprinzip, dass das erste Wort als Bestimmungswort das zweite Wort als Grundwort näher determiniert (Nichtraucher, fremdgehen, außergerichtlich). Das Bestimmungswort erfüllt strukturell gesehen dabei gleichsam die sinnbildende Funktion eines adjektivischen Attributs, insofern es mit dem Grundwort zu einer eigenständigen Sachvorstellung verschmilzt. Vielleicht könnte man diesbezüglich sogar von einer impliziten Prädikation bzw. von einer unauffälligen bzw. syntaktisch verdeckten determinierenden Sachbehauptung sprechen. Eine etwas andere Lage ergibt sich nun bei der Verwendung von Negationsaffixen in Wort- bzw. Begriffsbildungsprozessen. Bei der Verwendung von Negationspräfixen kommt es ebenfalls zu einer negierenden Prädetermination des jeweiligen Grundwortes (unschuldig). Dagegen kommt es bei der Verwendung von Negationssuffixen zu einer negierenden Postdetermination (schuldlos). In beiden Fällen ist gleichwohl davon auszugehen, dass ein Einspruch gegen die informative Gültigkeit des jeweiligen Basiswortes in dem jeweiligen aktuellen sprachlichen Sinnbildungsprozess eingelegt wird. Neben dem Gebrauch von selbstständigen Negationswörtern ist deshalb auch der Gebrauch von syntaktisch unselbstständigen Negationsmitteln sowohl sprachstrukturell als auch stilistisch recht aufschlussreich. Beim Gebrauch von selbstständigen Negationswörtern zur Satz- oder Sondernegation treten die jeweiligen Negationshandlungen des Sprechers immer sehr deutlich als solche in Erscheinung. Dagegen treten die Negationshandlungen beim Gebrauch von Komposita mit Negationswörtern und beim Gebrauch von Wortbildungen mit Negationsaffixen wahrnehmungspsychologisch ganz in
154 � Explizite sprachliche Negationsformen den Hintergrund. Sie werden nun nämlich nicht mehr in die jeweiligen aktuellen Aussageprozesse selbst integriert, sondern liegen strukturell gesehen diesen vielmehr zeitlich voraus. Der jeweilige Negationsprozess wird gleichsam in das Vorfeld der aktuellen Prädikation verlegt, insofern man nun von einer konventionalisierten semantischen Größe Gebrauch macht, die sich schon als ein Produkt aus der Negation einer gängigen lexikalischen Grundgröße ergeben hat. Gerade beim Gebrauch von Wörtern mit Negationsaffixen greift ein Sprecher insofern auf die kognitiven Vorarbeiten seiner Vorfahren bzw. seiner Kultur zurück, die sich morphologisch schon in bestimmten Wortbildungen kondensiert und stabilisiert haben und die auf dieser Ebene dann gleichsam in Form von impliziten Aussagen wirksam werden können. Hugo von Hofmannsthal hat dieses generelle Formproblem bei der Verwendung sprachlicher Zeichen und Formen sehr prägnant formuliert: „Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit.“21 Sprachstrukturell ist weiterhin festzuhalten, dass es in allen Sprachen das Grundbedürfnis gibt, sprachliche Ausdruckformen auszubilden, die es erleichtern, in Kontrastrelationen zu denken. Deshalb finden wir in allen Sprachen lexikalisch stabilisierte Begriffsbildungen, die bestimmte Oppositionsrelationen thematisieren, welche man als natürlich gegeben ansieht (Mensch‒Tier, wachen‒schlafen, klug‒dumm). Daneben gibt es nun aber auch immer Oppositionsbegriffe, bei denen neben den rein deskriptiven Aspekten immer auch interpretative wirksam werden. Diese lassen sich morphologisch recht gut daran erkennen, dass bei ihrer Bildung insbesondere von Negationsaffixen Gebrauch gemacht wird: Mensch‒Unmensch, sprechen‒absprechen, sozial‒asozial, geschützt‒schutzlos). Zu diesem Typ von Oppositionsbegriffen lassen sich strukturell gesehen dann auch negationshaltige Komposita rechnen (Nichtschwimmer). In der semantischen Feldordnung des Vokabulars einer Sprache spielen nun neben den lexikalisch bzw. kompositorisch manifestierten und legitimierten Oppositionsbegriffen verständlicherweise auch immer die affixerzeugten Oppositionsbegriffe eine große Rolle. Die Nutzung beider Verfahren bei der sprachlichen Objektivierung von semantischen Oppositionsrelationen in lexikalischen Feldordnungen hat natürlich auch die Tendenz verstärkt, dass diesen Feldordnungen keineswegs nur ein rein deskriptives semantisches Relief zukommt, sondern immer auch ein mehr oder weniger deutlich ausgeprägtes emotionales, soziales und historisches. Das bedeutet dann zugleich, dass sich in sprachlichen Äußerungen sachthematische und reflexionsthematische Sinnbildungsanstrengungen im Prinzip immer ineinander verschlingen. �� 21 H. v. Hofmannsthal, Prosa I, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, 1950, S. 267.
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Es ist nun offensichtlich, dass diese sprachstrukturellen Hintergründe sehr wichtige stilistische Implikationen und Funktionen haben können. Wenn man bedenkt, dass die Wahl eines Wortes in einem aktuellen Sinnbildungsprozess immer auch als Abwahl eines konkurrierenden Wortes zu verstehen ist, dann können aus der Verwendung von Wörtern, die aus der Nutzung von Negationsaffixen hervorgegangen sind, Rückschlüsse auf die Denkprämissen bzw. Sinnbildungsintentionen des jeweiligen Sprechers gezogen werden. Deshalb ist dann nicht nur der Gebrauch von selbstständigen Negationswörtern und negationshaltigen Komposita, sondern auch der Gebrauch von unselbständigen Negationsaffixen hermeneutisch sehr aufschlussreich, weil uns die damit verbundenen Wahlentscheidungen Aufschluss über die Substrukturen des Denkens der jeweiligen Sprecher geben können.
4.3.1 Die Funktion von Negationspräfixen Wie schon erwähnt haben die Negationspräfixe eine große strukturelle und funktionelle Ähnlichkeit mit Bestimmungswörtern in Komposita bzw. mit prädeterminierenden adjektivischen Attributen. Während nun aber adjektivische Attribute trotz aller Flexionskongruenzen morphologisch immer klar von ihren jeweiligen Bezugswörtern unterschieden werden können, besteht die Besonderheit von Präfixen ebenso wie die von Bestimmungswörtern in Komposita darin, dass sie mit ihren jeweiligen Bezugswörtern zu einem syntaktisch ganz selbstständigen Wort verschmelzen. Dieses kann dann auch als neue Begriffsgröße einen eigenständigen Systemplatz im Vokabular einer Sprache beanspruchen, weil es in der Regel einem dauerhaft wichtigen semiotischen Differenzierungsbedürfnis sprachlichen Ausdruck gibt. Alle Wörter, die aus Präfigierungen hervorgegangen sind, haben gemeinsam, dass sie oberflächenstrukturell zwar als eigenständige Lexikoneinheiten in Erscheinung treten, aber dass an ihrer morphologischen Struktur dennoch klar ablesbar ist, dass sie im Prinzip aus einer bestimmten Determinationsrelation stammen bzw. dass sie eine implizite Aussage- bzw. Behauptungsfunktion haben. Damit können sie ebenso wie Komposita als durchsichtige Wörter gelten, insofern aus ihrer Genese schon wichtige Rückschlüsse auf ihre Semantik bzw. auf die mit ihnen verbundenen Differenzierungsbedürfnisse gezogen werden können. Wie unterscheidet sich nun die Negationsfunktion der selbstständigen Negationswörter von derjenigen der unselbstständigen Negationspräfixe? Wie schon betont tritt beim Gebrauch von eigenständigen Negationswörtern die Negationshandlung des jeweiligen Sprechers immer deutlich hervor. Sie gehört
156 � Explizite sprachliche Negationsformen deshalb pragmatisch gesehen auch zu der von ihm geäußerten Tatsachenbehauptung, die entweder zutrifft oder nicht zutrifft. Beim Gebrauch von Negationspräfixen gehört die damit verbundene Negationshandlung dagegen in das Vorfeld der jeweiligen aktuellen Tatsachenbehauptung. Sie ist nämlich einem Begriffsbildungsprozess zuzuordnen, der schon vorab eine soziale Akzeptanz gefunden hat. Wenn man einer solchen Negationshandlung widersprechen will, dann kann man nicht den Wahrheitswert der jeweiligen Sprecheraussage in Zweifel ziehen, man muss vielmehr die Brauchbarkeit der vom Sprecher verwendeten Begriffs- bzw. Wortbildungen in Frage stellen. Eine Kritik kann sich daher nicht gegen eine konkrete Aussage eines Sprechers selbst richten, sondern nur gegen die Brauchbarkeit einer von ihm verwendeten konventionalisierten Sprachform bzw. gegen ein Element des von ihm genutzten Sprachsystems. Ein illustratives Beispiel für dieses Strukturverhältnis hat Lewis Carroll geliefert. Er lässt seinen Humpty Dumpty den Begriff Ungeburtstag als Oppositionsbegriff zu dem Begriff Geburtstag mit der Begründung einführen, dass man dann an 364 Tagen im Jahr seinen Ungeburtstag mit den entsprechenden Geschenken feiern könne. Das sei natürlich sehr viel vorteilhafter, als einmal im Jahr einen Geburtstag zu haben.22 Diese Argumentation ist logisch irgendwie plausibel, aber pragmatisch wohl kaum. Eine solche Wort- bzw. Begriffsprägung ist nämlich insofern unbrauchbar, als sie eine Differenzierung erbringt, die keine wirkliche soziale Relevanz hat, da sie höchstens einem sehr individuellen Differenzierungsbedürfnis sprachlichen Ausdruck verleiht, aber keinem allgemeinen. Sie würde sich sozial wohl auch dann nicht durchsetzen, wenn sie von einer Person mit einer großen individueller Macht propagiert würde. Eine vergleichsweise etwas größere Chance auf soziale Akzeptanz hätte vielleicht die mit dem Negationspräfix in- erzeugte Begriffsbildung, die Odo Marquard vorgeschlagen hat, um die soziale Funktion der Philosophie begrifflich zu objektivieren. Obwohl dieser Begriffsbildung sicherlich ein bestimmter ironischer Unterton und eine gewisse Skurrilität eigen ist, so wird man ihr dennoch nicht absprechen können, dass sie durchaus in der Lage ist, einen nicht unwesentlichen Aspekt des sozialen Funktionsprofils der Philosophie zu thematisieren: „Inkompetenzkompensationskompetenz“.23
�� 22 L. Carroll, Alice hinter den Spiegeln, 19844, S. 86f. 23 O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, 1981, S. 23.
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4.3.2 Das Negationspräfix unDas Negationspräfix un- wird im Deutschen zweifellos häufiger verwendet als alle anderen.24 Daraus ergeben sich schon zwei wichtige Konsequenzen. Zum einen ist bei der Funktionsbestimmung dieses Präfixes zu beachten, dass es offenbar ein sehr komplexes Negationspotenzial hat und dass es deshalb hinsichtlich seiner konkreten Negationsleistung immer situations- und kontextspezifisch interpretiert werden muss, weil seine Verwendungsweisen offenbar nicht nur sachthematisch, sondern auch reflexionsthematisch orientiert sind. Zum andern steht das Negationspräfix un- in einer sehr komplizierten Funktionsspannung zu allen übrigen Negationspräfixen. Einerseits ist das Negationspräfix un- nämlich als eine Art Standardnegationspräfix zu betrachten, weil mit ihm die Geltungsansprüche fast aller Grundbegriffe negiert werden können. Andererseits steht es in einer Opposition zu anderen konkurrierenden Negationspräfixen, weil es sich natürlich funktional von diesen abgrenzen muss. Aus dieser Doppelfunktion als Universalform und als Spezialform ergeben sich natürlich systemtheoretische Spannungen, die uns zwingen, die Funktionsbestimmung dieses Präfixes nicht nur sachthematisch zu orientieren, sondern auch reflexionsthematisch und hermeneutisch, insofern es in konkreten Sinnbildungsprozessen ganz unterschiedlichen Intentionen dienstbar gemacht werden kann. Deshalb kommen diesem Negationspräfix in den Fachsprachen und in der natürlichen Sprache dann auch sehr unterschiedliche Sinnbildungsfunktionen zu. In diesem Zusammenhang ist außerdem zu beachten, dass das Negationspräfix un- in einer spezifischen Konkurrenz zu denjenigen Negationspräfixen steht, die aus anderen Sprachen und insbesondere aus dem Lateinischen für das Deutsche übernommen sind (a-, non-, dis-, il-, in- usw.). Diese Negationspräfixe finden zwar überwiegend in Lehn- und Fremdworten Verwendung, aber sie haben als Bestandteile eines ganzen Feldes von Negationspräfixen doch Rückwirkungen auf die spezifischen Sinnbildungsfunktionen des Negationspräfixes un- im Vergleich mit den jeweils konkurrierenden (unsozial‒asozial, unharmonisch‒disharmonisch). In den rein sachthematisch orientierten Fachsprachen ist der faktische Negationseffekt des Präfixes un- dem des Negationswortes nicht recht ähnlich, obwohl seine Negationsaufgabe in die Begriffsbildung selbst integriert ist und nicht mehr als eine eigenständige Negationshandlung des Sprechers in Erscheinung tritt. In beiden Fällen wird eine Grundvorstellung gleichsam semantisch �� 24 Vgl. W, Weiss, Die Verneinung mit „un-“, Muttersprache 1960, S. 335-343.
158 � Explizite sprachliche Negationsformen umgepolt (klar ‒ nicht klar/unklar; gerade ‒ nicht gerade/ungerade). Etwas anders wird die Lage allerdings, wenn wir es mit Sachverhalten zu tun haben, bei denen wir nicht mit so klaren Oppositionsbegriffen operieren können, weil diese Sachverhalte sich der sinnlich-empirischen Wahrnehmung entziehen und sehr oft auch mit interpretativen Wertungen verbunden sind. Unter diesen Umständen erbringt in sprachlichen Objektivierungsprozessen die in die jeweilige Begriffsbildung schon integrierte Negation eine ganz andere Negationsleistung als die mit einem völlig eigenständigen Negationswort (schuldig ‒ nicht schuldig/unschuldig; wissenschaftlich ‒ nicht wissenschaftlich/unwissenschaftlich). Die Verwendung des Negationspräfixes un- dient nun nämlich keineswegs dazu, die aktuelle Geltung des jeweiligen Bezugsbegriffs aufzuheben, sondern eher dazu, einen neuen Begriff herzustellen, dessen Sachqualität sich auch mit eigenständigen Merkmalen beschreiben lässt. Die aktuelle Negationsoperation mit dem Negationswort nicht transformiert sich dadurch zu einer Negationsoperation, die schon mit dem Wortbildungspräfix un- strukturell in die Begriffsbildung selbst integriert ist. Eine ähnliche Situation ergibt sich, wenn man die Negationsfunktion des Negationspräfixes un- in einem Begriffsbildungsprozess mit der des Negationswortes nicht als Bestimmungswort in einem kompositorischen Begriffsbildungsprozess vergleicht. Auch hier integriert sich das Negationspräfix un- sehr viel deutlicher in die jeweilige Begriffsbildung selbst als das Negationswort nicht als Bestimmungswort in einem kompositorischen Begriffsbildungsprozess (Glaube‒ Nichtglaube/Unglaube; Schuld ‒ Nichtschuld/Unschuld). Solange wir unser Wahrnehmen und Denken an statischen Substanzvorstellungen orientieren, die wir mit der Annahme von stabilen Grundeigenschaften verbinden, solange haben wir auch immer eine Neigung zur Ausbildung von konträren lexikalischen Oppositionsbegriffen (Leben‒Tod, wachen‒schlafen, mutig‒ängstlich). Hier bietet nun das Negationspräfix un- die Chance, auf eine ausgesprochen sprachökonomische Weise Gegenbegriffe zu Basisbegriffen zu bilden. Wir werden bei diesem Verfahren nämlich von dem Zwang befreit, ganz neuartige Wörter herzustellen, die natürlich auch immer eine Tendenz haben, Oppositionsstrukturen etwas unübersichtlich zu machen, da sich durch sie auch immer andere Konnotations- und Assoziationsmöglichkeiten ergeben. Merkwürdigerweise funktioniert dieses natürlich recht sachthematisch orientierte Wortbildungsverfahren mit dem Negationspräfix un- zwar bei Substantiven und Adjektiven, aber nicht bei Verben. Dieser Umstand ist wohl dadurch bedingt, dass wir bei der Differenzierung von dynamischen Vorgangs- und Handlungsvorstellungen kategoriale Grenzen nicht so leicht ziehen können wie bei eher statisch orientierten Substanz- und Eigenschaftsvorstellungen. Deshalb müssen wir in diesem Bereich Oppositionsvorstellungen lexikalisch objektivie-
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ren bzw. syntaktisch mit Hilfe des selbstständigen Negationswortes nicht. Eine Nutzung des Negationspräfixes un- verbietet sich in diesem Zusammenhang daher von selbst (gehen ‒ laufen/nicht gehen/ *ungehen). Selbst Substantive, die von Verben abgeleitet sind, lassen sich nicht mit dem Präfix un- verbinden (Schwimmer ‒ Nichtschwimmer/*Unschwimmer). Wenn wir den Begriffsinhalt von Verben über Präfixe aufheben wollen, dann müssen wir zu solchen greifen, die eine Grundvorstellung nicht nur formal aufheben, sondern zugleich auch semantisch uminterpretieren (entsichern, abschwören, verachten). Das Bedürfnis nach Oppositionsbegriffen ist verständlicherweise dadurch geprägt, dass es meist nicht nur um die Aufhebung des Geltungsanspruchs von Grundbegriffen geht, sondern in der Regel auch um die Ausbildung von neuen Denk- und Wahrnehmungsperspektiven. Das hat dann zur Folge, dass bei neuen Wortprägungen Präfixe bzw. Bestimmungswörter verwendet werden, die den vom Grundwort benannten Sachverhalt in ganz andere faktische und begriffliche Kontexte stellen (ehelich ‒ unehelich/nichtehelich/außerehelich). Dadurch wird dann deutlich, dass das Nein zu einer bestimmten Grundvorstellung pragmatisch gesehen immer die Tendenz hat, ein Nein zu sein, das im Sinne von anders als zu verstehen ist. Wenn man in sprachlichen Äußerungen eine rein logisch orientierte Aufhebungs- oder Ausschließungsoperationen durchführen will, dann wird man bei der Realisierung von Satz- und Sondernegationen in der Regel zu dem selbständigen Negationswort nicht greifen. Wenn man dagegen Negationshandlungen durchführen will, die auch Uminterpretationen von Grundvorstellungen auf der Basis von Negationen anstreben, dann wird man zu dem Negationspräfix ungreifen bzw. zu Negationspräfixen, die deutliche Negationsimplikationen haben. Dadurch kann nämlich das Nein-Sagen zu einer Handlung werden, die zugleich auch Alternativ- oder Ersatzvorstellungen anbieten kann. Zumindest eröffnet sich durch die Verwendung des Negationspräfixes un- ein sehr viel größerer Konnotations- und Korrelationsbereich als durch die Verwendung des Negationswortes nicht. Bei Wörtern, die in den Wortfeldern unserer Sprache einen sehr festen Systemplatz haben, weil sie in klaren Kontrastrelationen zu anderen stehen, können wir keinen Gebrauch von dem Negationspräfix un- machen (*Unfrau, *Unbeamter, *Ungeburtstag, *unseiden, *unschwanger). Dasselbe gilt für Wörter, die einen klaren negativ akzentuierten emotionalen Stellenwert haben (*Ungeiz, *Unhass). All diese Wörter lassen sich über Negationspräfixe nicht einfach semantische umpolen. Ähnliches gilt für Wörter, die postdeterminierend durch Präpositionalattribute präzisiert werden (*der Unglaube an Gott). Wenn man das Negationspräfix un- nicht nur sachthematisch mit dem Gedanken der Aufhebung der Geltung eines Grundbegriffs in Verbindung bringt,
160 � Explizite sprachliche Negationsformen sondern auch reflexionsthematisch mit dem der Aufhebung der Geltung von individuellen Vorerwartungen bzw. von sozial gefestigten kulturellen Normen, dann wird auch der pragmatische Wert von folgenden Begriffsprägungen verständlich: Unkraut, Ungewitter, Unmasse, Unsitte usw. Diese Wörter verstünde man völlig falsch, wenn man sie im Sinne von Nicht-Kraut, Nicht-Gewitter, NichtMasse, Nicht-Sitte verstehen würde. Unkraut ist vielmehr das Kraut, das an der falschen Stelle wächst; Ungewitter ist das Gewitter, das unsere Erfahrungen mit Gewittern übersteigt; Unmasse ist die Masse, die nicht quantifizierbar ist; Unsitte ist die Sitte, die nicht akzeptabel ist. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang sicherlich die Wortprägung Untiefe. In der Fachsprache der Seefahrer wird damit sachthematisch völlig stringent eine nicht ausreichende Tiefe bzw. eine seichte Gewässerstelle bezeichnet. Im alltäglichen Sprachgebrauch kann mit diesem Wort aber durchaus auch eine unvorstellbar große Tiefe benannt werden bzw. eine emotional bedeutsame Steigerung unserer Vorstellung von Tiefe. Aus dieser Doppeldeutigkeit ergibt sich dann für den bildlichen Sprachgebrauch eine sehr aparte semantische Ambivalenz, die sich im ironischen Sprachgebrauch gut nutzen lässt: die Untiefen des Glaubens, die Untiefen der Liebe, die Untiefen der metaphorischen Rede. Die spezifische Sinnbildungsleistung des Negationspräfixes un- in Wortbzw. Begriffsbildungen tritt deutlich hervor, wenn man es in argumentativen Zusammenhängen mit der Negationsleistung anderer prädeterminierender Negationsmittel vergleicht. In diesem Zusammenhang ist eine Äußerung von Goethe sehr illustrativ, in der er seine ganz persönliche Stellung zum Christentum sprachlich zu objektivieren versucht. In einem Brief an Lavater schreibt er am 29. 7. 1782: „Da ich zwar kein Widerkrist, kein Unkrist aber doch ein dezidirter Nichtkrist binn, so haben mir dein Pilatus und so weiter widrige Eindrücke gemacht...“25
4.3.3 Negationshaltige Präfixe Da sich das Verfahren als sprachökonomisch sehr sinnvoll erwiesen hat, den Wortschatz einer Sprache durch Präfixe auf durchsichtige und spontan verständliche Weise zu vergrößern, hat es nun natürlich auch eine sehr ausgeprägte Tendenz gegeben, das Inventar von Negationspräfixen auszuweiten bzw. funktional auszudifferenzieren. Dabei ist dann natürlich nicht nur an die schon �� 25 Goethes Briefe, Hamburger Ausgabe, Bd. 1, 19682, S. 402.
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erwähnten Lehnpräfixe aus anderen Sprachen zu denken (a-, dis-, il- usw.), sondern auch an Präfixe, die neben ihren eher sachthematischen Differenzierungsfunktionen auch noch mehr oder minder deutliche interpretierende bzw. wertende Negationsimplikationen haben wie etwa die Präfixe miss-, ab- oder ent-. Die pragmatische Funktion dieser Präfixe besteht darin, die Semantik der Grundwörter so abzuwandeln, dass sie einerseits eine andere Semantik bzw. andere referenzielle Bezüge bekommen, aber dass in diesen Abwandlungsprozessen immer auch deutlich Negationsimplikationen zum Ausdruck kommen. Die neuen Begriffe leben nämlich davon, dass durch sie Normvorstellungen negiert werden, die mit den jeweiligen Grundbegriffen eigentlich fest verbunden sind. Dadurch ergibt sich dann natürlich die Frage, ob diese negationshaltigen Präfixe als normale lexikalische Wortbildungsmorpheme anzusehen sind, die lediglich die Semantik der jeweiligen Grundworte umgestalten, oder ob sie als grammatische Instruktionssignale anzusehen sind, welche die Semantik des jeweiligen Grundwortes logisch umpolen (Abwasser, entsichern, unterernährt). Diese Frage ist nicht ganz eindeutig zu beantworten, gerade weil der besondere Charme dieser negationshaltigen Präfixe darin besteht, offen zu lassen, ob der jeweilige Sprecher uns mit ihnen rein sachthematische Informationen übermitteln will oder auch reflexionsthematische Interpretationsinformationen, die seine persönliche Sicht auf ein spezifisches Sachphänomen sprachlich verdeutlichen sollen. Gleichzeitig ergibt sich natürlich auch noch das Problem, ob die so entstandenen Wortbildungen als Komposita anzusehen sind oder als Wortbildungen mit unselbstständigen Präfixen. Diese Frage lässt sich kategorial nicht eindeutig beantworten, sondern nur im Kontext ganz bestimmter hermeneutischer Erkenntnisinteressen. Die größte Funktionsnähe zum Negationspräfix un- hat sicherlich das Präfix miss-, wenn wir einmal von den negierenden Lehnpräfixen absehen. Etymologisch lässt es sich auf das ahd. Wort missa (verschieden, verkehrt, falsch, übel) zurückführen. Im Gegensatz zum Negationspräfix un- lässt es sich nicht nur auf Substantive und Adjektive beziehen, sondern auch auf Verben (Misserfolg, missbehaglich, missverstehen). Aus alldem lässt sich vielleicht ableiten, dass dieses Präfix weniger dazu dient, die Gültigkeit von Begriffen für die Bezeichnung von bestimmten Substanz-, Eigenschafts- oder Prozessvorstellungen zu kennzeichnen, sondern dass es eher dazu verwendet wird, bestimmte individuelle Erwartungsvorstellungen als unzutreffend zu qualifizieren. Wenn nun aber die spezifische Sinnbildungsfunktion dieses Präfixes vor allem darin besteht, einer bestimmten Enttäuschung sprachlichen Ausdruck zu geben, und weniger darin, die aktuelle Gültigkeit eines Grundbegriffs sachthematisch zu negieren, dann liegt es natürlich auch nahe, dieses Präfix grammatisch eher als ein emotional negativ akzentuiertes Bewertungssignal zu qualifi-
162 � Explizite sprachliche Negationsformen zieren und weniger als ein logisch orientiertes Negationssignal. Es ist sicherlich nicht zu leugnen, dass mit diesem Präfix bei Wort- bzw. Begriffsbildungen eine Negationshandlung realisiert wird, es ist aber zugleich auch offensichtlich, dass sich diese nicht nur auf die Gültigkeit einer konkreten Sachvorstellung bezieht, sondern auch auf Wertvorstellungen, die mit dieser Sachvorstellung verbunden sind (Misswirtschaft, Missgeburt, misshandeln, missverständlich). Das negationshaltige Präfix miss- wird nicht dazu verwendet, einen semantisch umgepolten Gegenbegriff zu einem bestimmten Basisbegriff zu bilden, sondern vielmehr dazu, auf Inhalte zu verweisen, die als unerwünscht oder als inakzeptabel angesehen werden. Die Abweichung von einer positiv akzentuierten Normvorstellung lässt sich auch durch das Wortbildungsmorphem fehl- kennzeichnen, das sicherlich eine noch größere Nähe zu Kompositabildungen hat als das Wortbildungsmorphem miss-. Mit diesem negationshaltigen Präfix wird ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass insbesondere das Ergebnis von Entwicklungen und Handlungsprozessen nicht dem entspricht, was man eigentlich erwartet hat oder erwarten kann (Fehlgeburt, Fehlbesetzung, Fehlschuss). Mit diesem Präfix lassen sich sogar fehlerhafte Handlungen euphemistisch bagatellisieren. So hat sich beispielsweise ein Orthopäde nicht gescheut, eine misslungene Operation als Fehlheilung zu bezeichnen. Das negationshaltige Präfix fehl- lässt sich auch bei der Bildung von Adjektiven verwenden, wenn unerwünschte Eigenschaften benannt werden sollen (fehlfarbene Zigarre). Merkwürdigerweise lässt sich eine Standardvorstellung auch dadurch negieren, dass man Komposita bildet, bei denen das Bestimmungswort keine deskriptive Informationsfunktion ausübt, sondern vielmehr so etwas wie eine Steigerungsfunktion mit Negationsimplikationen, die mit Hilfe einer sehr intensiven bildlichen Vorstellung erzeugt wird (Sauwetter, Affenhitze, übernatürlich). Auf diese Weise entstehen dann Wörter, die auf metaphorische Weise und meist deutlich emotional akzentuiert eine ganz bestimmte Standardvorstellung aufheben oder zumindest in Frage stellen sollen. Zu den negationshaltigen Wortbildungspräfixen ist sicherlich auch das Morphem wider- zu rechnen. Seine Negationsfunktion besteht darin, darauf aufmerksam zu machen, dass es eine mehr oder minder negierende Gegenkraft zu dem von dem Grundwort benannten Phänomen gibt, die geeignet ist, dessen Bestand oder Wirkungskraft zu schwächen oder gar aufzuheben (Widerhall, Widerspruch, widerlegen, widerrufen, widerwillig, widernatürlich). Das bedeutet, dass auch dieses Präfix als Negationspräfix zu werten ist, da mit ihm eine Einspruchsfunktion verbunden ist, die zu einem Erwartungsstopp führen soll. Wenn man so argumentiert, dann muss man allerdings einräumen, dass im Prinzip alle Präfixe bzw. Bestimmungswörter von Komposita eine gewisse Nega-
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tionsfunktion haben, über die die Semantik von Grundwörtern so spezifiziert und uminterpretiert wird, dass ihr ursprünglicher Sinn geschwächt oder gar aufgehoben wird (Unterbewusstsein, Fehlernährung, verblühen, entrosten, abartig, nebensächlich). Diese Ausweitung der Menge von potenziellen Negationspräfixen kann dann natürlich dazu führen, diesem Begriff seine semantische Unterscheidungsschärfe zu nehmen. Zugleich macht sie aber auch auf das allgemeine semiotische Phänomen aufmerksam, dass alle Beobachtungstatbestände zu interpretierenden Zeichen werden können, wenn wir ihnen in einer bestimmten Denkperspektive eine Verweisfunktion auf etwas von ihnen selbst Unterscheidbares zuordnen können. Allerdings ist in diesem Zusammenhang auch darauf zu verweisen, dass sich die Menge der Negationspräfixe nicht beliebig ausweiten lässt. Sie bedürfen immer eines gewissen Grades an konventioneller Stabilität, um intersubjektiv wirksam werden zu können. Außerdem müssen sie sich auch in das gesamte Feld der Präfixe mit Negationsfunktionen unter Einschluss der negierenden Lehnpräfixe einordnen, um ihre spezifischen sinnbildenden Funktionen wahrnehmen zu können. Nur dann können sie ihre kognitiven und kommunikativen bzw. ihre stilistischen Differenzierungsfunktionen wirklich erfüllen (parlamentarisch ‒ nichtparlamentarisch/unparlamentarisch/quasiparlamentarisch/pseudoparlamentarisch/außerparlamentarisch/antiparlamentarisch usw.).26
4.3.4 Die Sinnbildungsfunktionen von Negationssuffixen Denkpsychologisch gesehen unterscheidet sich die Wort- bzw. Begriffsnegation mit Hilfe von Suffixen erheblich von der mit Präfixen. Während uns Negationspräfixe als prädeterminierende Negationssignale von vornherein darauf einstimmen, dass die jeweils folgende sprachlich manifestierte Inhaltsvorstellung irgendwie als ungültig zu betrachten ist, negieren die Negationssuffixe diese Inhaltsvorstellung erst nachträglich (unvernünftig; vernunftlos). Diese Postdetermination hat nun wichtige strukturelle und denkpsychologische Konsequenzen. Die Negationspräfixe verschmelzen sehr viel leichter mit ihren Bezugsbegriffen zu einer eigenen Begriffsvorstellung als die Negationssuffixe. Dadurch fördern Negationspräfixe ebenso wie prädeterminierende adjektivische Attribute das synthetisierende Denken, während Negationssuffixe ähnlich wie postdeterminierende Attribute (Genitivattribute, Präpositionalattribute, Relativsätze) eher das analysierende Denken begünstigen. Gerade weil wir beim Gebrauch �� 26 Vgl. dazu auch A. Klosa, Negierende Lehnpräfixe des Gegenwartsdeutschen, 1996.
164 � Explizite sprachliche Negationsformen von Negationssuffixen zuerst auf eine ganz bestimmte Basisvorstellung aufmerksam gemacht werden, die dann nachträglich hinsichtlich ihrer Gültigkeit näher qualifiziert wird, treten diese Suffixe sehr deutlich als analysierende Zusatzkommentare des Sprechers in Erscheinung, durch die er nicht nur einen Sachverhalt, sondern auch sich selbst und seine Denkprozesse profilieren kann. Negationspräfixe und Negationssuffixe sind so gesehen deshalb auch in ganz unterschiedliche Thema-Rhema-Relationen eingebunden, was natürlich nicht unerheblich für die Verarbeitung und das Verständnis von Einzelinformationen in konkreten Sinnbildungsprozessen ist. Diese Strukturverhältnisse lassen sich sehr gut am Beispiel der Negationssuffixe -los und -frei illustrieren. Mit Hilfe des Negationssuffixes -los können wir nicht nur die deskriptive Gültigkeit des jeweiligen Grundwortes aufheben, sondern zugleich auch signalisieren, dass der mit dieser Wortbildung sprachlich objektivierte Sachverhalt als eigentlich nicht erstrebenswert angesehen werden soll (arbeitslos, waffenlos, spannungslos). Demgegenüber signalisiert das Wortbildungsmorphem -frei, dass der vom Grundwort objektivierte Sachverhalt zwar faktisch nicht gegeben ist, dass er aber im Prinzip als positiv anzusehen ist und nicht als ein Mangel (arbeitsfrei, waffenfrei, spannungsfrei). Nur wenn das jeweilige Grundwort schon auf einen allgemein anerkannten Mangel hinweist bzw. einen negativen Beigeschmack hat, kann über das Negationssuffix –los eine positive Einschätzung des bezeichneten Sachverhalts signalisiert werden (fehlerlos, makellos, furchtlos). So gesehen haben die beiden Negationssuffixe eine doppelte Sinnbildungsfunktion. Auf einer sachthematischen Verständnisebene signalisieren sie, dass eine bestimmte Grundvorstellung aktuell nicht zutrifft. Auf einer reflexionsthematischen Verständnisebene kann die Wahl eines bestimmten Negationssuffixes aber zugleich auch signalisieren, ob der jeweils benannte Sachverhalt positiv oder negativ zu beurteilen ist bzw. ob er als erwünscht oder nicht erwünscht gelten soll. Das bedeutet, dass auch in vermeintlich rein deskriptiven Sachaussagen auf diese Weise durchaus Werturteile als eine Art Konterbande versteckt werden können. Das ist dann nicht nur stilistisch, sondern auch kommunikationspsychologisch höchst bedeutsam, weil solche Werturteile wegen ihrer verdeckten sprachlichen Struktur nicht in den Vordergrund der Aufmerksamkeit treten, sondern eher untergründig wirksam werden. Nun kann man sich natürlich trefflich darüber streiten, ob man bei dem Terminus waffenfrei das Element -frei überhaupt als ein grammatisches Negationssuffix einordnen sollte, da es ja auch als selbstständiges Wort vorkommt und deshalb nicht notwendigerweise als unselbstständiges grammatisches Negationsmorphem zu betrachten ist. Falls man nun aber das Wortbildungsmorphem -frei nicht als grammatisches Zeichen bzw. als Negationssuffix ins Auge
Unselbstständige Negationsaffixe � 165
fasst, sondern als lexikalisches Zeichen, dann läge es im Prinzip natürlich nahe, die Wortprägung waffenfrei ebenso wie die Wortprägungen vernunftwidrig, ausdrucksleer oder gestaltungsarm als ein ganz normales Kompositum anzusehen, weil bei ihm ebenso wie bei anderen Wortprägungen selbstständige lexikalische Wörter kombiniert werden. Diese haben dann allerdings alle bestimmte Negationsimplikationen, da sie uns ja immanent auf Kontrastrelationen aufmerksam machen bzw. auf die Abwesenheit von etwas möglicherweise Erwartbarem. Für die Einordnung der Wortbildungsmorpheme -frei, -widrig, -leer, -arm als grammatische Negationssuffixe sprechen nun allerdings folgende Überlegungen. Bei der Bildung von Komposita gilt üblicherweise die Regel, dass das erste Element der Komposition das zweite im Sinne einer Prädetermination näher bestimmt. Dagegen gilt bei der Bildung von neuen Wörtern mit Hilfe von Suffixen die Regel, dass das letzte Element das erste im Sinne einer Postdetermination näher bestimmt. Aus den Wortprägungen waffenfrei, vernunftwidrig, ausdrucksleer, gestaltungsarm oder auch fensterähnlich ergibt sich nun aber recht deutlich, dass nicht das erste Element das zweite näher bestimmt, sondern vielmehr wie bei Suffixen generell üblich das zweite Element das erste. Dieser Umstand spricht nun dafür, dass bei dieser Gebrauchsweise der Wörter frei, widrig, leer, arm oder ähnlich als Wortbildungsmorpheme diese jeweils eine Mutation zu Suffixen bzw. genauer zu Negationssuffixen durchmachen. Wenn das nicht so wäre, dann könnte man ihnen nämlich nicht mehr die pragmatische Funktion von Korrektursignalen in Begriffsbildungsprozessen zuschreiben. Nur bei einer ganz isolierten morphologischen Betrachtungsweise ließe sich die Auffassung vertreten, dass das erste Wortelement das zweite präzisiert. Die Wortbildung waffenfrei wäre dann so zu verstehen, dass es thematisch nicht um das Phänomen Waffen geht, sondern vielmehr um das Phänomen frei, was nun aber wohl weder den kognitiven noch den kommunikativen Funktionen der gegebenen Wortbildung waffenfrei entspräche. Die These, dass in bestimmten Gebrauchsweisen ursprünglich selbstständige Wörter zu Suffixen und sogar zu Negationssuffixen mutieren können, kann vielleicht auch wahrnehmungspsychologisch gestützt werden. Es lässt sich nämlich annehmen, dass nicht nur in optischen, sondern auch in sprachlichen Wahrnehmungsprozessen die Relationsfaktoren Figur und Grund bzw. Basisvorstellung und Interpretationsrahmen ihre Plätze tauschen können, wenn man seine Erkenntnisinteressen und damit auch seine Wahrnehmungsperspektiven ändert. Das bedeutet, dass auch Sprachzeichen, die in der einen Wahrnehmungsweise als lexikalische Gegenstandszeichen in Erscheinung treten, in einer anderen durchaus als grammatische Interpretationszeichen und damit auch als Negationszeichen verwendet werden können. Das hat dann zur Folge,
166 � Explizite sprachliche Negationsformen dass sich gerade dadurch die natürliche Sprache auch sehr flexibel unterschiedlichen Sinnbildungsbedürfnissen anpassen lässt. Aus alldem ergeben sich nun weitreichende Konsequenzen für die Analyse der Negationsproblematik in den natürlichen Sprachen. Das Interesse an Negationsformen und Negationsverfahren sollte sich nicht nur aus einem Sprachverständnis speisen, dass von einer scharfen kategorialen Trennung von Grammatik und Lexik ausgeht und dass Negationen nur als Mittel ansieht, den Wahrheitsgehalt von Aussagen und den Realitätsgehalt von Begriffen zu qualifizieren. Es sollte sich vielmehr aus einem Erkenntnisbedürfnis herleiten, das seine Hauptaufmerksamkeit darauf richtet, wie gegebene lexikalische und grammatische Formen an Negationsprozessen beteiligt sein können. Das impliziert dann auch ein Interesse dafür, dass lexikalische und grammatische Formen unter bestimmten Umständen ihre Funktionsrollen wechseln können und dass insbesondere lexikalische Zeichen zu grammatischen mutieren können. Daraus ergeben sich dann wiederum sehr differenzierte Möglichkeiten, einen lexikalischen Grundbegriff sowohl durch Präfixe als auch durch Suffixe semantisch zu variieren oder sogar zu negieren (treu ‒ untreu/quasitreu/pseudotreu; treu ‒ treuelos/treuefern/treuearm/treuefrei/treueabstinent/treuewidrig usw.). Die verschiedenen Varianten von Negationsformen und insbesondere von Negationssuffixen lassen sich nicht im Denkrahmen einer zweiwertigen Logik von wahr und falsch adäquat bewältigen, weil deren Operationsfeld sich eigentlich nur auf deklarative Behauptungssätze und rein sachthematische Begriffsbildungen beschränkt. Hier ist vielmehr eine semiotische und hermeneutische Sinnbildungslogik gefragt, die berücksichtigt, dass wir im Denken und Sprechen nicht nur Gegebenes abbilden wollen, sondern dass wir es auch in bestimmten Perspektiven erschließen, verstehen und bewerten möchten. Diese Logik kann nicht nur mit strikt vorgegebenen Denkmustern und Grenzlinien arbeiten, sondern muss diese oft erst als Erkenntnishilfen im aktuellen Fall ausbilden. Unter diesen Umständen fördern Negationen mit Negationssuffixen nicht unbedingt das polarisierende Denken, das im Prinzip allen Negationshandlungen nahe liegt. Sie können dieses polarisierende Denken sogar abmildern, weil sie inhaltliche Perspektiven benennen, in denen eine Grundvorstellung problematisiert wird bzw. hinsichtlich ihres Geltungsanspruchs interpretiert wird. Gerade die Negation mit Suffixen hat deshalb nicht nur etwas mit der Abwehr von Vorstellungen und der Beseitigung von denkbaren Irrtümern zu tun, sondern auch immer etwas mit perspektivierenden und schöpferischen Denk- und Sinnbildungsanstrengungen, die uns sowohl Aufschlüsse über Sachverhalte als auch über die Denkstrukturen der jeweiligen Sprecher geben.
5 Das Negationsproblem in der Begriffsbildung Die bisherigen Überlegungen basierten auf der Grundüberzeugung, dass das Phänomen Negation im Prinzip nicht auf der Ebene des Seins, sondern vielmehr auf der des Denkens über das Sein zu diskutieren ist. Gleichwohl ist nun aber kaum zu leugnen, dass es bedenkenswerte Motive gibt, die Negationsproblematik auch irgendwie der Ebene des Seins zuzuordnen, und zwar insbesondere dann, wenn man der Meinung ist, dass die Hauptaufgabe des Denkens darin besteht, die Ordnung des Seins zu erfassen und begrifflich zu objektivieren. So kann man etwa annehmen, dass es in der Welt Phänomene gibt, die von einer bestimmten vorgegebenen Seinsnorm abweichen und die sich eben deswegen dann auch als Mängelphänomene ansehen lassen wie etwa die Phänomene Schuld, Krankheit oder das Böse. Weiterhin kann man annehmen, dass sich das Sein grundsätzlich über interne Oppositionsrelationen ordnet, insofern einzelne Phänomene gerade dadurch ihre Gestalt gewinnen, dass sie sich kontrastiv von anderen absetzen. Dementsprechend lässt sich dann argumentieren, dass der Mensch gerade dadurch Mensch ist, dass er eben nicht Gott, nicht Esel, nicht Stein usw. ist. Außerdem kann man natürlich auch annehmen, dass das Sein prinzipiell gar keine stabile statische Ordnungsstruktur hat, sondern vielmehr eine dynamische Entfaltungsstruktur, bei der neue Formen gleichsam immer als Negationen der alten in Erscheinung treten. Diese Grundauffassung dokumentiert sich dann beispielsweise sehr klar in der ontologischen Grundüberzeugung, dass sich das Sein in Natur und Kultur nach dem Korrelationsprinzip von These‒Antithese‒Synthese entfaltet, wobei jede erreichte Synthese dann wieder eine negierende Antithese hervorbringen kann usw. In all diesen Denkansätzen wird natürlich nicht geleugnet, dass Negationen bestimmte Denkverfahren sind. Aber es wird dennoch angenommen, dass Negationen gleichwohl mit einer inneren Dynamik des Seins harmonieren können und dass sie eben deswegen nicht nur als rein methodische Denkverfahren anzusehen sind, die sich nur anthropologisch und denkpsychologisch begründen lassen. Wenn man auf diese Weise Negationen auch ontisch verankert, dann muss man in ihnen natürlich mehr sehen als bloße operative Verfahren zur methodischen Gestaltung von kognitiven Objektivierungs- und kommunikativen Mitteilungsprozessen. Wie auch immer man nun letztlich die Negationsproblematik ontologisch bestimmt, in jedem Fall haben wir zu berücksichtigen, dass sie in allen Begriffsbildungsprozessen explizit oder implizit eine ganz konstitutive Rolle spielt, da diese ja immer eng mit kognitiven und kommunikativen Abgrenzungs- und Perspektivierungsanstrengungen verknüpft sind. Dabei spielt es
168 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung dann keine große Rolle, ob wir Begriffe ontologisch auf ewige platonische Ideen zurückführen oder nur auf kulturspezifische bzw. pragmatische Differenzierungsinteressen. Immer haben wir zu berücksichtigen, dass all unsere sprachlichen Begriffsbildungsprozesse direkt oder indirekt mit der Negationsproblematik verbunden sind, eben weil sie sich immer sowohl sachthematisch an bestimmten Seinsstrukturen zu orientieren haben als auch reflexionsthematisch an bestimmten Denkstrukturen und Differenzierungsintentionen. Bei der Bildung von Begriffen geht es letztlich nicht um die sprachliche Objektivierung von Welt an sich, sondern eher um die Erfassung von Welt für uns. Das lässt sich sehr schön an den Begriffsbildungen illustrieren, die beispielsweise mit den Wörtern Lüge oder Nichtschwimmer verbunden sind. Mit beiden Begriffen nehmen wir auf komplexe Sachverhalte Bezug, die wir einerseits als empirisch gegebene Tatbestände verstehen können, aber andererseits auch als Tatbestände, die von einer ganz bestimmten kulturellen Norm abweichen bzw. diese sogar negieren. Unter dem Begriff Lüge fassen wir nämlich gemeinhin alle Aussagen zusammen, die dem Zweck der willentlichen Täuschung anderer Menschen dienen. Unter dem Begriff Nichtschwimmer fassen wir gemeinhin alle Menschen zusammen, die nicht die Fähigkeit ausgebildet haben, sich über Wasser zu halten und fortzubewegen. Für beide Begriffsbildungen ist konstitutiv, dass sie nicht nur konkret beobachtbare Sachverhalte bezeichnen sollen, sondern zugleich auch bestimmte Defizite. Diese können dann aus bestimmten Seinserwartungen und Normen resultieren, die zwar als selbstverständlich angesehen werden, die aber faktisch nicht erfüllt werden. Wenn wir uns nun aber vor Augen führen, dass Menschen im Prinzip Landbewohner sind, so wird man schwerlich behaupten können, dass Nichtschwimmer Menschen sind, die von einer natürlichen Seinsnorm abweichen. Allenfalls sind es Menschen, die eine bestimmte zivilisatorische Norm nicht erfüllen. Diese Norm gilt aber keineswegs bei allen Völkern, da sie früher selbst bei seefahrenden Völkern kaum anerkannt oder gar erfüllt worden ist. Etwas komplizierter stellen sich die Verhältnisse beim Begriff der Lüge dar. Einerseits gelten Lügen sicherlich als Abweichungen bzw. als Negationen von einer als natürlich empfundenen Verhaltensweise und Norm im menschlichen Zusammenleben. Andererseits gehören nun aber Falschaussagen als Ablenkungsmanöver, Kriegslisten oder Notlügen auch zu den menschlichen Überlebensstrategien in prekären Lebenssituationen, die nicht völlig selbstverständlich als Abweichungen von Naturnormen angesehen werden können. Auch literarische Fiktionen wird man nicht schon einfach deshalb als Lügen bezeichnen können, weil sie keinen empirischen Bezug bzw. Wahrheitsgehalt haben. Allenfalls könnte man sie als durchsichtige Lügen klassifizieren.
Begriffe und Begriffssysteme � 169
Generell lässt sich daher sagen, dass alle Begriffsbildungen eng mit der Negationsproblematik verquickt sind, insofern Begriffe sich ja gerade dadurch konstituieren, dass mit ihrer Hilfe Grenzlinien gezogen werden, die in einem gegebenen Erfahrungskontinuum etwas von etwas anderem abtrennen sollen. Dabei kann dann vorerst offen bleiben, ob diese Abgrenzungen seinsthematisch oder reflexionsthematisch begründet sind oder begründet werden können. Auf jeden Fall lässt sich aber festhalten, dass jeder Begriffsbildung sowohl Affirmationen als auch Negationen zugrunde liegen bzw. bestimmte Akzentuierungsund Ausschließungsintentionen. Auf die Perspektivierungs- und Negationsimplikationen von Begriffsbildungen stoßen wir sehr deutlich, wenn wir nach der Genese von Begriffen fragen bzw. wenn wir etymologische Überlegungen anstellen. Gerade dabei kann nämlich sehr offensichtlich werden, welche pragmatischen Ziele mit der Bildung bzw. mit der Transformation von bestimmten Begriffsmustern verfolgt werden. Insbesondere die metaphorische Transformation von Begriffen bzw. die Verfestigung von Metaphern zu festen Begriffen (tote Metaphern) veranschaulichen nicht nur das Affirmations-, sondern auch das Negationspotenzial unserer sprachlichen Musterbildungen sehr deutlich. An drei unterschiedlichen Problembereichen soll nun exemplarisch aufgezeigt werden, wie sprachliche Begriffsbildungen mit der Negationsproblematik in ihren sehr vielfältigen Erscheinungsweisen verbunden sein können. Erstens soll näher auf die spezifischen Motive eingegangen werden, die bei der Ausbildung von Begriffen bzw. von Begriffsfeldern wirksam werden. Zweitens soll näher auf die sogenannten Privativa eingegangen werden, also auf Begriffsbildungen, die sich auf der Basis enttäuschter Erwartungen konstituieren (Loch, fehlen, blind). Drittens soll näher auf den pragmatischen Sinn des Substantivs Nichts eingegangen werden, das insbesondere in philosophischen und theologischen Denkzusammenhängen eine große und zuweilen auch berüchtigte Bedeutsamkeit erlangt hat.
5.1 Begriffe und Begriffssysteme Unser spontanes Sprachverständnis wird von der Denkprämisse geprägt, dass Sprachformen und Seinsformen sich entsprechen oder zumindest entsprechen können. Was in der Sprache unterschieden werde, das könne auch in der Welt unterschieden werden und umgekehrt. Die Sprache passe im Prinzip auf die Welt und die Welt auf die Sprache. Richtig gebildete Begriffe ermöglichten eine zuverlässige Seinsorientierung und Seinsbeherrschung, eben weil sie als zuverlässige Abbildungsmittel und erprobte Handlungswerkzeuge gelten könnten.
170 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung Dieses grundsätzliche Sprachvertrauen ist im Hinblick auf die natürliche Sprache zwar immer wieder in Zweifel gezogen worden, es hat sich aber gerade im Hinblick auf die formalisierten Wissenschaftssprachen recht zäh gehalten. Deshalb lohnt es sich, der Frage etwas genauer nachzugehen, ob bzw. inwieweit ein solches Sprach- bzw. Begriffsvertrauen gerechtfertigt werden kann. Zweifel können sich diesbezüglich nämlich einstellen, insofern dabei meist nur auf die Relationen der Begriffe zur Objektsphäre geschaut wird, aber nicht auf ihre Relationen zur Subjektsphäre. Die Sprache wird in dieser Sicht nur als Abbildungswerkzeug für die Welt thematisiert, aber nicht als Vermittlungswerkzeug zwischen der Objektsphäre und Subjektsphäre bzw. zwischen den unterschiedlichen Subjektsphären. Gerade mit Hilfe des Phänomens der Negation lässt sich nun aber sehr gut verdeutlichen, dass Begriffe letztlich als Ordnungshypothesen zu verstehen sind, die sich Menschen bilden, um sinnvoll und effektiv mit ihrer Erfahrungswelt umzugehen bzw. um diese nicht nur als eine Welt an sich zu verstehen, sondern vielmehr als eine kulturell geformte Vorstellungswelt bzw. Lebenswelt. Mit Hilfe des Negationsgedankens lässt sich methodisch nämlich recht gut herausarbeiten, was Subjekte an der Welt interessiert und was nicht bzw. in welchen Perspektiven sie die Welt wahrnehmen können bzw. möchten und in welchen nicht. So gesehen lassen sich Begriffe dann letztlich als Ergebnisse von Vereinfachungsstrategien begreifen, ohne die Lebewesen bei ihrer Weltorientierung gar nicht auskommen können. Die Strategien für Musterbildungen sind bei Menschen allerdings sehr viel flexibler und differenzierter ausgestaltet als bei anderen Lebewesen und werden nicht nur durch biologische, sondern auch durch kulturelle Faktoren ganz entscheidend strukturiert und geprägt.
5.1.1 Struktur und Funktion von Begriffen Im Prinzip lassen sich Begriffe als vereinfachende Denk- bzw. Objektivierungsmuster verstehen, bei denen einerseits bestimmte Merkmale von Erfahrungsphänomenen als unwesentlich betrachtet werden, um andere als wesentlich ansehen zu können. Solche generalisierenden und vereinfachenden Abstraktionen sind die Voraussetzung dafür, dass sich unsere Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Ähnlichkeiten von zu erfassenden Phänomenen konzentrieren kann. Unsere einzelnen Erfahrungsphänomene lassen sich auf diese Weise dann als Exemplifikationen eines bestimmten Grundmusters bzw. Seinstyps ansehen, obwohl sie untereinander sehr deutliche Unterschiede aufweisen können. So betrachtet können Begriffsbildungsprozesse im Prinzip als biologisch und lebenspraktisch notwendige Vereinfachungs- und Akzentuierungsprozesse
Begriffe und Begriffssysteme � 171
verstanden werden, ohne die Lebewesen und insbesondere Menschen sich in ihrer Welt gar nicht zurechtfinden könnten. Ohne sie würden nämlich Wiedererkennungsprozesse sehr erschwert, die ja die Grundlage der Nutzung von vorangegangenen Erfahrungen sind. Die Relevanzkriterien für Begriffsbildungsprozesse sind anthropologisch, pragmatisch, kulturell und individuell bedingt. Trotz aller notwendigen sozialen Normierungstendenzen können deshalb Begriffsbildungen sehr verschieden ausfallen, da Menschen natürlich sehr unterschiedliche Wahrnehmungsinteressen und Erfahrungshintergründe haben. Das bedeutet, dass die einzelnen Menschen faktisch auch in ganz unterschiedlichen Begriffswelten leben. Diese können sich dann sogar zu ganz unterschiedlichen sprachlichen, kulturellen oder individuellen Eigenwelten auswachsen, was insbesondere Ideologiebildungen sehr eindrucksvoll exemplifizieren. Begriffe nimmt man nun allerdings ganz anders wahr, wenn man sie als Manifestationsweisen von platonischen Ideen ansieht, die unwandelbare geistige Grundmuster hinter den empirisch fassbaren Einzelphänomenen zu repräsentieren haben. Einzeldinge gehen dann aus gegebenen abstrakten platonischen Ideen so hervor wie Münzen aus vorgegebenen Prägeformen. Dieses Grundverständnis von Begriffen ist nun aber sowohl vom Kultur- als auch vom Evolutionsgedanken her sehr nachhaltig in Frage gestellt worden. Beide haben plausibel gemacht, dass unsere sprachlich manifestierten und konventionalisierten Begriffe pragmatisch motivierte Ordnungsmuster sind, die für ganz bestimmte Differenzierungsziele hergestellt werden und die sich mit diesen dann natürlich auch immer wandeln können. Deshalb kann man heute Begriffe auch schwerlich als ewig gültige Ordnungskategorien ansehen, sondern allenfalls als pragmatisch legitimierte Ordnungshypothesen, die sowohl von der Objektseite als auch von der Subjektseite her zu motivieren und zu legitimieren sind. Wenn wir nun aber zwischen unseren einzelnen Erfahrungsgegenständen keine Ähnlichkeiten an sich feststellen können, sondern immer nur Ähnlichkeiten auf der Basis von anthropologisch und kulturell bedingten Wahrnehmungskriterien, dann ist auch die übliche Unterscheidung von Inhalt (Intension) und Umfang (Extension) bei Begriffen nicht nur sachbezogen, sondern letztlich nur kulturbezogen zu motivieren. Unter dem Inhalt eines Begriffs ist nämlich dann die Summe aller konstitutiven Merkmale zu verstehen, die Phänomene aufweisen müssen, um unter diesen Begriff zu fallen, und unter dem Umfang eines Begriffs die Menge der gegebenen Einzelphänomene, auf die ein bestimmter Begriff klassifizierend angewandt werden kann. Dementsprechend sind dann auch Inhalt und Umfang eines Begriffs umgekehrt proportional aufeinander bezogen. Je mehr inhaltliche Merkmale einzelne Phänomene aufweisen müssen, um mit einem bestimmten Begriff kategorial zusammengefasst werden zu können, desto geringer ist natürlich die Menge der Phänomene, auf die er an-
172 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung wendbar ist und umgekehrt. Deshalb hat dann auch der Begriff Lebewesen einen geringeren Inhalt, aber natürlich einen sehr viel größeren Umfang als etwa der Begriff Hund. Eigennamen sind im Prinzip nicht zu den Begriffen zu rechnen, da sie keine kategorisierenden Abstraktionsleistungen erbringen, sondern nur dazu bestimmt sind, individuelle Einzelphänomene zu etikettieren. Aus diesen Überlegungen wird schon deutlich, dass das Phänomen der Negation eine ganz zentrale Rolle in Begriffsbildungsprozessen spielt, insofern in diesen immer bestimmte Merkmale von Phänomenen für relevant bzw. für irrelevant erklärt werden. Solche Affirmationen und Negationen haben dann allerdings ontologisch keinen generellen Geltungsanspruch, sondern nur einen, der sich auf ganz bestimmte Differenzierungsintentionen gründet. Deshalb muss dann auch jede Sprache Begriffe unterschiedlichen Inhalts und unterschiedlichen Umfangs zur Verfügung stellen, um den unterschiedlichen kognitiven und kommunikativen Differenzierungsbedürfnissen der einzelnen Sprachnutzer gerecht werden zu können. Wenn etwa jemand von seinem Hund als Säugetier oder als Jagdhund spricht, dann will er natürlich implizit unsere Aufmerksamkeit immer auf ganz unterschiedliche Aspekte desselben Tieres lenken. Der Abstraktionsgehalt von Begriffen bzw. ihr jeweiliges Affirmations- und Negationspotenzial lässt sich natürlich nicht befriedigend beschreiben, wenn man sie isoliert betrachtet. Das wird viel leichter, wenn man sie im Rahmen des jeweiligen sprachlichen Begriffsfeldes erfasst, in dem sie einen ganz bestimmten Stellenwert bzw. Systemplatz im Kontext von konkurrierenden Begriffen haben. Dann wird nämlich deutlich, dass ein Sprecher mit der Wahl eines bestimmten Begriffs von vornherein eine ganz bestimmte Wahrnehmungsperspektive für ein Phänomen festzulegen versucht und gleichzeitig andere Wahrnehmungsperspektiven für nicht oder für weniger aktuell erklärt. In diesem Zusammenhang ist nun zu beachten, dass in formalisierten Fachsprachen die Struktur solcher Begriffsfelder konventionell recht stringent organisiert ist. In den natürlichen Sprachen ist sie dagegen vergleichsweise weniger klar geregelt und lässt sich in den einzelnen Sprechsituationen auch sehr viel leichter umstrukturieren. Außerdem ist auch noch zu berücksichtigen, dass Begriffsfelder hier nicht nur einen deskriptiven Charakter haben, sondern immer auch einen wertenden, emotionalen, sozialen und historischen. So lässt sich beispielsweise in der juristischen Fachsprache der semantische Gehalt bzw. der feldmäßige Stellenwert der Begriffe Mord, Totschlag und fahrlässige Tötung recht eindeutig voneinander abgrenzen, aber in der natürlichen Umgangssprache kaum. Damit wird in dieser dann auch konventionell viel weniger klar, was mit den verwendeten Einzelbegriffen jeweils affirmiert und negiert werden soll. Wenn wir nun Begriffe als pragmatisch und heuristisch motivierte Ordnungshypothesen verstehen, dann sagen sie uns nicht nur etwas über die Ord-
Begriffe und Begriffssysteme � 173
nungsstruktur der Welt, sondern immer auch etwas über die Ordnungsstruktur der Denkwelten derer, die sie gebildet haben bzw. verwenden. Sie werden so zu Indikatoren für die Denkweisen von Personen, Epochen und Kulturen, weil sie aufzeigen, was man unterscheiden will und wie man unterscheiden will. In den jeweils vorhandenen und verwendeten Begriffen einer Sprache manifestiert sich daher natürlich auch immer der Stand des Wissens der einzelnen Sprachteilnehmer über ihre jeweilige Lebenswelt. Dieses Wissen steht natürlich ständig in der Gefahr, sich zu einem dogmatischen Wissen zu verhärten und seine eigenen Entstehungsbedingungen und Differenzierungsintentionen zu vergessen. Diese Gefahr ist in den formalisierten Fachsprachen natürlich sehr viel größer als in den lebendigen Umgangssprachen, da diese sehr viel mehr Möglichkeiten haben, sich situationsspezifisch umzustrukturieren. Daher ist es sowohl beim Gebrauch als auch beim Verständnis der natürlichen Sprachen in einem erhöhten Maße notwendig, sich hermeneutisch für das Affirmations- und Negationspotenzial der jeweiligen Begriffsbildungen zu sensibilisieren.
5.1.2 Oppositionsbegriffe Das elementarste Mittel, Einzelbegriffe in einen Systemzusammenhang miteinander zu bringen und gegen ein undifferenziertes Chaos von isolierten Denkmustern anzukämpfen, ist sicher die Bildung von Oppositions- bzw. Kontrastbegriffen. Das korrespondiert auch mit der menschlichen Fähigkeit, Ja und Nein zu sagen, ein Diesseits von einem Jenseits zu unterscheiden bzw. Grenzlinien zu ziehen. Außerdem ist es auch das einfachste Mittel, sich zu orientieren und Sachinhalte dem eigenen Macht- und Gestaltungsanspruch zu unterwerfen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang dann auch, dass das Verb orientieren etymologisch auf das lat. Verb oriri (entstehen, geboren werden, aufgehen) zurückgeht. Insbesondere in seiner reflexiven Gebrauchsweise macht es darauf aufmerksam, dass man ein Phänomen immer dann gut verstehen kann, wenn man auch seine Herkunft kennt und es deswegen dann auch besser in sinnbildende Korrelationszusammenhänge einordnen kann. Jede Orientierung basiert auf fassbaren Oppositionsrelationen. Das dokumentiert sich in der Sprache durch die Ausbildung von kontrastierenden Begriffen und im Kirchenbau durch die Positionierung der Türme im Westen und der Apsis im Osten. Gerade über den Begriff der Orientierung lässt sich recht gut verdeutlichen, welch elementare Rolle Negationen in unseren Wahrnehmungs- und Strukturierungsprozessen spielen. Elementare Ordnungsprozesse konkretisieren sich nämlich dadurch, dass ein Element sich kontrastiv von einem anderen abgrenzt und eben dadurch dieses dann auch in gewisser Weise strukturell negiert. Diese
174 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung zunächst nur formale Negation kann dann natürlich leicht in eine ganz spezifisch inhaltliche übergehen, da rein deskriptive Unterscheidungen immer eine natürliche Tendenz haben, in wertende umzuschlagen. Das dokumentieren Oppositionsbegriffe wie Freund und Feind, Hellene und Barbar, Himmel und Erde, Natur und Kultur recht gut, aber natürlich auch Oppositionsbegriffe, die von vornherein schon eine wertende Orientierung anstreben, wie etwa Himmel und Hölle oder gut und böse. Auch in vereinfachenden Slogans wird natürlich recht gern vom Aufbau solcher Kontrastrelationen Gebrauch gemacht: Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein. Oppositionsbegriffe dienen insbesondere immer dazu, komplexe Sachverhalte holzschnittartig zu vereinfachen, um sie dadurch übersichtlicher zu machen. Das hat als ein erster Schritt in einer Unterscheidungsanstrengung sicherlich eine sehr elementare lebensdienliche Funktion. Deshalb begegnen uns in Mythen und Märchen auch solche klaren Oppositionsrelationen immer wieder. Sie werden allerdings problematisch, wenn man sie nicht als vorläufig gültige methodisch-heuristische Orientierungshilfen ansieht, sondern als kategoriale Seinsdifferenzierungen an sich. Ein genauerer Blick zeigt nämlich, dass es meist nur unscharfe Grenzen zwischen unseren einzelnen Erfahrungsinhalten gibt. Sprachlich fixierte Begriffsoppositionen erweisen sich bei differenzierterer Betrachtung in der Regel nämlich nicht als unbezweifelbare Seinsoppositionen, sondern eher als Denkoppositionen, ohne die wir allerdings über pragmatisch motivierte Seinsoppositionen kaum strukturiert nachdenken können. Es ist nun offensichtlich, dass bei der sprachlichen Objektivierung von Oppositionsrelationen nicht immer auf völlig eigenständige Wortbildungen zurückgegriffen werden kann. Deshalb spielt dann auch bei der Bildung von Oppositionsbegriffen die Nutzung von Negationsaffixen eine ganz wichtige Rolle. Mit ihrer Hilfe kann nämlich auf dem Wege der Negation (via negationis) nicht nur der Geltungsanspruch gegebener Begriffe formal aufgehoben werden. Vielmehr lassen sich auf diese Weise sogar neue Begriffe herstellen, die dann allmählich auch ein ganz eigenständiges semantisches Profil bekommen können (Dank‒Undank, schuldig‒unschuldig, laufen‒verlaufen). Die Verneinung des Geltungsanspruchs von etwas Bekanntem durch Negationsaffixe hat nämlich eine ganz natürliche Tendenz, nicht nur formal eine Andersartigkeit zu postulieren, sondern diese auch inhaltlich zu konkretisieren. Platons Höhlengleichnis versinnbildlicht diese Struktur sehr eindrucksvoll. Der Gefangene, dem man die Fesseln gelöst hat und der aus der Höhle in die eigentliche Welt geführt wird, erlebt diese zunächst nur als Negation der ihm bekannten Welt, aber dann doch mehr und mehr als eine ganz andere Welt, die den Geltungsanspruch der angenommenen Differenzierungen in der Höhlenwelt entscheidend einschränkt bzw. in ihrer Allgemeingültigkeit sogar aufhebt.
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Dieses Strukturverhältnis mag wohl auch Hegel dazu bewogen haben, die Vorstellung des negierenden Aufhebens, die natürlich auf ganz entscheidende Weise durch die Bildung von Oppositionsbegriffen bzw. durch die Ausbildung von Thesen und Antithesen bestimmt wird, zu einem ganz zentralen Analysebegriff für die Aufklärung der Struktur des Denkens bzw. des geistigen Lebens zu erklären. Dem Begriff des Aufhebens schreibt Hegel nämlich einen dreifachen Sinn zu, insofern dieser für ihn einen Prozess bezeichnet, in dem etwas sowohl beseitigt als auch hochgehoben als auch bewahrt werde.1 Wenn man diesem Denkansatz folgt, dann bedeutet das, dass man die Bildung von negierenden Oppositionsbegriffen hinsichtlich ihrer Funktion für das geistige Leben missversteht, wenn man sie nur als eine Ausdrucksform eines binären Entweder-Oder-Denkens ansieht, bei dem die Übernahme der einen Position die Existenzberechtigung der jeweils anderen ausschließt. Vielmehr muss in diesem Denken das Negationsverfahren als ein Schritt in einem Sinnbildungsverfahren verstanden werden, bei dem neue Denk- und Wahrnehmungsperspektiven entwickelt werden, welche die alten nicht prinzipiell für nichtig erklären, sondern diese vielmehr relativierend und ergänzend weiterentwickeln wollen, indem sie neue Grenzziehungen zu erproben versuchen. So betrachtet können dann Oppositionsbegriffe heuristisch gesehen ganz ähnliche Funktionen bekommen wie Fiktionen und Utopien. Die Frage nach den Prämissen, der Genese und den Funktionen von Oppositionsbegriffen ist zugleich immer auch eine Frage nach ihren Funktionen in heuristisch orientierten Sinnbildungsprozessen. So hat sich beispielsweise in der Antike die Opposition von Hellene und Barbar über den Begriff Kosmopolit aufgelöst. Auch die Opposition von Christ und Heide verlor an Schärfe, als in der Literatur die Vorstellung vom edlen Heiden entwickelt wurde. Oppositionsbegriffe haben als perspektivierende Differenzierungsbegriffe zu gewissen Zeiten sicherlich ihre pragmatische und historische Berechtigung, aber sie haben keinen Ewigkeitswert. Sie können gegenstandslos werden, wenn neue Erfahrungen gemacht werden bzw. wenn sich neue Differenzierungsmöglichkeiten ergeben. Beispielsweise war lange Zeit die Opposition von Leben und Tod eine unbezweifelbare Tatsache. Als sich dann aber die Möglichkeit ergab, zwischen Herztod und Hirntod zu unterscheiden, wurde dieses klare Oppositionsverhältnis als absolutes Negationsverhältnis gegenstandslos, weil es sich nun nur noch als Negationsverhältnis in einem ganz bestimmten Denkrahmen verstehen ließ. In der Gestaltpsychologie sind solche Kippeffekte in Oppositions- bzw. Negationsrelationen in dem Denkmodell von Grund und Figur thematisiert worden. �� 1 G. W. F. Hegel, Wissenschaft von der Logik I, Werke Bd. 5, S. 114.
176 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung In diesem Modell wird nämlich postuliert, dass sich ein Phänomen als fassbare Gestalt bzw. als Figur nur dann geltend machen kann, wenn es sich kontrastierend und negierend von einem bestimmten Hintergrund abhebt. Dabei wird dann auch angenommen, dass das, was jeweils als Figur oder als Grund angesehen wird, nicht einfach vorgegeben ist, sondern vielmehr selbst von bestimmten Wahrnehmungsperspektiven bzw. Erkenntnisinteressen abhängt. So kann beispielsweise dasselbe optisch fassbare Phänomen entweder als helle Vase vor einem dunklen Hintergrund wahrgenommen werden oder als Schattenriss von zwei Gesichtsprofilen vor einem hellen Hintergrund.2 Je nach der bewussten oder unbewussten Entscheidung, was in einer Oppositionsrelation als affirmierend oder als negierend angesehen werden soll, nehmen wir das jeweils gegebene Korrelationsverhältnis von Elementen als eine andere Gestalt bzw. als eine andere Information wahr. Auch das immer wieder geltend gemachte Bedingungsverhältnis zwischen den Begriffen Herr und Knecht lässt sich nach dem Modell von Figur und Grund konkretisieren. Beide Begriffe lassen sich nur korrelativ zueinander näher bestimmen, da sie sich wechselseitig Gestalt geben. Damit erweisen sich diese beiden Begriffe dann letztlich auch als pragmatisch motivierte methodische Strukturierungsmuster, aber nicht als unabänderlich vorgegebene ontische Seinsmuster. Über den Oppositionsgedanken lassen sich letztlich alle Begriffsbildungen mit dem Negationsgedanken in Verbindung bringen. Dabei ist dann allerdings zu beachten, dass der Negationsgedanke weniger aus ontisch legitimierten Binaritätsvorstellungen hergeleitet werden sollte, sondern eher aus pragmatisch motivierten Differenzierungsintentionen. Dadurch werden dann Negationen natürlich immer zu vorläufigen bzw. zu heuristischen oder methodischen Negationen in ganz bestimmten Denkperspektiven und Denkstrategien. Im Rahmen dieses Verständnisses von Negationen fällt es dann auch nicht schwer, dass kontrastive Verhältnis unseres begrifflichen und unseres metaphorischen Sprachgebrauchs mit Hilfe des Negationsgedanken zu charakterisieren. Die Intention zur Bildung und zum Gebrauch von Metaphern wird offenbar von der Grundüberzeugung getragen, dass das jeweilige Sinnbildungsziel des Sprechens nicht mit Hilfe des konventionalisierten begrifflichen Sprachgebrauchs realisiert werden kann, sondern nur dadurch, dass man von der gegebenen Sprache anders als üblich Gebrauch macht. Durch die bildliche Sprachverwendung wird dann natürlich auch die Leistungskraft des konventionalisierten
�� 2 Vgl. A. Wellek, Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie, 19692, S. 49f.
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begrifflichen Sprachgebrauchs in ganz bestimmten Hinsichten negiert bzw. zumindest relativiert.
5.1.3 Begriffsfelder Die Ausbildung von Oppositionsbegriffen geht in allen Sprachen bzw. Sprachverwendungsformen auf ganz natürliche Weise immer in die Ausbildung von Begriffssystemen bzw. Begriffsfeldern über, weil die jeweiligen sprachlichen Differenzierungs- und Systematisierungsleistungen natürlich intersubjektiv gut verständlich sein müssen. Deshalb bilden sich Ober-, Neben- und Unterbegriffe heraus, die gewährleisten, dass die Sprache flexibel für unterschiedliche Mitteilungsbedürfnisse verwendet werden kann. Das bedeutet dann auch, dass sich im Vokabular einer Sprache Oppositionsrelationen auf ganz unterschiedlichen Abstraktions- und Informationsebenen ausbilden, die sich allerdings durchaus überschneiden können. Insbesondere in den formalisierten Fachsprachen, aber auch in den natürlichen Sprachen, gibt es dabei eine Tendenz, das vorhandene Vokabular zu einem übersichtlichen Systemraum durchzustrukturieren. Die rein additive Anhäufung von Begriffen in einem unstrukturierten Aggregatraum würde die intersubjektive Verständlichkeit bzw. Informationsgenauigkeit der Sprache nämlich ganz erheblich einschränken. Insbesondere bei der lexikalischen Durchstrukturierung von überschaubaren und relevanten Sachbereichen (Verwandtschaftsverhältnisse, Rangunterschiede, Krankheiten, Werkzeuge usw.) haben sich begriffliche Ordnungssysteme mit Oppositionsrelationen in unterschiedlichen Hinsichten ausgebildet, für die sich inzwischen die Bezeichnung Begriffsfeld bzw. Wortfeld eingebürgert hat. Der Begriff des Feldes eignet sich dabei vielleicht besser als der des Systems dazu, die variable Struktur dieser affirmierenden und negierenden Ordnungszusammenhänge zu erfassen. Der Vorteil des Feldbegriffs besteht darin, dass er im Gegensatz zu dem relativ statisch orientierten Systembegriff nicht so leicht im Sinne eines Mosaiks verstanden werden kann, wo jedes Einzelelement einen ganz festen Systemplatz hat. Der Begriff des Feldes lässt sich nämlich recht gut durch die Vorstellung des Korrelationszusammenhangs von Läufern in einem Wettbewerb exemplifizieren, bei denen sich die Positionen der einzelnen Feldmitglieder je nach Zeit bzw. Wahrnehmungsumständen ständig verschieben können. Die methodische Problematik des Feldbegriffs liegt allerdings ähnlich wie die des Systembegriffs darin, dass sich mit ihm eigentlich nur Korrelationszusammenhänge auf einer semantischen Ebene exakt beschreiben lassen. Deshalb ist er im Rahmen von formalisierten Fachsprachen auch leichter zu handhaben
178 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung als im Rahmen von natürlichen Sprachen, weil in letzteren nicht nur rein sachbezogene, sondern auch emotionale, wertende, soziale, historische oder klangliche Differenzierungsinteressen bedeutsam werden können. Gleichwohl liegt der große Vorteil des Feldgedankens darin, dass er nachdrücklich auf ein grundlegendes Strukturverhältnis in allen Sprachen aufmerksam macht, das schon Humboldt sehr prägnant thematisiert hat: „Es giebt nichts Einzelnes in der Sprache, jedes ihrer Elemente kündigt sich nur als Theil eines Ganzen an.“3 Obwohl sich in natürlichen Sprachen Feldordnungen und die mit ihnen verbundenen Affirmations- und Negationsimplikationen schwerer erfassen und handhaben lassen als in formalisierten Sprachen, heißt das natürlich nicht, dass sie hier eine weniger große Bedeutsamkeit haben. Auch hier müssen sie grundsätzlich als Manifestationen von Wissensstrukturen verstanden werden bzw. als fundamentale Prämissen des aktuellen Sprachgebrauchs. Jede Wahl eines Wortes beinhaltet zugleich immer eine intuitive oder bewusste Abwahl eines konkurrierenden Wortes und damit auch eine Entscheidung für eine ganz bestimmte Wahrnehmungsperspektive für das sprachlich jeweils zu objektivierende Phänomen. Die alltägliche und die fachsprachliche Nutzung derselben Wörter können sich deshalb auch ganz erheblich voneinander unterscheiden, weil sie in den verschiedenen Verwendungsformen der Sprache feldmäßig einen ganz anderen Stellenwert haben können. So werden beispielsweise im alltäglichen Sprachgebrauch die Wörter Eigentümer und Besitzer weitgehend als Synonyme verwendet. Im juristischen Sprachgebrauch ist das dagegen unzulässig, weil beide Termini hier ganz andere Affirmations- und Negationsimplikationen haben. So hat beispielsweise der Eigentümer eines Hauses ein grundlegendes Verfügungsrecht über ein Haus, während der Besitzer eines Hauses nur ein begrenztes Nutzungsrecht an ihm hat, insofern er beispielsweise nur Mieter sein kann. In ganz ähnlicher Weise werden im juristischen Sprachgebrauch wie schon erwähnt die Termini Mord, Totschlag und fahrlässige Tötung konsequent unterschieden, weil sie Begriffe bezeichnen, die ganz andere Affirmations- und Negationsimplikationen haben. Sie sollen nämlich von vornherein unsere Aufmerksamkeit auf ganz unterschiedliche Prämissen, Konsequenzen und Bewertungen von Tötungsdelikten richten und nicht nur einen faktischen Tatbestand als solchen thematisieren. Die Affirmations- und Negationsimplikationen von bestimmten Wörtern können strafrechtlich sehr relevant werden. So hatte beispielsweise das Bundesverfassungsgericht 1995 zu entscheiden, ob der Autoaufkleber „Soldaten sind Mörder“ den Tatbestand der Beleidigung von Bundeswehrsoldaten erfülle �� 3 W. von Humboldt, Werke Bd. 3, 19693. S. 10.
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oder nicht. Dabei war dann einerseits zu berücksichtigen, dass dieser Spruch ein Tucholsky-Zitat war, und andererseits, ob bei seiner strafrechtlichen Würdigung von einem umgangssprachlichen oder von einem juristischen Verständnis des Wortes Mörder auszugehen war. Während im juristischen Verständnis der Begriff Mord nur auf Tötungsdelikte angewendet werden kann, die die Tatbestände Heimtücke, Grausamkeit, Vorsatz und niedere Beweggründe erfüllen (§ 211 STGB), ist das im alltäglichen Verständnis sicherlich kaum der Fall. Das Bundesverfassungsgericht hob in diesem Streitfall dann auch die Urteile von Vorinstanzen, die den Tatbestand der Beleidigung durchaus als erfüllt angesehen hatten, mit der Begründung auf, dass diese Aussage nicht direkt auf Bundeswehrsoldaten zu beziehen sei und dass das Wort Mörder in diesem Zusammenhang nicht unbedingt in seiner spezifischen juristischen Definition verstanden werden müsse. Es handele sich in diesem speziellen Fall weniger um eine juristische Sachbehauptung, sondern eher um eine Vermutungsformel, die in den Bereich der Meinungsfreiheit falle. Bei der Klärung der spezifischen Affirmations- und Negationsimplikationen von Begriffsbildungen in der natürlichen Umgangssprache haben wir nicht nur zu berücksichtigen, dass diese sich im Verlaufe der Sprachgeschichte ständig wandeln, sondern auch, dass die einzelnen Sprachnutzer eine unterschiedliche historische und systematische Kenntnis dieser Implikationen haben können. Oft stellt sich nämlich erst im situativen und sprachlichen Kontext heraus, was mit den einzelnen Wörtern bestätigt und negiert werden soll. Das exemplifiziert der ironische und metaphorische Sprachgebrauch sehr deutlich. In den formalisierten Wissenschaftssprachen werden in der Regel unscharfe Begriffe und unscharf strukturierte Begriffsfelder als sprachliche Defizite empfunden, die allenfalls in paradigmatischen Umbruchssituationen geduldet werden können. Im Rahmen der Aufgaben der natürlichen Sprachen sind diese Unschärfen dagegen unabdingbare Funktionsprämissen, ohne die diese ihre mehrdimensionalen semantischen Sinnbildungsfunktionen gar nicht erfüllen könnten. Kontrast- und Negationsrelationen müssen hier ständig neu konstituiert und variiert werden, was natürlich eine sehr hohe hermeneutische Sensibilität für die Beurteilung von Sachverhalten und für die Interpretation von Sprachformen voraussetzt. Im Operationsrahmen der natürlichen Sprachen erfasst man Phänomene oft nicht dadurch, dass man auf sie selber schaut, sondern gerade dadurch, dass man auf andere Phänomene schaut, die mit ihnen in einer Oppositions- oder gar Negationsrelation stehen oder stehen können. Dadurch wird dann auch die Grundthese bestätigt, dass Negationenrelationen weniger als Seinsrelationen anzusehen sind, sondern eher als Denk- und Wahrnehmungsrelationen, die aus einem ganz spezifischen Wahrnehmungsinteresse resultieren. Das schon er-
180 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung wähnte dialektische Korrelationsverhältnis von Herr und Knecht exemplifiziert das sehr klar.
5.2 Privativa Als Privativa werden üblicherweise Begriffsbildungen bezeichnet, welche die Abwesenheit von etwas eigentlich Erwartbarem bzw. den Mangel von natürlichen Sacheigenschaften thematisieren. Das verdeutlicht auch die etymologische Herkunft dieses etwas sperrigen Wortes bzw. Begriffs (lat. privare = berauben). Privativa treten als solche in ganz offensichtlicher Weise immer dann in Erscheinung, wenn die jeweiligen Begriffsnamen mit Hilfe von konventionalisierten Negationsaffixen gebildet worden sind (Unsinn, entlauben, sinnlos), und in etwas weniger offensichtlicher Weise, wenn der Hinweis auf einen bestimmten Mangel aus der sachthematischen Semantik der jeweiligen Begriffsbildung selbst abgeleitet werden muss (Krankheit, fehlen, leer). Aus diesen Strukturverhältnissen ergibt sich schon, dass die Negationsimplikationen von Privativa gar nicht so leicht zu fassen und zu beschreiben sind. Dabei werden wir nämlich mit dem grundsätzlichen ontologischen Problem konfrontiert, uns Rechenschaft darüber abzulegen, was als Seinsnorm und was als Kulturnorm anzusehen ist bzw. ob die Abwesenheit bzw. die Beraubung von etwas in jedem Fall als ein Mangel zu deuten ist (Parklücke, abschälen, waffenlos). Privativa sind deshalb gerade wegen ihrer möglichen Ambivalenzen und pragmatischen Interpretationsbedürftigkeiten sehr interessante Sinnbildungsformen. Ihr Gebrauch gibt uns nämlich nicht nur Aufschluss über den Zustand von Welt, sondern auch über die Wahrnehmungsweise von Welt durch bestimmte Kulturen bzw. Subjekte.
5.2.1 Wahrnehmungsweisen für Privativa Normalerweise erwarten wir, dass unsere Begriffe Denkmuster sind, mit deren Hilfe wir individuelle Erfahrungsgegenstände zutreffend kategorial einordnen und damit auch kognitiv bestimmen und beherrschen können. Gerade Privativa offenbaren nun aber, dass unsere Begriffsbildungen keineswegs immer so deskriptiv bzw. abbildend sind, wie wir es gerne hätten, sondern dass sie immer mehr oder weniger offensichtliche Interpretations- und Wertungsimplikationen haben. Das ist nun aber keineswegs nur als etwas Problematisches zu beurteilen, sondern kann durchaus auch als eine pragmatisch wichtige Verstehenshilfe angesehen werden.
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Kulturhistorisch betrachtet kommt der Terminus Privativum aus der Wortbildungslehre der griechisch-römischen Grammatiker. Diese haben nämlich Wortbildungen mit Hilfe des Negationspräfixes a- als Privativa bezeichnet, um darauf aufmerksam zu machen, dass auf diese Weise die sachliche Gültigkeit des jeweiligen Basisbegriffs eingeschränkt oder gar aufgehoben wird. Dieses Negationspräfix wurde dabei wahlweise entweder als alpha privativum (Beraubungsalpha) oder als alpha negativum (Negationsalpha) bezeichnet. Im Deutschen entsprechen dem Negationspräfix a- dann insbesondere die Negationsaffixe un- sowie -los. Die beiden unterschiedlichen Benennungen des Negationspräfixes a- in der Antike machen schon deutlich, dass man die damit erzeugten Privativa auch in ganz unterschiedlich akzentuierte Denk- bzw. Sinnzusammenhänge einordnen kann. Wenn man die Bezeichnung alpha privativum wählt, dann setzt man ontologisch gleichsam voraus, dass es ideale ontische Seinsformen gibt, denen das aktuell zu benennende Phänomen nicht entspricht, weil es bestimmter Eigenschaften beraubt ist, durch die diese Seinsform üblicherweise konstituiert wird (Rechtsstaat ‒ Unrechtsstaat, Glaube ‒ Unglaube). So gesehen sind Privativa dann sprachliche Begriffsbildungen, die zwar faktische Tatbestände objektivieren und die eben deshalb auch als klassifizierende Begriffe angesehen werden können, die aber gleichwohl immer auch auf bestimmte Defizite, Seinsmängel oder Normabweichungen aufmerksam machen sollen. Wenn man dagegen mit der Bezeichnung alpha negativum arbeitet, dann signalisiert man von vornherein, dass man nicht auf einen Seinsmangel hinweisen will, sondern lediglich darauf, dass man über die Negation einer konventionalisierten Begriffsbildung einen neuen Begriff konstituieren möchte. Das bedeutet dann auch, dass man sich im Prinzip eher für Begriffsnormen als für Seinsnormen interessiert. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird nun deutlich, dass man den Terminus Privativum sowohl für ein substanz- als auch für ein relationsorientiertes Denken in Anspruch nehmen kann, je nachdem ob man den ontologisch orientierten Beraubungs- oder den logisch orientierten Negationsgedanken in den Mittelpunkt seiner Wahrnehmungsinteressen stellt. Das wird bei der Verwendung von Negationsaffixen bei Wort- bzw. Begriffsbildungen dann auch ganz offensichtlich. Weniger offensichtlich wird diese Implikation, wenn wir auch diejenigen Begriffsbildungen zu den Privativa rechnen, die zwar als ganz eigenständige lexikalische Formen in Erscheinung treten, aber ontologisch gleichwohl als Negationsformen einer natürlich gegebenen Grundform angesehen werden können. Es stellt sich in diesem Zusammenhang dann nämlich immer die Frage, ob wir Krankheit als Abwesenheit von Gesundheit, Kälte als Abwesenheit von
182 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung Wärme und das Böse als Abwesenheit des Guten verstehen sollen oder als eigenständige Seinsphänomene, die über den Entzugsgedanken allein nicht zureichend erfasst werden können. So betrachtet sind dann Privativa nicht nur als Wortbildungsmuster interessant, sondern auch als ontologische Interpretationsmuster. Sie können deshalb dann auch als Ansatzpunkte für Bemühungen in Anspruch genommen werden, das Seinsverständnis von Kulturen, Epochen und Personen genauer zu bestimmen. Die Spannweite des Erkenntnisinteresses kann dabei von philosophischen bis zu ästhetischen und ironischen Problemzusammenhängen reichen.
5.2.2 Kulturgeschichtliche Aspekte von Privativa Kulturgeschichtlich und semiotisch gesehen stellt sich im Hinblick auf Privativa immer die Frage, ob wir über ihre semantische Analyse und ihren faktischen Gebrauch primär etwas über die Welt erfahren oder über die Sicht von Menschen auf die Welt bzw. ob wir Privativa in einer ontologisch oder einer psychologisch orientierten Denkperspektive zu betrachten haben. Im Laufe unserer der Kulturgeschichte haben sich die Wahrnehmungsinteressen für die sogenannten Privativa diesbezüglich nämlich ganz erheblich verschoben. Aristoteles hat das Privativaproblem recht deutlich in ontologische Denkzusammenhänge integriert, insofern er es ausdrücklich mit Defizit- bzw. mit Beraubungsvorstellungen in Verbindung gebracht hat. Er spricht davon, dass eine Privation immer dann vorliege, wenn ein Phänomen nicht die Eigenschaften aufweise, die es natürlicherweise eigentlich besitzen müsste, bzw. wenn einer Substanz ganz bestimmte Eigenschaften entzogen worden seien. Das können wir uns dann dadurch verdeutlichen, dass wir Grundbegriffe entweder mit einem Negationsvorzeichen versehen oder von vornherein so bilden, dass sie uns auf einen bestimmten sachlichen Mangel hinweisen (Unsitte, Ungeduld, Krankheit, Blindheit).4 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Aristoteles von der Grundüberzeugung ausgeht, dass es stabile natürliche Seins- bzw. Wesensformen gebe und dass deshalb auch die Abweichungen von diesen Wesensformen bzw. das ihnen Entgegengesetzte von diesen natürlichen Wesensformen her zu verstehen sei. Dementsprechend möchte er dann auch das Phänomen Krankheit nicht als ein eigenständiges Seinsphänomen verstanden wissen, sondern nur als Abweichung von einer natürlichen Seinsform. Diese Argumentation zeigt, �� 4 Aristoteles, Metaphysik 1022b, Philosophische Schriften, 1995, Bd. 5, S. 117.
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dass Aristoteles grundsätzlich von festen Wesensvorstellungen bzw. von stabilen Substanzbegriffen ausgeht, die als Normvorstellungen im Prinzip auch das schon sinnbildend mitstrukturieren, was von ihnen im Sinne einer Negation abweicht. Das hat zur Konsequenz, dass für ihn die sogenannten Privativa im Prinzip nicht auf eigenständige Seinsgrößen verweisen, sondern nur auf Abweichungen von ihnen. Deshalb wären sie dann auch nur als sprachliche Repräsentationen von Denkgrößen anzusehen, aber nicht als sprachliche Repräsentationen von Seinsgrößen. Bemerkenswert ist nun allerdings, dass sich Aristoteles gerade im Hinblick auf Privativa doch gezwungen sieht, ontologisch nicht nur substanziell, sondern wider Willen auch relational zu denken. Das dokumentiert sich beispielsweise darin, dass er das Phänomen Krankheit eigentlich nur über die Vorstellung der Abwesenheit von Gesundheit erklären kann. Gleichwohl hält er aber im Prinzip daran fest, dass der Begriff Gesundheit der natürliche ontische Grundbegriff ist. „Die Gesundheit aber ist der Begriff in der Seele und in der Wissenschaft.“5 Auch Augustin hat sich mit dem Problem der Privativa beschäftigt und die Frage gestellt, ob Wörter, die dieser Klasse zugeordnet werden, überhaupt als sprachliche Zeichen angesehen werden könnten. „Ja, aber kann ein Wort, das nicht etwas bezeichnet, auch ein Zeichen sein?“6 Diese Frage stellt sich ihm insbesondere im Hinblick auf das Wort nichts (nihil), das sich durchaus als Privativum klassifizieren lässt, insofern es ja nichts Gegebenes bezeichnet, sondern nur die Abwesenheit von allem konkret Erwartbaren oder Vorstellbaren. Wenn man im Hinblick auf sprachliche Zeichen rein referenz- bzw. abbildungstheoretisch denkt, dann wird es in der Tat problematisch im Fall des Wortes nichts von einem Zeichen zu sprechen. Wenn man diesbezüglich allerdings wahrnehmungspsychologisch denkt, dann ergeben sich keine grundsätzlichen Probleme, weil dieses Wort die Unerfülltheit einer bestimmten Erwartung thematisiert und insofern durchaus einen bestimmten menschlichen Denkinhalt objektiviert. So gesehen wird dann zugleich deutlich, dass es sprachtheoretisch höchst problematisch ist, Privativa im Denkrahmen von ontischen Seinsvorstellungen zu erfassen und klassifizieren. Dagegen ist es recht unproblematisch Privativa als sprachliche Repräsentationsformen für rein humane Denkmuster oder Denkfiguren anzusehen, die bei der kognitiven und kommunikativen Bewältigung von bestimmten menschlichen Erfahrungs- und Handlungswelten unverzichtbar sind.
�� 5 Aristoteles a. a. O. 1032b, Bd. 5, S. 143. 6 A. Augustinus, Der Lehrer (de magistro), 1958, S. 5.
184 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung Überraschend ist daher auch nicht, dass John Locke, der als pragmatisch orientierter Empirist eine tiefe Abneigung gegen alle ontologischen Wesensspekulationen hatte, sich mit dem Problem der Privativa beschäftigt hat, zu denen er insbesondere Wörter wie nichts (nihil), Unwissenheit oder Geistesleere rechnet. Von all diesen negativen oder privativen Wörtern kann man eigentlich nicht sagen, daß sie keiner Idee zugehörten oder keine Idee bezeichneten; denn sonst wären sie völlig bedeutungslose Laute. Sie beziehen sich jedoch auf positive Ideen und bezeichnen deren Abwesenheit.7
Lockes Argumentation wird erst dann kulturhistorisch wirklich verständlich, wenn man berücksichtigt, dass er mit dem Terminus Idee (engl. idea) keine platonische Idee meint und auch keinen normativen Wesensbegriff, der als abstrakte Form hinter den empirisch fassbaren Einzelphänomenen steht, sondern nur ein pragmatisch motiviertes Denkmuster für den sinnvollen Umgang mit der Welt bzw. mit Erfahrungen. Privativa stellen sich für Locke deshalb prinzipiell als Vorstellungen dar, die sich aus der Negation von positiv beschreibbaren Denkmustern bzw. Denknormen ergeben. Deshalb will er Privativa dann auch eher als Manifestationsformen von pragmatisch motivierten Sinnbildungsoperationen verstanden wissen, die auf die Handhabung von etablierten Denkmustern bezogen sind, und weniger als sprachliche Ausdrucksformen, die Defizite oder Mängel von gegebenen Seinsformen thematisieren sollen. Auch Kants Überlegungen zu den Negationsimplikationen von bestimmten Begriffsbildungen sind hilfreich, um die Privativaproblematik zu verstehen. Sie führen nämlich von allen ontologischen Spekulationen über die Mängel von bestimmten Seinsformen weg und lenken unsere Aufmerksamkeit stattdessen auf die methodischen Funktionen von Negationen in sprachlichen Sinnbildungsprozessen. Kant spricht zwar von „negativen Größen“, aber er möchte diese nicht als „Negationen von Größen“ verstanden wissen, sondern nach dem Vorbild der Mathematik nur als Größen, die das Gegenteil anderer Größen bezeichnen. Das bedeutet, dass für Kant negative Größen durchaus „etwas an sich selbst wahrhaftig Positives“ haben könnten, da sie ja nur in ganz bestimmten Relationszusammenhängen als negative Größen in Erscheinung träten, in anderen aber nicht.8 Er betont ausdrücklich, dass man „eigentlich keine Größe schlecht-
�� 7 J. Locke, Über den menschlichen Verstand, Bd. 2, 19763, 3. Buch, Kap. 1.4, S. 2. 8 I. Kant, Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen, A VI, Werke Bd. 2, S. 781.
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hin negativ nennen kann, sondern sagen muß, daß +a und ‒a eines die negative Größe der andern sei.“9 Wenn man nun wie Kant bei Negationsproblemen rein relational denkt, dann ist sein Denkansatz nicht nur im Hinblick auf diejenigen Privativa aufschlussreich, die explizite Negationsmorpheme aufweisen (Unheil, verlaufen schamlos), sondern auch im Hinblick auf diejenigen, bei denen die jeweilige Begriffsbildung schon von vornherein gewisse Negationsimplikationen aufweist (Schulden, stehlen, krank). Hier sind wir nämlich seiner Meinung nach immer dazu aufgefordert, uns Rechenschaft darüber abzulegen, in welchen Relationszusammenhängen wir bei ihnen von Negationsimplikationen sprechen können und in welchen nicht bzw. auf welche konkreten Normverletzungen sie jeweils aufmerksam zu machen versuchen. Um das relationale Denken zu fördern und um den Systemzusammenhang von Begriffen klarzustellen, hält es Kant deshalb auch für gerechtfertigt, Schulden als „negative Kapitalien“, Hass als „negative Liebe“, Hässlichkeit als „negative Schönheit“, Strafen als „negative Belohnungen“ und Nehmen als „negatives Geben“ zu verstehen.10 Diese Argumentation entspricht dann auch im Prinzip derjenigen der Gestaltpsychologen, die ja postulieren, dass unsere Wahrnehmungs- und Denkprozesse auf den Kontrastrelationen zwischen Grund und Figur aufbauen, wobei es durchaus zu einem Rollentausch kommen kann, wenn es veränderte Wahrnehmungs- und Erkenntnisinteressen gibt. Heute wird man es ontologisch kaum noch rechtfertigen können, eine Wortbzw. Begriffsklasse anzunehmen, mit der sich kategorial alle Begriffsbildungen zusammenfassen lassen, die ontische Negationsimplikationen haben bzw. die uns auf ontische Defizite und Mängel aufmerksam machen. Das wäre allenfalls im Rahmen von geschlossenen ideologischen Denksystemen vorstellbar. Gleichwohl wird man aber nicht in Abrede stellen können, dass unser Vokabular semantisch nicht rein deskriptiv strukturiert ist, sondern immer auch normativ, und dass deshalb Einzelvorstellungen ihr spezifisches Profil und Relief immer auch durch Kontrast- bzw. Negationsrelationen zu anderen bekommen. Aus diesem Strukturverhältnis ergibt sich dann die Aufgabe, der Frage etwas genauer nachzugehen, in welchen konventionellen oder aktuellen Affirmations- und Negationsrelationen bestimmte Begriffsbildungen zu anderen stehen. Diesbezüglich kann deshalb auch das Denkkonzept durchaus hilfreich sein, das im Rahmen von sprachtheoretischen Reflexionen mit Hilfe des Terminus Privativum thematisiert worden ist. Das soll nun am Beispiel der mögli-
�� 9 I. Kant, a. a. O., A 9, Bd. 2, S. 786. 10 I. Kant, a. a. O., A 26, Bd. 2, S. 794ff.
186 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung cherweise privativen Begriffsbildungen Wüste, Schatten und Loch exemplarisch illustriert und erörtert werden.
5.2.3 Wüste, Schatten und Loch als Privativa Im Rahmen europäischer Lebenserfahrungen und Denkgewohnheiten kann man das Wort bzw. den Begriff Wüste sicherlich als Privativum verstehen, weil die damit benannten Erfahrungsphänomene üblicherweise als Defizitphänomene wahrgenommen werden. Wüsten verstehen wir in der Regel als lebensfeindliche Räume, die durch einen Mangel an Wasser, Vegetation und Bewohnbarkeit geprägt sind. Dafür spricht auch die etymologische Herkunft dieses Begriffsnamens. Das Wort Wüste geht nämlich auf das ahd. Adjektiv wuosti (öde, unbebaut, leer) zurück, das stammverwandt mit dem lat. Adjektiv vestus (öde, leer, roh) ist. Anzunehmen ist nun allerdings, dass Wüstenbewohner das Phänomen Wüste sicherlich ganz anders wahrnehmen, als es die etymologische Herkunft dieser Bezeichnung im Deutschen nahelegt. Für diese Menschen stellt sich die Wüste sicherlich nicht als ein Mängelphänomen dar, sondern eher als ein ganz natürlicher Lebensraum, der sich auch positiv durch die Merkmale der Weite, der Formenvielfalt, der freien Beweglichkeit des Menschen in ihr usw. kennzeichnen lässt. Festzuhalten ist außerdem auch, dass selbst zivilisationsgeprägte Menschen die Wüste keineswegs nur als einen lebensfeindlichen Raum wahrnehmen, sondern durchaus auch als einen Raum verstehen können, der erfahrbar macht, dass es menschliches Leben auch in anderen als den gewohnten Ausprägungsformen geben kann. Die Wüste ließe sich dann sogar als ein spezifischer Raum verstehen, der sich in einem positiven Sinne kontrastiv als Figur von dem Grund der zivilisatorisch geprägten Lebensräume abheben kann. Das exemplifiziert sich sehr schön in der Auffassung eines Mannes, der sich immer wieder in die Wüste zurückgezogen hat, weil er das als eine Chance begriff, in einer zivilisatorischen Leere im Sinne einer vollständigen individuellen Eigenverantwortlichkeit leben zu können. Auch für ihn stellt sich die Wüste nicht prinzipiell als ein defizitäres Seinsphänomen dar, sondern vielmehr auch als eine Möglichkeit, menschliche Lebensformen kennenzulernen und zu verwirklichen, die ihm in seinem üblichen Leben verstellt oder gar verschlossen sind. Wie sehr unsere perspektivische Wahrnehmung und individuelle Lebenserfahrung bedingt, ob wir etwas als ein Defizit- oder als ein Wunschphänomen wahrnehmen, illustriert auch ein Aphorismus von Lichtenberg. Dieser besagt, dass ein Missionar einer Gemeinde Grönländer die Flammen und Hitze der Hölle
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recht fürchterlich ausgemalt hat. Das habe dann allerdings den unerwarteten Effekt gehabt, dass „sich alle nach der Hölle zu sehnen angefangen hätten.“11 Auf ganz ähnliche perspektivische und strukturelle Wahrnehmungsverhältnisse stoßen wir, wenn wir zu entscheiden haben, ob wir den Begriff Schatten unter die Privativa einordnen sollen oder nicht. Für eine solche Zuordnung spräche, dass sich der Schatten durch einen Mangel an Licht im Sinne einer lebensfeindlichen Kraft konstituiert. Nicht zufällig spricht man ja auch vom Schattenreich der Toten, insofern diese ja nicht mehr am üblichen Leben teilnehmen und für die Lebenden deshalb gleichsam nur noch als abstrakte Erinnerungswesen existieren, aber nicht mehr als konkrete Lebens- oder Dialogpartner. Nun ließe sich aber auch argumentieren, dass die Toten als abstrakte Wesen gerade dadurch intensiv auf die konkrete Welt der Lebenden einwirken, weil sie Denk- und Sprachnormen gesetzt und hinterlassen haben, die auf verdeckte Weise immer noch nachwirken. Hugo von Hofmannsthal hat das wie schon erwähnt sehr prägnant aphoristisch veranschaulicht. „Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit.“12 Im lichtbedürftigen Mitteleuropa ist der Schatten ziemlich durchgängig zu einem Sinnbild des Mangels geworden bzw. zu einem Sinnbild lebensferner Abstraktionen. So hat beispielsweise Herder betont, dass wir Gefahr laufen, unser Wissen von der Welt zu vereinfachen, wenn wir dieses nur über die Sprache erwerben, aber nicht über den direkten Umgang mit den Dingen selbst. Da lernen wir eine ganze Reihe von Bezeichnungen aus Büchern, statt sie aus und mit den Dingen selbst, die jene bezeichnen sollen, zu erfinden: wir wissen Wörter und glauben die Sachen zu wissen, die sie bedeuten: wir umarmen den Schatten statt des Körpers, der den Schatten wirft.13
Das Verständnis des Schattens als defizitäres Vereinfachungsphänomen begegnet uns auch schon in Platons Höhlengleichnis. Die Gefangenen sehen in ihrer Höhle nicht die Welt selbst im Sonnenlicht, sondern nur die Schatten, welche bestimmte Artefakte in einem künstlichen Licht auf eine Wand werfen.14 Die defizitären Implikationen des Schattens kommen auch zum Ausdruck, wenn Jean Paul davon spricht, dass der Mensch von vier Dingen nachgemacht werde, nämlich „vom Echo, Schatten, Affen und Spiegel.“15 Auch wenn davon gesprochen wird, dass das Geld seine Existenz einer Abstraktionsleistung verdanke, inso�� 11 G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher, Bd. 2, 19803, S. 134, G.11. 12 H. von Hofmannsthal, Prosa I, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, 1950, S. 267. 13 J. G. Herder, Kritische Wälder, Viertes Wäldchen, Sämmtliche Werke Bd. 4, 1878, S. 58. 14 Platon, Politeia, 7. Buch 514a‒517b, Werke Bd. 3, S. 224‒226. 15 J. Paul, Levana § 138, Werke Bd. 10, S. 844.
188 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung fern es als Schatten von Waren angesehen werden könne, dann lässt sich der Schatten durchaus als ein Privativum verstehen. Der Schatten muss nun aber nicht zwangsläufig als etwas Defizitäres oder als eine Mangelerscheinung angesehen werden, er kann durchaus auch als etwas Hilfreiches, Lebensdienliches und möglicherweise sogar Unverzichtbares verstanden werden, da er uns ja auch vor der sengenden Sonne zu schützen vermag. Auch Schattenbilder, Schattenrisse und Schattenspiele können durchaus positive Wirkungen haben, da sie uns dabei helfen können, unsere Wahrnehmung auf ganz bestimmte Aspekte von bestimmten Erfahrungsphänomenen zu konzentrieren. Die Fähigkeit, einen Schatten zu werfen, kann außerdem ein Garant dafür sein, dass etwas wirklich und nicht nur abstrakt bzw. defizitär existiert. Das hat Adelbert von Chamisso in der Geschichte über Peter Schlemihl sehr eindrucksvoll versinnbildlicht, der seinen Schatten verkauft und damit zugleich einen Teil seiner selbst. Den Begriff des Schattens können wir durchaus unter diejenigen Begriffsbildungen einordnen, die sich als Privativa kategorisieren lassen. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass dieser Begriff ähnlich wie der der Negation immer von einer aufschlussreichen Ambivalenz geprägt ist. Mit beiden können wir nämlich nicht nur einen Mangel oder ein Defizit thematisieren, sondern auch eine lebensdienliche Funktion. Durch beide Begriffe wird nämlich nicht nur etwas ausgeschlossen, sondern unsere Aufmerksamkeit immer auch auf ganz bestimmte wichtige Korrelationszusammenhänge konzentriert. Jeder Mangel bzw. jede Negation von etwas ruft nämlich auch die Bedeutsamkeit von etwas anderem ins Bewusstsein. Die Erfahrung eines Mangels bedeutet nämlich nicht nur die Wahrnehmung einer Verarmung, sondern immer auch die Akzentuierung und Profilierung von etwas anderem, das man für faktisch wichtig hält oder halten kann. Die Problematik und Ambivalenz von Privativa lässt sich weiterhin recht gut am Beispiel des Begriffs bzw. des Phänomens Loch exemplifizieren und diskutieren. Diesbezüglich ist zunächst zu beachten, dass wir von Substantiven üblicherweise erwarten, dass mit ihnen auf Sachverhalte Bezug genommen wird, die für uns einen gewissen Substanzcharakter haben bzw. die für uns als eigenständige Größen in Erscheinung treten, welche dann wieder Träger unselbstständiger Eigenschaften werden können (Substanz-Akzidenz-Relation). Das ist nun aber offensichtlich im Hinblick auf die Begriffsprägung Loch gerade nicht der Fall, weil wir damit Denkinhalte bezeichnen wollen, die durch einen Mangel an Substanz geprägt sind bzw. bei denen unsere Erwartung von einer Substanz enttäuscht wird. Das lässt sich sehr schön durch die Antwort eines Fischers illustrieren, der auf die Frage eines neugierigen Touristen, wie man
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eigentlich Netze mache, die folgende frappierende Antwort gegeben hat: Ganz einfach, man bindet Löcher mit einer starken Schnur zusammen. Auf eine sehr geniale Weise hat Kurt Tucholsky über das Phänomen Loch bzw. über die Problematik von Privativa philosophiert. Seine Überlegungen sind auch semiotisch und sprachtheoretisch interessant, weil sie zeigen, dass sprachliche Zeichen keineswegs nur eine sachthematische Darstellungsfunktion haben, sondern auch eine reflexionsthematische Sinnbildungsfunktion, eben weil sie nicht nur dazu bestimmt sind, die Welt auf der Ebene der Zeichen zu erfassen oder gar abzubilden, sondern auch dazu, unseren Umgang mit der Welt zu organisieren und zu perspektivieren. Ein Loch ist da, wo etwas nicht ist. Das Loch ist ein ewiger Kompagnon des Nicht-Lochs: Loch allein kommt nicht vor, so leid es mir tut. Wäre überall etwas, dann gäbe es kein Loch […]. Das Merkwürdigste an einem Loch ist der Rand. Er gehört noch zum Etwas, sieht aber beständig in das Nichts, eine Grenzwache der Materie. Das Nichts hat keine Grenzwache: während den Molekülen am Rande eines Lochs schwindlig wird, weil sie das Loch sehen, wird den Molekülen des Lochs … festlig? Dafür gibt es kein Wort. Denn unsere Sprache ist von den Etwas-Leuten gemacht; die Loch-Leute sprechen ihre eigne. […] Wenn ein Loch zugestopft wird: wo bleibt es dann? Drückt es sich seitwärts in die Materie? oder läuft es zu einem andern Loch, um ihm sein Leid zu klagen ‒ wo bleibt das zugestopfte Loch? Niemand weiß das: unser Wissen hat hier eines.16
5.3 Der Begriff Nichts Am spektakulärsten tritt das Negationsproblem in Begriffsbildungsprozessen in Erscheinung, wenn wir danach fragen, worin denn der begriffliche bzw. sachliche Gehalt des Substantivs das Nichts besteht. Hier scheint es nämlich so zu sein, dass das Fehlen bzw. die Inexistenz von etwas paradoxerweise über eine substantivische Benennung zu einem eigenen Seinsphänomen erklärt oder gar gemacht wird, über das wir nachdenken können oder gar müssen. Diese Seinsgröße können wir dann zwar inhaltlich nicht konkret bestimmen und von anderen abgrenzen, aber sie scheint sich als solche gerade dadurch als ein faktisches Etwas zu legitimieren, dass sie unser Denken gerade wegen ihrer Unbestimmbarkeit nicht zur Ruhe kommen lässt. Jedenfalls scheint das Nichts als ein Denkgegenstand in Erscheinung treten zu können, der Philosophen, Theologen, Psychologen, Sprachwissenschaftler und sogar Naturwissenschaftler immer wieder �� 16 K. Tucholsky, Zur soziologischen Psychologie der Löcher, Gesammelte Werke, 1989, Bd. 9, S. 152‒153.
190 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung zu beschäftigen vermag, sei es nun als etwas faktisch Gegebenes oder zumindest als ein unverzichtbares operatives Hilfsmittel beim Denken. Üblicherweise wird das Substantiv bzw. der Begriff Nichts in Anspruch genommen, um die Abwesenheit von fassbar Seiendem, das Gegenteil von erwartbar Seiendem, die absolute Leere oder zumindest die Wesenlosigkeit von etwas sprachlich zu objektivieren. Dieses tendenziell sachthematisch orientierte Verständnis des Begriffs Nichts wird nun aber höchst problematisch, weil wir faktisch ja keine konstitutiven Eigenschaften der damit benannten Denkgegenstände angeben können, sondern allenfalls die subjektiven Verstehensdimensionen thematisieren können, in denen diese in unserer Vorstellung präsent werden, oder die Erwartungszusammenhänge, in denen wir diese als Phänomene psychisch erleben. Deshalb wird das intentional sachtthematisch orientierte Verständnis dieses Begriffs notwendigerweise immer durch ein reflexionsthematisches ergänzt oder gar ersetzt, welches dann dazu tendiert, das so Bezeichnete als nichtig, gestaltlos, unwertig oder gar scheinhaft zu qualifizieren. Es ist nun offensichtlich, dass das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Sichtweisen bei der Vorstellungsbildung dazu führt, dass dieser Begriff paradoxe Implikationen bekommt. Er scheint nicht dem zu entsprechen, was wir üblicherweise von Begriffsbildungen erwarten, nämlich inhaltliche Klarheit und gute Abgrenzbarkeit von Nachbarbegriffen als Repräsentationsbegriffen für konkretisierbare Erfahrungen oder Vorstellungen. Oft wird die Vorstellung eines Vakuums herangezogen, um den Inhalt des Begriffs zu exemplifizieren, den wir mit dem Substantiv Nichts zu objektivieren versuchen. Aber diese Veranschaulichung hat durchaus ihre Tücken, weil sie die Probleme und Paradoxien keineswegs verschwinden lässt, die mit dieser Begriffsbildung faktisch verbunden sind, sondern diese eher aufdeckt. Das hat dann aber durchaus auch einen ganz bestimmten Erkenntniswert. Eine genauere Betrachtung zeigt nämlich, dass der Begriff des Vakuums keineswegs so eindeutig ist, wie er auf den ersten Blick erscheint. Ein wirkliches Vakuum als Abwesenheit von allem und nicht nur von Luftmolekülen gibt es nicht. Selbst dort, wo wir ein gegebenes Vakuum vermuten könnten bzw. die Abwesenheit von etwas Materiellem in welcher Form auch immer, da gibt es immer noch etwas, nämlich immaterielle Wellen bzw. Strahlungen. Ein Vakuum bzw. ein Nichts in einem wortwörtlichen Sinne scheint es nur dort geben zu können, wo es weder Raum noch Zeit gibt, also nur in einer Sphäre jenseits unserer konkreten Lebens- und Erfahrungswelt. Dementsprechend müssen wir uns wohl auch auf relative Vakuums- und Nichtsvorstellungen einstellen. Wir dürfen beide Begriffe nicht als statische Wesensbegriffe verstehen, sondern allenfalls als flexible Relationsbegriffe, die uns nicht faktisch erfahrbare Seinsformen objektivieren, sondern nur anthropolo-
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gisch wichtige Denkzusammenhänge, die wir uns geistig bzw. sprachlich dann allerdings im Sinne von Seinsformen zu repräsentieren versuchen. Die innere Problematik von Vakuums- und Nichtsvorstellungen, aber auch die pragmatische Bedeutsamkeit dieser Vorstellungen, lässt sich sehr gut an den Vakuumsexperimenten des Bürgermeisters von Magdeburg, Otto von Guericke, demonstrieren, die dieser 1654-1657 an unterschiedlichen Orten unter großer öffentlicher Anteilnahme durchgeführt hat. Mittels einer Kolbenpumpe hatte er aus einem Hohlgefäß, das aus zwei aneinander gepressten Halbkugeln bestand, die Luft entfernt. Selbst 16 Pferde konnten daraufhin die beiden Halbkugeln nicht mehr auseinanderziehen. Dieses physikalische Experiment provoziert nun zu folgenden recht grundsätzlichen Fragen. Hat Guericke bei diesem Experiment nur die Luft aus der Kugel entfernt und dadurch ein Vakuum erzeugt oder hat er dabei gleichzeitig die Kugel mit Nichts gefüllt? Hat er mit diesem Experiment bewiesen, dass das Vakuum eine eigenständige Seinsgröße von so großer eigenständiger Macht und Kraft ist, dass selbst 16 Pferde nichts gegen das Nichts in der Kugel ausrichten können? Ist das Vakuum als eine Mangelerscheinung bzw. als ein Nichts etwas Nichtiges oder doch etwas Mächtiges? Wenn man solche Fragen stellt oder gar zu beantworten versucht, dann ergibt sich sofort das Problem, ob mit dem Substantiv Nichts überhaupt ein Ordnungsbegriff im üblichen Sinne repräsentiert wird oder nur ein Pseudobegriff bzw. ein mentales Hirngespinst. Wozu ist aber ein sprachlich objektiviertes Denkmuster nutze, dem man keinen beschreibbaren Inhalt zuordnen kann, welcher sich von anderen Inhalten abgrenzen lässt, bzw. kein empirisch beobachtbares Sachobjekt, das diesen Inhalt exemplifiziert? Offenbar repräsentiert das Substantiv Nichts nur einen leeren Begriff, der nichts Vorfindbares bezeichnet, sondern allenfalls ein Denkkonstrukt (ens rationis). Fallen wir beim Gebrauch dieses Substativs nicht einem Wortfetischismus zum Opfer, der sich mit Hilfe des folgenden Syllogismus veranschaulichen lässt: Namen bezeichnen etwas. Nichts ist ein Name. Also bezeichnet Nichts etwas. Der täuschende Charme dieses Syllogismus besteht darin, dass der Seinsbezug des Begriffs Nichts durch die Existenz des Wortes Nichts legitimiert wird. Das ist natürlich höchst irreführend, wenn wir prinzipiell davon ausgehen, dass Begriffe als Denkmuster keineswegs direkt mit Seinsmustern korrespondieren. Deshalb ergibt sich auch eine ganz andere Situation, wenn wir annehmen, dass Begriffe als Denkmuster nur mit pragmatisch motivierten Differenzierungsmustern des interpretierenden Denkens korrespondieren, die sich im Sprachgebrauch konventionell gefestigt haben, weil sie sich pragmatisch irgendwie als brauchbar erwiesen haben. So verstandene Begriffe könnten sich dann nicht nur durch ihren referenziellen Bezug bzw. ihre Abbildungsfunktion legitimie-
192 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung ren, sondern möglicherweise auch durch ihren Sozialbezug bzw. durch ihre heuristischen Erschließungs- und ihre kommunikativen Informationsfunktionen in verständlichen sprachlichen Interaktionsprozessen. Wenn wir den Begriff Nichts in dieser Wahrnehmungsperspektive ins Auge fassen, dann führt die Frage nach seiner kognitiven Abbildungsleistung natürlich nicht viel weiter, sondern nur die Frage danach, welche Denkinhalte bzw. welche Relationszusammenhänge mit diesem Wort auf intersubjektiv nachvollziehbarer Weise thematisiert werden können. So verstanden lassen sich mit ihm dann auch keine Wesensaussagen machen, sondern allenfalls Interpretationsaussagen. Ganz ähnlich wie der Gebrauch von metaphorischen Bezeichnungen dient dann auch der Gebrauch dieses Wortes dazu, diffuse Erfahrungsinhalte in einem ersten Schritt sprachlich zu objektivieren und uns auf eben diese Weise dann das Nachdenken über sehr komplexe Erfahrungsinhalte zu erleichtern. Um diese heuristischen und hermeneutischen Funktionen der Begriffsbildung Nichts näher zu erfassen und zu beschreiben wird nun folgender Weg beschritten. Zunächst soll auf die Genese und die Implikationen des substantivischen Begriffs Nichts eingegangen werden. Das schafft dann die Grundlage dafür, den Gebrauch dieses Wortes mit Hilfe des Sprachspielbegriffs von Wittgenstein näher zu erläutern und dabei insbesondere zu zeigen, in welch unterschiedliche Relationszusammenhänge er eingebettet werden kann. Am Beispiel der Kritik des frühen Carnap an der Verwendung des Substantivs Nichts durch Heidegger lässt sich dann auch auf exemplarisch Weise verdeutlichen, wie unterschiedlich man den pragmatischen und theoretischen Wert dieses Begriffs beurteilen kann. Abschließend soll noch darauf aufmerksam gemacht werden, welche Sinnimplikationen und heuristischen Funktionen diesem Denkmuster im Laufe der Kulturgeschichte implizit und explizit zugeordnet worden sind bzw. welche Sinnbildungserwartungen mit ihm verbunden waren.
5.3.1 Zur Genese des Substantivs Nichts Im Kap. 4.2.3. wurde schon darauf verwiesen, dass es im Deutschen während des 16. Jahrhunderts zu einer Substantivierung des Negationspronomens nichts gekommen ist. Dieses war seinerseits im Mittelhochdeutschen aus der Verkürzung einer negationsverstärkenden Genitivkonstruktion (nihtes niht = nicht ein Ding von einem Ding = gar nichts) entstanden. Diese pronominalen Wurzeln des Substantivs Nichts sind nun keineswegs unerheblich, wenn man nach seinen konkreten pragmatischen Sinnbildungsfunktionen fragt. In diesem Zusammenhang ist nämlich zu beachten, dass das Negationspronomen nichts gleichsam als ein grammatisches Funktionswort in einem doppel-
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ten Sinne anzusehen ist. Einerseits hat es als ein Pronomen bzw. als ein eigentlich inhaltsloses Leer- bzw. Umrisswort die grammatische Instruktionsfunktion, im situativen oder sprachlichen Kontext auf Vorstellungen zu verweisen, mit denen es möglicherweise semantisch gefüllt werden kann. Das ist nun allerdings bei Indefinitpronomen immer nur andeutungsweise möglich. Andererseits hat es als negiertes Indefinitpronomen die weitere grammatische Instruktionsfunktion, dass diese Aufgabe faktisch überhaupt nicht zu realisieren ist, weil diese pronominale Leerform sich weder durch bestimmte lexikalische Wörter ersetzen noch durch bestimmte inhaltliche Vorstellungen füllen lässt. Es ist gleichsam ein Wort ohne jeglichen direkten oder indirekten Realitätsbezug. Auf keinen Fall lässt sich das Negationspronomen nichts bzw. das Substantiv Nichts also im Sinne eines autosemantischen bzw. kategorematischen Inhaltswortes verstehen, dem wir wie den üblichen Substantiven, Verben oder Adjektiven einen konkreten außersprachlichen Sachbezug zuordnen könnten. Die sprachliche Umwandlung des synsemantischen grammatischen Funktionswortes nichts in das anscheinend autosemantische lexikalische Inhaltswort Nichts wirft deshalb nicht nur innersprachliche Systemprobleme auf, sondern auch außersprachliche Sachprobleme. Es stellt sich nämlich die Frage, ob es sich sprachlich und ontologisch rechtfertigen lässt, auf diese Weise ein synsemantisches grammatisches Organisationszeichen einfach zu einem lexikalischen Repräsentationszeichen zu machen und auf diese Weise die semiotische Ordnungsstruktur der Sprache auf den Kopf zu stellen oder gar zu negieren? In Sprachen, die wie etwa das Deutsche über einen bestimmten Artikel verfügen, ist nicht nur die Substantivierung von Verben (das Denken) und Adjektiven (das Böse), sondern auch die von grammatischen Funktionswörtern (das Ich, das Aus, das Nichts) zwar morphologisch ein ganz kleiner Schritt, aber ontologisch ein sehr großer. Damit werden nämlich sprachlich ganz neue ontische Tatbestände postuliert oder zumindest nahegelegt. In artikellosen Sprachen wie dem Lateinischen sind solche Substantivierungen anderer Wörter nicht so leicht zu bewerkstelligen, weil dabei nicht nur in die übliche Syntax der Sprache eingegriffen werden muss, sondern auch in ihre Morphologie. Das erschwert dann natürlich von vornherein solche ontologische Spekulationen, da natürlich sehr viel mehr etablierte Konventionen in Frage gestellt werden müssen. Die drei Klassen von autosemantischen lexikalischen Inhaltswörtern (Substantive, Verben, Adjektive) nehmen wir üblicherweise als ganz natürliche sprachliche Objektivierungsformen für vorgegebene Seinsformen wahr (Substanzen, Prozesse, Eigenschaften), obwohl es sich dabei genau betrachtet nur um ontologische Interpretationsformen handelt, die sich pragmatisch irgendwie bewährt haben und die eben deshalb dann auch sprachlich konventionalisiert worden sind.
194 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung Das bedeutete nun, dass unsere drei lexikalischen Grundwortarten keine vorgegebenen natürlichen Seinstypen repräsentieren, sondern nur brauchbare Interpretationsmuster für bestimmte Seinswahrnehmungen. Das kann man sich dann beispielsweise dadurch verdeutlichen, dass wir einen etwas diffusen sinnlichen Erfahrungstatbestand wahlweise entweder substantivisch, verbal oder adjektivisch objektivieren können, um an ihm ganz bestimmte Einzelaspekte hervorzuheben (Wärme, wärmen, warm). Dadurch wird dieser Erfahrungsbereich dann natürlich in sehr unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven und Kontexte eingebettet und eben dadurch für uns auch auf ganz unterschiedliche Weise psychisch präsent. Fritz Mauthner hat sogar davon gesprochen, dass die lexikalischen Grundwortarten der Sprache ganz erheblich dazu beitrügen, dass uns die Welt ontologisch als eine substantivisch, verbal oder adjektivisch geprägte Welt entgegentrete, eben weil wir immer mehr oder weniger am Gängelband der Sprache dächten. Die durch Adjektive geprägte Welt sei für uns die Welt der Sinneseindrücke, die durch Verben objektivierte Welt sei für uns die Welt des Werdens und Vergehens und die durch Substantive objektivierte Welt sei für uns die Welt der Dinge.17 Mauthner geht dabei soweit, die substantivisch objektivierte Welt ontologisch als „mythologische Welt“ zu qualifizieren, weil dabei auch Kräfte und Prozesse verdinglicht würden. Er entwickelt in diesem Zusammenhang sogar die These, dass man mit Hilfe von Substantiven eine Wahrnehmungswelt aufbauen könne, die derjenigen gleiche, die ein Physiker durch geschickt verwendete Spiegel und Linsen vortäuschen könne, weil uns auf diese Weise sogar Projektionen als Realien erscheinen könnten. Die substantivisch repräsentierte Welt ist für Mauthner ein Hinweis für unsere „Sehnsucht nach den Dingen-an-sich“. Nur die adjektivisch objektivierte Welt der Sinne ist für ihn die Welt, die unserer Erkenntnis wirklich zugänglich sei. Die substantivisch objektivierte Welt könne „nur mit Hilfe von Hypothesen oder von Hypostasen vorgestellt werden.“18 Dem Ideal logischer Begriffe entsprächen deshalb auch nur substantivisch objektivierte Begriffe, weil diese eine immanente Tendenz zur Statik bzw. zur Abstraktion von der verändernden Macht der Zeit hätten. Dadurch stärkten sie den Glauben, wahre Aussagen über die Welt machen zu können. Unser Denken in substantivischen Begriffen ist Mythologie. Aber das inbrünstige Erfassen dieser Welt des Seins kann sich in begnadeten Naturen steigern zu einer Welt der Mystik, �� 17 F. Mauthner, Wörterbuch der Philosophie, 1980, Bd. 1, S. 12ff; Bd. 2, S. 464ff; S. 526ff. 18 F. Mauthner, a. a. O.,1980, Bd. 2, S. 466 und 467.
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die der Erfahrungswelt gegenüber das höhere Stockwerk ist. In welchem man nicht dauernd wohnen, in welchem man aber ruhig träumen kann.19
Wenn man die Umwandlung des synsemantischen grammatischen Funktionswortes nichts zu dem autosemantischen lexikalischen Inhaltswort Nichts in der Wahrnehmungsperspektive von Mauthner sieht, dann ist offensichtlich, dass mit diesem schlichten Wortartwechsel ganz erhebliche ontologische, erkenntnistheoretische und sprachtheoretische Konsequenzen verbunden sind, die es verbieten, darin nur eine ganz harmlose Sprachspielerei zu sehen. Wir werden dadurch nämlich immanent auch dazu gezwungen, uns mit den kaum überschaubaren Implikationen zu beschäftigen, die aus dem Gebrauch der sprachlichen Formen resultieren, mit denen wir uns Denkinhalte objektivieren bzw. mit denen wir uns intersubjektiv verständliche Wahrnehmungsperspektiven für die Welt konstituieren. Die Leichtigkeit, mit der wir uns im Deutschen über den bestimmten Artikel bzw. über eine ganz einfache syntaktische Kombinatiom neue Denkmuster und Denkgegenstände herstellen können, tritt bei der Wort- und Begriffsbildung Nichts natürlich sehr viel spektakulärer hervor als bei anderen Substantivierungen. Hier wird nämlich auf die beschriebene Weise aus der Vorstellung des Fehlens von etwas auf sehr einfache und ganz unspektakuläre Weise ein neuer Denkgegenstand bzw. Sachverhalt konstituiert, dem in Analogie zu anderen Substantiven dann gleichsam unter der Hand ein Substanzcharakter zugeordnet wird. Dieses simple Verfahren ist in der Tat so faszinierend, dass man es mit Mauthner zugleich bewundern und kritisieren kann. Das lässt sich vielleicht am besten bewerkstelligen, wenn wir die substantivische Begriffsbildung Nichts mit dem Sprachspielkonzept Wittgensteins konfrontieren.
5.3.2 Sprachspiele mit dem Worte Nichts Um die möglichen Sinnbildungsfunktionen des substantivischen Begriffs Nichts aufzuklären, kann gerade das Sprachspielkonzept Wittgensteins hilfreich sein, weil es nicht die Abbildungs- bzw. Darstellungsfunktionen der Sprache in den Mittelpunkt des Interesses stellt, sondern vielmehr ihre Handlungs- und Perspektivierungsfunktionen. Das dokumentiert sich recht klar dadurch, dass dieses Konzept die Sprache ausdrücklich als „Lebensform“ und damit auch als Gestaltungsform thematisiert, über die Menschen ihre Sinnbildungsintentionen
�� 19 F. Mauthner, a. a. O.,1980, Bd. 2, S. 531.
196 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung für sich und andere auf verständliche Weise objektivieren können.20 Der Rückgriff auf Wittgensteins Sprachspielgedanken bei der Klärung der Sinnbildungsfunktionen des substantivischen Begriffs Nichts hat den Vorteil, dass wir uns nicht gleich in ontologische Probleme verstricken, sondern unsere Aufmerksamkeit zunächst ganz darauf konzentrieren können, unter welchen Bedingungen dieses Denkmuster gebraucht wird und welche Intentionen mit ihm verbunden sein können. Dadurch rückt dann insbesondere die anthropologische Relevanz dieses Denkkonzeptes in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit. Wenn wir uns auf diese Weise dem Begriff Nichts nähern, dann wird deutlich, dass dieses Konzept natürlich auch zu den Basisbegriffen der Philosophie gehört, was sich beispielsweise in der faktisch unbeantwortbaren, aber dennoch relevanten Grundfrage der Ontologie exemplifiziert: Warum ist etwas und nicht Nichts? Das Interesse an dem Phänomen Nichts ist ebenso wie das Interesse an dem Phänomen Frage ein Hinweis darauf, dass sich Menschen offenbar nicht mit der Wahrnehmung des Faktischen zufriedengeben, sondern sich immer auch für die Voraussetzungen interessieren, unter denen das Faktische als ein Etwas in Erscheinung treten kann bzw. wie es sich von einem anderem Etwas abgrenzen lässt. Deshalb ist dann ja auch die Neugier nach den Implikationen der Phänomene Frage und Nichts immer wieder als Ausgangspunkt der Philosophie betrachtet worden. Diese Neugier wurde nämlich als ein Hinweis dafür angesehen, dass sich Menschen im Gegensatz zu Tieren gedanklich aus der Übermacht des Faktischen lösen können, indem sie aufzuklären versuchen, in welchem Denkrahmen ihnen das Faktische überhaupt als Faktisches erscheinen kann. So betrachtet erweist sich dann unsere Fähigkeit, den Begriff Nichts zu bilden und ihn in unterschiedlichen Kontexten zu verwenden, als eine Fähigkeit, ihn funktional zu beurteilen, mit ihm sprachlich zu spielen und auf diese Weise seine möglichen Sinnbildungsfunktionen aufzudecken. Der Begriff Nichts kann so dann zu einem Indiz für die Existenz eines menschlichen Kraftüberschusses werden, der dazu dient, alle Formen der Steifheit im Denken bzw. in Assimilations- und Akkommodationsprozessen zu überwinden. Wenn wir in dieser Weise die Bildung und den Gebrauch des Begriffs Nichts als Ausdrucksform eines mentalen Kraftüberschusses und einer experimentellen Denklust des Menschen ansehen, dann sind natürlich nicht nur die Ergebnisse interessant, die möglicherweise mit dieser Begriffsbildung fixiert werden können, sondern auch die Intentionen, die hinter der Ausprägung dieser Begriffsbildung stehen.
�� 20 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 19 und 23, 1967, S. 20 und 24.
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Ein brauchbarer Weg, sich über den Sprachspielgedanken den möglichen Sinnbildungsfunktionen des Begriffs Nichts zu nähern, stellt sicherlich das Interesse dafür dar, wie man in Aphorismen mit diesem Wort bzw. Begriff experimentiert hat. Aphorismen haben als Textmuster ja nicht die pragmatische Funktion, die Ergebnisse von kontemplativen Sinnbildungsanstrengungen zu fixieren, sondern vielmehr die, solche Bemühungen provokativ in Gang zu setzen, um ganz neue Wahrnehmungsperspektiven für scheinbar gut Bekanntes zu eröffnen. Aphorismen haben deshalb nicht nur eine immanente Negationsfunktion, auf die noch näher eingegangen werden soll, sondern auch einen dialogischen Grundcharakter. Sie stellen in Form von Behauptungen eigentlich Fragen und zwingen uns eben dadurch dazu, einen eröffneten Denkweg weiterzugehen und traditionelle Denkgrenzen zu transzendieren. Sie wollen kein Wissen schwarz auf weiß fixieren, sondern Sichtweisen variieren. Um nun das zu illustrieren, soll auf einige Aphorismen aus unterschiedlichen Zeiten aufmerksam gemacht werden, die allesamt den Sprachspielgedanken Wittgensteins recht gut exemplifizieren, da sie alle mit dem Begriff Nichts sprachlich und konzeptionell experimentieren. Ton wird ausgehöhlt, um aus ihm ein Gefäß zu machen, in seinem Nichts besteht die Funktion des Gefäßes. (Laotse) Seit ich mich auf das Nichts eingestellt habe, fehlt mit nichts. (Johannes vom Kreuz 1542‒ 1591) Wer nichts zu schaffen hat, dem macht das Nichts zu schaffen. (Friedrich Nietzsche) Nichts soll zwischen uns sein, ich liebe dieses Nichts. (Manfred Hinrich *1926) Die Konstante, mit der immer und ewig zu rechnen ist: das Nichts. (Walter Fürst *1932) Es ist ebenso schwer, das Nichts aus der Welt zu schaffen, wie die Welt aus dem Nichts. (Sigbert Latzel *1931) „Größe“ läßt sich durch „Tiefe“ ersetzen, „Tiefe“ durch „Abgrund“ und „Abgrund“ durch „Nichts“. ( Walter Fürst *1932) Was hatte das Nichts davon, als man ihm einen Namen gab? (Erhard Blanck *1942) Das Nichts nichtet. Das Wesen west. Das Sein seint. Der Wein weint. Der Trog trog. Die Ontologen logen. (Ulrich Erkenbrecht *1947) Wer vor dem Nichts steht, steht vor vielen Tatsachen. ( Martin Gerhard Reisenberg *1949)
198 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung All diese Aphorismen zeigen, dass mit der Begriffsbildung Nichts durchaus eine spezifische Sinnbildungsintention bzw. eine Semantik verbunden ist. Diese verfehlen wir allerdings, wenn wir festzustellen versuchen, welche konkreten Sachverhalte unter diesen Begriff fallen. Im Rahmen eines rein sachthematischen Denkens ist mit dem substantivischen Begriff Nichts eigentlich nichts Rechtes anzufangen, da er uns nur in Paradoxien verstrickt, selbst wenn wir ihn im Sinne des Vakuumsgedankens verstehen. Dennoch wird man das Wort Nichts schwerlich als inhaltslos kennzeichnen können, weil es eine geistige Setzung repräsentiert, die uns auf ganz bestimmte Relationszusammenhänge aufmerksam machen soll und kann.21 Auf jeden Fall lässt sich festhalten, dass diese Begriffsbildung eine ganz bestimmte dialogische und heuristische Funktionalität hat, da sie Denkprozesse in Gang zu setzen und fortzuzeugen vermag. Alle Bemühungen werden scheitern, den Begriff Nichts wieder aus der Welt zu schaffen. Gerade unsere kognitiven und kommunikative Sprachspiele zeigen, dass wir einen solches Denkkonzept oder zumindest ein solches Wort brauchen, um uns ganz bestimmte Relationszusammenhänge sprachlich thematisieren zu können, die zwar unser sachthematisches Denken transzendieren, aber nicht unser reflexionsthematisches. Deshalb hat Kant dann auch betont, dass der Begriff des Nichts zwar ein „leerer Begriff ohne Gegenstand“ sei, dass er aber dennoch als Denkform (ens rationis) eine wichtige operative Funktion habe.22 Gefahren drohen allerdings, wenn wir diesen Begriff nicht als ein heuristisches Denkmuster bzw. als ein Interpretationsmedium verstehen, sondern als einen deskriptiven Seinsbegriff bzw. als ein Abbildungsmedium. Das soll am Beispiel der Reflexionen Heideggers und Carnaps über den Begriff Nichts demonstriert werden.
5.3.3 Heideggers und Carnaps Reflexionen über das Nichts In seiner Freiburger Antrittsvorlesung von 1929 exemplifiziert Heidegger sehr eindrucksvoll, wie man in einem philosophischen Sprachspiel das ursprünglich synsemantische grammatische Operationswort nichts ganz unspektakulär unter der Hand in das autosemantische lexikalische Inhaltswort Nichts umwandeln kann. Als solches kann dieses dann eine ganz neue philosophische Karriere machen, die allerdings keineswegs problemlos ist. Das wird sehr deutlich, wenn man das spekulative Sprachspiel Heideggers mit diesem Wort anschließend in
�� 21 Vgl. G. Kahl-Furthmann, Das Problem des Nicht, 19822, S. 254ff. 22 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft B 348, Werke Bd. 3, 19782, S. 306f.
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der Denkperspektive von Carnap betrachtet, die wiederum für das fachwissenschaftliche Denken als recht exemplarisch anzusehen ist. Erforscht werden soll nur das Seiende und sonst – nichts; das Seiende allein und weiter ‒ nichts; das Seiende einzig und darüber hinaus ‒ nichts. Wie steht es um dieses Nichts? Ist es Zufall, daß wir ganz von selbst so sprechen? Ist es nur so eine Art zu reden ‒ und sonst nichts? Allein was kümmern wir uns um dieses Nichts. Das Nichts wird ja gerade von der Wissenschaft abgelehnt und preisgegeben als das Nichtige. Doch wenn wir das Nichts dergestalt preisgeben, geben wir es dann nicht gerade zu? […] Das Nichts ‒ was kann es der Wissenschaft anderes sein als ein Greuel und eine Phantasterei? Ist die Wissenschaft im Recht, dann steht nur das eine fest: die Wissenschaft will vom Nichts nichts wissen. Dies ist am Ende die wissenschaftlich strenge Erfassung des Nichts. Wir wissen es, indem wir von ihm, dem Nichts, nichts wissen wollen. Die Wissenschaft will vom Nichts nichts wissen. Aber ebenso gewiß bleibt bestehen: dort wo sie ihr eigenes Wesen auszusprechen versucht, ruft sie das Nichts zur Hilfe. Was sie verwirft, nimmt sie in Anspruch. Welch zwiespältiges Wesen enthüllt sich da? 23
Die Substantivierung und damit die Hypostasierung des operativen Negationspronomens nichts zu einem ontischen Seinsgegenstand hat zumindest diejenigen Philosophen zu beißendem Spott motiviert, die die Philosophie als strenge Sachwissenschaft in Analogie zu den Naturwissenschaften verstanden wissen möchten und nicht als Freiheitsraum für Denkoperationen, in denen die Prämissen und Zielsetzungen des rein gegenständlichen Denkens zu thematisieren sind. Für diese Philosophen erfüllen die Verlautbarungen von Heidegger zum Wort oder gar zum Phänomen Nichts sicherlich den Tatbestand eines realitätsfernen metaphysischen Gemurmels ohne jede sachliche Relevanz. In ihren Augen gleichen seine Aussagen den magischen Versuchen, an einem selbst in die Luft geworfenen Seil hochzuklettern, das keinerlei Verankerung in der Realität hat. Als Vertreter des sogenannten logischen Empirismus hat insbesondere der frühe Carnap kein Hehl aus seinem Abscheu vor einem solchen spekulativen Denken bzw. vor einem solchen metaphorischen Sprachgebrauch in der Philosophie gemacht. Seiner Meinung nach wird dadurch nichts zur Klärung von Sachverhalten beigetragen, sondern nur etwas zu deren Vernebelung. Der frühe Carnap möchte den philosophischen Sprachgebrauch von allen Wörtern gereinigt wissen, die keinen fassbaren Bezug zu gegebenen Realitäten haben, da solche Wörter für ihn nur Scheinbegriffe repräsentieren. Unter solche Pseudobegriffe fallen für ihn nicht nur Wort- bzw. Begriffsprägungen wie babig und
�� 23 M. Heidegger, Was ist Metaphysik? 19608, S. 26‒27.
200 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung Babigkeit, sondern auch solche wie Gott, das Absolute, das Nicht-Seiende, das Unendliche, das Ding an sich usw., da sich für solche Begriffe keine konkreten Erfahrungsphänomene angeben lassen, welche man mit ihrer Hilfe sinnvoll kategorisieren und objektivieren kann. Sätze, in denen solche Scheinbegriffe vorkommen bzw. in denen akzeptable Begriffe syntaktisch irregulär verknüpft werden (Metaphern), sind für Carnap Scheinsätze bzw. metaphysische Sätze ohne wirklichen Sachgehalt. Sie haben für ihn keinerlei philosophische Relevanz, weil sich ihr Wahrheitsgehalt jeglicher empirischer Überprüfung entzieht. Deshalb stellt Carnap dann auch die folgende Sätze Heideggers als sinnlose metaphysische Sätze an den philosophischen Pranger: „Das Nichts ist ursprünglicher als das Nicht und die Verneinung.“ „Die Angst offenbart das Nichts.“ „Das Nichts selbst nichtet.“24 Sätze dieses Typs haben für Carnap keinerlei philosophische Relevanz, sondern allenfalls eine psychologische. Die (Schein-) Sätze der Metaphysik dienen nicht zur Darstellung von Sachverhalten, weder von bestehenden (dann wären es wahre Sätze) noch von nicht bestehenden (dann wären es wenigstens falsche Sätze); sie dienen zum Ausdruck des Lebensgefühls.25
Dieses Urteil des frühen Carnap gründet sich auf die Überzeugung, dass im Laufe der Kulturgeschichte nicht nur die Dichtung und die Metaphysik das Erbe des Mythos angetreten hätten, sondern auch die Theologie, in der das mythische Denken zu einem geschlossenen Denksystem entfaltet werde. Für Carnap haben metaphysische Sätze aller Art keinen korrespondenztheoretisch fassbaren Wahrheitsgehalt, da sie nur eine bestimmte Lebensstimmung artikulierten: „Wir finden, daß auch die Metaphysik aus dem Bedürfnis entspringt, das Lebensgefühl zum Ausdruck zu bringen, die Haltung, in der ein Mensch lebt […].“ 26 Gegen diese Strukturanalyse Carnaps ist wenig einzuwenden, solange man dessen Denkprämissen teilt bzw. dessen Verständnis von Philosophie und deren Aufgaben. Die Frage ist nun allerdings, ob Carnaps Denkvoraussetzungen akzeptabel sind und ob er die Rolle der Philosophie als Abbildungswissenschaft in Analogie zu der Rolle der Fachwissenschaften auf eine konsensfähige Weise beschreibt. Zumindest könnte man in Betracht ziehen, die Philosophie auch als eine Reflexionswissenschaft zu verstehen. Damit wäre dann auch die Konse-
�� 24 R. Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, Erkenntnis 2, 1931, S. 229. 25 R. Carnap, a. a. O., S. 238. 26 R. Carnap, a. a. O., S. 239.
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quenz verbunden, die Sprache nicht nur als ein Abbildungswerkzeug, sondern auch als ein Sinnbildungswerkzeug ins Auge zu fassen. Sicherlich kann man Wissenschaft, Mythos und Kunst kategorial voneinander trennen und dann für sie auch eigenständige Sprachgebrauchsregeln festlegen. Die Frage ist dann allerdings, ob man den unterschiedlichen Sprachgebrauch in diesen Bereichen so hierarchisieren und werten sollte, wie Carnap es postuliert. Vielleicht müsste man akzeptieren, dass die in diesen Bereichen verwendete Sprache im Sinne Wittgensteins eigene Sprachspiele darstellen, die durchaus eigenständige bzw. ergänzende Sinnbildungsleistungen zu anderen erbringen können. Aus diesem Denkansatz folgt, dass man auch den philosophischen Sprachgebrauch nicht von vornherein rigoros regulieren und normieren darf, eben weil auch er den jeweiligen Sinnbildungsintentionen angepasst werden muss, was insbesondere die faktische Verwendung von Metaphern sowohl in der Philosophie als auch in den Fachwissenschaften schlagend exemplifiziert. Dementsprechend wären dann Freiheitsspielräume auch für den Gebrauch von Negationsformen geltend zu machen. Die Grenzen zwischen den einzelnen sprachlichen Sinnbildungsstrategien lassen sich deshalb auch nicht so rigoros ziehen, wie es dem frühen, sehr positivistisch orientierten Carnap vorschwebte, weil sich die unterschiedlichen Sprachverwendungsformen durchaus wechselseitig interpretieren und weiterführen können. Das hat dann auch der späte Carnap in seinem eher pragmatisch orientierten Denken durchaus eingeräumt. Letztlich führt es nicht weiter, die substantivische Wort- und Begriffsbildung Nichts für den philosophischen Sprachgebrauch zu verbieten oder gar als Ausdruck eines bloßen Lebensgefühls zu diffamieren. Gerade die Philosophie hat nämlich auch danach zu fragen, welche Sinnbildungsintentionen hinter einer solchen Wortprägung stehen und welchen heuristischen Zwecken sie dienen kann. Das gilt insbesondere dann, wenn man die Philosophie als eine Metawissenschaft versteht, welche die Denkprämissen und Ordnungsintentionen der anderen Wissenschaften zu bedenken hat, die diesen selbst meist verborgen bleiben oder die diesen sogar als völlig selbstverständlich und nicht mehr diskussionsbedürftig erscheinen. Selbst wenn einem Heideggers Satz über das Phänomen Nichts („Das Nichts selbst nichtet.“27) im Rahmen unserer üblichen Denk- und Sprachkonventionen höchst unsinnig vorkommt, so entbindet uns das nicht von der Aufgabe zu fragen, welche Denkziele hinter einer solchen Provokation unser üblichen Denk�� 27 M. Heidegger, Was ist Metaphysik? 19602, S. 34.
202 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung und Sprachkonventionen stehen. Es kann dann klar werden, dass bei Heidegger die Begriffsprägung Nichts die Erfahrung des Mangels von Überschaubarkeit und Sinn thematisieren soll. Dieser Mangel (Privation) soll nicht nur als solcher konstatiert werden, sondern auch hinsichtlich der damit verbundenen Implikationen interpretiert werden. Für Heidegger hat diese Erfahrung nämlich eine destruktive Wirkung, die weniger darin besteht, etwas zu zerstören (vernichten), sondern eher darin, lebensdienliche Orientierungen zu verhindern (nichten).
5.3.4 Die möglichen Sinnimplikationen des Begriffs Nichts Unstrittig ist sicherlich, dass das Negationspronomen nichts eine ganz unverzichtbare pragmatisch-grammatische Sinnbildungsfunktion hat. Diese besteht vornehmlich darin, dass es uns metainformativ signalisiert, dass einer denkbaren Erwartung keine faktische Erfüllung zukommt. Wenn man beispielsweise sagt, dass im Briefkasten nichts sei, dann will man damit nur mitteilen, dass in ihm kein Brief sei, aber nicht, dass in ihm gar nichts sei, also auch kein Staub. Wenn man sagt, das man bei einem Vortrag nichts verstanden habe, dann will man nicht sagen, dass man gar nichts verstanden habe, sondern lediglich, dass man das Gesagte nicht sinnvoll in sein eigenes Wissen einordnen könne. Diese Beispiele zeigen, dass sprachliche Zeichen im praktischen Gebrauch nicht nur dazu dienen, Tatsachen mitzuteilen, sondern auch dazu, bestehende Informationsunsicherheiten zu beseitigen oder zu thematisieren. Wenn man nun das Negationspronomen nichts zu dem Substantiv Nichts umwandelt, dann stellt sich natürlich die Frage, welche möglichen Informationsbedürfnisse durch diese neue Wort- und Begriffsbildung erfüllt werden könnten. Von einem Substantiv wird nämlich konventionell erwartet, dass es primär keine operativen grammatischen Verstehensanweisungen gibt, sondern einen ganz bestimmten Typ von Vorstellungsinhalten ins Bewusstsein rufen soll, um dadurch ganz bestimmte Informations- und Vorstellungsbedürfnisse zu erfüllen. So betrachtet ergibt sich dann bei dem Substantiv Nichts die etwas paradoxe Situation, dass etwas nicht Vorhandenes formal zu einem Seinstatbestand bzw. Wissensgegenstand gemacht wird, der dann wiederum zu präzisierenden Sachaussagen einladen soll. Das ist rein sachthematisch betrachtet natürlich ziemlich absurd, aber reflexionsthematisch nicht unbedingt. Auf diese Weise wird unser Wahrnehmungsvermögen zwar nicht wie üblich auf eine sachthematische Vorstellung gelenkt, aber doch auf eine reflexionsthematische Problemzone, nämlich auf die semiotischen Strukturbedingungen unseres Denkens und Sprechens.
Der Begriff Nichts � 203
Dieses komplizierte Strukturverhältnis beim Gebrauch des Begriffs Nichts kommt recht deutlich in einer Aussage von Parmenides zum Ausdruck, in der Folgendes festgestellt wird: „Denn das Nichtseiende kannst du weder erkennen (denn das ist unmöglich) noch aussprechen.“28 Wenn man diese Aussage nur rein sachthematisch betrachtet, dann stößt man auf die Paradoxie, dass Parmenides zwar eine Aussage über das Nicht-Seiende bzw. über das Nichts macht, aber zugleich auch postuliert, dass man darüber im Prinzip nichts aussagen könne und diesbezüglich also eigentlich zu schweigen habe. Auf dieses komplizierte Strukturverhältnis hat auch der frühe Wittgenstein in seiner immer wieder zitierten These zum wissenschaftlichen Sprechen aufmerksam gemacht. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“29 Über das Nichts zu sprechen wäre dann eigentlich ebenso absurd wie das Trinken aus einer leeren Tasse, ein Sinnbild, das im Zen-Buddhismus eine wichtige Rolle spielt.30 Was benennen wir nun eigentlich mit dem Substantiv Nichts, das sich trotz aller erkenntnistheoretischen Kritik zäh am Leben erhalten hat und offensichtlich auch nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist? Ist es ein Gespenst oder gar das Gespenst aller Gespenster, weil wir uns die mögliche Gestalt dieses Gespenstes nicht einmal fiktiv ausmalen können? Das Nichts wäre dann nicht nur ein Gespenst, dem etwas fehlt, nämlich die reale Existenz, sondern auch etwas, was wir uns gar nicht vorstellen können. Welche Eigenschaften hat nun das Phänomen, das wir uns sprachlich mit dem Wort bzw. mit dem Begriff Nichts thematisieren? Warum spielt es für uns eine so wichtige Rolle, obwohl alle Theoretiker darüber spotten? Friedrich Hebbel hat dieses Problem sehr prägnant formuliert: An das Nichts kann man nicht denken, ohne ihm etwas zu schenken, wenigstens den Namen, der es schon zu Etwas macht und es aus der Sphäre der Ununterscheidbarkeit, der es angehört, erhebt. Die Sprache kommt noch öfter in den Fall, daß sie das Undenkbare denken, das Unmögliche und nicht Existirende als möglich und existirend behandeln muß, weil sie den entgegengesetzten Begriffen nur so einen vollständigen Ausdruck verschaffen kann. Eine ihrer dunkelsten und wichtigsten Seiten! 31
Selbst wenn wir das Substantiv Nichts in einer ontisch und sachthematisch orientierten Denkperspektive ähnlich wie Carnap erfolgreich als ein bloßes Hirngespinst disqualifizieren können, so vermögen wir das in einer psychologisch und heuristisch orientierten offenbar nicht, eben weil dieses mit einem �� 28 Vgl. W. Capelle, Die Vorsokratiker, 1968, S. 165. 29 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, § 7, 19685, S. 115. 30 Vgl. L. Lütkehaus, Nichts, Abschied vom Sein. Ende der Angst, 1999, S. 732. 31 F. Hebbel, Sämmtliche Werke, 1970, Tagebücher Bd. 3, T 3320.
204 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung Namen beschenkte empirisch unfassbare Phänomen offenbar doch eine gewisse pragmatische Relevanz für uns hat. Diese können wir zwar nicht ontisch verorten, weil auch die substantivische Erscheinungsform dieses Wortes seinen pronominalen Grundcharakter als Umriss- bzw. Leerwort nicht wirklich aufgehoben hat. Gleichwohl können wir aber danach fragen, welcher operative und informative Sinn mit diesem Wort verbunden ist und warum es sich unaufhebbar in unserem Sprachgebrauch bzw. in unseren Sprachspielen verankert hat. Worauf wollen wir mit diesem Substantiv verweisen? Was wollen wir mit ihm als Denkgegenstand thematisieren, wenn wir ihm keine ontische Repräsentationsfunktion zubilligen können, sondern allenfalls eine ontologische Sinnbildungsfunktion bei der Interpretation von Welt bzw. bei der Wahrnehmung von bestimmten Relationszusammenhängen? In einem ersten Schritt können wir den Begriff Nichts als einen typischen Relationsbegriff verstehen, der von den üblichen substanziell orientierten Seinsbegriffen abgrenzbar ist. Dann würde seine pragmatische Differenzierungsfunktion darin bestehen, nicht eine autonome Seinsform zu thematisieren, sondern vielmehr einen variablen Korrelationszusammenhang. Der Begriff Nichts wäre dann den sehr abstrakten Begriffen Liebe, Gerechtigkeit oder Macht sehr ähnlich, insofern auch diese Begriffe variable Korrelationszusammenhänge ins Bewusstsein rufen sollen, die sich sehr unterschiedlich konkretisieren lassen. Um solche Prozesse zu erleichtern, sind im mythischen Denken solche Begriffsbildungen dann auch über Personifizierungen konkretisiert worden, was man dann durchaus in Sinne einer exemplarischen personalen Füllung von pronominalen Umrisswörtern verstehen kann. In einem zweiten Analyseschritt können wir die Funktion des Begriffs Nichts in der Sprache mit der Funktion des Begriffs Null in der Mathematik analogisieren, der ontologisch, strukturell, psychologisch und heuristisch ähnlich geheimnisvoll ist. Einerseits zeigt sich nämlich, dass die Null als eine Zahl unter Zahlen betrachtet werden kann ebenso wie das Substantiv Nichts als Substantiv unter Substantiven, weil sich die Null als eine Zahl zwischen ‒1 und +1 ansehen lässt. Andererseits ist die Null aber keineswegs eine Zahl unter Zahlen, weil sie der Quellpunkt von konkreten Zahlen ist, was uns unser Koordinatenkreuz klar veranschaulicht. Deshalb könnte die Null auch als Metazahl qualifiziert werden, insofern sie anderen Zahlen einen relationalen bzw. strukturellen Wert gibt. Addierte Zahlen ergeben deshalb andere Zahlen, addierte Nullen aber nicht. Isoliert betrachtet benennt die Null nichts. Relational betrachtet hat sie aber durchaus eine Funktion, weil sie nämlich ein Operationszeichen ist, mit dem der Stellenwert von Zahlen qualifiziert werden kann. Insofern steht die Null auf etwas paradoxe Weise sowohl im System der Zahlen als auch außerhalb dieses Systems. Auf ebenso paradoxe Weise steht auch das Substantiv Nichts inner-
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halb des Systems der Substantive, insofern es syntaktisch wie ein Substantiv behandelt wird, als auch außerhalb dieses Systems, insofern es den Stellenwert anderer Substantive kenntlich macht und damit diese dann auch irgendwie interpretiert. Mit der Ziffer Null bzw. mit dem Worte Nichts rufen wir deshalb nicht nichts ins Bewusstsein, sondern durchaus etwas. Beide Denkgebilde sind heuristisch fruchtbar, weil wir ohne ihre Hilfe weniger sehen als mit ihr. Kaplan hat die pragmatische Funktion der Null in der Mathematik auf eine erhellende Weise mit der Funktion einer Linse in der Optik verglichen, was sich wohl auch auf die Qualifizierung des Substantivs Nichts in der Sprache übertragen lässt. Betrachtet man eine Null, sieht man nichts; blickt man aber durch sie hindurch, so sieht man die Welt. Denn die Null rückt das große organische Geflecht der Mathematik ins Blickfeld und die Mathematik ihrerseits die komplexe Natur der Dinge.32
Wenn wir das Wort bzw. den Begriff Nichts in dieser Perspektive wahrnehmen, dann lässt sich zweierlei festhalten. Einerseits resultiert dieses sprachliche Zeichen aus einem Negationsprozess, durch den denkbaren Vorstellungen die faktische Existenz abgesprochen wird. Andererseits ist aber auch zu beachten, dass mit Hilfe dieses Zeichens etwas anderes auf kontrastive Weise für uns seine spezifische Kontur bzw. seinen Stellenwert bekommt. Der Begriff Nichts lässt sich dementsprechend dann zwar nicht ontisch als Seinsbegriff rechtfertigen, aber ontologisch durchaus als Relationsbegriff. Er leistet nämlich wichtige Dienste, um die Objektsphäre mit der Subjektsphäre zu vermitteln bzw. die gegebene Welt mit dem wahrnehmenden Ich. Deshalb ist der Begriff Nichts für semantisch mehrschichtige Sprachspiele auch unverzichtbar geworden. Ebenso wie wir den Begriff Negation mit der menschlichen Einbildungskraft in Beziehung zu setzen haben, so haben wir das auch mit dem Begriff Nichts zu machen. Beide Begriffe nehmen auf menschliche Strukturierungsanstrengungen Bezug, die zwar nicht die Welt abbilden, aber doch erschließen wollen. Deshalb spielt der Begriff Nichts auch in der Theologie und insbesondere in der Mystik eine so bedeutsame Rolle, weil es gerade hier um Relationszusammenhänge geht, die außerhalb unserer üblichen empirischen Erfahrungsmöglichkeiten liegen. Zum pragmatischen Funktionsprofil bzw. zur inneren Dialektik des Begriffs Nichts gehört ganz ähnlich wie zu dem Funktionsprofil anderer Negationsformen, dass er hintergründig immer gerade das voraussetzen muss, was er vordergründig negiert, bzw. dass er etwas in der Vorstellung präsent zu machen versucht, was er intentional eigentlich in Frage stellt. Das bedeutet, dass dieser �� 32 R. Kaplan, Die Geschichte der Null, 2000, S. 11.
206 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung Begriff im Prinzip gar nicht aus dem Spannungsverhältnis zwischen seinen Affirmations- und Negationsimplikationen herauskommt und dass er gerade dadurch erst seine spezifischen sinnbildenden Qualitäten bekommt. Er hat keine Beziehungen zu einer bestimmten empirisch erfahrbaren Gegenständlichkeit, aber durchaus eine Beziehung zu etwas, das wir im Sinne von komplexen sinnbildenden Relationsbeziehungen zu einem eigenen Vorstellungs- und Reflexionsgegenstand für uns machen können. Von hier aus wird nun auch ganz gut verständlich, warum Hegel die Negation und den Begriff des Nichts mit der Kategorie des Werdens in Verbindung gebracht hat. Dadurch will er insbesondere darauf aufmerksam machen, dass am Anfang von Denk- und Wahrnehmungsprozessen immer etwas Unbestimmtes steht, das sich zu immer größeren Bestimmtheit entfalten muss und kann. Es ist noch Nichts, und es soll Etwas werden. Der Anfang ist nicht das reine Nichts, sondern ein Nichts, von dem Etwas ausgehen soll; das Sein ist also auch schon im Anfang enthalten. Der Anfang enthält also beides, Sein und Nichts; ist die Einheit von Sein und Nichts, ‒ oder ist Nichtsein, das zugleich Sein, und Sein, das zugleich Nichtsein ist.33
Das Werden versteht Hegel als eine Bewegungsform, in der Sein und Nichts unterscheidbar sind, aber so, dass sich dieser Unterschied auf einer höheren Ebene bzw. Entwicklungsstufe in einer übergeordneten Einheit wieder auflöst. Deshalb hat Hegel auch Heraklit hoch geschätzt, der mit seiner These, dass alles fließe, zugleich Folgendes festgestellt habe: „Alles ist Werden.“34 Obwohl sich Schopenhauer immer wieder deutlich von den Denkwegen Hegels distanziert hat, so teilt er doch dessen Überzeugung, dass der Begriff Nichts nur relational zu verstehen sei bzw. dynamisch: „Jedes Nichts ist ein solches nur im Verhältniß zu etwas Anderem gedacht, und setzt dieses Verhältniß, also auch jenes Andere, voraus.“35 Als einen sinnstiftenden Verhältnisbegriff möchte auch Heidegger den Nichtsbegriff verstanden wissen. Deshalb interessiert ihn vor allem auch, unter welchen Bedingungen er sich für die Menschen konstituiert bzw. wichtig wird. Diesbezüglich kommt er dann zu folgender These: „Das Nichts enthüllt sich in der Angst ‒ aber nicht als Seiendes.“36 Aufschlussreich an dieser These ist, dass Heidegger ähnlich wie Psychologen das, was er mit dem Namen Nichts versieht, nicht mit dem Erfahrungsphä�� 33 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, Werke Bd. 5, 1986, S. 73. 34 G. W. F. Hegel, a. a. O., 1986, S. 84. 35 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, 4. Buch § 71, Werke, Bd. 1, 1988, S. 525. 36 M. Heidegger, Was ist Metaphysik?, 19602, S. 33.
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nomen der Furcht, sondern mit dem der Angst in Verbindung bringt, also nicht mit einer konkret benennbaren Bedrohung, sondern mit einer unfassbaren Bedrohung, in der einem das Seiende als etwas konkret Verstandenes und Eingeordnetes bzw. als eine verstandene Welt entgleitet oder zu entgleiten droht. Diese Bedrohung hat für Heidegger ein so dominantes Gewicht, dass er sich gar nicht für die Genese des substantivischen Begriffs Nichts aus dem Negationspronomen nichts interessiert und damit dann auch nicht für die möglichen sprachspielerischen Dimension und den hypothetischen Charakter dieser Begriffsbildung. Heidegger möchte den Begriff Nichts vielmehr sofort in einer existenziellen Grunderfahrung des Menschen verankern. Das führt dann dazu, dass er das Phänomen Nichts zwar nicht als ein Seiendes im üblichen Sinne verstanden wissen will, aber doch als eine existenziell bedeutsame Wirkungsgröße, aus der dann zwangsläufig Negationserfahrungen resultieren können. Diese thematisiert er dann durch das Verb nichten, welches das Denkkonzept Nichts zu einer hypostasierten mythischen Größe werden lässt, die gleichsam handlungsfähig ist. Das exemplifiziert die schon zitierte These Heideggers recht klar: „Das Nichts selbst nichtet.“37 Wenn Carnap darauf verweist, dass Heideggers Substantivierung des Negationspronomens nichts keinen gegebenen Tatbestand sprachlich objektiviere, sondern lediglich einem bestimmten Lebensgefühl Ausdruck gebe, dann hat er damit durchaus Recht. Allerdings würde Heidegger selbst das nicht unbedingt als einen Mangel des philosophischen Denkens bzw. der philosophischen Begriffsbildung ansehen, sondern vielmehr als eine fundamentale philosophische Einsicht, da für ihn erst im Kontext dieser diffusen, aber gleichwohl existenziellen Grunderfahrung, Seiendes als verstandenes Seiendes eine fassbare Gestalt bekommen könne. „Es ‒ das Nichts in seinem Nichten ‒ verweist uns gerade an das Seiende.“38 Das Phänomen und der Begriff Nichts gehört für Heidegger auf genuine Weise zur Metaphysik. Diese hat sich seiner Meinung nach nämlich nicht vorrangig mit dem Seienden als solchem zu beschäftigen wie etwa die Einzelwissenschaften, sondern mit dem Problem, wie Seiendes für uns zu einem Erfahrungs- und Denkgegenstand werden kann. Die antike Metaphysik verstehe deshalb das Nichts dann auch als ungestalteten Urstoff, aus dem das konkret Seiende resultiere, die christliche Theologen als Gott bzw. als Urgrund, der das Seiende aus sich entlasse, und die neuzeitliche Metaphysik als eine Bedingung
�� 37 M. Heidegger, a. a. O., 19602, S. 34. 38 M. Heidegger, a. a. O., 19602, S. 36.
208 � Das Negationsproblem in der Begriffsbildung dafür, dass Seiendes für Menschen überhaupt konkret in Erscheinung treten könne. Irritierend wirkt bei Heideggers Argumentation allerdings, dass er einerseits in Abrede stellt, dass das Nichts ein Seiendes sei, dass er andererseits das Substantiv Nichts aber syntaktisch als Subjekt verwendet, das bei ihm dann nicht nur ein Gegenstand von Aussagen ist, sondern das auch selbst bestimmte Handlungsaktivitäten zu entfalten vermag („Das Nichts selbst nichtet.“). Selbst wenn man diese Redeweise als ein metaphorisches oder mythisches Sprachspiel versteht, so ergibt sich dennoch die Frage, ob er dieses neugebildete Substantiv wirklich nur als eine heuristische ontologische Denkfigur (ens rationis) versteht oder nicht doch als ein gegebenes ontisches Phänomen. Vielleicht kommen wir nicht darum herum, metaphorisch reden zu müssen, wenn wir über solche Probleme reden möchten, die wir etwa mit dem Substantiv Nichts zu thematisieren versuchen. Auch die Physiker reden ja metaphorisch, wenn sie den Ausdruck schwarzes Loch verwenden, um uns mitzuteilen, dass es Phänomene gibt, die eine so gewaltige Gravitationskraft haben, dass sie selbst Licht nicht mehr reflektieren, sondern in sich aufsaugen. Aber in solchen Fällen haben wir immer zu beachten, dass wir hier nicht in einer behauptenden, sondern nur in einer erschließenden bzw. heuristischen Weise von etwas reden. Dieses Problem ist allerdings weitgehend gebannt, wenn wir den Begriff Nichts mit Kant als ein ens rationis bzw. als einen leeren Begriff ohne Gegenstand verstehen, dem aber dennoch eine wichtige operative Funktion für unser Denken zukommt. Für den sogenannten philosophischen Existenzialismus hat der Begriff Nichts eine sehr große Bedeutsamkeit bekommen. Mit ihm konnte nämlich recht gut darauf aufmerksam gemacht werden, dass Menschen angesichts der Erfahrung des Nichts im Sinne der Erfahrung einer nicht zu deutenden Welt auf ihre bloße Existenz zurückgeworfen würden. Unter diesen Umständen könnten sie dann nämlich weder bei festen weltabbildende Wesensbegriffen noch bei sinngebenden Denktraditionen Hilfe finden. Wenn nun aber Menschen in ihren Sinnbildungsanstrengungen ganz auf ihre eigene Existenz zurückverwiesen werden und auf dieser Basis die volle Verantwortung für ihre Entscheidungsprozesse zu übernehmen haben, dann bekommt natürlich die Vorstellung bzw. die Erfahrung des Nichts eine ganz fundamentale anthropologische Bedeutsamkeit. Für Albert Camus wird die Erfahrung des Nichts dann sogar zu einem Garanten der menschlichen Freiheit, die ihn befähige, den Kampf gegen die Absurditäten des Daseins aufzunehmen,
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was er im Mythos von Sisyphos auf eine eindrucksvolle Weise veranschaulicht findet.39 Interessant ist im Kontext der Frage nach den sinnbildenden Funktionen von Negationsformen und Negationshandlungen die These Blochs, dass der Begriff des Nichts gegen „allen schal-statischen Nihilismus“ durchaus mit dem Prinzip Hoffnung in Verbindung gebracht werden könne. „Auch das Nichts ist eine utopische Kategorie, wenn auch eine extrem gegen-utopische.“40 Diese These wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Verneinungshandlungen bzw. der Begriff Nichts, die beide durchaus Bezüge zu der Ergebnisorientierung des menschlichen Denkens haben, letztlich auch als spezifische Erscheinungsformen von Hunger verstanden werden können, insofern man sich ja nicht mit dem vordergründig Gegebenen zufrieden gibt, sondern immer auch nach etwas Anderem und Neuem Ausschau hält. Bloch möchte das Nicht und das Nichts trotz ihrer inneren Zusammengehörigkeit dennoch unterschieden wissen. Mit der Transformation des Negationswortes nicht zu dem Substantiv das Nicht möchte er nämlich ein Streben bezeichnen, das er „primär als Hunger“ verstanden wissen will bzw. als ein „NichtHaben“. Dagegen möchte er das Substantiv das Nichts als Bezeichnung für einen vereitelten Prozess verstanden wissen, der für ihn eine „eine Vernichtung“, beinhaltet, die er als „das negative Staunen“ charakterisiert.41 Die Negation in ihren sprachlichen Realisierungsformen durch die Wörter nicht, nichts und Nichts gerät auf diese Weise für Bloch in das Spannungsfeld zwischen einem Nicht-Mehr und einem Noch-Nicht. Deshalb wird die Negation für ihn dann auch zu einer treibenden Kraft der Geschichte, eben weil er die Negation als eine konstitutive Grundlage des Gedanken der Hoffnung ansieht. Damit nimmt Bloch dann natürlich eine klare Gegenposition zu allen nihilistisch orientierten Denkströmungen ein, in denen der Begriff des Nichts dazu verwendet wird, kenntlich zu machen, dass alles Seiende oder Erfahrbare letztlich im Unbestimmbaren versinke und dass alle Sinnordnungen und Wesensbestimmungen eigentlich unmöglich seien, die man als Antworten auf WarumFragen verstehen könnte.42
�� 39 Vgl. W. Weier, Nihilismus. Geschichte, System, Kritik, 1980, S. 159ff. 40 E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1959, Bd. 1, S. 11. 41 E. Bloch, a. a. O., 1959, Bd. 1, S. 356f. 42 Vgl. L. Lütkehaus, Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst, 1999, S. 682ff.
6 Implizite sprachliche Negationsformen Implizite sprachliche Negationsformen Die Frage nach den Formen und Funktionen von Negationen in der Sprache ließe sich natürlich am leichtesten beantworten, wenn wir unser Wahrnehmungsinteresse ausschließlich auf die morphologisch und funktional gut profilierten expliziten Negationszeichen konzentrierten. Allerdings würden wir dadurch auch unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten für die vielfältigen Aspekte der Negationsproblematik methodisch ganz entscheidend reduzieren. Wir liefen dabei nämlich Gefahr, die Negation nur als ein sprachlogisches bzw. systemtheoretisches Phänomen wahrzunehmen, aber nicht als eine sprachliche Universalie mit sehr vielfältigen faktischen Erscheinungsformen und sehr weitreichenden anthropologischen bzw. kognitiven und kommunikativen Implikationen. Ein dementsprechend orientiertes Erkenntnisinteresse bedarf ganz sicherlich einer sehr viel umfassenderen semiotischen Thematisierung und Analyse von sprachlichen Negationsformen. Aus dieser Problemlage ist hier die Konsequenz gezogen worden, zunächst nur die explizit fassbaren Negationszeichen ins Auge zu fassen, die sich im Verlaufe der Sprachgeschichte im Deutschen morphologisch konkretisiert und funktional konventionalisiert haben. Dieser Ansatz wurde dann allerdings durch die Frage nach den möglichen Negationsimplikationen von Begriffsbildungsprozessen überhaupt erweitert. Dadurch ergab sich dann im Prinzip schon die Aufgabe, unsere Aufmerksamkeit auch auf die verdeckten bzw. impliziten Erscheinungsformen von Negationen zu richten. Unter diesen Umständen konnte sich unser Erkenntnisinteresse nun nämlich nicht mehr allein auf die Frage konzentrieren, welche Rolle unselbstständige Negationsmorpheme in Begriffsbildungsprozessen spielen, sondern musste sich zwangsläufig auch mit dem sehr viel komplexeren Problem beschäftigen, welche Negationsintentionen sich überhaupt in konkreten Begriffsbildungen bzw. Sprachformen bemerkbar machen konnten. Dadurch ließ sich dann natürlich auch die Sensibilität für das Problem steigern, ob Sprachformen, die gar keine direkt fassbaren Negationsmorpheme aufweisen, dennoch ein bestimmtes Negationspotenzial haben können und wie man dieses erfassen und genauer bestimmen kann. Diese Problematik soll nun näher entfaltet werden. Das ist natürlich nicht leicht, weil wir die sprachlich wirksamen Indikatoren für Negationsanstrengungen unter diesen Umständen semiotisch nicht immer eindeutig identifizieren können. Diese ergeben sich nämlich oft nur aus dem Zusammenspiel von vielfältigen Einzelfaktoren bzw. aus verborgenen Zusatzfunktionen sprachlicher Zeichen, die primär ganz anderen Sinnbildungsintentionen dienen.
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Das bedeutet, dass wir bei der Identifizierung und Beschreibung impliziter sprachlicher Negationsformen immer wieder auf unser Sprachgefühl zurückgreifen müssen, was natürlich die Durchsichtigkeit und Nachvollziehbarkeit von Argumentationen beeinträchtigen kann. Dennoch lässt sich dieser Weg rechtfertigen, wenn man in Betracht zieht, dass unser Sprachgefühl durchaus als eine Ausdrucksform unseres intuitiven Sprachwissens angesehen werden kann, das aus unserem Erfahrungswissen über den möglichen Gebrauch von ganz bestimmten Sprachformen resultiert. Dieses Sprachgefühl kann deshalb auch als ein untergründiges Basiswissen für unser theoretisches Sprachwissen betrachtet werden, welches unser intuitives Sprachwissen in Begriffe bzw. in einen Systemzusammenhang zu bringen versucht, ohne es dabei allerdings vollständig abbilden oder gar objektivieren zu können. Methodisch ist die Frage nach den impliziten sprachlichen Negationsformen schwer zu handhaben und zu beantworten, weil wir uns dabei auf eine Analyseebene begeben müssen, die wir weder eindeutig der Wahrnehmung von Sprache als etabliertes Zeichensystem (langue) noch der Wahrnehmung von Sprache als aktueller Rede (parole) zuordnen können. Implizite Negationsformen können sich nämlich in der Sprache sowohl konventionell stabilisieren als auch im Sprachgebrauch spontan ausbilden. Mit dem Sprachspielgedanken Wittgensteins ist dieser Denkansatz dagegen durchaus verbindbar, weil in diesem Negationsformen recht klar als Sinnbildungsstrategien und damit auch als Lebensformen hervortreten können, die sowohl dem Prinzip der Tradition und Konvention als auch dem der Spontaneität und Innovation verpflichtet sind. Die Frage nach den impliziten Negationsformen verdeutlicht außerdem sehr gut, dass Negationsanstrengungen sowohl dem sachthematischen als auch dem reflexionsthematischen Denken zugeordnet werden können. Deshalb haben sie dann ja auch ganz wichtige stilistische Funktionen, gerade weil sich in ihnen affirmierende und negierende Sinnbildungsintentionen auf vielfältige Weise überlagern können. Auf jeden Fall ist aber festzuhalten, dass implizite sprachliche Negationsformen immer ein hohes Andeutungspotenzial haben, das dann wiederum zum Auslöser von komplexen sprachtheoretischen und texthermeneutischen Überlegungen werden kann. Da nun die Frage nach den impliziten sprachlichen Negationsformen in ihrer Reichweite weder morphologisch noch funktional ganz eindeutig bestimmt werden kann, lässt sie sich natürlich auch nicht völlig befriedigend beantworten. Sie sollte deshalb auch weniger als eine faktisch beantwortbare Sachfrage verstanden werden, sondern eher als eine perspektivierende und sensibilisierende Sinnbildungsfrage, die uns insbesondere auf ein hermeneutisches Problem aufmerksam zu machen hat. Da auf sie immer nur Teilantworten möglich sind, kann sie auch nur exemplarisch gestellt und beantwortet werden.
212 � Implizite sprachliche Negationsformen Das soll hier in der Weise geschehen, dass zunächst die Aufmerksamkeit auf die möglichen Negationsimplikationen von lexikalischen Sprachformen gerichtet wird. Dadurch lässt sich dann auch die schon behandelte Frage nach den Negationsimplikationen von ganz bestimmten Begriffsbildungen weiterführen. Anschließend soll dann das Interesse auf die Negationsimplikationen des metaphorischen und ironischen Sprachgebrauchs gerichtet werden sowie auf die Negationsimplikationen, die sich in sprachlichen Modalitätsformen bemerkbar machen. Schließlich wird die Aufmerksamkeit noch auf das Schweigen als einer ganz spezifischen Form der Negation gelenkt, bei der die Sprache selbst als Kommunikations- und Sinnbildungsmittel in Frage gestellt wird.
6.1 Negationsimplikationen in lexikalischen Sprachformen Die Frage nach den möglichen Negationsimplikationen von lexikalischen Formen soll sich hier nur auf diejenigen Formen konzentrieren, in denen keine direkt fassbaren Negationsmorpheme vorkommen und bei denen das mögliche Negationspotenzial allein aus ihrer spezifischen Semantik abgeleitet werden muss. Am offensichtlichsten treten solche Formen natürlich bei den sogenannten Privativa (Blindheit, fehlen, krank) in Erscheinung, durch die die Abwesenheit von etwas eigentlich Erwartetem oder Erwünschtem thematisiert wird. Da auf diese Sprachformen aber schon im Zusammenhang mit der Frage nach den Negationsimplikationen von Begriffsbildungsprozessen eingegangen worden ist, wird sich nun das diesbezügliche Erkenntnisinteresse auf solche lexikalischen Sprachformen konzentrieren, die auf Grund ihrer spezifischen Entstehungsgeschichte und der daraus resultierenden Einbettung in bestimmte Begriffsfelder ganz spezifische Negationsimplikationen aufweisen. Diese können von Sprache zu Sprache recht unterschiedlich ausfallen und bei Übersetzungen dann natürlich durchaus Schwierigkeiten bereiten, obwohl die jeweiligen Sprachformen vordergründig betrachtet dieselbe Bedeutung zu haben scheinen. In einem zweiten Denkansatz soll dann das Problem erörtert werden, inwieweit bei der Strukturierung unseres Vokabulars zweistellige oder mehrstellige Oppositionsrelationen in Wortfeldern angestrebt werden. Das hat nämlich erheblichen Einfluss darauf, was mit der Wahl eines bestimmten Wortes affirmiert oder negiert werden kann bzw. welche Schlüsse aus dem Umstand gezogen werden können, dass ein ganz bestimmtes Wort verwendet oder nicht verwendet wird. Bei der Annahme von zweistelligen Oppositionsrelationen sind solche Schlüsse dann natürlich relativ einfach und übersichtlich, bei drei- und mehrstelligen Oppositionsrelationen werden sie aber zu einem hermeneutischen Problem, das nicht immer eindeutig zu lösen ist.
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6.1.1 Sprachgeschichtlich bedingte Oppositionsrelationen Die lexikalischen und grammatischen Ordnungssysteme der natürlichen Sprachen sind nicht konstruktiv bzw. systematisch am grünen Tisch entworfen worden, sondern historisch gewachsen. Das bedeutet, dass die entsprechenden einzelnen Sprachformen sich nicht so scharf voneinander abgrenzen lassen wie die Stücke einer Torte. Es ist immer zu beachten, dass der Zuständigkeitsbereich von lexikalischen Formen in den natürlich gewachsenen Sprachen sich nicht normativ festlegen lässt, weil die Entstehungsgeschichte der einzelnen Formen einen großen Einfluss auf ihre jeweiligen faktischen Verwendungsmöglichkeiten hat und damit dann natürlich auch auf ihr jeweiliges Affirmations- und Negationspotenzial. Erschwerend kommt zu dieser historisch bedingten Unübersichtlichkeit von lexikalischen Feldern außerdem hinzu, dass die einzelnen Sprachnutzer eine unterschiedliche Kenntnis von der Wachstumsgeschichte, der Mitgliederzahl und der Ordnung dieser Felder haben. Deshalb kann der einzelne Kommunikant auch nicht von vornherein genau wissen, was der jeweilige Partner beim Gebrauch eines bestimmten Wortes jeweils bekräftigen oder ausschließen möchte. Diese Problematik lässt sich recht gut an folgendem Beispiel exemplifizieren. Im Deutschen gab es anfangs nur das Wort Hund, um eine bestimmte Art von Tieren von anderen zu unterscheiden und zu benennen. Dann stellte sich aber nach und nach heraus, dass dieses sprachliche Kategorisierung doch sehr grob war und dass es durchaus nützlich sei, nicht nur die einzelnen Hunderassen voneinander zu unterscheiden, sondern auch die männlichen und weiblichen Hunde. Deshalb bürgerte sich dann die Wortableitung Hündin ein. Da sich nun aber der alte, geschlechtlich unspezifische Gebrauch des Wortes Hund per Dekret nicht einfach abschaffen ließ, entstand nun das sprachlogisch missliche Problem, dass das Wort Hund einerseits weiterhin als allgemeiner Oberbegriff für die Bezeichnung einer bestimmten Tierart verwendet wurde und andererseits aber auch eine Abstraktionsstufe tiefer als geschlechtspezifischer Oppositionsbegriff zu dem Begriff Hündin. Um nun eindeutig klarzustellen, was mit dem Wort Hund im faktischen Sprachgebrauch bezeichnet werden sollte, führten insbesondere die Hundzüchter das Wort Rüde (ahd. rudio = großer Hund) als Bezeichnung für männliche Hunde ein und versuchten, das Wort Hund nur noch als allgemeine Gattungsbezeichnung zu verwenden. Dieser fachsprachliche Sprachregulierungsversuch hat sich dann umgangssprachlich aber nicht durchgesetzt, weil sich der Handlungsspielraum von Wörtern ebenso wie der von Menschen nachträglich nicht einfach einschränken lässt. Wörter wie Menschen beanspruchen diesbezüglich meist immer so etwas
214 � Implizite sprachliche Negationsformen wie Besitzstandswahrung. Dieses Prinzip hatte nun aber die problematische systemtheoretische Konsequenz, dass sich in den einzelnen Begriffsfeldern Grenzlinien verwischten und dass man im konkreten Sprachgebrauch nicht immer mehr so genau wußte, welche Vorstellungen bzw. Informationen mit der Wahl eines bestimmten Wortes affirmiert bzw. negiert werden sollten. Aus diesen evolutionär bedingten Inkonsequenzen von gewachsenen Feldordnungen in natürlichen Sprachen lassen sich nun im Hinblick auf die Negationsimplikationen von lexikalischer Sprachformen folgende Schlüsse ziehen. Wenn in natürlich gewachsenen lexikalischen Feldordnungen zwei unterschiedliche Formen auftauchen, die auf den ersten Blick einen bestimmten Gegenstandsbereich konträr aufzugliedern scheinen, dann muss der Gebrauch der einen Form nicht notwendigerweise die Möglichkeit des Gebrauchs der anderen Form ausschließen. Vielmehr ist in Betracht zu ziehen, dass die jüngere Form meist die spezialisierte und markierte Form ist, die in der Regel die Möglichkeit des Gebrauchs der älteren unmarkierten ausschließen soll. Der Gebrauch der älteren ist dagegen nicht unbedingt ein Votum gegen die Möglichkeit des Gebrauchs der markierten jüngeren Form, sondern nur unter ganz bestimmten Umständen. Beide Formen haben dementsprechend also ein asymmetrisch strukturiertes Affirmations- und Negationspotenzial, insofern sie sich auf unterschiedliche Abstraktionsprozesse gründen. Da die Wahl des einen Wortes nicht unbedingt die Abwahl des anderen impliziert, kann es deshalb zu erheblichen Missverständnissen führen, wenn die jeweiligen Kommunikanten den situativen Gebrauchskontext nicht zureichend berücksichtigen und ihren Verstehensprozessen nur systemtheoretische Gesichtspunkten zu Grunde legen.1 Aus den unterschiedlich strukturierten Affirmations- und Negationsimplikationen lexikalischer Feldordnungen ergeben sich zuweilen auch spezifische Übersetzungsprobleme. Da beispielsweise im Deutschen lexikalisch nicht kontrastiv zwischen dem astronomisch und dem religiös verstandenen Himmel unterschieden wird, aber im Englischen sehr wohl, lassen sich bestimmte Sprachspiele mit den entsprechenden Wortprägungen nicht immer prägnant vom Englischen ins Deutsche übersetzen. Das exemplifiziert sich beispielsweise sehr schön, wenn man eine alte Pilotenweisheit aus dem Englischen ins Deutsche übersetzen möchte: Watch the sky, heaven is near!
�� 1 Roman Jakobson hat diese komplizierte Struktur natürlich gewachsener Feldordnungen insbesondere im Hinblick auf grammatische Formen beschrieben. Vgl. R. Jakobson, Form und Sinn, 1974, S. 55‒67.
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6.1.2 Mehrstellige Oppositionskonstellationen Das rein sachthematisch orientierte fachwissenschaftliche Denken liebt zweistellige Oppositionskonstellationen auf derselben Abstraktionsebene. Dadurch wird es nämlich möglich, eindeutige und sich ausschließende Oppositionsbegriffe zu bilden und das Denken so zu regulieren, dass klare, wenn auch vereinfachende Alternativen hervortreten. Außerdem wird es dadurch auch sehr erleichtert, Schlussfolgerungsprozesse durchzuführen, deren Ergebnis nach den alternativen Wahrheitswerten von wahr und falsch beurteilt werden können. So gestaltete Denkprozesse gibt es natürlich auch im alltäglichen Denken, aber eben nicht nur. Da unser natürliches Denken nicht nur deskriptive bzw. abbildende Zielsetzungen hat, sondern auch hermeneutische, wertende und handlungssteuernde, muss es sprachliche Oppositionsrelationen konkretisieren, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen liegen können. Das hat zur Folge, dass die Semantik von Wörtern im Prinzip immer mehrschichtig ist und dass von vornherein nicht immer klar ist, was mit einem bestimmten Wort affirmiert oder negiert werden soll bzw. in welche Oppositionsrelationen es eingebunden ist. Wir haben im natürlichen Sprachgebrauch also immer damit zu rechnen, dass mit den einzelnen Wörtern mehrstellige Kontrastrelationen objektivierbar sind, eben weil sie auch ganz unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven auf die Welt Ausdruck geben können und wollen. Das Verstehen von natürlich gewachsenen Sprachformen macht es deshalb zugleich immer auch erforderlich, unterschiedliche Typen von Weltwissen zu aktivieren. Der strukturelle Unterschied zwischen zwei- und mehrstelligen Oppositionskonstellationen bei Wörtern bzw. Begriffsbildungen lässt sich exemplarisch am Unterschied zwischen zwei- und dreistelligen Begriffskonstellationen konkretisieren und diskutieren. Bei dreistelligen Konstellationen wird schon deutlich, dass ein Begriff einen anderen nicht vollständig ausschließt, sondern nur in bestimmten Hinsichten, und dass Negationsrelationen daher nicht immer als Seinsnegationen zu verstehen sind, sondern oft nur als perspektivierende Interpretationsnegationen: Mann‒Frau; Mann‒Frau‒Kind; wachen‒schlafen; wachen‒schlafen‒träumen; verheiratet‒ledig; verheiratet‒ledig‒geschieden.2 Wenn wir in zweistellige Kontrastrelationen ein drittes Element einfügen, dann wird sofort klar, dass zweistellige Oppositionsrelationen keine generelle Unterscheidungsrelevanz haben, sondern nur eine spezielle. Die Einführung eines dritten Relationsfaktors zwingt uns nämlich automatisch dazu, den Stel-
�� 2 Vgl. G. Révész, Die Trias, Die Analyse der dualen und trialen Systeme, Bayrische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, 1956, H. 10, 1957.
216 � Implizite sprachliche Negationsformen lenwert der beiden anderen hinsichtlich ihres Geltungsanspruchs zu dynamisieren und eben dadurch das Denken in zweistelligen Oppositionen bzw. in Alternativen als ein ganz spezifisches methodisches bzw. interpretierendes Denken zu werten. Deshalb lässt sich auch die These rechtfertigen, dass die Berücksichtigung von drei- und mehrstelligen Oppositionskonstellationen eher das relationale als das substanzielle Denken fördert, weil dadurch immer recht nachdrücklich auf Wenn-Dann-Relationen aufmerksam gemacht wird. Es ist nun ziemlich offensichtlich, dass zur Wahrnehmung von mehrstelligen Oppositions- und Negationsrelationen nicht nur eine systemtheoretisches, sondern auch ein historisches Sprachwissen gehört bzw. ein Wissen über die Genese und die Veränderung von bestimmten Begriffsbildungen. Nur dann kann die Wahrnehmung von Kontrast- und Negationsrelationen eine Tiefendimension bekommen, die Kindern bzw. Ausländern naturgemäß zunächst noch fehlt bzw. die sich nur dann wirklich ausbilden kann, wenn man auch Texte älterer Sprachstufen kennt bzw. Texte mit mehrschichtigen Sinnbildungsintentionen. Dieses Wissen muss nicht unbedingt explizit formulierbar sein, es kann sich auch implizit in Form unseres Sprachgefühls bemerkbar machen. Auf jeden Fall spielt es aber eine ganz entscheidende Rolle für das adäquate Verständnis von metaphorischen und ironischen Sprachgebrauchsweisen. Beispielsweise kann man mit dem Verb fasten auf implizite Weise negieren, dass jemand Nahrung zu sich nimmt. Man kann mit ihm allerdings auch metaphorisch vermitteln, dass jemand sich der üblichen Genüsse oder Ablenkungen enthält und eben dadurch dann auch deren Stellenwert zu Gunsten anderer Werte in Frage stellt oder gar negiert. Mit dem Adjektiv ledig können wir sachthematisch implizit negieren, dass jemand verheiratet ist, was dann aber reflexionsthematisch je nach den näheren Umständen entweder als Verlust oder als Gewinn verstanden werden kann. Wenn wir davon sprechen, dass jemand ledig von Sorgen ist, dann ist pragmatisch kaum anzunehmen, dass man diese implizite Sachverhaltsnegation in einem bedauernden Sinne zu verstehen hat. Bei der Wahrnehmung und Beurteilung der möglichen Negationsimplikationen von Begriffen bzw. lexikalischen Einheiten müssen wir immer recht variable Gesichtspunkte und Wahrnehmungsinteressen ins Auge fassen. Wir haben dabei nicht nur zu klären, was negiert bzw. affirmiert wird, sondern auch, in welcher Intensität und in welchem Denkrahmen das jeweils geschieht. Das bedeutet, dass die Frage nach den möglichen Negationsimplikationen lexikalischer Einheiten immer eine genuin hermeneutische Frage ist, bei deren Beantwortung wir sowohl auf unser Sprach- als auch auf unser Weltwissen in seinen unterschiedlichen Ausprägungsformen zurückgreifen müssen. Außerdem wird dabei auch in hohem Maße unsere Fähigkeit herausgefordert, die kognitiven und kommunikativen Intentionen des jeweiligen Sprechers zu erfassen.
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Generell lässt sich sagen, dass die Wahrnehmung der möglichen Negationsimplikationen von lexikalischen Formen eine hohe Sensibilität für die dialogischen Aspekte der Sprache voraussetzt, eben weil die Sprache unter diesen Umständen primär als Erschließungs- und Interaktionsmittel wahrzunehmen ist und nicht als rein sachthematisches Abbildungsmittel. Das dokumentiert sich insbesondere dann klar, wenn wir uns näher mit den Negationsimplikationen des metaphorischen und ironischen Sprachgebrauchs beschäftigen.
6.2 Negationsimplikationen im metaphorischen Sprachgebrauch Üblicherweise bringen wir den metaphorischen Sprachgebrauch nicht mit dem Negationsbegriff in Verbindung oder mit ganz konkreten Negationsabsichten des jeweiligen Sprechers, sondern eher mit der Vorstellung einer schöpferischen bzw. ästhetischen Sprachverwendung. Allerdings macht uns schon die gängige Beurteilung des metaphorischen Sprachgebrauchs als eines uneigentlichen Sprachgebrauchs in der klassischen Rhetorik darauf aufmerksam, dass Metaphern doch ganz bestimmte Negationsimplikationen haben könnten. Die Frage ist dann allerdings nur, welche dafür in Betracht kommen und was wir unter einem uneigentlichen Sprachgebrauch überhaupt zu verstehen haben. Die Qualifizierung des metaphorischen Sprachgebrauchs als eines uneigentlichen Sprachgebrauchs geht von der Denkprämisse aus, dass der begriffliche bzw. der darstellende Sprachgebrauch als grundlegende Norm anzusehen ist, von welcher der metaphorische dann trotz seiner Beliebtheit auf defizitäre Weise abweicht. Dementsprechend werden dann Metaphern oft auch als Relikte aus der Welt des Mythos angesehen, die in der Welt des Logos dann eigentlich ihre Daseinsberechtigung verloren hätten. Allenfalls in der Rhetorik könne man sie als rhetorische Figuren bzw. als ornamentale Redeweisen für ganz bestimmte Überredungsziele aus didaktischen Gründen dulden. Im philosophischen und wissenschaftlichen Denken und Sprechen seien sie aber durch begriffliche bzw. eigentliche Sprachformen zu ersetzen. Das aufklärerische Denken scheint so gesehen immer in einer natürlichen Abwehrhaltung gegenüber dem metaphorischen Sprachgebrauch zu stehen, da es ihm offenbar nicht um eine ornamental eingekleidete, sondern vielmehr um die nackte Wahrheit selbst geht. Die Rede von der nackten Wahrheit ist nun allerdings als aufklärerischer Kampfbegriff sehr ambivalent, aber möglicherweise gerade deshalb in einem unbeabsichtigten Sinne auch heuristisch besonders aufschlussreich oder sogar aufklärerisch. Das wird vielleicht deutlich, wenn man die Formel nicht nur
218 � Implizite sprachliche Negationsformen sachthematisch, sondern auch reflexionsthematisch zu verstehen versucht. In dieser Denkperspektive entschärft sich nämlich ihre innere Paradoxie, die darin besteht, dass der Kampf gegen die ornamentale metaphorische Verkleidung von Sachverhalten ausgerechnet unter dem Banner einer Metapher bzw. eines metaphorischen Sprachgebrauchs geführt wird. Auf diese Weise wird nämlich unsere Aufmerksamkeit auf sehr subtile Weise indirekt auf das Problem gelenkt, ob die verlässliche Aufklärung von realen Sachverhalten überhaupt ohne die gleichzeitige Aufklärung der Vermittlungsfunktion der Sprache möglich ist, die prinzipiell ja nicht nur begrifflich, sondern auch bildlich bzw. metaphorisch genutzt werden kann oder sogar genutzt werden muss. Diese sprachtheoretische und erkenntnistheoretische Grundproblematik kann man sich auch durch folgende Fragen präzisieren: Lässt sich das Ziel aufklärerischen Denkens bei der Wahrnehmung von Welt immer auf direkte Weise erreichen oder zuweilen nur auf indirekte? Können wir uns im Denken Sachverhalte von allen verdeckenden Ummantelungen so entblößen, dass sie gleichsam völlig nackt ohne mediale bzw. semiotische Vermittlungsimplikation an sich vor uns stehen? Lassen sich die Gegenstände unseres Denkens überhaupt abschließend begrifflich objektivieren oder müssen wir damit rechnen, dass wir sie uns nur in einem andeutenden und vorläufigen Sinne gleichsam nur asymptotisch zugänglich machen können? Können die Affirmations- und Negationsimplikationen von sprachlichen Sinnbildungsanstrengungen endgültig erfasst oder nur aspektuell mit Hilfe bestimmter methodischer Fragestellungen thematisiert und erschlossen werden? Diese Fragen, die ihren rhetorischen Charakter natürlich nicht verbergen können, sollen verdeutlichen, dass sich die Frage nach den Negationsimplikationen des metaphorischen Sprachgebrauchs nur unter einer Bedingung sinnvoll beantworten lässt. Wir müssen uns bei jedem Versuch einer Beantwortung gleichzeitig immer auch Rechenschaft darüber ablegen, mit Hilfe welcher Denkmodelle wir die Sinnbildungsfunktionen des metaphorischen Sprechens aufklären wollen bzw. können und wie sich diese Modelle im Laufe der Zeit auch umstrukturiert haben, um ganz bestimmte Aufklärungsziele zu erreichen.
6.2.1 Die Erschließungsfunktionen von Metaphern Ein erster Hinweis darauf, dass man metaphorischen Redeweisen eher eine Erschließungs- als eine Abbildungsfunktion zugebilligt hat, ergibt sich schon aus der Benennung dieses sprachlichen Phänomens. Der Terminus Metapher ist aus dem gr. Verb meta-pherein (übertragen) abgeleitet worden. Dadurch verdeutlicht sich, dass man sich schon früh des Umstandes bewusst war, dass das
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Verfahren, sich Unbekanntes über Ähnlichkeiten mit Bekanntem zu erschließen, heuristisch außerordentlich nützlich ist. So gesehen lassen sich dann metaphorische Redeweisen auch als Erkenntnisverfahren betrachten, die vor allem nach ihrer pragmatischen Fruchtbarkeit zu beurteilen sind, zu der dann allerdings nicht allein ihre Abbildungskraft zu rechnen ist. In dieser Sichtweise kann dann vorerst auch das erkenntnistheoretische Problem vernachlässigt werden, ob die dabei in Anspruch genommenen Analogien als substanzielle Wesensanalogien zu verstehen sind oder nur als Ähnlichkeitsvorstellungen, die man wie Leitern weglegen kann, wenn man mit ihnen ein bestimmtes Ziel erreicht hat. Auf jeden Fall ist bei dieser pragmatischen Beurteilung des Wertes von Metaphern festzuhalten, dass mit ihrer Hilfe etwas ins Blickfeld gerückt werden kann, was man ansonsten gar nicht oder zumindest nicht so deutlich sieht als mit ihnen. Deshalb hat man sich auch immer wieder die methodische Leistungskraft von Metaphern mit Fernrohren oder Mikroskopen versinnbildlicht bzw. mit der Funktion von Kleidern und Lichtquellen. All diese Sinnbilder sollen uns vergegenwärtigen, dass unsere Erkenntnisse über die Welt immer einer medialen Hilfe und Vermittlung bedürfen, die natürlich auch immer einem vorprägenden Einfluss auf die konkrete Erfahrung des jeweils Vermittelten ausüben. Aus all dem lässt sich nun der Schluss ziehen, dass Metaphern Erkenntniswerkzeuge sind, die eine doppelte Funktion haben, da sie immer sich selbst und anderes zur Erscheinung bringen. Damit erweisen sie sich auf exemplarische Weise sowohl als sachthematische als auch als reflexionsthematische Sinnbildungswerkzeuge, die notwendigerweise zu unserem geistigen Leben gehören, weil sie eindrucksvoll veranschaulichen, dass Menschen perspektivisch denken müssen und denken können. Zugleich dokumentieren sie dadurch aber auch, dass es eine innere Verwandtschaft von Metaphern und Negationen gibt. Blumenberg hat zu Recht darauf verwiesen, dass wir über die Analyse von Metaphern an die „Substrukturen des Denkens“ herankommen bzw. an „die Nährlösung der systematischen Kristallisationen.“ Über die Analyse von Metaphern sei aufzuklären „mit welchem ›Mut‹ sich der Geist in seinen Bildern selbst voraus ist und wie sich im Mut zur Vermutung seine Geschichte entwirft.“3 Wenn man die Erkenntnisfunktion von Metaphern so sieht, dann kann man sie natürlich über den Werdensgedanken auch recht leicht mit dem Negationsgedanken verknüpfen und ihnen damit sogar einen kosmologischen Wert zuordnen. Diesbezüglich zitiert Blumenberg dann auch ein apokryphes Jesuswort: „Die Welt ist eine Brücke. Geh hinüber, aber laß dich nicht auf ihr nieder.“4
�� 3 H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, 19992, S. 13. 4 H. Blumenberg, a. a. O. 19992, S. 27.
220 � Implizite sprachliche Negationsformen Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird nun auch verständlich, warum es einen so langen kulturellen Streit darüber gegeben hat, ob dem analogisierenden metaphorischen oder dem digitalisierenden begrifflichen Sprachgebrauch eine Priorität zukomme. Die Poeten und die historisch denkenden Philosophen haben diesbezüglich eher für eine Priorität des metaphorischen Sprachgebrauchs plädiert und die Rhetoriker und systematisch denkenden Philosophen eher für eine des begrifflichen, ohne dabei allerdings eine historische Priorität des metaphorischen auszuschließen. Bei dieser Auseinandersetzung ist dann auch ziemlich offensichtlich geworden, dass beide Denkschulen die Stärken und Schwächen des metaphorischen und begrifflichen Sprachgebrauchs ganz unterschiedlich beurteilt haben und damit dann natürlich zugleich auch deren jeweiligen Negationsimplikationen. Vico hat beispielsweise nicht nur betont, dass dem metaphorischen Sprachgebrauch eine historische Priorität zukomme, sondern auch, dass dieser einen unersetzbaren anthropologischen und geistigen Wert habe, der es verbiete, ihn als einen uneigentlichen Sprachgebrauch abzuwerten. Metaphern seien nicht „geistreiche Erfindungen der Schriftsteller gewesen […], sondern Ausdrucksarten, die für die ersten poetischen Völker Bedürfnis waren […].“ Diese hätten ihr Denken nicht nach einer begrifflichen, sondern nach einer „poetischen Logik“ gestaltet, wobei sie in die Dinge das hineinprojiziert hätten, was sie selbst bewegt habe, „nämlich Sinne und Leidenschaften.“ Die begriffliche Wahrnehmungsweise der Welt sei erst ein ziemlich spätes Produkt des kategorisierenden philosophischen Denkens gewesen. Als Sinnengeschöpfen seien den ursprünglichen Menschen Bilder immer sehr viel wichtiger gewesen als Begriffe, weil Bilder immer einen mehrdimensionalen Sinn gehabt hätten.5 Ganz ähnlich wie Vico hat auch Jean Paul argumentiert. Für ihn ist das metaphorische Sprechen in komplexen Bildern lebensnäher und sinnträchtiger als das Sprechen in kategorisierenden Begriffen. „Wenigstens würde in Bildern sich das verwandte Leben besser spiegeln als in toten Begriffen ‒ nur aber für jeden anders.“6 Für ihn sind deshalb Metaphern auch „Brotverwandlungen des Geistes.“ Die ganze Sprache lasse sich deshalb letztlich auch als ein „Wörterbuch erblasseter Metaphern“ verstehen.7 Wenn man den begrifflichen Sprachgebrauch als normsetzenden und damit als eigentlichen Sprachgebrauch ansieht, dann wird man natürlich den metaphorischen als uneigentlichen, da unpräzisen und vorläufigen Sprachgebrauch,
�� 5 G. Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, 1966, S. 77‒81. 6 J. Paul, Vorschule der Ästhetik § 1, Werke Bd. 9, 1975, S. 30. 7 J. Paul, a. a. O., § 49 und § 50, Werke Bd. 9 ,1975, S. 184.
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qualifizieren müssen, der gleichsam implizit die Idee der Sprache konterkariert und negiert. Wenn man dagegen den bildlichen und analogisierenden Sprachgebrauch als den ursprünglichen bzw. eigentlichen Sprachgebrauch ansieht, der die komplexen Sinnbildungsfunktionen der Sprache am besten erfüllt, dann wird man den begrifflichen Sprachgebrauch als uneigentlichen qualifizieren müssen, da er die vielfältigen Sinnbildungsaufgaben der Sprache abstraktiv verkürzt, weshalb er dann auch in gewissen Hinsichten als defizitär anzusehen ist. Dieses Beurteilungsdilemma lässt sich nur entschärfen, wenn man die Sprache nicht als ein monoperspektivisches Sinnbildungswerkzeug ansieht, sondern als ein polyperspektivisches, mit dem recht unterschiedliche Sinnbildungsintentionen zugleich verwirklicht werden können. Das bedeutet dann, dass das, was mit ganz bestimmten Sprachverwendungsweisen affirmierend akzentuiert oder negierend ausgeschlossen wird, sich von Sprachspiel zu Sprachspiel durchaus verschieben kann, eben weil die Sprache ja unter je unterschiedlichen Denkprämissen und im Hinblick auf je unterschiedliche Denk- und Objektivierungsziele verwendet werden kann. Die Vielfalt der Sinnbildungsleistungen von Metaphern erschließt sich uns am besten, wenn wir einmal die unterschiedlichen Modellbildungen mustern, die im Laufe der Zeit für die Beschreibung des metaphorischen Sprachgebrauchs entwickelt worden sind. Alle arbeiten dabei wichtige Aspekte des Leistungsprofils von Metaphern heraus, ohne dass man allerdings sagen könnte, dass ein Modell die jeweils anderen überflüssig mache.8
6.2.2 Das Substitutionsmodell Das älteste und wohl bekannteste Erklärungsmodell für Metaphern ist sicherlich das Substitutionsmodell. Es geht auf Aristoteles und die antike Rhetorik zurück und hat nachhaltig dazu beigetragen, den metaphorischen Sprachgebrauch als einen uneigentlichen zu verstehen, der sich insbesondere aus der Begabung zum Sehen von Ähnlichkeiten herleite.9 Dieses Denkmodell gründet sich allerdings auf ontologische und sprachtheoretische Denkprämissen, die sicherlich nur einen begrenzten Geltungsanspruch beanspruchen können. Es sieht die Sprache nämlich vornehmlich als ein abbildendes bzw. monologisch
�� 8 Vgl. dazu auch Überlegungen des Autors in vorangegangenen Veröffentlichungen. W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S. 593‒635. W. Köller, Sinnbilder für Sprache, 2012, S. 81‒118. 9 Aristoteles, Poetik, Kap. 21, 22, 1994, S. 67f. und 75f.
222 � Implizite sprachliche Negationsformen orientiertes Sinnbildungsmittel an, aber kaum als ein heuristisch bzw. dialogisch orientiertes. Ontologisch baut das Substitutionsmodell auf der Grundüberzeugung auf, dass Kosmos und Logos bzw. Welt und Sprache im Prinzip als verhältnismäßig deckungsgleiche Ordnungssysteme anzusehen sind und dass Sprachformen in eine symmetrische Relation zu Seinsformen gebracht werden können. Das bedeutet, dass man mit Wörtern bzw. mit Begriffen dann auch in einem abbildenden und nicht nur in einem interpretierenden Sinne auf die Welt Bezug nehmen kann, da ja für jeden ontisch gegebenen Tatbestand im Prinzip auch ein zuständiger Begriff zur Verfügung steht bzw. stehen kann. Auf der Basis dieser Grundüberzeugung lässt sich dann leicht die Vorstellung entwickeln, dass man es beim konkreten Gebrauch der Sprache insbesondere aus ästhetischen und poetischen Gründen tolerieren kann, einen eigentlich zu verwendenden sprachlichen Ausdruck durch einen semantisch nur verwandten oder ähnlichen zu ersetzen. Deshalb sah man dann auch kein grundsätzliches Problem darin, beispielsweise das Wort Krieg durch das Wort Schwert oder den Ausdruck Alter durch den Ausdruck Abend des Lebens zu ersetzen. Solche Substitutionen konnte man dann sogar als wünschenswert ansehen, um das individuelle Vorstellungsvermögen anzuregen. Das klassische Verständnis von Metaphern als Ersatzphänomenen ist natürlich nicht unsinnig, aber gleichwohl doch etwas einseitig, weil dabei weder auf die konkreten syntaktischen Erscheinungsformen noch auf die heuristischen Erschließungsfunktionen von Metaphern Bezug genommen wird und eben dadurch auch die möglichen Negationsimplikationen von Metaphern kaum in den Blick geraten. Das Substitutionsmodell führt uns das Metaphernproblem im Prinzip als ein reines Benennungsproblem vor Augen, aber nicht als ein reflexionsthematisches Relationierungs- und Perspektivierungsproblem. Zwar wird im Substitutionsmodell das metaphorische Sprechen als ein uneigentlicher Sprachgebrauch thematisiert und damit als eine Negation des üblichen, aber es wird nicht zureichend darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei der metaphorischen Rede um weitaus mehr handelt als um die spielerische Vertauschung von Wortetiketten für schon bekannte und abgegrenzte Sachinhalte. Im Hinblick auf den metaphorischen Sprachgebrauch haben wir uns nämlich immer auch die Fragen zu stellen, wie und ob er sich als uneigentlicher Sprachgebrauch klar vom eigentlichen abgrenzen lässt, was durch ihn bekräftigt oder in Frage gestellt wird, ob er als ein entdeckendes Wahrnehmungsverfahren zu werten ist oder nur als ein mehr oder weniger belustigendes sprachliches Verrätselungsverfahren. Die verborgenen Dimensionen dieser ganzen Problematik werden ganz gut fassbar, wenn wir die pragmatischen Funktionen von Metaphern mit der von Hofnarren in durchkonventionalisierten höfischen
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Gesellschaften analogisieren, die prinzipiell natürlich immer der Gefahr der Erstarrung und der Verknöcherung ausgesetzt waren. Hofnarren hatten in der höfischen Welt die Aufgabe, etwas auszusprechen, was alle übrigen nicht aussprechen durften oder konnten, ohne dadurch gleich als Rebellen verdächtigt zu werden, die das ganze höfische Ordnungssystem negierten. Da man Hofnarren gleichsam schon vorab offiziell für verrückte Sonderlinge erklärt hatte, konnten diese dann auch ungestört agieren und etablierte Konventionen in Frage stellen. Jedermann durfte Hofnarren gefahrlos zuhören, da sie ja offiziell nur verrücktes Zeug vortrugen, aber keine wirklichen Wahrheiten. Dennoch hat man nun aber auch zu sehen, dass Hofnarren eine große soziale Relevanz und letztlich sogar eine stabilisierende Funktion für das ganze höfische System hatten. Sie konnten nämlich abweichende Sichtweisen artikulieren bzw. unkonventionelle Wahrheiten aussprechen und eben dadurch dann auch Dampf aus dem höfischen Kessel ableiten. Damit hatten sie eine wichtige Ventilfunktion für das ganze höfische System, weil sie auf diese Weise indirekt auch zur Umgestaltung und zur partiellen Selbsterneuerung dieses Systems beitrugen, das natürlich immer der Gefahr ausgesetzt war, an seinen eigenen Verkrustungen zu sterben. Im Denkrahmen des Substitutionsmodells lassen sich Metaphern relativ problemlos als uneigentliche bzw. verrückte Sprachformen ansehen, die im System der etablierten Sprache (langue) die Rolle von Hofnarren übernehmen können. Sie stören das etablierte Sprachsystem, aber sie vermögen es eben dadurch auch partiell zu erneuern. Ebenso wie der Hofnarr eigentlich nicht verrückt war, sondern immer nur die Rolle des Verrückten übernahm, so sind auch Metaphern nicht prinzipiell semantisch verrückt, sondern nur in bestimmten Rezeptionsweisen. Ebenso wie die Hofnarren als Hofnarren sterben, wenn sie praktisch erfolgreich sind, aber als Ratgeber durchaus weiterleben können, so können auch Metaphern als Metaphern sterben, aber als Begriffe weiterleben bzw. sich als neue Denkmuster in das jeweilige Sprachsystem integrieren. Deshalb hat dann ja auch Jean Paul zu Recht von der Sprache als einem „Wörterbuch erblasseter Metaphern“ gesprochen, was auch etymologischen Analysen immer wieder schlagend verdeutlichen. Der analogisierende bzw. der metaphorische Sprachgebrauch stellt sich genau besehen nun aber nicht nur als Sonderform des Sprachgebrauchs dar, sondern immer auch als eine genuine Grundform, wenn sich neuartige sprachliche Objektivierungsanforderungen stellen, bzw. als ein heuristisches Sprachspiel, mit dessen Hilfe man sich Unbekanntes durch besser Bekanntes erschließen kann. Deshalb haben die Negationsimplikationen von Metaphern reflexionsthematisch gesehen letztlich auch keine Abwehr- und Aufhebungsfunktionen, sondern vielmehr Erkenntnis-, Akzentuierungs- und Aufschließungsfunktionen.
224 � Implizite sprachliche Negationsformen Wenn Christian Strub Metaphern als kreative Missgriffe ansieht bzw. als „kalkulierte Absurditäten“ dann bringt er mit Hilfe des Substitutionsmodells die Negationsimplikationen von Metaphern sehr schön auf einen Nenner, obgleich er dabei natürlich die ursprünglichen Erklärungsintentionen dieses Modells auch schon transzendiert.10
6.2.3 Das Prädikationsmodell Die Stärke des Prädikationsmodells besteht darin, dass es das metaphorische Sprechen nicht als Substitutionsproblem, sondern als Korrelationsproblem ansieht. Dadurch bekommt dann auch die Frage nach den Negationsimplikationen von Metaphern ganz andere Dimensionen, da es nun nicht mehr nur um uneigentlich gebrauchte Einzelwörter geht, sondern vielmehr um neuartige Mitteilungs- bzw. Korrelationsintentionen. Weinrich hat das sehr klar dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er die Metapher als „widersprüchliche Prädikation“ bzw. als kleines „Stück Text“ bestimmt hat.11 Das ist insbesondere deshalb aufschlussreich, weil nun davon ausgegangen werden kann, dass Metaphern im Prinzip immer kleine Geschichten erzählen und dass ihre Betrachtung nicht mehr nur auf das Problem der Benennungen von Sachverhalten reduziert werden darf. Dadurch bekommt dann natürlich auch die Frage nach den Negationsimplikationen von Metaphern ganz andere Dimensionen. Die Bestimmung der Metapher als eine widersprüchliche Prädikation wird fruchtbar, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Prädikationen sprachlogisch als Determinationsrelationen anzusehen sind. Diese konstituieren sich dadurch, dass eine grundlegende Basisvorstellung bzw. ein Gegenstandsbegriff durch eine ergänzende Zusatzvorstellung bzw. einen Bestimmungsbegriff so präzisiert wird, dass auf diese Weise eine konkrete Sachverhaltsbehauptung aufgestellt wird, die man mit der Wahrheitsfrage konfrontieren kann. Das lässt sich sprachlich so realisieren, dass einem grammatischen Subjekt ein determinierendes Prädikat zugeordnet wird, wodurch dann eine explizite Aussage bzw. Prädikation entsteht. Es kann syntaktisch aber auch so konkretisiert werden, dass einer bestimmten Basisvorstellung ein präzisierendes Attribut, Objekt oder Adverbial zugeordnet wird bzw. dem Grundwort eines Kompositums ein präzisierendes Bestimmungswort. Auf diese Weise entstehen dann gleichsam implizite Aussagen, die sich aber durchaus in explizite umformen lassen.
�� 10 Ch. Strub, Kalkulierte Absurditäten, 1991. 11 H. Weinrich, Sprache in Texten, 1976, S. 308 und 319.
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Weinrichs Qualifizierung der Metapher als widersprüchliche Prädikation rechtfertigt sich nun insofern, als bei den jeweiligen metaphorischen Determinationsrelationen lexikalische Einheiten syntaktisch aufeinander bezogen werden, die üblicherweise ganz unterschiedlichen Vorstellungswelten bzw. Seinsregionen angehören und eben deswegen eigentlich nicht in eine sinnvolle semantische Bestimmungsrelationen miteinander gebracht werden dürften: die Steine schweigen; die scharfe Zunge; ein Buch verschlingen; farbig reden; Sprachsalat. Das Neue beim Prädikationsmodell gegenüber dem Substitutionsmodell besteht nun darin, dass Metaphern nicht mehr mit einzelnen uneigentlich gebrauchten Wörtern identifiziert werden können, sondern nur noch mit ganz bestimmten expliziten oder impliziten Sachverhaltsbehauptungen. Die innere Widersprüchlichkeit von metaphorischen Prädikationen kann für uns allerdings nur dann klar hervortreten, wenn wir voraussetzen, dass die beteiligten Wörter im Prinzip immer eine feste vorgegebene Bedeutung haben und keine flüssige, die sich beim konkreten Gebrauch dieser Wörter chamäleonartig ändern kann. Das ist in formalisierten Fachsprachen sicherlich der Fall, aber in den natürlichen Umgangssprachen wohl kaum. Deshalb kann hier die Grenze zwischen einem metaphorischen und einem nicht-metaphorischen Sprachgebrauch auch nicht so leicht gezogen werden, worauf ja auch Wittgenstein mit seinem Sprachspielbegriff nachhaltig aufmerksam hat. Für die formalisierten Fachsprachen ist der metaphorische Sprachgebrauch insbesondere auch deshalb ein Gräuel, weil dieser es im Rahmen der klassischen Schlussfolgerungslogik eigentlich unmöglich macht, aus explizit gegebenen Informationen implizit mitgegebene abzuleiten, die sich dann wahrheitstheoretisch überzeugend als wahr oder unwahr qualifizieren lassen. Der metaphorische Sprachgebrauch ist deshalb für das fachwissenschaftliche Denken nicht nur ein widersprüchlicher, sondern letztlich auch ein unsinniger Sprachgebrauch, weil er die Normen exakten Denkens und Argumentierens außer Kraft zu setzen scheint und deshalb allenfalls in der Poesie geduldet werden kann. Hier weiß nämlich jeder, dass mit Sprache nicht etwas sachthematisch abgebildet, sondern vielmehr spielerisch erschlossen oder erzeugt werden soll. Gerade weil sich insbesondere in der natürlichen Sprache die Semantik der Wörter recht leicht den aktuellen Sinnbildungsintentionen anpassen lässt, hat Weinrich sich auch Gedanken darüber gemacht, unter welchen Bedingungen man einzelne Metaphern als kühn ansehen könnte. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass man nicht dann von einer kühnen Metapher sprechen solle, wenn ontisch weit auseinander liegende Sachvorstellungen prädikativ in eine Determinationsrelation zu einander gebracht würden, also in der Regel sehr allgemeine Vorstellungen und Begriffe, sondern vielmehr dann, wenn Einzelvorstellungen determinativ aufeinander bezogen würden, die sich auf ontisch eng
226 � Implizite sprachliche Negationsformen beieinander liegende Sachbereiche beziehen, die man eigentlich gut auseinander halten könne und auch müsse. Dementsprechend sind für ihn dann auch die Ausdrücke Licht der Wahrheit oder Redefluss weniger kühne Metapher als die Ausdrücke schwarze Milch oder hölzernes Eisen, weil diese lexikalischen Kombinationen unsere hermeneutischen Sinnbildungsfähigkeiten auf eine sehr viel härtere Probe stellten als die ersteren.12 Das Prädikationsmodell macht uns sehr nachdrücklich darauf aufmerksam, dass wir Metaphern nicht dann zutreffend verstehen, wenn wir die eigentlich zu verwendenden Wörter gefunden haben, sondern vielmehr dann, wenn wir die spezifischen Relationszusammenhängen verstanden haben, die von ihnen thematisiert werden sollen. Die von Metaphern direkt oder indirekt postulierten Determinationsrelationen müssen wir auf ihre heuristischen Funktionen und sachlichen Berechtigungen prüfen, was uns natürlich umso schwerer fällt, je mehr die jeweiligen Metaphern unsere Grundüberzeugungen und Denkgewohnheiten in Frage stellen und uns dazu zwingen, das anscheinend Bekannte in ganz neuen Perspektiven bzw. mit ganz anderen Augen zu sehen. Auf jeden Fall wird deutlich, dass wir den Sinn lebendiger Metaphern nur dann verstehen, wenn wir bereit sind, unseren üblichen Sprachgebrauch und unsere üblichen Denkgewohnheiten reflexionsthematisch auf den Prüfstand zu stellen. Das schließt aus, die jeweils unüblich gebrauchten Wörter nur durch die üblicherweise zu gebrauchenden zu ersetzen. Es bedeutet weiter, dass die möglichen Negationsimplikationen von metaphorischen Redeweisen sich im Interpretationsrahmen des Prädikationsmodells auch als sehr viel reichhaltiger darstellen als im Substitutionsmodell. Ein Verständnis von Metaphern als rein ornamentale Stilmittel verbietet sich unter diesen Umständen gleichsam von selbst, eben weil sie weder in ihren kognitiven noch in ihren kommunikativen Funktionen durch einen eigentlichen Sprachgebrauch ersetzbar sind. Der metaphorische Sprachgebrauch macht in diesem Denkrahmen deshalb auch immer auf die Grenzen unserer üblichen Denkweisen bzw. unseres üblichen Sprachgebrauchs aufmerksam. Metaphern haben so gesehen daher auch zugleich einen spracherneuernden Effekt, da sie verhindern, dass Begriffe nach Nietzsches Worten zu „der Begräbisstätte der Anschauungen“ werden.13 Die grundlegende Spracherneuerungsfunktion von Metaphern gründet sich psychologisch darauf, dass wir begriffliche Widersprüche auf Dauer psychisch nicht ertragen, da alle unsere Wahrnehmungsprozesse unter einem Gestaltbildungs- bzw. Sinnbildungspostulat stehen. Deshalb bemühen wir uns auch
�� 12 Vgl. H. Weinrich, a. a. O., 1976, S. 295‒316. 13 F. Nietzsche, Über Lüge und Wahrheit im außermoralischen Sinn, Werke Bd. 3, 19737, S.319.
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ständig darum, Verstehensprozesse so zu gestalten, dass etwaige Widersprüche sich auflösen. Das ist allerdings nur möglich, wenn wir unsere Denkprämissen, Denkintentionen und medialen Hilfsmittel variieren. Deshalb hat der englische Psychologe Bartlett auch davon gesprochen, dass unser Verstehen im Prinzip unter einen Sinnbildungspostulat (effort after meaning) stehe, in dem die Erfahrung von Widersprüchen zum Anlass genommen werde, kreativ so zu denken, dass diese sich wieder auflösen könnten.14 Die Kraft von Metaphern, erstarrte Denkkonventionen zu flexibilisieren und das kreative Denken anzuregen, hat Blumenberg dazu motiviert, Metaphern nicht allein dem Reich der Poesie zuzuordnen, sondern vielmehr auch dem der Philosophie. Unter dem Stichwort „absolute Metapher“ will er den metaphorischen Sprachgebrauch auch für die Philosophie in Anspruch nehmen, eben weil sich dieser keineswegs immer befriedigend in einen rein begrifflichen übersetzen lasse.15 Metaphern sind nun durchaus in der Lage, gegenüber ihren Schöpfern ein Eigenleben zu entfalten, das sich als Pygmalion-Effekt beschreiben lässt. Einmal in die Welt gesetzt können ihre Negations- und Sinnbildungsleistungen weit über das hinausgehen, was ihre Schöpfer zunächst mit ihnen intendiert haben. Sie können daher dazu führen, dass sich um bestimmte Metaphern ganze Metaphernfelder bilden, die das begriffliche Denken nicht zur Ruhe kommen lassen. Auf jeden Fall ist dem metaphorischen bzw. bildlichen Sprachgebrauch ein bestimmtes Gegengewicht zu der prinzipiellen Hochschätzung des begrifflichen Sprachgebrauchs zuzuschreiben, da diesem außerdem auch noch ein gewisser Midas-Effekt eigen werden kann. Ebenso wie dem mythischen König Midas alles und sogar seine Nahrung zu Gold wurde, was er berührte, so kann uns auch alles begriffsförmig werden, was wir uns mit Hilfe von kategorisierenden Begriffen thematisieren. Dadurch laufen wir dann allerdings auch wieder Gefahr, gerade am Reichtum dieser abgrenzenden Begriffe geistig zu verhungern. Um diese Gefahren kenntlich zu machen und um die Leistungskraft von Metaphern auch noch in einem anderen Blickwinkel zu konkretisieren, soll deshalb noch auf ein anderes Denkmodell für die Aufklärung des Metaphernproblems eingegangen werden. Der Vorteil dieses Modells, das üblicherweise als Interaktionsmodell bezeichnet wird, besteht nun darin, dass es insbesondere auf die innere Dynamik des metaphorischen Sprachgebrauchs aufmerksam macht und eben dabei dann durchaus die beiden schon thematisierten Modelle als Teilmodelle in sich aufnehmen kann.
�� 14 F. C. Bartlett, Remembering, 19672, S. 227. 15 H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, 19992, S. 113.
228 � Implizite sprachliche Negationsformen 6.2.4 Das Interaktionsmodell Das Interaktionsmodell ist insofern als das umfassendste Metaphernmodell anzusehen, als es den Relationsgedanken auf ganz besonders vielschichtige Weise entfaltet. Während sich im Substitutionsmodell der Relationsgedanke in Form einer einfachen Austauschvorstellung manifestiert und im Prädikationsmodell in Form einer schon etwas anspruchsvolleren Widerspruchsvorstellung, kommt er im Interaktionsmodell in Form einer sehr komplexen Wechselwirkungsvorstellung zum Ausdruck. Das ist gerade deshalb als besonders aufschlussreich anzusehen, weil dadurch nicht nur die sprachstrukturellen und logischen Aspekte des Metaphernproblems ins Blickfeld der Aufmerksamkeit gelangen, sondern auch seine pragmatischen. Das Interaktionsmodell ist außerdem in der Lage, das von Bühler entwickelte Projektionsmodell in sich zu integrieren, welches gerade in gestaltpsychologischer Hinsicht recht bedeutsam ist.16 In diesem wird nämlich hervorgehoben, dass im metaphorischen Sprachgebrauch zwei unterschiedliche Einzelvorstellungen bzw. Begriffssphären aufeinander projiziert werden, die man üblicherweise strikt trennt (Salonlöwe). Bei solchen Projektionen kommt es dann zu einer Sphärenmischung, deren Besonderheit darin liegt, dass auf diese Weise ein neuer Vorstellungsinhalt erzeugt wird, bei dem es auf eine vorab nicht zu berechnende Weise zur Verstärkung, Auslöschung oder Veränderung von Einzelaspekten der jeweils aufeinander projizierten einzelnen Vorstellungsgrößen kommt. Auf diese Weise kann sich dann ein neuer Vorstellungsinhalt herausbilden, der nicht stringent aus den aufeinander projizierten Teilen ableitbar ist. Die so entstandene neue Vorstellungsgröße ist dann im Sinne der Gestaltpsychologie einerseits immer mehr als die bloße Addition der der miteinander verbundenen Teilvorstellungen (Übersummativitätsprinzip), aber andererseits auch immer weniger (Untersummativitätsprinzip), da bestimmte Einzelmerkmale bei dem Projektionsvorgang ausgelöscht oder zumindest abgeschattet werden. Deshalb lässt sich dann auch das Verstehen von Metaphern nicht als ein einfacher Dekodierungsprozess beschreiben. Es muss vielmehr als ein anspruchsvoller Sinnbildungsprozess verstanden werden, der unseren heuristischen Anstrengungen bei der Lösung von Rätseln entspricht, die ja auch durch spontane Hypothesen und plötzliche Aha-Effekte geprägt werden. Auf ähnliche Weise wie Bühler haben auch Fauconnier und Turner die Projektionsimplikationen von Metaphern in ihrem Überblendungsmodell (blending) beschrieben. Nach ihnen kommt es im metaphorischen Sprachgebrauch zu �� 16 K. Bühler, Sprachtheorie, 19652, S. 348ff.
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einer Integration unterschiedlicher mentaler Vorstellungsbereiche (mental spaces). Dadurch können dann auch ganz neue Vorstellungsräume entstehen.17 Das Projektionsmodell von Bühler erklärt recht gut, warum metaphorische Ausdrücke sich zu ganz eigenständigen Begriffen verfestigen können, die dann auch relativ problemlos in das Lexikon einer Sprache eingehen können (tote Metaphern). Allerdings wird bei diesem Erläuterungsmodell dann die Rede von den Negationsimplikationen der Metaphern etwas problematisch. Metaphern signalisieren in dieser Wahrnehmungsperspektive nun nicht mehr automatisch und nachdrücklich, dass es unzureichend ist, die auf sie gerichteten Verstehensprozesse rein sachthematisch auszurichten. Das Projektionsmodell legt nämlich kaum nahe, unser Verständnis von Metaphern auch reflexionsthematisch bzw. hermeneutisch und semiotisch zu orientieren, da es sich vornehmlich für die Ergebnisse von Projektionen interessiert und weniger für die Prämissen, Intentionen und Implikationen der jeweiligen Projektionen. Während das Prädikationsmodell unsere Aufmerksamkeit auf die begrifflichen Differenzen zwischen den beiden Teilen der Metapher richtet und das Projektionsmodell auf die Möglichkeiten, die unterschiedlichen Teile von Metaphern synthetisch zu einer neuen Vorstellungseinheit miteinander zu verschmelzen, besteht das Ziel des Interaktionsmodells nun insbesondere darin, uns darauf aufmerksam zu machen, dass die unterschiedlichen Einzelelemente von Metaphern wechselseitig so aufeinander einwirken, dass nun Denkzusammenhänge für uns in Erscheinung treten können, die sich auf eine andere Weise kaum oder gar nicht sprachlich objektivieren lassen.18 Das Interaktionsmodell will uns gleichsam am Beispiel der Metapher zeigen, was es heißt, die Sprache als ein vielschichtiges bzw. polyfunktionales Mittel der Sinnbildung anzusehen. Den Gedanken der dynamischen Wechselwirkung zwischen den einzelnen Bestandteilen der Metapher hat Black in einer späteren Veröffentlichung noch ausgebaut. Durch neue Erfahrungen der Kommunikanten mit den in Metaphern jeweils thematisierten Einzelinhalten und verwendeten Wörtern ergäben sich für diese auch immer neuartige Resonanzmöglichkeiten. Das könne dann dazu führen, dass sich die Ergebnisse der mit Metaphern verbundenen Sinnbildungsanstrengungen im Laufe der Zeit auch erheblich verschieben könnten.19 Die interne Interaktionsdynamik von Metaphern bewirkt, dass sich der Sinn guter Metaphern nicht endgültig fixieren lässt. Neue Erfahrungen und neue �� 17 G. Fauconnier/M. Turner, Mental spaces. Conceptual networks, in: D. Geeraerts (ed.), Cognitive linguistics: Basic readings, 2006, S. 303‒371. 18 I. A. Richards, Die Metapher (1938), in: A. Haverkamp (Hrsg.), Theorie der Metapher, 1983, S. 31‒52. M. Black, Die Metapher (1954), a. a. O. , S. 55‒79. 19 M. Black, Mehr über die Metapher (1977), a. a. O., 1983, S. 379‒413.
230 � Implizite sprachliche Negationsformen Verstehensziele können das Affirmations- und Negationspotenzial von Metaphern nachhaltig verändern, da sie auf diese Weise natürlich in immer neue Verstehensgeschichten eingebunden werden können. Gerade wenn man mit dem Phänomenologen Wilhelm Schapp Wörter weniger als Repräsentanten von Begriffen versteht, sondern eher als Überschriften von Geschichten, und wenn man die Ähnlichkeiten von Wortbedeutungen aus der Ähnlichkeit der mit ihnen assoziierbaren Geschichten ableitet, dann lässt sich die Interaktionsdynamik zwischen den Teilen einer Metapher auch als eine Interaktionsdynamik zwischen unterschiedlichen Erfahrungsgeschichten verstehen.20 So gesehen ist mit Metaphern dann immer die Chance verbunden, nicht nur einzelne Begriffe und Vorstellungen auf affirmierende oder negierende Weise in Interaktionsprozessen aufeinander zu beziehen, sondern auch die Geschichten, die durch sie in unser Bewusstsein gerufen werden. Metaphern können dann dabei helfen, aus alten Geschichten neue zu bilden. Das ermöglicht sich dann natürlich insbesondere auch dadurch, dass Geschichten zwar einen Beginn und einen Schluss haben, aber nicht unbedingt einen Anfang und ein Ende, da sie prinzipiell nach hinten oder nach vorn weiter ausgesponnen werden können. Das Interaktionspotenzial zwischen den unterschiedlichen Teilen von Metaphern hat Nelson Goodman in einem aparten erotischen Bilde veranschaulicht. „Kurz gesagt, eine Metapher ist eine Affaire zwischen einem Prädikat mit Vergangenheit und einem Objekt, das sich unter Protest hingibt.“ Diesen Gedanken hat er dann noch weiter ausgesponnen, als er betonte, dass man eine Metapher weniger als einen „kalkulierten Kategorien-Fehler“ ansehen solle, sondern eher „als eine glückliche und neue Kraft schenkende, wenn auch bigamieverdächtige Wiederverheiratung.“21 Goodmans Denkbilder legen nahe, die Interaktionsbeziehungen zwischen den einzelnen Teilen der Metapher weder als ein Verfahren anzusehen, bei dem die konventionalisierte Semantik schon bekannter Wörter uminterpretiert wird, noch als ein Verfahren, bekannte Vorstellungsbilder zur Herstellung neuer aufeinander zu projizieren. Vielmehr wird nahegelegt, die jeweiligen Interaktionsprozesse als kreative Prozesse zu verstehen, in denen etwas ganz Neues in die Welt gesetzt werden kann und soll. Um sich zu vergegenwärtigen, welche Affirmations- und Negationsauswirkungen der Interaktionsgedanke bei der Klärung der Metaphernproblematik haben kann, lässt sich auch auf die Vorstellung des lebendigen Spiegels zurückgreifen, die seit Leibniz eine wichtige Rolle in erkenntnistheoretischen Überle-
�� 20 W. Schapp, In Geschichten verstrickt, 20125, S. 85ff. 21 N. Goodman, Sprachen der Kunst, 1973, S. 79 und 82.
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gungen gespielt hat.22 Dann kann deutlich werden, dass man die Leistung von Metaphern bei der sprachlichen Welterschließung nicht nur von der Objektseite her ins Auge zu fassen hat, sondern vielmehr auch von der Subjektseite her. Auf diese Weise tritt dann die menschliche Einbildungskraft als ein ganz entscheidender Faktor hervor, um die Leistungsfähigkeit von Metaphern sinnvoll zu bestimmen. Der lebendige Spiegel liefert nämlich Wahrnehmungsinhalte, die sowohl von der Objektseite her bedingt und strukturiert werden als auch von der Subjektseite her bzw. durch die objektivierenden Medien, die das Subjekt jeweils verwendet. Der Interaktionsprozess zwischen den begrifflich und den bildlich zu verstehenden Teilen der Metapher lässt sich mit den Interaktionsprozessen in Beziehung setzen, die sich bei der Verarbeitung von Informationen in unserem Gehirn abspielen.23 Man geht heute davon aus, dass sich bei Rechtshändern die linke Großhirnhälfte auf explizit kontrollierbare begriffliche, analysierende und sequentielle Denkoperationen spezialisiert hat. Dagegen habe sich die rechte Großhirnhälfte auf intuitiv realisierbare bildliche, synthetisierende und simultane Denkoperationen spezialisiert (bei Linkshändern jeweils umgekehrt). Das bedeutet, dass es erst durch die Interaktion und Kooperation der beiden Großhirnhemisphären zu den komplexen Informationsverarbeitungsverfahren kommt, die wir als Denken in einem umfassenden Sinne verstehen können. Wenn wir das Verstehen von Metaphern bzw. die Erfassung des Interaktionsverhältnisses zwischen ihren unterschiedlichen Teilen mit den unterschiedlich akzentuierten Informationsverarbeitungsstrategien unseres Gehirns in Verbindung bringen, dann lässt sich daraus eine andere, nicht unwichtige These ableiten. Metaphern können dementsprechend als besonders intensive Ausdrucksformen menschlicher Sinnbildungsanstrengungen angesehen werden, die nicht nur mit Hilfe der Kategorie der Arbeit zu beschreiben sind, sondern auch mit Hilfe der Kategorien des Spiels und der Lust. Vielleicht lassen sich die Interaktionsrelationen zwischen den Einzelteilen der Metapher in Sinnbildungsprozessen auch mit Hilfe des Prinzips der Gewaltenteilung bei der Organisation des Rechtsstaates analogisieren. Ebenso wie es das Ziel der Gewaltenteilung im Staat ist, eine umfassende Zentralmacht in interagierende Teilmächte aufzugliedern, damit es zu einer fruchtbaren Entfaltung unterschiedlicher Lebensformen kommen kann, so dienen auch die unterschiedlichen, aber interagierenden Teile von Metaphern dazu, unterschiedliche Wahrnehmungs- und Interpretationsformen für Welt ins Spiel zu bringen und
�� 22 Vgl. R. Konersmann, Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts, 1991. 23 Vgl. S. P. Springer/G. Deutsch, Linkes ‒ Rechtes Gehirn, 1987.
232 � Implizite sprachliche Negationsformen eben dadurch monoperspektivische Affirmations- und Negationsstrukturen bei der Wahrnehmung von Welt zu verhindern. Der vordergründige Chaoscharakter von Metaphern wäre dann hintergründig als ein Freiheits- und Fruchtbarkeitsphänomen anzusehen. Das für Metaphern konstitutive dialektische Spiel von „Beleuchten und Verbergen“ (highlighting and hiding) wäre dann ein Garant dafür, dass sich unser Denken nicht monoperspektivisch verfestigt und eben dadurch Gefahr läuft, bei der Wahrnehmung von Welt partiell blind zu werden.24 Metaphern böten dann auf subtile Weise die Chance, die Verfestigung bestimmter Wahrnehmungs- und Denkkonventionen nicht nur zu negieren, sondern auch kreativ zu transzendieren.
6.2.5 Die Selbstbezüglichkeit von Metaphern Die Selbstbezüglichkeit des Denkens ist ein altes Thema der Philosophie, da es zu den Grunderfahrungen des Denkens gehört, dass es sich nicht nur sachthematisch auf die Welt (intentio recta), sondern auch reflexionsthematisch auf seine eigenen Prämissen, Strukturen und Realisationsformen richten kann (intentio obliqua). Im Prinzip lässt sich zu jeder sachthematischen Denkebene eine reflexionsthematische Metaebene konstituieren, auf der die jeweilige Basisebene hinsichtlich ihrer Prämissen, Strukturen und Intentionen interpretiert wird. Diese logische Stufung von Denk- bzw. Abstraktionsebenen lässt sich theoretisch unendlich fortsetzen. Das geschieht aber praktisch meist nicht, weil man sich dabei leicht in seinen eigenen Stufenbauten und den damit verbundenen Sachanalysen verheddern kann. Deshalb beschränkt man sich in der Regel auf zwei oder höchstens drei Abstraktionsebenen. Üblicherweise erwartet man, dass die hierarchisch gestuften Denkzugriffe zeitlich aufeinander zu folgen haben, damit man sie auch gut auseinander halten kann. Das trifft in unserem methodisch regulierten Denken in der Regel auch zu, aber in unserem spontanen Denken nicht unbedingt. Hier können sich sachthematisch und reflexionsthematisch orientierte Denk- und Objektivierungsprozesse auf eine oft kaum entwirrbare Weise so ineinander verschlingen, dass es schwierig wird, einzelne Denkebenen klar von einander zu trennen. Die synchrone Erfassung und Verarbeitung von Informationen, die unterschiedlichen Denkebenen angehören, ist ein Wunder, das wohl mit der Interaktionsfähigkeit unserer beiden Großhirnhälften zusammenhängt, durch die auch unser Sprachwissen und unser Sprachgefühl immer konstruktiv miteinander verbun�� 24 G. Lakoff/M. Johnson, Leben in Metaphern, 20044, S. 18.
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den sind. Kant hat schon klar auf diese integrative Grundstruktur unseres Denkens hingewiesen und das auch auf eine sehr einprägsame Formel gebracht. „Das: I c h d e n k e, muß alle meine Vorstellungen begleiten k ö n n e n.“25 Metaphern sind wohl die eindrucksvollsten Beispiele dafür, dass sich in unserem natürlichen Denken und Sprechen sachthematische und reflexionsthematische Sinnbildungsanstrengungen synchron realisieren lassen, ohne im Chaos zu enden. Das hat Martin Seel klar akzentuiert. „Eine Sichtweise a l s Sichtweise während der I n a n s p r u c h n a h m e dieser Sichtweise artikulieren, das vermag allein die figürliche, zum Beispiel die metaphorische Rede.“26 Seels Diktum zur Sinnbildungskraft der metaphorischen Rede verdeutlicht, dass diese sowohl einen Fremd- als auch einen Selbstbezug hat bzw. sich auf etwas anderes und auf sich selbst bezieht. Dieser Doppelbezug bringt Metaphern in eine genuine Nähe zu dialektischen und dialogischen Denkstrukturen und Interaktionsprozessen bzw. zu einem Sprachgebrauch, der an sich selbst sowohl Analyse- als auch Syntheseansprüche stellt und der sich deshalb auch nicht auf eine reine Darstellungsfunktion reduzieren lassen will. Metaphern stellen so gesehen alle Sprachtheorien in Frage, die den Wert der Sprache allein aus ihrer begrifflichen Differenzierungskraft ableiten möchten und darüber ihre bildlichen Objektivierungs- bzw. ihre analogisierenden Erschließungsfunktionen vernachlässigen. Das mag ein Blick auf die sprachtheoretischen Denkansätze Hegels exemplifizieren, die diesem Korrelationszusammenhang nicht immer ganz gerecht werden, obwohl nicht zu leugnen ist, dass er immer bestrebt war, die dialektischen Funktionen der Sprache herauszuarbeiten. Hegel war im Prinzip darum bemüht, die Sprache mit dem Entfremdungsproblem in Verbindung zu bringen, in dem natürlich der Negationsgedanke eine ganz zentrale Rolle spielt. Für ihn sind Arbeit und Sprache die beiden großen und entscheidenden Antriebsfaktoren für historische Veränderungsprozesse. Beide Phänomene brächten nämlich den Menschen in eine große Distanz zu der sinnlich gegebenen Welt, da sie diese auf je eigene Art negieren könnten. Mit Hilfe der Arbeit bzw. durch seine Vorsorge für die Zukunft sei der Mensch in der Lage, sich im Denken von der unmittelbar gegebenen Welt zu lösen und diese als faktisch veränderbar wahrzunehmen. Mit Hilfe der Sprache könne er sich von der Dominanz der unmittelbaren Sinneseindrücke lösen, weil er diese nun begrifflich einordnen könne. Dadurch befreie er sich vom Herrschaftsanspruch der unmittelbar gegebenen Welt. Er werde in die Lage versetzt, diese zu
�� 25 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 132, Werke Bd. 3, 19782, S. 136. 26 M. Seel, Am Beispiel der Metapher, In: Intentionalität und Verstehen, hrsg. vom Forum für Philosophie, 1990, S. 252.
234 � Implizite sprachliche Negationsformen interpretieren und sie eben dadurch seinen eigenen Begriffen unterzuordnen. In diesem Zusammenhang kommt er dann auch zu folgendem Schluss: „Die Sprache ist Ertötung der sinnlichen Welt in ihrem unmittelbaren Dasein, […].“27 Die „Ertötung“ der unmittelbaren sinnlichen Erfahrungswelt durch die kulturelle Institution Sprache versteht Hegel nun allerdings keineswegs negativ. Dieser Vorgang ist für ihn nämlich die Voraussetzung dafür, dass sich der Geist auf einer höheren Stufe nicht nur wiederfinden, sondern sich selbst auch besser verstehen könne. Dafür sei allerdings die „Anstrengung des Begriffs“28 die entscheidende Voraussetzung, da die begriffliche Erkenntnisform allen anderen grundsätzlich überlegen sei, insofern sie alle anderen im mehrfachen Sinne des Wortes aufhebe, nämlich beseitige, bewahre und hochhebe. Gegen Hegel ließe sich nun allerdings geltend machen, dass die Ertötung der sinnlichen Welt bzw. die Entfremdung von dieser Welt nicht unbedingt das höchste Ziel unseres Sprachgebrauchs sein muss. Vielleicht könnte eher angenommen werden, dass die Interaktion zwischen unserem sinnlichem und unserem begrifflichen Wahrnehmungsvermögen, wie es in metaphorischen Sinnbildungsanstrengungen zu Ausdruck kommt, eine höherrangige Zielsetzung ist, da sich dadurch sehr viel mehr geistige Kräfte anregen und vereinigen lassen. Der metaphorische Sprachgebrauch ist informativ sicherlich nicht sehr exakt und eben deshalb in argumentativ ausgerichteten Sinnbildungsanstrengungen auch problematisch. Sein großer Vorteil besteht aber darin, dass er unser sinnliches und begriffliches Wahrnehmungsvermögen, unser analogisches und digitales Denken sowie unsere affirmierenden und negierenden Handlungsanstrengungen in einen spannungsvollen Wechselbezug zueinander bringen kann und eben deshalb unseren Denkvorgängen auch eine recht große Kohärenz und Kontinuität zu geben vermag. Diese drängen zwar sachlich immer auf Fortsetzungen, sie müssen aber aus verständlichen praktischen Gründen faktisch bzw. methodisch doch immer wieder abgebrochen werden. Selbstreflexive Sinnbildungsprozesse haben den Vorteil, dass dabei die Welt für den wahrnehmenden Menschen nicht als eine Welt an sich erscheint, sondern als eine Welt des Menschen, weil sich in den konkreten Wahrnehmungsinhalten die Objektsphäre und die Subjektsphäre immer recht deutlich berühren. Das birgt zwar die Gefahr, dass uns die für alle gemeinsame Welt in viele Einzelwelten zerfallen kann, aber auch die Chance, dass die Wahrnehmung von Welt gleichwohl eine soziale Grundcharakteristik bekommen kann. Das ergibt sich schon dadurch, dass wir bei der Bildung von Metaphern immer
�� 27 G. W. F. Hegel, Texte zur philosophischen Propädeutik § 159, Werke Bd. 4, 1986, S. 52. 28 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede, Werke Bd. 3, 1986, S. 56.
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darauf zu achten haben, dass die jeweils postulierten Analogien intersubjektiv verstanden werden können und nicht auf ganz individuellen Überzeugungen und Erfahrungen beruhen. Metaphern werden üblicherweise immer mit synthetisierenden Denkprozessen in Verbindung gebracht, da sie unser integrierendes bildliches Vorstellungsvermögen aktivieren. Darüber sollte allerdings nicht vergessen werden, dass sie auch unser analysierendes Denken anzuregen vermögen. Sie heben nämlich die begrifflich manifestierten Formen des schon Bekannten auf und zwingen uns über bestimmte Analogiepostulate dazu, das anscheinend gut Gekannte auch noch in anderen Perspektiven wahrzunehmen bzw. in Differenzierungsprozesse einzutreten, die ganz andere Affirmierungs- und Negierungsintentionen haben. Außerdem ist natürlich auch noch zu beachten, dass metaphorische Redeweisen nicht nur dazu dienen, uns die Welt anzueignen (Assimilation), sondern auch dazu, uns selbst an die Welt anzupassen (Akkommodation), indem wir lernen, die Brückenfunktionen von Analogien zu nutzen. Dadurch treten dann in ihnen auch die medialen Funktionen der Sprache sehr viel deutlicher in Erscheinung als in begrifflichen Aussageweisen, die ihren Vermittlungscharakter eher verschleiern als offenbaren und die unsere Aufmerksamkeit eher auf das Wahr-Sein von bestimmten Denkinhalten richten als auf ihr Gemacht-Sein. Dieser Problemzusammenhang lässt sich vielleicht durch zwei aphoristische Äußerungen von Lichtenberg und Picasso gut illustrieren, die beide nicht die monologischen, sondern vielmehr die dialogischen Funktionen von Zeichenbildungen in den Mittelpunkt ihres Interesses gestellt haben. Lichtenberg hat ausdrücklich betont, dass neue Erkenntnisse nicht aus passiven Kontemplationsprozessen hervorgingen, sondern vielmehr aus aktiven Handlungsprozessen. „Man muß etwas Neues machen um etwas Neues zu sehen.“29 Picasso soll auf die erstaunte Frage, ob das auf dem Bild Dargestellte wirklich eine Frau sei, geantwortet haben: Das soll keine Frau sein, sondern ein Bild.
6.3 Negationsimplikationen im ironischen Sprachgebrauch Die Frage nach den Negationsimplikationen im ironischen Sprachgebrauch zielt auf Struktur- und Problemzusammenhänge, die eine große Ähnlichkeit mit denen im metaphorischen Sprachgebrauch aufweisen. Erstens sind Ironie und Metapher genuin sprachbezogene Begriffe, obwohl mit ihnen natürlich auch �� 29 G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher II, 19913, J 1770, S. 321.
236 � Implizite sprachliche Negationsformen noch andere Zeichenstrukturen in einer Kultur thematisiert werden können. Zweitens haben beide Begriffe bzw. die mit ihnen benannten Phänomene einen ausgesprochen proteischen Charakter, insofern sie in sehr unterschiedlichen Formen auftauchen, die wiederum sehr unterschiedliche Affirmations- und Negationsimplikationen haben können. Drittens haben beide Phänomene einen hohen Grad von Selbstbezüglichkeit, der es rechtfertigt, sie als Spielphänomene zu verstehen, mit denen die Operationsräume des Denkens und Handelns erprobt, ausgestaltet und erweitert werden können. Sowohl in der ironischen als auch in der metaphorischen Sprachverwendung werden sprachliche Normen in Frage gestellt und neu gebildet. In der Ironie geschieht das allerdings wohl in noch umfassenderer Form als in der Metaphorik, weil es hier nicht nur um die Problematisierung von sprachlichen Normen geht, sondern auch um die Problematisierung von kulturellen Normen unterschiedlicher Art. Daraus ergibt sich dann die Notwendigkeit, sich das Phänomen der Ironie nicht nur in seinen strukturellen und pragmatischen Bezügen zu vergegenwärtigen, sondern auch in seinen historischen und kulturellen, weil sich nur so das vielfältige Negationspotenzial der Ironie befriedigend erfassen und beschreiben lässt. Die Hinweise zu den kulturhistorischen Aspekten des Ironieverständnisses sind nun nicht nur von antiquarischem Interesse. Durch sie kann nämlich auch kenntlich gemacht werden, dass der Ironiebegriff Tiefendimensionen hat, die sich im Laufe der Zeit keineswegs verflüchtigt haben, obwohl sie heute oft nicht mehr ganz im Vordergrund des Interesses stehen. Diese Tiefenschichten des Ironiebegriffs erschweren es allerdings, ihn auf abschließende Weise befriedigend zu bestimmen. Gleichwohl dürfen sie nicht unberücksichtigt bleiben, wenn wir die Negationsimplikationen des ironischen Sprachgebrauchs hinsichtlich seiner strukturellen, pragmatischen und semiotischen Aspekte aufzuklären versuchen.
6.3.1 Die historischen Dimensionen des Ironiebegriffs Unser heutiger Terminus Ironie geht auf den griechischen Ausdruck eironeia zurück, mit dem ursprünglich ziemlich übel beleumundete Handlungs- und Sprechweisen bezeichnet worden sind, die man als typisch für Lügner, Rechtsverdreher, Betrüger, Schmeichler und Schwätzer angesehen hat. Allerdings konnte man in einem etwas positiveren Sinne auch den Schalk oder den Schauspieler als Ironiker bezeichnen bzw. alle Menschen, die es verstanden, andere in der Maske der Harmlosigkeit hinters Licht zu führen. Ein Ironiker war im Prin-
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zip derjenige, der „elastisch wie Gummi und schlüpfrig wie Oel“ war.30 Wilhelm Büchner hat sogar vorgeschlagen den Ironiker (eiron) als Kleintuer zu verstehen, dessen Handlungsmotive von der Höflichkeit über die Spottlust bis zur heuchlerischen Verstellung reichten, um sich beispielsweise vor angemessenen Steuern oder vor dem Kriegsdienst zu drücken.31 Aus dieser Wort- und Begriffsgeschichte ergibt sich, dass das entscheidende Merkmal der Ironie offenbar in der Fähigkeit zur Verstellung gesehen wurde. Deshalb lag es dann auch nahe, die Ironie als eine rhetorische Figur zu verstehen, bei deren Gebrauch man faktisch das Gegenteil dessen sagte, was man eigentlich meinte, oder zumindest etwas ganz anderes als das, was man wortwörtlich zum Ausdruck brachte. Vom lügenhaften Sprachgebrauch ließ sich der ironische dann dadurch abgrenzen, das man ihn als so strukturiert ansah, dass zumindest der Kundige an bestimmten Ironiesignalen erkennen konnte, dass es sich um einen verstellten bzw. vorgetäuschten Sprachgebrauch handelte. Offen blieb beim traditionellen Verständnis der Ironie als rhetorischer Figur allerdings, welche sprachlichen, intonatorischen, kompositorische und gestischen Zeichen als Ironiesignale anzusehen waren und was man tatsächlich meinte, wenn man sich ironisch äußerte. Die Vorstellung, dass man das Gegenteil dessen meinte, was man tatsächlich sagte, erwies sich nämlich schon bald als viel zu simpel, um die Sinnbildungsintentionen und Sinnbildungsleistungen des ironischen Sprechens wirklich zu erfassen. Auf jeden Fall konnte man aber davon ausgehen, dass der ironische Sprachgebrauch Negationsimplikationen hatte, obgleich es sich natürlich immer als ziemlich schwer erwies, dessen jeweiligen Negationsbezüge und Negationsleistungen genau zu bestimmen. Eine wichtige Rolle bei der historischen Variation und Transformation des Ironieverständnisses hat natürlich die Gestalt des Sokrates gespielt, was schon der Terminus sokratische Ironie deutlich belegt. Als bloßer Schalk und Spötter oder gar als Heuchler und Lügner war Sokrates keineswegs abzutun. Als Kleintuer konnte er schon eher angesehen werden, insofern er sich in der Rolle des neugierig Fragenden immer wieder darum bemühte, das Wissen der sophistischen Großtuer als ein Scheinwissen zu entlarven und nur das Wissen als wirkliches Wissen anzuerkennen, was nicht einfach aus Traditionen und Dogmen hergeleitet werden konnte, sondern sich auch argumentativ rechtfertigen ließ. Die Verstellungsstrategien und die nur scheinbar naiven Fragen von Sokrates dienten alle dem Zweck, gängige Wissensformen als bloße Meinungen zu
�� 30 O. Ribbeck, Ueber den Begriff des ‘eiron’, Rheinisches Museum für Philologie, 1876, NF 31, S. 382. 31 W. Büchner, Über den Begriff der Eironeia, Hermes, 76/77, 1941, S. 342.
238 � Implizite sprachliche Negationsformen entlarven und eben dadurch auch außer Kraft zu setzen. Seine antidogmatische Denkpraxis musste deshalb notwendigerweise in Form von direkten oder indirekten Negationshandlungen in Erscheinung treten. Diese richteten sich dann vor allem gegen das Scheinwissen von vermeintlichen Fachleuten. Den Feldherren brachte er so durch seine Frage nach Begriff und Wesen des Mutes ins Stottern und den Priester durch seine Frage nach Begriff und Wesen der Frömmigkeit. Deshalb war es dann auch nicht überraschend, dass diejenigen, die sich als Hüter traditioneller Ordnungsstrukturen und Wissensformen verstanden, ihn als Verderber der Jugend ansahen und ihm den Giftbecher zuerkannten. In der Romantik ist die Ironie dann weniger als ein didaktisches Verfahren zur Erschütterung des dogmatischen Denkens in Erscheinung getreten, sondern eher als eine philosophische Denkform bzw. als ein ästhetisches Handlungsprinzip. Sie wurde sogar zu einem fundamentalen Strukturprinzip des tätigen Geistes erklärt bzw. zu einem Lebensprinzip, das sich insbesondere in der Poesie entfalten sollte. Daher hat dann auch Friedrich Schlegel von der Ironie als einem „steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung“ gesprochen. Sie sei „klares Bewusstsein der ewigen Agilität, des unendlich vollen Chaos.“32 Gegen diese Überhöhung der Ironie zu einer fundamentalen Denk-, Kunstund Lebensform haben Hegel aus erkenntnistheoretischen und Kierkegaard aus religiösen Gründen scharf Stellung genommen. Hegel sieht in diesem Verständnis von Ironie eine Übersteigerung des Subjektivitätsprinzips in geistigen Sinnbildungsprozessen, mit dem das Objektivitätsprinzip ausgehebelt werde. Die Ironie ist das Spiel mit allem; dieser Subjektivität ist es mit nichts mehr Ernst, sie macht Ernst, vernichtet ihn aber wieder und kann alles in Schein verwandeln. Alle hohe und göttliche Wahrheit löst sich in Nichtigkeit (Gemeinheit) auf; aller Ernst ist zugleich Scherz.33
Kierkegaard kritisiert die Tendenz, die Ironie als ein allgemeines Lebensprinzip anzusehen und nicht als ein begrenztes methodisches Denkverfahren. Dadurch löse sich nämlich das Subjekt aus allen Bindungen und berausche sich an der Unendlichkeit von bloßen Möglichkeiten. Nur wenn man die Ironie zielgerichtet als methodisches Verfahre nutze, könne man ihr eine reinigende und erhellende Kraft und Funktion zubilligen. Ansonsten ergäben sich aus ihr unbeherrschbare Negationsimplikationen. Das Subjekt fühle sich negativ frei, weil es sich aus allen Gebundenheiten löse und fürchte, neue einzugehen. Es finde unter
�� 32 F. Schlegel, Fragmente, Kritische Schriften , 19642, S. 30 und 97. 33 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Werke Bd. 13, 1986, S. 460.
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diesen Umständen in keiner Wahrnehmungs- und Denkperspektive Ruhe, weil es nichts mehr fürchte als von einem bestimmten Eindruck überwältigt zu werden. Die ständige Reflexion über die Reflexion tendiere zu einem ästhetischen Schwebezustand, der das Subjekt überfordere, weil er letztlich in die Angst, die Langeweile und die Melancholie führe oder gar in den Nihilismus.34 Nur als methodisches Verfahren beinhaltet die Ironie für Kierkegaard die Chance zu einer Erneuerung des Denkens und der Weltwahrnehmung. Wer die Ironie als „Reinigungstaufe“ nicht kenne, dem fehle deshalb auch etwas. Er kennt nicht die Erfrischung und Stärkung, die darin liegt, daß man, wenn die Luft drückend wird, sich entkleidet und sich ins Meer der Ironie stürzt, natürlich nicht, um darinnen zu bleiben, sondern um gesund und froh und leicht die Kleidung wieder anzulegen.35
Maßvoll genutzt kann die Ironie nach Kierkegaard davor schützen, in die Gefangenschaft starrer Denkformen zu geraten und Teilwahrheiten für absolute Wahrheiten anzusehen. Sie halte das Bewusstsein dafür wach, dass Denkinhalte nicht autonom seien, sondern immer nur Ergebnisse von ganz bestimmten Denkintentionen und Denkverfahren. Deshalb hat er die Ironie auch mit der Vorstellung des Weges in Verbindung gebracht. Dabei denkt er aber weniger an einen Weg, der jemanden zum Besitz eines bestimmten Ergebnisses führt, sondern eher an einen Weg, „auf welchem das Ergebnis ihn verläßt.“36 Für das moderne Ironieverständnis ist der antike Gedanke der Verstellung zwar weiterhin wichtig geblieben, aber sehr viel prägender ist der Gedanke der Auflösung von traditionell gültigen Konventionen und Autoritäten geworden. Deshalb hat man die Ironie auch immer wieder mit der Vorstellung von Werdensprozessen in Verbindung gebracht, die sich nicht nur auf die Entfaltung von ganz bestimmten Denkinhalten richten, sondern auch auf die Mittel, mit denen sich diese konkretisieren und intersubjektiv verständlich vermitteln lassen. Neben die Sachironie treten deshalb dann auch immer die Sprachironie und die Selbstironie. Die Dreidimensionalität des modernen, semiotisch geprägten Ironieverständnisses (Sachbezug, Zeichenbezug, Subjektbezug) hat einerseits immer wieder zu einer tiefen Sprachskepsis geführt, wofür der Chandos-Brief von Hugo von Hofmannsthal als typisch gelten kann, aber andererseits auch zu einer Freude an Sprachspielen. Diese Spiele waren dann durch eine genuine Freude daran geprägt, mit der Sprache gegen die immanenten Vorgaben der Sprache so �� 34 S. Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, 1976, S. 268. 35 S. Kierkegaard, a. a. O., 1976, S. 320. 36 S. Kierkegaard, a. a. O., 1976, S. 321.
240 � Implizite sprachliche Negationsformen anzukämpfen, wie der Segler durch geeignete Verfahren mit dem Wind gegen den Wind erfolgreich ankämpfen kann. Für dieses Bemühen, den ironischen Sprachgebrauch zu einem versöhnenden und humorvollen zu machen, steht im deutschen Sprachraum exemplarisch Jean Paul, der sich sowohl von einem theatralischen Negationspathos beim ironischen Sprachgebrauch fernhält als auch von einer passiven Negationsmelancholie. Er hat immer wieder versucht, gerade die versöhnlichen Kräfte der Ironie zum Leben zu bringen. In einem ähnlichen Denkrahmen hat auch Thomas Mann die Ironie erstaunlicherweise nicht nur mit dem Phänomen des Konservativismus in Verbindung gebracht, sondern sogar mit dem der Erotik. Für ihn hat der „geistige Mensch“ nur die Wahl, „entweder Ironiker oder Radikalist zu sein; ein Drittes ist anständigerweise nicht möglich.“ Die Wurzeln der Ironie liegen für ihn in der heimlichen Sehnsucht nach dem Ganzen. Der Ironiker wolle letztlich die Gegensätze so miteinander vermitteln, dass keine Position zum Sieger über die jeweils andere werde und dadurch dieser gleichsam das Existenzrecht abspreche. Deshalb versteht er die Ironie dann auch als ein Gegengift zu allen Erscheinungsformen des Radikalismus, der sich selbst nicht in Frage stellen könne. Die Ironie wird für ihn zu einer Erscheinungsform der Erotik, insofern das denkende und handelnde Subjekt mit ihr weder ein Gegenüber unterwerfen noch auslöschen wolle, sondern vielmehr eine steigernde Beziehung zu ihm suche. „Immer war Eros ein Ironiker. Und die Ironie ist Erotik.“37 Unter diesen Umständen fiel es Thomas Mann dann auch leicht, der Ironie nicht nur eine erotische, sondern sogar eine pathetische Dimension zuzubilligen. „Ironie ist das Pathos der Mitte.“38 Bei diesem Verständnis der Ironie wird es natürlich schwer, der Ironie Negationsimplikationen im Sinne einer vollständigen Aufhebung von Geltungsansprüchen zuzuordnen. Aber es wird durchaus möglich, sie mit Negationsimplikationen im Sinne der Aufhebung absoluter Geltungsansprüche in Verbindung zu bringen bzw. mit der Vorstellung der Auflösung oder Transformation von verfestigten Ordnungsstrukturen. Das würde dann auch bedeuten, dass die Negation nicht nur als eine logisch orientierte Denkform bewertet werden kann, sondern durchaus auch als eine anthropologisch wichtige Lebensform, insofern sie geistige Werdensprozesse ermöglichen und fördern kann. Allen bisher erörterten Ironieaspekten (Verstellung, Täuschung, Reflexionshilfe, Gestaltungsprinzip, Lebensform, Ganzheitssehnsucht usw.) ist gemeinsam, dass der Ironie eine genuine Nähe zum Problem der Grenzziehung und der
�� 37 Th. Mann, Ironie und Radikalismus, Gesammelte Werke 1960, Bd. 12, S. 568. 38 Th. Mann, Goethe und Tolstoi, a. a. O. 1960, Bd. 9, S. 171.
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Grenzüberwindung zugeordnet wird und dass sie eine Tendenz hat, verhärtete Systeme aller Art aufzulösen, um die Sehnsucht nach umfassenden und ganzheitlichen Wahrnehmungen zu stillen. Es ist deshalb auch verständlich, dass die Sprache als unser umfassendstes geistiges Objektivierungs- und Sinnbildungsmittel sich natürlich auch als die genuine Heimat der Ironie ansehen lässt. Deshalb ist es auch nützlich, sich ein Strukturmodell zu erarbeiten, in dem alle Faktoren miteinander korreliert werden können, die in den sprachlichen Ausprägungsformen der Ironie eine wichtige Rolle spielen. Dafür hat Harald Weinrich ein übersichtliches Konzept entwickelt.
6.3.2 Weinrichs Strukturmodell der Ironie Weinrichs Strukturmodell zur ironischen Kommunikation, das auch für die Erfassung der Negationsimplikationen des ironischen Sprachgebrauchs sehr hilfreich ist, unterscheidet drei miteinander interagierende Einzelfaktoren. Dabei handelt es sich um das Ironiesubjekt, das als handelnde Person die Sprache auf ironische Weise verwendet, um das Ironieobjekt, gegen das sich der ironische Sprachgebrauch richtet, sowie um den Ironieadressaten, der den ironischen Sprachgebrauch wahrnehmen und genießen soll.39 Eine ganz wichtige Rolle spielen außerdem die Ironiesignale, die sicherstellen sollen, dass der jeweilige Ironieadressat den ironischen Sprachgebrauch auch als solchen erfasst und nicht gleich als unsinnigen oder lügenhaften Sprachgebrauch missversteht. Das Ironiesubjekt ist für Weinrich diejenige Instanz, die von der Ironie Gebrauch macht, um ganz bestimmte Sinnbildungs- und Mitteilungsziele zu verwirklichen. Dabei können dann ganz unterschiedliche Motive und Zielsetzungen eine Rolle spielen (Aggression, Verneinung, Relativierung, Verschleierung, Mehrdeutigkeit, Spielfreude, Interaktionsbedürfnis usw.). Auf jeden Fall ist aber festzuhalten, dass das Ironiesubjekt immer dann zum Mittel der Ironie greift, wenn es Grenzen kenntlich machen und überwinden will, wenn es Sinnbildungsziele verwirklichen will, die nicht auf einer einzigen Ebene liegen, und wenn es ihm in der Kommunikation nicht nur um sachliche Inhaltsaspekte geht, sondern zusätzlich auch um personale Beziehungsaspekte. Um seine Intentionen zu verwirklichen, muss das Ironiesubjekt geeignete Ironiesignale finden und verwenden, welche die Kommunikationspartner darauf aufmerksam machen können, dass der Sprachgebrauch bzw. bestimmte sprachliche Zeichen nicht auf konventionell eingeschliffene Weise zu verstehen sind, sondern viel�� 39 Vgl. H. Weinrich, Linguistik der Lüge, 19704, S. 59ff.
242 � Implizite sprachliche Negationsformen mehr auf eine andere Weise, die dann allerdings immer nur indirekt angedeutet wird. Das Ironieobjekt muss nicht immer eine bestimmte Person sein, es kann auch eine Gruppe, eine Konvention, eine Vorstellung oder ein ganz bestimmtes Denkkonzept bzw. eine Ideologie sein. Alles, was sich in Frage stellen lässt, kann zum Ironieobjekt gemacht werden. Die Spannweite der ironischen Relativierungen von Geltungsansprüchen kann dabei von der Andeutung von Vorbehalten bis zu einer massiven Kritik oder Negation reichen. Wichtig ist nur, dass die jeweiligen Ironiesubjekte die jeweiligen Ironieobjekte mit Hilfe von fassbaren Ironiesignalen für andere nachvollziehbar in Frage stellen können. Demzufolge ist nun der Ironieadressat diejenige Person bzw. Personengruppe, für die das jeweilige Ironieobjekt von dem Ironiesubjekt ironisiert bzw. problematisiert wird. Dabei kann es sowohl darum gehen, die Wahrnehmungsmöglichkeiten der Ironieadressaten zu erweitern und zu sensibilisieren, als auch darum, diese bis hin zur Schadenfreude zu belustigen. Das setzt dann allerdings voraus, dass der ironische Sprachgebrauch sorgfältig auf die jeweiligen Ironieadressaten abgestimmt werden muss, damit er nicht wirkungslos verpufft oder von diesen gar missverstanden wird. Diese Interpretation der Ironie als ein polyfunktionales Relationsverhältnis zwischen unterschiedlichen Instanzen und Faktoren wird keineswegs dadurch hinfällig, dass diese Instanzen im Einzelfall auch zusammenfallen können. So können sich beispielsweise bei der Selbstironie das Ironiesubjekt, das Ironieobjekt und der Ironieadressat durchaus vereinigen. Gleichwohl ist aber natürlich auch einzuräumen, dass die Selbstironie immer ein Publikum braucht, um deutlich und wirksam in Erscheinung treten zu können. Die dreistelligen Bezüge der Ironie machen außerdem darauf aufmerksam, dass es bei ihren möglichen Negationsimplikationen in der Regel nicht darum geht, einen ganz bestimmten Denkinhalt vollständig zu verwerfen, sondern eher darum, dessen Geltungsanspruch einzuschränken. Das enthebt dann auch das Ironiesubjekt von der generellen Verpflichtung, eine Antwort auf die Frage geben zu müssen, was denn statt der ironischen Mitteilung eigentlich gelten soll. Ebenso wie sich die metaphorische Rede nicht wirklich deckungsgleich in eine nicht-metaphorische transformieren lässt, so lässt sich das auch bei einer ironischen Rede nicht leisten. Beides sind nämlich Manifestationen eines sich vollziehenden Sinnbildungsprozesses und nicht Weitergaben der Ergebnisse von solchen Prozessen. Der Charme des ironischen Sprechens liegt darin, dass sich die jeweiligen wörtlichen Sachaussagen für die Sprachkundigen in ihrem aktuellen Vollzug selbstreflexiv in unterschiedlichen Intensitätsgraden dementieren können. Die Wahrnehmung der Doppelbödigkeit von ironischen Mitteilungen stellt bei den
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jeweiligen Ironieadressaten hohe Anforderungen an ihr zu aktivierendes Weltwissen, Sprachwissen und Sprachgefühl. Wenn man die unterschiedlichen Inhaltsebenen des ironischen Kommunizierens explizit von einander trennt und nacheinander thematisiert, dann gehen Witz und Charme des ironischen Sprechens meist ganz verloren, weil dann unsere komplexen und simultan zu vollziehenden Sinnbildungsfähigkeiten nicht mehr in Anspruch genommen werden und weil aus dieser Unterforderung dann auch schnell Langeweile entsteht.
6.3.3 Ironiesignale als Negationssignale Wenn man das komplexe Informationsangebot des ironischen Sprachgebrauchs nun aber simultan zu verstehen hat und wenn es in ihm verdeckte Negationsinformationen gibt, dann ist natürlich eine besondere Aufmerksamkeit auf die sprachlichen Besonderheiten zu richten, die sich als Ironiesignale verstehen lassen. Dabei ist dann zu berücksichtigen, dass es in der Sprache kein stabiles Inventar solcher Ironiezeichen gibt, das mit dem Inventar unserer metainformativen grammatischen Instruktionszeichen vergleichbar wäre, sondern dass die explizite morphologische Identifizierung und funktionale Bestimmung dieser Zeichen hermeneutischer Anstrengungen bedarf. Diese können dann durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, selbst wenn sich die für Ironie nutzbaren Formen bis zu einem gewissen Grade habituell stabilisiert haben. Prinzipiell lässt sich sagen, dass alle beobachtbaren sprachlichen Phänomene die Rolle von Ironiesignalen übernehmen können, die uns auf semantische Inkohärenzen zwischen syntaktisch verbundenen sprachlichen Einheiten aufmerksam machen bzw. auf Inkohärenzen zwischen dem erwartbaren und dem faktischen referenziellen Bezug sprachlicher Formen. Alles, was unsere eingeschliffenen Prozesse der Informationsaufnahme und der Informationsverarbeitung stört und was uns dazu zwingt, unser sachthematisches Denken explizit oder implizit reflexionsthematisch zu begleiten und zu ergänzen, hat das semiotische Potenzial, als Zeichenträger für Ironie bzw. als Ironiesignal in Erscheinung treten zu können. Wenn man in dieser Weise Ironiesignale genetisch und strukturell aus der Wahrnehmung von semantischen und pragmatischen Inkohärenzen ableitet, insofern diese Signale als Stolpersteine für konventionalisierte Verstehensgewohnheiten in Erscheinung treten und neue Verstehensweisen erzwingen, dann geraten wir natürlich auf ein sehr schlüpfriges Gelände, auf dem uns unsere sozial stabilisierten Verstehensgewohnheiten keinen sehr verlässlichen Halt mehr geben. Unter diesen Umständen wird die Identifizierung, die Interpretation und die Verwendung von Ironiesignalen in einem sehr hohen Maße abhängig von indi-
244 � Implizite sprachliche Negationsformen viduellen Beständen an empirischem Sachwissen, an historischem und systematischem Sprachwissen, an gesellschaftlichen Denktraditionen, an begründeten Hypothesen über den Wissensstand anderer Personen und an Fähigkeiten zum Umgang mit Zeichen aller Art. Deshalb lassen sich Umfang und Inhalt des Begriffs Ironiesignal auch nicht normativ fixieren. Aber gerade deshalb sind nun Ironiesignale in semiotischer Hinsicht auch ganz besonders interessant. Insbesondere die Semiotik von Peirce geht nämlich davon aus, dass bei der Konstitution von Zeichen prinzipiell jeder konkret fassbare Tatbestand den Status eines Zeichenträgers bekommen kann, wenn wir ihm in einem bestimmten Denkrahmen (Zeicheninterpretant) eine Verweisfunktion auf etwas von ihm Unterscheidbares (Zeichenobjekt) zuordnen können. Das bedeutet, dass es sich bei den Ironiesignalen faktisch immer um eine offene Menge beobachtbarer Phänomene handelt, die in einer bestimmten Wahrnehmungsperspektive potenziell die Rolle von Indikatoren für Ironie übernehmen können. Das Inkohärenzkriterium bietet nun eine ganz gute Hilfe, um mögliche Ironiesignale strukturell zu identifizieren und funktional zu interpretieren. Sprachanalytisch gesehen ist das besonders wichtig, weil Ironiesignale ja eine sehr vielfältige Gestalt haben können, bei der nicht nur rein sprachliche Zeichenträger eine Rolle spielen. Ironiesignale können gerade in der mündlichen Kommunikation auch aus nichtverbalen Zeichen wie Gestik und Mimik resultieren oder aus sprachnahen Zeichen wie etwa die Stimmführung. Sie können aber auch aus semantischen Inkohärenzen zwischen bestimmten syntaktisch verbundenen lexikalischen Zeichen hervorgehen (Metaphern) oder aus Inkohärenzen zwischen konventionalisierten sprachlichen Zeichen und ihren jeweiligen Verwendungssituationen (Archaismen, Euphemismen, Phrasen) bzw. aus Mischungen von unterschiedlichen Ausprägungsformen von Sprache (Alltagssprache und Fachsprache). Gerade wenn man den ironischen Sprachgebrauch als eine spezifische Ausprägung des Sprachspielgedankens ansieht, dann ist offensichtlich, dass sich das Inventar von Ironiesignalen nicht auf befriedigende Weise auflisten lässt, weil Ironiesignale immer wieder neu erzeugt werden können. Inkohärenzen zwischen Sprachformen bzw. zwischen Sprachformen und ihren Verwendungskontexten sind genuine Relationsphänomene, die sich einerseits immer wieder neu bilden, die sich andererseits aber im Laufe der Zeit und bei wiederholten Aktivierungen auch wieder abschwächen oder auflösen können. Die Erzeugung und die Wirksamkeit von Ironiesignalen als Negationssignalen oder zumindest als Relativierungssignalen setzt nicht nur sprachliche Gestaltungsfreiräume voraus, sondern auch ebenbürtige Dialogpartner und flexible Sozialstrukturen. Wo im ironischen Sprachgebrauch Wissensunterschiede dazu genutzt werden,
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um Macht zu demonstrieren oder Partner zu demütigen, da verliert die Ironie ihre genuine pragmatische Berechtigung und Funktionalität. Fachsprachliche Äußerungen sind konzeptionell gesehen eigentlich immer unironisch, weil sie im Prinzip rein sachthematisch orientiert sind. Negationen müssen in ihnen explizite Realisationsformen finden, deren Bezüge und Intensitäten klar fassbar sind, weil ansonsten das Sprachspiel einer rein sachthematischen Kommunikation nicht mehr reibungslos funktionieren würde. Auch in archaischen Kulturepochen bzw. in elementaren Lebenssituationen (Angst, Freude, Wut) hat die Ironie keinen wirklichen Platz. Dasselbe trifft auf Kommunikationsprozesse zwischen Erwachsenen und Kindern zu. Allerdings sind hier ironische Wortspiele als Verkleidungs- und Verrätselungsspiele durchaus möglich, weil es bei diesen eigentlich keine Tendenzen zu Machtspielen oder zu einer grundsätzlichen Sprachskepsis gibt. Sprachliche Maskeraden können Kinder insbesondere dann schätzen, wenn sie die damit korrespondierenden Sprachkonventionen schon genau kennen und daher wissen, dass mit ihnen aktuell nur gespielt wird. Alle Formen des ironischen Sprachgebrauchs mit genuinen Negationsimplikationen setzen bei den Kommunikanten eine gewisse geistige Distanz zur Sprache als eines unverzichtbaren Sinnbildungsmittels voraus sowie bestimmte operative Fähigkeiten zum Rollenwechsel in Dialogen. Diese Voraussetzungen müssen allerdings phylogenetisch und ontogenetisch erst erworben werden. Überall, wo die Sprache als Informationsmedium nur genutzt, aber nicht thematisiert werden kann, gibt es keine großen Spielräume für den ironischen Sprachgebrauch bzw. für die Ausbildung und die Nutzung von Ironiesignalen. Deren sinnbildender Zweck besteht ja letztlich nicht darin, mögliche Inkohärenzen aus der Sprache bzw. aus der Welt zu schaffen, sondern vielmehr darin, uns gerade auf solche aufmerksam zu machen.
6.3.4 Pragmatischen Funktionen der Ironie Auf den ersten Blick scheinen Ironie und Metapher gegen sehr grundlegende Prinzipien reibungsloser Kommunikation zu verstoßen, weil sie eine eindeutige und direkte Informationsvermittlung immer irgendwie stören. Gerade die Tendenz des ironischen Sprachgebrauchs, etwas nicht offen, sondern maskiert mitzuteilen, hat diesem Sprachgebrauch den Vorwurf eingebracht, den jeweiligen Gesprächspartner zu täuschen, zu verspotten oder gar zu belügen. In der Tat lässt sich kaum leugnen, dass das ironische Sprechen etwas mit dem Phänomen der Verschleierung, Maskierung oder gar Täuschung zu tun hat. Diesbezüglich sollte man aber auch nicht vergessen, dass es zur Funktionalität der
246 � Implizite sprachliche Negationsformen Phänomene Schleier, Maske und Ironie gehört, dass zumindest alle Kundigen sie als solche Phänomene auch faktisch wahrnehmen können und dass es außerdem Mittel sind, um in andere Welten einzutreten und eben dadurch dann die übliche Wahrnehmungswelt auf kontrastive Weise besser kennenzulernen. Über die pragmatischen Funktionen von Ironie und Metapher lässt sich nicht sinnvoll sprechen, wenn man neben ihren Verbergungsfunktionen nicht auch ihre Offenbarungsfunktionen berücksichtigt bzw. ihre Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Wahrnehmungsmöglichkeiten zu konzentrieren. Das, worauf Ironie und Metaphern aufmerksam machen wollen, lässt sich durch den rein sachthematischen Sprachgebrauch in der Regel nicht leisten, weil es dabei nicht nur darum geht, anderen bestimmte Sachverhalte mitzuteilen, sondern auch darum, auf die Prozesse und Sichtweisen aufmerksam zu machen, in denen diese als Sachverhalte in Erscheinung treten sollen bzw. zu beurteilen sind. Der ironische Sprachgebrauch ermöglicht Sprachspiele, in denen die üblichen Denktraditionen und Sprachformen transzendiert werden, ohne dabei ihre Notwendigkeit und Funktionalität grundsätzlich zu negieren. Die Ironie als eine Form der erkennbaren Verstellung hat durchaus eine Erkenntnis- und Befreiungsfunktion. Sie befreit ebenso wie die Maske im antiken Theater vom lähmenden Bann der üblichen Wahrnehmungskonventionen und schafft wie alle Fiktionen eine Distanz zu der alltäglichen Wahrnehmung von Welt. Dadurch wird dann auch verständlich, dass sowohl die Maske als auch die Ironie eine methodische Funktion haben und keinen Selbstzweck. Beide sollen uns von der Starrheit und Eingeschränktheit unserer üblichen Wahrnehmungsmöglichkeiten befreien und auch von der Bindung unseres Denkens an die einschränkende Alternativlogik, die nur die Kategorien wahr und falsch kennt bzw. die starre Alternative von Realität und Spiel bzw. von Ernst und Unernst. Die Ironie macht es unmöglich, in ganz strengen Alternativen zu denken, obwohl sie sich keineswegs scheut, diese Denkweisen als kontrastiven Hintergrund zu nutzen, da es ja zu den genuinen Funktionen der Ironie gehört, sowohl auf Grenzen aufmerksam zu machen als auch diese zu transzendieren. Deshalb ist die Ironie dann sowohl den Logikern als auch den Tatmenschen immer ein Gräuel erster Klasse, weil sie die Disposition zu eindeutigen Urteilen und schnellen Handlungsentscheidungen schwächt. Aus diesem Grund ist es auch nicht überraschend, dass die Ironie immer wieder als eine Erscheinungsform der Dekadenz in späten Kulturen betrachtet worden ist, in denen das Denken nicht auf die konkrete Realitätsbewältigung ausgerichtet werde, sondern vielmehr auf betrachtende und ästhetisierende Möglichkeitsreflexionen. Obwohl die Ironie sicherlich als ein genuines Spielphänomen angesehen werden kann, so sollte darüber nicht vergessen werden, dass sie in bestimmten Konstellationen auch ein wirksames Aggressions-, Kritik- und Negationsmittel
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ist. Unter bestimmten Umständen kann der ironische Sprachgebrauch aggressiver und vernichtender sein als der direkt negierende, da mit ihm die jeweiligen Gegner so angegriffen werden, dass sie sich nicht mehr argumentativ wehren können. Sie haben dann nur noch die Chance, mit gleicher ironischer Münze zurückzuzahlen. Allerdings kann die ironische Kritik auch einen versöhnlichen Charakter haben, wenn sie mit ironischer Selbstkritik gepaart ist oder wenn sie dem Angegriffenen die Chance nicht verbaut, nach außen zu simulieren, dass er gar nicht betroffen ist, obwohl er weiß, dass er betroffen ist. Mit solchen ironischen Formen der Kritik und der Negation kann jemand signalisieren, dass er mit etwas nicht einverstanden ist, aber trotzdem keine offene Konfrontation sucht, weil dadurch soziale Bindungen natürlich irreparabel beschädigt werden können. Prinzipiell lässt sich sagen, dass es beim ironischen Sprachgebrauch eigentlich immer um eine kulturell stilisierte Form des Kampfes geht. Gute Ironiespiele brauchen ebenso wie gute Kampfspiele ebenbürtige Gegner, weil sie zu ihrer Entfaltung einen adäquaten Widerstand von Sachverhalten und Personen brauchen. In seinen fruchtbaren Erscheinungsformen ist der ironische Sprachgebrauch nicht nur eine Auseinandersetzung des Sprechenden mit Partnern, Sachproblemen und konventionalisierten Sprachformen, sondern auch mit sich selbst und seinen Denkformen und Denkfähigkeiten. Wenn das nicht geschieht, dann kann die Ironie leicht in einen unfruchtbaren Sarkasmus umschlagen. Nicht ohne Grund hat Nietzsche Sokrates nicht nur als Stammvater des ironischen Denkens und Sprechens angesehen, sondern auch als Stammvater des theoretischen Denkens, der eine neue Form des Wettkampfes in Athen eingeführt habe. „Er faszinierte, indem er an den agonalen Trieb der Hellenen rührte ‒ er brachte eine Variante in den Ringkampf zwischen jungen Männern und Jünglingen. Sokrates war auch ein großer E r o t i k e r.“40 Die von Sokrates praktizierte Dialektik als Kunst der dialogischen Gesprächsführung hat natürlich immer auch eine ironische Dimension, weil Meinungen im Wechselspiel von Zustimmung und Ablehnung geprüft werden. Sokrates glänzt in diesen Wettkämpfen weniger durch sein enzyklopädisches Sachwissen, sondern eher durch sein souveränes Handlungswissen beim Umgang mit Problemen und bei der sprachlichen Objektivierung von Sachwissen. In den Fachwissenschaften ist im Gegensatz zur Literatur der ironische Sprachgebrauch ebenso unbeliebt wie der metaphorische, weil beide Nutzungsweisen von Sprache die Ausbildung kohärenter Wissenssysteme und die Verwendung argumentativer Rede empfindlich stören können. Allenfalls in Grund�� 40 F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Werke Bd. 2, 19737, S. 954.
248 � Implizite sprachliche Negationsformen lagenkrisen bzw. bei Paradigmenwechseln gibt es in den Wissenschaften die Tendenz, sich auf ironische Weise von alten Denkweisen und Begriffen zu distanzieren. Auf diese Weise kann man nämlich alte Denkinhalte problematisieren, ohne sie gleich auf begründbare Weise negieren zu müssen. Dem ironischen Sprachgebrauch kann man verständlicherweise keine festen Regeln geben, weil man ihm dann ja seine eigenen Grundlagen als einem kreativen Sprachgebrauch entzöge. Sowohl der ironische als auch der metaphorische Sprachgebrauch ist nämlich gerade deswegen für das kreative Denken und Sprechen so unverzichtbar, weil er es gestattet, tradierte Sprachformen zu verwenden, ohne deren vorstrukturierenden Funktionen für dass Denken ganz zu verfallen. Wenn der ironische Sprachgebrauch tradierte Denkinhalte gänzlich negierte, ohne sie als Ausgangspunkte für die Ausbildung neuer zu nutzen, dann wäre er nur eine Variante des Schweigens und keine Ausdrucksform einer ganz bestimmten Sinnbildungsanstrengung. Das macht es dann auch verständlich, warum die Ironie in ihrer komplizierten Mischung von Affirmations- und Negationsimplikationen eine wichtige Rolle in allen neuzeitlichen Überlegungen zur Ästhetik spielt, die sich in der Regel ja nicht mehr dem Substanzgedanken, sondern vielmehr dem Relations- und Funktionsgedanken verpflichtet fühlen. Darauf soll in einem eigenen Kapitel später noch genauer eingegangen werden (8.4).
6.3.5 Erscheinungsformen ironischer Inkohärenzen Die sprachlichen Erscheinungsformen ironischer Inkohärenzen in sprachlichen Äußerungen haben eine große Spannweite. Sie reichen von Unzusammengehörigkeiten im jeweils verwendeten Vokabular über Spannungen zwischen dem Sachgehalt und den Handlungsfunktionen einer Äußerung bis zu Diskrepanzen bei den Sinnbildungsintentionen von sprachlichen Mitteilungen. Allerdings haben alle diese Inkohärenzen gemeinsam, dass vordergründig zwar kenntlich gemacht wird, dass etwas nicht zusammengehört, dass hintergründig aber gleichwohl die Frage wichtig wird, ob die jeweiligen Differenzen nicht doch in einem dialektisch noch zu ergründenden Sinn zusammengehören. Das soll nun an einigen Fällen exemplarisch veranschaulicht werden. Im Vorsatz zum ›Zauberberg‹ bezeichnet Thomas Mann den literarischen Erzähler als „den raunenden Beschwörer des Imperfekts“. Mit dieser Formulierung verwirbelt er magische und grammatische Denkkategorien auf eine ironische Weise so miteinander, dass sie wechselseitig ihre eigenen Ordnungsan-
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sprüche relativieren.41 Der Ironieadressat wird dadurch gezwungen, sich Rechenschaft darüber abzulegen, ob das, was syntaktisch korreliert wird, auch sachlich zusammengehört. Ähnliches gilt, wenn in diesem Roman der Hofrat bzw. der Arzt Behrens einem Patienten eine „gesegnete Nahrungsaufnahme“ wünscht und auf eben diese Weise dann religiöse und physiologische Denkkategorien ironisch miteinander verschränkt.42 Ein anderes Beispiel für ironisch zu verstehende sprachliche Inkohärenzen findet sich am Anfang Musils Romans ›Der Mann ohne Eigenschaften‹. Hier beschreibt der Erzähler in einer höchst elaborierten, aber situativ nichtssagenden meteorologischen Fachsprache (barometrisches Minimum, Isothermen, Isotheren, Wasserdampf usw.) die Wetterverhältnisse eines bestimmten Tages, um dann abschließend zu einem wirklich aussagekräftigen Schluss zu kommen: „Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.“43 Durch diese direkte Konfrontation einer wissenschaftlichen mit einer alltäglichen Form der Welterfassung entlarvt er beide als Trivialformen, die nur einen begrenzten perspektivischen Wert haben. Ähnliches gilt, wenn Musil eine metaphorische Ausdrucksweise ganz unmittelbar mit einer fachsprachlichen bzw. medizinischen vermischt: „[…] die Stimme der Wahrheit hat ein verdächtiges Nebengeräusch […].“44 Ironisch zu verstehende Inkohärenzen lassen sich auch erzeugen, wenn durch ein handlungsbezeichnendes performatives Verb eine Aussage eingeleitet wird, deren Sachgehalt in einem Widerspruch zu der angekündigten Intention der Aussage steht: Ich bewundere ihren Mut, einfach ihre Beine auf meinen Tisch zu legen! Ähnliches gilt, wenn formal eine Voraussage gemacht wird, die für alle Kundigen keine reale Grundlage hat: Ihre Theorie wird die Fachwelt in Erstaunen versetzen! Eine ganz besondere Erscheinungsform ironischer Inkohärenzen offenbart sich in einem Phänomen, das üblicherweise als tragische Ironie bezeichnet wird und beispielhaft im Ödipus-Drama von Sophokles zum Ausdruck kommt. Hier wird Ödipus unbeabsichtigt zum Richter über sich selbst, weil er eine Schuld aufzuklären versucht, die ihn wider Erwarten selber betrifft. Während Ödipus selbst blind für die Wahrnehmung dieses Zusammenhangs ist, können die Zuschauer diesen von Anfang an klar erkennen. Dadurch gewinnen sie einerseits
�� 41 Th. Mann, Der Zauberberg, Gesammelte Werke Bd. 3, 1960, S. 3. 42 Th. Mann, a. a. O., Bd. 3, 1960, S. 245. 43 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke Bd. 1, 19812, S. 9. 44 R. Musil, a. a. O., 19812, S. 304.
250 � Implizite sprachliche Negationsformen eine ironische Distanz zu Ödipus und zu dem Geschehensablauf in der Tragödie und andererseits die Einsicht, dass es offenbar zur conditio humana gehört, dass menschliche Handlungen oft etwas ganz anderes bewirken als das, was mit ihnen ursprünglich intendiert worden war. Prinzipiell kann man auch allen Formen des auktorialen Erzählens, die ja durchaus als Formen des selbstbezüglichen Erzählens anzusehen sind, ein Ironiepotenzial zuordnen. Diese Erzählweise thematisiert ständig die perspektivischen Implikationen narrativer Objektivierungsprozesse und macht eben dadurch den Erzählprozess selbst zu einem mitlaufenden Thema des jeweiligen Erzählens. Dadurch wird verhindert, dass der Leser eine rein sachthematisch orientierte kontemplative Beobachterrolle einnehmen und den Erzählprozess als einen bloßen Darstellungsprozess begreifen kann. Der Leser wird dadurch immanent dazu gezwungen, ihn als einen reflexionsthematisch orientierten Sinnbildungsprozess wahrzunehmen, in dem Affirmations- und Negationsverfahren auf unterschiedlichen Ebenen eine konstitutive Rolle spielen. Alle Erscheinungsformen des ironischen Sprachgebrauchs sind Indizien dafür, dass der jeweilige Sprecher die Sprache nicht als ein rein abbildendes, sondern vielmehr als ein perspektivierendes Sinnbildungsmittel verwendet, das sowohl erhellende als auch abschattende Funktionen hat. Ironische Denk- und Sprechweisen setzen das Identitätsaxiom der klassischen Schlussfolgerungslogik außer Kraft, das voraussetzt, dass nicht nur die Dinge, sondern auch die auf sie bezogenen Begriffe immer mit sich selbst identisch bleiben müssen, weil ansonsten aus gegebenen Wissen nicht auf verlässliche Weise anderes Wissen abgeleitet werden kann. Dieses Identitätsaxiom ist im Prinzip natürlich sowohl für unserer alltägliches als auch für unser wissenschaftliches Denken unabdingbar. Es beinhaltet aber auch immer die Gefahr, dass wir zu Sklaven unserer eigenen Denkmuster werden, weil unsere Aufmerksamkeit kaum noch auf die Aufgabe gerichtet wird, diese Muster unseren Differenzierungsintentionen anzupassen und alternative Grenzziehungen in Betracht zu ziehen. Sowohl der metaphorische als auch der ironische Sprachgebrauch ermöglicht es, den Verholzungstendenzen unserer sprachlichen Objektivierungsmittel entgegenzuwirken. Wenn wir den Wert sprachlicher Objektivierungsformen nur am Maßstab ihrer informationellen Genauigkeit messen, dann nehmen wir die Sprache als universal einsetzbares und veränderungsbedürftige Zeichensystem und Sinnbildungsmittel nicht mehr wirklich Ernst. Auf diesen sprachtheoretisch sehr wichtigen Umstand hat Musil prägnant folgendermaßen aufmerksam gemacht: „Man darf also nicht glauben, daß etwas richtig gesagt werden müsse,
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damit es richtig verstanden werden könne; und darauf beruht das Geheimnis der lebendigen Sprache.“45 Der ironische Sprachgebrauch ist immer ein medial bewusster und damit selbstreflexiver Sprachgebrauch, in dem die Sprache nicht nur benutzt, sondern auch immer wieder neu hergerichtet wird. Mit ihm kann man Distanz zu allen Formen von Zwängen gewinnen, die aus der Übermacht von Dingen, Situationen, Theorien, Machtverhältnissen und Sprachkonventionen resultieren. Dieser Distanz- und Freiheitsgewinn hat nicht nur eine individuelle, sondern immer auch eine soziale Dimension. Deshalb vollziehen sich ironische Sinnbildungsprozesse auch nicht in der Einsamkeit von Monologen, sondern im sozialen Raum von Dialogen. Sie brauchen faktische oder zumindest fingierte Partner. Ironische Sprachspiele kann man schwerlich mit sich selbst spielen. Selbst die Selbstironie wird schal, wenn sie kein Publikum hat. Deshalb hat die Ironie trotz oder wegen ihres Aggressionspotenzials auch immer ein Integrationspotenzial, eben weil sie auch eine selbststabilisierende und selbstvergewissernde Funktion für die Beteiligten haben kann. Das zeigt sich deutlich, wenn die Ironie in ihrer sehr versöhnlichen Form als Humor in Erscheinung tritt. Wenn sich die Ironie von einem auflockernden zu einem aggressiven Sprachgebrauch verschärft, der durchaus auch in neue Sprachverholzungen umschlagen kann, dann büßt er natürlich an sozialer Integrationskraft und sprachlicher Kreativität ein. Die Negationsimplikationen des ironischen Sprechens werden dann weniger Ausdruck einer erotischen Ganzheitssehnsucht, sondern eher ein Ausdruck von Abwehrstrategien, von Pessimismus oder von Sarkasmus. Die Ironie verliert dann leicht ihre pragmatische Funktion, andere Sichtweisen zu eröffnen und konventionalisierte als ergänzungsbedürftig zu kennzeichnen. Deshalb hat Otto Friedrich Bollnow darauf aufmerksam gemacht, dass die Ironie auch als ein „Ausdruck der Ehrfurcht“ wahrgenommen und genutzt werden könne.46 Die Kraft der Ironie, mit Hilfe ihrer Negationsimplikationen auf Einseitigkeiten aufmerksam zu machen und auf eben diese Weise auch zur Herstellung neuer Balancen beizutragen, hat dazu geführt, ihr nicht nur eine spezifische mediale, sondern auch eine besondere anthropologische Relevanz zuordnen, die dazu berechtigt, in ihr mehr als eine rhetorische Figur oder ästhetische Attitüde zu sehen. Das hat Kierkegaard als ein Stammvater des existenziell orientierten Denkens sehr klar formuliert. „Ebenso wie die Philosophie mit dem Zwei-
�� 45 R. Musil, Blechreden, Gesammelte Werke Bd. 7, 19812, S. 694. 46 O. F. Bollnow, Die Ehrfurcht, 1947, S. 147.
252 � Implizite sprachliche Negationsformen fel, ebenso beginnt ein Leben, das menschenwürdig genannt werden kann, mit der Ironie.“ 47 Georg Lukács hat die Ironie deshalb auch nicht nur als ein konstitutives Strukturprinzip des Romans angesehen, mit dem sich dieser vom Epos absetze, sondern darüber hinaus auch als eine genuine Ausdrucksform des neuzeitlichen Denkens. Sie untergrabe und negiere auch die Vorstellung von der Selbstmächtigkeit der Subjekte, weil sie letztlich auf die Vorstellung einer umfassenden Ganzheit bzw. Totalität bezogen sei, vor der jeder einzelne Sinnentwurf klein und nichtig werde. „Die Ironie des Dichters ist die negative Mystik der gottlosen Zeiten: eine ‘docta ignorantia’ dem Sinn gegenüber.“48
6.3.6 Paradoxien als Inkohärenzphänomene Paradoxien lassen sich als extreme Formen von Ironie betrachten, insofern bei ihnen Inkohärenzen so auf die Spitze getrieben werden, dass die semantische Uninterpretation einzelner Redeteile eher hilflos als hilfreich wirkt. Paradoxe Formen der Inkohärenz scheinen weniger die oberflächennahen Ordnungsstrukturen der Sprache zu betreffen, sondern eher Unstimmigkeiten in den Tiefenschichten unserer Sprache bzw. in unseren grundlegenden Denkprämissen. Deshalb erweisen sich paradoxe Äußerungen auch als äußerst widerspenstig gegenüber allen interpretativen inhaltlichen Paraphrasierungen. Als paradox hat man ursprünglich alle Aussagen bezeichnet, die neben (para) dem üblichen Wissen (doxa) standen und deshalb als widersinnig eingestuft werden konnten. In dieser Bestimmung deutet sich schon an, dass man Paradoxien als Angriffe auf das bestehende Systemwissen und Systemdenken verstehen kann, wenn nicht als Negation des rationalen Denkens überhaupt. Vordergründig betrachtet lassen sich Paradoxien zwar als belustigende Spiele mit Denk- und Sprachkonventionen einstufen, aber hintergründig bleiben sie dann doch Fremdkörper, vor denen man sich am besten retten kann, wenn man sie als exotische Phänomene ansieht, die man zwar zur Kenntnis nehmen kann, mit denen man sich aber nicht wirklich beschäftigen muss. Eher harmlose Formen von Paradoxien ergeben sich, wenn in Äußerungen Wörter miteinander verbunden werden, die wortgeschichtlich und denkpsychologisch in einer ganz offensichtlichen Opposition zueinander stehen (eingefleischter Vegetarier; leben heißt sterben). Aber selbst wenn wir in solchen Wort-
�� 47 S. Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, 1976, S. 10. 48 G. Lukács, Theorie des Romans, 1963, S. 90.
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verbindungen einzelne Bestandteile semantisch uminterpretieren, dann bleiben immer noch bestimmte Irritationen zurück, die unser grundsätzliches Vertrauen in die Kategorisierungskraft der Sprache doch schwächen. Sehr viel größere Verwirrungen stiften nun diejenigen Erscheinungsformen von Paradoxien, die aus selbstbezüglichen sprachlichen Aussagen resultieren (Alle Verallgemeinerungen sind falsch. Ich weiß, dass ich nichts weiß. Diese Aussage ist falsch.). Äußerungsformen dieses Typs negieren sich gleichsam selbst. Die Logiker haben sie durch Verbote aus der Welt zu schaffen versucht. Alle Aussagen sollten ihrer Meinung nach schon von vornherein als grammatisch unzulässig gelten, die sich referenziell zugleich auf anderes und auf sich selbst beziehen. Aussagen seien nur dann sinnvolle bzw. grammatisch korrekte Aussagen, wenn sie sich auf eine einzige Referenzebene bezögen, weil sie sich nur dann wahrheitstheoretisch wirklich qualifizieren ließen. Eine solche Regulierung des Sprachgebrauchs ist natürlich plausibel. Sie lässt sich allerdings nur für den deskriptiven wissenschaftlichen Sprachgebrauch durchsetzen, aber wohl kaum für den alltäglichen, da sich hier Aussagen durchaus zugleich auf ganz unterschiedliche Ebenen beziehen können. Das exemplifiziert der metaphorische und ironische Sprachgebrauch sehr klar, indem sich sachthematische und reflexionsthematische Sinnbildungsintentionen nicht nur faktisch überlagern, sondern sich sogar bis hin zu einem Selbstbezug überlagern sollen. Gerade wenn ganz neue Denkinhalte sprachlich zu objektivieren sind, muss metaphorisch, ironisch oder im Extremfall sogar paradox geredet werden, weil man im Sprechen ja einerseits auf außersprachliche Sachverhalte Bezug nehmen will, aber andererseits auch darauf, dass die Sprache für deren Objektivierung nicht immer erprobte Darstellungsmittel besitzt, sondern diese oft erst herrichten muss. Ganz besonders klar tritt das Problem der Selbstbezüglichkeit von Äußerungen als Quelle von Paradoxien in Erscheinung, wenn in ihnen Handlungsaufforderungen ausgesprochen werden, die so pauschal sind, dass sie auch einen Selbstbezug haben können. Das trifft beispielsweise zu, wenn ein Lehrer sich folgendermaßen an seine Schüler wendet: Ich verbiete euch zu gehorchen! Es trifft auch zu, wenn ein Kapitän seinem Schiffsbarbier den folgenden Auftrag erteilt: Rasiere alle Männer auf dem Schiff, die sich nicht selbst rasieren! Solche Handlungsaufforderungen sind paradox, weil durch ihren Vollzug die Prämissen außer Kraft gesetzt werden, unter denen sie eigentlich vollzogen werden sollen. Im alltäglichen Leben ignorieren wir in der Regel die Selbstbezüglichkeit solcher Aufforderungssätze, weil sie sich ansonsten ja inhaltlich selbst dementieren bzw. negieren würden. Nahezu unauflösbare Paradoxien können in Erscheinung treten, wenn über die Allmacht Gottes spekuliert wird, weil der Allmachtsgedanke natürlich von
254 � Implizite sprachliche Negationsformen vornherein Selbstbezüglichkeitsimplikationen hat und im praktischen Leben auch keine wirklich wichtige Rolle spielt. Das lässt sich an folgenden hypothetischen Fragen ganz gut exemplifizieren: Ist Gott so allmächtig, dass er einen Stein machen kann, der so schwer ist, dass er ihn selbst nicht aufheben kann? Ist Gott so allmächtig, dass er einen Pfannkuchen machen kann, der keinen Rand hat? Die hinterlistige Paradoxie dieser Fragen liegt darin, dass sie Antworten einfordern, die nicht gegeben werden können, da in ihnen von Denkprämissen ausgegangen wird, die eine sinnvolle Antwort unmöglich machen. Es kann nicht auf sinnvolle Weise gehandelt werden, wenn dabei zugleich zwei sich ausschließende Ziele verfolgt werden. Es kann keine Sache hergestellt werden, die ihre eigene Definition ad absurdum führt. Anders ausgedrückt: Das Phänomen Allmacht lässt sich weder objektivieren noch definieren, wenn man logische Denk- und Handlungsregeln als allmächtiger ansieht als die Allmacht selbst. Gerade im Kontext von Allmachtsparadoxien stellt sich deutlich heraus, dass unsere Entweder-Oder-Logik und unsere Denkregulationen nach den Kriterien von wahr und falsch bzw. nach Affirmation und Negation als Vereinfachungsverfahren anzusehen sind, die zwar bei der faktischen Bewältigung von Welt unabdingbar sind, die aber dennoch unser sinnbildendes Denken letztlich weder vollständig strukturieren noch determinieren können. Der pragmatische Sinn von Paradoxien lässt sich deshalb vielleicht darin sehen, uns gerade auf diesen Tatbestand immer wieder aufmerksam zu machen. Der Kampf der klassischen Logik, Paradoxien durch bestimmte Sprachverwendungsregeln aus der Welt zu schaffen, ist sicherlich ehrenwert, er erweist sich allerdings im Hinblick auf die umfassenden Sinnbildungsfunktionen der Sprache als ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Wir werden immer wieder Freude an Paradoxien haben, weil auch sie ganz wichtige pragmatische Funktionen haben. Wir brauchen sie, um unsere Sinnbildungsfähigkeiten auf die Probe zu stellen, strukturell zu erweitern und sprachlich zu objektivieren. Ohne Paradoxien wüssten wir nicht, was wir an unserem üblichen sach- und reflexionsthematischen Sprachgebrauch wirklich haben. Kafka hat ganz am Ende seines Romans ›Der Prozess‹ eindringlich auf diesen Korrelationszusammenhang hingewiesen: „Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht.“49 Paradoxien lassen sich als negierende Angriffe auf den Universalitätsanspruch der klassischen Logik verstehen, die das argumentative begriffliche Denken zwar sinnvoll und effektiv regelt, aber keineswegs alle Erscheinungsformen geistiger Tätigkeiten und sprachlicher Objektivierungsanstrengungen. �� 49 F. Kafka, Der Prozess, 1960, S. 165.
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Die pragmatische Funktion von Paradoxien liegt nicht darin, direkte oder indirekte Sachbehauptungen aufzustellen, die wahr oder falsch sind, sondern vielmehr darin, unser Sinnbildungsvermögen zu provozieren und nicht auf eine einzige Verfahrensweise zu reduzieren. Das macht sie natürlich für diejenigen höchst suspekt, die erwarten, dass sprachliche Äußerungen generell nur dazu bestimmt sind, Antworten zu geben, aber nicht auch dazu, Probleme aufzuwerfen, die auf übliche Weise nicht gelöst werden können. Darauf hat Novalis sehr feinsinnig hingewiesen. „Paradoxen beschämen immer ‒ daher sie auch so verschrieen sind.“50 Mit den inneren Widersprüchlichkeiten und Negationsfunktionen von Paradoxien werden wir nur fertig, wenn wir unsere traditionellen Unterscheidungen und Kategorisierungen zwar für brauchbar, aber nicht für der Weisheit letzten Schluss halten. Paradoxien sollten deshalb auch nicht als Schreckgespenste des geistigen Lebens verstanden werden, obgleich sie sicherlich solche des rationalen und argumentativen Denkens sind. Wir sollten sie eher als Sprungbretter ansehen, die den Zugang in geistiges Neuland erleichtern. Sie können nämlich verhindern, dass sich unsere geistige Welt zu einem geschlossenen System verhärtet und abschottet. Paradoxien zwingen uns ständig dazu, die Rahmenbedingungen unseres Denkens zu reflektieren und umzustrukturieren. In diesem Zusammenhang kann dann auch im Sinne einer Analogie darauf verwiesen werden, dass Stelzengänger und Seiltänzer nur dann ihr Gleichgewicht halten können, wenn sie sich ständig bewegen, und dass Lebewesen die Auseinandersetzung mit möglichen Krankheitskeimen brauchen, um sich gegen die mit ihnen verbundenen Gefahren immunisieren zu können. Paradoxien veranschaulichen gut die Notwendigkeit, dass wir immer wieder aus konventionalisierten Denksystemen ausbrechen müssen, um bestimmte Probleme zu erfassen und um Teilantworten auf unabweisbare Fragen zu finden. Das lässt sich sehr schön an der fiktiven Antwort demonstrieren, die Gott einem Skeptiker geben könnte, der ihn mit der Frage nach den Implikationen des Allmachtsgedanken aufs Glatteis führen möchte: Wenn du alles gemacht hast, hast du dann dich auch selbst gemacht? Gottes Antwort: Ich arbeite daran! Paradoxien spielen natürlich auch im Zen-Buddhismus eine große Rolle, insofern dieser sich ebenfalls darum bemüht, die Menschen aus den Denk- und Lebenszwängen der üblichen Welt herauszuführen. Dafür ist folgendes Beispiel recht aufschlussreich. Um die Fähigkeit von Mönchen zur Distanzierung von der ihnen vertrauten Welt auf die Probe zu stellen, werden sie mit einer Vase voll Wasser konfrontiert und dann dazu aufgefordert, anderen zu sagen, was �� 50 Novalis, Teplitzer Fragmente, Werke Bd. 2, 1999, Nr. 59, S. 395.
256 � Implizite sprachliche Negationsformen das sei, ohne es auf übliche Weise zu benennen. Der oberste Mönch wartet mit folgender Antwort auf: „Niemand kann es einen Holzschuh nennen“. Diese einfallsreiche negierende Reaktion wird aber noch durch die Reaktion eines einfachen Kochs übertroffen, der ganz unerwartet auf einer ganz anderen Ebene antwortet. Er stößt nämlich einfach die Vase um und geht hinaus.51 Paradoxien spielen in allen Denkformen eine große Rolle, welche an der Grenze oder hinter der Grenze dessen liegen, wofür die Sprache eigentlich entwickelt und funktionsfähig gemacht worden ist. Für den Bereich der Philosophie hat das Blaise Pascal durch folgenden Aphorismus sehr schön exemplifiziert: „Der Philosophie spotten, das ist wahrhaft philosophieren.“52 Im Bereich der Religion hat Jacob Böhme das durch folgenden Satz verdeutlicht: „Dann hat Gott alle dinge aus Nichts gemacht vnd dasselbe Nichts ist er selber.“53 Im Bereich der Malerei hat Escher durch zahlreiche Bilder immer wieder demonstriert, dass paradoxe Korrelationszusammenhänge nicht nur sprachlich, sondern auch optisch repräsentierbar sind. Auf den ersten Blick erscheinen Paradoxien gewöhnlich als Denk- und Sprachformen, in denen es zu einer generellen Negation von Sinn kommt. Auf den zweiten Blick lassen sich aber Paradoxien durchaus als Manifestationsweisen einer Sinnsuche verstehen, die die üblichen Formen der Sinnsuche transzendieren, weil sie uns auf Relationszusammenhänge aufmerksam machen wollen, die jenseits unserer üblichen Erwartungshorizonte liegen. Eben deshalb kann dann Paradoxien auch eine aufklärerische Grundintention zugeschrieben werden. Sie warnen uns davor, Phänomene vorschnell kategorial einzuordnen und in starren Denksystemen zu verharren. Sie fördern die Hoffnung, etwas zu finden, was man gar nicht gesucht hat bzw. was man womöglich durch eine methodisch geregelte rationale Suche auch gar nicht finden kann. Gute Paradoxien lassen sich deshalb auch nicht durch paraphrasierende Interpretationen entschärfen oder gar überflüssig machen, weil sie uns ja dazu anregen wollen, aus unserem konventionalisierten Denken auszubrechen. Sie sind deshalb auch als spezifische Formen der Selbstkorrektur unseres Denkens und Sprechens anzusehen, das natürlich immer eine starke Neigung hat, zu festen Ergebnissen zu kommen und stabile Wissenssysteme zu bilden. Paradoxien diffamieren das Systemdenken nicht grundsätzlich, weil sie ja selbst erst vor diesem kontrastiven Hintergrund deutlich in Erscheinung treten können, aber sie wollen dessen Belastbarkeit und Wert durchaus auf die Probe stellen.
�� 51 Vgl. D. R. Hofstadter, Gödel, Escher, Bach, 1985, S. 274. 52 B. Pascal, Über die Religion, 1987, Fragment 4, S. 23. 53 J. Böhme, De Signatura Rerum, Kap. IV, Bibliothek der frühen Neuzeit, Bd. 6, 1997, S. 555.
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Sie geben sowohl unserem Aggressionsbedürfnis Ausdruck, weil sie natürlich etwas negieren wollen, aber auch unserem Spielbedürfnis, weil sie unser perspektivisches und synoptisches Denken anzuregen versuchen, das ja nicht zuletzt auch eine identitätsstiftende Funktion hat. Kafka hat diese komplizierte dialektische Struktur sehr plastisch veranschaulicht. „Wer sucht, findet nicht, aber wer nicht sucht, wird gefunden.“54
6.4 Negationsimplikationen im modalen Sprachgebrauch Den Begriff der Modalität verwenden wir üblicherweise, um diejenigen sprachlichen Formen kategorial zusammenzufassen, mit denen wir den Geltungsanspruch von konkreten sprachlichen Äußerungen bzw. den von bestimmten Basisinformationen metainformativ genauer qualifizieren können. Damit wird dann zugleich auch klar, dass die Modalitätsproblematik immer auch etwas mit der Norm- bzw. Erwartungsproblematik zu tun hat und damit natürlich auch etwas mit der Negationsproblematik. Man könnte sich sogar darüber streiten, ob die Modalität ein Spezialfall der Negation ist oder umgekehrt die Negation ein Spezialfall der Modalität, da es in jedem Fall darum geht, den pragmatischen Geltungsanspruch von etwas Gesagtem genauer zu qualifizieren. Auf jeden Fall sollten wir festzuhalten, dass wir Modalitätsfragen nicht nur im Blickwinkel der Logik zu betrachten haben, sondern auch in dem der Pragmatik bzw. der Kommunikation, weil es dabei nicht nur um den Wahrheitsgehalt sprachlicher Äußerungen geht, sondern auch um den Zweck sprachlicher Interaktionsprozesse. Sowohl in der Modalitätsproblematik als auch in der Negationsproblematik wird nämlich nicht nur die Darstellungs- oder gar die Abbildungsfunktion der Sprache aktuell, sondern immer auch ihre Vermittlungsfunktion zwischen Mensch und Welt bzw. zwischen Mensch und Mensch. Das zeigt sich auch darin, dass wir bei jeder sprachlichen Äußerung metainformativ irgendwie festlegen müssen, welchem pragmatischen Zweck die in ihr konkretisierten Determinationsrelationen bzw. Propositionen oder Aussagen dienen sollen. Aus diesem Grunde hat man dann auch den Begriff Satzmodus eingeführt, um hervorzuheben, dass sprachliche Äußerungen nicht nur eine Darstellungsfunktion haben, sondern zusätzlich noch vielfältige andere Funktionen. Deshalb spricht man dann ja auch nicht nur von Aussagesätzen, sondern auch von Frage-, Aufforderungs-, Wunsch- oder Ausrufesätzen. Diese Benennungen zeigen, dass wir bei der pragmatischen Beurteilung von Äußerun�� 54 F. Kafka, Gesammelte Werke, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, 1953, S. 94.
258 � Implizite sprachliche Negationsformen gen auch ihre spezifischen Geltungsansprüche zu qualifizieren haben bzw. ihre jeweiligen Affirmations- und Negationsimplikationen. Für die Dominanz der Kategorie der Modalität über die der Negation sprechen ontologische und systemtheoretische Gründe. Es scheint nämlich eine fundamentale Grundanforderung an die kognitiven und kommunikativen Vermittlungsaufgaben der Sprache zu sein, dass in sprachlichen Äußerungen der aktuelle pragmatische Geltungsanspruch der jeweils konkretisierten Vorstellungsinhalte metainformativ qualifiziert werden muss, um eben dadurch den jeweiligen Kommunikanten eine differenzierte Weltorientierung zu ermöglichen. Die Modalität wäre so gesehen dann als eine unverzichtbare Sprachuniversalie anzusehen, da jeder Kommunikationsprozess sowohl aus systemtheoretischen als auch pragmatischen Gründen einer metainformativen modalen Selbstinterpretation von sprachlichen Zeichen durch andere sprachlichen Zeichen bedarf. Negationszeichen wären dann ganz extreme Ausdrucksformen einer allgemeinen Modalisierungsnotwendigkeit, weil sich bei ihnen das allgemeine Bedürfnis nach einer sprachlichen Selbstinterpretation bis zu einem Bedürfnis nach der vollständigen Aufhebung von etwas Gesagten steigern kann. Für die Dominanz der Kategorie der Negation über die der Modalität sprechen eher sprachgenetische bzw. sprachhistorische als sprachsystematische Gründe. In dieser Sichtweise ließe sich das Bedürfnis zu Negieren als pragmatisch elementarer ansehen als das zum Modalisieren, insofern es im Denken und Kommunizieren zunächst um die dichotomische Unterscheidung von Ja und Nein bzw. von Zustimmung und Abwehr geht und erst später um die modale Differenzierung der unterschiedlichen Geltungsansprüche von sprachlichen Äußerungen bzw. Einzelinformationen. So gesehen wäre dann die Modalitätsproblematik in einem sehr viel höheren Ausmaße als die Negationsproblematik ein genuines Kulturphänomen, da sie uns auf die historische bzw. soziale Ausdifferenzierung einer biologisch noch elementareren Unterscheidungsnotwendigkeit verweist. Ganz unabhängig von der theoretischen Hierarchisierung der Modalitätsund der Negationskategorie kann nun aber festgehalten werden, dass beide auf genuine Weise zusammengehören. Beide veranschaulichen nämlich, dass die Sprache selbstbezügliche Ordnungsstrukturen und Ordnungsmittel ausbilden muss, um ihre pragmatischen Aufgaben flexibel erfüllen zu können. Die Sprache benötigt immer Formen, um im faktischen Sprachgebrauch elementare Basisinformationen durch interpretierende Metainformationen näher qualifizieren zu können. Dieses Verfahren der Selbstkorrektur kann sich dabei durch unterschiedliche Gesichtspunkte leiten lassen. Franziska Raynaud hat im Hinblick auf die Verfahren zur Selbstinterpretation sprachlicher Äußerungen vorgeschlagen, zwischen einer Modifikation und
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einer Modalisierung zu unterscheiden.55 Sie spricht von einer Modifikation, wenn das jeweilige modale Differenzierungsinteresse sachthematisch ausgerichtet ist und primär dazu dient, grobe sprachliche Kategorisierungen modifizierend zu präzisieren. Zu solchen Modifikationen können dann beispielsweise sachthematisch orientierte Attribute, Adverbiale und Modalverben verwendet werden, die unspezifische bzw. grobe Grundinformationen spezifizieren und eben dadurch dann zu einer genaueren Wahrnehmung von Welt beitragen. In Opposition dazu spricht sie von einer Modalisierung, wenn das metainformative Differenzierungsinteresse in einem reflexionsthematischen Sinne darauf ausgerichtet ist, gegebene Sachverhalte aus einer subjektorientierten Denkperspektive zu interpretieren und zu bewerten. Das bedeutet dann, dass sich in dieser Sicht das Modalitätsproblem vor allem als ein psychologisches, kommunikatives und dialogisches Problem darstellt, das in ganz bestimmte Interaktionshandlungen eingebunden ist. Es impliziert weiter, dass die einzelnen Modalitätsformen in der Wahrnehmungsperspektive des Modifikationskonzeptes als Modifikatoren in Erscheinung treten und in der des Modalisierungskonzeptes als Modalisatoren. Die Unterscheidung von Modifikation und Modalisation ist natürlich eine idealtypische Unterscheidung, die sich im Einzelfall nicht immer völlig überzeugend vornehmen lässt, weil natürlich auch für subjektive Sichtweisen meist ein objektiver Geltungsanspruch gestellt wird oder zumindest ein typologischer. Das wird deutlich, wenn in der Philosophie spezifische Erscheinungsformen von Modalität unterschieden werden, für die je unterschiedliche Bedingungsfaktoren geltend gemacht werden. So spricht Kant beispielsweise von problematischen, assertorischen und apodiktischen Urteilen, die dann natürlich immer auch ganz unterschiedliche Geltungsansprüche implizieren.56 Heute wird oft von einer alethischen Modalität bei Aussagen gesprochen, wenn es um deren Wahrheitsgehalt geht, von einer epistemischen Modalität, wenn es um deren Sicherheitsgrad geht, von einer temporalen Modalität, wenn es um deren zeitliche Gültigkeit geht, von einer deontischen Modalität, wenn es um deren konkrete Pflichtimplikationen geht, von einer evaluativen Modalität, wenn es um deren spezifische Werteimplikationen geht, usw. Alle diese Hinweise verdeutlichen, dass die Modalitätsproblematik immer etwas mit der Lenkung unserer Aufmerksamkeit in sprachlichen Objektivierungs- und Vermittlungsprozessen zu tun hat und damit dann auch mit der Korrelation von Objektsphäre und Subjektsphäre beim Sprachgebrauch. Des-
�� 55 F. Raynaud, Noch einmal Modalverben! Deutsche Sprache 1977, H. 1, S. 1‒30. 56 I. Kant, Kritik der einen Vernunft, B 95, Werke Bd. 3, S. 111.
260 � Implizite sprachliche Negationsformen halb haben dann auch schon die mittelalterlichen Sprachtheoretiker (Modisten) darauf hingewiesen, dass wir bei der Analyse der Sprache und des Sprachgebrauchs (grammatica speculativa) zwischen Seinsformen (modi essendi), Wahrnehmungsformen (modi intelligendi) und Bezeichnungsformen (modi significandi) zu unterscheiden haben, um die vielfältigen Vermittlungsformen der Sprache klarer in den Blick zu bekommen. Da es hier nun aber vornehmlich nicht um die sprachliche Modalitätsproblematik selbst geht, sondern vielmehr um die Negationsimplikationen sprachlicher Modalitätsformen, soll sich im Folgenden das Interesse exemplarisch darauf richten, wie sich diese Problematik bei den Tempus- und Modusformen des Verbs sowie bei den Modalwörtern und Modalpartikeln darstellt. Das bedeutet, dass bei der Frage nach den impliziten Negationsformen der Sprache sich nun die Hauptaufmerksamkeit weniger auf die lexikalischen Zeichen der Sprache und ihre Verwendungsweisen richten wird, sondern eher auf die genuin grammatischen Zeichen, seien es nun unselbstständige oder selbstständige.
6.4.1 Die Tempusformen Zunächst wirkt es sicherlich etwas befremdlich, die Tempusformen des Verbs mit der Kategorie der Modalität und der Negation in Verbindung zu bringen, da sie doch in der Kategorie der Temporalität sehr gut aufgehoben zu sein scheinen. Das gilt insbesondere dann, wenn wir von der Grundauffassung ausgehen, dass Tempusformen primär dazu dienen, bestimmte Prozesse oder Sachverhalte der Zeitstufe der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft zuzuordnen bzw. die chronologischen Relationen zwischen den faktischen Sachverhalten, Sprechzeitpunkten und Betrachtungszeitpunkten zu kennzeichnen. Mit der Negationsproblematik scheinen Tempusformen allenfalls in einem ganz trivialen Sinne in Verbindung gebracht werden zu können, insofern die Zuordnung eines Denkinhaltes zu einer bestimmten Zeitstufe die Zuordnung zu einer anderen ausschließt, aber nicht in dem Sinne, dass über konkrete Tempusformen bestimmte inhaltliche Geltungsansprüche relativiert werden können. Diese Wahrnehmungsweise von Tempusformen erscheint im Denkrahmen des modernen chronologisch orientierten Zeitverständnisses auch ganz plausibel. Sie hat allerdings den gravierenden Nachteil, dass sie weder problemlos zu unserem faktischen Gebrauch von Tempusformen passt noch zu deren Entstehungsgeschichte. In diesen Denkzusammenhängen treten nämlich ganz andere Sinnbildungsfunktionen von Tempusformen sehr deutlich in Erscheinung. Zwar sind im Verlauf der Sprachgeschichte die chronologischen Ordnungsfunktionen der Tempusformen immer wichtiger geworden, aber diese haben die ursprüng-
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lichen keineswegs außer Kraft gesetzt, sondern allenfalls überlagert. Außerdem ist diesbezüglich auch zu beachten, dass rein chronologische Ordnungsfunktionen durch Zeitadverbiale sowie temporale Präpositionen und Konjunktionen meist sehr viel präziser zum Ausdruck gebracht werden können als durch Tempusformen. Für das modale Verständnis von Tempusformen lassen sich insbesondere folgende Überlegungen geltend machen. Das chronologische und lineare Ablaufverständnis von Zeit, das uns heute im Kontext von Uhren als Mitteln der Messung und Objektivierung von Zeit ganz selbstverständlich erscheint, war zur Zeit der Entstehung unserer Tempusformen kaum ausgeprägt und ist eben deshalb zu ihrer Funktionsanalyse auch nur bedingt brauchbar. Wir sollten nämlich nicht vergessen, dass unsere Uhren Zeit nicht nur messen, sondern zugleich auch definieren. Viel wichtiger als das chronologisch-lineare Verständnis von Zeit war ursprünglich das psychologischzyklische, das auch heute noch die pragmatischen Sinnbildungseffekte unserer Tempusformen entscheidend mitprägt. Dadurch ist ihr faktischer Gebrauch dann auch ein gutes Exempel für die Bedeutsamkeit des kulturgeschichtlich sehr wichtigen Prinzips der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Das psychologisch-zyklische Verständnis von Zeit ist dadurch gekennzeichnet, dass es die Zeit nicht als quantifizierbares Phänomen auf einer linearen Verlaufsachse versteht, sondern vielmehr als ein Phänomen, das faktisch nur im Kontext der Intensität von konkreten Erlebnisinhalten in Erscheinung tritt. Diese Erlebnisinhalte können sich dann durchaus zyklisch wiederholen und müssen keineswegs den Charakter der Einmaligkeit haben. Das bedeutet, dass die Zeit nicht chronologisch und quantitativ, sondern eher psychologisch und qualitativ erfahren wird, nämlich als gute oder schlechte Zeit, als Zeit des Wachstums oder des Zerfalls, als Zeit der Feste oder des Alltags, als Zeit der Erlebnisse oder der Langeweile, als Zeit der Gespanntheit oder der Entspanntheit, als Zeit der Nähe oder Distanz zu konkreten Erlebnisinhalten usw. Wenn man auf diese Weise die Wahrnehmung von Zeit auch an die subjektive Wahrnehmung von bestimmten Erlebnissen bindet, dann ist offensichtlich, dass ein Bedürfnis besteht, auch in der Sprache Formen auszubilden, die diesen Wahrnehmungsweisen direkt oder indirekt Ausdruck geben können. So gesehen liegt es deshalb dann auch nahe, den Tempusformen nicht nur chronologische, sondern auch modale Differenzierungsaufgaben zuzuordnen, um auch über diese den Geltungsanspruch bzw. die pragmatische Relevanz von ganz bestimmten Vorstellungsinhalten genauer qualifizieren zu können. Dieses nicht-chronologische Verständnis der Zeit, das sicherlich zur Entstehungszeit von Tempusformen eine ganz wesentliche Rolle gespielt hat, ist von Augustinus auf sehr eindringliche Weise thematisiert worden. Er hat nämlich die drei uns so vertrauten Zeitstufen bzw. Zeitabschnitte von Vergangenheit,
262 � Implizite sprachliche Negationsformen Gegenwart und Zukunft nicht als Abschnitte auf einem gerichteten Zeitstrahl verstanden, sondern vielmehr als unterschiedliche Ausdehnungsformen des Bewusstseins bzw. der Seele (distentiones animae). Psychologisch gesehen gibt es für ihn nur eine einzige Zeitstufe, nämlich die Gegenwart. Diese könne allerdings psychisch in drei unterschiedlichen Formen bzw. Modalitäten in Erscheinung treten, nämlich als Gegenwart von Vergangenem bzw. als Erinnerung (memoria), als Gegenwart von Gegenwärtigem bzw. als Augenschein (contuitas) und als Gegenwart von Zukünftigen bzw. als Erwartung (expectatio).57 Solche psychischen und modalen Implikationen von Tempusformen sind immer wieder gesehen worden. Das belegen recht deutlich die Analysebegriffe der Tempusforschung wie etwa Erzählform, Urteilsform, Erlebnisstufe, Erinnerungsstufe, Distanzierungsform, Aktualisierungsform, Rückschau, Mitschau, Vorschau usw. Das chronologisch orientierte Zeitverständnis war in der Regel allerdings so dominant, dass man nicht wagte, Tempusformen unmittelbar mit der Kategorie der Modalität in Verbindung zu bringen und damit dann auch mit ganz bestimmten Affirmations- und Negationsvorstellungen.58 Erst Harald Weinrich hat in bemerkenswerter Konsequenz den Schritt von einer chronologisch zu einer psychologisch orientierten Interpretation von Tempusformen gewagt, obwohl uns ein solches Tempusverständnis über unser Sprachgefühl eigentlich immer schon präsent war. Für ihn sind Tempusformen grammatische Formen, über die Aussagen bestimmte Geltungsansprüche zugeordnet werden können und Texten ein ganz konkretes Sinnrelief. Deshalb unterscheidet er nicht kategorial zwischen Tempus und Modus, sondern versucht, auch die Modusformen des Verbs in ein umfassendes Tempussystem einzuordnen, das er dann eher nach wahrnehmungspsychologischen Kriterien strukturiert als nach chronologischen.59 In seinem Tempuskonzept unterscheidet Weinrich zwei Tempusgruppen, die für ihn zu Ausdrucksformen von zwei ganz unterschiedlichen Sinnbildungsstrategien werden. Diese bestimmt er dann näher als Besprechen und Erzählen. Diese beiden Sinnbildungsverfahren führen für ihn dann letztlich zur Konstitution von zwei unterschiedlichen Vorstellungswelten, die er als besprochene Welt und als erzählte Welt einander in der Weise kontrastiv gegenüberstellt, dass sie sich wechselseitig ihr spezifisches Profil geben. Die Tempusformen der besprochenen Welt haben für ihn das pragmatische Ziel, Aussageinhalte psychisch so �� 57 A. Augustinus, Confessiones/Bekenntnisse, 11. Buch, Kap. 20, 19663, S. 641ff. 58 Ein typisches Beispiel dafür ist die Dissertation von Dieter Wunderlich, der die psychologischen Aspekte der Tempusproblematik durchaus sieht, aber aus methodischen Gründen dennoch ausklammert. Vgl. D. Wunderlich, Tempus- und Zeitreferenz im Deutschen, 1970. 59 H. Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt, 20016.
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mit unserer Lebens- und Erfahrungswelt in Verbindung zu bringen, dass wir dazu disponiert seien, unmittelbar auf sie zu reagieren. Im Gegensatz dazu legten uns die Tempusformen der erzählten Welt nahe, das jeweils Gesagte kraft unserer Einbildungskraft als eine eigenständige Welt wahrzunehmen und in einer kontemplativen Grundhaltung ganzheitlich zu erfassen, ohne dabei gleich an konkrete Handlungsreaktionen zu denken. Das Grundtempus der besprochenen Welt ist für Weinrich das Präsens. Es könne einerseits dazu dienen, zeitunabhängige allgemeine Sachaussagen zu machen, die als Behauptungen zu verstehen seien, welche direkt der Wahrheitsfrage unterworfen werden könnten, und andererseits dazu, Aussagen zu machen, die eine unmittelbare Aktualität hätten, insofern es eine zeitliche Parallelität zwischen dem jeweiligen Mitteilungsgeschehen und dem jeweils thematisierten Sachgeschehen gebe. In dieser Tempusgruppe werde das Präsens durch das Perfekt ergänzt, da dieses dazu diene, das Ergebnis eines abgeschlossenen Geschehens als wichtig für die jeweilige Lebensituation hervorzuheben. Dieser Tempusgruppe gehören nach Weinrich auch die beiden Futurformen an, insofern diese eine konkrete Voraussagefunktion hätten. Das Grundtempus der erzählten Welt ist für Weinrich das Präteritum, das durch das Plusquamperfekt und die beiden Konditional- bzw. Konjunktivformen ergänzt werde. Das Präteritum signalisiere, dass wir die mitgeteilten Inhalte in einer psychischen Entspanntheit und kontemplativen Distanz wahrnehmen könnten, da wir durch das jeweils Mitgeteilte weniger zu einer unmittelbaren Reaktion aufgefordert würden, sondern eher zu einer ganzheitlichen Vorstellungsbildung. Deshalb habe das Präteritum auch eine genuine Nähe zum metaphorischen und fiktionalen Sprachgebrauch, aber nicht wie das Präsens und Perfekt zum begrifflichen und argumentativen. Die Konjunktivformen passten funktional zum Präteritum, weil sie primär dazu dienten, Aussagen als bloß vermittelt bzw. als hypothetisch zu kennzeichnen, was ja ebenfalls eine distanzierte und kontemplative Rezeption der jeweiligen Inhalte sehr erleichtere. Diese kurzen Hinweise machen plausibel, warum Tempusformen ausgezeichnete grammatische Mittel sind, um bestimmten Inhaltsvorstellungen ein spezifisches pragmatisches Geltungsrelief zu geben.60 Sie können nämlich dabei helfen, in Sätzen und Texten aktuelle Vordergrundsinformationen von allgemeinen bzw. erläuternden Hintergrundsinformationen abzusetzen bzw. eine aktuelle Figur von einem gestaltgebenden allgemeinen Hintergrund. Dementsprechend können dann Tempuswechsel auch dazu dienen, die jeweilige pragma-
�� 60 H. Weinrich, a. a. O., 20016, S. 115ff. Vgl. auch W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S. 442ff.
264 � Implizite sprachliche Negationsformen tische Relevanz von Einzelaussagen in einem Gefüge von Aussagen in unauffälliger aber dennoch wirksamer Weise metainformativ zu qualifizieren. Es ist nun offensichtlich, dass in solchen tempusbasierten Reliefbildungsprozessen nicht nur die Sprechakte des Behauptens, Erzählens, Voraussagens, Imaginierens usw. eine wichtige Rolle spielen, sondern auch die des Affirmierens und Negierens. Die pragmatischen Sinnbildungsfunktionen von Tempusformen beschränken sich nämlich keineswegs nur darauf, bestimmte Aussageinhalte chronologisch einzuordnen. Sie haben vielmehr auch die Aufgabe, zu komplexen Gestaltbildungsprozessen beizutragen, in denen es um die Qualifizierung der pragmatischen Relevanz von Einzelinformationen geht. Das setzt dann natürlich nicht nur explizite, sondern auch implizite Affirmations- und Negationshandlungen voraus, was dann wiederum dazu berechtigt, Tempusformen auch als Modalitätsformen zu verstehen. Die Möglichkeiten, Aussageinhalten über unterschiedliche Verbformen ein spezifisches modales Relief zu geben, dokumentieren sich auch in den unterschiedliche Verbformen der indianischen Hopisprache. Nach Whorf sind diese nämlich nicht vornehmlich dazu bestimmt, Hinweise auf die zeitlichen bzw. chronologischen Geltungsansprüche von Aussagen zu geben, sondern eher dazu, Denkinhalte im Hinblick auf ihren jeweiligen ontologischen Stellenwert zu qualifizieren. Vornehmlich dienten sie nämlich dazu, das objektiv Gegebene und schon Manifestierte vom subjektiv Gedachten bzw. Sich-Manifestierenden zu unterscheiden. Dementsprechend sind für Whorf die Verbformen der Hopisprache dann auch nicht als Zeitformen, sondern vielmehr als Gültigkeitsformen zu verstehen, die andere Affirmations- und Negationsimplikationen haben als beispielsweise die Tempusformen der indogermanischen Sprachen. Das Objektive oder Manifestierte umfaßt alles, was den Sinnen zugänglich ist oder war, das ganze historische physische Universum, ohne Andeutung eines Unterschiedes zwischen Vergangenheit und Gegenwart, aber mit völligem Ausschluß all dessen, was wir Zukunft nennen. Die Zukunft wird vollständig von dem Subjektiven oder Manifestierenden umfaßt. Aber nicht nur sie. Das Subjektive oder Manifestierende schließt ebenso und ununterscheidbar auch alles ein, was wir bewußt nennen ‒ alles, was im Bewußtsein erscheint oder existiert. 61
In diesem Zusammenhang ist nun auch interessant, dass es nach Hans Jensen im Altgeorgischen eine Verbform gegeben hat, die als Permansiv oder Perpetualis bezeichnet worden ist und die ebenfalls eine eher ontologisch als chronologisch ausgerichtete Sinnbildungsfunktion mit ganz eigenen Negationsimplika-
�� 61 B. L. Whorf, Sprache, Denken, Wirklichkeit, 1963, S. 104
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tionen gehabt zu haben scheint. Sie wurde nämlich dazu verwendet, zeitenthobene Aussagen bzw. ewige Wahrheiten zu formulieren, wie sie etwa in Sprichwörtern oder Sentenzen zum Ausdruck kommen.62
6.4.2 Die Modusformen Bei den Modusformen des Verbs, zu denen üblicherweise die Indikativ-, Imperativ- und Konjunktivformen gerechnet werden, haben wir in den indogermanischen Sprachen ebenso wie bei den Tempusformen nicht die Wahl, ob wir sie gebrauchen, sondern nur die Wahl, welche von ihnen wir gebrauchen. Wir können weder tempusfrei noch modusfrei sprechen, sondern nur im Rahmen der Vorstrukturierungen, die uns diese Formen immer auferlegen. Die Modusformen sind dabei ebenso wie die Tempusformen nicht als bloße Verbformen zu betrachten, sondern vielmehr als Aussageformen, weil sie den Geltungsanspruch ganzer Äußerungen metainformativ qualifizieren. Deshalb hat man die Indikativformen dann ja auch als Wirklichkeitsformen, die Imperativformen als Befehlsformen und die Konjunktivformen als Möglichkeitsformen bestimmt. Diese ontologischen Qualifikationen eröffnen zwar eine erste Wahrnehmungsperspektive auf die Modusproblematik, aber diese ist noch viel zu pauschal, um die spezifischen Affirmations- und Negationsimplikationen der Modusformen wirklich in den Blick zu bekommen. Die Indikativformen sind nicht nur als die ältesten, sondern auch als die funktional am schwersten zu qualifizierenden Aussageformen des Deutschen anzusehen. Als unmarkierte Standardformen mit einem recht undifferenzierten Instruktionsprofil lassen sie sich nicht leicht kontrastiv und eindeutig von den Imperativ- und Konjunktivformen als markierten jüngeren Sonderformen abgrenzen, weil sie unter bestimmten Umständen auch deren Funktionen übernehmen können. Hinsichtlich solcher Abgrenzungsversuche ist außerdem zu beachten, dass man dabei in der Regel die Darstellungs- bzw. Abbildungsfunktion der Sprache als ihre Grundfunktion ansieht, was natürlich möglich, aber nicht zwingend ist. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird dann auch verständlich, warum die lateinischen Grammatiker den Indikativ als anzeigenden Modus (modus indicativus) oder als direkten oder geraden Modus (modus rectus) bezeichnet haben, um zu verdeutlichen, dass mit der Wahl dieser Aussageform ein Sachverhalt rein sachthematisch direkt objektiviert werden soll.
�� 62 H. Jensen, Der sprachliche Ausdruck für Zeitauffassungen, insbesondere am Verbum, Archiv für die gesamte Psychologie, 101, 1938, S. 332.
266 � Implizite sprachliche Negationsformen So gesehen ist es deshalb auch etwas problematisch, den Indikativ als Wirklichkeitsform in Opposition zum Konjunktiv als Möglichkeitsform zu bestimmen, weil die Verwendung dieser Form natürlich nichts über den Wirklichkeitsbzw. Wahrheitsgehalt einer Aussage besagt, sondern allenfalls etwas darüber, wie ein Sprecher einen bestimmten Denkinhalt für sich und andere ins Bewusstsein zu rufen versucht. Deshalb lässt sich auch sagen, dass das, was im Indikativ sprachlich objektiviert wird, ohne einschränkende Bedingungen so gelten soll, wie es faktisch gesagt wird. Hennig Brinkmann hat daher auch betont, dass man beim Indikativ nicht von einer Wirklichkeitsform sprechen solle, sondern vielmehr von einem „Modus der Setzung“.63 Das bedeutet, dass man den Indikativ gleichsam erst dann als eine spezifische sinnbildende Modusform wahrnehmen kann, wenn er für uns als deutliche Abwahl von Konjunktivformen in Erscheinung tritt. Wenn wir in dieser Weise den Indikativ als eine ursprünglich unmarkierte grammatische Aussageform bzw. als eine Grundform verstehen, die erst in der direkten Konkurrenz mit anderen Modusformen ein ganz spezifisches Instruktions- bzw. Sinnbildungsprofil bekommen kann, dann lassen sich ihm auch keine genuinen, sondern nur abgeleitete Negationsimplikationen zuschreiben. Diese können nur dann in Erscheinung treten, wenn der Indikativ beispielsweise zu täuschenden Zwecken statt des eigentlich zu gebrauchenden Konjunktivs verwendet wird. Dann ließe sich nämlich seine Verwendung in einer metakommunikativen Wahrnehmungsperspektive als eine Missachtung bzw. als eine Negation des Aufrichtigkeitspostulats beim Sprechen ansehen. Ein solcher Fall träte beispielsweise dann ein, wenn ein Sprecher Aussagen macht, deren Geltungsanspruch eigentlich bestimmten einschränkenden Bedingungen unterliegt, weil sie den Status von Hypothesen haben oder weil sie Aussagen Dritter wiedergeben. Wenn auf diesen Umstand nicht direkt durch erklärende Zusatzaussagen oder durch den Gebrauch des Konjunktivs aufmerksam gemacht wird, dann liegt faktisch ein täuschender Sprachgebrauch vor bzw. eine Negation von allgemeinen Kommunikationsnormen. Die indikativische Aussageform hat als ursprüngliche Standardform von Aussagen kein spezifisches modales Profil, sondern nur eine allgemeine Affirmationsfunktion. Der Gebrauch des Indikativs signalisiert nämlich zunächst nur, dass etwas sachthematisch so gelten soll, wie es die logische Determinationsrelation besagt, die der jeweiligen Aussage zugrunde liegt. Reflexionsthematisch wird der Gebrauch des Indikativs erst dann interessant, wenn durch ihn vertuscht werden soll, dass Aussagen nur unter ganz bestimmten Bedingungen �� 63 H. Brinkmann, Die deutsche Sprache, 19712, S. 368.
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einen Wahrheitswert haben und dass seine konkrete Verwendung daher eigentlich als eine Art kommunikativer List oder gar Täuschung anzusehen ist. Wesentlich klarer als beim Gebrauch der Indikativformen treten bei dem der Imperativformen konkrete modale Implikationen hervor. Das verdeutlicht nicht nur die übliche Benennung des Imperativs als Befehlsform recht klar, sondern auch seine Kennzeichnung als „Modus der Aufforderung“ bei Wilhelm Schmidt oder als „Modus der Realisierung“ bei Hennig Brinkmann.64 Durch beide Bezeichnungen wird hervorgehoben, dass mit den Imperativformen des Verbs die grammatische Instruktion verbunden ist, den vom Verb thematisierten Prozess nicht als einen gegebenen, sondern als einen noch zu realisierenden Prozess zu verstehen (Pflücke die Äpfel!). Diese kommunikative Intention kann allerdings auch über einen normalen indikativischen Aussagesatz erzielt werden, wenn er in einer bestimmten Intonation realisiert wird oder wenn bestimmte Machtverhältnisse zwischen den Kommunikanten vorliegen (Du pflückst die Äpfel!). Bei Verben, die Prozesse bezeichnen, welche sich dem möglichen menschlichen Gestaltungsvermögen entziehen (frieren, gären, regnen), sind daher Imperativformen nicht zu erwarten. Ähnliches gilt auch für Verben, die unerwünschte Verhaltensweisen bezeichnen (lügen, hinfallen, quälen). Hier sind Imperativformen nur in Kombination mit expliziten Negationszeichen üblich. Die Frage nach den möglichen Negationsimplikationen von Imperativformen lässt sich weniger leicht beantworten als die nach ihren möglichen Affirmationsimplikationen. Imperative signalisieren im Prinzip, dass das zu Realisierende nicht nur erwünscht, sondern auch moralisch zu rechtfertigen ist, und dass dem Auffordernden auch das Recht zusteht, die Realisierung bestimmter Vorstellungen einzufordern. Irreales oder Verwerfliches kann man sich ausdenken, aber eigentlich nicht einfordern. Deshalb setzt der Gebrauch von Imperativen auch immer implizit ganz bestimmte Realitäts- und Wertvorstellungen voraus. Insofern können Imperative auch ein konkretes soziales Konfliktpotenzial bergen, da bei ihnen nicht nur die Frage auftaucht, wer Befehle erteilen darf, sondern auch die, ob durch bestimmte Realisierungsaufforderungen unterschiedliche Wertsysteme in Spannung zueinander geraten können, was tragische Konflikte ja beispielhaft verdeutlichen. Gerade weil bestimmte Ist-Zustände nicht immer in bestimmte Soll-Zustände überführt werden können oder sollten, spielen Imperative natürlich auch für die Ethik eine ganz zentrale Rolle, da diese sich natürlich immer mit der Frage zu beschäftigen hat, was zu billigen und was zu missbilligen ist bzw. was zu
�� 64 W. Schmidt, Grundfragen der deutschen Grammatik, 19734, S. 238. H. Brinkmann, Die deutsche Sprache, 19712, S. 366.
268 � Implizite sprachliche Negationsformen affirmieren und was zu negieren ist. In eindrucksvoller und nachhaltiger Weise hat Kant das durch seinen kategorischen Imperativ exemplifiziert: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“65 Da Imperative für das Zusammenleben der Menschen eine so wichtige Rolle spielen, haben sich natürlich in der Sprache vielfältige Formen entwickelt, seine prinzipiellen modalen Implikationen so auszudifferenzieren, dass sie nicht immer gleich apodiktisch in Erscheinung treten. Deshalb ist zu beachten, dass Imperative auch in verdeckter Weise in Form von Fragen, Wünschen, Beispielerzählungen usw. in Erscheinung treten können. Ein typisches Beispiel dafür ist die Fabel, die auf implizite Weise signalisiert, was zu tun ist und was nicht. Am deutlichsten treten die modalen Interpretationen von Basisaussagen natürlich beim Gebrauch der beiden Konjunktivformen hervor. Obwohl der Gebrauch des Konjunktivs I und II im mündlichen Sprachgebrauch keine so große Rolle spielt wie im schriftlichen und obwohl die Kommunikanten die grammatischen Instruktionen der beiden Konjunktivformen meist nur über ihr Sprachgefühl erfassen und nicht über ihr explizit formulierbares Sprachwissen, so sind sie doch idealtypisch recht gut zu beschreiben. Auf jeden Fall ist aber festzuhalten, dass sie eine ganz wichtige Rolle spielen, wenn es um eine verdeckte Qualifizierung des Geltungsanspruchs von Aussagen geht. Schon der Terminus Konjunktiv (lat. coniungere = verbinden) macht darauf aufmerksam, dass der inhaltliche Geltungsanspruch von konjunktivischen Aussagen nur richtig erfasst werden kann, wenn wir diese in Relation zu bestimmten indikativischen Aussagen betrachten. Das bedeutet, dass Satzgefüge die natürlichen Vorkommensorte von Konjunktiven sind. Bemerkenswert ist dabei allerdings, dass im Deutschen den Konjunktiv im Gegensatz zum Französischen auch in formal selbstständigen Sätzen verwandt werden kann, wenn diese den Informationswert von vorausgehenden Basisaussagen erläutern oder wenn sie einen reinen Hypothesecharakter haben. Im Französischen ist dagegen der Konjunktiv, der hier bezeichnenderweise auch Subjunktiv (subjonctif) genannt wird, nur in syntaktisch untergeordneten Sätzen zu verwenden. Kulturgeschichtlich gesehen lassen sich Konjunktivformen als sprachliche Ausdrucksformen des korrelativen Denkens verstehen, das sich phylogenetisch und ontogenetisch erst nach und nach ausgeprägt hat. Das macht dann auch verständlich, warum nicht alle Sprachen über Konjunktivformen beim Verb verfügen und warum solche Sprachen dann auch andere sprachliche Mittel ausbilden mussten, um vergleichbaren Funktionen Ausdruck geben zu können. �� 65 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, B 52, Werke Bd. 7. 19782, S. 51.
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So fehlen beispielsweise im Hebräischen und Chinesischen Verbformen, die den Konjunktivformen der modernen europäischen Sprachen entsprechen. Das hat nun nicht unbedeutende Konsequenzen. Dadurch wird das Denken und Sprechen nämlich nicht von vornherein daran gewöhnt, den informationslogischen bzw. den pragmatischen Stellenwert von Einzelaussagen in einem Geflecht von Aussagen grammatisch klar zu kennzeichnen und eben dadurch Aussagegefügen ein übersichtliches Relevanz- bzw. Sinnrelief zu geben. Diesbezüglich können sich dann bei Übersetzungen große Probleme stellen. Wenn aus Sprachen mit Konjunktivformen in solche ohne Konjunktivformen übersetzt wird, dann fallen die unausdrücklichen grammatischen Metainformationen über den jeweiligen Geltungsanspruch von Aussagen unter den Tisch oder müssen durch ausdrückliche Metaaussagen überakzentuiert werden. Im umgekehrten Fall stellt sich das Problem, ob man durch die Nutzung von Konjunktivformen Geltungsansprüche nicht auf eine Weise differenziert und relativiert, wie sie vom ursprünglichen Sprecher gar nicht akzentuiert worden sind. Die spannungsreiche Dialektik von Affirmations- und Negationsimplikationen in Äußerungen kann sich dadurch natürlich beträchtlich verändern. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch, dass Kinder im Verlaufe ihres Spracherwerbs zunächst den aktiven Gebrauch von Konjunktivformen vermeiden, obwohl sie diese passiv schon rezipieren und über ihr Sprachgefühl wohl auch hinsichtlich ihrer Grundintentionen zumindest rudimentär zutreffend verstehen. Offensichtlich spielen die Konjunktivformen für ihre kognitiven und kommunikativen Bedürfnisse zunächst keine große Rolle, da andere Differenzierungsbedürfnisse für sie im Vordergrund des Interesses stehen. Auffällig für die Entwicklungsgeschichte des Konjunktivgebrauchs im kindlichen Sprachgebrauch ist auch, dass Kinder in der Regel zunächst den Konjunktiv II benutzen, der vom Präteritumsstamm des Verbs abgeleitet worden ist (Ich wäre der König und du wärest die Königin.). Der K II hat nämlich sowohl morphologisch als auch funktional ein sehr viel klarer ausgeprägtes Profil als der K I, der vom Präsensstamm des Verbs abgeleitet worden ist und der vornehmlich in der indirekten bzw. in der abhängigen Rede verwendet wird, die für Kinder anfangs keine sehr große pragmatische Relevanz hat. Robert Musil hat den Konjunktiv kulturhistorisch als eine Ausdrucksform des Möglichkeitssinns verstanden, der es in Kontrast zum Wirklichkeitssinn ermögliche, jede gegebene Wirklichkeitserfahrung gedanklich zu transzendieren.66 Albrecht Schöne hat im Hinblick auf Lichtenberg den häufigen Gebrauch des Konjunktivs mit der Entwicklung des aufklärerischen und experimentellen �� 66 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Werke Bd. 1, 19812, S. 16.
270 � Implizite sprachliche Negationsformen Denkens in Verbindung gebracht.67 Rainer Graf hat den Konjunktivformen die fundamentale Sinnbildungsfunktion zugeordnet, den jeweiligen Einzelaussagen die fundamentale Qualität „gültig in einer anderen Welt“ zuordnen. Andere Welt könne dabei in der abhängigen Rede „Welt eines anderen“ bedeuten und in irrealen Wunsch und Bedingungssätzen „nicht-reale Welt“.68 Diese Hinweise zu den pragmatischen Funktionen des Konjunktivs verdeutlichen, dass der Konjunktivgebrauch immer etwas mit der Konstitution und Transzendierung von Grenzen zu tun hat und damit natürlich auch immer mit der Affirmations- und Negationsproblematik. Damit wird der Konjunktiv dann natürlich auch zu einer unverzichtbaren grammatischen Aussageform, wenn es darum geht, verschiedene Welten im Sinne des Kontrastes von Figur und Grund voneinander abzusetzen. Konjunktivformen negieren natürlich nicht generell den Wahrheitsanspruch von Aussagen, aber sie wollen Aussagen dennoch einen ganz bestimmten Gültigkeitsanspruch in einer ganz spezifischen Sphäre der Welt zuordnen. Das lässt sich im Prinzip natürlich auch durch explizite interpretierende Metasätze erreichen, aber natürlich sehr viel eleganter durch mitlaufende und relativ unauffällige grammatische Metainformationen. Der Gebrauch von Konjunktivformen ist immer dann anzutreffen, wenn es nicht nur um die sachthematische Mitteilung von Fakten geht, sondern auch um die reflexionsthematische Mitteilung, wie diese Fakten in Aussagegeflechte einzuordnen sind, wer für den Wahrheitsgehalt von Aussagen verantwortlich zeichnet bzw. warum die entsprechenden Aussagen überhaupt gemacht werden. Das bedeutet, dass der Gebrauch des Konjunktivs nicht genuin in die Welt der deskriptiven Weltabbildung bzw. des konkreten Handelns gehört, sondern eher in die Welt der Reflexion bzw. der Interpretation, da es bei seiner Nutzung nicht nur um die Vermittlung von Sachinformationen geht, sondern immer auch um die Qualifizierung von deren jeweiligen Geltungsansprüchen. Dabei lassen sich dann dem K I und dem K II idealtypisch ziemlich unterschiedliche Negationsimplikationen zuordnen.
6.4.3 Der Konjunktiv I und II Der K I hat sein genuines Anwendungsfeld in der indirekten Rede, in welcher der aktuelle Sprecher keine eigenen Denkinhalte objektiviert, sondern die eines
�� 67 A. Schöne, Aufklärung aus dem Geiste der Experimentalphysik, Lichtenbergs Konjunktive, 1982. 68 R. Graf, Der Konjunktiv in der gesprochenen Sprache, 1977, S. 140ff.
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anderen referiert. Deshalb trägt er dann auch nicht die Verantwortung für die sachliche Richtigkeit der jeweiligen Aussage, sondern nur für deren richtige Wiedergabe (Der Staatsanwalt hat erklärt, dass er Anklage erheben werde.) Wenn die Wiedergabe einer fremden Aussage in einem abhängigen Satz durch einen Hauptsatz mit einem Verbum des Denkens oder Sagens eingeleitet wird, dann könnte eigentlich auf den K I als Zitiersignal verzichtet werden, weil ja explizit klargestellt wird, dass der aktuelle Sprecher in einem abhängigen Gliedsatz nur den Inhalt der Rede eines anderen wiedergibt. Gleichwohl hat der Gebrauch des K I im Vergleich mit dem möglichen Gebrauch des Indikativs im abhängigen Satz aber doch wichtige Sinnbildungsfunktionen. Zum einen ist nämlich festzuhalten, dass der K I nicht nur die Funktion eines Zitiersignals haben kann, sondern auch die eines Raffsignals. Er signalisiert dann nämlich, dass die ursprüngliche Rede nur zusammengefasst bzw. sinngemäß wiedergegeben wird und nicht unbedingt sehr wortlautnah. Der Konjunktivgebrauch kann somit implizit negieren, dass die fremde Rede im faktischen Wortlaut reproduziert wird, aber durchaus affirmieren, dass sie inhaltlich zutreffend wiedergegeben wird. Gerade wenn in der indirekten Rede der Inhalt vieler Einzelaussagen kondensiert referiert wird, ist der Gebrauch des K I pragmatisch wichtig, weil dadurch darauf aufmerksam gemacht wird, dass die Wiedergabe fremder Rede auch Interpretationsimplikationen haben kann, die natürlich immer der aktuelle Sprecher zu verantworten hat. Auf solche möglichen Implikationen kann der aktuelle Sprecher allerdings natürlich nicht nur durch die Nutzung des Konjunktivs hinweisen, sondern auch dadurch, dass er im einleitenden Hauptsatz ein Verb wählt, das beispielsweise ganz konkret mitteilt, welcher Handlungssinn der wiedergegebenen Rede zuzuschreiben ist (feststellen, behaupten, erklären, versichern, andeuten usw.). Zum andern ist festzuhalten, dass durch die Verwendung des K I in der indirekten Rede ein ganz anderes Kommunikationsklima erzeugt wird als bei der Nutzung des Indikativs. Die Verwendung des K I signalisiert nämlich, dass es nicht nur sachthematisch um die adäquate Wiedergabe bestimmter Denkinhalte geht, sondern zugleich auch reflexionsthematisch um das Problem, dass nicht der aktuelle Sprecher, sondern ein anderer für den Wahrheitsgehalt der jeweiligen Sachaussagen verantwortlich ist. Damit wird dann das kommunikationsethische Problem, dass die referierende Wiedergabe fremder Redeinhalte immer bestimmte Interpretationsimplikationen hat, gleichsam zu einem zweiten mitlaufenden Thema der aktuellen Rede. Auf diese Weise bekommen die jeweiligen Äußerungen dann natürlich auch ein ganz anderes pragmatisches Sinnrelief, weil es nun nicht mehr nur um die jeweiligen Sachinhalte selbst geht, sondern auch darum, wer für die Richtigkeit der jeweiligen Sachaussagen verantwortlich ist bzw. wie diese pragmatisch einzuordnen sind. Das ist im Deutschen beson-
272 � Implizite sprachliche Negationsformen ders wichtig, weil der Konjunktiv auch in formal selbständigen Sätzen verwendet werden kann. So kann dann auch in längeren Redepassagen ständig vergegenwärtigt werden, dass es sich nur um die Wiedergabe fremder Rede handelt. Grundsätzlich lässt sich daher sagen, dass der Gebrauch des Konjunktivs auch als ein Distanzierungssignal verstanden werden kann, insofern sich der aktuelle Sprecher nicht als Erzeuger, sondern nur als Vermittler von Informationen ins Spiel bringt. Das hat dann natürlich ganz erhebliche Rückwirkungen auf die sachlogischen und kommunikationsethischen Implikationen von Äußerungen bzw. auf deren jeweiliges Affirmations- und Negationspotenzial. Aus den Distanzierungsfunktionen des K I ergibt sich auch, dass er sehr gut als ein Hypothesesignal in Anspruch genommen werden kann. Das ist beispielsweise der Fall, wenn wir bestimmte Denkprämissen formulieren wollen, die wir anschließend auf ihre Konsequenzen prüfen möchten (X sei eine Zahl zwischen 10 und 100). Ähnliches gilt, wenn wir den K I benutzen, um in einem sachthematischen argumentativen Sprachgebrauch bestimmte interpretierende Erläuterungsaussagen einzufügen, die nicht im Mittelpunkt des Interesses stehen sollen, aber dennoch wichtige Zusatzinformationen vermitteln können (Die Hoffnung des Gesetzgebers, dass diese Regelung künftige Konflikte verhindere, erwies sich als unrealistisch.). In solchen Erläuterungssätzen könnte auch der Indikativ verwendet werden, aber dann ließe sich der Unterschied zwischen Vordergrunds- und Hintergrundsinformationen nicht mehr so klar wahrnehmen, obwohl er natürlich auch schon durch die syntaktische Abhängigkeit des Erläuterungssatzes signalisiert wird. Die grundsätzliche Distanzierungsfunktion des Konjunktivs kommt im K II ganz besonders intensiv zum Ausdruck. Das erklärt sich auch dadurch, dass der K II vom Präteritumsstamm abgeleitet wird. Eine solche zeitliche Distanzierungsfunktion konnte deshalb auch leicht in eine modale transformiert werden. Unser Sprachgefühl für die Sinnbildungsfunktionen des K II ist allerdings dadurch etwas verunsichert, dass er faktisch auch als Ersatzform für den K I verwendet wird, wenn man dessen morphologische bzw. phonetische Gestalt nicht eindeutig von der entsprechenden Indikativform unterscheiden kann. Gleichwohl lassen sich dennoch zumindest idealtypisch recht unterschiedliche Sinnbildungsfunktionen für die beiden Konjunktivformen ausmachen. Karl Boost hat den wichtigen Vorschlag gemacht, das genuine Sinnbildungspotenzial des K II über seine Negationsimplikationen aufzuklären.69 Für ihn ist der K II ein geeignetes grammatisches Mittel, um den Geltungsanspruch
�� 69 K. Boost, Die mittelbare Feststellungsweise. Eine Studie über den Konjunktiv, Zeitschrift für Deutschkunde 54, 1940, S. 289.
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von Aussagen auf implizite Weise einzuschränken bzw. um die Intensität von Negationshandlungen abzustufen. Je nach dem Zusammenspiel des K II mit unserem allgemeinen Weltwissen und bestimmten chronologischen Implikationen von Aussageinhalten kann über den K II nämlich ein bestimmter Vorstellungsinhalt so in Frage gestellt werden, dass er als irreal in Erscheinung tritt (Wäre ich doch unsichtbar! Hätte ich doch aufgepasst!) oder dass er als rein hypothetisch zu verstehen ist (Wenn er sich bemüht hätte, wäre das Problem zu lösen gewesen! Wenn du geschwiegen hättest, wärest du Philosoph geblieben!) Damit gelingt es Boost dann auch, die alte Unterscheidung beim K II zwischen einem Irrealis und einem Potentialis, die sicher eine gewisse Berechtigung hat, von einer ontisch-chronologischen auf eine primär psychologische Ebene zu bringen, wobei dann allerdings auch grammatische Aspektfragen wichtig werden. An der Variation des Modusgebrauchs bei der Wiedergabe von fremden Aussageinhalten in der indirekten Rede lässt sich sehr gut veranschaulichen, welche Möglichkeiten sich für den aktuellen Sprecher ergeben, den Wahrheitsgehalt der referierten Rede auf indirekte Weise aus seiner eigenen Sicht zu kommentieren und eben dadurch die Rezeption ganz bestimmter Informationen zu steuern oder gar zu manipulieren: Der Vortragende vertrat die Auffassung, dass die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen gewesen ist/sei/wäre. Wenn ein Sprecher bei der referierenden Zusammenfassung der Rede eines anderen den Indikativ verwendet, dann liegt der Schluss nahe, dass er selbst keine psychische Distanz zum Inhalt der referierten Rede des ursprünglichen Sprechers hat und ihr inhaltlich wohl auch zustimmt. Auf jeden Fall lässt sich sagen, dass er sich selbst nicht als interpretierender Vermittler von Informationen ins Spiel bringen will, sondern dass er gleichsam nur als bloßes Sprachrohr des ursprünglichen Sprechers in Erscheinung treten möchte. Wenn ein Sprecher in der indirekten Rede den K I verwendet, dann signalisiert er dadurch schon auf implizite Weise, dass er eine natürliche persönliche, zeitliche, und sachliche Distanz zu dem jeweils referierten Redeinhalt hat, ohne ihn allerdings implizit zu affirmieren, zu problematisieren oder gar in Frage zu stellen. Bei diesem Modusgebrauch wird er zwar immer noch zu einem direkten Sprachrohr des ursprünglichen Sprechers, aber er dokumentiert seine Vermittlerrolle gleichwohl eindeutig durch die Verwendung des K I als Zitiersignal. Wenn nun ein Sprecher in seiner referierenden Rede den K II verwendet und wenn dieser nicht als Ersatzform für den K I genutzt wird, dann lässt er sich durchaus als ein grammatisches Skepsissignal verstehen. Der K II macht nämlich noch intensiver als der K I darauf aufmerksam, dass der jeweils referierte Denkinhalt in die Vorstellungswelt eines anderen gehört und dass er selbst diesem Denkinhalt skeptisch oder gar negierend gegenübersteht. Der K II eröffnet so gesehen die Möglichkeit, diese Verbform als verdecktes Negationszeichen
274 � Implizite sprachliche Negationsformen zu verstehen, das auf indirekte Weise eine affirmierende Rezeption eines bestimmten Denkinhaltes verhindern soll. Dieses Funktionsprofil des K II eröffnet dann prinzipiell die Chance, ihn sowohl zu kritisch-aufklärerischen als auch zu manipulativen Zwecken bei der Wiedergabe von fremden Redeinhalten einzusetzen, da er ja ein sehr wirksames grammatisches Modalisierungsmittel ist. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird nun auch gut verständlich, warum seriöse Zeitungen klare Regelungen für den Modusgebrauch bei der Wiedergabe fremder Äußerungen getroffen haben. Diese besagen, dass in der indirekten bzw. abhängigen Rede obligatorisch der K I zu verwenden sei, um eindeutig kenntlich zu machen, dass objektive Sachinformationen immer klar von Kommentarinformationen zu trennen seien und dass ein seriöser Berichterstatter sich nicht auf implizite Weise mit Denkpositionen anderer gemein machen dürfe. Er habe sich selbst zunächst nur als Vermittler von Sachinformationen ins Spiel zu bringen und nicht zugleich auch als Beurteiler dieser Informationen. Der Gebrauch des K II sei nur dann zulässig, wenn der K I nicht klar vom Indikativ zu unterscheiden sei und wenn ein Berichterstatter nicht auf eine andere Weise seine Rolle als bloßer Informationsvermittler kennzeichnen könne. Da auch im juristischen Sprachgebrauch die Wiedergabe fremder Rede immer eindeutig von der eigenen argumentativen Rede abgrenzt werden muss, gibt es auch hier ähnliche Festlegungen. Daher hat man den Tempus- und Modusgebrauch in juristischen Schriftsätzen auch klar zu regeln versucht, um diesen Texten ein übersichtliches Sinnrelief zu geben, bei dem die unterschiedlichen Informationsebenen möglichst klar voneinander abgegrenzt werden (narrative Faktendarstellung, Aussagewiedergaben, Beurteilungsaussagen).70 Ein aufschlussreiches Exempel für den Einfluss von Modusformen auf das Sinnverständnis von Grundinformationen bzw. für die Negationsimplikationen des K II hat Karl Ernst Sommerfeldt beigesteuert. Am Beispiel der Wiedergabe fremder Rede im ›Neuen Deutschland‹, dem Zentralorgan der SED in der ehemaligen DDR, hat er folgende interessante Tatbestände ermittelt. Dabei ist allerdings zu beachten, dass es im Journalismus der DDR offenbar keine stabilen Gepflogenheiten hinsichtlich des Modusgebrauchs in der abhängigen Rede gegeben hat und dass die Kategorie der Parteilichkeit im kommunistischen Denken nicht von vornherein negativ konnotiert war. Bei seinen statistischen Untersuchungen zum Modusgebrauch in referierenden Texten hat Sommerfeldt Folgendes ermittelt. Bei der Wiedergabe der Äußerungen von Personen aus „sozialistischen Ländern“ und „jungen Nationalstaaten“ habe das Verhältnis von Indikativ- und Konjunktivgebrauch 48,8% zu �� 70 Vgl. H. Berg, Gutachten und Urteil, 197710, S. 142ff.
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51% betragen. Beim Konjunktivgebrauch habe es sich überwiegend um den K I gehandelt und um den K II nur als Ersatzform für uneindeutige K I Formen. Im Gegensatz dazu habe es bei der Wiedergabe fremder Rede von „Vertretern imperialistischer Staaten“ ein Verhältnis des Gebrauchs von Indikativ- und Konjunktivformen von 11,4% zu 88,6 % gegeben, wobei der K II nicht überwiegend als Ersatzform für den K I verwendet worden sei.71 Diese Befunde zeigen sehr deutlich, dass der Modusgebrauch in der abhängigen Rede durchaus dazu einladen kann, sich mit den vermittelten Denkinhalten anderer zu identifizieren oder diese auf sehr distanzierte oder gar skeptische Weise zur Kenntnis zu nehmen bzw. anderen zu vermitteln. Auf eine ganz andere Ebene des Negationspotenzials des K II stoßen wir, wenn wir seinen Gebrauch in Höflichkeitsfloskeln ins Auge fassen. Das lässt sich vielleicht an folgender Äußerung demonstrieren: Ich hätte gern noch ein Bier! Bei einem solchen Gebrauch des K II wird weder eine irreale Hypothese in die Welt gesetzt noch der Wunsch nach einem Bier auf implizite Weise negiert. Hier beziehen sich die Negationsimplikationen des K II nur darauf, dass man die Direktheit eines Wunsches bzw. einer Handlungsaufforderung negieren bzw. abmildern möchte. Es wird also nicht die Gültigkeit eines bestimmten Wunsches bzw. einer bestimmten Handlungsvorstellung in Frage gestellt, sondern nur die Direktheit eines bestimmten auffordernden Sprechaktes. Das bedeutet, dass der K II sich auch als Höflichkeitssignal einsetzen lässt, das dazu dient, Hierarchieverhältnisse nicht so deutlich in Erscheinung treten zu lassen.
6.4.4 Die Modalwörter Da die Tempus- und Modusmorpheme bei Verben nicht als bloße Verbmorpheme, sondern vielmehr als Satzmorpheme anzusehen sind, ist die Frage nach den Negationsimplikationen von Tempus- und Modusformen immer auch eine Frage nach dem Geltungsanspruch ganzer Aussagen. In diesem Zusammenhang stellt sich dann natürlich auch das Problem, mit welchen anderen sprachlichen Mitteln ein Sprecher den Geltungsanspruch seiner Äußerungen reflexionsthematisch differenzieren und qualifizieren kann. Diesbezüglich können wir dann unsere Aufmerksamkeit auf die sogenannten Modalwörter und Modalpartikeln richten, mit denen ein Sprecher in unauffälliger Weise den pragmatischen Sinn seiner Aussagen interpretieren bzw. abtönen kann.
�� 71 K. E. Sommerfeldt, Zur Parteilichkeit bei der Wiedergabe vermittelter Äußerungen, Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung, 25, 1972, S. 366‒395.
276 � Implizite sprachliche Negationsformen Obwohl Modalwörter und Modalpartikeln morphologisch eigenständige Satzelemente sind, lassen sie sich nicht als Satzglieder im üblichen Sinne einordnen, weil sie nicht Bestandteile von sachthematischen Aussagen bzw. komplexen Propositionen sind. Informationslogisch gesehen sind sie nicht der Inhaltsebene der Kommunikation zuzuordnen, sondern vielmehr der Beziehungsebene, auf welcher der Sprecher die pragmatische Funktionen seiner Aussagen für andere präzisieren kann. Dementsprechend geben sie uns dann auch keinen näheren Aufschluss über die Struktur bestimmter Sachverhalte, sondern vielmehr Hinweise auf die Denkstruktur des jeweiligen Sprechers bzw. dessen kommunikative Intentionen. Modalwörter und Modalpartikeln sind deshalb auch nicht als sachthematisch orientierte Modifikatoren anzusehen, sondern vielmehr als reflexionstheoretisch orientierte Modalisatoren, die keine deskriptiven Sinnbildungsaufgaben haben, sondern vielmehr interpretierende bzw. beurteilende. Die Modalwörter wurden lange nicht als eigenständige Wortklasse angesehen, weil man sie morphologisch und syntaktisch nur schwer von den sogenannten Modaladverbien abgrenzen konnte. Zu den Modalwörtern zählt man heute Wörter folgenden Typs: hoffentlich, glücklicherweise, vielleicht, kaum, vermutlich, leider, keineswegs usw. Für ihre Zuordnung zu der Klasse der Modaladverbien (eilends, blindlings, teilweise, halbwegs usw.) sprach zunächst, dass auch Modalwörter nicht flektierbar waren und dass sie Aussagen irgendwie modal einfärbten. Allerdings wurde dabei meist nicht danach gefragt, auf welcher semantischen Ebene diese modalen Einfärbungen wirksam sind und in welchen syntaktischen Strukturen sie faktisch vorkommen. Gegen die Einordnung der Modalwörter in die Klasse der Modaladverbien sprechen nun gewichtige syntaktische, sprachlogische und pragmatische Gründe. Der Duden sah sich deshalb auch ab 1995 genötigt, Modalwörter als Kommentaradverbien von Modaladverbien abzugrenzen, weil sie tiefenstrukturell offenbar auch in ganz anderen Ordnungsstrukturen verankert sind als letztere. Das ließ sich durch Eliminierungs- und Transformationsoperationen auch ganz gut nachweisen. Für die Unterscheidung von Modaladverbien und Modalwörter hatten allerdings schon vorher insbesondere Admoni und Helbig plädiert.72 Modaladverbien lassen sich syntaktisch als Modaladverbiale bzw. als modifizierende Satzglieder einsetzen. Sie sind durch Wie-Fragen zu identifizieren, �� 72 W. Admoni, der deutsche Sprachbau 19703, S. 201ff. G. Helbig, Die deutschen Modalwörter im Lichte moderner Forschung, Beiträge zur Erforschung der deutschen Sprache 1, 1981, S. 5‒29. G. Helbig, Sind Negationswörter, Modalwörter und Partikeln im Deutschen besondere Wortklassen, in: G. Helbig, Studien zur deutschen Syntax, Bd. 2, 1984, S. 82 und 94. G. Helbig/ A. Helbig, Lexikon deutscher Modalwörter, 1990.
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weil sie die Semantik von Prädikaten sachthematisch präzisieren. In Transformationsoperationen müssen sie durch metainformative Sachaussagen zu einer Basisaussage repräsentiert werden (Paul geht eilends in die Schule. = Paul geht in die Schule. Das geschieht eilends.) Dagegen werden Modalwörter dazu verwendet, eine Sachaussage aus der Sicht des jeweiligen Sprechers reflexionsthematisch zu kommentieren. Bei Transformationsoperationen müssen deshalb Modalwörter durch interpretierende Kommentarsätze ersetzt werden, die den Normen, Erwartungen oder Wünschen des jeweiligen Sprechers Ausdruck geben (Paul geht hoffentlich in die Schule. = Paul geht in die Schule. Ich hoffe das.). Das bedeutet, dass wir über den Gebrauch von Modaladverbien etwas über die Welt erfahren und über den Gebrauch von Modalwörtern etwas über den Sprecher bzw. über seine Sicht auf die Welt. Dazu passt auch, dass Modaladverbien sich recht gut in sachthematische Entscheidungsfragen integrieren lassen (Geht Paul eilends in die Schule?), während das bei Modalwörtern nicht möglich ist (*Geht Paul hoffentlich in die Schule?). Hier müssten wir die Informationsfunktion des Modalwortes in einem eigenständigen Satz repräsentieren (Hoffst du, dass Paul in die Schule geht?). Da Modaladverbien, die als Modaladverbiale genutzt werden, die Rolle eines Satzgliedes übernehmen, lassen sie sich auch direkt negieren. Im konkreten Sprachgebrauch ist das auch sehr sinnvoll, weil dadurch eine denkbare oder erwartbare Inhaltsvorstellung hinsichtlich ihrer aktuellen Gültigkeit aufgehoben werden kann (Paul geht nicht eilends in die Schule.). Dagegen ist es pragmatisch ganz unsinnig, mit einem Modalwort einen reflexionsthematischen Kommentar zu einer konkreten Sachvorstellung zu machen und diesem Kommentar im gleichen Atemzuge dann wieder zu verwerfen (*Paul geht nicht hoffentlich in die Schule). Wenn man diesen Kommentar für unrichtig hält, dann brauchte man ihn ja gar nicht erst zu machen. Pragmatisch sinnvoll wäre es nur, die inhaltliche Berechtigung der eigenen Kommentarhandlung in Frage zu stellen, aber nicht die Kommentarhandlung selbst. Das ließe sich allerdings nur durch eine eigene Zusatzaussage bewerkstelligen, da Modalwörter ja satzwertige Kommentarwörter sind (Ich hoffe nicht, dass Paul in die Schule geht.). Insofern Modalwörter die pragmatische Funktion haben, die Geltungsansprüche ganzer Aussagen aus der Sicht des jeweiligen Sprechers zu modalisieren, kann durch sie auch eine große Bandbreite von Affirmations- und Negationsintentionen abgedeckt werden. Diese reicht dann von der nachdrücklichen Bekräftigung einer Aussage über die Mitteilung von Hypothesen und Beurteilungen bis zur ausdrücklichen Negation der ganzen Sachaussage (Paul geht gewiss/zweifellos/vielleicht/vermutlich/gottlob/glücklicherweise/dummerweise/ leider/keineswegs in die Schule.).
278 � Implizite sprachliche Negationsformen Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich nun sagen, dass Modalwörter als satzwertige Kommentarwörter für den jeweiligen Sprecher recht wirksame Mittel sind, um auf implizite Weise seine persönliche Sicht auf bestimmte Sachverhalte zum Ausdruck zu bringen. Diese Modalisierungen können dann natürlich nicht nur die affirmativen Verstärkungen von Aussagen betreffen, sondern auch deren negierende Problematisierungen bzw. Zurücknahmen. Auf jeden Fall kann festgehalten werden, dass Modalwörter sachthematische Grundinformationen auf implizite Weise reflexionsthematisch bzw. modalisierend interpretieren bzw. anreichern.
6.4.5 Die Modalpartikeln Modalpartikeln lassen sich noch schwerer funktional beschreiben und kategorial einordnen als Modalwörter, obwohl oder gerade weil sie recht ähnliche Funktionen haben. Gleichwohl gibt es Möglichkeiten, beide idealtypisch voneinander zu unterscheiden. Im Hinblick auf ihre Negationsimplikationen ist außerdem recht verwirrend, dass selbst so typische Negationswörter wie nicht und nein unter bestimmten Bedingungen auch als Modalpartikeln verwendet werden können (Ist das nicht schön? Nein, ist das schön!) Ebenso wie bei Modalwörtern ist es auch im Hinblick auf Modalpartikeln methodisch hilfreich, sich zunächst einmal exemplarisch zu vergegenwärtigen, welche Wörter man überhaupt dieser Wortklasse zurechnen möchte. Diesbezüglich kämen dann folgende Wörter in Frage: nämlich, wohl, schon, doch, bloß, allerdings, ja, nein, nicht usw. All diese Wörter sind insbesondere der normativen Stilistik immer höchst suspekt gewesen, weil sie ganz offensichtlich nichts zum Aufbau klar konturierter Sachverhaltsobjektivierungen beitragen bzw. zur Darstellungsfunktion der Sprache. Deshalb hat man sie auch als Flickwörter, Füllwörter oder gar als Parasitenwörter diffamiert, die zwar im alltäglichen Sprachgebrauch vorkämen, aber zumindest im schriftlichen Sprachgebrauch eigentlich nichts zu suchen hätten. „All diese Flickwörter wimmeln wie Läuse im Pelz unserer Sprache herum.“73 Eine etwas tolerantere Einstellung zur Existenz und Verwendung dieser Wörter, die aus dem mündlichen bzw. dem dialogischen Sprachgebrauch gar nicht mehr wegzudenken sind, zeigt sich schon durch ihre Benennung als Würzwörter oder Farbwörter. Dadurch wird zwar eingeräumt, dass sie nichts Wesentliches zum sachthematischen Inhalt von sprachlichen Äußerungen beitragen, �� 73 L. Reiners, Stilkunst, 1943/1976, S. 340.
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aber gleichzeitig wird auch festgestellt, dass sie Äußerungen übersichtlicher und verständlicher machen. Worin besteht nun aber die kommunikative Relevanz bzw. die pragmatische Unverzichtbarkeit von Modalpartikeln? Einen wichtigen Ansatz zur Beantwortung dieser Frage finden wir schon, wenn wir in Betracht ziehen, dass Modalpartikeln sich auch als Abtönungs- oder als Einstellungspartikeln kennzeichnen lassen, bzw. wenn wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, welche syntaktischen Stellungspositionen sie in Sätzen einnehmen können. Während Modalwörter durchaus am Anfang von Äußerungen stehen können (Hoffentlich kommt Paul!), dürfen das Modalpartikeln keineswegs (*Nämlich kommt Paul.). Das ist informationspsychologisch auch durchaus verständlich. Am Anfang von Sätzen bzw. auf der sogenannten Themaposition von Äußerungen sind nämlich immer solche Informationen zu platzieren, die kommunikationspsychologisch gesehen den Ausgangspunkt von Sinnbildungs- bzw. Mitteilungsprozessen bilden sollen. Hinsichtlich dieser Informationen besteht nämlich die psychologisch verständliche Erwartung, dass sie anschließend noch durch Informationen auf der sogenannten Rhemaposition präzisierend ergänzt werden, da jeder Informationsprozess ja dadurch geprägt ist, dass neue Informationen an schon bekannte anschließen müssen. Aus dem syntaktischen Verbot, Modalpartikeln auf der Themaposition von Äußerungen zu verwenden, ergibt sich, dass sie in Mitteilungsprozessen nicht die Funktion haben, uns Informationen zu vermitteln, die den Ausgangspunkt unserer Sinnbildungsprozesse konkretisieren sollen. Ihre Informationsleistung besteht vielmehr darin, dass ein Sprecher durch sie etwas über den pragmatischen Zweck seiner Sachäußerungen mitteilen kann. Dazu passt dann auch, dass man Modalwörter durchaus zur Beantwortung von Fragen verwenden kann, Modalpartikeln aber keineswegs (Kommt Paul? Vermutlich./*Nämlich.) Modalpartikeln lassen sich relativ leicht in Metasätze umwandeln, in denen ein Sprecher die pragmatischen Intentionen einer Sachaussage explizit qualifiziert (Paul kommt nämlich morgen. = Paul kommt morgen. Das teile ich euch zum Zweck der Korrektur von möglichen anderen Vorstellungen mit.). Das bedeutet, dass Modalpartikeln faktisch immer einen wichtigen Beitrag zur Ausgestaltung des Beziehungsaspektes in Kommunikationsprozessen leisten. Diese Sichtweise auf die pragmatische Funktion von Modalpartikeln rechtfertigt es, diese mit der Funktion von bestimmten gestischen und intonatorischen Zeichen in mündlichen Kommunikationsprozessen zu analogisieren. Sie konkretisieren nicht den Inhaltsaspekt der Kommunikation, sondern erleichtern die Rezeption und Verarbeitung von bestimmten Sachinformationen, weil sie uns Aufschluss darüber geben, warum diese anderen überhaupt mitgeteilt werden. Sie sind deshalb in allen Sprachverwendungsprozessen unverzichtbar, die
280 � Implizite sprachliche Negationsformen nicht nur als sachthematische Darstellungs-, sondern auch als reflexionsthematische Interaktionsprozesse zu verstehen sind. Da Modalpartikeln pragmatisch nur dazu dienen, den kommunikativen Zweck von Äußerungen auf implizite Weise zu qualifizieren, stehen sie naturgemäß auch nicht im Vordergrund, sondern eher im Hintergrund unserer kommunikativen Aufmerksamkeit. Das dokumentiert sich nicht nur darin, dass man sie nicht auf der Themaposition von Äußerungen verwenden darf, sondern auch darin, dass sie unbetont artikuliert werden müssen, um unsere Aufmerksamkeit nicht vom thematischen Kern einer Äußerung abzulenken. Nur wenn sich der Zweck einer Äußerung ganz auf ihren jeweiligen Beziehungsaspekt verlagern soll, können Modalpartikel auch betont werden. Das exemplifiziert sich sehr schön in der deutschen Fassung des Ausspruchs, den Galilei beim Verlassen des Inquisitionsgerichtes gemurmelt haben soll: Und sie bewegt sich d o c h ! Wenn wir in Äußerungen Modalpartikeln tilgen, dann hat das keinen Einfluss auf deren sachthematische Grundaussagen, aber sehr wohl auf das Verständnis ihres kommunikativen bzw. pragmatischen Sinns. Deshalb sind Modalpartikeln aus dem dialogischen Sprachgebrauch auch gar nicht wegzudenken, da sie entscheidend zum Verständnis der interaktiven Funktionen von sprachlichen Äußerungen beitragen. Die skurrilen Dialoge von Karl Valentin wären ohne den intensiven Gebrauch von Modalpartikeln gar nicht vorstellbar. Außerdem wird durch sie auch ständig indirekt in Abrede gestellt, dass es in diesen Dialogen nur um den Austausch sachthematischer Informationen geht. Um den pragmatischen Sinn von Modalpartikeln zu verstehen, lässt sich ihre Funktion auch mit denjenigen Mitteln analogisieren, mit denen in der Malerei auf Bildern eine spezifische Licht- und Schattenperspektive erzeugt werden kann, über welche die pragmatische Relevanz der jeweils abgebildeten Dinge besser fassbar wird. Auch diese Mittel sind nicht als Inhaltszeichen zu verstehen, sondern vielmehr als Gestaltungszeichen, über die uns eine ganz bestimmte Wahrnehmungsweise für Inhaltszeichen nahegelegt wird und über die Einzelphänomene einen ganz spezifischen Stellenwert in einem komplexen Korrelationszusammenhang bekommen sollen. Auf diesen Zusammenhang hat schon im 18. Jh. Johann Carl Wezel aufmerksam gemacht, als er betonte, dass im Französischen die Modalpartikeln keine so große Rolle spielten wie im Deutschen, weil man dort den propositionalen Gehalt von sprachlichen Äußerungen zumindest im mündlichen Gebrauch der Sprache eher über gestische, mimische und intonatorische Zeichen abtönend schattiere, aber nicht wie im Deutschen durch abtönende Wörter. All diese und andere kleine Pinseldrücke des Gedankens, wenn ich sie so nennen darf, giebt der Franzose in der Deklamation blos durch den Ton an: mit Worten kan er nicht die
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mindeste Schattirung des Gedankens ausdrücken, und Lesern unter uns, die das nicht gewohnt sind, kommt der französische Dialog meistens etwas kahl vor, weil sie immer die Ideen nur gerade hin gesagt finden, ohne die geringste Anzeige, mit welchem Ton man die Worte deklamiren soll. Diese kleinen Wörterchen, am gehörigen Orte gebraucht, sind ein großer Vorzug der teutschen Sprache: man erinnere sich nur, wie viel Schattirungen wir dem Ausdruck allein durch ‘ja’ geben können.74
Wenn man Modalpartikeln bzw. Abtönungspartikeln als Mittel betrachtet, Äußerungen ein ganz bestimmtes pragmatisches Sinnrelief zu geben, dann liegt es natürlich nahe, sie mit der Spechakttheorie in Verbindung zu bringen, die bei Äußerungen einen Sachaspekt (propositionaler Gehalt) und einen Handlungsaspekt (illokutionäre Funktion) unterscheidet. Deshalb hat Helbig die Modalpartikeln dann auch als Indikatoren für ganz bestimmte interaktionssteuernde Sprechakte angesehen.75 Gerade wenn man Modalpartikeln bestimmte Handlungsinformationen zuordnet, dann sind sie natürlich immer in Affirmations- und Negationshandlungen eingebunden, insofern sie die Relevanz von deskriptiven Basisinformationen qualifizieren, was im konkreten Gebrauch dann meist auf bekräftigen oder abschwächen hinausläuft. Ihr Gebrauch setzt immer bestimmte Normvorstellungen voraus bzw. dient dazu, solche zu konkretisieren. Wer etwas einschränkt, der bekräftigt etwas anderes und umgekehrt. Modalpartikeln helfen so gesehen dabei, Äußerungen ein ganz spezifisches Relevanzrelief zu geben bzw. bestimmte Grenzen herauszuarbeiten. Sie dienen nicht dazu, Entscheidungen darüber zu erleichtern, ob Aussagen wahr oder falsch sind, sondern vielmehr dazu, die Intentionen von Aussagen klarer zu konturieren. Beim Verstehen von Modalpartikeln ergibt sich das grundlegende Problem, dass ihre Abtönungsfunktionen bzw. Affirmations- und Negationsfunktionen konventionell nicht klar geregelt sind, sondern eine recht große Bandbreite aufweisen. Ihre Funktionen ergeben sich nämlich aus dem variablen Zusammenspiel vielfältiger Faktoren (Satztyp, Intonationsmuster, Situation, soziale Stellung der Kommunikationspartner usw.). Deshalb sind auch alle Versuche höchst problematisch, bestimmte Modalpartikeln als Indikatoren für ganz bestimmte Sprechakte in Anspruch zu nehmen. Bei dem Modalpartikel doch reichen diese Hinweise z. B. von der Artikulation einer fragende Vermutung (Er wird doch kommen.) über die Kennzeichnung einer feststellenden Behauptung �� 74 J. C. Wezel, Ueber Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen, Kritische Schriften Bd. 3, 1781/1995, S. 260. Vgl. auch J. Niederhauser, ‘Kleine Pinseldrücke des Gedankens’, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 22, 1992, S. 249‒255. 75 G. Helbig, Partikeln als illokutive Indikatoren im Dialog, Deutsch als Fremdsprache, 13, 1976, S. 30‒40. G. Helbig, Lexikon deutscher Partikeln, 1988, S. 56ff.
282 � Implizite sprachliche Negationsformen (Das ist doch kein Problem.) bis zur Akzentuierung eines Widerspruchs (Und sie bewegt sich doch!) bzw. bis zur Forderung nach einer bestimmten Gegenleistung oder zur Artikulation von Unmut (Das bist du mir doch schuldig!). Wenn Modalpartikeln in Entscheidungsfragen integriert werden, dann stellt sich für den Befragten das Problem, ob er auf die explizite sachthematisch orientierte Fragehandlung reagieren soll oder auf die implizite Unterstellungshandlung, die in die formale Fragehandlung integriert ist und die diese faktisch marginalisieren kann (Hast du etwa an der Tür gelauscht? Sind sie der Aufgabe überhaupt gewachsen? Betrügen sie ihre Frau noch?). Wenn nun aber über Modalpartikeln der formale Sinn von Entscheidungsfragen implizit aufgehoben wird, dann kann man auf sie auch nicht einfach mit Ja oder Nein antworten, weil man in beiden Fällen die jeweilige Unterstellung als implizite Sachbehauptung unwidersprochen ließe, die von dem jeweils Angesprochen eigentlich explizit zurückgewiesen werden müsste. Die formale Entscheidungsfrage mutiert so zu einer rhetorischen Frage, die faktisch eine Behauptung darstellt. Außerdem ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass sich über den Gebrauch von Modalpartikeln auch indirekt Kritik üben lässt, insofern auf verdeckte Weise darauf aufmerksam gemacht werden kann, dass etwas nicht einer erwartbaren Norm entspricht (Das haben sie ziemlich gut gemacht. Das hatten wir doch anders besprochen.) Auf diese Weise können Modalpartikel dann auch dazu benutzt werden, in kommunikativen Interaktionsprozessen ganz bestimmte Hierarchieverhältnisse und Rollenverteilungen zu akzentuieren oder gar herzustellen. Dadurch können sie dann sogar eine situationsdefinierende Funktion bekommen, die das Kommunikationsklima negativ beeinflussen kann. Aufschlussreich ist wie schon erwähnt weiterhin, dass das Affirmationswort ja sowie die Negationswörter nein und nicht als Modalpartikel in Erscheinung treten können. Das wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass man diese Wörter natürlich letztlich auch der Kategorie der Modalität zurechnen kann, insofern sie den Geltungsanspruch von Aussagen auf eine vereinfachende alternative Weise qualifizieren können. Zu beachten ist dabei allerdings, dass sich die mit ihnen vollziehbaren Modalisierungshandlungen auf sehr unterschiedliche Ebenen beziehen lassen. Wenn wir beispielsweise das Wort ja nicht als satzwertiges Beantwortungswort verwenden, sondern als Modalpartikel, dann kann es recht unterschiedliche Funktionen bekommen. Es kann implizit die Prämisse einer konkreten Mitteilung affirmierend ins Bewusstsein rufen (Paul fehlte gestern, er war ja krank.), es kann implizit auf die Gründe für eigene Handlungsentscheidungen aufmerksam machen (Das Brot esse ich nicht, es ist ja schimmelig.) oder es kann implizit einer eigenen Überraschung Ausdruck zu geben (Du bist ja schon da!). Wenn wir das Wort nein als Modalpartikel verwenden, dann dient es natürlich nicht
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dazu, irgendeine Frage negierend zu beantworten, sondern eher dazu, eine eigene Erwartungsvorstellung als unzutreffend zu qualifizieren und auf indirekte Weise das Gegenteil davon zu betonen (Nein, ist das schön!). Wenn man das Wort nicht als Modalpartikel verwendet, dann kann es in Entscheidungsfragen signalisieren, dass die gestellte Frage pragmatisch nicht als Entscheidungsfrage zu verstehen ist, sondern vielmehr als rhetorische Frage, die in Gestalt einer Frage eigentlich eine Behauptung aufstellt (Habe ich das nicht gut gemacht?). Man kann mit diesem Wort auch sein Erstaunen über etwas nicht Vorausgesehenes artikulieren (Was du nicht sagst! Was du nicht alles weißt!). Als Modalpartikel kann das Wort nicht allerdings nur dann in Erscheinung treten, wenn es unbetont bleibt und auch auf diese Weise signalisiert, dass es nur Hintergrundsinformationen vermitteln soll und nicht als explizites Negationswort zu verstehen ist (Hat er die Polizei nicht / n i c h t benachrichtigt? Die doppelte Verwendungsmöglichkeit des Wortes nicht als Negationswort und als Modalpartikel lädt natürlich auch dazu ein, es in Wortspielen zu verwenden. Dabei spielen dann natürlich auch Betonungsfragen und Sprechpausen eine wichtige Rolle. Josefine steht vor dem Spiegel und fragt ihren Mann: „Du musst doch zugeben, lieber Friederich, hübsch bin ich noch immer nicht?“ Darauf antwortet dieser: „Recht hast du, liebe Josefine, hübsch bist du noch immer nicht!“
6.5 Das Schweigen Die Frage nach den Negationsimplikationen des Schweigens scheint auf den ersten Blick recht leicht beantwortbar zu sein. Das Schweigen tritt für uns zunächst meist als Negation des Sprechens in Erscheinung bzw. als ein Verzicht auf den Gebrauch von Sprache oder auf verbale Kommunikation und Interaktion. Es erscheint uns somit als ein Defizitphänomen (Privativum), das sich phänomenologisch nicht direkt beschreiben lässt, weil wir ihm zunächst kein positiv beschreibbares inhaltliches Funktions- und Informationsprofil zuordnen können, sondern allenfalls enttäuschte Erwartungen. Wer schweigt, der kann oder will nicht sprechen. Wer schweigt, der verabschiedet sich irgendwie aus dem Orden der Menschen, der sich nach allgemeiner Überzeugung auf Sprachfähigkeit und Sprachgebrauch gründet. Diese stilisierte Charakterisierung des Schweigens als einer direkten Negation des Sprechens, des Wertes sprachlicher Sinnbildungsanstrengungen und verbaler Kommunikation oder gar der menschlichen Existenzweise ist allerdings kaum haltbar, weil in ihr die pragmatischen Funktionen des Schweigens
284 � Implizite sprachliche Negationsformen auf verfälschende Weise vereinfacht werden. Solange wir das Schweigen nur als Mängelphänomen bzw. als ein Privativum wahrnehmen und nicht als Zeichenphänomen bzw. als ein Positivum, solange erfassen wir auch seine Negationsimplikationen nicht zureichend, da wir das Schweigen auf diese Weise nicht als ein Sinnbildungs- und Kommunikationsphänomen in den Blick bekommen, sondern nur als ein Ausfallphänomen. Das Schweigen kann zwar eine Negation des Sprechens bzw. der Leistungsfähigkeit von Sprache sein, aber durchaus auch ein elementares Mittel des Kommunizierens, eben weil es natürlich auch immer ein Zeichenphänomen sein kann. Ebenso wie das Affirmieren und das Negieren eine symbiotische Funktionsgemeinschaft bilden, so bilden auch das Sprechen und Schweigen eine solche, da sie sich wechselseitig ihr spezifisches Profil geben, ohne dabei ihren jeweiligen Eigenwert zu verlieren bzw. ihre kulturgeschichtlichen Funktionen. Oswald Spengler hat das sehr plastisch beschrieben. Das reinste Sinnbild für ein Einverständnis, welches die Sprache wieder überwunden hat, ist ein altes bäuerliches Ehepaar, das abends vor dem Hause sitzt und sich schweigend unterhält. Jeder weiß, was der andere denkt und fühlt. Worte würden diesen Einklang nur verwirren.76
Das Schweigen lässt sich so betrachtet als eine Form des kommunikativen Verhaltens verstehen, das zwar auf den Gebrauch sprachlicher Zeichen verzichtet, aber keineswegs auf den Gebrauch von Zeichen überhaupt. Es kann nämlich durchaus als eine Form des intentionalen Verhaltens wahrgenommen werden bzw. zumindest als ein Indiz für die Denkverfassung des jeweils Schweigenden. Das Schweigen würde dann auch das grundlegende Axiom von Paul Watzlawick bestätigen, dass es unmöglich ist, nicht zu kommunizieren, wenn man einmal in die Welt der Interaktion mittels Zeichen eingetreten ist.77 Im Prinzip hat das Schweigen sicherlich ein große Ambivalenz, wenn nicht sogar Janusköpfigkeit. Diese kann von der radikalen Kritik am Kommunikationspartner bzw. der Sprache bis zur Zustimmung und zum wortlosen Einverständnis reichen. Diese Ambivalenz lässt sich vielleicht sogar als eine Art Kontrastharmonie verstehen, weil sie zeigt, dass Schweigen und Sprechen einerseits zwar unmittelbar zusammengehören, aber andererseits doch immer unterschieden werden müssen. Man kann in Form von plappern nämlich durchaus schweigen, aber durch den Verzicht auf Worte auch Einklang und Nähe zum Ausdruck bringen. Verba�� 76 O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1963, S. 721. 77 P. Watzlawick u. a., Menschliche Kommunikation, 19744, S. 50.
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ler Widerspruch und verbales Schweigen kann ebenso trennen wie verbinden. Deshalb kann es auch ein provokantes und taktvolles, ein verärgertes und therapeutisches, ein isolierendes und anteilnehmendes sowie ein bedeutungsloses und bedeutungsvolles Schweigen geben. Vor Gericht gibt es ein Schweigerecht und bei Ärzten und Priestern sogar eine Schweigepflicht. Wenn bei bestimmten Rechtsgeschäften geschwiegen wird, dann kann das sogar die Funktion einer impliziten Zustimmung haben. Wenn Behörden innerhalb bestimmter Fristen Anträgen nicht widersprechen, dann können sie juristisch als genehmigt gelten. Ebenso wie es treffende Worte gibt, so gibt es auch ein treffendes Schweigen. Evolutionär betrachtet ließe sich sicherlich die These vertreten, dass das Sprechen aus dem Schweigen hervorgegangen ist und dass das Sprechen deshalb als markierte Sonderform an dieser unmarkierten Grundform zu messen bzw. funktional zu beurteilen ist. Das würde dann auch bedeuten, dass das Schweigen kein prinzipieller Gegner des Sprechens bzw. keine grundsätzliche Negation des Sprechens ist, sondern nur eine Verhaltensweise, die pragmatisch unspezifizierter ist als das Sprechen. Allerdings darf darüber auch nicht vergessen werden, dass das Schweigen in Opposition zum Sprechen entwicklungsgeschichtlich dann nach und nach doch ganz spezifische pragmatische bzw. soziale Funktionen bekommen hat. Das hat dann natürlich auch zur Folge gehabt, dass sich nicht nur für das Sprechen bestimmte Gebrauchsrituale entwickeln haben, sondern auch für das Schweigen, und dass es neben Sprachspielen auch immer Schweigespiele geben kann. So gesehen lässt sich dann auch postulieren, dass das Schweigen und das Sprechen kulturgeschichtlich eine unauflösbare symbiotische Beziehung zueinander entwickelt haben. Letztlich lässt sich deshalb die Fähigkeit, kommunikativ zu schweigen, sogar als ein genuiner Bestandteil der menschlichen Fähigkeit betrachten, Zeichen ganz unterschiedlichen Typs zu verwenden bzw. die Sprache sehr differenziert zu nutzen. Schweigen kann nur der, der auch Sprechen kann und umgekehrt. Tiere können nicht schweigen, weil sie nicht sprechen können. Gleichwohl können sie natürlich über Zeichen kommunizieren, wenn auch nicht so flexibel und so nuancenreich wie Menschen, eben weil sie nicht so differenziert affirmieren und negieren bzw. sprechen und schweigen können.
6.5.1 Die phänomenologischen Aspekte des Schweigens Phänomenologisch lässt sich das Schweigen nur dann sinnvoll erfassen, wenn man es nicht nur als einen Verzicht auf das Sprechen bzw. auf den Gebrauch kommunikativer Zeichen wahrnimmt, sondern vielmehr auch als eine ganz spezifische Form von Zeichenbildung und Sinnbildungsanstrengung. Das exempli-
286 � Implizite sprachliche Negationsformen fiziert sich sehr schön durch eine Anekdote über den Rhetoriklehrer Isokrates. Dieser soll von einem schwatzhaften Schüler mit folgender Begründung einen doppelten Lohn verlangt haben: „Einen damit du reden lernst, den anderen, damit du schweigen lernst.“78 Da wir das Schweigen wohl kaum als einen klar abgrenzbaren empirischen Tatbestand zu verstehen haben, sondern eher als einen sehr komplexen Korrelationszusammenhang von konkreten Erfahrungen, Informationserwartungen und Handlungsintentionen, lassen sich bei der phänomenologischen Beschreibung des Schweigens auch nicht die üblichen phänomenologischen Reduktionsverfahren anwenden. Diese bestehen ja bekanntermaßen darin, diejenigen Eigenschaften, die man als sogenannten Wesenskern eines Phänomens ansieht oder ansehen möchte, von ihren mehr oder minder zufälligen bzw. peripheren Merkmalen abzutrennen. Das Schweigen stellt sich für uns letztlich immer als ein sehr variantenreiches Phänomen dar, weil es sich als eine Art Resultante aus der variablen Korrelation von vielfältigen Faktoren ergibt. Wir können das Schweigen nämlich eigenartigerweise sowohl im Sinne des Verzichts auf den Gebrauch von bestimmten Zeichen verstehen als auch im Sinne des chaotischen Gebrauchs von Zeichen bzw. als Geplapper. Das Schweigen muss nicht unbedingt mit dem Ausfall von Informationen schlechthin gleichgesetzt werden, sondern eigentlich nur mit dem Ausfall ganz bestimmter Informationserwartungen. Das bedeutet nun, dass das Schweigen dann durchaus Teil eines kommunikativen Prozesses sein kann, in dem ein Kommunikationspartner uns zwar nichts über bestimmte empirische Sachverhalte mitteilt, aber gleichwohl zumindest etwas über sich selbst bzw. über seinen Mitteilungswillen und seine Denkweisen. Da das Schweigen also durchaus bestimmte kommunikative Effekte haben kann, muss es als semiotisches Phänomen ernst genommen werden. Es stellt uns nämlich immer wieder vor die hermeneutische Aufgabe, den Verzicht auf den Gebrauch erwartbarer Zeichen selbst als ein kommunikatives Zeichen zu verstehen bzw. uns Rechenschaft darüber abzulegen, was uns über diesen Verzicht mitgeteilt werden soll oder kann. Das bedeutet, dass wir das Schweigen ebenso wie das Sprechen als ein kommunikatives Phänomen zu betrachten haben, welches wir darauf hin zu befragen haben, welche Intentionen mit ihm jeweils verfolgt werden. Kinder, die zunächst dazu neigen, alles auszuplaudern, was sie wissen oder in Erfahrung gebracht haben, müssen nach und nach lernen, die Sprache als
�� 78 Zitiert nach H. Mayer, Schweigen, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 8, 2007, Sp. 692.
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soziales Interaktionsmedium differenzierter zu nutzen. Das schließt zweierlei ein. Einerseits haben sie zu lernen, was sie in bestimmten Situationen sagen müssen, dürfen oder können und was nicht. Andererseits haben sie aber auch zu lernen, für andere nicht nur verständlich zu sprechen, sondern auch verständlich zu schweigen. Wenn man in dieser Weise das Schweigenlernen als Bestandteil des Spracherwerbsprozesses ansieht, dann lässt es sich sogar rechtfertigen, das Schweigen als Bestandteil der Sprache oder zumindest als Bestandteil eines differenzierten Sprachgebrauchs anzusehen. Das dokumentiert sich auf einer ganz elementaren Ebene auch schon in unserer Nutzung von Sprechpausen. Durch Sprechpausen werden nämlich sprachliche Mitteilungsprozesse so strukturiert, dass dadurch sowohl die Aufnahme als auch die Verarbeitung von verbalen Informationen ungemein erleichtert wird. Durch solche Pausen werden wir nämlich in die Lage versetzt, sprachliche Sinneinheiten formal klar voneinander zu unterscheiden und eben dadurch dann auch hinsichtlich ihres inhaltlichen Stellenwertes besser zu verstehen. Daher versuchen wir in der geschriebenen Sprache ja auch, mit Hilfe von Interpunktionszeichen (Punkt, Komma, Semikolon, Gedankenstrich) Sprechpausen kenntlich zu machen, um auch durch solche metainformativen Formzeichen bestimmte sprachliche Sinneinheiten klar von einander abzutrennen. Deshalb hat dann auch der Gedankenstrich bei Kleist als Hinweis auf ein regeneratives und damit durchaus sinnträchtiges Schweigen eine gewisse Berühmtheit erlangt. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich in geschriebenen und insbesondere in gedruckten Texten erst nach und nach eingebürgert hat, einen deutlichen Zwischenraum (spatium) zwischen den einzelnen Wörtern zu lassen, weil diese Leerstelle bzw. diese Informationspause das Lesen von Texten ungemein erleichtert. In Dialogen haben Sprechpausen die wichtige pragmatische Funktion, den notwendigen Rollenwechsel zwischen Sprechern und Hörern zu organisieren. Wer in einem Dialog nicht schweigen kann, der läuft nicht nur Gefahr, seinem Gesprächspartner bestimmte Entfaltungsräume zu nehmen, sondern auch Gefahr, sich selbst gegenüber anderen zu isolieren. Wer sich selbst ständig verbal in Szene setzen muss, der verlernt es, wirklich zuhören. Allerdings darf dabei auch nicht übersehen werden, dass das Schweigen in Dialogen sehr ambivalente Funktionen haben kann. Je nach Umständen vermag es sowohl ein Indiz für Kooperationsbereitschaft sein als auch eines für Desinteresse. Die Länge von einzelnen Sprechpausen kann kulturell durchaus unterschiedlich geregelt sein. Beispielsweise hat man in den USA festgestellt, dass Englisch sprechende Kommunikanten mit Sprechpausen von einer Sekunde signalisieren, dass ein Sprecherwechsel angebracht sei, während die Sprecher indianischer Sprachen das mit Sprechpausen von eineinhalb Sekunden signali-
288 � Implizite sprachliche Negationsformen sieren. Es ist offensichtlich, dass die bewusste oder unbewusste Missachtung solcher habituell eingeschliffenen Gewohnheiten sich natürlich sehr nachteilig auf das jeweilige Gesprächsklima auswirken kann.79 Das Schweigen ist natürlich als Kommunikationszeichen weniger im Sinne eines autosemantischen Inhaltszeichens zu verstehen, sondern eher im Sinne eines synsematischen Funktionszeichens, weil es uns ja Hinweise darüber gibt, wie wir bestimmte Sachinformationen pragmatisch einbetten sollen und können. Dementsprechend ist das Schweigen dann auch als Gestaltungszeichen zu werten, das in genuiner Weise mit Affirmations- oder Negationsintentionen verbunden ist. Deshalb kann es auch in ganz unterschiedliche Ursachen- und Wirkungszusammenhänge eingebettet sein. Es gibt nämlich ein Schweigen aus Liebe oder Hass, aus Freude oder Entsetzen, aus Respekt oder Verachtung, aus Bewunderung oder Spott, aus Verbundenheit oder Neid, aus Spannung oder Langeweile, aus Zustimmung oder Ablehnung usw. Isoliert betrachtet sagt uns das Schweigen zunächst nicht viel, kontextual betrachtet kann es aber sehr vielsagend sein. Dabei spielt dann natürlich auch eine große Rolle, ob es als ein aktives Tun oder als eine passive Reaktion zu verstehen ist. Es ist aber immer in Prozesse eingebunden, in denen die verbale Sprache zumindest in bestimmten Hinsichten an die Grenze ihrer Ausdrucksmöglichkeiten und Sinnbildungsfähigkeiten gerät. Die jeweiligen Sprecher müssen dann notwendigerweise auf andere Zeichenformen zurückgreifen, die allerdings mit den verbalen doch immer irgendwie symbiotisch verbunden sind. Die chamäleonartige Natur des Schweigens lädt natürlich dazu ein, mit ihm zu spielen oder es sogar satirisch zu überhöhen. Das exemplifiziert Heinrich Bölls Satire ›Doktor Murkes gesammeltes Schweigen‹ aus dem Jahre 1958 sehr schön. In ihr wird berichtet, dass Doktor Murke als Angestellter einer Rundfunkanstalt eine bestimmte Art von Resten sammelt, nämlich Pausen, die sich zwangsläufig immer bei der Herstellung von Tonbandaufnahmen ergeben haben. Diese schneidet er nach einem alten Verfahren wie Filmszenen aus einzelnen Tonbandaufnahmen heraus und klebt sie anschließend wieder zu einem eigenen Band zusammen. Dieses hört er sich dann abends genussvoll zu Hause an, weil er sich dabei ähnlich wie bei einer filmischen Fiktion bzw. einem sprachlichen Leerzeichen so viel dazu denken kann. Die extreme Kontextbindung des Schweigens macht es schwierig, es zum Gegenstand einer phänomenologischen Beschreibung zu machen, insofern uns beim Schweigen ja eine direkt fassbare empirische Inhaltserfahrung fehlt bzw.
�� 79 Vgl. U. Schmitz, Beredtes Schweigen ‒ Zur sprachlichen Fülle der Leere. Über die Grenzen der Sprachwissenschaft, Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie, 42, 1990, S. 18ff.
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ein abgrenzbarer widerborstiger Gegenstand, an dem wir uns phänomenologisch abarbeiten können. Bei der Wahrnehmung des Schweigens richtet sich unsere Aufmerksamkeit ja nicht auf dieses selbst, da es ja selbst als Beobachtungsgegenstand ziemlich merkmallos ist, sondern meist gleich auf etwas anderes, das es uns nur mittelbar ins Bewusstsein ruft. Insofern hat das Schweigen dann auch von Anfang an einen sehr ursprünglichen Zeichencharakter, weil es uns dazu provoziert, unsere hermeneutischen Sinnbildungskräfte zu aktivieren, ohne dabei auf etablierte Verstehenskonventionen zurückgreifen zu können. Gerade dadurch wird dann allerdings das Schweigen phänomenologisch und semiotisch auch wieder besonders interessant. Zum einen werden wir durch das Phänomen des Schweigens nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass die verbale Sprache in bestimmten Kommunikationssituationen an ihre Leistungsgrenzen gerät oder sogar überflüssig werden kann. Sei es, dass durch den konventionellen Sprachgebrauch bestimmte Sachverhalte trivialisiert werden, oder sei es, dass der übliche Sprachgebrauch der Komplexität bestimmter Sachverhalte nicht gerecht wird. Dann kann es sich als notwendig erweisen, zu schweigen oder auf gestische bzw. mimische Verständigungsweisen überzugehen, falls man nicht auf unübliche bzw. metaphorische Weise von der Sprache Gebrauch machen möchte. Zum andern lässt sich durch das Schweigen immer wieder nachdrücklich in Erinnerung rufen, dass Kommunikationsprozesse nicht nur als Prozesse zur Aufhebung von bestimmten Informationsdefiziten zu verstehen sind, sondern immer auch als Prozesse der Sinnbildung und Interpretation, in denen bestimmte Vorgestalten des Wissens eine prägnantere Endgestalt bekommen sollen. Paradoxerweise kann gerade das Schweigen dazu beitragen, diese Prozesse zu befördern, weil es uns ja dazu zwingt, uns Rechenschaft darüber abzulegen, was wir eigentlich erwarten bzw. was wir als sinnvoll und als weniger sinnvoll ansehen wollen. Gerade weil das Schweigen bestimmte Informationsbedürfnisse nicht erfüllt oder sogar negiert, dass diese tatsächlich wichtig sind, lenkt es unsere Aufmerksamkeit darauf, was wirklich mitteilenswert ist und was nicht. Wenn man in dieser Weise das Schweigen phänomenologisch ebenso wie das Negieren als eine spezifische Sinnbildungsstrategie versteht, um uns auf etwas aufmerksam zu machen, was von der konventionalisierten Sprache nicht zureichend erfasst und objektiviert werden kann, dann ergibt sich natürlich immer die Notwendigkeit, die faktischen Erscheinungsformen des Schweigens semiotisch und anthropologisch noch genauer zu untersuchen. Beide Wahrnehmungsweisen des Schweigens können nämlich nicht nur dazu dienen, auf die Leistungsgrenzen der verbalen Sprache und des verbalen Kommunizierens aufmerksam zu machen, sondern auch dazu, diese Formen lebendig zu halten und weiterzuentwickeln.
290 � Implizite sprachliche Negationsformen 6.5.2 Die Erscheinungsformen und Wirkungsweisen des Schweigens Entwicklungsgeschichtlich betrachtet lässt sich natürlich die These vertreten, dass das Sprechen intentional und evolutionär aus der Negation des Schweigens hervorgegangen ist und dass deshalb das Schweigen auch eine historische Priorität gegenüber dem Sprechen hat. Anthropologisch gesehen kann man aber natürlich auch die Frage stellen, ob das Schweigen wirklich eine elementarere menschliche Verhaltensweise ist als das Sprechen. Sofern man nämlich annimmt, dass das Sprechen das entscheidende konstitutive Merkmal ist, durch das sich der Mensch von allen anderen Lebewesen absondert, dann hat das Schweigen zwar eine evolutionäre Priorität gegenüber dem Sprechen, aber keineswegs eine anthropologische und kulturelle. In dieser Sichtweise ist dann nämlich das Sprechen gleichsam die Geburtsurkunde der Gattung Mensch als homo loquens. Das bedeutet dann kulturgeschichtlich, dass das Sprechen keine markierte Sonderform des menschlichen Verhaltens ist, sondern eine konstitutive Basisform, von der dann das Schweigen kulturgeschichtlich als markierte Sonderform kontrastiv abzugrenzen ist. In einer anthropologischen Denkperspektive tritt das Schweigen immer als ein genuin semiotisches und dialektisches Phänomen in Erscheinung, das sein konkretes pragmatisches Relief insbesondere aus seinem Interaktions- und Kontrastverhältnis zum Sprechen gewinnt. Das hat Bertold Brecht in seinem Gedicht ›An die Nachgeborenen‹ sehr prägnant zum Ausdruck gebracht. Was sind das für Zeiten, wo Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!80
Das dialektische Spannungsverhältnis zwischen dem Sprechen und Schweigen als ganz spezifischen Kommunikationsformen macht es schwierig, die konkreten Affirmations- und Negationsimplikationen beider Verhaltensweisen zu benennen. Das zeigt sich auch darin, dass wir sowohl von einem beredten Schweigen als auch von einem leeren Gerede sprechen können. Grundsätzlich ist aber festzuhalten, dass das Schweigen als Zeichen bzw. als Kommunikationsform weitaus interpretationsbedürftiger ist als das Sprechen. Das offenbart sich auch in dem Umstand, dass man den Inhalten des Sprechens sehr viel leichter widersprechen kann als denen des Schweigens, weil letztere nicht nur weniger klar hervortreten, sondern auch sehr viel ambivalenter bzw. interpretationsbedürftiger sind. �� 80 B. Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 9, 1977, S. 723.
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Obwohl sich aus der evolutionären Priorität des Schweigens nicht direkt ableiten lässt, dass es anthropologisch grundlegender ist als das Sprechen, so kann es als eine bewusste oder vorbewusste Entscheidung gegen das Sprechen zuweilen doch eine pragmatische Sinnträchtigkeit bekommen, die durch das Sprechen gar nicht zu erzielen ist. Dieser Fall tritt insbesondere dann ein, wenn das Schweigen als Negation des Sprechens rein relational gesehen den Status einer markierten Sonderform bekommt, die dazu dient, gerade solchen Sinnbildungszielen Ausdruck zu geben, die wegen ihrer Vielschichtigkeit oder Polyfunktionalität durch das Sprechen kaum zu konkretisieren sind. Das bedeutet, dass die Inhalte des Schweigens durchaus das transzendieren können, was mit Hilfe der begrifflich genutzten Verbalsprache überhaupt objektiviert und vermittelt werden kann. Deshalb spielt dann auch das Schweigen in allen menschlichen Grenzsituationen eine konstitutive Rolle wie zum Beispiel in Gotteserfahrungen, Todeserfahrungen, Liebeserfahrungen, Kunsterfahrungen usw. Hier kann die Verbalsprache durchaus an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeiten geraten, weil sie dazu auf Grund ihrer Entwicklungsgeschichte pragmatisch gar nicht ausgelegt ist. Hier können oft die passenden Worte fehlen, da diese ihre jeweiligen Inhalte notwendigerweise immer begrifflich schematisiert und damit auch vereinfacht konkretisieren müssen. Oft reichen hier dann auch die sprachlichen Negationsverfahren nicht mehr aus, um das Erfahrene oder Gedachte intersubjektiv nachvollziehbar so zu objektivieren oder zu thematisieren, dass es nicht verfälscht oder verzerrt wird. Unter diesen Umständen ist das Schweigen dann allerdings auch nicht als eine Negation des Kommunizierens zu verstehen, sondern allenfalls als eine Negation des verbalen Kommunizierens im Sinne eines begrifflich fundierten Kommunizierens. Solche Formen des Schweigens sind dann auch nicht gleichzusetzen mit dem generellen Verzicht auf den Gebrauch von Zeichen, sondern nur mit dem Verzicht auf den Gebrauch von begrifflich schematisierten Zeichen. Ein Gebrauch von anderen Zeichentypen (Metaphern, Analogien, Geschichten, Handlungen, Gesten, Mimik usw.) ist durchaus möglich. Diese Mitteilungsformen zeichnen sich dann allerdings alle dadurch aus, dass sie einen großen Interpretationsspielraum haben. Da hier sehr oft auch neu gebildete oder neu zu verstehende Zeichen ins Spiel kommen, müssen bei ihnen auch die jeweiligen Affirmations- und Negationsimplikationen meist neu festgelegt werden, da diese ja noch nicht konventionell, sondern allenfalls tendenziell geregelt sind. Wer begrifflich kommuniziert, der zieht notwendigerweise immer möglichst klare Grenzen, weil er sich ja für eine ganz bestimmte kategoriale Einordnungen von Denkinhalten entscheiden muss. Wer schweigt, der zieht auch Grenzen, aber solche, die weniger eindeutig sind bzw. die in hohem Maße interpretati-
292 � Implizite sprachliche Negationsformen ons- und gestaltungsbedürftig sind. Der Schweigende kann durch sein Schweigen außerdem signalisieren, dass seine Denk- und Wahrnehmungsprozesse noch nicht abgeschlossen, sondern vielmehr im Fluss sind, bzw. dass er sich selbst noch auf etwas Neuartiges einstellen muss. Das schließt dann allerdings nicht aus, dass das Schweigen auch signalisieren kann, dass man die Kommunikation abbrechen möchte. Deshalb wird dann ja auch zu Recht von einer Mauer des Schweigens gesprochen. Wenn man das Schweigen nicht nur als faktisches Stummsein versteht, sondern auch als ein interpretationsbedürftiges Zeichen bzw. als eine bestimmte kommunikative Strategie, dann spricht viel dafür, es im Sinne von Searle auch als eine Manifestation eines indirekten Sprechaktes anzusehen. Mit diesem Begriff hat Searle darauf aufmerksam zu machen versucht, dass offenkundige explizite Sprechakte bzw. ausdrücklich thematisierte sprachliche Handlungsformen (Hiermit möchte ich mitteilen, dass …) noch zusätzlich mit weiteren Sprechakten bzw. unausdrücklich thematisierten sprachlichen Handlungsformen angereichert werden können (z. B. warnen, drohen, beruhigen, anregen, bewundern usw.) Dementsprechend ließe sich dann auch das Schweigen als eine kommunikative Handlung verstehen, die zwar explizit auf den Gebrauch der Sprache als Handlungsmittel verzichtet, die aber gleichzeitig dennoch etwas ganz Bestimmtes zu verstehen geben möchte, nämlich Verachtung, Ehrfurcht, Anteilnahme usw. Gerade weil das Schweigen so viele pragmatische Funktionen haben kann, hat Ulrich Schmitz es dann auch als „Joker der Sprache“ bezeichnet, der je nach Kontext ganz unterschiedlich semantisch aufgeladen bzw. eingesetzt werden kann.81 Recht aufschlussreich ist auch die Bewertung des Schweigens im Straf- und Zivilrecht. Das, was Beschuldigte sagen, sollte wahr sein, aber sie dürfen auch schweigen, wenn sie sich durch bestimmte Aussagen selbst belasten würden. Dabei ist nach deutschem Recht das Schweigen formal als ein Nullum zu bewerten, aus dem keinerlei konkrete inhaltliche Schlussfolgerungen gezogen werden dürfen. Im Prinzip darf es nicht als irgendeine Art von Willenserklärung angesehen werden, also weder als eine Form des Ja oder des Nein zu einer Beschuldigung oder einem Rechtsgeschäft. Im Strafrecht wird dem Schweigen sogar Verfassungsrang zugebilligt. Es darf auch nicht als eine Erschwerung der richterlichen Tätigkeit gewertet werden bzw. als ein Tatbestand, aus dem irgendwelche Rückschlüsse auf die Schuld eines Angeklagten gezogen werden dürfen. Auch bestimmten Arten von Zeugen wird ein Schweigerecht eingeräumt (Ärzte,
�� 81 U. Schmitz, Beredtes Schweigen ‒ Zur sprachlichen Fülle der Leere, Osnabrücker Beiträge zur Sprachwissenschaft 42, 1990, S. 92.
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Priester, Anwälte, nahe Angehörige). Dadurch soll sichergestellt werden, dass Urteile auf der Basis gesicherter Fakten erfolgen, dass vorschnelle Schlussfolgerungen erschwert werden und dass bei der Urteilsfindung Machtstrukturen und Herrschaftsansprüche in Befragungsprozessen keine Rolle spielen dürfen. Ausnahmen von der Rechtsunverbindlichkeit des expliziten Schweigens gibt es allerdings aus verständlichen Gründen im Zivilrecht in Form des sogenannten konkludenten Handelns. Ein solches liegt dann vor, wenn verbal zwar geschwiegen wird, wenn aber das das faktische Handeln einer Person impliziert, dass eine Zustimmung zu einem bestimmten Rechtsgeschäft vorliegt. Wer z. B. in ein öffentliches Verkehrsmittel einsteigt, der hat implizit schon seine Zustimmung zu einem Beförderungsvertrag gegeben, ohne dies etwa verbal mitgeteilt zu haben. Auch wer eine Erbschaft bis zu einem gesetzten Termin nicht explizit ausschließt, hat sie durch sein Schweigen implizit angenommen. Im Bereich der Literatur hat Wolfgang Iser dem Schweigen über seine Leerstellentheorie eine interessante kommunikative Funktion zugeordnet. Er bestimmt Leerstellen nämlich als „Pausen des Textes“, die den Leser zu eigenen Sinnbildungsanstrengungen inspirieren und provozieren sollen. „Immer dort, wo Textsegmente unvermittelt aneinander stoßen, sitzen Leerstellen, die die erwartbare Geordnetheit des Textes unterbrechen.“82 Solche Leerstellen bzw. Informationslücken sind nach Iser nun aber keineswegs als Erscheinungsweisen mangelnder Kommunikation zu betrachten, sondern eher als Phänomene, die den Leser auf intensive Weise zum Mitgestalten literarischer Vorstellungswelten auffordern, weil sie ihn aus der Rolle des passiven Rezipienten von Informationen herauslösen und ihn zwingen, die jeweiligen Informationslücken selbst zu füllen. Etwas Ähnliches gilt auch für die japanische literarische Textform Haiku, bei der durch die bewusste Aussparung bestimmter Informationen eine ganz besondere Sinndichte erzeugt werden soll, an deren Gestaltung der jeweilige Rezipient dann über seine Einbildungskraft unmittelbar beteiligt wird. Nun ist natürlich auch zu berücksichtigen, dass der Sinn des Schweigens nicht nur mit Hilfe der heuristischen und der hermeneutischen Einbildungskraft der Beteiligten erschlossen werden kann, sondern durchaus auch konventionell klar geregelt sein kann. Ethnologische Forschungsergebnisse belegen, dass das Schweigen insbesondere bei bestimmten Ritualen eine genau festgelegte Informationsfunktion haben kann. Beispielsweise stimme eine japanische Frau traditionsgemäß einem Heiratsantrag zu, indem sie den Kopf senke und schweige. Dagegen lehne eine Ibo-Frau durch Schweigen einen solchen Antrag ab, es sei
�� 82 W. Iser, Der Akt des Lesens, 1976, S. 302.
294 � Implizite sprachliche Negationsformen denn, sie laufe davon und signalisiere eben dadurch ihre faktische Zustimmung.83 Wenn man das Schweigen nicht nur als Verzicht auf eine verbale Rede versteht, sondern auch als Verzicht darauf, Informationen zu vermitteln, die andere erwarten, dann kann das Schweigen natürlich fast unübersehbar viele konkrete Erscheinungsformen haben. Ein im Prinzip sachthematisch motiviertes funktionales Schweigen in diesem Sinne kann von einem sprachlichen Verstummen über ein sinnleeres Plappern bis zu einem Verzicht auf den Gebrauch von Zeichen aller Art reichen. Auch Unsinnsgeschichten könnten so gesehen als Erscheinungsformen eines sachthematischen funktionalen Schweigens verstanden werden (Dunkel war’s, der Mond schien helle, als ein Auto blitzesschnelle langsam um die Ecke fuhr…). Kinder lieben solche unsinnigen Redeweisen, weil sie ihnen auf eine für sie dennoch gut fassbare kontrastive Weise zeigen, was sinnvolle Rede ausmacht und in welcher Weise man mit der Sprache spielen kann und darf. Verstöße gegen semantische Ordnungsformen darf man sich erlauben, weil das schon vorhandene Weltwissen hier regulierend eingreifen kann, Verstöße gegen grammatische Ordnungsformen aber nicht, weil das zu unauflösbaren Verstehenskonflikten führen könnte bzw. zu einer Kommunikationsverweigerung. Nun ist allerdings auch einzuräumen, dass die Formen des sachthematischen Schweigens dennoch Formen der Kommunikation sein können, weil man sich natürlich die Frage stellen kann, was auf diese Weise anderen mitgeteilt werden kann bzw. wofür es gleichwohl doch ein Zeichen ist. Wenn Politiker auf klare Fragen schwammige Antworten geben, dann können sie auf diese Weise indirekt mitteilen, dass sie eigentlich keine Antwort geben möchten bzw. dass es in der jeweiligen Situation für sie selbst oder für andere nicht opportun ist, konkrete Sachaussagen zu machen. Gerade in der diplomatischen Kommunikation wird oft geredet, ohne etwas Konkretes oder Erwartbares zu sagen. Hier kann das nichtssagende Sprechen sogar ein wichtiges Mittel sein, um in Konfliktfällen zu signalisieren, dass man zwar keine konkreten Aussagen machen will oder kann, dass man aber dennoch einen Gesprächsfaden nicht abreißen lassen möchte. Ein beredtes Schweigen gibt es natürlich auch in sehr vielfältigen Formen im literarischen Sprachgebrauch. Es kann darin bestehen, dass bestimmte Personen zwar verbal verstummen, aber durch andere Zeichen bewusst oder unbewusst offenbaren, was sie bewegt oder was in ihnen vorgeht. Ein eindrucks-
�� 83 Vgl. U. Schmitz, Beredtes Schweigen. Zur sprachlichen Fülle und Lehre, Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 42, 1990, S. 31.
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volles Beispiel für ein solches beredtes Schweigen ist die Reaktion, die Heinrich von Kleist seinem Michael Kohlhaas zuordnet, als dieser das Plakat Martin Luthers liest, in dem dieser Kohlhaas die konkrete Frage stellt, ob er mit Feuer, Schwert und Selbstjustiz wirklich Ungerechtigkeit beseitigen und Gerechtigkeit herstellen könne. Dadurch, dass Luther Kohlhaas zum Richter über sich selbst macht, erschüttert er dessen Selbstgewissheit bzw. Selbstgerechtigkeit grundlegend. Meisterlich lässt Kleist Kohlhaas verstummen, aber durch andere Zeichen seiner inneren Betroffenheit Ausdruck geben. Eine dunkle Röte stieg in sein Antlitz empor; er durchlas es, indem er den Helm abnahm, zweimal von Anfang bis zu Ende; wandte sich, mit ungewissen Blicken, mitten unter die Knechte zurück, als ob er etwas sagen wollte, und sagte nichts;84
Die Vorbehalte, ja das Misstrauen gegen die Kraft der Sprache, bestimmte Denkinhalte angemessen verbal darzustellen, kann sich so steigern, dass selbst das metaphorische Sprechen oder gestischen Mitteilungsformen nicht mehr als adäquate Kommunikationsweisen verstanden werden, durch die sich das verbal-begriffliche Schweigen kompensieren lässt. Dann kann insbesondere der paradoxe Sprachgebrauch zu einer Manifestationsform des sprachlichen Schweigens werden. In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Büchnerpreises 1960 hat Paul Celan die folgende recht provokante These in die Welt gesetzt: „Und das Gedicht wäre somit der Ort, wo alle Tropen und Metaphern ad absurdum geführt werden wollen.“85 Wie der paradoxe Gebrauch der begrifflichen Sprache in eine Ausdrucksform des Schweigens umschlagen kann, verdeutlicht Celan auch durch ein bereits erwähntes Beispiel aus Büchners Danton-Drama. Als die ehemaligen Revolutionäre zur Hinrichtung gefahren werden und alle vom gemeinsamen Tod sprechen, da ruft Lucile, die Celan sogar als „Kunstblinde“ bezeichnet, plötzlich: „Es lebe der König“. Diese Äußerung hat es Celan angetan, da sie für ihn natürlich kein Bekenntnis zum „ancien régime“ ist, sondern ein „Gegenwort“, das die ganze Absurdität der Situation exemplifizieren soll. Lucile spricht zwar, aber in einem tieferen Sinne schweigt sie im Sprechen, weil in dieser Situation die Sprache nicht mehr so gebraucht werden kann, dass sie den von ihr erwartbaren Sinnbildungsfunktionen wirklich gerecht werden könnte.86
�� 84 H. von Kleist, Michael Kohlhaas, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 1962, S.44. 85 P. Celan, Büchnerpreisrede 1960, in : Büchner-Preis-Reden 1951‒1971, S. 99. 86 P. Celan, a. a. O., S. 90.
296 � Implizite sprachliche Negationsformen 6.5.3 Die anthropologischen Aspekte des Schweigens Wenn wir den Menschen über seine Sprach- und Sprechfähigkeit als einen homo loquens definieren und eben dadurch vom Tier unterscheiden, dann könnte die Gefahr bestehen, das Schweigen als etwas Inhumanes zu verstehen. Diese Auffassung ist aber weder anthropologisch noch pragmatisch haltbar, weil Sprechen und Schweigen sich wechselseitig Gestalt und Funktionalität geben und weil das Schweigen durchaus zu einer bestimmten und vielleicht unersetzlichen Form der menschlichen Kommunikation werden kann. Das Schweigen ist deshalb auch nicht generell als ein Mangelphänomen anzusehen, weil es durchaus zu einem Mittel werden kann, mit dem Menschen in Kontakt zu ihrer jeweiligen menschlichen Außenwelt treten können. Immer wieder ist in Aphorismen die anthropologische Relevanz des Schweigens thematisiert worden. Diese besteht nicht zuletzt darin, dass das Schweigen ambivalent ist und sowohl eine sinnstiftende Fruchtbarkeit als auch eine tödliche Unfruchtbarkeit haben kann. Auf jeden Fall ist aber davon auszugehen, dass das Schweigen zu Interpretationen provoziert und eben deshalb auch eine kognitive und kommunikative Bedeutsamkeit hat. Am Anfang war das Wort, aber vor dem Wort war das Schweigen. (Siegfried von Vegesack) Man soll schweigen oder Dinge sagen, die noch besser sind als das Schweigen. (Pythagoras) Man braucht zwei Jahre, um sprechen zu lernen, und ein Leben lang, um schweigen zu lernen. (Ernest Hemingway) Solange man selbst redet, erfährt man nichts. (Marie von Ebner Eschenbach) Das Schweigen ist ein so herrliches Thema, dass man dauernd darüber reden könnte. (Julien Romains) Wer dein Schweigen nicht versteht, versteht auch deine Worte nicht. (Elbert G. Hubbard) Dumme Gedanken hat jeder, nur der Weise verschweigt sie. (Wilhelm Busch) Ein Mensch, der seine Gedanken für sich behält, hat vielleicht gar keine. (André Heller) Es gibt auch verschlossene Truhen, die leer sind. (Jean Giono)
Der entscheidende Grund für die anthropologische Bedeutsamkeit des Schweigens liegt wohl darin, dass das Schweigen den üblichen Herrschaftsanspruch des Sprechens und der Sprache ausbalancieren kann. Dieser besteht darin, dass
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wir meist annehmen, dass mit der Sprache und dem Sprechen die Übermacht von Dingen, unmittelbaren Erfahrungen oder Situationen gebrochen werden könne, da wir sie ja begrifflich einordnen und damit als gedeutete Phänomene auch irgendwie zu beherrschen glauben. Allerdings ergibt sich dadurch auch gleichzeitig immer die Gefahr, dass wir sie in ihrer Eigenständigkeit nicht mehr ernst nehmen, weil wir sie ja als Repräsentanten eines Musters wahrnehmen bzw. so deuten, wie es unseren jeweiligen Wahrnehmungsinteressen entspricht. Jede Versprachlichung von Phänomenen birgt sicherlich die Gefahr, sich ihnen nicht mehr wirklich zu stellen, sondern sie nur noch in einer bereits vorgegebenen Perspektive wahrzunehmen und nicht mehr zu erproben, ob sie nicht auch in ganz anderen Perspektiven und Handlungsprozessen wahrnehmbar sind. Dadurch rückt jede Versprachlichung die thematisierten Phänomene auch immer in eine gewisse Ferne. Das Schweigen kann deshalb auch zu einer Möglichkeit werden, den eigenen Einordnungs- und Herrschaftsanspruch zurückzustellen und sich Dingen, Menschen und Situationen so zu öffnen, dass man sensibel dafür wird, was diese uns zeichenhaft mitteilen können und wollen. Das kann dann auch in der bildlichen Rede zum Ausdruck kommen. So betrachtet kann das Schweigen dann auch ein Ausdruck der Hoffnung sein, dass die Phänomene sich selbst zu erkennen geben können und dass wir sie nicht nur über die Wörter und Begriffe kennenlernen, die wir uns schon vorab für sie gemacht haben, sondern auch über konkrete sinnliche bzw. empirische Erfahrungsformen. Deshalb kann sich im Schweigen auch eine Ehrfurcht vor den Dingen und dem Verhalten anderer Menschen ausdrücken. Das macht dann allerdings auch wieder neue Sinnbildungsanstrengungen notwendig. Das Schweigen wäre so gesehen zwar ein faktisches Zurück aus der konventionalisierten Sprache, aber zugleich könnte mit ihm auch eine spracherneuernde Wirkung ausgelöst werden. Es könnte der Anfang eines Versuchs sein, etwas anders bzw. ganzheitlicher wahrzunehmen und dafür dann auch neue sprachliche Ausdrucksformen zu entwickeln. Das ist nun aber keineswegs leicht, wie Johann Georg Hamann ausdrücklich betont hat. „Je länger man nachdenkt, desto tiefer und inniger man verstummt und alle Lust zu reden verliert.“87 Seit der Spätantike (Plotin, Pseudo-Dionysius Areopagita) und insbesondere seit der Mystik ist immer wieder betont worden, dass es Unsagbares gebe und dass Gotteserfahrungen eher über das Schweigen als über das Sprechen möglich seien. Zumindest könne und dürfe man über Gott nicht in der üblichen begrifflichen Rede sprechen, sondern allenfalls mit Hilfe von Gleichnissen, Meta-
�� 87 J. G. Hamann, Metakritik über den Purismus der Vernunft, Schriften zur Sprache, 1967, S. 222.
298 � Implizite sprachliche Negationsformen phern, Paradoxien oder Negationen, also mit Hilfe von Sprachformen, die allesamt als Formen des begrifflichen Schweigens verstanden werden können bzw. als ein Verzicht auf eine begriffliche und damit auch begreifende Rede. Auch mönchische Schweigegelübde haben ja die Funktion, dabei zu helfen, die eigenen Erfahrungsmöglichkeiten zu steigern bzw. für Wahrnehmungsweisen zu sensibilisieren, die jenseits der üblichen begrifflich orientierten Versprachlichungsmöglichkeiten liegen. Das bedeutet dann, dass man beim Lernen des Schweigens auch immer ein Lernen des Hörens bzw. des differenzierten Wahrnehmens angestrebt hat. Dadurch würde dann natürlich auch die Aussagekraft der gängigen Schweigemetaphern (Mauer des Schweigens, eisiges Schweigens, tödliches Schweigen) ganz erheblich relativiert werden, die zunächst ja ganz plausibel erscheinen. Unter diesen Rahmenbedingungen ließe sich das Schweigen nämlich immer auch als ein möglicher Übergang zu anderen Wahrnehmungs- und Mitteilungsformen verstehen. Das können wir uns auch ganz gut über gegenläufige Metaphern verdeutlichen (lebendiges Schweigen, das Schweigen der Waffen). Wenn wir auf diese Weise das Schweigen auch als ein sinnstiftendes Verhalten oder gar Handeln verstehen, dann negiert es natürlich nicht Sinnbildungs- bzw. Kommunikationsprozesse, sondern macht uns nur auf die Grenzen bzw. die Ergänzungsbedürftigkeit des begrifflichen Zeichengebrauchs aufmerksam bzw. darauf, dass es Denkinhalte geben kann, die sich nicht direkt verbalisieren lassen oder die man nicht verbalisieren möchte. Das Schweigen kann dann auch einen Beitrag dazu leisten, verbale Kommunikationsroutinen zu unterbrechen, zu unterlaufen oder zu problematisieren und Sinnbildungsverfahren zu erproben, die zwar auch von der Sprache Gebrauch machen, aber nicht unbedingt von der begrifflichen und argumentativen Rede. Els Oksaar hat sogar ethnographisch zwischen einer Redekultur in den südeuropäischen Ländern und einer Schweigekultur in den nordeuropäischen Ländern gesprochen. Während man in Redekulturen die einzelnen Redepausen recht kurz halte, weil man sie im Prinzip als ein zu überwindendes Schweigen verstehe, fielen sie in Schweigekulturen wesentlich länger aus, weil man sie als Formen der Höflichkeit und Zurückhaltung verstehe. Gerade in Skandinavien gelte das Schweigen nicht als Distanzsignal, sondern vielmehr als eine Ausdrucksform von Höflichkeit.88 Der Umstand, dass das Sprechen und Schweigen sich zwar vordergründig wechselseitig negieren, aber hintergründig dialektisch ergänzen, kettet beide
�� 88 E. Oksaar, Pragmatische Aspekte des Schweigens, in: A. Burkhardt/D. Cherubim (Hrsg.), Sprache im Leben der Zeit, 2001, S. 404ff.
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Phänomene anthropologisch unauflöslich aneinander. Wilhelm Weischedel kommt deshalb auch zu der Grundüberzeugung, dass das, was im Schweigen erfahren werden könne, keineswegs etwas Belangloses sei, und dass es deshalb auch nicht mit leerer Stummheit gleichzusetzen sei. „Die Sprache des Schweigens ist nicht das Schweigen der Sprache.“ Im Schweigen könnten wir ganz andere Wirklichkeitserfahrungen machen als im Sprechen. „Im Schweigen spricht uns die Wirklichkeit an, noch ehe sie sich ins Wort ausgelegt hat. Das Schweigen ist die Antwort auf die Tiefe der Welt.“ „Schweigenlernen heißt zugleich Hörenlernen.“89 Diese Interpretation der Leistungsfähigkeit des Schweigens muss man nicht nur als das Ergebnis tiefschürfender phänomenologische Analysen ansehen. Sie lässt sich auch als Ergebnis einer allgemeinen Lebenserfahrung verstehen, die nicht zuletzt auch in Chanson-Texte Eingang gefunden hat. Das dokumentiert sich in einem Lied der Sängerin Daliah Lavi aus dem Jahre 1972. Meine Art, Liebe zu zeigen, Das ist ganz einfach Schweigen, Worte zerstören, Wo sie nicht hingehören.
Das Schweigen bzw. die Diskretion ist immer wieder als eine besondere Kulturleistung gewürdigt worden. Schon in der Antike wurde die Rose als Sinnbild der Verschwiegenheit angesehen, weil sie mehr verhülle als offenbare und weil sie sich durch ihre Stacheln vor einer vorschnellen Inbesitznahme zu wehren wisse. Was in den Zusammenkünften den Geheimbünden unter dem Zeichen der Rose gesagt wurde (sub rosa dictum), verpflichtete zu einer absoluten Verschwiegenheit. Deshalb wurden dann auch Beichtstühle mit Rosen verziert. Georg Simmel hat ausdrücklich betont, dass Kultur sich erst im Wechselspiel von Sprechen und Schweigen herausbilde bzw. in der Spannung von Zeichenbildung und Zeichensuche. Wird die menschliche Vergesellschaftung durch das Sprechenkönnen bedingt, so wird sie ‒ was freilich nur hier und da hervortritt ‒ durch das Schweigekönnen geformt. Wo alle Vorstellungen, Gefühle und Impulse ungebremst als Rede hervorsprudeln, entsteht ein chaotisches Durcheinander, statt eines organischen Miteinanders.“ 90
�� 89 W. Weischedel, Die Sprache des Schweigens, in: H. Hiltmann/F. Vonessen (Hrsg.), Dialektik und Dynamik der Person, 1963, S.287‒304, hier S. 295, 301 und 302. 90 G. Simmel, Soziologie, Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe Bd. 11, 1992, S. 426, Anm. 1.
7 Negationshaltige Textformen Die Frage, in welcher Hinsicht und Intensität bestimmte Textformen Negationsimplikationen haben, lässt sich weder systematisch noch normativ beantworten, sondern allenfalls exemplarisch und hermeneutisch. Grundsätzlich ist nämlich bei Texten immer mit bestimmten Negationsimplikationen zu rechnen, weil wir sie ja nicht nur als Individualtexte wahrnehmen, sondern zugleich immer auch als Repräsentanten von bestimmten Texttypen, für die wir jeweils bestimmte Vorerwartungen hinsichtlich ihrer Informationsinhalte bzw. ihrer Analogie- und Oppositionsrelationen zu anderen Texttypen haben. Dabei ist dann allerdings zu beachten, dass solche Textmuster keine stabilen Naturformen sind, sondern vielmehr leicht abwandelbare Kulturformen. Gerade weil wir Einzeltexte als Repräsentanten von bestimmten Texttypen wahrnehmen, haben wir natürlich auch immer bestimmte Vorerwartungen im Hinblick auf das, was in ihnen affirmiert oder negiert werden soll, obgleich wir gleichzeitig natürlich auch wissen, dass in ihnen immer wieder mit diesen Vorerwartungen gespielt werden kann oder gar soll. Lebendigkeit bekommen Texte freilich nur, wenn wir in ihnen nicht nur das schon Erwartete vorfinden, sondern wenn wir in ihnen auch mit etwas Unerwartetem konfrontiert werden. Nur dann werden sie nämlich zu wirklichen Dialogpartnern, die den Rezipienten auch die Chance bieten, ihre Rolle als bloß informationsaufnehmende Instanzen aufzugeben und zu sinnstiftenden Personen zu werden. Texte, die mit Hilfe einer normierten Protokollsprache nur das abzubilden versuchen, was ist, könnten im Prinzip eigentlich ohne direkte Negationsformen auskommen, weil sie weder als widerständige Dialogpartner noch als Ausdrucksformen von individuellen Sinnbildungsanstrengungen angesehen werden wollen. Das exemplifiziert sich sehr schön in einer These des frühen Wittgenstein über die Strukturen und Zielsetzungen der rein deskriptiven wissenschaftlichen Aussageweisen. „Die Möglichkeit des Satzes beruht auf dem Prinzip der Vertretung von Gegenständen durch Zeichen.“1 Im Gegensatz zu diesem abbildend orientierten Sprachverständnis kann weder der natürliche dialogische Sprachgebrauch noch die Bildung von Texten mit einem komplexen mehrschichtigen Sinnbildungsanspruch ohne explizite und implizite Negationsformen auskommen. Solche Texte müssen nämlich sowohl auf den Wissens- und Erwartungshorizont von möglichen Rezipienten abgestimmt werden als auch auf den adäquaten Umgang mit dem jeweils zur
�� 1 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 4.0312, 19684, S. 37.
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Verfügung stehenden Objektivierungsmedium Sprache. In Texten, die als Dialogpartner bzw. die als interpretationsbedürftig verstanden werden wollen, müssen sachthematische und reflexionsthematische Informationen so miteinander verschränkt werden, dass dadurch Sinngebilde entstehen, die unterschiedliche Sinnschichten besitzen bzw. denen kategorial unterscheidbare Mitteilungsfunktionen zukommen können. Dazu gehört dann nicht zuletzt auch das Wechselspiel von affirmativen und negierenden Einzelinformationen. Im Folgenden soll nun an unterschiedlichen Texttypen exemplarisch aufgezeigt werden, welche spezifischen Negationsimplikationen Texte potenziell besitzen können. Am Beispiel der etablierten Texttypen Aphorismus und Witz soll demonstriert werden, wie mit expliziten und impliziten Negationen gespielt werden kann, um gerade auf solche Korrelationszusammenhänge hinzuweisen, die in der Regel nicht im Fokus unserer normalen Aufmerksamkeit liegen. Am Beispiel von Lügen und Fiktionen, die zwar nicht als etablierte Texttypen gelten können, aber durchaus als etablierte Verwendungsformen von Sprache, soll gezeigt werden, dass auch in diesen Gebrauchsformen von Sprache das Phänomen der Negation eine ganz konstitutive sinnbildende Rolle spielen kann.
7.1 Der Aphorismus Obwohl uns heute der Terminus Aphorismus als Bezeichnung für einen bestimmten Typ von Texten sehr vertraut ist, würde es uns sicherlich schwerfallen, für den mit diesem Terminus bezeichneten Begriff eine befriedigende Definition zu finden, die zugleich auch als eine Realdefinition für die damit benannten Textmuster angesehen werden könnte. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die mit diesem Begriff zu erfassenden Textformen eine lange kulturelle Entwicklungsgeschichte aufweisen und dass historisch gewachsene Phänomene eher aspektuell beschrieben als erschöpfend definiert werden können. Der Texttypus Aphorismus lässt sich zumindest im Sinne einer ahistorischen Wesensdefinition nicht befriedigend nach dem klassischen Definitionsschema objektivieren. Dafür müsste nämlich die nächst höhere Gattung (genus proximum) und die spezifische Besonderheit (differentia specifica) dieses Texttyps klar erkennbar und benennbar sein, was kaum möglich ist. Wenn nun aber statt einer deskriptiven Wesensdefinition eine normsetzende Nominaldefinition formuliert wird, dann besteht natürlich die Gefahr, zum Gefangenen seiner eigenen Begriffskonstruktion zu werden, insofern dadurch Wahrnehmungsperspektiven zwar konzentriert und geschärft, aber zugleich auch eingeschränkt werden. Aus diesem Dilemma kommt man nur heraus, wenn man sich hypothetische Arbeitsbegriffe bildet, die es ermöglichen, seine
302 � Negationshaltige Textformen Aufmerksamkeit genau auf diejenigen Sachaspekte von Phänomenen zu konzentrieren, die einen besonders interessieren bzw. die den historischen und systematischen Gebrauch dieser Begriffe nachhaltig geprägt haben. Im Sinne eines solchen Arbeitsbegriffs sollen hier nun unter dem Terminus Aphorismus alle Textformen begrifflich zusammengefasst werden, die morphologisch als Einzelsätze oder als kleine, gut überschaubare Satzverbünde in Erscheinung treten und die zugleich auch einen hohen Grad an Sinnautarkie haben, weil sie in keine umfassenderen narrativen oder argumentativen Sinnzusammenhänge eingebettet sind. Die Eigenständigkeit von Aphorismen schließt natürlich nicht aus, dass sie eine ganz bestimmte historische Entstehungsgeschichte haben sowie vielfältige pragmatische Intentionen. Weiterhin ermöglicht es diese Bestimmung, dass Aphorismen auch ein hohes Anregungs- und Provokationspotential zugeordnet werden kann. Aphorismen können unter diesen Umständen nicht nur als spezifische Sprach-, Stil- und Textformen angesehen werden, sondern zugleich auch als spezifische Sinnbildungsweisen, die sich sogar zu spezifischen Denk- oder gar Lebensformen ausweiten können. Diese grobe Vorverständigung über die Gestalt und Funktion von Aphorismen schließt ein, dass man nicht nur ein systematisch-strukturelles, sondern auch ein historisch-genetisches Interesse auf sie richten kann. Sie können nämlich zugleich auch immer als Indizien für bestimmte historische Situationen und möglicherweise auch als Stimulanzien für die Entfaltung von ganz spezifischen Denk- und Handlungsprozessen wahrgenommen werden. Dadurch ergibt sich dann auch eine Familienähnlichkeit von Aphorismen zu verwandten Textmustern wie etwa Sprichwörtern. Die immanente Dynamik von Aphorismen dokumentiert sich auch darin, dass im Laufe der Kulturgeschichte immer wieder andere Bezeichnungen für Aphorismen in Umlauf gekommen sind, die zum Teil als sprechende Namen schon eine inhaltliche Erläuterungsfunktion haben: Lehrsatz, Sentenz, Maxime, Sinnspruch, Fragment, Ideenwürfel, Samenkorn, Blütenstaub, Gedankenfunke, Fingerzeig, Pfennigs-Weisheit usw. All diese begrifflichen und metaphorischen Benennungen verdeutlichen, dass der Texttypus Aphorismus nicht nur wegen seiner morphologischen Übersichtlichkeit einen hohen Grad an Gestalthaftigkeit hat, sondern auch wegen seiner pragmatischen Funktionalität. Die Sinnträchtigkeit von Aphorismen besteht nämlich vor allem darin, dass sie einerseits in ihren konkreten Sachaussagen zwar sehr übersichtlich und klar sind, aber dass sie andererseits auch unübersehbar deutlich dazu auffordern, die von ihnen objektivierten Denkinhalte weiter zu spinnen, mit anderen zu analogisieren und hinsichtlich ihrer pragmatischen Relevanz zu prüfen. Aphorismen zwingen uns ständig dazu, konventionalisierte Sprach- und Sachgrenzen zu transzendieren und bestimmte Denkinhalte in gewissen Hinsichten zu affirmieren und in anderen zu negieren. Dieses
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Funktionsprofil von aphoristischen Äußerungen berechtigt deshalb auch dazu, sie begrifflich als einen ganz spezifischen Texttyp bzw. als eine eigenständige Textsorte zusammenzufassen. Angesichts dieser Rahmenbedingungen ist es nun eigentlich recht erstaunlich, dass in den bisherigen Untersuchungen zur Aphorismen weitgehend darauf verzichtet worden ist, näher zu untersuchen, welche Rolle das Wechselspiel von Negation und Affirmation in ihrer Entstehungs-, Gebrauchs- und Wirkungsgeschichte gespielt hat. Ganz offensichtlich leben nämlich Aphorismen davon, dass sie einerseits zwar klare Oppositionen und Kontraste aufbauen, aber andererseits diese auch immer wieder transzendieren, dass sie einerseits zwar etwas klar vorstellbar machen, aber andererseits auch immer implizit dazu auffordern, das Gesagte nur als Exempel für etwas ganz anderes anzusehen. Aphorismen sollen Unruhestifter sein, deren Funktion nicht darin besteht, das Denken ergebnisorientiert zu beruhigen, sondern vielmehr darin, es inspirierend anzuregen. Deshalb ist es auch zu kurz gedacht, sie nur als Stilformen anzusehen. Sie sind vielmehr als experimentelle Denkformen zu betrachten, mit deren Hilfe tradierte Denkweisen problematisiert und neue erprobt werden können. Ihre pragmatische Funktionalität und Wahrheit liegt deshalb auch weniger in ihrer Abbildungs-, sondern eher in ihrer Anregungs-, wenn nicht Provokationskraft.
7.1.1 Genese und Funktion von Aphorismen Wenn man sich mit der Genese und den Intentionen von Aphorismen beschäftigt, dann stößt man auf eine spannungsreiche, wenn nicht paradoxe Dialektik. Einerseits können sie nämlich als normsetzende Weisheiten in Erscheinung treten, die bestimmte Erfahrungen bündeln, und andererseits als zu erprobende Weisheiten, die gedankliche Anstrengungen nicht abschließen, sondern vielmehr zu provozieren versuchen. Einerseits muss man sich mit ihren offensichtlichen und verdeckten Affirmationsimplikationen beschäftigen und andererseits auch mit ihren möglichen Negationsimplikationen. Aber gerade in diesen Besonderheiten offenbart sich nun, dass Aphorismen einen Sitz im Leben haben. Sie können nämlich sowohl Ordnungsstrukturen stabilisieren als auch erneuern sowohl etwas erfassen als auch transzendieren. Auf diese Dialektik von Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen bei Aphorismen verweist schon die Etymologie des Wortes Aphorismus. Dieses leitet sich nämlich von dem gr. Verb aphorizein ab, das so viel wie abgrenzen, unterscheiden und bestimmen bedeutet. Diese Wortgeschichte legt es nahe, unter einem Aphorismus zunächst so etwas wie eine Definition bzw. einen Lehrsatz
304 � Negationshaltige Textformen zu verstehen, der bestimmtes Wissen als relevantes Wissen zusammenfasst und von einem diffusen Wissen abgrenzt. Dementsprechend wurden im griechischen Kulturkreis dann auch zunächst die medizinischen Lehrsätze des Hippokrates als Aphorismen bezeichnet, weil diese gleichsam als prägnante Leitsätze das ärztliche Handeln steuern und erleichtern sollten. Gleichzeitig hatten diese Aphorismen aber auch die Funktion, unbegründetes Quacksalberwissen von gesichertem Erfahrungswissen abzugrenzen. Indem sie begründetes Erfahrungswissen affirmierten, sollten sie natürlich auch unbegründetes negieren. Wenn man auf diese Weise Aphorismen als verlässliche Wissensspeicher ansieht, dann wird auch gut verständlich, warum der Terminus Aphorismus auch zur Bezeichnung von praktischen Lebensweisheiten verwendet werden konnte, wie sie etwa in den Sprüchen Salomos oder in den Lehrsätzen von Philosophen zum Ausdruck gekommen sind. Gleichwohl hat man aber festzuhalten, dass man Aphorismen zunächst meist immer als praktische Mitteilungsund Stilformen verstanden hat und kaum als philosophische Denk- oder Sinnbildungsformen, die sogar zu Lebensformen tendieren konnten wie beispielsweise in der Romantik. Diese sehr praktisch orientierte Sichtweise hat sich dann aber entscheidend durch Francis Bacon verändert. Bacon hat nämlich in seiner Wissenschaftslehre (Novum organum scientarium) seine wissenschaftstheoretischen Lehrsätze und Thesen ausdrücklich als Aphorismen bezeichnet. Das kann nun durchaus als eine sehr dezidierte Negation von scholastischen und rationalistischen Denkverfahren verstanden werden. Diese waren nach Bacon nämlich primär bestrebt, in sich stimmige Denksysteme zu konstruieren und Einzelwissen aus dogmatisch-axiomatischen Grundüberzeugungen abzuleiten bzw. zu legitimieren. Demgegenüber vertrat Bacon nun die Auffassung, dass zuverlässiges Wissen nur aus gesichertem Erfahrungswissen zu gewinnen sei, das zweckdienlich miteinander verbunden werde. Diese Grundüberzeugung hat Bacon auch bildlich veranschaulicht. Brauchbare Erkenntnisse ließen sich weder dadurch gewinnen, dass man nach dem Vorbild der Ameisen auf empirische Weise vielfältiges Einzelwissen zusammentrage, noch dadurch, dass man nach dem Vorbild der Spinnen kunstvolle Hypothesennetze aus seiner eigenen Substanz herstelle, in denen sich dann möglicherweise etwas anderes verfangen könne. Vielmehr solle man nach dem Vorbild der Bienen Materialien sammeln und diese dann integrativ zu etwas Neuem verarbeiten.2 Durch diesen Vergleich will Bacon verdeutlichen, dass weder das empirische Sammeln von Einzelwissen noch die Ableitung von Wissen aus vorgegebenen Begriffen und Dogmen zur Ausbildung verlässlichen Wissens führe, �� 2 Vgl. W. Krohn, Bacon, in: O. Höffe (Hrsg.), Klassiker der Philosophie I, 19852, S. 271f.
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sondern nur die sinnvolle Verbindung von konkretem empirischen Teilwissen zu einem umfassenden und belastbaren Gesamtwissen. Erfahrungsgesättigte Lehrsätze bzw. Aphorismen sind für Bacon nun die entscheidenden Kristallisationskerne für die Konkretisierung eines verlässlichen Wissens von der Welt, sofern sie ihren Wert in konkreten Handlungsprozessen erwiesen haben und sofern sie immanent außerdem dazu zwingen, nach ihren jeweiligen Prämissen und Konsequenzen zu fragen. Deshalb sind Aphorismen für ihn auch nicht nur Stil- und Textformen für die Fixierung von Einzelwissen, sondern zugleich immer auch Denkformen bzw. Denkstrategien zur Erzeugung von verlässlichem weiteren Wissen. Gerade weil Aphorismen für ihn ergänzungsbedürftige und ergänzungsfähige Manifestationsformen von Wissen sind, verleihen sie dem Denken eine fruchtbare Eigendynamik, die sich darauf richten kann, traditionelle Unterscheidungen und Grenzen nicht nur zu legitimieren, sondern auch zu verschieben oder gar zu negieren. Da für Bacon menschliches Denken und Können letztlich zusammenfallen, ist ihm das aphoristische Denken und Sprechen auch besonders wichtig, um unberechtigte Vorurteile und Trugbilder bzw. Idole zu identifizieren und zu beseitigen, insofern diese für ihn immer auch Formen der Gefangenschaft sind. Nur adäquate Formen des Wissens dürfen für ihn als Formen der Macht in Erscheinung treten, aber keineswegs Trugbilder und Vorurteile. Dabei hat Bacon vor allem vier Typen von Trugbildern bzw. Idolen im Auge. Die Idole der Gattung resultieren für ihn aus der spezifischen biologischen Natur der Menschen, da sie von vornherein immer ganz bestimmte Wahrnehmungsperspektiven für die Erfassung der Welt nahelegen. Die Idole des Standpunktes bzw. der Höhle leiten sich für ihn aus der individuellen Wahrnehmungsperspektive von Menschen ab. Die Idole der Gesellschaft entstammen für ihn aus den vorgegebenen Denkmustern, die sich insbesondere in der Sprache niedergeschlagen haben. Die Idole der Bühne entstehen für ihn aus den etablierten Denksystemen und Denktraditionen.3 Die Grundüberzeugung, dass sich durch Aphorismen inadäquate vorgegebene Denkmuster und Denktraditionen am besten aufbrechen und relativieren lassen, hat auch das Denken von Lichtenberg geprägt. Dieser hat zwar selbst seine zugespitzten Äußerungen nicht als Aphorismen bezeichnet, aber sie haben in Deutschland gleichwohl doch nach und nach den Status von prototypischen Aphorismen bekommen. Sie erfüllen nämlich nahezu idealtypisch sowohl die für Aphorismen postulierten Stilnormen (Kürze, Pointierung, Bildlichkeit) als auch die für sie postulierten pragmatischen Funktionen (Auslösung �� 3 F. Bacon, Neues Organon der Wissenschaften, 1981, S. 32ff, Nr. 38‒44.
306 � Negationshaltige Textformen einer Denkdynamik, Problematisierung von Denk- und Sprachkonventionen, Aufbau von neuen Wahrnehmungsstrukturen). Seine Aphorismen scheinen auf vorbildliche Weise auch eine aphoristische Feststellung Jean Pauls zu bestätigen: „Sprachkürze gibt Denkweite.“4 Aphorismen haben für den Experimentalphysiker Lichtenberg ihren besonderen Reiz darin, dass sie nicht als Ergebnisse von logischen Schlussfolgerungen in Erscheinung treten, sondern eher als Blitze, die ein bestimmtes Sachoder Problemfeld erhellen. Sie sollen weder tradierte noch abgeleitete Wahrheiten verkünden, sondern vielmehr neue Wahrnehmungsperspektiven für etwas scheinbar schon alt Bekanntes eröffnen. Im Idealfall sind sie im Sinne der kopernikanischen Wende von Kant dazu bestimmt, überkommene Sichtweisen vollkommen umzukehren bzw. auf den Kopf zu stellen. Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung. Die Berge haben ihre Spitzen oben die Eiszapfen unten.5
Die Aphorismen Lichtenbergs beeindrucken durch ihre sprachliche Prägnanz im Sinne von Sinntiefe und Sinnschärfe sowie durch ihren Anreiz, das jeweils Gesagte, irgendwie in die eigenen Lebenserfahrungen zu integrieren. Sie wollen nicht allgemeinen Wahrheiten zur Schau stellen, sondern vielmehr dazu motivieren, tradierte Unterscheidungen nicht als selbstverständlich, sondern als gemacht wahrzunehmen. Sie sollen etwaige Verkrustungen des Denkens aufbrechen und uns anregen, polyperspektivisch zu denken. Lichtenbergs Verfahren, Einzelwahrheiten gerade dadurch ernst zu nehmen, dass man sie als „Pfennigs-Wahrheiten“ in Sudelbüchern sammelt, um ihnen auf diese Weise einen konstruktiven Stellenwert in anderen bzw. übergeordneten Denkzusammenhängen geben zu können, hat er selbst in einem Aphorismus thematisiert. Schmierbuch-Methode bestens zu empfehlen. Keine Wendung, keinen Ausdruck unaufgeschrieben lassen. Reichtum erwirbt man sich auch durch Ersparung der PfennigsWahrheiten.6
Die Wahrnehmung von Aphorismen als Pfennigs-Wahrheiten legt nahe, Einzelerfahrungen immer in umfassendere Zusammenhänge einzubinden, weil sie nur in der Dialektik von Teil und Ganzem wirklich gewürdigt werden können. �� 4 Zitiert nach G. Figuth, Deutsche Aphorismen, 1978, S. 300. Vgl. auch J. Paul, Vorschule der Ästhetik, § 45, Werke Bd. 9, 1975, S. 175ff. 5 G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher II, 19803, S. 166, G. 189; S. 504, L 817. 6 G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher I, S. 639, F. 1219.
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Diese Notwendigkeit hat auch Friedrich Schlegel in einem Athenäumsfragment betont. Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.7
Wie sehr Aphorismen als spezifische Kampfmittel verstanden werden können, die erstarrte Denksysteme auflösen sollen und können, lässt sich auch am Denken Nietzsches demonstrieren. Besonders apart ist dabei, dass Nietzsche Aphorismen insbesondere dazu verwendet, gegen die Denkschemata zu Felde zu ziehen, die sich in unserer Sprache stabilisiert, wenn nicht verknöchert haben. Dabei wird dann auch offenbar, dass bei ihm die Aphorismen ihren Charakter als Pfennigs-Wahrheiten bzw. als Bausteine umfassenderer Wahrheiten verlieren und eher zu Kampfwerkzeugen werden, mit denen konventionelle Sprachund Denkmauern eingerissen werden sollen. Aphorismen werden für Nietzsche Manifestationsformen des Willens zur Macht, die in selbstreflexiver Weise auch die Macht der Sprache brechen sollen, die sich in deren ständigen Kategorisierungsbestrebungen äußert. Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.8 Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der »Ewigkeit«; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder andre in einem Buche sagt ‒ was jeder andre in einem Buche nicht sagt ... 9
Wenn man betont, dass Aphorismen Denkprozesse anregen und provozieren sollen, weil sie in vielen Hinsichten ergänzungsbedürftig sind oder Widerspruch provozieren, dann darf man darüber nicht vergessen, dass sie Denkprozesse natürlich auch auf eine einprägsame Weise abschließen können. Das ist z. B. bei Goethe der Fall, der seine Sentenzen deshalb auch aufschlussreicher Weise nicht als Aphorismen bezeichnet hat, sondern viel mehr als Maximen und Reflexionen. Wenn man sie gleichwohl doch unter die Aphorismen einreiht, dann kann man dadurch verdeutlichen, dass es zur Dialektik von Aphorismen gehört, dass sie prinzipiell sowohl systemsprengende als auch systembildende Aufgaben haben können bzw. negierende und affirmierende Sinnbildungsfunktionen.
�� 7 F. Schlegel, Kritische Schriften, 19642, S. 31. 8 F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Werke Bd. 2, 19797, S. 946, Nr. 26. 9 F. Nietzsche, a. a. O., Bd. 2, S. 1026, Nr. 51.
308 � Negationshaltige Textformen 7.1.2 Grenzziehungsfunktionen von Aphorismen Die These, dass Aphorismen immer etwas mit der Negations- und Affirmationsproblematik zu tun haben, legt es nahe, sich etwas genauer mit der Grenzziehungsfunktion von Aphorismen zu beschäftigen. Dabei lassen sich dann zwei unterschiedliche Typen von Grenzbildungen voneinander unterscheiden. Zum einen kann man nämlich auf Grenzziehungen verweisen, die mit dem Aphorismus als einer speziellen Denkform zusammenhängen, was am Beispiel des aphoristischen Denkens und Sprechens bei Bacon, Lichtenberg und Nietzsche sehr deutlich in Erscheinung getreten ist. Zum andern kann man aber auch darauf verweisen, dass in konkreten Aphorismen immer wieder von expliziten oder impliziten Negationsformen Gebrauch gemacht werden muss, weil Aphorismen prinzipiell eine sprachkritische Dimension haben, insofern sie oft die Semantik von überlieferten Begriffen in Frage stellen, um eben dadurch auf die Sprache als ein eigenständiges Sinnbildungsmittel aufmerksam zu machen. In diesem Zusammenhang hat man sich dann immer auch zu vergegenwärtigen, dass Aphorismen nicht nur einen Analyse-, sondern auch einen Syntheseanspruch stellen. Sie dienen nicht nur dazu, Trennlinien zu ziehen, sondern auch dazu, neue Relationsgeflechte herzustellen bzw. die Welt in anderen Perspektiven wahrzunehmen. Deshalb Klaus Heinrich betont, dass hinter dem Aphorismus nicht nur die Absicht stehe, etwas von etwas anderem zu trennen, sondern auch die Intention, „das Getrennte besser zusammenzufügen.“10 Aphorismen haben zwar die Aufgabe, gegebene Denk-, Lebens- und Sprachsphären voneinander abzugrenzen, aber zugleich auch immer das Ziel, neuartige Korrelationen herzustellen. Sie sollen etwas so verfremden, dass wir es auf andere Weise kennenlernen können. Sie müssen ihre Trennlinien so ziehen, dass das Getrennte auch wieder neu mit anderem zusammenwachsen kann und nicht immer Fragment bleiben muss. Gerade weil Abgrenzungen in Aphorismen immer auch Gestaltbildungsfunktionen haben, können ihnen dann sogar wichtige Erkenntnisfunktionen zugeordnet werden. Deshalb hat Spinoza auch die These vertreten, dass Gestaltbildungsprozesse auf konstitutive Weise immer mit Negationsprozessen verknüpft seien. In einem Brief an seinen Freund Jelles schreibt er Folgendes: „Da also Gestalt nichts anderes ist als Bestimmung und Bestimmung Verneinung, so wird sie wie gesagt nichts anderes sein können als Verneinung.“11 Diese These hat dann in der
�� 10 K. Heinrich, Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, 1964, S. 27. 11 B. de Spinoza, Brief an J. Jelles vom 2. 6. 1674, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 210. Vgl. auch K. P. Liessmann, Lob der Grenze, 2012, S. 29‒44.
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markanten Kurzform, dass jede Determination auf einer Negation beruhe (omnis determinatio est negatio) über Jacobi und Hegel eine bedeutsame philosophische Karriere gemacht. Da unsere sprachlichen Begriffsbildungsprozesse ständig vor der Aufgabe stehen, Grenzen zu ziehen und wieder aufzuheben bzw. Grenzziehungen zu erproben, lassen sich viele Aphorismen auch als Begriffsbildungsspiele verstehen. In diesen steht dann nicht nur der semantische Gehalt von Einzelbegriffen zur Debatte, sondern auch ihre Einbettung in Begriffsfelder und die ethische Bewertung der jeweils von ihnen thematisierten Inhalte. Das bedeutet, dass einzelne aphoristische Behauptungen ein Sinnbildungspotenzial haben können, das sowohl ihre Erzeuger als auch ihre Rezipienten anfangs noch gar nicht ganz überblicken können, weil neue Lebens- und Reflexionserfahrungen Aphorismen immer wieder einen neuen Sinngehalt geben können. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass aphoristische Sinnbildungsspiele nachhaltigen Gebrauch von expliziten und impliziten Negationsmitteln machen. Das mögen drei Aphorismen exemplifizieren, in denen der adjektivische Begriff reich reflexionsthematisch zur Debatte gestellt wird. Reich ist man nicht durch das, was man besitzt, sondern mehr noch durch das, was man mit Würde zu entbehren weiß. (Epikur) Reich ist man nicht durch das, was man besitzt, sondern mehr noch durch das, was man mit Würde zu entbehren weiß. Und es könnte sein, dass die Menschheit reicher wird, indem sie ärmer wird, dass sie gewinnt, indem sie verliert. (Immanuel Kant) Reich wird man nicht durch das, was man verdient, sondern durch das, was man nicht ausgibt. (Henry Ford)
Epikur verneint über das Negationswort nicht explizit die übliche Vorstellung, dass Reichtum auf konkreten Besitz zurückzuführen sei. Stattdessen postuliert er, dass man dadurch reich sei, dass man auf materielle Güter verzichten könne. Über diese Behauptung zwingt er uns dazu, bei dem Verständnis des Wortes reich gleichsam eine kopernikanische Wende vorzunehmen und zu akzeptieren, dass man über den Weg des würdevollen Verzichtes reich werden könne. Diese implizite Uminterpretation des Adjektivs reich bzw. der Verben besitzen und entbehren wäre im Rahmen eines asketischen oder religiösen Lebensverständnisses eigentlich nicht sehr erstaunlich. Bei Epikur wird sie es aber, weil dieser ja ein lustvolles Leben (Hedonismus) propagiert hat und kein asketisches. Wenn man sich nun aber vergegenwärtigt, dass es Epikur letztlich darauf ankam, die Ursachen körperlichen und seelischen Schmerzes aufzuspüren und zu beseitigen, dann gewinnt sein vordergründig etwas paradoxer Aphorismus
310 � Negationshaltige Textformen hintergründig an Stimmigkeit. Erstrebenswert erscheint Epikur nämlich einerseits die Abwesenheit von Beunruhigung (Ataraxis) und andererseits der Zustand der Selbstgenügsamkeit (Autarkie). Deshalb kann dann für ihn auch der Verzicht auf überflüssigen Besitz zu einer Steigerung der Lebenslust führen. Die Negation von Reichtum im üblichen Sinne hat so gesehen dann auch die Funktion der Affirmation von Reichtum in einem ganz anderen Sinne. Wenn nun Kant den Aphorismus von Epikur wieder zustimmend aufnimmt, dann will er damit wohl weniger das etwas instrumentelle Tugendverständnis von Epikur wiederbeleben. Vielmehr strebt er an, ein Besitz- und Verzichtsdenken zu propagieren, das zu seinem kategorischen Imperativ passt und eben darüber dann auch seine soziale und ethische Rechtfertigung bekommen kann. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Kant Epikurs Aphorismus in einem Satz im Konjunktiv II weiterführt, der nicht etwas direkt behauptet, sondern hypothetisch zu bedenken gibt. Damit stellt er klar, dass es ihm weniger darum geht, die Bedeutung der Wörter reich, besitzen und entbehren semantisch umzupolen, sondern vielmehr darum, eine andere Wahrnehmungsperspektive für die Erfassung ihres Sinngehaltes zu eröffnen, welche die begrifflichen Grenzziehungen relativiert, die traditionell mit diesen Wörtern verbunden sind. Der Aphorismus von Henry Ford ist dagegen sehr viel simpler strukturiert als der von Epikur bzw. Kant. In ihm hat die Negation einen weitgehend sachthematischen Sinn, weil sie argumentativ die Ursachen der Entstehung von Reichtum klären soll. Sie leistet keinerlei Beitrag dazu, reflexionsthematisch herauszuarbeiten, was man unter Reichtum zu verstehen hat. Die mit ihm verbundenen Provokationen sind daher recht überschaubar und zwingen nicht zu Überlegungen im Hinblick auf eine neue Sinndeutung von Reichtum. Gerade weil Aphorismen auf provokative Weise traditionelle Verstehensprozesse und Grenzziehungen stören sollen, spielen in ihnen natürlich alle expliziten und impliziten Formen der Negation eine ganz wichtige Rolle. Das mögen die folgenden Aphorismen exemplifizieren, die allesamt unsere gewohnten Affirmations- und Negationsstrukturen im Denken stören. Die Bauernmädchen gehen barfuß, und die Vornehmen barbrust.12 „Es missfällt mir.“ ‒Warum? „Ich bin ihm nicht gewachsen.“ ‒ Hat je ein Mensch so geantwortet? 13
�� 12 G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher I, 19803, S. 279, D 303. 13 F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Werke, Bd. 2, 19737, S. 641, Nr. 185.
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Gefesselte Hände können keinen Beifall klatschen.14 Die erste Vorbedingung für die Unsterblichkeit ist das Sterben.15 Die Menschen, denen wir eine Stütze sind, die geben uns Halt im Leben.16
7.1.3 Sinnbilder für Aphorismen Im Laufe der Kulturgeschichte hat man sich die Struktur und Funktion von Aphorismen durch recht unterschiedliche Sinnbilder präsent gemacht. Deshalb sollen nun gerade solche Sinnbilder exemplarisch näher betrachtet werden, mit deren Hilfe man sich insbesondere die Affirmations- und Negationsimplikationen von Aphorismen gut vergegenwärtigen kann wie zum Beispiel Baustein, Fragment, Torso, Fenster oder Licht. Die bisherigen Hinweise zur Genese von Aphorismen haben deutlich gemacht, dass Aphorismen zunächst weitgehend im Sinne von Bausteinen für die Entwicklung eines umfassenderen Wissens verstanden worden sind. Als medizinische Lehrsätze wurden sie zur Speicherung und Tradierung empirischen Erfahrungswissens genutzt. Sie sollten zwar nicht als Bestandteile von durchsystematisierten dogmatischen Lehrgebäuden verstanden werden, aber dennoch als verlässliche Wissensbestandteile. In ihrer Bausteinfunktion spielten sie dann aber nicht nur in der Medizin und den Naturwissenschaften eine große Rolle, sondern in Form von Maximen auch in der Lebensphilosophie und Ethik. Hier affirmierten sie den Wert bestimmter praktischer Erfahrungen und negierten den von unfruchtbaren Vorstellungen, Begriffen und Handlungen. Sie ließen sich sammeln und in Form von Lebensweisheiten oder Sprichwörtern tradieren. Ihre inhaltliche Plausibilität und bildliche Suggestivkraft immunisierte sie außerdem gegen Kritik und führte nicht zu dem Bedürfnis, sie argumentativ zu rechtfertigen. Eine andere Wahrnehmungsweise für Aphorismen ergab sich dann, als die Romantiker sie als Fragmente bzw. Bruchstücke von universalen Sinnzusammenhängen verstanden. Diese Sicht auf Aphorismen verdeutlicht, dass ihre formale Abgetrenntheit nun eigentlich nicht mehr mit der Vorstellung einer gewissen Autonomie und Autarkie in Verbindung zu bringen war, sondern vielmehr
�� 14 St. J. Lec, Das große Buch der unfrisierten Gedanken, 1971, S. 177. 15 St. J. Lec, a. a. O., S. 183. 16 Marie von Ebner Eschenbach, zitiert nach G. Fieguth (Hrsg.), Deutsche Aphorismen 1978, S. 133, Nr. 19.
312 � Negationshaltige Textformen mit dem Gedanken der Bruchstückhaftigkeit, der Ergänzungsbedürftigkeit, der Unvollendetheit oder gar des Werdens. Einerseits sollten Aphorismen als Fragmente eine gut überschaubare konkrete Gestalt haben, aber andererseits auch immer dazu anregen, die durch sie repräsentierten Vorstellungen in umfassendere Zusammenhänge zu integrieren. Ihre Bruchstückhaftigkeit sollte dazu provozieren, ihren konkreten vordergründigen Inhalt zu transzendieren. Das hatte dann zur Folge, dass Aphorismen nun weniger als Repräsentationsformen von empirisch gesichertem Wissen verstanden wurden, sondern eher als Ausgangspunkte für sinnstiftende Spekulationsprozesse. So gesehen konnte ihnen dann auch leicht die Funktion von Fermenten zugeschrieben werden, die geistige Gärungsprozesse in Gang zu setzen hatten. Das führte dann auch dazu, dass sie nach und nach weniger als Abschlusssätze verstanden wurden, sondern eher als Anfangssätze von umfassenden oder gar unabschließbaren Sinnbildungsbemühungen. Auf diese Weise wurden sie dann auch nicht als Ausdrucksformen eines wissenschaftlich orientierten feststellenden Denkens angesehen, sondern eher als Ausdrucksformen eines poetisch orientierten sinnbildenden Denkens. Wenn man Aphorismen als ergänzungs- und präzisierungsbedürftige Fragmente versteht, dann bekommen sie auch eine große Ähnlichkeit mit Skizzen. Darauf hat Max Frisch folgendermaßen aufmerksam gemacht. Die Skizze hat eine Richtung, aber kein Ende; die Skizze als Ausdruck eines Weltbildes, das sich nicht mehr schließt oder noch nicht schließt; als Scheu vor einer förmlichen Ganzheit, die der geistigen vorauseilt und nur Entlehnung sein kann; als Mißtrauen, gegen eine Fertigkeit, die verhindert, daß unsere Zeit jemals eine eigene Vollendung erreicht ‒.[…] Aphoristik als Ausdruck eines Denkens, das nie in einem wirklichen und haltbaren Ergebnis endet, es mündet immer ins Unendliche, und äußerlich endet es nur, weil es müde wird, weil die Denkkraft nicht ausreicht, und aus bloßer Melancholie, daß es so ist, macht man Kurzschluß, das Ganze als eine Taschenspielerei, um ein Unlösbares loszuwerden, indem man sich einen Atemzug lang verblüfft, damit man einen Atemzug lang nicht weiterfragt, und wenn man es später bemerkt, daß man nichts in der Hand hat als einen Knall, dann ist der Taschenspieler schon nicht mehr da ‒ allenfalls bleibt noch die Verblüffung, daß das Gegenteil seiner Aussage, die uns eben verblüfft hat, nicht minder überzeugt; natürlich gibt es auch Aphorismen, die nicht einmal stimmen, wenn man sie umkehrt.17
Während beim Verständnis von Aphorismen als Fragmenten besonders hervorgehoben wird, dass sie ergänzungsbedürftig sind, da sie Bruchstücke eines umfassenderen Sinnzusammenhangs sind, wird bei ihrem Verständnis als Tor�� 17 M. Frisch, Gesammelte Werke Bd. 2, Tagebücher, Oktober 1946, S. 448f.
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sos akzentuiert, dass sie so etwas wie Reststücke einer früheren Ordnungsgestalt sind, die wir uns mit Hilfe unserer Einbildungskraft als autonome Sinngestalt wiederherzustellen haben. Das bedeutet, dass wir die Verstehensprozesse von Aphorismen als Fragmenten eher mit sinnbildenden Konstruktionsprozessen in Verbindung zu bringen haben und ihre Verstehensprozesse als Torsos eher mit Rekonstruktionsprozessen, in denen natürlich ihre Widerständigkeiten und Eigenständigkeiten sehr viel ernster genommen werden müssen als in Konstruktionsprozessen. Dieser Unterschied in der Wahrnehmungsweise von Aphorismen erscheint auf den ersten Blick nicht als besonders groß. Er wird aber bedeutsam, wenn man sich vor Augen führt, dass ein Aphorismus der als Torso wahrgenommen wird, auf viel intensivere Weise die Rolle eines Dialogpartner übernehmen kann als ein Aphorismus, der als Fragment verstanden wird. Mit einem Torso muss sich ein Rezipient sehr viel intensiver auseinandersetzen als mit einem Fragment bzw. Bruchstück, weil er von Anfang an sehr viel intensiver als eine ganz eigenständige Sinngröße in Erscheinung tritt, die zu bestimmten Reaktionen nötigt. Diesen Tatbestand hat Rilke in seinem Sonett ›Archaϊscher Torso Apollos‹ sehr eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht: „[…] denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.“18 Wenn man sich nun die Sinnbildungskraft von Aphorismen über das Sinnbild des Fensters zu erschließen versucht, dann steht nicht der konkrete Sachgehalt ihrer jeweiligen Aussagen im Mittelpunkt des Interesses, sondern der Durchblick, den sie auf etwas von ihnen Unterschiedenes eröffnen. Wenn wir nämlich Fenster als Aussparungen in einem Mauerwerk ansehen, die dazu dienen, versperrte Sichtmöglichkeiten zu überwinden und eben dadurch unsere Kontaktmöglichkeiten mit der Welt auszuweiten, dann können wir uns nämlich sowohl über Fenster als auch über Aphorismen neue Wahrnehmungsräume erschließen, ohne unsere eigenen Lebens- und Wahrnehmungsräume verlassen zu müssen. Aphorismen ermöglichen so gesehen sowohl Ausblicke aus unseren eigenen begrenzten Denk- und Lebensräumen als auch Einblicke in andere Denk- und Lebensräume. Beide Phänomene gewähren uns zwar nicht unbegrenzte Wahrnehmungen, aber sehr wohl konzentrierte, die sowohl bestimmte Erwartungen affirmieren als auch negieren können. Außerdem ist bei der Fenstermetaphorik natürlich auch zu beachten, dass Fenster nicht nur spezifische Ausblicke und Einblicke gewähren, sondern dass sie auch Licht in unsere eigenen Lebensräume einlassen, so dass wir diese dann auch deutlicher wahrnehmen können als üblich. Eine solche Erhellungsfunkti�� 18 R. M. Rilke, Werke in drei Bänden, 1966, Bd. 1, S. 313.
314 � Negationshaltige Textformen on kann sicherlich auch Aphorismen zugeschrieben werden. Diese zeigen uns nämlich nicht nur etwas anderes, sondern erhellen uns auch das, was wir schon zu kennen glauben. Dementsprechend kann man sie dann auch als eine Art Zeigelicht verstehen, insofern uns durch sie ein Licht für die bessere Wahrnehmung solcher Welten aufgehen kann, die wir schon gut zu kennen glaubten. Aphorismen können so gesehen aber nicht nur unsere eigene Welt faktisch erhellen, sondern dieser auch durch neuartige Schattenbildung ein ganz neues Sinnrelief verleihen. Auf diesen Tatbestand hat schon Francis Bacon hingewiesen als er bekannte, dass sich in Aphorismen Sacherfahrungen niederschlagen sollten, die eine Erhellungsfunktion für zu gehende Wege haben müssten. Es nutze nichts, im Dunklen herumzutappen. Es wäre gescheiter, den Tag abzuwarten oder sich eine Laterne anzuzünden. „So nämlich verfährt eben die echte Erfahrung; sie sorgt zuerst für das L i c h t und beleuchtet damit ihren Weg.“19 So gesehen lässt sich die Erhellungs- und Sinnbildungsfunktion von Aphorismen sicherlich auch mit dem Geist der Geschicklichkeit und der Intuition (l’esprit de finesse) von Blaise Pascal in Verbindung bringen, welcher in Erkenntnisprozessen nicht so schematisch bzw. methodisch durchreguliert vorgeht wie der Geist der Geometrie (l’esprit de géométrie).20 Wenn wir auf diese Weise Aphorismen nicht nur eine feststellende Behauptungs-, sondern auch eine erschließende Handlungsfunktion zuordnen, weil sie das logische Ableitungs- und Verallgemeinerungsdenken in ihrem Universalitätsanspruch relativieren, dann lassen sie sich natürlich auch mit dem Spielgedanken in Verbindung bringen. Aphorismen werden versuchsweise bzw. heuristisch in die Welt gesetzt, um zu prüfen, was sich ergibt, wenn ihr Erhellungslicht wirksam wird. Sie lassen sich eben daher dann auch als Manifestationsformen des experimentellen Denkens ansehen.
7.1.4 Aphorismen als Formen des experimentellen Denkens Seit Bacon sind Aphorismen immer wieder ausdrücklich mit der Idee des experimentellen Denkens und mit der Kritik etablierter Sprach- bzw. Denkmuster in Verbindung gebracht worden und damit natürlich auch mit dem Negationsgedanken. Das belegen zwei Aphorismen von Lichtenberg, von denen der eine recht allgemeiner Natur ist und der andere sich direkt auf Bacon bezieht.
�� 19 F. Bacon, Neues Organ der Wissenschaften 1981, S. 61, § 82 20 B. Pascal, Über Religion, 1987, S. 19ff.
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Es war ihm unmöglich die Wörter nicht in dem Besitz ihrer Bedeutungen zu stören. Was Baco von der Schädlichkeit der Systeme sagt, könnte man von jedem Wort sagen.21
Aphorismen wollen gängige Denkmuster stören und etablierte Denkgeleise verlassen, um über unorthodoxes Querdenken Neuland zu erschließen. Ebenso wie Metaphern sind sie Kampfinstrumente gegen alle Erscheinungsformen des Dogmatismus, der empirische Erfahrungen nicht wirklich ernst nimmt. Deshalb hat auch Kant diesem ausdrücklich den Kampf angesagt. „Der Dogmatism (z. B. der Wolffischen Schule) ist ein Polster zum Einschlafen, und das Ende aller Belebung, welche letztere gerade das Wohltätige der Philosophie ist.“22 Aphorismen fördern das experimentelle Denken, weil sie Vertrautes verfremden, um Neues zu erkunden. Sie leben deshalb von Provokationen und gezielten Wechseln von Denkperspektiven. Sie sind Spielformen des Denkens, die nicht das Wissen selbst in den Vordergrund des Interesses stellen, sondern das damit verbundene Können. Deshalb kommt es bei ihnen auch weniger auf das an, was sie faktisch behaupten, sondern vielmehr auf das, was sie in Gang setzen bzw. welche Denkkräfte sie ausbilden können. Novalis hat deshalb dann auch folgende These formuliert: „Spielen ist experimentiren mit dem Zufall.“23 Damit liegt er auf einer Linie mit Lichtenberg, der darauf verweist, dass es bestimme chemische Substanzen immer schon gegeben habe, dass aber zunächst keiner sie so miteinander verbunden habe, dass daraus Schießpulver entstanden sei. Daraus schließt er dann: „[…] so muß man die Dinge vorsätzlich zusammenbringen. Man muß mit Ideen e x p e r i m e n t i e r e n.“24 Das Experimentieren mit Vorstellungen bzw. das Spielen mit Begriffen sind für Lichtenberg Verfahrensweisen, bei denen die Chance besteht, gerade das zu finden, was man gar nicht gesucht hat, da man davon ja vorab noch gar keine mögliche Vorstellung gehabt hatte oder haben konnte. Durch das Planlose Umherstreifen durch die planlosen Streifzüge der Phantasie wird nicht selten das Wild aufgejagt, das die planvolle Philosophie in ihrer wohlgeordneten Haushaltung gebrauchen kann.25
Wer spielen will, der muss sich von der Realwelt lösen und in eine Spielwelt eintreten und sich von deren Strukturverhältnissen tragen lassen. Wer aphori�� 21 G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher I, 19803, S. 186, C 158; S. 210, C 278. 22 I. Kant, Schriften zur Metaphysik und Logik, Werke Bd. 6, A 490, S. 407. 23 Novalis, Fragmente und Studien, Werke Bd. 2, 1999, S. 771, Nr. 141. 24 G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher II , 19803, S. 454, K 308. 25 G. Lichtenberg, a. a. O., S. 286, J 1550.
316 � Negationshaltige Textformen stisch denken will, der muss sich auch den aphoristischen Sprachverwendungsweisen anvertrauen und erproben, wohin diese ihn führen. Das bedeutet, dass für ihn Wörter durchaus zu variablen semantischen Größen werden, da sie in ganz unterschiedliche Sinnbildungsgeschichten bis hin zu Paradoxien verstrickt werden können. Auf jeden Fall negieren aphoristische Sprachspiele eingeschliffene Denkmuster und Sinnerwartungen. Das mögen einige Aphorismen von Stanisław Jerzy Lec exemplifizieren, die es uns unmöglich machen, Sprachformen rein konventionell ohne metasprachliche Reflexionen zu verstehen. Am Wachstum hindert den Menschen oft das eigene Dach über dem Kopf. Alles ist bereits entdeckt, nur in der Gegend der Banalität gibt es noch Neuland. Was Chaos ist? Es ist die Ordnung, die bei der Erschaffung der Welt zerstört wurde. Hat ein Kannibale das Recht, im Namen dessen zu sprechen, den er gefressen hat? Unglaublich, daß die Ganzheit nicht ihre Einzelheiten kennt.26
Das pragmatische Ziel von Aphorismen, unser Denken nicht in schon konventionalisierten Bahnen ablaufen zu lassen und darauf aufmerksam zu machen, dass es neben den deduktiven und induktiven Denkverfahren auch noch andere Sinnbildungsverfahren gibt, hat auch den Begründer der modernen Semiotik, Charles Sanders Peirce, nachhaltig beschäftigt. Er hat postuliert, dass es im Denken neben der Deduktion und Induktion auch noch das Verfahren der Abduktion gebe, das die Voraussetzungen dafür liefere, dass die beiden anderen Denkverfahren überhaupt wirksam werden könnten. Allerdings muss man sich in diesem Zusammenhang dann auch vergegenwärtigen, dass Peirce die Logik nicht nur als Lehre vom schlussfolgernden und verallgemeinernden Denken verstanden hat, sondern vielmehr als Lehre von den Strukturen des Denkens schlechthin, also auch als Lehre von den Prämissen, Zielen und Manifestationsweisen des Denkens. Peirce stellt den Begriff der Abduktion den gängigen Begriffen der Deduktion und Induktion an die Seite, um insbesondere auf die Vermittlungsfunktionen des Denkens zu verweisen. Er will darauf aufmerksam machen, dass deduktive und induktive Denkprozesse letztlich keine wirklich neuen Einsichten hervorbrächten, sondern lediglich offenbarten, dass Menschen in der Lage seien, die Implikationen der eigenen Begriffe bzw. Denkprämissen aufzudecken und die eigenen Ordnungsvorstellungen einer Erfahrungskontrolle zu unterwer�� 26 St. J. Lec, Das große Buch der unfrisierten Gedanken, 1971, S. 36, 44, 45, 143, 170.
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fen. Im Gegensatz dazu versteht er abduktive Denkprozesse als genuin kreative Geistestätigkeiten, insofern diese erst die Hypothesen herstellten, mit denen das deduktive und induktive Denken arbeite. Mit dem Begriff der Abduktion will Peirce insbesondere auf die kreativen Möglichkeiten des Denkens aufmerksam machen. Diese seien nämlich dadurch geprägt, dass sie neue Sichtweisen auf altbekannte Phänomene eröffneten und dass sie etwas miteinander korrelierten, was vorher in völlig voneinander getrennten Welten angesiedelt worden sei. Das bedeutet dann auch, dass für Abduktionsprozesse nicht nur Begriffe (notions) eine wichtige Rolle spielen, sondern auch Gefühle (feelings) und Bestrebungen (efforts).27 Diese Überlegungen von Peirce verdeutlichen, dass Aphorismen als Erscheinungsformen des experimentellen Denkens zugleich auch Manifestationsformen des abduktiven Denkens sein können, insofern in ihnen integrierende Sichtweisen auf die Welt erprobt werden, was es dann natürlich notwendig macht, tradierte zu verändern oder gar zu negieren. Gerade weil Aphorismen mit Denk- und Sprachformen spielen, müssen und können sie zugleich auch sprachhörig und sprachkritisch sein. Karl Kraus hat auf dieses spannungsvolle und kreative Miteinander von vordergründig Gegensätzlichem, aber hintergründig durchaus Verbundenem folgendermaßen hingewiesen: „Wenn ein Gedanke in zwei Formen leben kann, so hat er es nicht so gut wie zwei Gedanken, die in einer Form leben.“28 Als Sinnbildungsverfahren haben Aphorismen eine doppelte Funktion. Einerseits sollen sie unsere Wahrnehmung von Welt aus der Gefangenschaft traditioneller Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten befreien, indem sie diese problematisieren oder gar negieren. Andererseits sollen sie ihre Produzenten und Rezipienten verändern, indem sie deren Sinnbildungskräfte steigern und ihnen nahelegen, die Sprache nicht nur als Informationsmittel, sondern auch als Interpretationsmittel zu nutzen. Für Aphorismen gilt sicherlich im Besonderen das, was Paul Valéry von der Sprache im Allgemeinen gesagt hat: „Die Sprache beherrscht mich und ich beherrsche sie. In dem Maße, wie ich sie für meine Perspektive zurecht biege, verändert sie diese auch.“29 �� 27 Ch. S. Peirce, Collected Papers, 1931‒1958, 7.580. In diesem Zusammenhang ist auch das Synechismus-Konzept von Peirce aufschlussreich. Mit diesem verweist er auf die Korrelation von Teilen, die zusammengehörten, obwohl man sie in einem dualistisch ausgerichteten Denken gerne trenne. Den Terminus Synechismus übernimmt er dabei aus dem Sprachgebrauch der antiken Chirurgen, wo mit ihm die Leistung des Arztes thematisiert werde, abgetrennten Körperteilen wieder Zusammenhalt zu geben bzw. sie wieder zusammenwachsen zu lassen. (7.565) 28 K. Kraus, Beim Wort genommen, 1955, S. 238. 29 P. Valéry, Cahiers/Hefte I, 1987, S. 489.
318 � Negationshaltige Textformen 7.1.5 Aphorismus und Wahrheit Aus der Evolutionsbiologie ist uns bekannt, dass allen Lebensprozessen zwei große Gefahren drohen, nämlich zu große Ordnung und zu große Unordnung. Ähnliches gilt sicherlich auch für die Sprache, die sich selbst als flexibles Sinnbildungs- und Kommunikationswerkzeug auflöst, wenn es in ihr eine zu große oder zu geringe Regelhaftigkeit gibt. Deshalb sind auch Aphorismen und Metaphern als sprachliche Formen zu betrachten, die semantische Ordnungssysteme nicht nur stören, sondern auch lebendig halten, weil sie dabei helfen, gegenläufige Tendenzen im Denken und Sprechen in ein flexibles Fließgleichgewicht zu bringen und neue Denk- und Sprachformen auszubilden. Wenn wir nach dem Wahrheitsgehalt von Aphorismen fragen, dann wird offensichtlich, dass wir diesen weder im Rahmen der Korrespondenztheorie noch in dem der Kohärenztheorie der Wahrheit sinnvoll erfassen können. Aphorismen streben weder an, gegebene Sachverhalte prädikativ abzubilden, noch an, Teilaussagen zu machen, die sich kohärent in ein System von wahren Grundaussagen einfügen lassen. Für ihre wahrheitstheoretische Qualifizierung muss man auf Wahrheitskonzepte zurückgreifen, die ganz andere Akzente setzen und die Aphorismen als experimentelle Denkformen bzw. spielerische Sprachformen ernst nehmen. Dafür sind die beiden traditionellen Wahrheitstheorien nicht ausgelegt, weil diese nur sachthematisch orientiert sind, aber nicht zugleich auch reflexionsthematisch bzw. lebenspraktisch und pragmatisch. Gerade weil in Aphorismen die Sprache nicht nur als neutrales Abbildungswerkzeug benutzt wird, sondern immer auch als ein sinnstiftendes und anpassungsfähiges Werkzeug, muss die Frage nach der Wahrheit von Aphorismen in einem ganz anderen Denkhorizont gestellt und beantwortet werden. Das haben Aphoristiker natürlich auch erkannt, ohne allerdings zu sagen, in welchem konkreten Rahmen das jeweils erfolgen soll. Dadurch würde nämlich die stimulierende Provokationsfunktion von Aphorismen recht deutlich geschwächt. Aphorismen sind Spiele des Denkens mit sich selbst. Deshalb bedienen sich ihrer niemals Propheten und Heilige.30 Der Aphorismus deckt sich nie mit der Wahrheit; er ist entweder eine halbe Wahrheit oder anderthalb.31
�� 30 H. Kudszus, zitiert nach G. Fieguth (Hrsg.), Deutsche Aphorismen, 1978, S. 303. 31 K. Kraus, Beim Wort genommen, 1955, S. 161.
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Ein Aphorismus braucht nicht wahr zu sein, aber er sollte die Wahrheit überflügeln. Er muß mit einem Satz über sie hinauskommen.32
Wie lassen sich nun die Wahrheitsansprüche von Aphorismen bzw. deren Affirmations- und Negationsfunktionen näher erfassen und qualifizieren? Diesbezüglich bietet sich vielleicht die sogenannte Konsensustheorie an, die auch als pragmatische Wahrheitstheorie verstanden werden kann. Ihre Pointe besteht darin, dass man in ihrem Denkrahmen alle Aussagen für wahr halten kann, denen man nach sorgfältiger Prüfung zustimmen kann, wobei natürlich auch ihre jeweiligen sprachlichen Erscheinungsformen sowie ihre spezifischen pragmatischen Intentionen zu berücksichtigen sind. Das bedeutet dann allerdings, dass der Begriff der Wahrheit ganz eng mit den Begriffen der Zuverlässigkeit, Glaubhaftigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Interpretation verbunden werden muss und dass er nicht mehr im Rahmen einer strengen Alternativlogik von wahr und falsch zu verwenden ist. Im Rahmen eines solchen Wahrheitsverständnisses lässt sich der Wahrheitsanspruch von Aphorismen besser erfassen als in dem der Korrespondenzoder Kohärenztheorie. Das liegt vor allem daran, dass hier der Wahrheitsbegriff sehr viel leichter mit Fruchtbarkeits- und Handlungsvorstellungen bzw. mit Spielvorstellungen und semiotischen Überlegungen in Verbindung gebracht werden kann als in den beiden klassischen Wahrheitskonzepten. Natürlich birgt auch dieser Denkansatz gewisse Gefahren, weil in ihm der Wahrheitsbegriff schnell seine Konturen verlieren kann und eine gewisse Unverbindlichkeit bekommt, die ihn dann für das rein sachthematische und argumentative Denken und Sprechen durchaus problematisch macht. Gleichwohl wird man aber auch einräumen müssen, dass gerade unsere alltäglichen Wahrheitsvorstellungen sehr nachhaltig mit Zuverlässigkeits-, Fruchtbarkeits-, Erhellungs- und Akzeptanzvorstellungen verbunden sind. Das dokumentieren folgende Redewendungen beispielsweise sehr klar: wahrer Freund; nach der Wahrheit dürsten; Licht der Wahrheit; die Wahrheit wird euch frei machen. Das Verständnis von Wahrheit als Fruchtbarkeits- und Anregungsphänomen kann sich auch auf eine Aussage Goethes berufen. In seinem Altersgedicht ›Vermächtnis‹ hat er seine Wahrheitsvorstellung folgendermaßen bestimmt: „Was fruchtbar ist, allein ist wahr,[…].“33 Dieses Wahrheitsverständnis prägt sicherlich recht durchgängig auch den Wahrheitsanspruch von Aphorismen. Diese wollen nicht konkrete Sachverhalte abbilden, sondern vielmehr Sinnbil-
�� 32 K. Kraus, a. a. O. , S. 117. 33 J. W. von Goethe, Werke Bd. 1, 19647, S. 370.
320 � Negationshaltige Textformen dungsprozesse anregen und steuern. Auch Musil hat einem solchen Wahrheitsverständnis aphoristisch Ausdruck gegeben. Die Wahrheit ist kein Kristall, den man in die Tasche stecken kann, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt.34
Musils metaphorische Bestimmung von Wahrheit ist insbesondere aus zwei Gründen interessant. Einerseits negiert sie, dass man sich Wahrheit in einem substanzorientierten Sinne als ein klar abgrenzbares Phänomen (Kristall) vorstellen könne, und andererseits affirmiert sie, dass Wahrheit für Menschen nur dann zu einem fruchtbaren bzw. tragfähigen Phänomen werden könne, wenn man sich in ihr auch adäquat zu bewegen weiß. Die Wahrheit wird hier im Prinzip als ein durchaus eigenständiges, wenn auch wandlungsfähiges Phänomen angesehen, dem man sogar einen gewissen Substanzcharakter zubilligen könnte. Gleichwohl wird aber implizit recht deutlich negiert, dass man zu ihr eine rein kontemplative Haltung einnehmen könne und dürfe. Wahrheit wird in dieser Wahrnehmungsweise nämlich nur dann anthropologisch wirklich relevant, wenn man sie auch in konkrete Handlungsprozesse integrieren kann. Das bedeutete dann zugleich auch, dass man Wahrheit nicht einfach in Besitz nehmen kann, sondern dass sie erst dann wirklich tragfähig wird, wenn man sie sinnvoll in seine eigenen Handlungsprozesse einbezieht. Dasselbe gilt sicherlich auch für den Wahrheitsanspruch von Aphorismen.
7.2 Der Witz Witze haben zweifellos viele Ähnlichkeiten mit Aphorismen, insofern sich beide als Ausdrucksformen eines experimentellen Sprechens und Denkens ansehen lassen, die mit gängigen Normen und Erwartungen spielen und überraschende Korrelationen herstellen. Obwohl beide Sprachverwendungsformen Widersprüche suchen oder gar konstruieren und auch einen fiktionalen Grundcharakter haben, so besitzen sie doch eine gewisse Lebensnähe, eben weil der Umgang und die Bewältigung von Widersprüchlichkeiten zum Leben gehört und insofern auch ein Zeichen von Vitalität ist. Aphorismen und Witze sind Mittel, Denkund Zeichensysteme lebendig zu halten, weil durch sie verhindert wird, dass konventionelle Grenzziehungen zu unüberwindlichen oder gar lebensfeindlichen Mauern oder Barrieren werden.
�� 34 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke Bd. 2, 19812, S. 533f.
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Aphorismen und Witze leben von der Lust am Spiel mit konventionellen Systemordnungen und Erwartungen. Deshalb kann beiden auch eine soziale Erneuerungsfunktion zugeschrieben werden, weil sie kulturelle Institutionen aller Art vor Verholzungen bewahren. Dabei tritt bei Witzen der soziale Interaktionscharakter noch deutlicher hervor als bei Aphorismen, weil sie in der Regel eher erzählt als gelesen werden. Witze können deshalb auch sehr viel leichter als Aphorismen die Funktion von Waffen bekommen, die allerdings Vorstellungen und Vorurteile nicht nur angreifen und problematisieren, sondern auch bestätigen und befestigen können. Letzteres tritt besonders deutlich in Erscheinung, wenn Witze zu Lasten Dritter gemacht werden (Schottenwitze, Ostfriesenwitze, Judenwitze, Blondinenwitze). Gleichwohl ist festzuhalten, dass Witze eine Selbsterneuerungsfunktion für soziale bzw. kulturelle Systemordnungen haben, weil sie die Fähigkeit schulen, Wahrnehmungsperspektiven zu wechseln sowie Denk-, Sprach- und Erwartungsnormen zu variieren. Nicht zufällig gibt es deshalb in Diktaturen, die alle Lebensbereiche zu regulieren versuchen, eine blühende Witzkultur, die zuweilen sogar toleriert wird, weil Witze auch eine gewisse Ventilfunktion haben. Witze stellen natürlich nicht alle Grenzziehungen in Frage, sondern nur solche, die aus unterschiedlichen Gründen als lebensfeindlich angesehen werden. Deshalb stehen im Hintergrund ihrer Normenkritik natürlich immer auch bestimmte alternative Normen bzw. Affirmationstendenzen. Diese werden natürlich nicht explizit thematisiert, aber über die Pointen von Witzen doch ganz gut fassbar. Das Lachen als Reaktion auf bestimmte Witzpointen kann dabei sowohl als ein Verlachen von Normen verstanden werden bzw. von Personen, die diese Normen vertreten, als auch als ein entspannendes Erlösungslachen, insofern man bestimmte konfliktträchtige Normen identifiziert hat und eben dadurch dann auch perspektivisch relativieren kann. Um die innere Dialektik von Witzen als Bestätigungs- und Befreiungsformen bzw. als Affirmations- und Negationsformen zu verstehen, ist es vorteilhaft, sich die Begriffsgeschichte des Wortes Witz zu vergegenwärtigen, bevor man sich näher mit den Form- und Funktionsstrukturen des Phänomens Witz beschäftigt.
7.2.1 Die Entwicklungsgeschichte des Witzbegriffs Mit dem Wort Witz repräsentieren wir uns heute üblicherweise einen Begriff, der dazu dient, kurze Texte kategorial zusammenzufassen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie einen bestimmten Erwartungsbruch bzw. eine Pointe aufweisen, auf die mit einem erlösenden Lachen reagiert werden kann. Damit wird der Witz als eine Textform bestimmt, die auf genuine Weise in den sozialen
322 � Negationshaltige Textformen Raum gehört, insofern in ihm unterschiedliche Erwartungen, Vorstellungen und Denknormen direkt aufeinanderprallen, die zunächst zu unüberbrückbaren Inkohärenzen bzw. unauflöslichen Konflikten zu führen scheinen, die aber dennoch zu bewältigen sind, wenn man seine Wahrnehmungsperspektive für bestimmte Sachverhalte ändert. Dann erkennt man nämlich, dass die Inkohärenzen in Witzen meist die Konsequenzen von durchaus veränderbaren Denkprämissen sind, in denen ganz bestimmte Affirmations- und Negationsrelationen eine konstitutive Rolle spielen. Diese Bestimmung der Semantik des Wortes Witz ist uns heute sicherlich plausibel, aber sie ist nicht zu allen Zeiten in dieser Form gültig gewesen. Das verdeutlichen alte Wortzusammensetzungen und Redewendungen sehr deutlich, die uns nahelegen, das Phänomen Witz weniger als Textphänomen, sondern eher als Intellektualitätsphänomen zu verstehen: Mutterwitz, Vorwitz, Aberwitz, witziger Einfall, witzloser Sprachgebrauch usw. Es ist deshalb sinnvoll, sich etwas näher mit der Herkunft des Witzbegriffs zu beschäftigen, um seine ursprünglichen kognitiven Differenzierungsfunktionen zu erfassen, die auch heute noch auf verdeckte Weise in ihm nachwirken. Etymologisch geht das nhd. Wort Witz auf das ahd. Wort wizzi zurück, das so viel wie Wissen, Verstand, Weisheit, Einsicht oder gar Bewusstsein bedeutet hat. Diese Begriffsbildung diente ursprünglich ganz offenbar dazu, alle Phänomene kategorial zusammenzufassen, die in den Bereich von scharfsinnigen intellektuellen Fähigkeiten und Betätigungen fielen, wozu zunächst nur am Rande auch der Bereich der Komik und des Spaßes gehörte. Bis ins 18. Jh. bezeichnete man mit dem Wort bzw. Begriff Witz vornehmlich ein intellektuelles Vermögen im Sinne des lat. Begriffs ingenium. Das bedeutete dann, dass jemand Witz haben konnte, aber nicht dass jemand Witze machen konnte. Machen ließen sich nur Scherze. Unter dem Einfluss des englischen Wortes wit und des französischen Wortes esprit bezeichnete man auch im Deutschen mit dem Wort Witz insbesondere eine geistige Gewandtheit, welche Scharfsinn, Erfindungskraft, überraschende Kombinatorik und Vergnüglichkeit einschloss und eben dadurch dann auch eine genuine Nähe zum philosophischen Denken und metaphorischem Sprachgebrauch hatte.35 Auf jeden Fall ließ sich im 18. Jh. der Begriff des Witzes recht gut sowohl mit aufklärerischen Bemühungen als auch mit Genievorstellungen verbinden. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch, dass insbesondere Lichtenberg den Begriff des Witzes mit dem Gedanken des heuristischen Ein�� 35 Vgl. O. Best, Der Witz als Erkenntniskraft und Formprinzip, 1989.
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fallsreichtums in Verbindung gebracht hat, der dem analysierenden Verstand erst seine konkreten Aufgaben setzt. „Der Witz ist der F i n d e r […] und der Verstand der Beobachter.“36 Friedrich Schlegel hat den Witz bzw. witzige Einfälle dann insbesondere mit der Einbildungskraft in Zusammenhang gebracht und vor allem seine Synthesefunktion hervorgehoben. „Manche witzige Einfälle sind wie das überraschende Wiedersehen zwei befreundeter Gedanken nach einer langen Trennung.“37 Zunehmend wurde dann der Begriff des Witzes dann aber nicht mehr mit dem geistigen Vermögen schlechthin identifiziert, sondern mit einer analytischen Intellektualität, die vor allem danach strebt, etwas klar von etwas anderem abzusondern und damit Grenzen zu ziehen, die dann wiederum immer verdeckte Negations- und Affirmationsimplikationen haben. Diese müssen allerdings hermeneutisch erst erschlossen werden. Deshalb ist insbesondere für Heinrich Heine der Witz eine Ausdrucksform des aufklärerischen Denkens, die den Adel des Standes durch den Adel des Intellekts ersetzt. Zugleich ist der Witz für ihn aber auch immer eine Angriffswaffe gegen alle Formen der Borniertheit. Mag immerhin der Witz zu den niedrigsten Seelenkräften gehören, so glauben wir doch, daß er sein Gutes hat. Wir wenigstens möchten ihn nicht entbehren. Seitdem es nicht mehr Sitte ist, einen Degen an der Seite zu tragen, ist es durchaus nötig, daß man Witz im Kopfe habe.38
Auch Nietzsche hat ausdrücklich betont, dass die Heimat des Witzes in der Sphäre des analytischen Denkens liege. „Der Witz ist das Epigramm auf den Tod eines Gefühls.“39 Wie für alle Aufklärer ist auch für Kant der Witz als geistiges Vermögen eine Ausdrucksform analytischer Scharfsinnigkeit. Er versteht ihn ebenso wie die Urteilskraft als das Talent, in ganz verschiedenen Sachverhalten „die kleinsten Ähnlichkeiten oder Unähnlichkeiten zu bemerken.“40 Witzig zu sein, ist für ihn eine Fähigkeit, die zur Liberalität in Opposition zu allen Formen des dogmatischen Denkens gehört. Deshalb bringt er das Tun und Lassen des vergleichenden Witzes auch mit dem Spielgedanken in Verbindung, wobei er allerdings auch sieht, dass der Witz Gefahr laufen könne, zur Leichtigkeit und Narrheit zu
�� 36 G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher II, 19803, S. 297, J. 1620. 37 F. Schlegel, Athenäumsfragment 37, Kritische Schriften, 19642, S. 29. 38 H. Heine, Die deutsche Literatur von Wolfgang Menzel, Sämtliche Schriften, 1976, Bd. 1, S. 448. 39 F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Nr. 202, Werke 19737, Bd. 1, S. 814. 40 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 41, Werke 19782, Bd. 12, BA 123, S. 511f.
324 � Negationshaltige Textformen führen, wenn er seine Verbindung zur Urteilskraft verliere. „Der Witz geht mehr nach der B r ü h e, die Urteilskraft nach der N a h r u n g.“41 In einem gewissen Gegensatz zu den Aufklärern waren die Romantiker weniger an den analysierenden Aspekten des Witzes interessiert als an seinen synthetisierenden. „Der Witz ist schöpferisch ‒ er m a c h t Ähnlichkeiten.“42 Jean Paul denkt in derselben Richtung, wenn er insbesondere den literarisch bedeutsamen Witz folgendermaßen charakterisiert: „Der ästhetische Witz, oder der Witz im engsten Sinne, der verkleidete Priester, der jedes Paar kopuliert, tut es mit verschiedenen Trauformeln.“43 Diese Qualifizierung des Witzes ist in zweierlei Hinsicht aufschlussreich. Einerseits haben wir bei Witzen nämlich darauf zu achten, was in ihnen faktisch als ähnlich bzw. als zusammengehörig betrachtet wird, aber andererseits auch darauf, unter welchen Bedingungen bzw. Trauformeln das Ähnliche als ergänzungsbedürftig anzusehen ist. Das bedeutet, dass der Witz zugleich immer sowohl mit Affirmations- als auch mit Negationsanstrengungen verbunden ist. Wenn der Witz auf diese Weise als ein Perspektivierungsmittel verstanden wird, mit dem Ähnlichkeiten sowohl erfasst als auch transzendiert werden, dann wird unser Wahrnehmungsinteresse an Witzen natürlich nicht nur auf die pragmatischen Hintergründe von Witzen gelenkt, sondern auch auf ihre psychologischen Untergründe. Letzteres hat dann insbesondere Freud interessiert, der Witze entstehungsgeschichtlich vor allem im Unterbewusstsein verankert wissen möchte und weniger im bewussten analytischen Denken. Wie auch immer man nun Witze genetisch herleitet und welche Brückenfunktionen man ihnen zuordnet, immer stellt sich die Frage nach ihren sprachlichen bzw. rhetorischen Erscheinungsformen. Jedes geistige Vermögen tendiert dazu, sich ganz spezifische sprachliche bzw. textuelle Ausdrucksformen zu geben. Deshalb ist es auch verständlich, dass sich im 19. Jh. das semantische Verständnis des Wortes Witz so gewandelt hat, dass damit immer weniger ein bestimmtes geistiges Vermögen bezeichnet wurde, sondern immer mehr die textuelle Form, in der sich dieses Vermögen einen sprachlichen Ausdruck gab. Zwar hat sich das ursprüngliche Verständnis des Wortes Witz noch in bestimmten Wortbildungen erhalten (Mutterwitz, Irrwitz, Wahnwitz), aber diese Wörter werden heute in der Regel eher als Bezeichnungen für etablierte Begriffe verstanden und weniger als spontane Kompositabildungen.
�� 41 I. Kant, a. a. O. § 52, Werke 19782, Bd. 12, B 155, S. 539. 42 Novalis, Das Allgemeine Brouillon, Nr. 732, Werke 1999, S. 649. 43 J. Paul, Vorschule der Ästhetik, § 44, Werke 1975, Bd. 9, S. 173.
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Über die Genese, die Gestalt und die Funktion von Witzen als Textformen mit ganz bestimmten Negations- und Affirmationsimplikationen lässt sich ein genauerer Aufschluss erst dann gewinnen, wenn wir uns näher mit der Struktur der Pointe beschäftigen, die sicherlich konstitutiv für alle Witze als Textformen ist. Über die Pointe von Witzen, die ja zu einem erlösenden Lachen führen soll und kann, lassen sich dann auch recht gut nicht nur die Aggressions- und Negationsimplikationen von Witzen in den Blick bringen, sondern auch ihre Versöhnungs- und Affirmationsimplikationen.
7.2.2 Die Pointe von Witzen Als Textmuster sind Witze strukturell dadurch geprägt, dass sie eine allgemeine Exposition aufweisen, durch die ein bestimmter Erwartungshorizont eröffnet wird, und eine spezifische Pointe, die diesen Erwartungshorizont so umkippen lässt, dass dadurch keine Enttäuschung resultiert, sondern vielmehr ein überraschender neuer Wahrnehmungsinhalt, auf den man dann mit einem erlösenden Lachen reagieren kann. Wahrnehmungspsychologisch gesehen dient damit die Exposition gleichsam als Grund, von dem sich die Pointe des Witzes als Figur kontrastiv abheben kann. Das bedeutet, dass die Pointe von Witzen im Prinzip eine Negationsfunktion hat, weil sie eine bestimmte Wahrnehmungserwartung gegenstandslos macht oder gar in ihr Gegenteil verkehrt, ohne dass dadurch allerdings ein wirkliches Sinnvakuum entsteht. Vielmehr wird auf diese Weise eine neue Sinngestalt erzeugt, zu der man dann eine zustimmende bzw. affirmierende Wahrnehmungshaltung einnehmen kann. Dieser Funktionszusammenhang von Exposition und Pointe macht Witze im Prinzip immer zu heuristischen Denkspielen, die hohe Anforderungen an die Gewitztheit sowohl der Witzproduzenten als auch der Witzrezipienten stellt, sofern es sich bei den jeweiligen Witzen nicht um triviale Kalauer handelt. Als intellektuelle Vexier- und Sprachspiele lassen sich anspruchsvolle Witze nicht unmittelbar ganz bestimmten pragmatischen Zwecken zuordnen, weil sie im Prinzip semiotische Mittel und Verfahren sind, unsere Denkkategorien und Denkverfahren flexibel zu halten und von traditionellen Denkmitteln Gebrauch zu machen, ohne ihnen in einem mechanischen Sinne zu verfallen. Das Aparte am Sprachspiel Witz ist nun, dass wir eigentlich vorab immer schon wissen, dass alle faktisch gegebenen Informationen zu Aufbau eines kommenden Erwartungsbruchs dienen, dass wir aber nicht genau wissen, wie sich dieser konkret gestaltet und zu welchen Wechseln von Wahrnehmungsperspektiven wir herausgefordert werden. Die in Witzen vorgenommenen Umorientierungen des Denkens haben alle eine mehr oder minder ausgeprägte Aggres-
326 � Negationshaltige Textformen sivität, weil sich nur so die Neuzentrierung der Aufmerksamkeit bewerkstelligen lässt. Diese Aggressivität kann allerdings sowohl hinsichtlich ihres Ziels als auch hinsichtlich ihrer Intensität erheblich variieren. Witze können deshalb eine sehr variable Prozessgestalt bekommen, deren Negationsbezüge sich nicht nur auf bestimmte Personen, Sachverhalte und Denkweisen beziehen können, sondern auch auf die aktuelle Textstruktur oder den jeweiligen Witzerzähler. Ähnlich wie ein Spiegel erst dadurch zu einem Spiegel wird, dass er etwas anderes spiegelt, so wird auch ein Witz erst dadurch zum Witz, dass er etwas anderes beißt, seien es nun Denkinhalte, Denkformen, Handlungsmuster oder Personen. Wenn ein Witz nicht zubeißt, dann verliert er seinen spezifischen Sprachspielcharakter und wir zu einer bloßen sprachlichen Mitteilungsform, in welcher der Erwartungsbruch bzw. die Variation von Grund und Figur keine konstitutive Rolle mehr spielt. Das mag folgendes Beispiel illustrieren. Ein Weißer und ein Afrikaner streiten sich über die Rolle der Weißen in Afrika. Schließlich sagt der Afrikaner: „Erst hatten wir das Land und ihr die Bibel, jetzt haben wir die Bibel und ihr das Land.“
Wenn wir die Pointen von Witzen nun weniger als Erscheinungsformen von konkreten Aggressionen und Negationen verstehen, sondern eher als Mittel der Relativierung von verfestigten Denkschemata, dann rückt insbesondere die pragmatische Funktion von Witzen in den Vordergrund des Interesses, erstarrte Denk- und Wahrnehmungskonventionen aufzulösen bzw. umzugestalten. Witze treten dann vor allem als Sprachverwendungsformen in Erscheinung, die dazu dienen, ein verfestigtes Systemdenken zu Gunsten eines flexiblen Strukturdenkens in Frage zu stellen und das Pathos starrer Ordnungskategorien aufzubrechen. Die Pointe von Witzen wird dann zu einem Ausdruck einer Respektlosigkeit gegenüber eingeschliffenen Denkmustern und Denkroutinen, wobei dann durchaus auch auf Wortspiele zurückgegriffen werden kann. Was ist der Unterschied zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus? Der Kapitalismus macht soziale Fehler, der Sozialismus kapitale Fehler. „Wie geht es?“, fragt der Blinde den Lahmen. „Wie sie sehen!“, antwortet der Lahme.
Schopenhauer hat den Witz bzw. das aus ihm resultierende Lachen „aus der plötzlich wahrgenommenen Inkongruenz zwischen einem Begriff und den realen Objekten, die durch ihn, in irgendeiner Beziehung, gedacht worden waren“, zurückgeführt.44 Für die Wahrnehmung solcher Inkongruenzen zwischen Begrif�� 44 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, § 13, Werke Bd. 1, 1988, S. 102.
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fen und realen Gegenständen bzw. Erfahrungen ist für Schopenhauer Scharfsinn vonnöten. Dieser habe die Ursachen der jeweiligen Unverträglichkeiten aufzudecken und eben dadurch zu verhindern, dass unser Denken gänzlich kollabiere. Durch Witze lernten wir, in vordergründigen Unähnlichkeiten hintergründige Ähnlichkeiten wahrzunehmen bzw. in vordergründigen Negationen auch hintergründige Affirmationen. So gesehen lassen sich Witze und die in ihnen ausgebildeten Pointen als Ausdrucksformen eines kreativen Denkens verstehen, das Arthur Koestler über den Begriff „Bisoziation“ zu bestimmen versucht hat.45 Seiner Meinung nach geht die Kreativität in der Kunst, in der Wissenschaft, aber auch im alltäglichen Denken daraus hervor, dass ursprünglich völlig getrennte Systemordnungen so miteinander in einen Interaktionszusammenhang gebracht würden, dass dadurch neue Ordnungszusammenhänge bzw. neue Ordnungsgestalten entstehen könnten. Während in Tragödien Konflikte zwischen unterschiedlichen Ordnungswelten nicht gelöst werden könnten, sei das in Komödien und Witzen durchaus möglich, da sich hier Inkohärenzen durch übergeordnete Zusammenhänge so entschärfen ließen, dass vorher Unvereinbares oder Getrenntes doch noch in einen produktiven Ordnungszusammenhang gebracht werden könne, weil allzu starre Grenzziehungen aufgehoben würden. Eine solche Bisoziation bzw. Kreativität sieht Koestler auf einer ganz elementaren Ebene auch darin, dass ein Affe eine Banane und einen Stock nicht mehr als Elemente völlig getrennter Welten wahrnehme, sondern beide dadurch in einen produktiven Korrelationszusammenhang bringe, dass er den Stock dazu benutze, um sich eine Banane zu angeln, die vorher außerhalb der Reichweite seiner Arme gelegen habe. Für Kant gehört wie schon erwähnt nicht nur die Urteilskraft, sondern auch der Witz zu den kreativen Erkenntnisorganen des Menschen. „Das vorzüglichste Talent in beiden ist, auch die kleinsten Ähnlichkeiten oder Unähnlichkeiten zu bemerken.“46 Um das zu erreichen müsse der Witz gerade das zusammenführen, was man üblicherweise trenne. Der Witz p a a r t (assimiliert) heterogene Vorstellungen, die oft nach dem Gesetze der Einbildungskraft (der Assoziation) weit auseinander liegen, und ist ein eigentümliches Verähnlichungsvermögen, welches dem Verstande (als dem Vermögen der Erkenntnis des Allgemeinen), sofern er die Gegenstände unter Gattungen bringt, angehört.“ 47
�� 45 A. Koestler, Der göttliche Funke, 1966, S. 23ff., 122ff. 46 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 41, Werke Bd. 12, 19782, S. 511f. 47 I. Kant, a. a. O. , § 51, Werke Bd. 12, 19782, S. 537f.
328 � Negationshaltige Textformen Ganz ähnlich hat auch wie schon erwähnt Friedrich Schlegel argumentiert. „Manche witzigen Einfälle sind wie das überraschende Wiedersehen zweier befreundeter Gedanken nach langer Trennung.“48 Nach moderner Terminologie lässt sich die Pointe von Witzen auch als eine Art von Isotopiebruch verstehen, insofern ganz bewusst gegen übliche Kontexterwartungen verstoßen wird, um verfestigte Denk- und Sprachmuster aufzulösen, damit neue Sinnzusammenhänge gestiftet werden können. Das bedeutet, dass Pointen nur dort ein scharfes Profil gewinnen können, wo es stabile logische, kulturelle, ideologische, psychologische und kontextuelle Ordnungsmuster gibt und eben deshalb auch klare Isotopieerwartungen. Nur unter diesen Umständen können in den Pointen von Witzen nämlich alte Erwartungsmuster spektakulär kollabieren.49 „Tanzen Sie gern?“ „Das hängt von der Beleuchtung ab.“ „Mama, wie ist es eigentlich, die beste Tochter der Welt zu haben?“ „Ich weiß nicht, frag doch mal Oma.“
Wenn man in dieser Weise die Pointen von Witzen als Mittel ansieht, Verstehensirritationen und Verstehensinnovationen auszulösen, dann wird deutlich, dass sie einen erheblichen Beitrag dazu leisten können, nicht nur unser Denken und Wahrnehmen, sondern auch die Semantik unserer Sprachformen in einem lebendigen Fließgleichgewicht zu halten und damit auch unsere Welt- und Lebensbezüge. Inkongruenzen und Inkohärenzen zwingen uns immanent immer dazu, neue Denkperspektiven zu entwickeln, weil wir es psychisch nicht aushalten, in einer unübersichtlichen Welt bzw. im Chaos zu leben. Pointen bringen uns zum Staunen, was ja seit alters her als der Anfang aller Philosophie verstanden worden ist. Witze gehören gerade wegen des Provokationspotenzials ihrer Pointen auf ganz genuine Weise zur Lebenswelt des Menschen, aber nicht zu der von Tieren und Engeln, die solche Verfremdungsformen und Interaktionsanreize nicht brauchen, um in ihrer Lebenswelt bestehen zu können.50 Die Pointen von Witzen müssen allerdings so gestaltet werden, dass wir einerseits zwar erkennen, dass unsere Standarderwartungen verwirbelt werden, aber dass wir andererseits nicht sofort erfassen, wie sie faktisch verwirbelt werden und welche Kon-
�� 48 F. Schlegel, Athenäumsfragment 37, Kritische Schriften, 1964, S. 29. 49 W. Preisendanz, Über den Witz, 1970, S. 23, 27ff. 50 Vgl. R. Müller, Theorie der Pointe, 2003, S. 38ff.
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sequenzen und neue Wahrnehmungsperspektiven sich daraus für uns ergeben: „Was gibt es für einen neuen Witz?“ „Ein Jahr Gefängnis!“51
7.2.3 Das Lachen als Reaktion auf Witze Kaum jemand wird wohl daran zweifeln, dass das Lachen zum Witz als Textform gehört. Weniger selbstverständlich ist aber wohl die Vorstellung, dass mit dem Lachen auch bestimmte Negationsimplikationen verbunden sind. Diese Auffassung wird erst plausibel, wenn wir nicht nur den Witz, sondern auch das Lachen als Reaktion auf Witze als ein genuines Kulturphänomen begreifen, das ganz bestimmte Zustimmungs- und Abwehrimplikationen hat. Nicht nur der Witz als Sprachform, sondern auch das Lachen als Antwort auf Witze gehören auf natürliche Weise in die Sphäre der Kommunikation und der Sozialität. Beide Phänomene sind Zeichen, mit denen wir auf intersubjektiv verständliche Weise Erfahrungen objektivieren und interpretieren. Durch beide können Widersprüchlichkeiten nicht nur aufgedeckt und erzeugt, sondern auch miteinander versöhnt werden. Deshalb hat Jean Paul darauf verwiesen, dass sowohl der Witz als Denkform als auch die Schönheit als Wahrnehmungsform letztlich als „g e s e l l i g e Kräfte und Triumphe“ anzusehen seien, die immer Reaktionen erforderlich machten. Deshalb stellt er dann auch eine hypothetische Frage, für die er über den Gebrauch des Konjunktivs II zugleich eine negierende Antwort vorsieht: „ […] denn was gewänne ein w i t z i g e r Einsiedler oder eine s c h ö n e Einsiedlerin?“52 Ein deutliches Indiz dafür, dass Witze als Interaktionshandlungen im sozialen Raum gelingen und dass ihre Pointen verstanden werden, ist zweifellos, dass auf sie mit einem Lachen reagiert wird. Dieses Lachen kann nun allerdings eine recht große Spannweite haben, die von einem aggressiven und verletzenden Auslachen über ein souveränes Verlachen von bedrohlichen Strukturen und Kräften bis zu einem erlösenden Entspannungslachen reichen kann. Witze können deshalb als Interaktionsphänomene durchaus eine ambivalente Funktion in der menschlichen Lebenswelt mit sehr vielfältigen Affirmations- und Negationsimplikationen haben. Wenn das Lachen als Auslachen in Erscheinung tritt, dann lässt es sich entstehungsgeschichtlich mit dem Siegesgeheul von erfolgreichen Kämpfern in Verbindung bringen, mit dem vordergründig zwar ein Triumphgefühl über ei-
�� 51 B. Marfurt, Textsorte Witz, 1977, S. 98. 52 J. Paul, Vorschule der Ästhetik § 42, Werke Bd. 9. S. 169.
330 � Negationshaltige Textformen nen geschlagenen Gegner zum Ausdruck kommt, aber hintergründig auch ein Entlastungsgefühl von einer agonalen Anspannung. So gesehen ließe sich dann das Lachen dann durchaus auch als eine Reaktion verstehen, durch die eine Art Siegesgefühl über die Erfahrung gefährlicher Unübersichtlichkeiten bzw. über bestimmte intellektuellen Herausforderungen zum Ausdruck gebracht werden kann. Ein solches Lachen wäre dann eine Art beruhigendes Abschlusslachen, mit dem eine Distanz zu bestimmten Gegenmächten gewonnen wird, aus der sich dann wiederum die Chance ergibt, die ursprüngliche Verhöhnungshandlung in eine beruhigende Versöhnungshandlung zu überführen. Wenn man das Lachen als Verlachen von Inkongruenzen und Inkohärenzen versteht, verliert es seinen Aggressionscharakter hinsichtlich von Personen, aber nicht unbedingt hinsichtlich der Denkpositionen, die diese vertreten. Das Lachen wäre dann ein Indiz dafür, dass man sich nicht mehr unmittelbar bedroht sieht und dass man in der Lage ist, ein Problem durch den Wechsel von Wahrnehmungsperspektiven zu entschärfen. Dementsprechend ließe sich dann das Lachen auch als Ausdruck einer geistigen Souveränität verstehen, die weiß, wie Diskrepanzen entstehen und wie man deren Bedrohlichkeiten reduziert. Wenn das Lachen zu einem erlösenden Entspannungslachen wird, dann verliert es auch seinen möglichen Aggressionscharakter, weil das vermeintlich Bedrohende nur noch als Phantom in Erscheinung tritt. Es wird dann zu einem Ausdruck der Stärke, weil es Andersartigkeit und Fremdheit nicht mehr zu beseitigen, sondern in die eigene Weltwahrnehmung zu integrieren versucht. Es zeigt, dass man die Ursachen von Inkohärenzen erfasst hat und diese deshalb auch nicht mehr als wirklich bedrohlich ansieht, sondern eher als belustigend. Diese Erscheinungsform des Lachens hatte wohl auch Kant im Auge, als er das Lachen als einen erlösenden Affekt bestimmte, durch den eine psychische Spannung auf befreiende Weise aufgehoben werde. „Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts.“53 Die Entlastungsfunktion des Lachens hat deshalb für Kant auch eine ganz fundamentale anthropologische Relevanz. Voltaire sagte, der Himmel habe uns zum Gegengewicht gegen die vielen Mühseligkeiten des Lebens zwei Dinge gegeben: Die H o f f n u n g und den S c h l a f . Er hätte noch das L a c h e n dazu rechnen können.54
Der Rückgriff Kants auf die Dynamik von Affekten bei der anthropologischen Beurteilung von Witzen bzw. des Lachens spielt auch bei Freuds Überlegungen �� 53 I. Kant, Kritik der Urteilskraft B 226, Werke Bd. 10, 19782, S. 273. 54 I. Kant, a. a. O. B 228, Werke Bd. 10, 19782, S. 275.
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zur Struktur und Funktion von Witzen eine ganz zentrale Rolle. Das ist natürlich insbesondere deswegen sehr verständlich, weil Freud sich vor allem für tendenziöse, aggressive und obszöne Witze interessiert, die lustvoll gegen gesellschaftliche und insbesondere sexuelle Tabus verstoßen. Für Freud ist der Witz vor allem ein Mittel, um Autoritäten aller Art dadurch bloßzustellen, dass man sie mit Situationen konfrontiert, in denen diese ihre jeweiligen Wertvorstellungen und Rollen nicht mehr aufrechterhalten können, ohne sich lächerlich zu machen. Witze sind für Freud Phänomene, bei denen der Witzproduzent seine Pointen auf kunstvolle Weise so arrangiert, dass er sich selbst und seine Zuhörer auf Kosten einer dritten Instanz (Personen, Institutionen, Konventionen, Vorstellungen usw.) lustig machen kann. Für Freud dokumentiert sich im Lachen nach einem Witz der plötzliche Abbau von psychischen Hemmungen, die elementare Triebregungen nicht mehr einschränken, sondern zumindest im Bereich der Fiktion freien Lauf lassen. Der Witz hat deshalb für Freud eine Negationsfunktion im Sinne einer Aggressionsund Befreiungsfunktion, insofern er dem Lustprinzip einen gewissen Freiheitsspielraum gegenüber dem Herrschaftsanspruch des Realitätsprinzips verschaffe. Er ermöglicht die Befriedigung eines Triebes (des lüsternen und feindseligen) gegen ein im Wege stehendes Hindernis, er umgeht dieses Hindernis und schöpft somit Lust aus einer durch das Hindernis unzugänglich gewordenen Lustquelle.“ 55
Freuds Überlegungen zur Psychogenese des Witzes aus dem Streben, Triebstauungen im Unterbewusstsein abzubauen bzw. negierend zu überwinden, erfasst sicherlich wichtige Aspekte des Ursprungs und der Intention aggressiver und obszöner Witze, aber wohl kaum die aller Witzformen. Viele Witze lassen sich wohl eher über den Spielgedanken sinnvoll beschreiben als über das Konzept des Abbaus von Triebstauungen im Unterbewusstsein, was nicht ausschließt, dass dabei auch die Freude an der Aufhebung von verfestigten Normen eine wichtige Rolle spielen kann. Witze müssen nicht unbedingt zum Auslachen von Personen und Normen tendieren, sondern können sich auch auf das Verlachen von vermeintlichen Normen und bestimmten Erwartungen beschränken. In diesem Fall ließe sich das Lachen bei Witzen als ein Zeichen der Freude verstehen, dass man sich selbst geistig bewegen kann und eben dadurch anscheinend Getrenntes doch wieder in Kontakt miteinander zu bringen vermag. So gesehen resultieren dann Witze weniger aus der Freude an der Durchbrechung von Triebschranken, son�� 55 S. Freud; Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, Gesammelte Werke, Bd. 6, 19877, S. 110.
332 � Negationshaltige Textformen dern eher aus einem Kraftüberschuss, mit dem man erstarrte Denkmechanismen überwinden kann. Das Lachen wäre dann ein Ausdruck des Genusses von agonalen Perspektivierungsspielen, in denen lebensfeindliche Versteifungen überwunden werden. Gerade weil das soziale Zusammenleben sowohl die Etablierung und Respektierung von Normen erforderlich macht als auch den flexiblen Umgang mit ihnen, benötigt es Witze und das ansteckende Lachen über Witze, um dem Leben seine innere Dynamik und Vitalität erhalten zu können. Henri Bergson hat deshalb das Lachen auch als eine Vitalfunktion verstanden, über die alle Formen von Versteifungen im sozialen Raum bekämpft werden könnten. „Diese Steifheit ist das Komische, und das Lachen ist ihre Strafe.“56 Überall, wo etwas Lebendiges seine Spontaneität verliere und sich zu etwas Mechanischem verfestige, gebe es einen Grund zum Gelächter. Selbst die Sprache könne komisch werden, wenn sie nur noch mechanisch verwendet werde und der Eindruck entstehe, dass sich die Dinge nach der Sprache zu richten hätten und nicht die Sprache nach den Dingen. Überall, wo das Individuelle durch das Allgemeine ausgelöscht zu werden drohe, habe das Lachen seinen genuinen Platz. Auch Plessner hat dem Lachen eine Negationsfunktion im Sinne einer Vitalisierungsfunktion zugeschrieben und mit dem Spielgedanken in Verbindung gebracht. Er geht anthropologisch davon aus, dass der Mensch im Gegensatz zum Tier ein Lebewesen sei, das sich zu sich selbst verhalten könne und müsse. Er habe eine exzentrische Grundstruktur, insofern sein Verhalten nicht zentral durch Instinkte gesteuert werde. Diese Exzentrizität beinhalte, dass der Mensch Ambivalenzen nicht nur aushalten müsse, sondern an diesen immer auch wachse, weshalb er sie dann auch auskosten könne. Er habe zu lernen, mit gegenläufigen Tendenzen umzugehen und sein Verhalten zur Welt als eine vermittelte Unmittelbarkeit zu verstehen. Im Spiel könne er die ambivalenten Spannungen zwischen dem Sich-Binden und dem Sich-Binden-Lassen am besten bewältigen, weil er hier etwaige misslungene Ausgleichsbemühungen immer mit Lachen quittieren könne. „Auf diese Ambivalenz eines doppelten Zwischen: zwischen Wirklichkeit und Schein, zwischen Binden und Gebundensein reagiert der Mensch ‒ mit Lachen.“57 Das Lachen versteht Plessner „als eine Antwort auf eine nicht mehr eindeutige Situation, von der wir Abstand nehmen, ohne uns in Wirklichkeit von ihr lösen zu wollen.“58 Ebenso wie für Bergson ist auch für Plessner das Lachen ein Indiz
�� 56 H. Bergson, Das Lachen, 2011, S. 24. 57 H. Plessner, Lachen und Weinen, Gesammelte Schriften, Bd. 7, 1982, S. 289. 58 H. Plessner, a. a. O. Bd. 7, 1982, S. 289f.
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für Lebendigkeit, Sozialität und Wahrnehmungsflexibilität. Es könne zugleich strafen und heilen und eben dadurch dabei helfen, Abstand von Normen und von sich selbst zu gewinnen. Es setze die Freiheit voraus, ja und nein sagen zu können. Die besondere Leistung des Witzes besteht für Plessner darin, unterschiedliche Denkrichtungen und Wortbedeutungen „so in eins zu setzen, daß sie einander (bildlich gesprochen) überlagern und n i c h t verdrängen […].“ Dadurch offenbare sich dann ein doppeltes Verhältnis des Witzes zur Sprache, nämlich „in ihr zu reden und gegen sie zu reden.“59 Genau diese dialektische Grundstruktur des Sprachgebrauchs ist ja nun auch für die Nutzung von sprachlichen Negationsformen ganz typisch. Das Lachen über Witze ist für alle ideologischen Denkformen höchst subversiv. Dadurch werden nämlich alle Tendenzen gefördert und legitimiert, die Sprache mehrdeutig zu gebrauchen und eben dadurch hinsichtlich ihrer Sinnbildungsmöglichkeiten lebendig zu halten. Gerade weil sich in den Pointen von Witzen sachthematische und reflexionsthematische Sinnbildungsstrategien flexibel überlagern, sind Witze für alle Erscheinungsformen des ideologischen Denkens höchst gefährlich, weil die Effekte dieses spielerischen Sprachgebrauchs kaum zu kontrollieren sind. Dadurch fördern Witze sowohl die Ausformung des autonomen Denkens als auch die von souveränen Individuen. So ist es auch kein Wunder, dass es in allen Diktaturen eine blühende Witzkultur gibt, weil der mehrdeutige Sprachgebrauch in Witzen ein höchst wirksames Mittel ist, lebensfeindliche Verknöcherungen von Ordnungsstrukturen aller Art nicht nur aufzudecken, sondern auch lächerlich zu machen. Wo Normen prinzipiell als unantastbar gelten, dort gibt es auch keine Witze bzw. nichts zu lachen. Wo es allerdings keine Normen gibt, dort verlieren Witze auch ihre Lebensgrundlage, weil sie keine Gegner mehr haben und weil keine Notwendigkeit mehr besteht, die Inkohärenzen von gängigen Normen aufzuzeigen. Unter diesen Umständen können Witze dann sogar wider Erwarten die Funktion bekommen, auf die Notwendigkeit von konkreten Normen aufmerksam zu machen, um das Denken und die Sprache lebendig zu halten. Auf jeden Fall ist aber festzuhalten, dass Witze eine konstitutive Rolle spielen, um das dynamische Fließgleichgewicht zwischen Ordnung und Freiheit aufrechtzuerhalten und flexibel auszugestalten. Solange man glaubt, dass die Welt bzw. die Dinge tatsächlich so sind, wie man sie sich denkt, und dass die Realität den Ordnungszusammenhang unserer Begriffe überhaupt nicht in Frage stellen oder gar negieren kann, solange entsteht auch keine Sensibilität für Witze bzw. für Ungleichgewichte oder Inkohä�� 59 H. Plessner, a. a. O. Bd. 7, 1982, S. 313.
334 � Negationshaltige Textformen renzen. Deshalb sind Witze sowohl Traditionalisten als auch Ideologen gleichermaßen fremd und suspekt, weil es für beide keine wirklichen Erwartungsenttäuschungen gibt, die auch auf die Grenzen unserer Ordnungen aufmerksam machen könnten. Für beide sind Witze strafwürdige Angriffe auf gleichsam unantastbare Ordnungsstrukturen, aber keine Mittel, Inkohärenzen in unseren Denksystemen aufzudecken. Beide sind Gewohnheitstiere, für die es nur eine Garnitur von Spielregeln und Denkperspektiven gibt. Beide können Überraschungen und Ambivalenzen nicht genießen, sondern nur fürchten. Für beide stellt das Lachen eine größere Gefahr dar als jede argumentative Gegenrede, weil das Lachen den sakrosankten Charakter von Denkkonzepten negiert und als bloßes Menschenwerk vor Augen führt. Das Lachen verunsichert beide zutiefst, weil es im Prinzip zur Umorganisation des Denkens zwingt und immanent gerade das in Frage stellen kann, was beiden als unumstößlich gegolten hat. Überall, wo es Denk-, Verhaltens- und Sprachnormen gibt, da gibt es auch Anreize, gegen diese zu rebellieren bzw. über diese ganz oder partiell zu lachen. Witze können unter diesen Umständen goutiert werden, weil sie Möglichkeiten bieten, die Spannungen zwischen diesen Normen und den Erfahrungsrealitäten aufzudecken bzw. die Inkohärenzen zwischen einzelnen Normen. Die bloße Existenz von Witzen wird so gesehen zu einem Indiz einer intellektuellen Vitalität, durch die alle Erscheinungsformen lebensfeindlicher Mechanik und ideologischer Denkverbote überlistet werden können.60 Alle Diktaturen und Ideologien fördern wider Willen die Entstehung von Witzen und das Bedürfnis, etwas auszulachen bzw. in seinem Geltungsanspruch zu negieren. Das Lachen über politische Witze ist dabei nicht nur als ein distanziertes Befreiungslachen über Borniertheiten und Zwänge zu verstehen, sondern auch als ein Integrationslachen, das wiederum neue Gruppen mit ganz bestimmten Wirgefühlen entstehen lassen kann. So gesehen ist das Lachen dann nicht nur als eine zentrifugale, sondern auch als eine zentripedale Kraft anzusehen, weil es bestimmte Kohärenzen nicht nur aufzulösen, sondern auch zu stiften vermag. Wer dieselben Witze versteht und über dieselben Witze lachen kann, der gehört gleichsam zu derselben Schicksalsgemeinschaft oder Denkfamilie und kann mit denselben Gefahren spielen. Das mag ein Witz des Witztyps ›Frage an Radio Eriwan‹ exemplifizieren. „Wie unterscheidet sich das Märchen vom Kommunismus?“ Antwort: „Im Prinzip nur grammatisch. Das Märchen beginnt mit der Formel: Es war einmal … Der Kommunismus beginnt mit der Formel: Es wird einmal sein …“ �� 60 Vgl. H. J. Gamm, Der Flüsterwitz im Dritten Reich, 1990. A. Schiewe/J. Schiewe, Witzkultur in der DDR, 2000. A. Blasius, Der politische Sprachwitz in der DDR, 2003.
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Mit den Negations- und Affirmationsimplikationen des Lachens bzw. mit seiner Funktion, verfestigte Denksysteme in Frage zu stellen und die geistige Autonomie von Subjekten zu stärken hat sich auch Umberto Eco in seinem Roman ›Der Name der Rose‹ beschäftigt. In diesem zentriert sich das mörderische Geschehen in einem mittelalterlichen Kloster um das Problem, ob man das zweite Buch zur Poetik von Aristoteles, das der Komik und dem Lachen gewidmet war und das möglicherweise noch in einer bisher nicht bekannten Abschrift existieren könnte, der Welt wirklich zumuten dürfe. Man argwöhnt nämlich, dass es möglicherweise große Teile der Weisheit untergraben und zerstören könne, welche inzwischen durch die Kirche über Jahrhunderte hinweg angehäuft worden sei. Für den alten und bezeichnenderweise blinden Mönch Jorge ist das Lachen nämlich ein Zeichen für die Verderbtheit des Fleisches, das die Kirche nur beim Karneval und bei Jahrmarksbelustigungen zur Abfuhr der schlechten Säfte des niederen Volkes gestatten könne. Das Lachen befreie den Bauern von seiner Angst vor dem Teufel und trage dazu bei, bewährte Herrschaftsverhältnisse umzustürzen. Das Gesetz könne sich letztlich nur Geltung mit Hilfe der Angst verschaffen. Deshalb kommt er dann auch gegenüber Bruder William zu folgendem Schluss: Aus diesem Buch aber könnten verderbte Köpfe wie deiner den äußersten Schluß ziehen, daß im Lachen die höchst Vollendung der Menschen liege! Das Lachen vertreibt dem Bauern für ein paar Momente die Angst. Doch das Gesetz verschafft sich Geltung mit Hilfe der Angst, deren wahrer Name Gottesfurcht ist. Und aus diesem Buch könnte leicht der luziferische Funke aufspringen, der die ganze Welt in einen neuen Brand stecken würde, und dann würde das Lachen zu einer Kunst, die selbst dem Prometheus noch unbekannt war: zur Kunst der Vernichtung von Angst! Der lachende Bauer fürchtet sich nicht vor dem Tod, solange er lacht […]. Und was wären wir sündige Kreaturen dann ohne die Angst, diese vielleicht wohltätigste und gnädigste aller Gaben Gottes?61
Jorge fürchtet, dass man mit Hilfe der Autorität des Aristoteles „die Kunst des Lachens zur schneidenden Waffe schmieden“ könne, die „alsdann die Rhetorik des Überzeugens“ durch „eine Rhetorik des Spottens“ ersetze.62 Deshalb sieht der blinde Jorge es dann auch als seine Pflicht an, das Buch von Aristoteles über das Lachen mit allen Mittel unzugänglich zu machen, damit niemand in die Gefahr gerate, das eigene Lachen bzw. Denken über die gegebenen Systemordnungen zu stellen.
�� 61 U. Eco, Der Name der Rose, 198314, S. 604. 62 U. Eco, a. a. O. 198314, S. 605.
336 � Negationshaltige Textformen 7.2.4 Die Selbstbezüglichkeitsstrukturen in Witzen Wenn wir nun Witze als Interaktionsphänomene im sozialen und semiotischen Raum verstehen, bei denen Erwartungsbrüche und Kippvorgänge eine ganz zentrale Rolle spielen, dann liegt es natürlich nahe, danach zu fragen, was in Witzen alles als Zeichen anzusehen ist und wie die einzelnen Zeichen interpretierend aufeinander Bezug nehmen. Gerade weil in Witzen mit Aussparungen, Verkürzungen, Typisierungen, Anspielungen und Erwartungsbrüchen gearbeitet wird, haben wir uns mit der Frage zu beschäftigen, welche Informationen in ihnen als Basisinformationen zu gelten haben und welche als interpretierende Metainformationen dazu. Gerade bei Witzen dürfen wir unser Interesse nicht nur auf das richten, was faktisch gesagt wird, sondern vor allem auch darauf, wie etwas gesagt wird und wie wir das jeweils Gesagte aus unserem Wissen zu ergänzen haben. Der Begriff der Selbstbezüglichkeit sollte deshalb im Hinblick auf Witze nicht so verstanden werden, dass in Witzen direkte Aussagen über die jeweiligen Witze selbst gemacht werden, sondern vielmehr so, dass das in Witzen Gesagte und Ungesagte konstruktiv ineinandergreift. Auf diese Weise bilden dann sachthematische und reflexionsthematische Denkinhalte eine komplexe Sinneinheit, da der eine Inhalt nur in Korrelation mit dem anderen auf sinnvolle Weise fassbar wird. Das bedeutet, dass wir beim Verstehen von Witzen nicht mit schematisierten Assimilationsverfahren auskommen, sondern dass wir bei ihrem Verständnis immer auch zu Akkommodationsanstrengungen herausgefordert werden, die uns dazu zwingen, uns selbst geistig zu bewegen und standardisierte Verstehensperspektiven zu überwinden. Daraus ergibt sich, dass das Verstehen anspruchsvoller Witze uns immer in implizite oder explizite semiotische Reflexionen verwickelt, in denen heuristisch und hermeneutisch zu klären ist, was in Witzen als Zeichen gelten kann und was diese jeweils zu bedeuten haben. Gerade weil Witze nicht mechanisch nach eingeschliffenen Verfahren zu verstehen sind, sondern unsere Sinnbildungskräfte auf ganz unterschiedlichen Ebenen herausfordern, sind sie sowohl als kognitive als auch als ästhetische Phänomene zu werten, denen ein hoher Grad an Sinnintensität eigen ist. Das Lachen als Reaktion auf Witze ließe sich dementsprechend dann auch als ein Entspannungszeichen verstehen, welches anzeigt, dass wir ihren Verstehensanforderungen gerecht geworden sind. Vordergründig betrachtet konfrontieren uns Witze mit paradoxen Inhalten unterschiedlicher Struktur und Intensität und hintergründig mit Interpretations- und Grenzziehungsproblemen vielfältiger Art. Da wir Unverstandenes psychisch nicht ertragen können, zwingen uns Witze indirekt immer dazu, unsere
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Denk-, Sprach- und Erwartungsmuster zu revidieren, um Ungereimtheiten zu Gereimtheiten zu machen. Die traditionelle Unterscheidung von Inhaltswitzen bzw. Gedankenwitzen und Sprachwitzen ist in einem typologischen Sinne in bestimmten Hinsichten sicherlich brauchbar. Sie hat aber auch ihre Tücken, weil im konkreten Fall Sachunterscheidungen und Sprachunterscheidungen meist immer eng miteinander korreliert sind. Sprachwitze spielen zwar mit Sprachkonventionen, aber sie gehen immer irgendwie in Gedankenwitze über, weil das Spiel mit Wörtern auch immer ein Spiel mit Denkkonzepten ist bzw. ein Spiel mit Denkinhalten und Denkintentionen. Ein gutes Beispiel für die Zusammengehörigkeit von Inhalts-, Gedanken- und Sprachwitzen ist der folgende Witz, der sich schon bei Jean Paul findet und dem Freud folgende Fassung gegeben hat: Serenissimus macht eine Reise durch seine Staaten und bemerkt in der Menge einen Mann, der seiner eigenen hohen Person auffällig ähnlich sieht. Er winkt ihn heran, um ihn zu fragen: „Hat Seine Mutter wohl einmal in der Residenz gedient?“ ‒ „Nein, Durchlaucht“, lautet die Antwort, „aber mein Vater.“ 63
Dieser Witz ist sprach- und negationstheoretisch deshalb besonders interessant, weil das Negationswort nein vordergründig eine Antwort auf eine rein sachthematische Frage zu sein scheint, aber hintergründig durch seine Ergänzung zugleich auch eine reflexionsthematische Antwort auf eine unausgesprochene Unterstellung des Fürsten, die wir uns aus unserem Wissen über feudale Sozialstrukturen erschließen können. Ohne dieses zusätzlich aktivierte Wissen ist die Informationsstruktur dieses Witzes bzw. seine Pointe nicht fassbar bzw. das, was mit diesem Negationswort faktisch negiert und unausgesprochen angedeutet bzw. affirmiert wird. Politische Witze werden hinsichtlich ihrer verdeckten Negations- und Affirmationspotenziale oft unverständlich, wenn man die Sachverhalte nicht zureichend kennt, auf die unausgesprochen Bezug genommen wird. Solche Witze veralten deshalb auch schnell, wenn nicht mehr allgemein präsent ist, auf welche Sachverhalte sie faktisch Bezug nehmen. „Wer war der größte Feldherr aller Zeiten?“ „Walter Ulbricht. Er hat 3 Millionen Gegner in die Flucht geschlagen und 17 Millionen Gefangene gemacht.“
�� 63 S. Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, Gesammelte Werke, Bd. 6 , 19877, S. 75. Vgl. J. Paul, Vorschule der Ästhetik, § 45, Werke Bd. 9, 1975, S. 177. Bei J. Paul fragt ein römischer Kaiser einen Fremden, ob seine Mutter in Rom gewesen sei, und bekommt dann folgende Antwort: „Nie, aber wohl mein Vater.“
338 � Negationshaltige Textformen Opfer von aggressiven Witzen sind oft Angehörige von Minderheiten, weil die Mehrheiten deren Denk- und Verhaltensgewohnheiten nicht kennen oder verstehen und deshalb pauschalisierend herabzuwürdigen versuchen. Die Funktionen solcher Witze bestehen weniger darin, gegebene Vorurteile anzuprangern bzw. zu negieren, sondern eher darin, diese Vorurteile zu affirmieren, insofern sie diese nicht zu brechen, sondern meist exemplarisch zu bestätigen versuchen. Ihnen kann deshalb schwerlich eine kognitive oder ästhetische Qualität zugeschrieben werden, weil sie keine selbstreflexiven Strukturen aufweisen und deswegen auch keine reflexionsthematischen Ansprüche stellen. Diese Sachlage ändert sich allerdings, wenn die Angehörigen von Minderheiten Witze über ihre eigenen Denk-, Verhaltens- und Sprechweisen machen und auf diese Weise von Witzobjekten zu Witzsubjekten mutieren. Das exemplifizieren neben den Ostfriesenwitzen, die Ostfriesen ursprünglich selbst in Umlauf gebracht haben, auch diejenigen Witze sehr gut, die Juden über sich selbst gemacht haben. Auf diese Weise können dann Selbstbezüglichkeitsstrukturen von großer Raffinesse und versöhnlicher Selbstironie entstehen. Über diese Art der Selbstverspottung werden dann möglichen Angreifern die eigenen Waffen aus der Hand geschlagen, weil ja damit zu rechnen ist, dass derjenige, der seine eigenen Schwächen und Probleme kennt, diese auch bewältigen kann.64 Ein Jude musste aus seiner Heimat flüchten. Nun betritt er israelischen Boden und seufzt: „Zweitausend Jahre haben wir vergeblich um Rückkehr gebetet ‒ und ausgerechnet mich muss es treffen!“
Sprachwitze resultieren meist aus der semantischen Mehrdeutigkeit von bestimmten Wörtern. Ihre Pointen ergeben sich dabei oft aus dem fälschlichen Glauben, dass mit denselben Namen auch dieselben Begriffe bzw. Sachverhalte bezeichnet werden. Dadurch können sich dann natürlich vielfältige semantische Inkohärenzen oder gar Paradoxien ergeben. Diese lassen sich nur dann auflösen, wenn wir unser einsinniges sachthematisches Denken durch ein mehrsinniges reflexionsthematisches ergänzen und dabei beachten, dass der Sinn von Wörtern sich nicht nur aus Konventionen ergibt, sondern auch aus ganz bestimmten Mitteilungsintentionen, was ja nicht nur Metaphern, sondern auch Witze schlagend exemplifizieren. „Was ist der Unterschied zwischen Blue Jeans und der Bürokratie?“ „Es gibt keinen. An den entscheidenden Stellen sitzen immer Nieten!“
�� 64 Vgl. E. Ch. Hirsch, Der Witzableiter oder die Schule des Lachens, 20014, S. 266.
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Sehr viel anspruchsvoller werden Sprachwitze, wenn die medialen Implikationen von Verstehensoperationen nicht so klar in Erscheinung treten wie bei doppeldeutigen Wörtern, sondern eher auf verdeckte Weise. „An diesem Bild kann ich mich nicht satt sehen!“ sagt der Besucher einer Galerie. „Ja, genau deswegen will ich es ja auch verkaufen“, stimmt der Maler zu.
Besonders anspruchsvoll werden Sprachwitze, wenn es bei ihnen um Bedeutungsinkohärenzen geht, an denen auch grammatische Zeichen beteiligt sind, die ja keine Bezeichnungsfunktion für faktische Sachverhalte haben, sondern vielmehr eine Instruktionsfunktion für die Interpretation und kontextuelle Zuordnung von bestimmten Inhaltsvorstellungen bzw. von lexikalischer Basisinformationen. So kann beispielsweise der Instruktionswert von gleichlautenden Partikeln je nach Betonung und Stellungsposition in Äußerungen sehr unterschiedlich ausfallen. Ihre Wiederholung durch einen anderen Sprecher kann deshalb dann auch eine ganz andere Sinnbildungsfunktion haben. „Ich liebe Dich, liebst Du mich auch?“ „Ja, Dich auch!“
In der anfänglichen Frage ist die Modalpartikel auch in eine Vergewisserungsbzw. Entscheidungsfrage integriert und pragmatisch dazu bestimmt, dem Angesprochenen nahezulegen, mit einem zustimmenden Ja zu reagieren. In der Antwort führt der Gebrauch des Partikels auch hingegen dazu, dass mit dem faktisch gegebenen Ja einer Vorstellung zugestimmt wird, in der die ursprünglich thematisierte individuelle Liebesbeziehung nur als ein Einzelfall von Liebesrelationen überhaupt in Erscheinung tritt. Dadurch wird dann natürlich etwas ganz anderes affirmiert als das, was die fragende Person intentional affirmiert haben wollte. Auf diese Weise wird nun die formale Affirmation ganz hinterlistig zu einer faktischen Negation der ursprünglichen Informationserwartung. Witzige Pointen und Erwartungsbrüche können sich auch ergeben wenn gleich klingende Wörter unterschiedliche Wortarten bzw. Satzglieder repräsentieren, was im Deutschen oft nur durch die unterschiedlichen Schreibweisen ins Auge fällt: der Gefangene floh / der gefangene Floh; der Junge sieht dir ungeheuer ähnlich / der Junge sieht dir Ungeheuer ähnlich; er hat in Berlin liebe Genossen / er hat in Berlin Liebe genossen; er verweigerte Speise und Trank / er verweigerte Speise und trank. Zuweilen treten Sprachwitze als Formwitze nur dann in Erscheinung, wenn wir auch über ein bestimmtes Sachwissen verfügen. So ist beispielsweise das Kompositum Brennholzverleih formal völlig regulär gebildet, aber inhaltlich absurd, weil Brennholz wegen seiner Funktion nicht als eine substanzielle Größe verleihbar ist, sondern allenfalls als eine abstrakte quantitative Größe.
340 � Negationshaltige Textformen Als Sprach- und Gedankenwitze lassen sich vielleicht auch solche Witze klassifizieren, deren Pointen daraus resultieren, dass auf Behauptungen und Fragen nicht auf der jeweils erwarteten Ebene geantwortet wird, sondern auf einer ganz anderen. Das kann dann pragmatisch gesehen völlig absurd sein, obwohl es in logischer Hinsicht in einem bestimmten, aber eingeschränkten Sinne durchaus korrekt ist, sofern man von anderen als den üblichen Denkprämissen ausgeht. „Warum gibt es eigentlich Fahrpläne, wenn Züge immer Verspätung haben?“ „Woher wüsste man sonst, dass sie Verspätung haben.“ Pfarrer: „Was muss man tun, damit einem seine Sünden vergeben werden?“ Konfirmand: „Sündigen!“ „Ihr neustes Buch ist ausgezeichnet, wer hat es denn geschrieben?“ „Nett, dass Sie es kennen. Wer hat es Ihnen denn vorgelesen?“
7.3 Die Lüge Lügen werden in der Regel nicht wie Aphorismen und Witze als konventionalisierte Textmuster wahrgenommen, sondern als ethische Verfehlungen beim Gebrauch von Sprache. Gleichwohl hat man aber sicherlich einzuräumen, dass Lügen eine bestimmte sprachliche Struktur haben müssen, um als sprachliche Täuschungshandlungen wirksam werden zu können. Das hat Wittgenstein sehr klar zum Ausdruck gebracht, als er die Lüge als ein ganz spezifisches Sprachspiel klassifizierte. „Das Lügen ist ein Sprachspiel, das gelernt sein will, wie jedes andre.“65 Dieses Verständnis von Lügen impliziert, dass Lügen immer auch bestimmte Affirmations- und Negationsimplikationen haben und dass sie im Gegensatz zu anderen Sprachspielen ihre vom Sprecher intendierten pragmatischen Wirksamkeiten nur dann entfalten können, wenn sie von den jeweiligen Adressaten gerade nicht als Lügen wahrgenommen werden, sondern als normale Sachaussagen bzw. als Sprachspiele eines ganz anderen Typs. Das bedeutet, dass wir die mit Lügen verbundenen Zeichenstrukturen und damit auch die mit ihnen verbundenen Negationsimplikationen nicht in einer kommunikativen, sondern vielmehr in einer extrakommunikativen Wahrnehmungsperspektive bzw. in einem Blick von außen zu beschreiben und zu analysieren haben.
�� 65 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 249, 1967, S. 115.
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Der externe Blick auf Lügen hat zur Folge, dass wir bei ihrer phänomenologischen Beschreibung nicht nur nach ihren sprachlichen, sondern auch nach ihren ethischen und anthropologischen Implikationen zu fragen haben, wenn wir ihre besonderen pragmatischen Funktionen erfassen wollen. Als faktische Täuschungshandlungen können sich Lügen nicht an die ethischen Normen des kommunikativen Sprachgebrauchs halten, aber sie müssen gleichwohl immer die grammatischen Normen des sinnvollen Sprechens nutzen, um ihre Täuschungsintentionen realisieren zu können. Allerdings haben wir diesbezüglich auch zu beachten, dass es sprachliche Mitteilungsformen gibt, die zwar auch keine faktisch gegebenen Sachverhalte objektivieren, die aber dennoch nicht mit konkreten Täuschungsabsichten verbunden sind, was etwa metaphorische Aussagen, fiktionale Texte, diplomatische Redeweisen oder Komplimente exemplifizieren. Solche faktisch unzutreffenden Redeweisen sind allenfalls als durchsichtige Lügen zu bezeichnen, die keine wirklichen Täuschungsabsichten haben, obwohl sie rein sachthematisch betrachtet durchaus Unwahres mitteilen. Sie müssen dann allerdings fassbare Lügensignale aufweisen, um nicht als reale Täuschungen wahrgenommen zu werden. Gleichwohl ist es bei ihnen nicht immer leicht, eindeutig festzulegen, was in ihnen affirmiert und was negiert wird. Aus dieser komplexen Problemlage wird hier die methodische Konsequenz gezogen, die Aufmerksamkeit zunächst auf die möglichen Negationsimplikationen genuiner Lügen zu richten und diejenigen von durchsichtigen Lügen später im Kontext der Fiktionsproblematik näher zu betrachten. Um die Negationsimplikationen genuiner Lügen herauszuarbeiten, werden diese zunächst in einer ethischen und anthropologischen Wahrnehmungsperspektive untersucht und dann in einer zeichentheoretischen bzw. semiotischen. Grundsätzlich ist bei alldem zu bedenken, dass das Phänomen bzw. der Begriff der Lüge erst im Kontrast mit den Begriffen Wahrheit und Wahrhaftigkeit Gestalt und Relief bekommt und dass sich dementsprechend unsere Lügenvorstellungen auch wandeln, wenn sich unsere Wahrheitsvorstellungen verändern bzw. unsere Normvorstellungen für den adäquaten Gebrauch von Sprache. Deshalb gibt es ja auch zahlreiche Variationen des Lügenbegriffs, die Lügen auch im Hinblick auf die konkret mit ihnen verbundenen Intentionen zu qualifizieren versuchen: Notlüge, Zwecklüge, Schutzlüge, Tröstungslüge, Höflichkeitslüge, diplomatische Lüge, heilsame Lüge usw.
7.3.1 Die Lüge in ethischer Sicht Das Phänomen Lüge nehmen wir heute in der Regel wohl weniger als erkenntnistheoretisches Problem im Rahmen der Opposition von Wahrheit und Un-
342 � Negationshaltige Textformen wahrheit bzw. Irrtum wahr, sondern eher als ethisches Problem im Rahmen der Opposition von Wahrhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit bzw. Täuschung. Das legt es nahe, danach zu fragen, welche ethischen Normen wir verletzen bzw. negieren, wenn wir lügen. Der ethische Blick auf die Lüge hat seit der Antike zwar eine lange Tradition, aber daneben hat es immer auch andere Sichtweisen auf dieses Phänomen gegeben, was beispielsweise die folgende Abwandlungsbegriffe des Lügenbegriffs recht klar exemplifizieren: Verdrehung, Vernebelung, Flunkerei, Halbwahrheit, Illusion, Fiktion usw. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass im frühgriechischen Denken die Denkkonzepte Wahrheit und Wirklichkeit weitgehend zusammengefallen sind.66 Das machte es dann auch leicht, unter dem Terminus pseudos alle Phänomene zusammenzufassen, die wir heute im Deutschen mit Hilfe der Termini Lüge, Irrtum, Illusion und Fiktion sorgsam zu trennen versuchen. Vor diesem Hintergrund wird dann auch leichter verständlich, warum in der griechischen Antike von Solon bis Platon den Dichtern immer wieder der Vorwurf gemacht worden ist, wissentlich zu täuschen bzw. zu lügen, da ihre Texte keinen realen Abbildungsbezug zur faktisch gegebenen Welt hätten. Im Gegensatz zu den Griechen haben die Römer gerade wegen ihres eher praktisch und rechtlich orientierten Denkens schon früh zwischen einem ethischen orientierten Begriff der Lüge (mendacium) und einem eher erkenntnistheoretisch orientierten Begriff des Irrtums (error) unterschieden. Von Anfang an haben sie sich darum bemüht, das Wahrheitsproblem in einer doppelten Perspektive zu sehen. Ihnen war immer wichtig zu wissen, ob Aussagen wahr sind, weil sie bestimmte Sachverhalte zutreffend sprachlich objektivieren, oder ob sie wahr sind im Sinne von ethisch wahrhaftig, weil mit ihnen keine Täuschungsabsichten des jeweiligen Sprechers verbunden sind. Das machte es dann auch notwendig, im juristischen Bereich zwischen einem irrtümlichen Falscheid und einem lügenhaften Meineid zu unterscheiden. Auf diese Weise wurde das Problem der Lüge dann bei den Römern einerseits zu einem ontologischen und erkenntnistheoretischen Problem und andererseits zu einem psychologischen und ethischen, weil es bei der Beurteilung Lügen sowohl um Seinsfragen als auch um Sollensfragen gehen konnte. Während sich die Griechen in diesem Zusammenhang vor allem dafür interessierten, ob etwas Gesagtes eine faktische Referenz hatte oder nicht, interessierten sich die Römer von Anfang an auch immer dafür, ob etwas absichtlich oder unab-
�� 66 Vgl. W. Luther, der frühgriechische Wahrheitsgedanke im Lichte der Sprache, Gymnasium 65, 1958, S. 77.
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sichtlich falsch dargestellt wurde.67 Daraus ergeben sich dann natürlich auch für die Frage nach den Negationsimplikationen von Lügen ganz unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven. Vor diesem sprachlichen und kulturellen Hintergrund wird nun auch besser verständlich, warum sich Augustin bei seinen Überlegungen zur Lüge keineswegs darauf beschränkt hat, Lügen als Verstöße gegen das biblische Lügenverbot zu brandmarken, sondern sich vielmehr auch intensiv darum bemüht hat, noch tiefer liegende Strukturverhältnisse beim lügenhaften Sprachgebrauch aufzudecken bzw. noch fundamentalere Negationsimplikationen. Dabei greift er insbesondere auf den Täuschungsbegriff zurück, um über ihn die Lüge nicht nur als faktische Falschaussage, sondern auch als ein grundlegendes ethisches, psychologisches und anthropologisches Problem in den Blick zu bekommen. Dadurch wird es ihm dann zugleich möglich, den täuschenden Sprachgebrauch klar vom metaphorischen und fiktionalen zu unterscheiden und ihn auf sehr grundsätzliche Weise als Negation der göttlichen Weltordnung zu brandmarken. Und doch ist die Sprache nicht geschaffen, damit die Menschen sich gegenseitig täuschen, sondern damit der eine dem anderen seine Gedanken vermitteln kann. Die Sprache zur Täuschung zu benutzen und nicht zu dem ihr (von Gott) gesetzten Zweck, ist Sünde. Und man darf nicht deshalb irgendeine Lüge für sündenlos halten, weil man gelegentlich einem Menschen durch eine Lüge nützen kann.68
Die ethische Problematik des Lügens als eines täuschenden Sprachgebrauchs hat Augustin eindringlich über das Sinnbild des doppelten Herzens zum Ausdruck gebracht, welches das geläufige Bild von der gespaltenen Zunge erhellend ergänzt. Demgemäß lügt derjenige, der etwas anderes, als was er im Herzen trägt, durch Worte oder beliebige sonstige Zeichen zum Ausdruck bringt. Daher spricht man ja auch von einem doppelten Herzen bei einem Lügner, will heißen von einem doppelten Gedanken, einmal an das, was wahr ist, wie er weiß oder meint, ohne es auszusprechen, und zweitens an das, was er statt dessen ausspricht, obwohl er weiß oder meint, daß es falsch ist. Daraus folgt, daß man die Unwahrheit sagen kann, ohne zu lügen, wenn man meint, es sei so, wie man sagt, mag es auch nicht so sein, und daß man die Wahrheit sagen und dabei doch lügen kann, wenn man meint, es sei unwahr und es als wahr ausspricht, mag es auch in Wirklichkeit so sein, wie man es sagt. Nach seiner inneren Gesinnung, nicht nach der Wahrheit oder Unwahrheit des Sachverhalts selbst muß man ja beurteilen, ob einer
�� 67 Vgl. P. Schottländer, Die Lüge in der Ethik der griechisch-römischen Philosophie. In: O. Lipmann/P. Plaut, Die Lüge, 1927, S. 99. 68 A. Augustinus, Handbüchlein des hl. Augustinus, Kap. 22, 1923, S. 34.
344 � Negationshaltige Textformen lügt oder nicht lügt […]. Die Schuld des Lügners aber besteht in der Absicht, zu täuschen bei der Aussprache seiner Gedanken.69
Die Kennzeichnung von Lügen als gewollten Täuschungshandlungen bzw. als Verstöße gegen gültige Verhaltensnormen ließ sich auch aufrecht erhalten, als man diese Normen nicht mehr religiös begründete, sondern im Kontext des Vertragsdenkens von Grotius und Pufendorf säkular bzw. juristisch. Lügen konnten im Kontext dieses Denkens dann als eklatante Verstöße gegen explizite oder implizite Konventionen für ein gedeihliches soziales Zusammenleben und Kommunizierens verstanden werden. Ebenso wie das politische und ökonomische Handeln vertragsgetreu sein musste, so musste auch das kommunikative Handeln innerhalb sozialer Gruppen konventionsgetreu und wahrhaftig sein. Deshalb gibt es dann ja auch innerhalb von Gangstergruppen ein strenges Lügenverbot, aber keines gegenüber Außenstehenden. In diesem Zusammenhang ist nun auch die Analogie zwischen Lüge und Falschgeld recht aufschlussreich. Durch beide Mittel können sich Handelnde kurzfristig bestimmte Vorteile verschaffen, aber keineswegs langfristig, weil beide Phänomene letztlich zum Zusammenbruch kooperativen Handelns führen und Gift für das soziale Zusammenleben sind. Auf den Nominalwert von Geldstücken muss man ebenso vertrauen können wie auf den von Bedeutungen und Aussagen, wenn soziale Gruppen dauerhaften Bestand haben sollen. Mit Hilfe der Analogie von Lüge und Falschgeld lässt sich auch noch auf einen Umstand aufmerksam machen, der gerade bei der vertragsrechtlichen Wahrnehmung und Beurteilung von Lügen eine ganz wichtige Rolle spielt. In dieser Perspektive sind Lügen nämlich nur dann wirkliche Lügen, wenn sie beim Belogenen zu einem tatsächlichen Schaden führen, aber nicht, wenn sie schadensneutral oder gar schadensmildernd sind, was etwa bei den sogenannten Höflichkeits- und Tröstungslügen zutreffen könnte. Bei der vertragsrechtlich orientierten Wahrnehmung von Lügen wäre außerdem die Frage zu stellen, ob der Belogene ein Recht auf wahrheitsgemäße Aussagen hat. Beispielsweise kann diskutiert werden, ob denn tatsächlich eine Lüge vorliegt, wenn man gegenüber einem Mörder wissentlich falsche Aussagen über den Aufenthaltsort eines Menschen macht, den dieser in verbrecherischer Absicht sucht. In diesem Fall muss es zweifellos zu einer Abwägung von Rechtsgütern bzw. Rechtsnormen kommen. Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, dass sich das Wahrhaftigkeitsprinzip bei sprachlichen Äußerungen leichter postulieren als befolgen lässt.
�� 69 A. Augustinus, Die Lüge und Gegen die Lüge, 1953, S. 3.
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Die Ächtung der Lüge auf der Basis von stillschweigenden Verträgen und Konventionen dokumentiert sich auch in den heute oft postulierten Normen für einen pragmatisch sinnvollen Sprachgebrauch. Hier rangiert die Aufrichtigkeitsregel an ganz prominenter Stelle, weil ansonsten vertrauensvollen Kommunikationsprozessen sehr schnell die Grundlage entzogen würde. Das ist nicht zuletzt auch dadurch bedingt, dass die Sprache nicht nur einem einzigen Zweck dient, sondern immer mehreren und dass eben deswegen ein großes Vertrauen darein gesetzt werden muss, dass die jeweiligen Gesprächspartner ihre Partner nicht willentlich täuschen wollen. Die Aufrichtigkeitsregel ist deshalb ebenso wie die Vertragstreueregel (pacta sunt servanda) nicht nur eine Konvention unter anderen, sondern die Grundlage von Kooperation und Kommunikation schlechthin. Von ihr darf praktisch nur dann abgewichen werden, wenn durch bestimmte Metainformationen (Lügen- bzw. Fiktionssignale) verdeutlicht wird, dass etwas nicht so gilt, wie es wortwörtlich gesagt wird. Da solche Relativierungssignale interpretationsbedürftig sind, ergibt sich das Problem, dass Äußerungen im polyfunktionalen natürlichen Sprachgebrauch nicht immer eindeutig nach dem zweiwertigen Schema von wahr oder falsch bzw. von aufrichtig und lügenhaft bewertet werden können. Deshalb gibt es dann ja auch vielfältig abgestufte Beurteilungsbegriffe für problematische Aussagen: Halbwahrheiten, Verdrehungen, Verkürzungen, Verzerrungen, Übertreibungen usw. Das bedeutet, dass das allgemeine Wahrhaftigkeitsgebot wohl eher als ein Wahrhaftigkeitsideal zu verstehen ist, das nicht immer kategorisch und mechanisch befolgt werden kann, sondern oft nur intentional oder annäherungsweise. Dadurch wird seine pragmatische Bedeutsamkeit nun aber keineswegs geschmälert. In diesem Zusammenhang ist eine Stellungnahme Kants zum Problem der Lüge sehr interessant, weil sie auf Negationsimplikationen von Lügen aufmerksam macht, die nicht über den Begriff der Täuschung fassbar werden, sondern möglicherweise über den Begriff der menschlichen Würde. Für Kant ist nämlich die Lüge in erster Linie nicht eine Verletzung bzw. eine Negation der Rechte des jeweils Belogenen, sondern vielmehr eine Verletzung und Negation der Würde des Lügenden selbst und damit eine Erscheinungsform der Selbstzerstörung des Menschen als Menschen. Die größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, bloß als moralisches Wesen betrachtet (die Menschheit in seiner Person), ist das Widerspiel der Wahrhaftigkeit: die L ü g e […]. Die Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde. Ein Mensch, der selbst nicht glaubt, was er einem anderen (wenn es auch ei-
346 � Negationshaltige Textformen ne bloß idealische Person wäre) sagt, hat einen noch geringeren Wert, als wenn er bloß Sache wäre;“70
Kants ethischer Rigorismus im Hinblick auf die kategoriale Verdammung der Lüge und seine Abscheu davor, das Lügen aus bestimmten pragmatischen Gründen zu rechtfertigen, impliziert auch, dass er die Überlegungen von Juristen nicht akzeptieren kann, dass die Lüge erst dann eine wirkliche Lüge sei, wenn sie dem Belogenen wirklich schade. „Denn sie schadet jederzeit einem anderen, wenn gleich nicht einem andern Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht.“71 Eine deutlich andere Position zur ethischen Beurteilung der Lügenproblematik als Kant hat Schopenhauer eingenommen. Er ist der Meinung, dass man in allen Fällen, in denen man ein Recht auf Notwehr habe, auch ein Recht auf Lüge besitze. Beispielsweise dürfe man einen Räuber durch eine Lüge in einen Keller locken und ihn dort einsperren.72 Ein Recht auf Lüge habe man auch gegenüber der vorwitzigen Neugier anderer Menschen. Diese Position Schopenhauers wirft natürlich die Frage auf, ob bzw. inwieweit man Unrecht mit Unrecht vergelten darf und ob es so etwas wie eine fürsorgliche Lüge gibt, die das Wahrhaftigkeitspostulat einschränken oder gar aufheben kann.
7.3.2 Die Lüge in anthropologischer Sicht Die Frage nach den anthropologischen Aspekten der Lüge ist umfassender als die nach den ethischen, weil sie dieses Phänomen nicht nur im Rahmen der Kulturgeschichte des Menschen zu thematisieren hat, sondern auch in dem seiner Naturgeschichte. Bei dieser Frage sind nicht nur die kulturellen Implikationen von Lügen ins Auge zu fassen, sondern auch ihre biologischen bzw. evolutionären. Auf diese Weise lässt sich dann zugleich das Bewusstsein dafür schärfen, welche Analogien und Differenzen zwischen den Verhaltensweisen von Tieren und Menschen bestehen und wie sich Kulturordnungen auf der Basis von Naturordnungen entfalten können. Bei dieser Betrachtungsweise bekom�� 70 I. Kant, Metaphysik der Sitten, A 84, Werke Bd. 8, 19782. S. 562f. An einer anderen Stelle kommt Kant zu einem ähnlich rigorosen Urteil über die Lüge: „Die Lüge […] ist der eigentlich faule Fleck in der menschlichen Natur;“ I. Kant, Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VIII, 1923, S. 422. 71 I. Kant, Über das vermeintliche Recht aus Menschenliebe zu lügen, A 305, Werke Bd. 8, 19782, S. 638. Zur Lügenproblematik bei Kant vgl. auch; G. Geismann (Hrsg.), Kant und das Recht der Lüge, 1986; A. Baruzzi, Philosophie der Lüge, 1996, S. 74‒100. 72 A. Schopenhauer, Werke Bd. 1, 1988, S. 441 und Werke Bd. 3, S. 581.
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men dann auch die Begriffe der Affirmation und Negation nicht nur eine sprachliche und kulturelle, sondern auch eine biologische Dimension. Wenn wir die Lügenproblematik im Rahmen des Evolutionsgedankens betrachten, dann wird unsere Aufmerksamkeit insbesondere auf die entwicklungsgeschichtlichen, funktionalen und dialektischen Aspekte von Lügen gelenkt. Auf diese Weise kann dann einerseits verdeutlicht werden, wie im Kampf gegen die Lüge kulturelle Institutionen wie etwa Sitte, Ethik und Recht entstanden sind, die allesamt dazu dienen, Chaos zu vermeiden und Ordnung zu stiften. Andererseits kann auf diese Weise aber auch einsichtig gemacht werden, dass sich die Lüge als produktiver Evolutionsfaktor betrachten lässt, insofern sie eine wichtige Rolle dabei spielen kann, verfestigte Ordnungsstrukturen und Systeme verbessernd in Frage zu stellen. Sie stellt uns nämlich vor das Problem, eine Antwort darauf zu geben, wie man faktisch mit der Negation von kulturellen Normen und Handlungstraditionen umzugehen hat. Gerade weil Lügen bzw. Täuschungsstrategien in ihren sehr unterschiedlichen Erscheinungs- und Intensitätsformen Organismen immanent ständig dazu zwingen, etablierte Verhaltensweisen zu variieren, um ihre Überlebenschancen zu verbessern, motivieren sie natürlich auch dazu, die Sensibilitäten für die Wahrnehmung von Zeichen aller Art zu verbessern und die eigenen Reaktionsmöglichkeiten auf Zeichen zu flexibilisieren. Die dialektische Bedeutsamkeit der Lüge besteht nicht nur darin, dass sie dem Lügenden neue, wenn auch nicht unproblematische Handlungsspielräume eröffnet, sondern auch darin, dass sie den Belogenen zur Entwicklung neuer Abwehrstrategien und Handlungsformen zwingt. Deshalb lässt sich dann auch der Kampf gegen die Lüge bzw. das Spiel mit Lügen als ein Evolutionsfaktor von hoher biologischer und kultureller Relevanz ansehen, da Lügen immanent immer dazu zwingen, unseren Zeichengebrauch und unsere Handlungsweisen zu differenzieren, zu variieren und pragmatisch zu bewerten. Das Phänomen der Lüge weist im Hinblick auf ihre innere Dialektik partielle Analogien zum Phänomen der Blutrache auf. Beide Phänomene sind zweischneidige Waffen mit einem zwiespältigen pragmatischen Funktionswert, der prinzipiell kulturell reguliert werden muss. Ebenso wie die Lüge war auch die Blutrache ursprünglich ein Handlungsmittel im Überlebenskampf von Individuen und Gruppen. Sie diente dazu, sich gegenüber feindlichen Mächten zu wehren. Beide Verhaltensweisen konnten pragmatisch allerdings auch höchst gefährlich werden, wenn sie überhand nahmen bzw. rein mechanisch praktiziert wurden, weil sie dann leicht in einen völlig destruktiven Zirkel von Gewalt und Gegengewalt bzw. von Lüge und Gegenlügen einmündeten. Gleiches auf ganz mechanische Weise mit Gleichem zu vergelten, ist in Überlebenskämpfen langfristig nie sehr erfolgreich gewesen, weshalb es dann evolutionär gesehen
348 � Negationshaltige Textformen auch als ziemlich unsinnig zu beurteilen ist. Angesichts dieser Erfahrung hat man daher immer wieder versucht, Tötungsdelikte und Lügen mit Sühneopfern ganz anderen Typs zu bekämpfen bzw. auszugleichen, um in Überlebenskämpfen nicht in einen selbstzerstörerischen Verhaltenszirkel zu geraten. Die kulturelle Funktion von Lügen bzw. Täuschungen hat sicherlich auch damit zu tun, dass dem Lügenden im Prinzip immer mehr intellektuelle Wendigkeit abverlangt wird als dem, der gewohnheitsmäßig sittlich handelt. Derjenige, der täuschen will, muss nämlich in der Lage sein, die Denkweisen, Erwartungsvorstellungen und Wünsche seiner jeweiligen Opfer richtig einzuschätzen und seine eigenen Affirmationen und Negationen flexibel darauf abzustimmen, wenn er bestimmte Täuschungsintentionen verwirklichen will. Deshalb sind auch Gestalten wie die Schlange aus dem Paradiese, wie Mephisto oder wie Hochstapler rein intellektuell betrachtet auch sehr viel faszinierender als gradlinig und berechenbar handelnde Menschen. Gerade weil Lügen immer eine große intellektuelle Wendigkeit erforderlich machen, sind sie von großer evolutionärer und anthropologischer Relevanz. Schon 1834 hat der Arzt und Psychologe Johann Christian August Heinroth lange vor den Überlegungen Darwins zum Überlebenskampf von Lebewesen darauf aufmerksam gemacht, dass die Lüge ein Phänomen sei, das man aus dem „Willen zur Selbstbehauptung“ bzw. aus der „Furcht“ und der „Begierde“ ableiten müsse und könne.73 Für ihn ist die Lüge etwas, was auf der menschlichen Freiheit basiert. „Nämlich es steht dem Geiste, als freiem Wesen, auch frei, das Seyn, oder was erwiesener Maßen dasselbe ist, die Wahrheit, zu verneinen.“74 Denn mit der ersten Lüge entdeckt der Mensch gleichsam eine neue Fähigkeit, eine neue Kraft in sich, nämlich die, der Wahrheit und ihrer Strenge zu entgehen, die, wie alle Strenge, jederzeit unangenehm ist. Einer Unannehmlichkeit aber zu entgehen, ist stets etwas Angenehmes […]. Daher ist das Lügen eine Kunst, die der Mensch gleichsam von selbst lernt, und eher als andere Künste.“ 75
Obwohl die Lüge nach Heinroth ursprünglich aus der Welt der Triebe komme, werde sie mit Hilfe des Verstandes dann doch konkret in sehr unterschiedlichen Formen ausgestaltet. Deshalb müsse der Kampf gegen die Lüge auch hier ansetzen, damit der Verstand nicht verlerne „ein Diener der Wahrheit zu seyn“ und sich nicht in die Kunst „der Verdrehung und Verkehrung der Begriffe“ einübe und eben dadurch zu einem Werkzeug des Bösen werde.76 �� 73 J. Ch. A. Heinroth, Die Lüge, 1834, S. 161. 74 J. Ch. A. Heinroth, a. a. O., 1834, S. 153. 75 J. Ch. A, Heinroth, a. a. O. 1834, S. 172. 76 J. Ch. A. Heinroth, a. a. O. 1834, S, 177.
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Einen umfassenden Versuch, die Lüge entwicklungsgeschichtlich in Lebens- und Überlebenskämpfen zu verankern bzw. in biologischen und kulturellen Evolutionsprozessen, hat Volker Sommer gemacht. Während Heinroths Überlegungen zur Genese der Lüge im Prinzip dadurch bestimmt waren, effektive Vorkehrungen zur Bändigung von Lügen durch die Freilegung ihrer Antriebskräfte zu treffen, konzentriert sich der Biologe und Verhaltensforscher Volker Sommer auf rein deskriptive Analysen zur historischen Herkunft und praktischen Funktion von Lügen, um diesen dadurch etwas von ihrer kulturellen und moralischen Anrüchigkeit zu nehmen. Er sieht die evolutionären Grundfunktionen von Lügen letztlich darin, biologische und kulturelle Differenzierungsprozesse anzuregen und sehr komplexe Vernetzungsstrukturen im Denken und Handeln aufzubauen, wozu dann natürlich auch Affirmations- und Negationsrelationen gehören. Er will das Phänomen der Lüge als Gegenpol zu dem der Wahrheit nicht ethisch verdammen, sondern hinsichtlich seiner praktischen Zwecke und Konsequenzen beschreiben. „Die Auseinandersetzung mit der allgegenwärtigen Lüge, der Wettlauf zwischen Betrügern und Entlarvern, war eine entscheidende Triebfeder für die Entwicklung von Sprache, Geist und Kultur.“77 Gerade wenn man die Existenz, die Struktur und den Gebrauch von Zeichensystemen und insbesondere von Sprache als Ergebnis von evolutionären Prozessen ansieht bzw. als Konsequenz von biologischen Differenzierungs- und kulturellen Gestaltungsprozessen, dann lässt sich die Lüge nicht mehr nur als ethisches Problem betrachten, weil das Phänomen der Täuschung nicht nur kulturgeschichtliche, sondern auch naturgeschichtliche Wurzeln und Funktionen hat. Aus diesem Tatbestand ist nun allerdings weder eine generelle Verharmlosung noch eine Rechtfertigung von Lügen abzuleiten, da natürlich auch der kulturelle Kampf gegen die Lüge eine evolutionäre Notwendigkeit ist, um soziale Gruppen überlebensfähig zu machen. Sommer möchte durch seinen biologischen Denkansatz dafür werben, die Lüge nicht von vornherein als eine „Degenerationserscheinung der Kultur zu begreifen“. Er sieht nämlich in ihr in sehr dialektische Weise auch eine Prämisse, wenn nicht sogar eine konstitutive Triebfeder von biologischen und kulturellen Strukturierungsprozessen. Die Lüge zwinge nämlich dazu, Sein und Sollen in eine fruchtbare Beziehung zueinander zu setzen. „Sie war einer der härtesten Wetzsteine ‒ wenn nicht der härteste ‒, an dem sich unser Intellekt schärfte. Und den brauchen wir, wenn wir realistische ethische Normen aufstellen wollen.“78
�� 77 V. Sommer, Lob der Lüge, 1994, S. 30. 78 V. Sommer, Die evolutionäre Logik der Lüge bei Tier und Mensch, Ethik und Sozialwissenschaften, 4, 1993, S. 447.
350 � Negationshaltige Textformen Auch für Hannah Arendt gehören die Fähigkeit zu lügen und die Fähigkeit, die Wirklichkeit zu verändern, eng miteinander zusammen, weil beide ihr Dasein derselben Quelle verdankten, nämlich der menschlichen „Einbildungskraft“. Unser Vermögen zu lügen bestätige indirekt, dass es so etwas wie Freiheit gebe, nämlich die Freiheit von Situationen und Dingen sowie die Freiheit zur Konkretisierung von Alternativen. Allerdings berge diese Freiheit auch die Gefahr in sich, missbraucht oder pervertiert zu werden.79 Lügen sind aus evolutionären Umstrukturierungsprozessen nicht wegzudenken, weil sie auch Formen des Protestes gegen Macht- und Allwissenheitsansprüche sind. Gleichwohl darf man aber auch nicht vergessen, dass Lügen nicht nur ein pragmatisches Verteidigungs- und Anregungspotenzial haben, sondern auch ein soziales und geistiges Zerstörungspotenzial. Dieses offenbart sich insbesondere dann, wenn Lügner beginnen, an ihre eigenen Lügen zu glauben. Dieses Phänomen wird im Anschluss an Henrik Ibsen meist als Lebenslüge bezeichnet. Es dokumentiert, dass Lügen auch in Form von Selbsttäuschungen in Erscheinung treten können, die dann ein flexibles perspektivisches Denken mit Hilfe der Einbildungskraft verhindern. Theodor Adorno hat das sehr zugespitzt folgendermaßen formuliert: „Ein Deutscher ist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben.“80 Der Soziologe Georg Simmel hat nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass sich der lügende Mensch nicht nur als soziales, sondern auch als geistiges Wesen ad absurdum führe, wenn er nicht mehr in der Lage sei, die Grenzen zwischen Lüge und Wahrheit klar zu ziehen. In dem Augenblick, wo man die Lüge selbst glaubt, geht nicht nur ihre formale Bedeutung für die Schärfung der Intelligenz verloren sondern es beginnt eine verhängnisvolle Trübung derselben, ein Verrücken aller Kriterien, ein Durchkreuzen aller sachlichen Zusammenhänge des Denkens durch zügellos gewordene subjektive Interessen und Impulse. Es ist das tragische ‒ und eben dadurch ethisch versöhnende ‒ Entwicklungsschicksal der chronischen Lüge gegen andere, in Lüge gegen sich selbst überzugehen und damit der Intellektualität mehr zu nehmen, als die bewußte Lüge ihr geben konnte.81
Abgesehen von Lebenslügen haben alle Lügen eine genuine Nähe zu Akkommodationsprozessen, weil sie im Prinzip sowohl ihre Produzenten als auch ihre Rezipienten dazu zwingen, das eigene Denken perspektivisch flexibel zu halten, um Lügen zu konzipieren oder aufzudecken. Wer sein Denken nicht so gestalten �� 79 H. Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik, 1972, S. 9 und 74. 80 Th. Adorno zitiert nach G. Fieguth (Hrsg.), Deutsche Aphorismen, 1978, S. 277. 81 G. Simmel, Zur Psychologie und Soziologie der Lüge, in G. Simmel Gesamtausgabe Bd. 5, 1991, S. 406‒419 , S. 419.
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kann, dass er sich in die Denkperspektiven und den Sprachgebrauch anderer hineinversetzen kann, der kann mit Lügen nicht umgehen. Das betrifft nicht nur die genuinen Täuschungslügen, sondern auch die durchsichtigen bzw. spielerischen Lügen bzw. Fiktionen, die die Aufgabe haben, den Sprachgebrauch flexibel zu halten und in seinen vielfältigen Funktionsmöglichkeiten zu erproben.
7.3.3 Die Lüge in semiotischer Sicht Die Frage nach den Negationsimplikationen von Lügen in zeichentheoretischer Sicht konzentriert unser Wahrnehmungsinteresse auf die medialen Aspekte von Lügen. In diesem Zusammenhang ist dann zu klären, in welchen Formen Lügen in Erscheinung treten, wie sie aufgedeckt werden können und wie sie in Kommunikationsprozesse eingebettet werden müssen, um als Täuschungshandlungen wirksam werden zu können. Grundsätzlich ist diesbezüglich zu beachten, dass Lügen als Täuschungsverfahren vor allem dann wirksam werden können, wenn der Gebrauch von Sprache sich weitgehend von seiner unmittelbaren Situationsverschränktheit gelöst hat und zu einem eigenständigen Sinnbildungsmittel geworden ist, mit dem über die menschliche Einbildungskraft sogar ganz eigenständige Vorstellungswelten aufgebaut werden können. Das hat Oswald Spengler folgendermaßen thematisiert: „Man darf sagen, daß die Lüge mit der Trennung der Sprache vom Sprechen in die Welt gekommen ist.“82 Das evolutionär ausdifferenzierte Täuschungspotenzial der Sprache ist in vielen Hinsichten, mit dem evolutionär entwickelten Täuschungspotenzial des Geldes in sozialen Interaktionsprozessen zu vergleichen, worauf ja schon verwiesen worden ist. Solange in Tauschprozessen Geld in Form von Warengeld (Früchte, Gegenstände, Tiere) in Erscheinung tritt, solange sind die Möglichkeiten ziemlich gering, andere mit diesem Mittel zu täuschen. Das ändert sich aber schon, wenn das sehr viel abstraktere Münzgeld verwendet wird, weil nun schon ein sehr hohes Vertrauen in das immanente Wertversprechen der jeweiligen Münzen gesetzt werden muss (Metallreinheit, Metallgewicht, Metallwert). Dieses Problem verschärft sich dann noch bei der Verwendung von Papiergeld oder elektronisch nutzbarem Zahlengeld. Tauschaktionen werden durch diese Geldformen zwar sehr viel leichter, aber dafür auch sehr viel anfälliger für Täuschungsmanöver, weil die jeweiligen Geldrezipienten auf den Nominalwert von Geldgrößen ebenso vertrauen müssen wie die Sprachrezipienten auf den Nominalwert von Wörtern und Aussagen. Je situations- und erfahrungsabstrakter �� 82 O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1963, S. 719.
352 � Negationshaltige Textformen Geld- und Sprachformen werden, desto mehr muss man auf die Redlichkeit von Interaktionspartnern bzw. auf das konventionalisierte Inhaltsversprechen der jeweils verwendeten Zeichen vertrauen. Wenn man die Sprache als Objektivierungs- und Kommunikationsmittel unter einen generellen Täuschungsverdacht stellt, dann wird sie als soziales Interaktions- und Sinnbildungsmittel ziemlich wertlos. Das träfe beispielsweise zu, wenn man Nietzsches radikaler sprachkritischer These zustimmte. Wahrhaft zu sein, das heißt die usuellen Metaphern zu brauchen, also moralisch ausgedrückt: von der Verpflichtung, nach festen Konventionen zu lügen, herdenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen.“83
Diese generalisierende Überdehnung des Begriffs der Lüge macht diesen für anthropologische, phänomenologische und semiotische Überlegungen allerdings ziemlich unbrauchbar. Wenn jeder Sprachgebrauch prinzipiell als lügenhaft angesehen wird, dann ergibt sich daraus die Konsequenz, auf den Begriff der Lüge völlig zu verzichten, weil er unter diesen Umständen überhaupt keine semantische Differenzierungsfunktion mehr hat. Es erübrigte sich dann auch von selbst, Maßstäbe und Kriterien für einen adäquaten Sprachgebrauch zu entwickeln. Wir könnten sprachliche Kommunikationsprozesse kaum noch im Sinne von Kooperations- und Sinnbildungsprozesse verstehen, sondern eigentlich nur noch als Übervorteilungs- und Herrschaftsprozesse, die letztlich ähnlich wie Handelsprozesse auf der Basis von Falschgeld ins Chaos führen müssen. Deshalb hat Fritz Mauthner dann auch auf eine sehr bezeichnende Inkonsequenz in Nietzsches Sprachdenken aufmerksam gemacht. „Sein Mißtrauen gegen die Sprache ist unbegrenzt; aber nur solange es nicht s e i n e Sprache ist.“84 Da sich die Semiotik als allgemeine Zeichenlehre mit allem zu beschäftigen hat, was sich mit Hilfe von Zeichen bewerkstelligen lässt, hat sie sich natürlich auch mit dem Phänomen der Lüge zu befassen. Dabei stehen für sie als Strukturwissenschaft natürlich eher die phänomenologischen und pragmatischen Aspekte von Lügen im Vordergrund des Interesses als die rein ethischen, da sie sich für die Lüge vor allem als Zeichen- und Interaktionsphänomen zu interessieren hat. Das semiotisch Vertrackte von Lügen besteht nun darin, dass Lügen, abgesehen von durchsichtigen Lügen, asymmetrische Sprachspiele sind, bei denen der jeweilige Zeichenrezipient die eigentlichen Intentionen des Zeichenproduzenten nicht verstehen soll, sondern nur die jeweils vorgetäuschten. Das bedeu�� 83 F. Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, Werke Bd. 3, 19737, S. 314. 84 F. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1, 1982, S. 366.
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tet, dass Lügen ebenso wie Falschgeld die Grundprinzipen vertrauensvoller Kooperation ad absurdum führen, weil Kommunikationsprozesse im ursprünglichen Wortsinne nun nicht als soziale Teilungsprozesse in Erscheinung treten, sondern vielmehr als Übervorteilungsprozesse, die letztlich Gift für das soziale Handeln bzw. Zusammenleben sind. Zeichentheoretisch gesehen sind Lügen in einem doppelten Sinne interessant. Einerseits werden nämlich Zeichen so verwendet, dass mit ihnen konkrete Vorstellungsinhalte intersubjektiv verständlich objektiviert und vermittelt werden. Andererseits werden diese Zeichen von dem jeweiligen Sprecher aber dabei so gebraucht, dass der Angesprochene den eigentliche Zweck der konkreten Äußerung nicht erkennten soll. Deshalb sind Lügen auch immer wieder als sehr subtile Formen einer intellektuellen Herrschaftsausübung verstanden worden, die sich vor allem gegen brachiale und institutionalisierte Formen von Herrschaftsausübung richten können, sofern man einmal von spielerisch verwendeten durchsichtigen Lügen absieht. Das schließt dann allerdings nicht aus, dass man auch mit unerwarteten wahren Äußerungen auf eine ganz besonders raffinierte Art lügen und täuschen kann. Das exemplifiziert sich sehr schön in einem Bekenntnis des italienischen Diplomaten Cavour: „Endlich habe ich es gelernt, die Diplomatie zu täuschen ‒ ich sage die Wahrheit, und niemand glaubt sie mir.“85 Sprachlogisch gesehen lassen sich Aussagen wie schon erwähnt als Determinationsrelationen verstehen, bei denen einer bestimmten Gegenstandsvorstellung (grammatisches Subjekt) auf präzisierende Weise eine Bestimmungsvorstellung (grammatisches Prädikat) zugeordnet wird. Auf diese Weise lässt sich dann eine konkrete Sachvorstellung (Proposition) erzeugen, die einen gegebenen Inhalt zutreffend oder unzutreffend sprachlich objektiviert. Dementsprechend können dann Lügen als unzutreffende Prädikationen bzw. Determinationsrelationen qualifiziert werden, die zu Täuschungszwecken in die Welt gesetzt werden. Aus diesen Strukturverhältnissen hat Weinrich dann den Schluss gezogen, dass eine Lüge eigentlich aus zwei Aussagen bestehe, nämlich aus einem gesagten Lügensatz und einem ungesagten Wahrheitssatz, der auf kontradiktorische Weise vom Lügensatz abweiche.86 Auf dieses Strukturverhältnis hat ja auch schon Augustin hingewiesen, als er davon sprach, dass Lügner mit einem doppelten Herzen sprächen. Es ist nun offensichtlich, dass diese komplizierten
�� 85 Zitiert nach F. Baumgarten, Die Lüge im Beruf, in, O. Lipmann/P. Plaut (Hrsg.), Die Lüge, 1927, S. 527. 86 H. Weinrich, Linguistik der Lüge, 19704, S. 40.
354 � Negationshaltige Textformen Strukturverhältnisse beim lügenhaften Sprachgebrauch sehr hohe Ansprüche an die operative Intelligenz und das Gedächtnis des Lügners stellen. Dieser läuft nämlich immer Gefahr, sich im Geflecht seiner faktisch gesagten und gedachten Sätze bzw. in seinem Wissen und seinen Wünschen zu verheddern, oder Gefahr, in Lauf der Zeit zu vergessen, was er anderen als wahr dargestellt hat bzw. was er selbst für wahr gehalten hat oder faktisch für wahr halten möchte. Diese Gefahr besteht insbesondere deshalb, weil Menschen sich natürlicherweise immer das inhaltlich präsent zu halten versuchen, was für sie vorteilhaft und angenehm ist, und alles andere dann gern ganz oder zumindest teilweise verdrängen. Deshalb kann ein Lügner im Laufe der Zeit auch seine eigenen Lügensätze für wahr halten und eben dadurch dann auch sein ursprüngliches Tatsachenwissen negieren. Nietzsche hat diese Strukturverhältnisse sehr anschaulich zum Ausdruck gebracht. „Das habe ich getan“, sagt mein Gedächtnis. „Das kann ich nicht getan haben“ ‒ sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich ‒ gibt das Gedächtnis nach.87
Die komplizierte Doppelstruktur von Lügen erschließt sich uns auch ganz gut, wenn wir nicht nur ihre logischen, sondern auch ihre intentionalen Implikationen ins Auge fassen. Handlungstheoretisch gesehen sind Lügen nämlich behauptende Sachaussagen, für die der jeweilige Sprecher pragmatisch gesehen die Wahrheitsverantwortung zu tragen hat. Solche Behauptungen liegen immer dann vor, wenn bestimmte Propositionen nicht zum Zweck einer fiktionalen Imagination, einer theoretischen Hypothesenbildung oder einer sprachspielerischen Belustigung vorgetragen werden, sondern zum Zweck einer Tatsachenfeststellung. Das bedeutet, dass Lügensätze auf den ersten Blick immer mit der unausgesprochenen Metainformation verbunden zu sein scheinen, dass sie faktisch wahre Aussagen sind und dass ein Sprecher sie guten Wissens und Gewissens formuliert hat, um Hörern verlässliche Sachinformationen zu vermitteln. Das bedeutet, dass Lügen sprachstrukturell gesehen eigentlich nur in Form von Aussagen in Erscheinung treten können, die pragmatisch den Charakter von behauptenden Sprechakten haben, obwohl sie faktisch nicht das einlösen, was sie formal besagen. Daraus ließe sich nun der Schluss ziehen, dass nur mit Aussagen bzw. mit Sätzen gelogen werden kann, aber nicht mit Wörtern bzw. mit Begriffen, weil diese ja keine Determinationsrelationen repräsentieren, sondern nur Denkmuster, wenn wir einmal von Komposita bzw. Wortableitungen absehen. Das ist formallogisch zweifellos richtig, aber pragmatisch gesehen
�� 87 F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Werke Bd. 2, 19737, S. 625, Nr. 68.
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durchaus interpretationsbedürftig, wofür insbesondere zwei semiotische bzw. relationstheoretische Überlegungen ins Feld geführt werden können. Zum einen gibt es Determinationsrelationen, die nicht in Form von expliziten Prädikationen bzw. Subjekt-Prädikats-Relationen in Erscheinung treten, die Sachverhalte zutreffend und unzutreffend objektivieren. Es gibt sie auch in Form von impliziten Prädikationen, die sich syntaktisch als Attributs-, Objektsoder Adverbialrelationen bzw. als Kompositarelationen manifestieren können, bei denen ebenfalls eine Grundvorstellung zutreffend oder unzutreffend durch eine Bestimmungsvorstellung präzisiert wird. Ähnliches gilt für Determinationsrelationen, die durch Präpositionen oder Konjunktionen zum Ausdruck gebracht werden können. Da diese Formen von Determinationsrelationen nicht unsere primäre Aufmerksamkeit auf sich ziehen, werden sie üblicherweise nicht als Realisationsformen von Lügen wahrgenommen, obwohl sich auch durch sie täuschende Sachverhaltsobjektivierungen in die Welt setzen lassen. Zum andern kann man davon ausgehen, dass die Sprache auch so gebraucht werden kann, dass bestimmte Assoziationen erzeugt werden, die auf täuschende Weise ganz bestimmte Relationszusammenhänge nahelegen. Diese sind zwar syntaktisch bzw. prädikativ nicht direkt fassbar, aber sie können in Verstehensprozessen gleichwohl doch wirksam werden. Prinzipiell haben wir nämlich zu beachten, dass wir von der Sprache nur dann Gebrauch machen, wenn wir in einer Wahrnehmungssituation bestimmte Informationsunsicherheiten aufheben wollen. Das bedeutet, dass jedes verwendete Sprachelement eine bestimmte Interpretations- und Präzisierungsfunktion nicht nur im Hinblick auf andere Sprachelemente hat, sondern auch im Hinblick auf die jeweils gegebene Situation und den jeweils angenommenen Erwartungshorizont des Sprachadressaten. Diese interpretative Einflussnahme auf unsere Vorstellungsbildung durch die Verwendung von ganz bestimmten Einzelzeichen kann faktisch ebenso lügenhaft bzw. unwahrhaftig sein wie die Einflussnahme durch bestimmte Behauptungssätze. Das verdeutlichen nicht nur täuschende gestische, mimische und prosodische Zeichen, sondern auch stilistische Wahlentscheidungen beim Gebrauch lexikalischer und grammatischer Formen. Semiotisch gesehen können vielerlei Zeichen und Zeichentypen zu Täuschungszwecken eingesetzt werden, wenn durch sie etwas als zusammengehörig thematisiert wird, was der jeweilige Sprecher eigentlich gar nicht als zusammengehörig betrachtet oder was faktisch auch nicht als zusammengehörig anzusehen ist. Gerade im ideologischen Sprachgebrauch gibt es vielerlei semiotische Erscheinungsformen des lügenhaften und manipulativen Sprach- und Zeichengebrauchs. Dabei ist nicht immer klar auszumachen, wo der täuschende in einen selbsttäuschenden Sprachgebrauch übergeht bzw. wo Lügen sich in Lebenslügen verwandeln.
356 � Negationshaltige Textformen Beispielsweise repräsentieren die Wörter Blut bzw. Boden isoliert betrachtet sicherlich sinnvolle deskriptive Begriffe. Sie werden aber irreführend, wenn sie über die Konjunktion und direkt zu der Phrase Blut und Boden verbunden werden, weil sie dadurch kategorial als eng zusammengehörig charakterisiert werden. Ähnliche sprachliche Täuschungshandlungen gibt es, wenn ein militärischer Rückzug als Frontbegradigung, eine Müllkippe als Entsorgungspark, eine Entlassung als Freistellung oder ein ärztlicher Kunstfehler als Fehlheilung bezeichnet wird. Dadurch werden nämlich faktische Tatbestände verschleiert, verdreht oder in unzutreffende Kontexte eingebettet und auf diese Weise gleichsam hinsichtlich ihrer anscheinenden Informationsfunktion aufgehoben bzw. negiert. Alle Diktaturen neigen zum täuschenden Gebrauch gängiger Begriffsbildungen, um eine realistische Weltwahrnehmung zu verhindern. Das exemplifizieren nicht nur die Sprachregulierungen im Dritten Reich sehr deutlich, sondern auch die Umdefinition von politischen Begriffen wie sie etwa George Orwell in seinem Roman ›1984‹ anprangert hat. Der Philologe Victor Klemperer hat die Täuschungsfunktion eines unangemessenen Gebrauchs konventionalisierter Begriffe sehr eindringlich beschrieben. Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da. Wenn einer lange genug für heldisch und tugendhaft: fanatisch sagt, glaubt er schließlich wirklich, ein Fanantiker sei ein tugendhafter Held, und ohne Fanatismus könne man kein Held sein.88
In ganz ähnlicher Weise hat auch Brecht auf die Möglichkeit des lügenhaften Gebrauchs bestimmter Wörter in bestimmten Kontexten aufmerksam gemacht. Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt. Unterstützt schon viele Lügen nicht. Er nimmt den Wörtern ihre faule Mystik.89
Je mehr die Frage nach den Erscheinungsformen von Lügen von der Ebene von Aussagen auf die Ebene von Begriffsbildungen bzw. auf die des Wortgebrauchs verlagert wird, desto wichtiger wird es, unser Verständnis von Lügen nicht nur von dem objektorientierten korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff her zu konkretisieren, sondern auch von dem subjektorientierten Wahrhaftigkeitsbegriff her. Ansonsten bekommen wir die destruktiven Implikationen von Lü�� 88 V. Klemperer, LIT, Notizbuch eines Philologen, 199615, S. 21. 89 B. Brecht, Gesammelte Werke 1970, Bd. 18, S. 231.
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gen nicht zureichend in den Blick bzw. ihre negierenden Implikationen für den Aufbau konstruktiver sozialer Interaktionsmöglichkeiten. Nur dann wird deutlich, dass Lügen nicht nur eine verlässliche Weltwahrnehmung unmöglich machen, sondern auch fruchtbare soziale Beziehungen. Gerade weil Lügen eine so große soziale Destruktionsfunktion haben, sind natürlich vielfältige gesellschaftliche und semiotische Rituale entwickelt worden, um die negativen Wirkungen von Lügen einzudämmen. Vor Gericht gibt es die Institution des Eides, über die wissentliche Falschaussagen (Meineide) mit hohen Strafen belegt werden. Ihm außergerichtlichen Bereich gibt es die Institution des Ehrenwortes, die zumindest in früheren Epochen eine außerordentlich große Regulationsfunktion hatte. Solche Rituale können Lügen zwar nicht verhindern, aber doch das Bewusstsein für die soziale und ethische Notwendigkeit wahrheitsgemäßer Aussagen schärfen. Über solche sozialen Institutionen wird verdeutlicht, dass Lügen nicht nur Negationsimplikationen im Hinblick auf eine verlässliche Weltwahrnehmung haben, sondern auch im Hinblick auf soziale Beziehungen. Beim Lügen wird ja nicht nur über einen Sachverhalt gelogen, es werden ja immer auch ganz konkrete Personen belogen. Lügen führen daher immer zur Auflösung von Kohärenzen sehr unterschiedlicher Art.
7.4 Die Fiktion Die Negationsimplikationen von Fiktionen lassen sich sehr viel schwerer aufdecken als die von Lügen, weil wir dabei nicht immer direkt auf den Begriff der Täuschung zurückgreifen können. Das wird schon dadurch deutlich, dass wir den Terminus Fiktion in vielen Gebrauchssituationen, wenn auch nicht in allen, durch die Termini Hypothese, Konstruktion, Vision, Utopie, Spekulation, Gedankenexperiment usw. ersetzen können. Diese Ersatzbegriffe veranschaulichen schon, dass die möglichen Negationsimplikationen von Fiktionen auf sehr unterschiedlichen Ebenen liegen können und dass sie sich mit sehr unterschiedlichen Oppositions- und Kontrastrelationen in Verbindung bringen lassen. Festzuhalten ist allerdings, das Fiktionen im Prinzip in allen Verstehensprozessen eine wichtige Rolle spielen, weil sie immer mit der Funktion verbunden sind, Unbekanntes mit Bekanntem in Verbindung zu bringen und über die Relation von Analogie und Widerspruch bzw. von Affirmation und Negation die Welt mit Hilfe bestimmter Modellbildungen übersichtlich zu erschließen. Fiktionen werden insbesondere dann aktuell, wenn wir unser Interesse an den Ordnungsstrukturen der Welt durch ein Interesse an den Ordnungsstrukturen unseres jeweiligen Denkens über die Welt vervollständigen und uns die Frage stellen, wie der Erkenntnisbegriff durch den Intentions- bzw. Interessensbegriff
358 � Negationshaltige Textformen ergänzt werden muss. Um Fiktionen für das sachthematische Denken fruchtbar zu machen, müssen wir sie natürlich auch reflexionsthematisch als Fiktionen erfassen, verstehen und genießen können. Diese Wahrnehmung der Fiktionsproblematik lässt sich auch im Hinblick auf die Herkunft des Fiktionsbegriffs rechtfertigen. Das Wort Fiktion basiert auf dem lat. Substantiv fictio (Gestaltung, Umbildung, Erdichtung) bzw. auf dem lat. Verb fingere (gestalten, formen, darstellen, ersinnen). Aus dieser Genese des Fiktionsbegriffs ergibt sich nun schon, dass man mit ihm ursprünglich eher Gestaltungs- als Täuschungsabsichten thematisiert hat und dass mit Fiktionen daher auch immer die Verwirklichung ganz bestimmter Erkenntnisziele und Erkenntnisinteressen angestrebt worden ist. Fiktionen sollten vornehmlich dazu dienen, das unmittelbar Gegebene dadurch besser zu verstehen, dass man Alternativen, Kontrastrelationen sowie Analogien zu ihm entwickelte, die es dann ermöglichten, das jeweils Wahrgenommene oder Thematisierte in umfassendere Zusammenhänge einzuordnen und damit auch ganzheitlicher zu verstehen. Im Folgenden soll nun versucht werden, die Negationsimplikationen von Fiktionen dadurch aufzuklären, dass zunächst Überlegungen zu dem Problem angestellt werden, ob bzw. inwieweit Fiktionen als heuristische Werkzeuge angesehen werden können. Dabei ist dann vor allem näher auf die Als-ObStruktur von Fiktionen einzugehen. Diese Wahrnehmungsweise des Phänomens der Fiktion soll dann anschließend am Beispiel begrifflicher, literarischer und juristischer Fiktionen exemplifiziert und legitimiert werden.
7.4.1 Die Fiktion als heuristisches Werkzeug Das Verständnis der Fiktion als heuristisches Werkzeug oder gar als hermeneutische Methode hat eine lange praktische und theoretische Tradition in literarischen und philosophischen Sinnbildungsbemühungen. Es überrascht deshalb nicht, dass Kant seine Vernunftbegriffe (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit usw.) als „bloße Ideen“ bezeichnet hat, die zwar als problematisch anzusehen seien, die aber gleichwohl dennoch als „heuristische Fiktionen“ bzw. als „regulative Prinzipen des systematischen Verstandesgebrauchs im Felde der Erfahrungen“ gründeten.90 Durch sie würden zwar keine konkreten Gegenstände erkannt und eingeordnet wie durch die Verstandesbegriffe bzw. empirischen Kategorien, aber dennoch seien sie als Regulative des Denkens für uns unverzichtbar. �� 90 I. Kant, Kritik der einen Vernunft B 799, Werke Bd. 4, 19762, S. 653.
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Solange man Fiktionen von vornherein als bloße Hirngespinste, Illusionen und Selbsttäuschungen betrachtet, solange wird man ihre Negationsimplikationen natürlich hauptsächlich darin sehen, dass sie einen realistischen Blick auf die Welt verstellen oder zumindest einen solchen erschweren, vernebeln oder verzerren. Wenn man nun aber Fiktionen als heuristische Werkzeuge ins Auge fasst, dann wird man sie eher als Mittel ansehen, um allzu schematische Wahrnehmungsverfahren für die Welt abzuwehren bzw. um differenziertere Wahrnehmungsweisen für sie zu entwickeln. Die heuristische Funktion von Fiktionen bestünde dann insbesondere darin, die bloß traditionsgebundenen Wahrnehmungsgewohnheiten auf die Welt in ihren jeweiligen Absolutheitsansprüchen in Frage zu stellen bzw. auf fruchtbare Weise zu flexibilisieren. Fiktionen würden dann ebenso wie Negationen dabei helfen, vorgegebene Denkinhalte zu transzendieren und ganz neuartige Korrelationszusammenhänge herzustellen. Fiktionen negierten das Gegebene dann nur in dem Sinne, dass sie es ermöglichten, etwas anders als traditionell üblich wahrnehmbar zu machen. Sofern man sich die Fiktionsproblematik als Gestaltungs- bzw. Sinnbildungsproblematik vergegenwärtigt, dann wird schnell offenbar, dass ihre pragmatische Funktion keineswegs darin besteht, aus der Realwelt zu flüchten, sondern diese auf andere Weise als gewohnt über Kontrastrelationen sichtbar zu machen. Angesichts der neuzeitlichen Grundeinsicht, dass Zeichen und Sachen, Philosophie und Kunst, Wahrnehmen und Handeln nicht mehr trennscharf kategorial von einander zu unterscheiden sind, weil sie funktional gesehen ineinander übergehen bzw. einander bedingen, ist Odo Marquard zu einem bemerkenswerten Schluss gekommen: „Heutzutage kommen Realität und Fiktion nur noch als Legierung vor und nirgendwo mehr rein.“91 Diese Grundüberzeugung hat Marquard dann auch zu der These geführt, dass Fiktionen nicht in die Peripherie, sondern in das Zentrum der Philosophie gehörten, weil ihnen eine ganz genuine erkenntnistheoretische und anthropologische Relevanz zukomme. „Nicht irgendetwas hängt an einer Fiktion, sondern das Wichtigste: die Menschlichkeit.“92 Dieser Hinweis auf die anthropologische Relevanz der Ausbildung und Nutzung von Fiktionen macht auch plausibel, warum Marquard Fiktionen nicht nur zu den heuristischen Hilfsmitteln der Philosophie rechnen möchte, sondern auch zu ihren genuinen Themenbereichen. Für ihn sind nämlich Fiktionen im Grunde Erscheinungsformen von Theorie in ihrem ursprünglichen Verständnis.
�� 91 O. Marquard, Kunst als Antifiktion ‒ Versuch über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive, in; D. Henrich/W. Iser (Hrsg.), Funktionen des Fiktiven, 1983, S. 35. 92 O. Marquard, a. a. O. 1983, S. 37.
360 � Negationshaltige Textformen In diesem war nämlich die Theorieproblematik nicht nur eng mit der Erkenntnis-, sondern auch mit der Negationsproblematik verbunden. Der Theoretiker (theoros) war nämlich im antiken Griechenland ursprünglich der Abgesandte einer Polis zu einem religiösen Fest bzw. zu einem Orakel, der eben dort Erfahrungen machen sollte, die in der alltäglichen Lebenswelt nicht zu haben waren.93 Die Theorie (theoria) war so betrachtet dann ursprünglich die Schau des Göttlichen bzw. die Erfahrung von etwas Umfassenderen, über die man seine jeweilige Alltagswelt einerseits transzendieren, aber andererseits auch besser einordnen konnte. Deshalb gehörte zum ursprünglichen Verständnis des Theoriephänomens immer sowohl die Vorstellung der Reise als auch die der Loslösung von der alltäglichen Lebens- und Erfahrungswelt, um Zugang zu einer anderen Welt zu gewinnen, von der dann wiederum ein ganz neuer Blick auf die vertraute Lebenswelt möglich wurde. Der Operationsbereich von Fiktionen war dementsprechend das Feld der produktiven Einbildungskraft, der heuristischen Kunstgriffe, der regulativen Ideen, der Relativierung oder gar der Negation von alltäglichen Partialerfahrungen usw. All das lässt sich hier verständlicherweise nicht umfassend, sondern nur exemplarisch diskutieren. Deshalb soll sich hier das Hauptinteresse auch nur auf die Funktionen von begrifflichen, literarischen und juristischen Fiktionen konzentrieren. An ihnen lässt sich nämlich recht gut demonstrieren, wie sehr wir auf Fiktionen angewiesen sind, wenn wir bestimmte Erfahrungsbereiche voneinander abtrennen, aber gleichzeitig doch aufeinander beziehen wollen. Der heuristische Gebrauch von Fiktionen hat diesbezüglich eine große Verwandtschaft mit dem von Analogien und Metaphern, weil alle drei Erkenntnismittel zur Ausbildung von neuen Wahrnehmungsperspektiven dienlich sind.
7.4.2 Die Als-Ob-Struktur von Fiktionen Auf eine sehr umfassende Weise hat Hans Vaihinger Fiktionen als heuristische Werkzeuge für das theoretische, praktische und religiöse Denken untersucht. Fiktionen hätten zwar keine fassbare empirische Referenz, aber gleichwohl seien sie unverzichtbar, um ganz bestimmte Einsichten gewinnen zu können.94 Sie sind für ihn unersetzliche Mittel, um in Form von Gedankenexperimenten Kontakte zwischen der Subjektsphäre und der Objektsphäre des Denkens her-
�� 93 Vgl. H. Rausch, Theoria, 1982, S. 9ff, 34ff. G. König, Theorie, in; Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, 1998, Sp. 128ff. 94 H. Vaihinger, die Philosophie des Als Ob, 1911.
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zustellen und eben dadurch eine differenzierte Weltwahrnehmung zu erreichen. Fiktionen ermöglichten es, sowohl in objektorientierter Weise die Strukturen der Welt über Kontrastrelationen besser zu erkennen als auch in subjektorientierter Weise die Prinzipien der Wissensbildung besser zu erfassen und zu verstehen. In allen Fiktionen gehe es letztlich darum, sich mit Hilfe von Ähnlichkeiten bzw. Analogien komplexe Wissensinhalte klarer zu erschließen. Als heuristische Werkzeuge sind Fiktionen für Vaihinger eng verwandt mit Hypothesen, weil beide eine Erschließungsfunktion für etwas von ihnen Unterscheidbares, aber doch auch Ähnliches haben. Während nun aber Hypothesen für Vaihinger als Gedankenkonstrukte fungieren, die auf Bestätigung drängen und die deshalb letztlich auch als Wahrheiten angesehen werden wollen, bleiben Fiktionen für ihn immer Fiktionen, da sie letztlich keinen deskriptiven Abbildungsanspruch stellten, sondern nur einen operativen Erschließungsanspruch. Sie seien deshalb eher mit Hebeln und Leitern vergleichbar, die zur Seite gelegt werden könnten, wenn sie ihre Funktionen erfüllt hätten. Als reine Hilfsmittel warteten Fiktionen nicht auf Verifikationen, sondern nur auf einen zweckmäßigen Gebrauch. Hinter ihnen stehe die Einsicht, dass bestimmte Denkgegenstände nicht direkt, sondern nur auf bestimmten Umwegen erreichbar seien. Aus diesem Grunde ordnet Vaihinger Fiktionen auch primär der Ebene des Denkens zu und nicht der Ebene des Seins, weil sie im Dienste des Begreifens stünden und nicht im Dienste des Abbildens oder des Behauptens. Fiktionen ermöglichen nach Vaihinger dem Denken Diskursivität, Flexibilität und Dynamik. Eben deshalb haben sie für ihn dann auch einen fundamentalen anthropologischen Wert. „Unser ganzes höheres Leben beruht auf Fiktionen.“95 Aus diesem Grunde qualifiziert er auch alle höheren Begriffe als Fiktionen bzw. als eine Art von zweckmäßigen Irrtümern. Insbesondere die Sprache als Vehikel des diskursiven Denkens ist deshalb für ihn eine Bewahrerin, wenn nicht Erzeugerin oder Nährmutter von Fiktionen. Eine grundlegende Gefahr besteht für ihn nun darin, dass sich Fiktionen als Produkte der menschlichen Einbildungskraft zu Dogmen verhärteten und eben dadurch ihre operativen Funktionen verlören. Das dokumentiert sich für ihn beispielsweise darin, dass die sogenannten platonischen Ideen zunächst nur den Status von heuristischen Fiktionen gehabt hätten, dass sie dann aber mehr und mehr den Status von Hypothesen und oft sogar von Dogmen bekommen hätten.96 Der Gefahr, abstrakte Begriffe nicht als Repräsentanten von heuristischen Hypothesen, sondern als Repräsentanten von vorgegebenen abstrakten Entitä-
�� 95 H. Vaihinger, a. a. O., 1911, S. 142. 96 H. Vaihinger, a. a. O., 1911, S. 226.
362 � Negationshaltige Textformen ten anzusehen, ist für Vaihinger vor allem die formale Schlussfolgerungslogik ausgesetzt.97 Das wird für ihn insbesondere dann offenkundig, wenn abstrakten Oberbegriffen vorgegebene Realitäten zugeordnet würden bzw. wenn aus denkbedingten Abbreviaturen bestimmte Wesenheiten gemacht würden, aus denen dann wieder andere Wesenheiten abgeleitet würden. Solche Vereinfachungen sieht er deshalb dann auch als eine Gefahr an, weil er Begriffen ähnlich wie Geldstücken eher einen Tauschwert als einen Seinswert zuordnen möchte und dem Denken eher einen Zweck bei der Selbsterhaltung als einen bei der Seinsabbildung. Der Wunsch nach einem tatsächlichen Begreifen der Welt ist für ihn höchst problematisch, weil seiner Meinung nach alles Begreifen von etwas letztlich immer auf die Reduktion von etwas auf ein irgendwie schon Bekanntes zurückverweise. Wenn man dass Problem der Erkenntnis in dieser Perspektive sieht, dann kann man mit Fiktionen natürlich kein letztes Wissen über die Welt erzeugen, aber Fiktionen können doch entscheidend dabei helfen, den sinnvollen praktischen Umgang mit der Welt zu erleichtern. So gesehen haben Fiktionen dann auch einen ähnlichen Status und Funktionswert wie Negationen, weil sie operative Hilfsmittel sind, um bestimmte Relationen zu konkretisieren. Fiktionen sind daher auch nur unter Vorbehalt zu nutzen, weil ihr Erkenntniswert ständig metareflexiv bewertet werden muss. Einerseits dienen sie dazu, bestimmte Denkinhalte zu konkretisieren, aber andererseits auch immer dazu, diese als vorläufig zu akzentuieren. Sie können etwas affirmieren, weil sie auf bestimmte Ähnlichkeiten aufmerksam machen, aber sie können auch etwas negieren, insofern sie signalisieren, dass diese Ähnlichkeiten nicht als Identitäten zu verstehen sind. Gerade weil Negationen und Fiktionen das Denken in Fluss halten sollen, machen beide darauf aufmerksam, dass unsere Denkinhalte nicht nur von den jeweiligen Sachgegenständen abhängig sind, sondern auch von unseren Denkintentionen, Denkverfahren und Denkmitteln. Fiktionen und Negationen machen beide darauf aufmerksam, dass das, was wir als Wirklichkeit ansehen, nicht einfach vorfindbar ist, sondern vielmehr als ein Ergebnis von ganz spezifischen Wahrnehmungsanstrengungen und Sinnbildungsoperationen zu beurteilen ist und eben deshalb sowohl etwas mit der Objektseite des Denkens als auch mit seiner Subjektseite zu tun hat. Beide Denkoperationen sind immer daran beteiligt, ein Fließgleichgewicht zwischen unabweisbaren Welterfahrungen einerseits und intentionalen Erkenntniszielen andererseits herzustellen. Das lässt sich gerade am Beispiel begrifflicher, literarischer und juristischer Fiktionen sehr gut exemplifizieren. �� 97 H. Vaihinger, a. a. O., 1911, S. 411.
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7.4.3 Begriffliche Fiktionen Solange man Begriffe und insbesondere wissenschaftliche Begriffe als Repräsentanten platonischer Ideen ansieht, die ahistorische abstrakte Seinsmuster objektivieren, solange wird man sie schwerlich mit der Fiktionsproblematik in Verbindung bringen. Diese Situation verändert sich allerdings, wenn man Begriffen keine direkte Abbildungsfunktion zuordnet, sondern eher eine pragmatisch motivierte Differenzierungsfunktion. Begriffe sind dann nämlich nicht mehr als Repräsentanten von Seinsmustern anzusehen, sondern als Repräsentanten von Denkmustern, die das menschliche Denken und Handeln erleichtern sollen. Als menschliche Setzungen bekommen sie dann eine genuine Nähe zu Fiktionen, die sich ändern müssen, wenn sich die Wahrnehmungsinteressen der Menschen für die Welt ändern. Unter diesen Umständen unterscheiden sich dann auch die alltäglichen Begriffe nicht mehr grundsätzlich bzw. substanziell von den wissenschaftlichen Begriffen, sondern nur noch funktionell und pragmatisch, weil sie eine je unterschiedliche Entstehungsgeschichte, Differenzierungsintention und Kontrollierbarkeit haben und je unterschiedliche Relationszusammenhänge thematisieren wollen und sollen. Biologisch bzw. evolutionär betrachtet haben wir grundsätzlich zu beachten, dass alle Lebewesen in einer gattungsspezifischen Eigenwelt leben, insofern ihre jeweiligen Sinnesorgane und zerebralen Reizverarbeitungssysteme bestimmte Wahrnehmungsmöglichkeiten von Welt eröffnen und andere verstellen. Das hat zur Folge, dass Bienen in einer bienenförmigen, Hunde in einer hundeförmigen und Menschen in einer menschenförmigen Welt leben, insofern sie sich dieselben Realitäten mit Hilfe unterschiedlicher Objektivierungsverfahren bzw. Objektivierungsmittel als konkrete Wirklichkeiten objektivieren. Dabei ist dann außerdem zu beachten, dass die Kultur für die Menschen inzwischen zu einer Art zweiter Natur geworden ist, weil sie von ihren kulturell fundierten Ordnungsmustern inzwischen ebenso abhängig geworden sind wie von ihren biologisch fundierten. Dabei ist dann allerdings immer zu beachten, dass sich kulturelle Ordnungsmuster sehr viel leichter und schneller als biologische verändern lassen, insofern sie ja nicht genetisch, sondern nur konventionell bzw. kulturell verankert werden müssen. Nachdem lange Zeit die sprachlichen und insbesondere die philosophischen und wissenschaftlichen Begriffsbildungen unter das Postulat bzw. unter die Hoffnung gestellt worden sind, die vorgegebene Ordnungsstruktur der Welt passgenau abzubilden, entbrannte nach den skeptischen Denkansätzen in der Antike insbesondere im mittelalterlichem Universalienstreit eine heftige Auseinandersetzung um den ontologischen Status von Allgemeinbegriffen (Universalien). Es wurde nämlich die Frage gestellt, ob diese Begriffe im Sinne platoni-
364 � Negationshaltige Textformen scher Ideen vor den Einzeldingen existierten (universalia ante res), die diese Begriffe nur sinnlich fassbar exemplifizieren, ob sie im Sinne des aristotelischen Denkens als Wesensbegriffe bzw. Substanzen in den Einzeldingen existierten (universalia in rebus) oder ob sie als menschliche Ordnungskonstrukte erst nach den empirisch fassbaren Einzeldingen existierten (universalia post res). Die Nominalisten als entschiedene Gegner von jeglichem Begriffsrealismus und als Vertreter des neuen Denkens (via moderna) bzw. als Vorläufer des modernen Konstruktivismus waren der Auffassung, dass wirkliche Realität nur den empirisch fassbaren Einzeldingen zukomme und dass Begriffe demzufolge nur mentale Gedankenkonstrukte seien (intentiones animae), die in keiner direkten Abbildungsrelation zur Realität stünden. Dabei wollten die Nominalisten natürlich nicht den pragmatischen Wert von Begriffen in Frage stellen, sondern nur ihren traditionellen ontologischen Status. Da sie Begriffe nicht als Seinsformen ansahen, sondern nur als Denkformen, hielten sie diese deshalb auch prinzipiell nur für gemachte Dinge (res fictae).98 Es ist nun offensichtlich, dass die Nominalisten in diesem Denkrahmen keinen grundsätzlichen, sondern nur einen pragmatischen Unterschied zwischen Begriffen, Hypothesen und Fiktionen machten und dass sie das Begreifen von etwas immer auch als eine Art des Produzierens von etwas ansahen (concipere enim est producere intra se).99 Je abstrakter Begriffe werden und desto mehr sich ihr Inhalt der direkten Erfahrungskontrolle entzieht, desto mehr gehen sie ihrer Meinung nach in Hypothesen und Fiktionen über. Deshalb hat Kant später auch zwischen empirisch relativ gut kontrollierbaren Verstandesbegriffen mit geringem Umfang (Baum, Pferd, Haus) und abstrakten Vernunftbegriffen mit großem Umfang (Eigentum, Recht, Freiheit) unterschieden, die sich auf Sachverhalte beziehen, welche sich einer direkten Erfahrungskontrolle entziehen. Begriffe, denen ein hoher Abstraktionsgrad eigen ist, lassen sich natürlich hinsichtlich ihrer Affirmations- und Negationsimplikationen bzw. hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Grenzziehungen schwer auf intersubjektiv akzeptable Weise qualifizieren. Dieses Problem verschärft sich dann noch, wenn wir die angenommenen Seinsmuster nicht als unveränderlich, sondern als historisch bzw. evolutionär gewachsen ansehen. Dieses Problem beunruhigte insbesondere die Naturwissenschaften sehr stark, nachdem man Ende des 18. Jahrhunderts wie schon erwähnt in Australien das sogenannte Schnabeltier entdeckt hatte, weil dadurch die anscheinend unumstößlich gefestigte zoologische Unterscheidung von lebendgebärenden Säugetieren und eierlegenden Reptilien in Frage
�� 98 Vgl. H. Rombach, Substanz, System, Struktur, Bd. 1 , 1965, S. 78ff. 99 H. Rombach, a. a. O., Bd. 1, 1965, S. 90.
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gestellt wurde. Die Besonderheit des Schnabeltieres bestand nämlich darin, dass es einerseits Eier legte, die bebrütet werden mussten, und dass es andererseits die geschlüpften Jungtiere durch eine Art Muttermilch nährten, die durch Drüsen im Brustbereich der Mutter abgesondert wurde und die dann von den Jungtieren aus dem Fell des Muttertieres abgeleckt werden musste.100 Die These, dass unsere kulturell entwickelten Begriffe nicht auf die Welt an sich Bezug nehmen, weil wir diese gar nicht gottgleich von außen wahrnehmen könnten, sondern nur auf die für Menschen fassbare und relevante Erscheinungswelt, lässt natürlich die Frage aufkommen, nach welchen Kriterien wir denn Begriffe bilden und sprachlich konventionalisieren. In diesem Zusammenhang spielt nun das Phänomen Ähnlichkeit eine ganz zentrale Rolle. Wir fassen nämlich gewöhnlich alle Erfahrungsphänomene unter einem Begriff bzw. einer Ordnungskategorie als kognitiv eigentlich identisch zusammen, die genau betrachtet einander nur ähnlich sind. Bertrand Russell hat daher trotz seiner nominalistisch orientierten erkenntnistheoretischen Grundeinstellung die Auffassung vertreten, dass wir sämtliche Allgemeinbegriffe (Universalien) als bloß menschliche Konstrukte wegdisputieren könnten bis auf einen einzigen, nämlich den Begriff Ähnlichkeit (similiarity). Ansonsten würden wir nämlich unserem ganzen Denken und Argumentieren die Grundlage entziehen.101 Diese These ist in der Tat pragmatisch höchst realistisch und sinnvoll. Wenn wir nämlich das bloß Ähnliche faktisch nicht als gleich betrachteten, dann liefen wir ständig Gefahr, im Meer unserer Einzeleindrücke zu ertrinken und alte Erfahrungen nicht mehr für die Beurteilung von neuen nutzen zu können, da wir nun nicht mehr über brauchbare Interpretations- bzw. Zuordnungsmuster verfügten. Nietzsche hat diesen Sachverhalt sehr pointiert folgendermaßen formuliert: „Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen.“102 Aus diesem Sachverhalt zieht er dann den frappierenden Schluss, dass unsere Erkenntnismittel letztlich als Herrschaftsmittel zu verstehen seien. „Der ganze Erkenntnis-Apparat ist ein Abstraktions- und Simplifikations-Apparat ‒ nicht auf Erkenntnis gerichtet, sondern auf B e m ä c h t i g u n g der Dinge.“103 Zur Dialektik der Begriffe gehört für Nietzsche nun allerdings auch, dass die Begriffsbildungen nicht nur Herrschaftsmittel der Menschen sind, sondern dass Menschen auch selbst unter die Herrschaft ihrer Herrschaftsmittel geraten könnten. Die Sprache könne nämlich zu einer Gewalt für sich werden, „welche �� 100 Vgl. U. Eco, Kant und das Schnabeltier, 2000, S. 108ff, 258ff. 101 B. Russell, An inquiry into meaning and truth, 1980, S. 344. 102 F. Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, Werke Bd. 3, 19737, S. 313 103 F. Nietzsche, Aus dem Nachlaß der achtziger Jahre, Werke Bd. 3, 19737, S. 442.
366 � Negationshaltige Textformen nun wie mit Gespensterarmen die Menschen faßt und schiebt, wohin sie eigentlich nicht wollen; sobald sie miteinander sich zu verständigen und zu einem Werk zu vereinigen suchen, erfaßt sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe […].“104 Die Fiktionsproblematik und die damit verbundene Negations- bzw. Verzerrungsproblematik stellt sich für Nietzsche konsequenterweise nicht nur im Hinblick auf lexikalische, sondern auch im Hinblick auf grammatische Ordnungsmuster. Beispielsweise zwinge der indogermanische Sprachtypus dazu, ständig zwischen Subjekt und Prädikat bzw. zwischen Täter und Tat zu unterscheiden, obwohl wir in vielen Fällen nur einen Prozess beobachten könnten. Deshalb müssten wir uns oft Handlungssubjekte erdichten, die wir faktisch gar nicht wahrnehmen würden. So ließen wir beispielsweise den Wind wehen und den Blitz blitzen, obwohl wir immer nur einen Vorgang beobachten könnten. Da uns die Grammatik ständig auferlege, handlungsfähige Größen zu benennen, die hinter beobachtbaren Vorgängern stünden, lege sie uns auch nahe, einen Gott als erste Ursache für alles Existierende anzunehmen. „Die »Vernunft« in der Sprache: o was für eine alte betrügerische Weibsperson! Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben …“105 In seinem Kampf gegen sprachliche Fiktionen aller Art gerät Nietzsche in ein bemerkenswertes Dilemma. Einerseits geißelt er die Unzulänglichkeiten und Ungenauigkeiten der Sprache immer wieder sehr scharf und stellt in Abrede, dass Begriffe vertrauenswürdige Erkenntnisinstrumente sein könnten. Andererseits redet er selbst aber immer wieder metaphorisch, obwohl er die damit verbundenen Fiktionen vehement ablehnt und als irreführend aus dem Sprachgebrauch verbannen möchte. Darauf hat ja, wie bereits erwähnt, auch Mauthner ironisch zugespitzt hingewiesen, als er betonte, dass Nietzsches Misstrauen gegenüber der Sprache unbegrenzt sei, „aber nur solange es nicht s e i n e Sprache ist.“106 Nietzsche kann und will sich nämlich keineswegs damit begnügen, die Sprache im Als-Ob-Modus zu gebrauchen, der es ja gestatten würde, sie zu verwenden, ohne ihr zu verfallen. Das wäre durchaus möglich, wenn er von seiner heimlichen Wunschvorstellung und Sehnsucht ablassen könnte, dass die Sprache doch die Funktion eines Abbildungsmittels für Welt übernehmen kann, und sich stattdessen damit begnügte, sie als Erschließungsmittel für die Welt zu verstehen und zu nutzen. Dieses Verständnis von Sprache hatte eigentlich schon Humboldt vor Nietzsches polemischer Sprachskepsis sehr eindringlich postu-
�� 104 F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, Werke Bd. 1, 19737, S. 387f. 105 F. Nietzsche, Götzen/Dämmerung, Werke Bd. 2, 19737, S. 960. 106 F. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1, 1982, S. 366.
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liert und nach ihm Karl Bühler, der dann ausdrücklich betont hat, dass die Sprache „wie das Werkzeug e i n g e f o r m t e r M i t t l e r“ sei.107 Ein sehr eindrucksvolles Beispiel dafür, dass schon Kinder in Situationen der sprachlichen Ausdrucksnot zweckdienlich mit Fiktionen umgehen können, hat der Physikdidaktiker Martin Wagenschein überliefert. In einer Unterrichtsstunde zum Thema Schwerkraft hat sich nämlich der neunjährige Bernhard folgendermaßen im Hinblick auf die Deutung eines vorgeführten Experiments geäußert, bei dem Wasser unaufhaltsam in einer Rinne nach unten floss. „Da fließt’s allein mit dem Gewicht wie’s auch im Bach fließt, weil alles Wasser nach unten will.“ Der Lehrer fragt: „Weil’s nach unten will?“ Bernhard: „Ja, ich sag’s halt so. Ich weiß, daß das Wasser nicht denkt. ‒ Wir sagen halt so, weil’s so halt leichter zum Denken ist.“108
Bernhards geniale Reaktion auf die Vorbehalte des Lehrers gegenüber seinem fiktionalen Sprachgebrauch zu einem Tatbestand, für dessen fachsprachliche Objektivierung er noch keine konventionalisierten Darstellungsbegriffe hat, zeigt, dass er seine eigenen Sprachmittel trotz dieser Defizite gleichwohl zweckdienlich nutzen kann. Er weiß, dass das Verb wollen in diesem Sachzusammenhang eigentlich nicht verwendet werden dürfte. Er verfügt aber schon über ein reflexionsthematisches Begleitbewusstsein zu seinem faktischen Sprachgebrauch, das es ihm ermöglicht, dieses Verb so zu verwenden, dass es eine pragmatisch sinnvolle bzw. allgemein verständliche sachthematische Objektivierungsfunktion bekommt und dass sein Nutzung eben dadurch zu einer sinnvollen Alternative zum sprachlichen Schweigen wird. Damit exemplifiziert der neunjährige Bernhard nicht nur eindrucksvoll die These Humboldts, dass die Sprache „die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes“ sei, „den artikulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen“, sondern auch die These von August Boeckh, dass der sprechende Mensch nicht nur „Organ der Sprache selbst“ sei, sondern die Sprache „zugleich auch Organ des Sprechenden“.109 Bernhard kapituliert nicht vor der Aufgabe, eine konkrete empirische Beobachtung zu versprachlichen, obwohl er weiß, dass er diese Aufgabe nicht rein �� 107 K. Bühler, Sprachtheorie, 19692, S. XXI. 108 M. Wagenschein, Naturwissenschaftliche Bildung und Sprachverlust. In: Sprache ‒Brücke oder Hindernis, 1972, S. 83. 109 W. von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, Werke Bd. 3 , 19633, S. 418. A. Boeckh, Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, 1886/1966, S. 125.
368 � Negationshaltige Textformen objektorientiert bzw. sachthematisch bewältigen kann, sondern nur in einer Redeweise, die zwar einen metaphorischen bzw. fiktionalen Grundcharakter hat, die aber trotz dieser Subjektorientierung pragmatisch durchaus sinnvoll und verständlich ist. Wie er von der Sprache Gebrauch macht, das kann als exemplarisch für alle Verwendungsweisen von Sprache verstanden werden, bei denen Denkinhalte sprachlich objektiviert und vermittelt werden müssen, für die es noch keine etablierten Sprachkonventionen gibt. In all diesen Fällen müssen wir unser Denken, Sprechen und Verstehen mit einem Begleitbewusstsein verbinden, dass uns darauf aufmerksam macht, dass die Sprache nicht in einem rein abbildenden und apodiktischen, sondern vielmehr in einem erschließenden und interpretierenden Sinne verwendet wird. Damit erfüllt der neunjährige Bernhard schon das schon mehrfach erwähnte sehr grundsätzliche philosophische Denkpostulat Kants: „Das: I c h d e n k e muß alle meine Vorstellungen begleiten k ö n n e n.“110
7.4.4 Literarische Fiktionen Seit der Antike ist gegenüber der Dichtung immer wieder der Vorwurf der Lüge erhoben worden, da sie Illusionswelten erzeuge und keine referenziellen Bezüge zur faktisch gegebenen Welt habe. Im Gegensatz zur Philosophie vermittle sie auch keine wirklichen Wesenserkenntnisse, da sie sich nicht auf die Welt des Seins konzentriere, sondern vielmehr auf die des Werdens. Dagegen lässt sich nun allerdings geltend machen, dass literarische Aussagen zumindest keine genuinen Lügen sind, sondern allenfalls durchsichtige Lügen, da sie pragmatisch gesehen von vornherein keine empirische Referenz beanspruchen, sondern nur exemplarische Analogien zu bestimmten menschlichen Denk- und Handlungsmöglichkeiten. Roman Jakobson hat deshalb sogar eine relative eigenständige poetische Sprachfunktion neben anderen angenommen. Diese bestehe darin, mit Hilfe sprachlicher Zeichen sowie der menschlichen Einbildungskraft eigenständige Vorstellungswelten zu erzeugen, die nur mittelbare Bezüge zu der empirisch fassbaren Erfahrungswelt hätten. Die poetische Sprachfunktion zwinge immanent dazu, uns ganz auf die von der Sprache vermittelten Informationen und Denkinhalte als solche einzustellen und empirische Darstellungs- bzw. Referenzbezüge auszublenden.111
�� 110 J. Kant, Kritik der reinen Vernunft B 132, Werke Bd. 2, 19762, S. 136. 111 R. Jakobson, Linguistik und Poetik, in: H. Blumensath (Hrsg.), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, 1972, S. 124ff.
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Die Relativierung des Lügenvorwurfs im Hinblick auf die Dichtung deutet sich allerdings auch schon bei Platon an, obwohl er gerade diesen Vorwurf im Kontext der Pseudosvorstellung beim Vergleich von philosophischen und dichterischen Texten erhoben hatte. Er selbst hat sich nämlich keineswegs gescheut, in seinen philosophischen Überlegungen auch typisch poetische bzw. fiktionale Sinnbildungsmittel wie Metaphern, Gleichnisse und Mythen zu verwenden, um seine philosophischen Anliegen sprachlich zu verdeutlichen. Auch für ihn gerät nämlich der begriffliche, argumentative und behauptende Sprachgebrauch bei bestimmten Aussagegegenständen und Wissensformen an seine Grenzen und muss von einem anderen ergänzt werden. Die explizite theoretische Abwehr des Lügenvorwurfs im Hinblick auf die Dichtung bzw. auf Fiktionen wird dann bei Aristoteles klar fassbar. Er hat nämlich herausgestellt, dass die Dichtung philosophischer und ernsthafter sei als beispielsweise die Geschichtsschreibung, „denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.“112 Diese Auffassung bestätigt auch die schon bei Platon gegebene Vorstellung, dass die sogenannte Wirklichkeit mindestens zwei Aspekte habe, nämlich einen sinnlich direkt wahrnehmbaren und einen nur abstrakt wahrnehmbaren bzw. wesenhaften, der nur kognitiv erfasst und begrifflich objektiviert werden könne. Daraus lässt sich dann ableiten, dass man dichterische Fiktionen nicht zureichend erfasst, wenn man sie nur als illusionäre Sinngebilde oder gar als Lügen wahrnimmt, die in einer direkten Kontrast- und Negationsrelation zur tatsächlichen Wirklichkeit stünden. Vielmehr sind sie für ihn als Sinngebilde anzusehen, die verborgene Ordnungsstrukturen der Welt auf eine exemplarische Weise thematisieren und die eben deshalb sowohl in einer Affirmations- als auch in einer Negationsrelation zu unserer direkten empirischen Weltwahrnehmung stehen. In diesem Zusammenhang ist nun zu beachten, dass ganz offenbar der sich ausbreitende Schriftgebrauch in der Antike ein ganz wesentlicher Antriebsfaktor für die Ausbildung der rein fiktionalen Literatur gewesen ist. Wolfgang Rösler hat überzeugend darauf verwiesen, dass die mündlich überlieferten Literatur und insbesondere die großen Epen ursprünglich als umfassende Enzyklopädien zu verstehen seien, in denen sich das ganze geschichtliche, religiöse, ethische, geographische und naturbezogene Wissen der jeweiligen Kultur niedergeschlagen habe. Deshalb habe den damaligen Menschen die mögliche Opposition von Dichtung und Wahrheit auch gar nicht präsent werden können. Erst im Gefolge der Schriftkultur hätten sich dann unterschiedliche Textsorten mit je unter�� 112 Aristoteles, Poetik, 1994, S. 29.
370 � Negationshaltige Textformen schiedlichen Weltbezügen, Sinnbildungsintentionen und Wahrheitsansprüchen herausgebildet wie etwa dichterische, religiöse, geschichtliche, philosophische, juristische, naturwissenschaftliche oder medizinische Texte.113 Wenn man nun die anthropologische Relevanz dichterischer Fiktionen und damit auch ihre spezifischen Affirmations- und Negationsimplikationen gegenüber anderen Sinnbildungszielen bestimmen möchte, dann bietet es sich an, mit Musil zwischen einem Wirklichkeitssinn zu unterscheiden, der sich auf den praktischen Umgang mit der empirisch gegebenen Welt bezieht, und einem Möglichkeitssinn, der sich nur auf die sprachliche Objektivierung möglicher Welten bezieht. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. Man sieht, daß die Folgen solcher schöpferischen Anlage bemerkenswert sein können […]. Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumereien und Konjunktiven; Kindern, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus und nennt solche Menschen vor ihnen Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler.114
Wenn man in dieser Weise insbesondere literarische Fiktionen als Ausdrucksformen des menschlichen Möglichkeitssinns ansieht, der nicht dazu bestimmt ist, Gegebenes auf rein affirmative Weise zu rezipieren, sondern vielmehr dazu, Mögliches über die Negation üblicher Vorstellungen und Grenzziehungen zu entwerfen, dann bekommen Fiktionen einen genuin anthropologischen Charakter, insofern sie nun zu Indizien für die menschliche Lebendigkeit und Gestaltungsfähigkeit werden. Ebenso wie man sagen kann, dass eigentlich nur tote Fische mit dem Strom schwimmen, aber lebendige in der Regel gegen ihn, so lässt sich dann auch sagen, dass nur diejenigen Menschen, die Fiktionen gestalten und wahrnehmen können, wirklich lebendig sind, weil sie tradierte Denkgewohnheiten auch zu transzendieren vermögen. So gesehen wäre dann der fiktionale Sprachgebrauch ein unverzichtbares Verfahren, um der menschlichen Einbildungskraft Spielräume zu eröffnen und alle Formen der dogmatischen Erstarrung des Denkens aufzuheben. Die Phänomene Fiktion und Kunst würden dann auf ganz natürliche Weise zusammengehören, weil beide dazu dienten, alte Formen des Bekanntseins mit etwas aufzuheben und neue Formen des Bekanntwerdens mit etwas im Als-Ob-Modus zu befördern. Picasso hat das programmatisch sehr klar thematisiert.
�� 113 W. Rösler, Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, Poetica 12, 1980, S. 283‒319. 114 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke Bd. 1, 19812, S. 16.
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Wir wissen alle, daß die Kunst nicht Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt, wenigstens die Wahrheit, die wir als Menschen begreifen können. Der Künstler muß wissen, auf welche Art er die andern von der Wahrhaftigkeit seiner Lügen überzeugen kann […]. Durch die Kunst drücken wir unsere Vorstellung von dem aus, was Natur nicht ist […].115
Das Verständnis von Kunst und Fiktion als ein Reich, das sich auf die menschliche Einbildungskraft gründet bzw. auf die menschliche Fähigkeit zur Hypothesenbildung und zum abduktiven Denken neben dem deduktiven und induktiven, hat eine lange Tradition. Auf sinnbildliche Weise manifestiert sich diese Vorstellung schon in der Gestalt der Schlange in der Geschichte vom sogenannten Sündenfall im Alten Testament, der nach Meinung vieler Aufklärer eher ein Erweckungsfall als ein wirklicher Sündenfall ist. Die Schlange tritt hier nämlich als eine Hypothesenmacherin in Erscheinung, die Eva aus der regulierten Welt des Paradieses herausführt, weil sie ihr ganz neue Denkmöglichkeiten und damit auch ganz neue Lebensmöglichkeiten eröffnet. „Ja, sollte Gott gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten? […] Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon eßt, werden eure Augen aufgetan und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“116
Dadurch, dass die Schlange Eva aus dem Reich des Faktischen und des Regulierten in das Reich des Möglichen und des Gestaltungsfähigen lockt, führt sie diese zugleich auf den schlüpfrigen Pfad der Interpretation von eindeutigen Verboten bzw. von klaren Vorstrukturierungen des Denkens und damit in die Welt der Variation von Regelungen und Wahrnehmungsvorgaben. Sie appelliert an die Einbildungskraft Evas und damit an ihre Möglichkeiten, gesetzte Grenzen zu transzendieren, um sich neue Welten zu erschließen. Wenn man das Phänomen der Fiktion aus der menschlichen Einbildungskraft ableitet, dann liegt natürlich die Möglichkeit nahe, dieselben Texte sowohl als Sachtexte als auch als Fiktivtexte zu lesen, wenn man seine Wahrnehmungsinteressen ändert und so das Fiktionsproblem dann auch als Rezeptionsproblem verstehen kann. Das bedeutet dann beispielsweise, dass man eine Naturbeschreibung sowohl als einen deskriptiven Sachtext als auch als einen sinnbildlichen Fiktivtext lesen kann. Dadurch können dann bei der Lektüre von Texten Assimilations- durchaus in Akkommodationsprozesse übergehen, in de-
�� 115 P. Picasso, Wort und Bekenntnis, 1954, S. 9f. 116 1. Mose 3.1, 3,4. Vgl. dazu auch W. Köller, Narrative Formen der Sprachreflexion, 2006, S. 61‒90.
372 � Negationshaltige Textformen nen dann natürlich ganz andere Affirmations- und Negationsimplikationen wirksam werden. Auf diese Weise kann dann das vordergründig Bekannte durchaus zu einem hintergründig Unbekannten werden. Wenn man nun aber dieselben Texte je nach Wahrnehmungsperspektive sowohl als Sachtexte als auch als Fiktivtexte wahrnehmen kann, dann verlieren Fiktionen natürlich ihren prinzipiellen Sonderstatus und werden zu spezifischen Formen der Welterzeugung im Sinne einer spezifischen Weltwahrnehmung. Deshalb möchte Nelson Goodman auch von der Vorstellung abkommen, „daß Fiktionen erfunden und Tatsachen gefunden werden“.117 Beide Phänomene gehen für ihn nämlich letztlich aus Sinnbildungsanstrengungen hervor, wenn auch aus solchen ganz unterschiedlichen Typs bzw. ganz unterschiedlicher Zielsetzungen. Für ihn sind Fiktionen deshalb nicht nur heuristische Werkzeuge, die man weglegt, wenn sie ihre operativen Funktionen erfüllt haben, sondern Repräsentanten eigenständiger Wahrnehmungsstrategien für Welt bzw. sogar eigenständige Sinnwelten, die auch die Rolle von Kontrastwelten übernehmen können. In diesem etwas konstruktivistisch orientierten Denkrahmen lässt sich nun die historische Entwicklung und die faktische Nutzung von Fiktionen einerseits als eine implizite Negation des Substanzdenkens verstehen und andererseits als eine implizite Affirmation des Relationsdenkens. Durch dieser Sichtweise wird nämlich deutlich, dass man Fakten nicht einfach vorfindet, sondern dass diese immer Ergebnisse von Sinnbildungsanstrengungen unterschiedlichen Typs und unterschiedlicher Denkprämissen sind. Auf jeden Fall ist festzuhalten, dass Fiktionen in allen Analyse- und Syntheseprozessen eine Art Katalysatorfunktion übernehmen können, weil sie konstitutive Bestandteile von Perspektivierungsprozessen sind, die sowohl sachthematische als auch eine reflexionsthematische Sinnbildungsfunktionen haben. Im Kontext der Frage nach der Wirksamkeit von Fiktionen in unseren Sinnbildungsanstrengungen sind nun Überlegungen der Psychologen Bruner und Olson zu den Möglichkeiten unserer Erfahrungsausweitung durch die Rezeption von Texten aller Art sehr interessant.118 Sie haben nämlich betont, dass unsere individuelle Primärerfahrung von Welt naturgemäß begrenzt sei, weil sie immer auf einer sehr eingeschränkten praktischen Welterfahrung beruhe. Diese reduzierte Primärpraxis werde nun durch mündlich und insbesondere durch schriftlich überlieferte Texte als einer Art zweiter Praxis bzw. Deuteropraxis gewaltig
�� 117 N. Goodman, Weisen der Welterzeugung, 1990, S. 114. 118 J. S. Bruner/D. R. Olson, Symbole und Texte als Werkzeuge des Denkens, in: Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 7, 1977, S. 306‒321.
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ausgeweitet, weil auf diese Weise das individuelle Erfahrungsgedächtnis nun durch ein kulturelles Traditionsgedächtnis ergänzt werde. Das führe dann dazu, dass die Inhalte dieser Deuteropraxis zu einer ganz eigenständigen Erfahrungsquelle für das menschliche Wahrnehmen und Denken würden, durch welche die primären Erfahrungsquellen sogar an Bedeutsamkeit verlieren könnten, insofern nun das angelesene Wissen zuweilen als wichtiger oder sogar als wahrer in Erscheinung trete als das Wissen aus der individuellen sinnlichen Primärerfahrung. Ein sehr plastisches Exempel für das mögliche Übergewicht der Deuteropraxis in konkreten Wahrnehmungen und Sinnbildungsanstrengungen ist sicherlich die literarische Figur Don Quichotte. Während Sancho Pansa die Welt weitgehend auf der Basis seiner konkreten Primärpraxis wahrnimmt bzw. interpretiert und dementsprechend dann auch handelt, wird Don Quichotte in seinen Wahrnehmungsprozessen immer wieder durch seine angelesene Deuteropraxis bestimmt. Das führt dann dazu, dass es bei ihm nicht nur zu grotesken Fehldeutungen von bestimmten Sinnesreizen kommt, sondern auch zu grotesken Handlungsentscheidungen. Er wird faktisch immer wieder unfähig, praktisch sinnvolle Grenzziehungen vorzunehmen und seine geistigen Affirmations- und Negationsprozesse dementsprechend auszugestalten. Welche potenzielle Sprengkraft bzw. welche Gefahren und Negationsimplikationen dieser sogenannten Deuteropraxis immer wieder zugeschrieben worden sind, exemplifiziert sich auch durch ein Verbot, auf das der Schriftsteller Mario Vargas Llosa verwiesen hat. Er hat nämlich darauf aufmerksam gemacht, dass die spanischen Inquisitoren den Import und die Veröffentlichungen von Romanen in den hispanoamerikanischen Kolonien mit dem Argument verboten hätten, dass die Lektüre dieser lügenhaften Bücher der geistigen Gesundheit der Indios schaden könne, da sie ein trügerisches Bild von der Welt und vom Leben vermittelten. Der erste Roman sei erst 1816 in Mexiko erschienen, nachdem dieses Land sich von Spanien unabhängig gemacht habe. In diesem Zusammenhang kommt er dann zu einer sehr aufschlussreichen persönlichen Einschätzung des Negationspotenzials dichterischer Fiktionen. „Heute denke ich, daß die spanischen Inquisitoren als erste ‒ vor den Kritikern und den Romanciers selbst ‒ die Natur der dichterischen Fiktion und ihr aufrührerisches Potential begriffen haben.“119
�� 119 M. Vargas Losa, Die Wahrheit der Lügen, 1994, S. 7.
374 � Negationshaltige Textformen 7.4.5 Juristische Fiktionen Wenn man die Fiktionsproblematik als eine Als-Ob-Problematik versteht, dann wird recht offensichtlich, dass die Frage nach dem möglichen Seinsbezug von Fiktionen nicht viel weiter führt. Sinnvoll ist unter diesen Umständen nur die Frage, ob und wie man mit Hilfe von Fiktionen Zugang zu bestimmten Problemfeldern bekommt, wie man über Fiktionen auf die Prämissen und Ziele unserer üblichen Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse aufmerksam machen kann und wie sich über Fiktionen bestimmte Sachprobleme lösen lassen. Diese Strukturverhältnisse treten bei juristischen Fiktionen ganz besonders deutlich hervor, weil sie eigentlich noch viel weniger als begriffliche und literarische Fiktionen in den Verdacht geraten können, irgendwelche vorgegebene Seinswelten abzubilden. Es ist nämlich ziemlich offensichtlich, dass sich die Jurisprudenz letztlich nicht mit realen oder ausgedachten Seinswelten zu beschäftigen hat, sondern vielmehr mit der Welt des Sollens bzw. des adäquaten Handelns. Juristische Begriffe und Aussagen sollen etwas weder kontemplativ noch spekulativ abbilden, sondern das menschliche Handeln vielmehr auf vernünftige Weise regulieren. Den Juristen liegt deshalb im Prinzip eine rein betrachtende Einstellung zur gegebenen Welt ebenso fern wie einem Schwimmer eine rein kontemplative Einstellung zur molekularen Struktur des Wassers, obwohl beide natürlich auf Sachstrukturen Rücksicht zu nehmen haben, wenn sie ihre jeweiligen Handlungsziele erreichen wollen. Da juristische Fiktionen sehr viel klarer als begriffliche und literarische mit dem Zweckgedanken verbunden sind, kann man ihnen von vornherein auch nicht so leicht Täuschungsabsichten unterstellen. Gesetze, Verordnungen, Urteile und Argumentationen wollen intentional keine vorgegebenen Tatbestände behaupten, sondern vielmehr Relationszusammenhänge normativ und praktisch ordnen. Sie lassen sich deshalb auch nicht sehr sinnvoll mit der Wahrheitsfrage in einem korrespondenztheoretischen Sinne in Verbindung bringen, sondern allenfalls mit der Wahrheitsfrage in einem kohärenztheoretischen oder pragmatischen Sinne. Dem juristischen Denken geht es letztlich nicht um bestimmte Tatbestände als solche, sondern nur darum, wie mit ihnen umzugehen ist bzw. welche rechtlichen Folgen aus ihnen resultieren können und sollen. In juristischen Fiktionen wird etwas gleichgesetzt, von dem man in einem reflexionsthematischen Begleitbewusstsein natürlich immer weiß, dass es nicht gleich ist. Gleichwohl glaubt man, dass man auf diese Weise bestimmte Probleme am besten sinnvoll regulieren kann. Deshalb kann es bei der sprachlichen Konkretisierung von juristischen Fiktionen auch zu Festlegungen kommen, die dem alltäglichen Denken ziemlich skurril oder gar paradox erscheinen
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können. „Die juristische Fiktion besteht in der gewollten Gleichsetzung eines als ungleich Gewußten ‒ mitunter auch der Ungleichsetzung eines als gleich Gewußten.“120 Diese Problematik lässt sich am Beispiel des Adoptionsrechtes sehr gut exemplifizieren, in dem Verwandtschaftsverhältnisse juristisch so geregelt sein können, dass sie unserem biologischen Wissen ganz klar widersprechen. Im BGB § 1755, Abs. 1, S. 1. findet sich beispielsweise folgende sehr aparte normative bzw. regulative Aussage: „Mit der Annahme [Adoption] erlöschen das Verwandtschaftsverhältnis des Kindes und seiner Abkömmlinge zu den bisherigen Verwandten und die sich aus ihnen ergebenden Rechte und Pflichten.“ Diese Feststellung beinhaltet natürlich keine sachthematische Aussage zu faktischen biologischen Abstammungsverhältnissen, sondern soll nur sicherstellen, dass ein adoptiertes Kind familienrechtlich so zu behandeln ist, als ob es ein leibliches Kind wäre. So betrachtet kann eine juristische Fiktion auch keine Lüge sein, weil sie keine täuschende Seinsaussage beinhaltet, sondern nur eine Handlungsvorschrift, wie in einem bestimmten rechtlichern Gegenstandsbereich juristisch zu verfahren ist.121 Da es sich bei juristischen Fiktionen auch nicht um ontologische Hypothesen handelt, sondern nur um die normative Gleichsetzungen von Ungleichem, erübrigen sich bei ihnen auch alle erkenntnistheoretischen Überlegungen, aber keineswegs alle ethischen. Aus juristischen Fiktionen können nun allerdings durchaus semantische Probleme resultieren, da sich durch die fachsprachliche semantische Normierung bestimmter Wörter auch Rückwirkungen auf den allgemeinen Sprachgebrauch ergeben, die es dann wiederum nahelegen, rechtliche Unterschiede auch als faktische Unterschiede zu verstehen. Josef Esser verweist diesbezüglich auf den alten Grundsatz des englischen Rechts, dass der König kein Unrecht tun könne (The king can do no wrong.). Dieser Grundsatz besage semantisch nicht, dass der König faktisch kein Unrecht tun könne, sondern nur, dass er juristisch so zu behandeln sei, als ob er kein Unrecht tun könne.122 Die Fixierung einer rechtlichen Handlungsnorm darf also prinzipiell nicht als eine ontologisch zu verstehende Sachbehauptung missverstanden werden. Ein ähnlicher Fall liegt auch vor, wenn im katholischen Kirchenrecht die Ehe für unauflöslich erklärt wird. Diese Festlegung besagt juristisch vorerst nur, dass nach diesem Recht die Ehe nicht als Vertrag mit Kündigungsrecht angesehen werden soll. Das bedeutet dann pragmatisch, dass eine Ehescheidung kir-
�� 120 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 19622, S. 199. 121 Vgl. J. Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, 19622, S. 27ff. 122 Vgl. J. Esser, a. a. O., 19692, S. 101f.
376 � Negationshaltige Textformen chenrechtlich nicht möglich ist, dass aber durchaus eine Nichtigkeitserklärung im Hinblick auf die Ehe vorgenommen werden kann. Auf diese Weise kann dann die Ehe juristisch so behandelt werden, als ob sie von Anfang an faktisch überhaupt nicht bestanden hätte. Dadurch wird nun sehr offensichtlich, dass es einen ganz erheblichen Unterschied macht, ob man den Ehebegriff als einen Seinsbegriff oder als einen Rechtsbegriff versteht bzw. zu verstehen hat. In diesem Zusammenhang lässt sich auch darauf verweisen, dass im allgemeinen Sprachgebrauch der Begriff der Ehe lange Zeit als Bezeichnung für ein natürliches Seinsverhältnis zwischen Mann und Frau verstanden worden ist und nicht als ein bloßes Rechtsverhältnis. Als dann gleichgeschlechtliche Partnerschaften als rechtlich anerkannte Verbindungen etabliert wurden, begann sich das semantische Verständnis des Ehebegriffs grundlegend zu ändern und damit dann natürlich auch die Affirmations- und Negationsimplikationen, die ursprünglich immer mit dem Ehebegriff verbunden waren. Angesichts dieser Strukturverhältnisse bei juristischen Fiktionen wird offensichtlich, dass aus den in ihnen fingierten Tatbeständen noch viel weniger als aus denen in begrifflichen und literarischen Fiktionen allgemeine Folgerungen abgeleitet werden dürfen. Aus ihnen darf man nur sehr begrenzte Schlüsse ziehen, eben weil juristische Fiktionen nur eine ganz spezifische Regulierungsfunktion für eng umgrenzte Problemfelder haben. Das ist zwar beim Verständnis der Fiktion als heuristisches Hilfsmittel im Prinzip auch immer der Fall, aber es gerät hier sehr viel leichter in Vergessenheit als bei ihrem Gebrauch als juristisches Hilfsmittel. Juristische Fiktionen treten sehr viel deutlicher als andere Fiktionsformen als operative Handlungsmittel in Erscheinung, weil sie offensichtlich nur dazu bestimmt sind, konkret fassbare rechtliche Obersätze in bestimmten Hinsichten zu negieren, ohne deren Gültigkeit generell in Frage zu stellen. Sie erweisen sich insbesondere im Zivilrecht als unverzichtbar, um das Recht kasuistisch zu flexibilisieren, da oft nur auf diese Weise die ganz pragmatischen Affirmations- und Negationsfunktionen des Rechts faktisch aufrechterhalten werden können. Diese Problem- und Strukturverhältnisse verdeutlichen sich sehr exemplarisch im Erbrecht. Für dieses gilt grundsätzlich § 1923 BGB Abs. 1: „Erbe kann nur werden, wer zur Zeit des Erbfalls lebt.“ Da dieser rechtliche Obersatz in bestimmten Fällen problematisch werden kann, wird er im Abs. 2 durch folgende juristische Fiktion relativiert bzw. ergänzt und flexibilisiert: „Wer zur Zeit des Erbfalls noch nicht lebte, aber bereits gezeugt war, gilt als vor dem Erbfall geboren.“ An dem faktischen Geburtsdatum ändert sich durch diese juristische Fiktion dann allerdings gar nichts. Der pragmatische Sinn juristischer Fiktionen besteht darin, fundamentale Rechtsaxiome aufrechtzuerhalten, aber in bestimmten Einzelfällen außer Kraft
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zu setzen bzw. in ihrer generellen Gültigkeit zu negieren. Das ist auch notwendig, weil sonst die Gefahr bestünde, dass sich das Recht zu einer eigenständigen Welt verselbstständigte, die die faktische Lebenswelt erdrückt bzw. vor der sich die Realwelt ständig zu rechtfertigen hat. Dadurch ergibt sich dann natürlich immer auch die Frage, auf welche Weise man zweckdienliche juristische Kunstgriffe von unstatthaften juristischen Schleichwegen und Rechtsmanipulationen unterscheiden kann. Als ein Indiz dafür, dass eine gesetzliche Aussage nicht als eine Sachbestimmung zu gelten hat, sondern vielmehr nur als eine Handlungsnorm, kann angesehen werden, dass an Stelle des Kopulaverbs sein der Ausdruck gelten als verwendet wird. So gab es beispielsweise im § 1589 BGB, Abs. 2 anfangs eine Formulierung, die erst 1970 komplett gestrichen worden ist: „Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten als nicht verwandt.“ Juristische Fiktionen dieses Typs können zuweilen recht skurril werden. So verweist etwa Esser auf die sachlogisch ziemlich merkwürdige juristische Fiktion, dass in mittelalterlichen Rechtsordnungen und im englischen Recht sogar bis 1926 uneheliche Kinder mit niemandem, auch nicht mit der Mutter, als rechtlich verwandt galten.123 An die Stelle des Verbs gelten als können bei rechtlichen Fiktionen auch die Formeln im Sinne des Gesetzes oder sind anzusehen als treten. Ein illustratives Beispiel dafür ist eine Verordnung der Britischen Militärregierung im Nachkriegsdeutschland. Diese hatte im Winter 1946 eine rechtliche Regelung für den Umgang mit Schokoladen-Weihnachtsmännern getroffen. Als sich dann im folgenden Frühjahr herausstellte, dass eine ähnliche Regelung auch für Schokoladen-Osterhasen notwendig wurde, da griff man in einem ergänzenden Sinne zu der folgenden recht aparten Formulierung: „Osterhasen sind Weihnachtsmänner im Sinne des Gesetzes.“124 Juristische Fiktionen als kontrafaktische Annahmen sind für die Jurisprudenz unabdingbar, um gesetzliche Regelungen übersichtlich zu halten und um neue Rechtsprobleme nach dem Analogieprinzip zu lösen oder zumindest handhabbar zu machen. Ein schlagendes Beispiel dafür ist die rechtliche Konstruktion juristische Person, die 1900 in das Bürgerliche Gesetzbuch eingeführt worden ist. Sie besagt, dass Firmen, Vereine, Stiftungen usw. in bestimmten Hinsichten so zu behandeln sind, als ob sie Personen wären, obwohl sie das faktisch natürlich nicht sind, sondern allenfalls durch konkrete Personen vertreten werden können. Diese Regelung zeigt sehr deutlich, dass juristische Fiktionen prinzipi-
�� 123 Vgl. J. Esser, a. a. O., 19692, S. 117, Anm. 81. 124 Vgl. A. von Arnauld, Normtypen in Spiel und Recht, In: A. von Arnauld (Hrsg.), Recht und Spielregeln, 2002, S. 323, Anm. 31.
378 � Negationshaltige Textformen ell dem Zweckgedanken verpflichtet sind. Sie dienen der Überbrückung von Gesetzeslücken, aber nicht der Realitätserfassung. Das exemplifiziert sehr schön ein Fall, den Rudolf von Ihering herangezogen hat, um seine These zu untermauern, dass das Recht nicht metaphysischer, sondern zweckrationaler Herkunft sei. Ihering berichtet, dass Prinz Eugen unter der Erfahrung der Türkenkriege und in der Annahme, dass sich diese wie Hagelschläge periodisch wiederholen würden, eine Stiftung ins Leben gerufen habe, um die Invaliden aus diesen Kriegen zu unterstützen. Als die Türkenkriegen nun aber tatsächlich aufhörten und es keine entsprechenden Kriegsinvaliden mehr gab, stellte sich das rechtliche Problem, was man mit dem Stiftungsvermögen machen sollte, dessen Zweck rechtlich ja ganz eindeutig geregelt war. Diesbezüglich half man sich nun mit dem Kunstgriff einer juristischen Fiktion. Es wurde ein Gesetz erlassen, dass die österreichische Staatsregierung ermächtigte, alle künftigen Kriegsgegner für Türken zu erklären. Das ermöglichte es dann juristisch, die jeweiligen österreichischen Kriegsinvaliden aus dem Stiftungsvermögen zu versorgen.125 Diese juristische Regelung hat dann wohl auch zu dem geflügelten Wort geführt, dass man einen Türken bauen müsse, um ein bestimmtes Problem im Sinne eines tatsächlichen bzw. vermeintlichen höheren Zwecks zu regeln. Da juristische Fiktionen keine sachlichen Behauptungen oder Vermutungen sind, sondern regulative Setzungen, sind sie auch nicht wie Hypothesen durch Fakten zu widerlegen, sondern allenfalls durch höherrangige Setzungen aufzuheben oder zu relativieren. Deshalb ist es dann auch unzulässig, sie aus ihren jeweiligen konkreten Kontexten herauszulösen und aus ihnen allgemeine Schlussfolgerungen abzuleiten. Sie dienen nur dazu, kraft Analogie Regelungslücken im kodifizierten Recht zu überbrücken bzw. das fixierte alte Recht sinnvoll neuen Verhältnissen anzupassen. Bei juristischen Fiktionen ergeben sich zwei unterschiedliche Typen von Problemen. Zum einen besteht die rechtliche Gefahr, dass mit ihrer Hilfe das kodifizierte Gesetzesrecht unsachgemäß oder überdehnt ausgelegt wird, wenn sie nicht nur dafür verwendet werden, faktische Gesetzeslücken sinnvoll zu überbrücken. In diesem Fall können Fiktionen dann nämlich dazu genutzt werden, um das gültige Gesetzesrecht auf schleichende Weise außer Kraft zu setzen oder gar zu negieren und zu einem Richterrecht oder Verordnungsrecht umzuwandeln. Zum andern besteht immer die Gefahr, dass oberste Rechtsbegriffe einfach gesetzt werden, die weder dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechen noch dazu dienen, die Idee der Gerechtigkeit und die friedensstiftende �� 125 R. von Ihering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, 18987, S. 130f.
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Funktion des Rechts zu stärken.126 Wenn juristische Fiktionen keine friedensstiftenden Funktionen haben und weder der alten goldenen Regel dienen (Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andern zu!) noch dem kategorischen Imperativ von Kant, dann verlieren sie ihre pragmatischen Legitimationen. Die von ihnen vorgenommenen Gleichsetzungen des Ungleichen werden dann leicht zu Formen des Machtmissbrauchs von juristischen Institutionen. Dieses Problem exemplifiziert sich sehr deutlich im nationalsozialistischen Rechtsdenken im Kontext der damaligen Rassenideologie. Die Verfasser des Bürgerlichen Gesetzbuches hatten 1900 im § 1 normativ festgelegt, dass der Mensch allein durch die Tatsache seiner Geburt Träger von Rechten wird („Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit Vollendung der Geburt“). Durch diese Norm wurde der alte und bewährte Grundsatz der Einheit von Person und Rechtsfähigkeit und damit auch der Umfang des individuellen Rechtsschutzes, der schon seit Friedrich Carl von Savigny das deutsche Rechtsdenken geprägt hatte, eindeutig kodifiziert. Diese generelle Affirmation der Rechtsfähigkeit und des Rechtsschutzes, die natürlich jede Einschränkung begründungsbedürftig machte, war den Nationalsozialisten dann höchst unbequem, weil diese auf Grund ihrer Rassenideologie nicht jeder Person dieselben Elementarrechte zubilligen wollten.127 Der Jurist Karl Larenz machte deshalb 1935 einen sehr problematischen Vorschlag zur Neufassung des § 1 im BGB, der dann allerdings nicht gesetzgeberisch umgesetzt wurde, weil er als rechtlicher Obersatz viele rechtssystematische Implikationen hatte, die dann natürlich eine Flut von weiteren Gesetzesänderungen bedingt hätten. Dieser Änderungsvorschlag lautete folgendermaßen: „Rechtsgenosse ist nur, wer Volksgenosse ist; Volksgenosse ist, wer deutschen Blutes ist.“128 Dieser Abänderungsvorschlag von Larenz ist nicht nur deshalb sehr bemerkenswert, weil er sich inhaltlich deutlich an die Punkte 4 und 5 des Parteiprogramms der NSDAP vom 24. 2. 1920 anlehnt,129 sondern auch, weil er eine ent-
�� 126 Vgl. M. Jachmann, Die Fiktion im öffentlichen Recht, 1998, S. 603ff. 127 Vgl. B. Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, 20093, S. 102ff. 128 K. Larenz, Rechtsperson und subjektives Recht ‒ Zur Wandlung der Rechtsbegriffe, In: K. Larenz (Hrsg.), Grundlagen der neuen Rechtswissenschaft, Berlin 1935, S. 225. Zitiert nach B. Rüthers, Entartetes Recht, 1988, S. 92. 129 „4. Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksicht auf Konfession. Kein Jude kann daher deutscher Volksgenosse sein. 5. Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur als Gast in Deutschland leben können und muß unter Fremdengesetzgebung stehen.“ W. Hofer (Hrsg.), Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933‒1945, 1957, S. 28.
380 � Negationshaltige Textformen larvende juristische und sprachliche Diktion aufweist. Bezeichnend für diesen Änderungsvorschlag ist nämlich, dass bei der normativen juristischen Festlegung des Begriffs „Rechtsgenosse“ kein erläuterndes juristisches Fiktionssignal verwendet wird (soll gelten als, soll angesehen werden als), obwohl doch nach dem üblichem Sprachgebrauch etwas eigentlich Ungleiches gleich gesetzt wird (Rechtsgenosse = Volksgenosse = [Träger] deutschen Blutes). Diese Formulierungsweise ließe sich rein formaljuristisch möglicherweise noch dadurch rechtfertigen, dass die Verwendung des Kopulaverbs sein in Gesetzestexten üblicherweise nicht dazu dient, Inhaltsbehauptungen aufzustellen, sondern eher dazu, normative Sollensvorschläge zu formulieren. Gleichwohl liegt im Hinblick auf diesen Text aber der Verdacht sehr nahe, dass die jeweiligen direkten und indirekten Gleichsetzungen keineswegs als juristische Fiktionen gedacht waren, die eine vermeintlich gegebene Gesetzeslücke überbrücken sollten, sondern vielmehr als sprachliche Objektivierungen von Seinsstrukturen, aus denen sich dann ganz bestimmte Rechtsfolgen ergeben sollten. Demgegenüber ist die gegebene Fassung des BGB § 1 („Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt.“) recht neutral, weil sie nur normativ festlegt, ab wann eine Person Träger von allgemeinen Rechten ist. Das impliziert, dass jede Einschränkung dieser Rechte sachlich zu begründen ist. Wenn Larenz nun die Begriffe Rechtsgenosse, Volksgenosse und [Träger] deutschen Blutes juristisch gleichsetzt, dann legt er eigentlich nahe, sie nicht als normsetzende, aber gleichwohl immer noch begründungsbedürftige Rechtsbegriffe im Dienste der Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens anzusehen. Offenbar möchte er sie lieber als naturgegebene ontische Seinsbegriffe verstanden wissen, die keinerlei ethischer Rechtfertigung bedürfen, weil sie sich gleichsam von selbst verstehen. Wenn man nun aber juristische Ordnungsbegriffe nicht als begründungsbedürftige normative Festlegungen ansieht, die dem Rechtsfrieden verpflichtet sind, sondern vielmehr als Repräsentanten von vorgegebenen Seinsformen, dann verliert man leicht aus den Augen, dass sie pragmatisch betrachtet eigentlich gar keine Erkenntnisfunktion haben, sondern vielmehr eine Befriedungsfunktion. Wenn nun Larenz den Begriff des deutschen Blutes als explizite Rechtskategorie einführt, so postuliert er damit Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten zwischen Menschen, die dem Rechtsfrieden sicherlich nicht sehr dienlich sind, da sie weder biologisch und ethisch zu rechtfertigen noch methodisch und pragmatisch auf sinnvolle Weise zu handhaben sind. Der pragmatisch zu rechtfertigende Zweckgedanke, der üblicherweise hinter juristischen Normen und Fiktionen steht, wird damit auf eine nicht zu billigende Weise überstrapaziert und pervertiert, weil er seine ethische Bindung verliert und nur noch einen rein machtpolitischen Zuschnitt bekommt.
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Solange juristische Fiktionen durch fassbare Fiktionssignale oder durch eindeutige Kontexte als solche klar erkennbar sind, solange sind sie sicherlich tolerierbar und in vielen Fällen vielleicht auch unabdingbar, um bestimmte rechtliche Problemfälle auf sinnvolle und akzeptable Weise zu lösen. Unter diesen Bedingungen können nämlich ihre jeweiligen Affirmations- und Negationsfunktionen recht deutlich in Erscheinung treten und dann als solche auch nachvollziehbar positiv oder negativ beurteilt werden. Problematisch werden juristische Fiktionen allerdings, wenn sie nicht zur Lösung konkreter rechtlicher Probleme verwendet werden, sondern den Anschein erwecken, als ob sie Grundnormen der Rechtskultur an sich repräsentierten oder gar metaphysische Prämissen des Rechts schlechthin. Dann wird nämlich völlig unklar, was sie konkret regeln sollen, und ob das aus ethischen bzw. pragmatischen Gründen überhaupt zu rechtfertigen ist. Eng verwandt mit juristischen Fiktionen sind auch bestimmte historische Fiktionen wie beispielsweise die Vorstellung eines Gesellschaftsvertrages bei der Konstituierung von Staaten bzw. Rechtsgemeinschaften. Wenn man bei der Legitimation staatlicher Gewalt seine Zuflucht nicht bei der Vorstellung einer göttlichen Einrichtung bzw. eines königlichen Gottesgnadentums sucht, dann kommt man ohne die Fiktion eines Gesellschaftsvertrages kaum aus. Wir wissen zwar historisch, dass sich in der Regel Staaten faktisch nicht auf die Weise herausgebildet haben, dass Menschen untereinander Verträge abgeschlossen haben, die jedem einzelnen bestimmte Pflichten und Rechte zuordnen bzw. einräumen. Gleichwohl ist diese historische Fiktion aber nützlich, um staatliche Rechtsordnungen auf nachvollziehbare Weise zu legitimieren und um Verstöße gegen sie juristisch zu ahnden. Faktisch haben sich Staaten nicht durch explizite Verträge unter ihren jeweiligen Staatsbürgern gebildet und historisch gefestigt. Sie haben sich vielmehr auf evolutionäre Weise dadurch konstituiert, dass sich bestimmte Verhaltensweisen zwischen Menschen als sozial nützlich erwiesen haben (Sitten, implizite und explizite Rechtsordnungen, Traditionen der Machtausübung und Machtorganisation usw.). Die historische Fiktion des Gesellschaftsvertrages ermöglichte es nun aber, Verstöße gegen solche gewachsenen habituellen Ordnungsformen rechtlich als Vertragsverletzungen zu ahnden, was ansonsten sehr viel schwerer plausibel zu machen gewesen wäre. Außerdem erlaubte es die Vertragsfiktion auch, sowohl die Rechtsstabilität als auch die Rechtsflexibilität zu legitimieren und eben dadurch auch den Demokratiegedanken zu stabilisieren. Weiterhin ergab sich aus dem Vertragsgedanken auch ein immanenter Zwang, das Recht auf durchsichtige und konsensfähige Weise schriftlich zu kodifizieren und auch dadurch den Rechtsstaat zu konstituieren und zu stabilisieren.
382 � Negationshaltige Textformen Die Fiktion des Gesellschaftsvertrages hat außerdem nicht unwesentlich dazu beigetragen, die fundamentale anthropologischen Vorstellung zu festigen, dass der Mensch ein freies Wesen sei, welches für sein Tun und Lassen bzw. für sein Affirmieren und Negieren voll verantwortlich ist. Diese Auffassung halten zwar viele Anthropologen, Biologen und Neurowissenschaftler für eine reine Fiktion, aber ohne diese Fiktion müssten wir mit Vaihinger wohl einräumen, dass Menschen für ihr Handeln nur in sehr beschränktem Umfange verantwortlich wären.130 Ohne eine solche Freiheitsfiktion ließen sich nämlich kaum sinnvolle Rechtsordnungen entwickeln, weil sich alle ethischen Maßstäbe schnell auflösten und bestimmte Handlungsprinzipien sehr leicht zu bloßen Funktionen von Machtinteressen erklärt werden könnten. Menschliche Handlungsentscheidungen ließen sich dann monokausal auf soziale Zwänge oder auf vorbewusst ablaufende neurochemische Mechanismen zurückführen, welche kaum noch im Sinne der Sicherung des allgemeinen Rechtsfriedens justiziabel wären. So gesehen wären dann Fiktionen nicht nur heuristische Denkwerkzeuge, sondern möglicherweise sogar anthropologisch begründbare Denknotwendigkeiten oder gar unabdingbare transzendentale Denkfaktoren. Im Zusammenhang mit der Kritik der Freiheitsfiktion könnte nun allerdings auch danach gefragt werden, ob diese Kritik nicht selbst auf einer diskussionswürdigen Denkfiktion bzw. Hypothese beruhe, durch welche der Kausalgedanke dann auf ganz bestimmte Teilaspekte konzentriert, aber auch verkürzt wird. Diese Denkfiktion könnte dann darin bestehen, dass Kausalrelationen nur als einsinnige Ordnungsrelationen im Sinne von Ursache und Wirkung in einer chronologischen Abfolge verstanden würden, aber nicht als mehrdimensionale Beziehungsgeflechte, in denen auch Intentions-, Interaktions- und Rückkopplungsrelationen eine wichtige Rolle spielen. Ein solches mehrdimensionales Kausalitätsverständnis würde einerseits zwar das übliche logische Schlussfolgerungsdenken ungemein erschweren, aber andererseits auch die Sensibilität für Affirmations- und Negationsrelationen beträchtlich erhöhen, weil nun unsere Erkenntnisinteressen zwangsläufig nicht nur eine Objekt-, sondern immer auch eine Subjektorientierung bekämen. Damit würde der Kausalgedanke dann auch nicht mehr in einer grundsätzlichen Opposition zum Fiktionsgedanken stehen, sondern allenfalls in einer kontrastiven, weil auch er eine bestimmte heuristisch-hermeneutische Dimension bekommen würde.
�� 130 Vgl. H. Vaihinger, Philosophie des Als Ob, 1911, S. 198ff., 573.
8 Die Negation als Stilmittel Alle expliziten und impliziten Erscheinungsformen der Negation lassen sich natürlich als Stil- bzw. Gestaltungsmittel nutzen. Semiotisch gesehen sind sie nämlich dazu bestimmt, als Sinnbildungsmittel verwendet zu werden, mit denen sich der Geltungsanspruch von bestimmten Grundinformationen metainformativ qualifizieren lässt. Das schließt ein, dass Negationszeichen auch dazu verwendet werden können, bestimmte Informationserwartungen zu korrigieren bzw. durch Ausschlussverfahren den Blick auf ganz bestimmte Informationen oder Sachgegenstände zu konzentrieren. Dadurch können dann Negationsformen in erheblichem Maße dazu beitragen, Wahrnehmungs- und Sinnbildungsprozesse perspektivisch auszurichten und eben dadurch sowohl den Inhalts- als auch den Beziehungsaspekt der Kommunikation spezifisch auszugestalten. An Negationsformen lässt sich auch recht gut die These von Bühler exemplifizieren und legitimieren, dass die Sprache als ein „geformter Mittler“ bzw. als ein Werkzeug (organum) anzusehen sei, mit dem der eine dem anderen etwas über die Welt zur Kenntnis bringen könne.1 So betrachtet ist es deshalb auch sinnvoll, sowohl den Gebrauch von Negationsformen als auch den Verzicht auf sie als ein Stilistikum zu werten, insofern sich dadurch Hinweise darauf ergeben, wie jemand Sachverhalte sieht bzw. von anderen gern gesehen haben möchte. Wenn man bei der Wahrnehmung und Beurteilung von Negationsformen so ansetzt, dann führt es nicht sehr weit, Stilformen nur als ornamentale Einkleidungsformen für schon vorgegebene Denkinhalte anzusehen. Wir haben zu berücksichtigen, dass diese immer auch zur Konstitution von Denkinhalten beitragen, weil sie ihnen ein ganz bestimmtes Struktur- und Sinnrelief geben und eben dadurch das Sinnbildungsgeschäft der grammatischen Formen fortführen. Zu diesen lassen sich Stilformen möglicherweise in einem weiten Sinne rechnen, wenn man nämlich sein Grammatikverständnis nicht nur normativ, sondern auch interpretativ orientiert.2 Diese Beurteilung ergänzt dann auch eine ganz zentrale These des Sprachhistorikers und Grammatikers Hermann Paul zur Genese grammatischer Formen. „Jede grammatische Kategorie erzeugt sich auf der Grundlage einer psychologischen.[…] Die grammatische Kategorie ist gewissermaßen eine Erstarrung der psychologischen. Sie bindet sich an eine feste Tradi-
�� 1 Vgl. K. Bühler, Sprachtheorie, 19652, S. XXI und S. 24f. 2 Vgl. W. Köller, Stil und Grammatik, in; U. Fix/A. Gardt/J. Knape (Hrsg.), Rhetorik und Stilistik, 2. Halbband, 2009, S. 1210‒1230.
384 � Die Negation als Stilmittel tion.“3 Eine ganz ähnliche Auffassung hat auch der Literaturwissenschaftler und Stilforscher Leo Spitzer vertreten. „Syntax, ja Grammatik sind nichts als gefrorene Stilistik.“4 Auf eine sehr aparte Weise hat der eigentlich fachfremde Biochemiker Erwin Chargaff die Genese und die Funktion des Stils charakterisiert. „Stil ist die Scheuklappe, die es einem gestattet, den Weg zu sehen.“5 Dieser Aphorismus ist für die Wahrnehmung der Negationsimplikationen des Stils deshalb besonders interessant, weil er die Wahrnehmungsbedingungen von Pferden und Menschen auf eine sehr spannungsvolle Weise über das Phänomen der Scheuklappe miteinander in Beziehung setzt, mit der ja funktional gesehen immer sehr interessante Negations- und Affirmationsimplikationen verbunden sind. Scheuklappen gehören zum Zaumzeug von Pferden, um deren optisches Wahrnehmungsvermögen auf ganz bestimmte Weise einerseits einzuschränken und andererseits zu konzentrieren. Als typische Fluchttiere haben Pferde nämlich Lateralaugen, die ihnen eine fast vollständige Rundumsicht ermöglichen bzw. eine schnelle Reaktion auf sehr weiträumige optische Sinnesreize. Dagegen haben Menschen ebenso wie auch andere beutemachende Lebewesen Frontalaugen, die den Blick punktuell auf ganz bestimmte Wahrnehmungsgegenstände fokussieren können. Wenn nun Chargaff dem Stil eine Scheuklappenfunktion zuordnet, dann will er dadurch offenbar nachdrücklich darauf aufmerksam machen, dass der Stil in sprachlichen Wahrnehmungsprozessen dazu dienen soll, unseren Blick auf einschränkende Weise so zu konzentrieren, dass wir eben dadurch auch auf den sprachlichen Weg aufmerksam werden können, auf dem wir uns einem bestimmten Wahrnehmungsziel nähern. Das bedeutet, dass er dem Stil eine ausgesprochen methodische Funktion zuordnet, weil durch ihn strukturell festgelegt wird, wie bzw. unter welchen Bedingungen wir ein bestimmtes Wahrnehmungsziel erreichen und welche anderen Wege wir dabei ausschließen oder sogar ausschließen müssen. Das Scheuklappenmodell von Chargaff ist für die Aufklärung der möglichen Negationsimplikationen von Stilformen auch noch aus einem anderen Grunde interessant. Es macht uns nämlich indirekt darauf aufmerksam, dass uns unsere kulturell entwickelte Sprache im Prinzip sehr vielfältige sprachliche Verfahren und Formen für die Erschließung oder Objektivierung von Welt zur Verfügung stellt, aber dass wir gleichwohl immer dazu gezwungen sind, einen ganz bestimmten Versprachlichungsweg zu wählen, wenn wir zu einem konkreten
�� 3 H. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, 19758, S. 263, § 180. 4 L. Spitzer, Stilstudien, Bd. 2, S. 517. 5 E. Chargaff, Bemerkungen, 1981, S. 121.
Die Herkunft und Entwicklung des Stilbegriffs � 385
Wahrnehmungsziel kommen wollen. Die Wahlen von Stilformen sind daher auch Wegentscheidungen, die immer Einfluss darauf nehmen, was wir sehen wollen bzw. können. Sie beugen einer Zersplitterung unserer Aufmerksamkeit vor, insofern sie unseren Blick semantisch und pragmatisch konzentrieren. Gerade weil Stilformen erschließende und konkretisierende sprachliche Objektivierungsformen mit ganz spezifischen Affirmations- und Negationsimplikationen sind, können sie den jeweiligen Mitteilungsinhalten eine besondere Sinnschärfe und Sinntiefe geben. Ihre Existenz bestätigt Humboldts These, dass sprachliche Formen nicht als festumrissene Bausteine anzusehen sind, sondern als gestaltbildende Verfahrenswege. „Unter Form kann man nur Gesetz, Richtung, Verfahrensweise verstehen.“6 Dieses Verständnis der Stilproblematik lässt sich vielleicht am besten dadurch rechtfertigen und konkretisieren, dass zunächst ein Blick auf die Herkunft des Stilbegriffs geworfen wird und anschließend dann einer auf die konkreten stilistischen Funktionen von Negationsformen. Dadurch lassen sich dann auch die spielerischen und ästhetischen Aspekte des Negationsgebrauchs leichter in den Mittelpunkt der stilistischen Aufmerksamkeit rücken.
8.1 Die Herkunft und Entwicklung des Stilbegriffs Die Frage nach der Herkunft und Entwicklung des Stilbegriffs kann nicht nur von historischem, sondern auch von systematischem Interesse sein. Bei dem Versuch, sie zu beantworten, gewinnen wir nämlich nicht nur einen Überblick über den Umfang des Stilbegriffs, sondern auch einen über seinen Inhalt bzw. über die Erkenntnisinteressen, die mit ihm verbunden werden können. Dadurch lässt sich Aufschluss darüber gewinnen, welche Vorstellungen und Hoffnungen man sich zu verschiedenen Zeiten über die kategoriale Ordnungskraft und die pragmatische Funktionalität der Sprache gemacht hat und welche Postulate deshalb auch für ihre Pflege nahelagen. Sei es, dass man forderte, die Sprache und den Sprachgebrauch exakt zu normieren, sei es, dass man etablierte Sprachnormen zugunsten eines kreativen neuen Sprachgebrauchs in Frage stellte. Verständlich wird auf diese Weise dann auch, warum sich der Stilbegriff so leicht von der Sprache auf andere Zeichenwelten übertragen ließ (Denkstil, Malstil, Baustil, Lebensstil, Führungsstil, Laufstil usw.) und warum ganz bestimmte Affirmations- und Negationsintentionen bei der Ausbildung und der
�� 6 W. von Humboldt, Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, Gesammelte Schriften, Bd. 5, 1968, S. 455.
386 � Die Negation als Stilmittel Transformation von Stilformen und Stilnormen immer eine so große Rolle gespielt haben.
8.1.1 Der Ursprung des Stilbegriffs Unser heutiger Terminus Stil geht etymologisch auf das lat. Substantiv stilus zurück, mit dem der Griffel bezeichnet wurde, den man zur Beschriftung von Wachstafeln verwendete. Dieser hatte auf der einen Seite ein spitzes Ende, um Buchstaben auf die Wachstafeln einzuritzen, und auf der anderen Seite ein plattes Ende, um alte oder falsche Einritzungen wieder zu beseitigen bzw. um Wachstafeln für neue Beschriftungen herzurichten. Diese etymologische Herkunft des Stilbegriffs ist für sein heutiges Verständnis mindestens in zwei Hinsichten wichtig. Zum einen wird auf diese Weise gut nachvollziehbar, warum die Stilproblematik immer etwas mit der Korrekturproblematik zu tun gehabt hat bzw. mit der Bestätigung und der Abweichung von Normvorstellungen. Nicht zufällig bedeutet dann auch die lateinische Wendung stilum vertere (den Griffel umdrehen) nicht nur, dass etwas ausgestrichen werden kann, sondern auch, dass etwas verbessert werden kann. Diese Vorstellung hat Nietzsche dann auf eine sehr einprägsame Formel gebracht: „Den Stil verbessern ‒ das heißt den Gedanken verbessern, und gar nichts weiter!“7 Das ursprüngliche Stilverständnis war konstitutiv dadurch geprägt, dass der Gestaltungsgedanke eng mit dem Normgedanken bzw. mit der Affirmation von ganz bestimmten sprachlichen Macharttraditionen bei der Gestaltung von Texten verbunden war. Die konkrete Stilgestaltung war nämlich anfangs keineswegs mit einem individuellen Kreativitätsanspruch verbunden, sondern lediglich mit dem Ziel, ganz konkreten sprachlichen Text- und Traditionsnormen gerecht zu werden. Hinter diesem Stilverständnis stand letztlich ein großes Vertrauen darauf, dass sprachliche Ordnungsformen im Prinzip auf die Welt passen und dass demzufolge gegebene Sachverhalte auch adäquat durch bestimmte sprachliche Formen abgebildet werden können. Die Wahl der Stilmittel war deshalb auch nicht mit dem Anspruch verbunden, die Welt auf neuartige oder individuelle Weise sichtbar machen zu müssen. Daher wurde es auch keineswegs als problematisch angesehen, seinen eigenen sprachlichen Darstellungsstil an den von bewährten Vorbildern anzupassen. Ähnlich wie die Bienen sich ihren Nektar bzw. zu erzeugenden Honig aus vielen Blüten holten, so sah man es auch als gerechtfertigt an, bewährte sprachliche Darstellungsmuster in seinen �� 7 F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Werke Bd. 1, 19737, S. 930, Nr. 131.
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eigenen Textgestaltungen zu verwenden bzw. die Stilformen großer Vorbilder zu übernehmen. Dieses Stilverständnis änderte sich erst, als das prinzipielle Vertrauen in die direkte Korrespondenz von Seins- und Sprachformen mehr und mehr schwand und der sprachliche Abbildungsanspruch mehr und mehr durch einen sprachlichen Interpretations- und Gestaltungsanspruch abgelöst wurde, der sich dann auch zunehmend mit einem individuellen Kreativitätsanspruch verband. Je mehr sich die Versprachlichung von Denkinhalten nicht nur an der Objektsphäre der Welt orientierte, sondern auch an der Subjektsphäre mit ihren ganz individuellen Perspektivisierungsintentionen, desto mehr wurde die Aufgabe aktuell, mit neuen sprachlichen Stilformen auch neue Sichtweisen auf die Welt zu konkretisieren. Daraus ergab sich zugleich das Postulat, nicht nur tradierte Stilformen abzuwandeln, sondern auch neue zu entwickeln. Das betraf dann nicht nur literarische und philosophische Darstellungsformen, sondern auch fachwissenschaftliche, die dann allesamt mehr und mehr in eine direkte Opposition zu alltäglichen Sprachgebrauchsformen gerieten, weil sie natürlich von einem ganz anderen Funktions- und Wahrheitsverständnis geprägt wurden.
8.1.2 Das neuzeitliche Stilverständnis Sehr aufschlussreich für das neuzeitliche Stilverständnis ist ein immer wieder zitiertes Diktum von Buffon, das dieser 1753 in seiner Antrittsvorlesung anlässlich seiner Aufnahme in die Académie Française in die Welt gesetzt hat. Durch dieses wird nämlich sehr schön ein Spannungsverhältnis exemplifiziert, welches das Stilverständnis der Neuzeit sehr grundlegend geprägt hat. Die Dinge sind außerhalb des Menschen, der Stil ist der Mensch selbst. (Ces choses sont hors de l’homme, le style est l’homme même […].8
Auf den ersten Blick könnte man diese Denkfigur Buffons als ein Zeugnis des modernen Verständnisses von Stil verstehen, nach dem sich im konkreten Sprachgebrauch ein individuelles Denken bzw. ein individueller Gestaltungswille manifestiere. Dann wäre Buffons Diktum ein früher Ausdruck des idealistisch, romantisch oder konstruktivistisch geprägten Sprachdenkens, das dem Gebrauch von Sprache keine nachahmende und abbildende, sondern eine kreative und gestaltbildende Grundfunktion bei der sprachlichen Objektivierung von Welt bzw. bei der sprachlichen Vorstellungsbildung zuschreibt. �� 8 Zitiert nach W. G. Müller, Topik des Stilbegriffs, 1981, S. 41.
388 � Die Negation als Stilmittel Wolfgang G. Müller hat nun aber überzeugend nachgewiesen, dass dieses Verständnis der Denkfigur von Buffon nicht dessen ursprünglichen Aussageintentionen entspricht, sondern vielmehr als eine Projektion aus späteren Zeiten anzusehen ist. Müller betont, dass für Buffon als Vertreter der Aufklärung der sprachlich Stil und insbesondere der gute sprachliche Stil aus einem guten objektorientierten Denken, einem adäquaten Sachwissen und einem regelgemäßen Sprachgebrauch resultiere, aber nicht aus einem ganz persönlichen und kreativen sprachlichen Gestaltungswillen. Mit dem Begriff Mensch werde in Buffons Aussage nicht auf einen individuellen Menschen Bezug genommen, sondern vielmehr auf das vernunftbegabte Gattungswesen Mensch, das kraft eines vernunftgemäßen Sprachgebrauchs die Chance habe, Sachverhalte sprachlich so zu objektivieren, wie sie tatsächlich seien. Dieses Verständnis des Menschen sowie des menschlichen Denkens und Sprechens hat sich erst Ende des 18. Jahrhunderts ziemlich grundlegend geändert und damit dann natürlich auch das Verständnis von Sprache und Sprachstil. Je mehr nämlich Denk- und Sprachformen nicht mehr als Abbildungs-, sondern eher als Interpretations-, Erschließungs- und Kulturformen wahrgenommen wurden, desto mehr wurden dann natürlich auch Stilformen als subjektbedingte sprachliche Objektivierungsleistungen verstanden. Dadurch traten sie dann auch als historisch wandlungsfähige und wandlungsbedürftige Phänomene bzw. als Manifestationsformen eines ganz individuellen Gestaltungswillens in Erscheinung, der notwendigerweise auch tradierte Gestaltungsformen ändern oder sogar negieren musste. Dieses neue, personenbezogene Verständnis von sprachlichem Stil kommt sehr klar in einem programmatischen Diktum von Schopenhauer zum Ausdruck. Der Stil ist die Physiognomie des Geistes. Sie ist untrüglicher, als die des Leibes. Fremden Stil nachahmen heißt eine Maske tragen[…]. Die Sprache, in welcher man schreibt, ist die Nationalphysiognomie.9
Interessant an diesem Diktum Schopenhauers ist, dass er nicht nur einzelnen Menschen einen ausgeprägten Individualstil zuordnet, sondern auch historisch gewachsenen Nationalsprachen. Das harmoniert mit der Vorstellung Humboldts von der inneren Form von Einzelsprachen, in denen sich eine spezifische gestaltende Kraft (Energeia) manifestiere, die im Sinne eines bestimmten Formungsprinzips (forma formans) bedinge, welche konkreten Sprachgestalten (formae formatae) mit der jeweiligen Nationalsprache historisch und individuell im Laufe der Zeit hervorgebracht werden könnten. Heute ist diesbezüglich al�� 9 A. Schopenhauer, Über Schriftstellerei und Stil, § 282, Werke Bd. 5, 1988, S. 455.
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lerdings wohl anzunehmen, dass auch die von Humboldt postulierte innere Form von Sprachen kein unveränderlich vorgegebenes, sondern ein historisch entstandenes und daher dann auch evolutionär wandelbares Phänomen ist. 10 Das neuzeitliche Verständnis von Stil als einer personen- und sprachspezifischen Gestaltung von Denkformen und Denkinhalten macht nachdrücklich auf ein ganz fundamentales dialektisches Spannungsverhältnis in allen Ausprägungsformen von Stil aufmerksam. Einerseits müssen alle komplexen Stilformen bestätigend auf bestimmte konventionalisierte sprachliche Einzelformen und Gestaltungsweisen zurückgreifen, um intersubjektiv verständlich und wirksam sein zu können. Andererseits müssen sie sich aber auch auf transformierende und negierende Weise davon absetzen, um ein eigenständiges Profil gewinnen zu können. Deshalb ist die moderne Stillehre auch durch die Spannung zwischen der Forderung nach einer normativen Stilistik (Werkstil, Gattungsstil, Textsortenstil) einerseits und durch die Forderung nach einer rein deskriptiven Stilistik andererseits geprägt, die insbesondere auf individuelle Sprachgebrauchsweisen aufmerksam machen will bzw. die die Sensibilität dafür steigern möchte. Dieses Spannungsverhältnis schließt nicht aus, dass ganz neuartige individuelle und kulturelle Stilformen, die zunächst als häretisch wahrgenommen werden, nach und nach einen normativen oder sogar dogmatischen Status bekommen können, der dann wieder die Entwicklung neuer Stilformen provoziert. Dadurch ergeben sich dann wiederum vielfältige Möglichkeiten, mit Stilformen in Sinnbildungsprozessen zu spielen bzw. aus solchen Spielformen neue normsetzende Stilformen zu entwickeln, die sich sogar zu grammatische Formen verfestigen können.
8.1.3 Die semiotischen Aspekte der Stilproblematik Die These, dass die Stilproblematik eine Zeichenproblematik sei, ist sicherlich richtig, aber in dieser Allgemeinheit zugleich auch sehr banal. Sie wird erst dann fruchtbar, wenn man zu präzisieren versucht, welche sprachlichen Beobachtungsphänomene man überhaupt als Zeichen bzw. als Stilmittel ansehen kann, wie sich unsere Aufmerksamkeit für die Identifizierung von sprachlichen bzw. stilistischer Zeichen steigern lässt und welche konkreten Sinnbildungsleistungen diese überhaupt erbringen können. Solange man sprachliche Zeichen nur im Rahmen des Stellvertretungs- und sachthematischen Informationsge�� 10 Vgl. W. Köller, Philosophie der Grammatik, 1988, S. 241ff und 251ff.
390 � Die Negation als Stilmittel dankens betrachtet, aber nicht auch im Rahmen des Erschließungs- und Sinnbildungsgedankens, solange wird man deren stilistischen Funktionsmöglichkeiten nicht auf fruchtbare Weise in den Blick bekommen. Zweistellige Zeichenmodelle, die sprachliche Zeichen im Sinne von de Saussure als konventionalisierte Relationsgebilde zwischen einem sinnlich fassbaren Zeichenträger (Signifikant) und einem schon etablierten Zeicheninhalt (Signifikat) verstehen, sind für die Analyse der Informationsleistungen des fachsprachlichen Gebrauchs von Sprache sicherlich hilfreich, aber kaum für die Sinnbildungsleistungen von Sprache im alltäglichen, literarischen und philosophischen Sprachgebrauch bzw. im Kontext der Frage nach den stilistischen Sinnbildungsmöglichkeiten der Sprache. Daher ist das zweistellige Zeichenmodell von de Saussure auch ziemlich untauglich, um die Frage nach der flexiblen Perspektivierungskraft sprachlicher Zeichen zu beantworten, der sicherlich eine ganz zentrale Bedeutsamkeit zukommt, wenn wir uns mit den stilistischen Funktionsmöglichkeiten der Sprache insgesamt und insbesondere mit denen von Negationsformen beschäftigen. Das Spannungsverhältnis zwischen der Objekt- und der Subjektorientierung bei der Zeichenbildung und Sinnobjektivierung wird durch das zweistellige Zeichenmodell nämlich eher verdeckt als aufgedeckt.11 De Saussures sprachtheoretisches Denken lebt davon, sprachliche Zeichen als Manifestationsformen sozialer Konventionen und die Sprache als soziales Objektivgebilde (fait social) zu betrachten, das methodisch immer konsequent vom konkreten Sprachgebrauch zu unterscheiden ist. Damit fällt auch die Analyse des Stils aus dem genuinen Aufgabenbereich der Sprachwissenschaft heraus und wird im Prinzip der Literaturwissenschaft oder der Psychologie zugeordnet.12 Die methodologischen Grundentscheidungen de Saussures zur Konkretisierung des Aufgabenbereichs der Sprachwissenschaft sind natürlich nachvollziehbar, aber sie sind gerade im Hinblick auf die Aufklärung der Stilproblematik nicht sehr hilfreich. Sie verkürzen nämlich den Strukturgedanken, den de Saussure ja eigentlich für die Sprachwissenschaft fruchtbar machen wollte, auf eine ganz entscheidende Weise. Sie legen es nämlich nahe, den sprachliche Stil als ein Problem zu begreifen, das im Prinzip vor allem die zu respektierenden Normen für den konkreten Sprachgebrauch betrifft bzw. die Abweichung von diesen Normen, ohne danach zu fragen, welche Motive dafür jeweils bestimmend sein könnten.
�� 11 Vgl. W. Köller, Narrative Formen der Sprachreflexion, 2006, S. 493‒514. 12 F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 19672, S. 16ff.
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Eine im umfassenden Sinne strukturtheoretisch orientierte Stilistik hätte deshalb insbesondere danach zu fragen, welche Auswirkungen die entsprechenden Entscheidungen zur Normorientierung bzw. zur Normabweichung auf die jeweiligen sprachlichen Sinnbildungsprozesse haben können und welche neuen Relationsbezüge sich dadurch jeweils ergeben. Im Kontext des Denkansatzes von de Saussure werden Negationszeichen deshalb meist auch nur als explizit konventionalisierte Systemzeichen mit ganz bestimmten Abwehrfunktionen interessant, aber nicht als hermeneutische Erschließungszeichen, die morphologisch in ganz unterschiedlichen Formen in Erscheinung treten und die dementsprechend auch mit ganz unterschiedlichen pragmatischen Funktionen verbunden sein können. Allerdings gibt es nun in de Saussures sprachtheoretischem Denken einen Punkt, der für die Negations- und Stilproblematik durchaus interessant ist. Er hat nämlich ausdrücklich hervorgehoben, „daß es in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt.“13 Bei ihm läuft nämlich bei der Bildung sprachlicher Zeichen alles darauf hinaus, einen bestimmten Vorstellungs- bzw. Informationsgehalt so klar wie möglich von einem anderen abzugrenzen, weil er nur auf diese Weise seinen konkreten systemtheoretischen Stellenwert bekommen kann. Diese strukturtheoretische These ist für die Analyse des Stilproblems nun insofern wichtig, weil sie eine ganz spezifische erkenntnistheoretische Konsequenz für das strukturorientierte Denken hat. Sie beinhaltet nämlich die Grundvorstellung, dass man letztlich etwas nicht dadurch erkennt, dass man in einer kontemplativen Grundeinstellung nur auf die Sache selbst sieht, sondern vielmehr dadurch, dass man auch auf etwas anderes sieht, nämlich auf das Geflecht von Relationen bzw. Oppositionen, in welches das jeweilige Phänomen eingebettet ist bzw. für uns zur Erscheinung kommen kann. Das bedeutet dann, dass der semantische bzw. stilistische Wert einzelner Sprachformen sich immer nur durch seinem Stellenwert in ganz bestimmten aktuellen oder virtuellen Ordnungszusammenhängen konkretisiert. Dabei können dann natürlich sowohl Affirmations- und Ergänzungsrelationen eine Rolle spielen als auch Kontrast- und Negationsrelationen. Eine ganz andere Sichtweise auf die Stil- und Negationsproblematik in der Sprache ergibt sich, wenn man seinen diesbezüglichen Überlegungen das semiotische Denken von Peirce und insbesondere sein dreistelliges Zeichenmodell zu Grund legt.14 Sein semiotisches Denken ist nämlich weniger als Lehre von
�� 13 F. de Saussure, a. a. O., 19672, S. 143. 14 Vgl. W. Köller, Der sprachtheoretische Wert des semiotischen Zeichenmodells, in: K. H. Spinner (Hrsg.), Zeichen, Text, Sinn, 1977, S. 33‒77.
392 � Die Negation als Stilmittel den sozial gefestigten Zeichenkonventionen zu verstehen, sondern eher als Lehre von den Strukturbedingungen und Möglichkeiten der Konstitution und Zirkulation von Sinn mittels Zeichen. Das bedeutet, dass Peirce im Gegensatz zu de Saussure die Betrachtung von Zeichensystemen methodisch nicht von ihrem faktischen Gebrauch abtrennt, sondern vielmehr danach fragt, welche Rolle Zeichen auf der Basis von Traditionen und Intentionen bei der Konkretisierung von Sinn in intersubjektiv verständlichen Objektivierungsanstrengungen spielen können. Es ist nun recht offensichtlich, dass dieser Denkansatz für die Wahrnehmung der Stil- und Negationsproblematik sehr viel fruchtbarer ist als der von de Saussure. Durch ihn geraten nämlich sprachliche Zeichen und Ordnungsstrukturen nicht als vorgegebene soziale Konventionen oder gar Institutionen in den Fokus der Aufmerksamkeit, sondern als dynamische Sinnbildungsereignisse, die allerdings immer intersubjektiv verständlich zu sein haben. Das hat dann natürlich auch ganz erhebliche Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Affirmations- und Negationsimplikationen von Zeichen und Texten, insofern bei jedem Sprachgebrauch die jeweiligen Zustimmungs- und Abwehrintentionen neu akzentuiert und organisiert werden können. Um das besser zu verstehen, ist es hilfreich, sich die Struktur des dreistelligen Zeichenmodells von Peirce etwas genauer zu vergegenwärtigen. Peirce bestimmt das Zeichen nämlich als ein dreistelliges Relationsverhältnis zwischen einem Zeichenträger, Zeichenobjekt und Zeicheninterpretanten. Dabei ist der Zeichenträger die sinnlich bzw. empirisch fassbare Wahrnehmungsgröße, die Ausgangspunkt unserer Zeichenwahrnehmung ist oder sein kann und die weitgehend dem entspricht, was bei de Saussure der Signifikant repräsentiert. Das Zeichenobjekt ist die Vorstellungsgröße, die durch die jeweilige Zeichenkonstitution aus einem Kontinuum von Vorstellungen und Erfahrungen als eigenständige Denkgröße hervorgehoben oder gar herauspräpariert werden soll und worin sich gleichzeitig auch das Motiv für die Bildung des jeweiligen Zeichens manifestiert. Das bedeutet, dass das Zeichenobjekt nicht gleichbedeutend mit dem Signifikat bei de Saussure ist, weil es nicht vollständig auf sozial verbindliche Konventionen zurückgeführt werden kann, sondern allenfalls auf variable Verstehenstraditionen. Der Zeicheninterpretant, nicht zu verwechseln mit dem Zeicheninterpreten als einer konkreten Person, ist schließlich die Interpretationsperspektive mit Einschluss des Interpretationswissen, die zum Verständnis des jeweiligen Zeichens verwendet wird. Durch den Zeicheninterpretanten bzw. durch das Interpretierende kann das jeweilige Zeichenverständnis zwar methodisch, aber nicht faktisch abgeschlossen werden, da jeder neue Zeicheninterpretant natürlich zu einem neuen Sinnverständnis eines Zeichen führen kann bzw. zur Entdeckung ganz neuer Zeichen.
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Es ist nun recht offensichtlich, dass die Wahrnehmung eines Zeichens als dreistelliges Relationsgebilde dessen jeweiligem Sinnverständnis immer eine große innere Dynamik zubilligt, da ja jede Veränderung eines Zeichenfaktors bestimmte Rückwirkungen auf die Wahrnehmung des konkreten Profils der beiden anderen hat. Zeichen treten im Rahmen dieser Modellbildung weniger als feste Konventionsgebilde in Erscheinung, sondern eher als interpretationsbedürftige Phänomene. Was mit bestimmten Zeichen affirmiert oder negiert wird, ist nicht vorab klar geregelt, sondern vielmehr das Ergebnis von impliziten und expliziten Sinnbildungsanstrengung der jeweiligen Zeichenverwender auf der Basis bestimmter Verstehenstraditionen. Diese Interpretationsprozesse sind in den Fachsprachen üblicherweise klar geregelt, was natürlich auch impliziert, dass diese ein übersichtliches Inventar von Negationszeichen mit klaren Negationsfunktionen besitzen müssen. In den natürlichen Sprachen sind sie dagegen weniger klar geregelt, was dann wiederum die Chance eröffnet, auch solchen sprachlichen Formen kontextuell bestimmte Negationsimplikationen zuzuordnen, die üblicherweise nicht mit ihnen verbunden sind. Das kann dann gerade für stilistische Fragestellungen sehr wichtig werden. Prinzipiell lässt sich sagen, dass das Zeichendenken von Peirce ebenso wie das Sprachdenken von Humboldt dadurch geprägt ist, dass von konventionalisierten Zeichen nicht einfach Gebrauch gemacht wird, sondern dass diese für bestimmte Objektivierungsziele und Mitteilungsintentionen in einem grob vorgegebenen Rahmen immer wieder neu hergestellt werden bzw. zum Ausdruck eines konkreten Gedankens fähig gemacht werden. Gerade die Idee des Zeicheninterpretanten, der sich je nach konkreten Sacherfahrungen, begrifflichem Strukturwissen und aktuellen Wahrnehmungsintentionen unterschiedlich konkretisieren kann, verdeutlicht diese innere Dynamik der Zeichenbildung und des Zeichenverständnisses sehr klar, weil dieses Konzept sich gegen jede Form eines mechanischen Zeichenverständnisses wendet. Eine Normierung des Sinns von Zeichen kann es beim Zeichenverständnis von Peirce nur aus bestimmten methodischen Gründen geben bzw. aus der Notwendigkeit, dass Zeichen als soziale Funktionsgebilde intersubjektiv verständlich sein müssen und nicht zu individuellen Privatzeichen degenerieren dürfen. Um zu erläutern, wie dieses Postulat bei der Zeichenbildung und beim Zeichenverstehen praktisch umgesetzt werden kann, unterscheidet Peirce mit Blick auf die jeweiligen Zeichenträger dann auch zwischen Ikons, die kraft Strukturanalogien auf etwas anderes aufmerksam machen (Bilder), und Indices, die kraft bestimmter Kausalrelationen auf etwas anderes hinweisen (Rauch als Hinweis auf Feuer), und Symbolen, die kraft sozialer Konventionen und Traditionen etwas anderes repräsentieren (Verbalzeichen, Schriftzeichen).
394 � Die Negation als Stilmittel Diese Zeichentypologie von Peirce, die natürlich vielfältige Übergangserscheinungen zulässt und die deshalb auch als eine vereinfachende Typologie anzusehen ist, ermöglicht es nun, im Bereich der Sprache sehr viel mehr stilrelevante Zeichen wahrzunehmen und auf ihre spezifischen Sinnbildungs- bzw. Negationsleistungen hin zu befragen als das im Rahmen des Denkansatzes von de Saussure möglich ist. Dieser konzentriert sich in seinem sprachtheoretischen Denken nämlich weitgehend auf den konventionalisierten Zeichentyp Symbol und dessen Erscheinungsweise als eine soziale Tatsache (fait social). Das hat zur Folge, dass de Saussure sich für ikonische sprachliche Zeichen, zu denen im Sinne des semiotischen Denkens von Peirce beispielsweise Metaphern gehören, aber auch ganz bestimmte Strukturformen von Sätzen (Hypotaxe, Parataxe) und Strukturformen von Texten (Textmuster), zeichentheoretisch gar nicht besonders interessiert. Solche sprachlichen Zeichenformen sind stilistisch aber durchaus interessant, weil mit ihnen natürlich immer ganz spezifische Affirmations- und Negationsimplikationen verbunden sind bzw. eine ganz bestimmte Steuerung unserer Aufmerksamkeit in Sinnbildungsprozessen. Außerdem ist zu beachten, dass die Zeichentypologie von Peirce es auch gestattet, aus dem konkreten Zeichen- bzw. Sprachgebrauch eines Sprechers Rückschlüsse auf sein individuelles Denken oder auf seine jeweiligen Mitteilungsintentionen zu ziehen. Das ermöglicht es dann wiederum, auch Aussagen über die spezifische Identität des Sprechers zu machen. „It is that the word or sign which man uses is the man himself. […] Thus my language is the sum total of myself; for the man is the thought.”15
8.2 Die stilistischen Implikationen von Negationen Die grundsätzliche These, dass die stilistischen und sinnbildenden Funktionen von Negationen aus ihren jeweiligen Perspektivierungsleistungen abzuleiten seien, bedarf der Präzisierung, um für konkrete Stilanalysen fruchtbar werden zu können. Dabei ist zu beachten, dass die Kategorie der Perspektivität nicht nur eine wahrnehmungs- und erkenntnistheoretische Kategorie ist, sondern zugleich auch eine anthropologische, ohne die menschliche Sinnbildungsprozesse nicht befriedigend beschrieben und analysiert werden können. Mit Hilfe der Kategorie der Perspektivität lässt sich nämlich sehr gut darauf aufmerksam machen, dass alle menschlichen Wahrnehmungs- und Gestaltungsprozesse im Gegensatz zu unseren hypothetischen Vorstellungen von �� 15 Ch. S. Peirce, Collected Papers 1960. 5.314.
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göttlichen dadurch charakterisiert sind, dass diese immer auf spezifische Weise bedingt und damit unvollständig und ergänzungsbedürftig sind. Menschen können die Welt immer nur von einem ganz bestimmten örtlichen, zeitlichen und geistigen Sehepunkt her wahrnehmen und nicht unperspektivisch von nirgendwo her. Das bedeutet, dass Menschen bestimmte Phänomene weder visuell noch kognitiv in ihrer Ganzheitlichkeit erfassen können, sondern nur hinsichtlich derjenigen Aspekte, die ihnen von ihrem jeweiligen Standpunkt her perspektivisch bzw. aspektuell zugänglich sind. Deshalb hat Kant ja auch geltend gemacht, dass wir es bei unseren Erkenntnisbemühungen nicht mit den Dingen an sich zu tun hätten, sondern vielmehr mit den Erscheinungen der Dinge unter den Bedingungen unserer jeweiligen Erkenntnisprämissen. Während Kant diesbezüglich vor allem an die Strukturen unserer Vernunft dachte, haben spätere Denker wie Humboldt, Peirce und Cassirer dabei auch an die Strukturen unserer kulturell entwickelten Zeichensysteme gedacht, mit denen wir uns unsere Erkenntnisgegenstände intersubjektiv verständlich zu objektivieren versuchen. Bildlich gesprochen ließe sich deshalb auch sagen, dass unsere Zeichen und insbesondere unsere sprachlichen Zeichen Fenster sind, die vorab bedingen, worauf wir unseren Blick richten können, oder Lichtquellen, die vorherbestimmen, was wir uns von der Welt erhellen können und was nicht, oder Werkzeuge, die festlegen, wie wir grobe Rohgestalten zu durchstrukturierten Sinngestalten umformen können, die sich dann auf fruchtbare Weise in unsere menschliche Lebenswelt integrieren lassen. Das bedeutet, dass es von der Menge, dem Zuschnitt und den Verwendungsmöglichkeiten dieser Zeichen abhängt, was wir uns von der Welt jeweils fassbar machen können und wie sich dann das Erfasste in unsere Handlungsmöglichkeiten integrieren lässt. Nun besteht sicherlich kein Zweifel daran, dass unsere natürlich gewachsene Sprache unser umfassendstes und flexibelstes Mittel für die semiotische Perspektivierung und Objektivierung der Welt ist, obwohl sie hinsichtlich ganz bestimmter Einzelaufgaben sicherlich von anderen Zeichensystemen übertroffen werden kann. Gerade weil die natürliche Sprache nicht nur eine grundlegende Objektivierungsfunktion für die Welt hat, sondern zugleich auch eine unverzichtbare Erzeugungs- und Interpretationsfunktion für alle anderen kulturell entwickelten Zeichensysteme, hat sie zugleich auch immer eine konstitutive Funktion für den Menschen als ein erkennendes, kommunizierendes und handelndes Wesen. Schiller hat die vermittelnde Macht und Kraft der Sprache, die natürlicherweise einerseits immer trennt und andererseits doch auch immer wieder vereint, in seiner Anrede an den Dichter in ein sehr erotisches Bild umgesetzt:
396 � Die Negation als Stilmittel Laß die Sprache dir sein seyn, was der Körper den Liebenden; er nur Ists, der die Wesen trennt und die Wesen vereint.16
Nun wird man sicherlich den negierenden Sprachformen im Vergleich mit den metaphorischen, klanglichen und rhythmischen keine genuine erotische Anziehungskraft zubilligen, weil mit ihnen zunächst eher analysierende Trennungs- als synthetisierende Integrationsvorstellungen verbunden werden. Man sollte aber nicht vergessen, dass die Aufhebung von bestimmten Vorstellungen nicht nur ein destruktiver Akt ist, sondern durchaus im Dienste von Anstrengungen stehen kann, einen neuen Zugang zu altbekannten Phänomenen zu finden und auf Umwegen genau das zu erreichen, was man auf direkten Wegen nicht erreichen bzw. benennen kann. So gesehen lassen sich dann auch Negationsformen als Stilformen verstehen, mit denen potentiell eine erotische Funktion verbunden sein kann, weil sie zu ganz neuen Wahrnehmungsweisen von etwas anscheinend Bekanntem führen können bzw. zu ganzheitlich orientierten Wahrnehmungsinhalten und Wahrnehmungsanstrengungen, da sie ja durchaus dabei helfen, neue Relationsgeflechte bzw. Sinngestalten zu stiften.
8.2.1 Stilanalysen im Dienste des Besser-Verstehens Seit Kant eher beiläufig als programmatisch die Überzeugung geäußert hat, dass es „eigentlich nichts Ungewöhnliches sei“, einen Autor hinsichtlich seiner Gedanken „so gar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand“,17 ist die Diskussion darüber nicht mehr abgerissen, ob diese These zu rechtfertigen sei bzw. wie sie angemessen zu verstehen sei. Dabei wurde dann insbesondere geltend gemacht, dass die erste Fassung eines bestimmten Gedankeninhalts notwendigerweise immer etwas grob sei und dass sie erst in nachfolgenden Denkprozessen eine wirklich durchstrukturierte Gestalt bekommen könne. Gadamer hat diesbezüglich dann auch die sehr viel bescheidenere Auffassung vertreten, dass es genüge zu sagen, dass man in späteren Zeiten „anders versteht, wenn man überhaupt versteht“, um diese ganze Problematik nicht in die Nähe einer überheblichen Besserwisserei der nachgeborenen Interpreten geraten zu lassen.18
�� 16 F. von Schiller, Musenalmanach für das Jahr 1797, An den Dichter, Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. 1, 1943, S. 302. 17 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 315, Werke Bd. 3, 19762, S. 322. 18 H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 19652, S. 280. Vgl. auch O. F. Bollnow, Was heißt, einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat? In: O. F. Bollnow, Das Verstehen, 1949, S. 7‒33.
Die stilistischen Implikationen von Negationen � 397
Die These, dass spätere Interpreten die Gedanken und Texte früherer Autoren besser oder anders verstünden als diese selbst, hat vielfältige Relationen zur Stil- und Negationsproblematik. Einerseits lässt sich mit ihr nämlich die Vorstellung verknüpfen, dass die sprachliche Objektivierungsweise eines bestimmten Gedankens diesem nicht äußerlich wie eine Etikette anhaftet, sondern diesen selbst erst sinnstiftend konstituiert, da sie ihm ja eine konkrete Gestalt bzw. ein ganz bestimmtes Relevanzrelief gibt. Das bedeutet dann letztlich, dass die Präzisierung und Fortentwicklung eines Gedankens gleichsam immer auch irgendwie zum Gedanken selbst gehört. Andererseits lässt sich mit dieser These nun aber auch die Vorstellung verbinden, dass das nachträgliche bessere Verständnis eines Gedankens diesen zwar nicht aufhebt, aber ihn doch entscheidend historisiert und somit auch relativiert. Im Rahmen eines sehr dezidierten Fortschrittsglaubens könnte das dann durchaus bedeuten, dass er auf diese Weise wegen seiner Undifferenziertheit zumindest partiell negiert wird. Bei beiden Auffassungen ist nun gleichwohl zu prüfen, welche Affirmations- und Negationsfunktionen mit den jeweiligen Interpretationen verbunden sind und wie weit diese Interpretationen auch selbst wieder interpretationsbedürftig sind. Historisch ist die These vom Besserverstehen bei Kant und den Aufklärern so verstanden worden, dass ein komplexer Problemzusammenhang im ersten objektivierenden Zugriff natürlich noch nicht so präzise und zutreffend erfasst werden könne wie in späteren. Nachfolgende Denker und Interpreten könnten dementsprechend auf der Basis eines umfänglicheren Sach- und Methodenwissens bestimmte Denkinhalte natürlich immer sehr viel präziser begrifflich objektiviert und stilistisch durchgeformt darstellen als die ursprünglichen Denker. Dadurch würden dann aber die anfänglichen Darstellungsweisen nicht falsch, sondern vergleichsweise nur etwas gröber und unspezifischer. In der Romantik weitete sich dann die Formel vom Besser-Verstehen von philosophischen auf literarische Texte aus, wodurch ihr dann auch neue Sinndimensionen zugewachsen sind. Es entwickelte sich nämlich die Vorstellung, dass ein schöpferischer Autor bzw. ein Dichter im Prinzip vorbewusst schaffe und dass es die Hauptaufgabe der späteren Interpreten sei, den ursprünglichen vorbewussten Schaffensprozess hinsichtlich seiner Prämissen, Intentionen und Strukturen nachträglich bewusst zu rekonstruieren und dadurch intersubjektiv besser verständlich zu machen. Das beinhaltet dann natürlich immer, dass ein Interpret einen Autor besser versteht als dieser sich selbst versteht, weil er gleichsam die Substrukturen von dessen Denken freilegen kann, die dem schaffenden Autor selbst in der Regel verborgen bleiben. Für Interpretationsprozesse mit dieser Zielsetzung boten sich dann natürlich insbesondere stilistische Analysen an, da man der Auffassung war, dass die schöpferische Gestaltung von Texten eher intuitiv als rational geplant erfolge.
398 � Die Negation als Stilmittel In diesem Denkrahmen ergab sich verständlicherweise dann auch eine ganz andere Sensibilität dafür, was ein Autor bei seiner Textgestaltung zu bekräftigen oder zu marginalisieren anstrebte. Das Phänomen Stil konnte so insbesondere als ein Mittel der unbewussten oder bewussten Aufmerksamkeitslenkung in den Fokus der Aufmerksamkeit gebracht werden. Dieses neue Verständnis der Formel vom nachträglichen Besser-Verstehen löschte das alte Interesse an einem besseren Sachverstehen von ganz bestimmten Problemzusammenhängen nicht aus, aber es setzte doch andere Akzente. Das Interesse ließ sich nämlich nun ganz darauf richten, wie Subjekte in Wahrnehmungs- und Sinnbildungsprozessen das Stilphänomen einordnen bzw. mit ihm umgehen. Das konnte dann zur Folge haben, dass Stilanalysen so angelegt wurden, dass man eher etwas über die Denkwelt des jeweiligen Autors erfahren wollte als über die Struktur der jeweils thematisierten Sachverhalte. Auf jeden Fall ist bei diesem Denkansatz die Formel vom Besser-Verstehen immer als eine Formel anzusehen, die sich auch auf das Interesse an dem perspektivischen Verstehen von Sachverhalten durch ganz bestimmte Personen beziehen lässt. Das bedeutet weiter, dass die Untersuchung von Stilformen ganz erheblich dazu beitragen kann, näheren Aufschluss darüber zu gewinnen, welche Assimilations- und Akkommodationsanstrengungen notwendig werden, um die verschiedenen Sinnschichten von Texten adäquat zu erfassen.
8.2.2 Negationsintentionen bei der Ausbildung von Stil Wer in stabilen Denktraditionen und Sprachgebrauchssituationen steht, der macht sich in der Regel keine großen Gedanken über sprachliche Darstellungsstile, weil er gegebene Stilformen genauso nutzt wie gegebene Grammatikformen. Erst wenn tradierte Denk- und Sprechweisen zum Problem werden, weil sie den eigenen Objektivierungs- und Vermittlungsintentionen nicht mehr gerecht werden, ergibt sich die Notwendigkeit, über die Leistungskraft von Stilformen zu reflektieren bzw. diese den eigenen Sinnbildungsintentionen anzupassen. Das kann dann zur Konsequenz haben, gegebene Sprachformen auf neuartige Weise zu verwenden oder völlig neuartige zu entwickeln. Odo Marquard hat deshalb die plausible Auffassung vertreten, dass der Bedarf an Stilreflexion und neuen Stilformen aus der Denkhaltung der Skepsis erwachse bzw. aus der Suche nach Alternativen zu den tradierten Denk- und Formwelten. Deshalb sieht er denn auch in dem Bedarf an Stil, der im Prinzip nie endgültig erfüllt werden könne, insofern das skeptische Denken im Prinzip nie zur Ruhe komme, eine Ausdrucksform der Gewaltenteilung. Diese verhindere, dass bestimmte Denk- und Sprechweisen sakrosankt würden und anderen
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ihr Lebensrecht streitig machten.19 Skeptisches Denken entlaste die Menschen von der Übermacht des Absoluten, durch die ein lebendiges Denken durchaus stranguliert werden könne. Der Skeptiker brauche die Leichtigkeit und die Variation von Formen, um seinen eigenen Ernst auszuhalten und „um Buße zu tun dafür, dass er seine Mitmenschen mit Denken und Schreiben belästigt.“20 Wenn man in dieser Weise das skeptische Denken als Quelle von Stilbedarf und Stilformen ansieht und wenn man die Entwicklung von Stilformen mit historischen und individuellen Umbruchssituationen in Verbindung bringt, dann ist ziemlich offensichtlich, dass sowohl explizite als auch implizite Negationsformen bei der Konkretisierung von Stilformen immer eine große Rolle gespielt haben und auch spielen müssen. Sie sind nämlich unverzichtbare semiotische Hilfsmittel, um schon vorhandene Denkinhalte, Denktraditionen und Denkformen in Frage zu stellen, ohne sie dabei prinzipiell vernichten zu wollen, da man ja weiß, dass jedes Denken Prämissen braucht, auf die man zustimmend oder ablehnend Bezug nehmen muss. Ohne das dynamische Wechselspiel von Affirmationen und Negationen sowie von Assimilationen und Akkommodationen kann man sich ein lebendiges Denken kaum vorstellen. Jede konkrete Ausbildung von Stil muss auf die Nutzung etablierter grammatischer Negationszeichen zurückgreifen und gleichzeitig neuartige sprachliche Objektivierungsformen mit spezifischen Negationsimplikationen entwickeln. Neue Stilformen gewinnen immer erst in ihrer Kontrastrelation zu tradierten Stilformen ihre ganz spezifischen Sinnbildungsfunktionen. Deshalb treten neue Stilformen und große Stilisten auch meist in historischen und kulturellen Umbruchssituationen hervor, in denen das Tradierte noch wirksam ist, aber gleichzeitig doch als unbefriedigend oder gar als bekämpfenswert empfunden wird. Etwas zugespitzt ließe sich sogar sagen, dass die Entwicklung neuer Stilund Negationsformen auch ein Indiz für einen Generationenkonflikt ist oder gar so etwas wie ein kultureller Traditions- bzw. Vatermord. Auf jeden Fall sind neue Stilformen aber Erscheinungsformen von Evolutionsprozessen, in denen Neues nur dadurch Gestalt gewinnt, dass es Altes verdrängt oder umformt. Das kann im kulturellen Bereich allerdings auch heißen, dass etwas Neues als Wiederbelebung eines Alten in Erscheinung tritt oder sich zumindest zunächst so versteht (Renaissance).
�� 19 Vgl. O. Marquard, Skepsis und Stilbedarf, in: H. Lenk/B. Thum (Hrsg.), Sprachen der Philosophie, 2001, S. 134‒138. 20 O. Marquard, Skepsis als Philosophie der Endlichkeit, 2002, S. 14.
400 � Die Negation als Stilmittel Wer anders denkt, der muss auch anders sprechen, allerdings immer nur in der Weise, dass er von anderen auch verstanden werden kann, wobei natürlich gerade die etablierten Negationsformen außerordentlich hilfreich sind. Skepsis darf nicht stumm bleiben, sondern muss verständliche Artikulationsformen finden, um als sinnvolle Problematisierungs- oder gar Negationsanstrengung fassbar werden zu können. Wer in festen Denk- und Sprachtraditionen steht und keine Skepsis kennt, der versteht gegebene Sprach- und Stilformen gleichsam immer als gegebene Naturformen und nicht als Kulturformen, die eine ganz bestimmte Interpretations- und Gestaltungsfunktion haben. Negationsformen werden in diesem Denkrahmen dann oft nur als sprachliche Abwehrmittel angesehen, mit denen Grenzen thematisiert und bekräftigt werden, aber nicht als heuristische Erkenntnismittel, mit denen Grenzen problematisiert und transzendiert werden, um sich geistiges Neuland zu erschließen. Als Manifestationsformen von sprachlichen Evolutionsprozessen sind alle Stil- und Negationsformen durch die Spannung von Individualität und Sozialität geprägt, insofern sie einerseits bestimmte Sprachgebrauchstraditionen in Frage stellen und andererseits neue begründen. Wenn sich bestimmte Formen pragmatisch bewähren, dann können sie zur Imitation einladen und schnell kanonisch werden. Deshalb spricht man ja auch von einer Stilisierung, wenn Unübersichtliches für bestimmte Rezeptionsweisen vereinfacht wird. Stilformen haben deshalb in Wahrnehmungsprozesse nicht nur eine Provokations-, sondern auch einen Vorbahnungsfunktion. Allerdings können die faktischen Vorbahnungseffekte sehr vielfältig sein, was Lichtenberg sehr schön zum Ausdruck gebracht hat. „Rede, sagte Sokrates zu Charmides, damit ich dich sehe […].“21
8.2.3 Affirmationen als Negationen Wenn man Stilformen als Sinnbildungsformen versteht, die insbesondere der Prägnanzbildung dienen, und wenn man gleichzeitig strukturalistisch denkt, dann stoßen wir auf ein fast paradoxes stilistisches Phänomen. Prägnante Stilformen, die vordergründig als Affirmationen von bestimmten Vorstellungen in Erscheinung treten, können hintergründig auch als Negationen anderer Vorstellungen wirksam werden, da ja jede faktisch gewählte Stilform eine Abwahl von konkurrierenden ist und deshalb zugleich auch reflexionsthematisch alternative Gestaltungsformen ins Bewusstsein rufen kann. Diese Dialektik kommt besonders klar in dem Korrelationsverhältnis von Herr und Knecht zum Ausdruck. �� 21 G. Ch. Lichtenberg, Über Physiognomik , Schriften und Briefe, Bd. 2, 1983, S. 96.
Die stilistischen Implikationen von Negationen � 401
Personen, die sprachlich mit diesen Termini benannt werden, existieren nicht von vornherein auf natürliche Weise als Herr und Knecht für uns, sondern nur kraft der sprachlichen Kontrastrelation im Rahmen eines ganz bestimmten Wahrnehmungskonzeptes. Aus diesem Beispiel ergibt sich sehr deutlich, dass auch stilistische Formen nicht als substanziell legitimierte Naturformen für die sprachliche Objektivierung von ganz bestimmten Sachverhalten anzusehen sind, sondern vielmehr als perspektivierende Interpretations- und Sinnbildungsformen, die aus einem ganz spezifischen Gestaltungswillen hervorgehen, selbst wenn dieser nach und nach einen sozial verbindlichen oder gar kanonischen Charakter bekommen kann. Sofern man die Existenz und den Gebrauch von konkreten Stilformen als Indizien für bestimmte kulturelle, epochale oder individuelle Denkstile und Sinnbildungsanstrengungen ansieht, dann verliert die These, dass die Affirmationstendenzen von Stilformen pragmatisch gesehen durchaus auch die Funktionen von impliziten Negationen übernehmen können, ihre vermeintliche Paradoxie. Sie wird vielmehr zu einer hermeneutischen Denkfigur, über die man Zugang zu dem hintergründigen Perspektivierungswillen findet, der vordergründigen Gestaltungsformen zu Grunde liegen kann. Dieser verdeckte Gestaltungswille kann sowohl dem Sprecher als auch dem Hörer nicht immer unmittelbar verständlich sein, obwohl er beiden durchaus über ihr jeweiliges Sprachgefühl als Manifestationsform ihres intuitiven Sprachwissens präsent werden kann. Über historische und vergleichende Analysen lässt sich dieser verdeckte perspektivierende Strukturierungswille aber meist recht gut erschließen. Beispielsweise hat Hans Leisegang im Anschluss an Hegel und Cassirer kulturhistorisch zwischen einem Denken in Gedankenkreisen, in Begriffspyramiden und in Antinomien unterschieden, in denen dann natürlich auch von der Sprache immer ein je unterschiedlicher Gebrauch gemacht wird und auch gemacht werden muss.22 Bei einer historischen und systematischen Betrachtung dieser Denkformen kann dann die Wahl der einen Denkform immer als eine Abwahl einer anderen verstanden werden, ohne dass das natürlich den faktischen Verwendern dieser Denkformen klar bewusst sein muss. Ganz offensichtlich ist aber, dass gerade in einem Denken mit Hilfe von Begriffspyramiden und Antinomien die dialektische Korrelation von Affirmationen und Negationen immer eine ganz zentrale Rolle spielt und auch spielen muss. Begriffspyramiden lassen sich nur dann bilden und nutzen, wenn Denkinhalte hierarchisiert und scharf von einander abgegrenzt werden. Antinomien können nur konkretisiert werden, wenn Negationsrelationen klar hervortreten. Dagegen treten in einem Denken �� 22 H. Leisegang, Denkformen, 1928.
402 � Die Negation als Stilmittel in Gedankenkreisen Kontrastrelationen weniger deutlich hervor, da Inhalte leicht ineinander übergehen können. Leisegangs Differenzierungen von Denkstilen lassen sich noch durch weitere ergänzen, die in der Regel auch als spezifische Sprachverwendungsstile anzusehen sind. So kann beispielsweise unterschieden werden zwischen einem statischen bzw. ahistorischen Denken, das vor allem kategorisieren möchte, und einem dynamischen bzw. evolutionären Denken, das vor allem erzählen, erklären und analogisieren möchte. Auch die Bevorzugung von Substantiven bei sprachlichen Objektivierungsbemühungen (Nominalstil) oder die Bevorzugung von Verben (Verbalstil) lässt sich als ein je unterschiedlicher Denkstil mit spezifischen Affirmations- und Negationsimplikationen verstehen. Ähnliches trifft für die Bevorzugung einer Addition von Aussagen (Parataxe) oder für die Bevorzugung einer Hierarchisierung von Einzelaussagen (Hypotaxe) zu. Auch die Wahl von begrifflichen oder metaphorischen, von feststellenden oder ironischen, von indikativischen oder konjunktivischen bzw. modalisierenden Aussageweisen lässt sich als Konkretisierung eines ganz bestimmten Denkstils verstehen. Jede Wahl oder Abwahl von Sprachformen hat im Prinzip eine aufmerksamkeitslenkende Funktion mit spezifischen Affirmations- und Negationsimplikationen. Außerdem ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass der Gebrauch bzw. Nichtgebrauch einer bestimmten Stil- oder Negationsform nicht nur eine aktuelle Perspektivierungsfunktion für Wahrnehmungsprozesse hat, sondern zugleich auch immer eine soziale Prägefunktion entfalten kann. Über die Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz solcher Formen kann man in Gruppen eintreten oder aus diesen austreten bzw. bestimmte Wahrnehmungstraditionen festigen oder auflösen. Stilformen mit ihren spezifischen Affirmations- und Negationsimplikationen können gleichermaßen ein epigonales als auch ein avantgardistisches Denken fördern bzw. schwächen. Selbst wenn bestimmte Stilformen vordergründig nur eine Verfestigungsfunktion zu haben scheinen, so können sie hintergründig und langfristig doch eine Transformationsfunktion für das Denken und Wahrnehmen bekommen.
8.3 Die Negation als Spielphänomen Zunächst erscheint es nicht sehr plausibel, die Negation dem Reich der Spiele zuzuordnen. Sie scheint eher in das Reich der Logik zu gehören, weil sie mit analysierenden Unterscheidungsanstrengungen zu tun hat und nicht mit synthetisierenden Gestaltungsprozessen. Ein genauerer Blick zeigt dann aber, dass die Vorgänge des Sprechens und damit dann auch die des Negierens ein großes
Die Negation als Spielphänomen � 403
Überschneidungsfeld mit denen des Spielens haben. Nicht ohne Grund ist deshalb auch das Spiel immer wieder als Sinnbild für Sprache verwendet worden.23 Gerade wenn man der Auffassung ist, dass neben der Sprache, der Arbeit und des Lernens auch das Spiel als ein anthropologisches Grundphänomen zu betrachten ist, dann wird man sich der Frage nicht entziehen können, ob bzw. inwiefern auch das Negieren als eine Erscheinungsform des Spielens betrachtet werden kann. Entstehungsgeschichtlich und funktional betrachtet gehören die Phänomene Spiel, Stil und Negation sicherlich sehr eng zusammen. Alle drei sind nämlich dem Grundgedanken verpflichtet, dass die mit ihnen verbundenen geistigen Anstrengungen nicht nur zur Repräsentation von Wissen dienen, sondern auch zur Strukturierung, zum Umgang und zur Vermittlung von Wissen. Auf diesem Umstand machen auch schon die Begriffsbildungen Sprachspiel, Wortspiel oder Hörspiel aufmerksam, mit denen allesamt wichtige Negationsimplikationen verbunden sind. Alle drei Begriffe machen nämlich indirekt darauf aufmerksam, dass die Phänomene Sprache und Spiel eher über den dialogisch orientierten Interaktions- als über den monologisch orientierten Abbildungsgedanken erschlossen werden sollten. Um die innere Verwandtschaft von Spielen und Negationen herauszuarbeiten, ist es vorteilhaft, sich zunächst um eine phänomenologische und anthropologische Beschreibung von Spielen zu bemühen. Vor diesem Hintergrund wird es dann leichter, das Spielpotenzial bzw. die Spielimplikationen von Negationen herauszuarbeiten. Dabei sollte es dann nicht nur darauf ankommen, über den Spielgedanken perspektivisch die Aufmerksamkeit dafür zu wecken, welche Motive hinter der Verwendung von konkreten Negationsformen stehen, sondern auch dafür, welche pragmatischen Intentionen historisch die Ausbildung des reichhaltigen Inventars von Negationsformen beeinflusst haben.
8.3.1 Zur Phänomenologie des Spiels Das phänomenologische Denken verdankt sich im Prinzip dem neuzeitlichen Bewusstsein, dass abschließende normative Wesensdefinitionen von bestimmten Erfahrungsphänomenen eigentlich unmöglich sind, weil diese sich einerseits historisch ständig wandeln bzw. sich evolutionär fortentwickeln und weil sie andererseits nicht auf göttliche Weise an sich zu erfassen sind, sondern nur in ganz bestimmten menschlichen Sichtweisen bzw. in schon vorstrukturieren�� 23 Vgl. W. Köller, Sinnbilder für Sprache, 2012, S. 567‒633.
404 � Die Negation als Stilmittel den Korrelationszusammenhängen. Aus dieser Einsicht wurde dann auch der Schluss gezogen, die Phänomenologie nicht als Seinslehre zu konzipieren, sondern eher als Methodenlehre, weil man zu der Überzeugung gekommen war, dass man belastbares Sachwissen nur über kontrollierte Wahrnehmungsverfahren erwerben kann, in denen sich elementare und relativ stabile Ordnungszusammenhänge von peripheren und recht variablen unterscheiden lassen. Aus alldem ergab sich dann für die Phänomenologie das Ziel, die traditionsoder situationsbedingten Verdecktheiten von gegebenen Tatbeständen zu erkennen und die jeweiligen Phänomene insbesondere im Rahmen von sehr grundlegenden menschlichen Wahrnehmungsbedürfnissen bzw. Wahrnehmungsnotwendigkeiten genauer zu erfassen. Die sogenannten phänomenologischen Reduktions- bzw. Ausklammerungsprozesse sollten deshalb dazu dienen, die elementaren von den mehr oder weniger zufälligen Merkmalen der zu erfassenden Phänomene zu unterscheiden, um sie auf diese Weise sinnvoll typologisch ordnen zu können. Von hier aus wird dann auch verständlich, warum die Phänomenologie grundsätzlich hermeneutisch orientiert ist und warum sie eine besondere Sensibilität für die perspektivischen Vorprägungen unserer Erkenntnisprozesse und Erkenntnisinhalte hat. Mehr und mehr hat sich nämlich die Einsicht durchgesetzt, dass man prägnante Erkenntnisinhalte nur dann gewinnt, wenn man sein Wahrnehmungsinteresse methodisch begrenzt und eben dadurch perspektivisch konzentriert. Das bezeugen die beiden methodischen Leitbegriffe der Phänomenologie (phänomenologische Reduktion bzw. phänomenologische Abschälung) sehr klar. Wenn man die Phänomenologie als Horizont- und Perspektivenforschung versteht, dann wird sehr offensichtlich, dass ihre Erkenntnisbemühungen eigentlich unabschließbar sind. Ihr ist nämlich im Prinzip immer bewusst, dass jede konkrete Wissensobjektivierung andere ausschließt, ohne dass diese vollständig verworfen werden müssten. Unter diesen Umständen wird sie dann natürlich in unabschließbare Affirmations- und Negationsprozesse verwickelt, die jeweils ganz bestimmte methodische Zielsetzungen haben, die anthropologisch gesehen dann allerdings elementar oder weniger elementar sein können. Eine Phänomenologie des Spiels erweist sich als besonders schwierig, weil Spiele wegen ihrer großen anthropologischen Relevanz im Verlaufe der Kulturgeschichte sehr unterschiedliche Ausprägungsformen gefunden haben. Das lässt es fast aussichtslos erscheinen, für sie einen gemeinsamen elementaren Kern zu postulieren. Die Spannweite von Spielen reicht nämlich von freien Strukturierungsspielen mit Bauklötzen oder Wörtern über mehr oder weniger klar geregelte Wettkampfspiele, Glücksspiele, Verkleidungsspiele, Darstellungsspiele und Argumentationsspiele bis zu existenzbedrohenden Wagnisspielen.
Die Negation als Spielphänomen � 405
Wittgenstein hat deshalb angenommen, dass es zwischen den unterschiedlichen Erscheinungsformen von Spielen nur ein „kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten“ gebe, die einander übergreifen und kreuzen könnten. Diese komplizierten Ähnlichkeitsverhältnisse zwischen allen Spielen ließen sich am besten durch das Konzept „Familienähnlichkeiten“ charakterisieren.24 Worin bestehen nun die tiefenstrukturellen Gemeinsamkeiten bzw. die oberflächenstrukturellen Differenzen zwischen den verschiedenen Ausprägungsweisen von Spielen? Gemeinsam haben alle Spiele, dass sie eine Verlaufsgestalt haben, die durch die Dynamik eines Hin und Her geprägt wird bzw. durch die Dynamik einer Gestaltbildung und Gestaltauflösung. In diesem Prozess ist die jeweilige Handlungsdynamik dann wichtiger als das jeweilige Handlungsergebnis. Deshalb können sich beim Spielen auch eigene Spielwelten herausbilden, die in einem bestimmten Sinne auch als Gegenwelten zu den bestehenden Realwelten verstanden werden können. In diese Spielwelten kann man dann im Gegensatz zu den Realwelten sowohl relativ problemlos eintreten als auch austreten. Spielaktivitäten haben dementsprechend dann auch recht eigenständige Zielsetzungen und Handlungsformen, die sich mit denen der üblichen Arbeitsaktivitäten in der Realwelt nicht decken müssen. Deshalb brauchen alle Spiele bestimmte Freiräume, um ihre eigenständigen Aktivitäten entfalten zu können, die zugleich auch immer ihre Selbsterneuerung gewährleisten müssen. Zwar besteht der Lohn von Spielen vordergründig in dem jeweiligen Spielergebnis, aber hintergründig in dem Genuss des Vollzug der Spielaktivitäten selbst. Deshalb hat Karl Bühler gerade im Hinblick auf Sprach- und Sprechspiele auch von einer „Funktionslust“ beim Vollzug des Spielens gesprochen.25 Die Funktionslust beim Spielen resultiert aus der Überwindung von konkreten Widerständen. Diese können sowohl aus den Eigenschaften und Tücken der einzelnen Spielmittel und Spielräume resultieren als auch aus den gegenläufigen Spielzielen der jeweiligen Spielpartner. Außerdem kommt natürlich auch dem Zufall eine ganz bedeutende Rolle in dem jeweiligen Spielgeschehen zu. Wo alles vorab stringent geregelt ist, da kann sich beim Spielen keine sich selbst tragende Dynamik von Impuls und Gegenimpuls entwickeln, die zum Weiterspielen anregt und eine Funktionslust erzeugt. Spiele haben deshalb auch einen ständigen Impetus zur Fortsetzung bzw. eine immanente Zirkelstruktur. Das hat wohl Novalis auch zu folgendem Aphorismus inspiriert: „Spielen ist experimentiren mit dem Zufall.“26
�� 24 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 66 und 67, 1967, S. 48. 25 K. Bühler, Sprachtheorie, 19652, S. 136 und 247. 26 Novalis, Fragmente und Studien I, 1799‒1800, Nr. 141, Werke Bd. 2, 1999, S. 771.
406 � Die Negation als Stilmittel Spiele benötigen immer Spielräume als Freiheitsräume. Diese ergeben sich auf der Objektseite durch die Umgestaltungsmöglichkeiten von Gegenständen und Ordnungsstrukturen sowie durch die Unberechenbarkeit der Verhaltensweisen von Spielpartnern. Auf der Subjektseite ergeben sie sich durch einen genuinen Betätigungsdrang der Spielenden, der auf das Ausleben von Kraft und die Überwindung von Widerständen gerichtet ist. Deshalb hat Herbert Spencer auch schon 1855 betont, dass Spiele aus einem Überschuss an Kraft (surplus of vigour) resultierten, der auf Entladung dränge und der eben dabei große Lebens- und Gestaltungskräfte freisetze.27 Es überrascht deshalb auch nicht, dass sich die Spieler beim Spielen oft selbst Erschwernisse auferlegen, um ihre motorischen, sensorischen und geistigen Gestaltungskräfte herauszufordern (Hüpfen auf einem Bein, Umgang mit besonders widerständigen Materialien, Entwicklung schwieriger Spielformen, Vorliebe für ebenbürtige Gegnern usw.). Die Faszination und die Selbsterneuerungskraft von Spielen sind ganz wesentlich durch ihre innere Dialektik geprägt. Diese besteht darin, dass der Mensch einerseits das Spiel in der Hand hat, weil er ja aktiver Spieler ist, dass er andererseits aber auch in der Hand des Spiels ist, weil dieses seine konkreten Handlungsmöglichkeiten bedingt. Diese Dialektik und Spannung gibt es auch beim Gebrauch der Sprache. Einerseits hat ein Sprecher die Sprache als Werkzeug zur Realisierung seiner Zielsetzungen in der Hand. Andererseits ist er in der Hand der Sprache, weil sie seine sprachlichen Handlungsmöglichkeiten vorstrukturierend bedingt. Das verdeutlicht, dass Spiele und Sprachen als Interaktionsphänomene eine kulturelle Grundprägung haben und auch noch dann als soziale Phänomene anzusehen sind, wenn sie faktisch als Individualspiele oder als Monologe in Erscheinung treten. Während im Deutschen der Begriff Spiel ebenso wie im Französischen der Begriff jeux hinsichtlich seiner sozialen Implikationen noch nicht spezifisch typisiert ist, gibt es im Englischen und Schwedischen diesbezüglich schon eine klare Differenzierung. Ein geregeltes Spiel mit einem tendenziellen Wettkampfcharakter wird im Englischen game und im Schwedischen spel genannt, während ein weitgehend regelfreies Strukturierungsspiel im Englischen als play und im Schwedischen als lek bezeichnet wird. Aus der großen Vielfalt der einzelnen Spielvorstellungen im Deutschen resultiert dann auch ein großer Freiheitsraum beim Gebrauch des Verbs spielen. Dieses kann nämlich einerseits als ein intransitives Vorgangsverb verwendet werden, das sich allenfalls adverbial präzisieren lässt (Er spielt. Er spielt mit Hingabe.), und andererseits als ein transitives
�� 27 H. Spencer, Spiele als Sekundärbetätigungen bei Kraftüberschuß, in: H. Scheuerl, Hrsg. Theorien des Spiels, 197510, S. 56.
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Handlungsverb, das sich mit einem Akkusativobjekt verbinden lässt (Er spielt den Narren. Er spielt den Ball ins Tor.). Für einen weitgefassten Spielbegriff haben Regeln natürlich einen anderen Stellen- und Funktionswert als für einen eng gefassten. Grundsätzlich ist allerdings in diesem Zusammenhang zu beachten, dass Spielregeln den Spielern letztlich nicht von außen in tyrannischer Weise auferlegt werden, sondern dass diese das Spiel als Spiel erst ermöglichen, weil durch sie die Spielwelt erst konstituiert wird. Spielregeln sind primär nämlich nicht dazu bestimmt festzulegen, was geschehen muss, sondern vielmehr dazu, klar festzulegen, was nicht geschehen darf. Im Prinzip beeinträchtigen sie nicht die kreativen Handlungen im Spiel, sondern strukturieren diese vielmehr. Da Spielregeln Interaktionsprozesse organisieren sollen, haben sie auch immer eine empirische Erfahrungsbasis, eine kulturelle Genese und eine evolutionäre Entwicklungsgeschichte. Da Spiele die Grundfunktion haben, Handlungsspielräume zu erproben und alle Arten von Steifheiten und Verfestigungen aufzuheben bzw. zu mildern, kommt ihnen im Prinzip auch in Evolutionsprozessen aller Art eine ganz fundamentale Rolle zu, seien es nun naturbezogene oder kulturbezogene Prozesse. Über sie können nämlich neue Korrelationsmöglichkeiten von schon gegebenen Elementen erschlossen und erprobt werden. Das ist für den Bereich der Kultur sicherlich unmittelbar plausibel, aber es gilt auch für den Bereich der Natur. Gerade im Zusammenhang mit dem Evolutionsgedanken ist daher auch für die Naturwissenschaften der Spielgedanke im Sinne des Zusammenspiels von Regel und Zufall immer wichtiger geworden.28 Spielprozesse stehen in einer ganz spezifischen Ähnlichkeits- und Oppositionsrelation zu Arbeits- und Lernprozessen, die ja ebenfalls als Strukturierungsprozesse mit bestimmten Aneignungs- und Abwehrtendenzen in Erscheinung treten können.29 Mit dem Phänomen der Arbeit teilt das des Spiels die Eigenschaft, ein Strukturierungsgeschehen zu sein, mit dem erhebliche Anstrengungen verbunden sind, da immer vielfältige Widerstände zu überwinden sind. Der Unterschied zwischen beiden Phänomenen besteht dann allerdings darin, dass der Zweckgedanke im Spiel ganz in das jeweilige Spielgeschehen integriert ist, während er sich bei der Arbeit auf Ziele bezieht, die außerhalb des Arbeitsprozesses selbst liegen. Das ändert sich nur, wenn Arbeitsprozesse so strukturiert sind oder strukturiert werden können, dass sie auch als Spielprozesse erlebbar sind, die ihren Lohn schon in sich selbst tragen, insofern sie dabei helfen, die eigenen Gestaltungskräfte zu entfalten und zu genießen.
�� 28 Vgl. M. Eigen/R. Winkler, Das Spiel, Naturgesetze steuern den Zufall, 19844. 29 Vgl. W. Guyer, Wie wir lernen, 19675.
408 � Die Negation als Stilmittel Mit dem Lernen hat das Spielen das Merkmal der Anstrengung gemeinsam. Dabei geht es in beiden Fällen allerdings nicht um die konkrete Änderung der Außenwelt wie bei der Arbeit, sondern vielmehr um die Umstrukturierung von Subjektwelten. Sowohl das Spielen wie das Lernen braucht stimulierende Widerstände, um sich entfalten zu können, wobei diese aber nicht den Härtecharakter haben dürfen, der für Arbeitsprozesse typisch ist und der leicht dazu führen kann, dass diese auch in Entfremdungsprozesse umschlagen können. Deshalb ist dann ja auch das Konzept des spielerischen Lernens entwickelt worden, um kenntlich zu machen, dass Lernprozesse nicht von Strukturierungsprozessen zu bloßen Aneignungsprozessen degenerieren dürfen, die nicht mehr viel mit Sinnbildungsprozessen zu tun haben, die immer eine Balance zwischen Assimilations- und Akkommodationsanstrengungen finden müssen. Wer alles weiß und alles kann bzw. diesen Anschein erweckt, wird sowohl beim Lernen als auch beim Spielen leicht zu einem Spielverderber, da er sich nicht mehr wirklich an einem gemeinsamen Strukturierungsgeschehen beteiligen kann. Ihm wird es immer schwerfallen, sich konstruktiv an affirmierenden und negierenden Sinnbildungsanstrengungen zu beteiligen, die sowohl beim kreativen Spielen als auch beim experimentellen Denken eine ganz zentrale Rolle spielen.
8.3.2 Der Sprachspielgedanke Wittgensteins Wittgenstein hat seinen rezeptionsgeschichtlich äußerst wirksamen Terminus Sprachspiel nicht begrifflich präzisiert, sondern nur programmatisch als eine Leitvorstellung für sein pragmatisch orientiertes Sprachdenken eingeführt. Das hat natürlich dazu eingeladen, seine Sprachspielvorstellung zu einer Projektionsfläche für vielerlei sprachtheoretische Reflexionen zu machen. Gleichwohl lässt sich feststellen, dass Wittgensteins Sprachspielgedanke vielfältige Hilfe bietet, um die Negationsproblematik im Kontext der Stilproblematik genauer zu charakterisieren. Durch ihn ergibt sich nun nämlich die Möglichkeit, unseren Sprachbegriff ganz im Sinne Humboldts nicht über den Werk-, sondern vielmehr über den Tätigkeitsbegriff zu strukturieren und zu präzisieren. „Das Wort »Sprach s p i e l« soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“30 Die Entscheidung Wittgensteins, die Sprache nicht als eine eigenständige Seinsgröße und als ein bloßes Systemgebilde ins Auge zu fassen, sondern vielmehr als eine Handlungsgröße und als eine Lebensform, hat zur Folge, dass er �� 30 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 23, 1967, S. 24. Vgl. auch § 7, 19, 241.
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sich für die Sprache nun nicht mehr wie in seiner ersten Denk- und Lebensphase als ein Abbildungs-, sondern vielmehr als ein Sinnbildungsmittel interessiert. Damit rücken dann für ihn auf ganz selbstverständliche Weise nicht nur ihre analysierenden Abgrenzungs-, sondern auch ihre synthetisierenden Gestaltungsfunktionen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Als Lebensform muss die Sprache natürlich immer auch mit Abwehr- und Zustimmungshandlungen in Verbindung gebracht werden, in denen objektorientierte Sacherfahrungen, subjektorientierte Handlungsintentionen sowie medienorientierte Strukturierungsanstrengungen in ein Fließgleichgewicht miteinander zu bringen sind. Wenn man in dieser Weise seinen Sprachbegriff über den Spielbegriff konkretisiert, dann wird deutlich, dass der Sprecher ebenso wenig vollständiger Herr über die Sprache ist wie der Spieler vollständiger Herr über das Spiel ist, eben weil jeder Mensch sowohl als Schöpfer als auch Geschöpf dieser Kulturphänomene in Erscheinung tritt. Ähnliches gilt dann sicherlich auch für den Gebrauch von Stil- und Negationsformen als spezifischen Sprach- und Lebensformen. Einerseits sind diese Formen nämlich entwickelt worden, um sie für die Verwirklichung ganz bestimmter Sinnbildungsintentionen zu nutzen. Andererseits haben sie aber immer auch einen rückprägenden Einfluss auf die Denkstrukturen ihrer Verwender, da sie natürlich intersubjektiv verständlich sein müssen und dazu einladen, wieder und wieder gebraucht zu werden. Stil- wie Negationsformen dürfen sich deshalb auch nicht zu privaten Sinnbildungsformen verselbständigen, wenn sie verständliche sprachliche Interaktionsformen sein sollen. Einerseits müssen sie sich natürlich ständig morphologisch und funktional wandeln, wenn sie Lebensformen bleiben wollen, aber andererseits dürfen sie Verstehensgewohnheiten auch nicht abreißen lassen, wenn sie wirkungsmächtig bleiben sollen. Sie müssen Sprachregeln respektieren, aber auch deren Spielräume ausnutzen und verändern, um sich ihre pragmatischen Funktionalität und Lebensdienlichkeit erhalten zu können. Dieser komplexen Ordnungsstruktur, die natürlich auch für die natürliche Sprache insgesamt gilt, hat Wittgenstein einen sehr plastischen Ausdruck verliehen, als er postulierte, dass die Bedeutung sprachlicher Zeichen in der Regel nicht referenztheoretisch aus ontischen Seinsgegebenheiten abzuleiten sei, sondern vielmehr funktionstheoretisch aus den jeweiligen Objektivierungs- und Differenzierungsbedürfnissen. „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“31 „Und der Begriff ist deshalb im Sprachspiel zu Hause.“32
�� 31 L. Wittgenstein, a. a. O., § 43, 1967, S. 159. Vgl. auch § 432, S. 159. 32 L. Wittgenstein, Zettel, 391, Werkausgabe 1984, Bd. 8, S. 363.
410 � Die Negation als Stilmittel Mit dieser Auffassung zur Genese und Legitimation der Bedeutung sprachlicher Formen steht Wittgenstein nicht allein. Humboldt hat betont, dass die Sprache „kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia)“ sei.33 Karl Bühler hat von einem „empraktischen“ Sprachgebrauch gesprochen.34 Wilhelm Schapp hat die Bedeutung von Wörtern aus den Geschichten abgeleitet, in denen sie jeweils „verstrickt“ seien.35 Eric H. Lenneberg hat die Auffassung vertreten, dass die Wörter „die Prozesse des kognitiven Umgangs einer Art mit ihrer Umwelt“ bezeichnen bzw. etikettieren.36 All diese Thesen wollen ausdrücklich darauf aufmerksam machen, dass unser Wissen in sprachlichen Formen nicht verholzen darf, wenn es pragmatisch fruchtbar bleiben soll. Aus dieser Grundauffassung von Sprache ergeben sich für das Verständnis von Stil- und Negationsformen nun wichtige Konsequenzen. Beide Erscheinungsformen von Sprache dürfen sich nicht normativ verfestigen, weil sie ansonsten ihre Funktionalität vermindern oder gar einbüßen würden, auf eine fruchtbare Weise zwischen der Objekt- und der Subjektsphäre von Wahrnehmungsprozessen zu vermitteln. Allerdings kann dabei durchaus toleriert werden, dass sich ihre konkreten Informationsfunktionen in ganz bestimmten Gebrauchssituationen und Textsorten so stabilisieren können, dass eine reibungslose intersubjektive Verständigung möglich wird. Dadurch können dann spezifisch strukturierte Sprachspiele entstehen, die wegen ihrer pragmatischen Einbettungen mögliche Missverständnisse weitgehend verhindern. Das lässt sich am Beispiel juristischer Schriftsätze mit ganz spezifischen Stilnormen gut illustrieren. Hier können durch spezifische grammatische bzw. stilistische Metainformationen bestimmte Grundinformationen so qualifiziert werden, dass Aussagen und Texte ein sehr klares semantisches Relevanzrelief hinsichtlich ihrer Einzelinformationen bekommen, was dann natürlich ihre reibungslose Rezeption sehr begünstigt. Durch die sprachliche bzw. stilistische Strukturierung dieser besonderen Sprachspiele wird es dann sehr erleichtert, nicht nur schnell das zu erfassen, was explizit behauptet und negiert wird, sondern auch das, was implizit bestätigt oder ausgeschlossen wird. Hans Berg hat beispielsweise für juristische Schriftsätze folgende Stilnormen postuliert. Diese beziehen sich insbesondere auf die Reliefbildungsfunktionen von Modus- und Tempusformen in solchen Texten, um die verschiedenen Inhaltsebenen in ihnen klar voneinander zu unterscheiden. Gerade diese
�� 33 W. von Humboldt, Werke Bd. 3 , 19693, S. 418. 34 K. Bühler, Sprachtheorie, 19652, S. 39, 52, 155. 35 W. Schapp, In Geschichten verstrickt, S. 20125. 36 E. H. Lenneberg, Biologische Grundlagen der Sprache, 1972, S. 407.
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haben nämlich im Hinblick auf juristische Deduktions- und Bewertungsprozesse eine ganz unterschiedliche Strukturierungsfunktion. Bei der Darstellung des Sachstandes sei bei unbestrittenen Tatsachen der Indikativ zu verwenden. Falls bestimmte Tatsachenaussagen bestritten würden, sei das durch relativierende Modalwörter (angeblich) zu kennzeichnen. Für erzählende Sachverhaltsdarstellungen sei das Präteritum zu gebrauchen. Dagegen sei das Perfekt oder Präsens zu verwenden, wenn aktualisierende Bezüge zu der jeweiligen Gegenwartssituation hergestellt werden sollten. Die strittigen Behauptungen von einzelnen Prozessparteien zu einem bestimmten Sachstand seien konsequent im Konjunktiv vorzutragen, falls man auf die Verwendung von eigenständigen Vorspannsätzen mit Verben des Sagens und Denkens verzichten möchte. Bei der Darstellung des jeweiligen Beweisverfahrens seien der Beweisbeschluss im Perfekt und die einzelnen Beweisthemen in der indirekten Rede bzw. mit Hilfe des Konjunktivs wiederzugeben. Aussagen von Zeugen, Sachverständigen und Prozessparteien seien immer im Konjunktiv darzustellen. Im Gegensatz dazu seien Aussagen des Gerichts im Indikativ zu formulieren.37 Sprachspiele können natürlich je nach ihren lebenspraktischen Einbindungen sehr unterschiedliche Erscheinungsformen aufweisen. Deshalb haben sich im Laufe der Kulturgeschichte auch vielfältig Textmuster und Sprachspiele herausgebildet, die zugleich auch immer auf unterschiedliche Informationserwartungen Bezug nehmen können. Dabei ist nun allerdings zu beachten, dass der deutschsprachige Terminus Sprachspiel mit einem etwas anderen Erwartungshorizont bzw. mit etwas anderen semantischen Differenzierungsfunktionen verbunden ist als beispielsweise der englischsprachige Terminus language game. Während beim englischen Begriff language game eher an sehr reglementierte Kommunikationsformen bzw. konventionalisierte Textmuster gedacht wird, umfasst der deutsche Begriff Sprachspiel ebenso wie der französische Begriff jeux de langage von vornherein ein sehr breites Spektrum von geregelten und weniger geregelten Sprachverwendungsweisen. Deshalb wird im Englischen auch sehr viel schärfer zwischen textbezogenen geregelten Sprachspielen (language games) und viel freieren Wortspielen (plays of/upon words) unterschieden als im Deutschen. Dadurch wird kenntlich, dass diesen unterschiedlichen Sprachspielen von vornherein auch ganz unterschiedliche Toleranzspielräume eingeräumt werden, was sowohl Vorteile als auch Nachteile haben kann. An folgendem Beispiel lässt sich ganz gut demonstrieren, wie in einem kurzen dialogischen Sprachspiel eine Kaskade von unterschiedlichen expliziten und impliziten Negationsformen in Erscheinung treten kann, deren Bestandteile �� 37 Vgl. H. Berg, Gutachten und Urteil, 197710, S. 142ff.
412 � Die Negation als Stilmittel gleichwohl alle in einem konstruktiven Zusammenhang stehen. Auf diese Weise bekommt dieses Gebilde dann auch ein sehr spezifisches mehrdimensionales Sinnrelief: Könnte es eine Sprache ohne Negationen geben? Nein, wohl kaum! Inhaltlich beginnt dieses kleine dialogische Sprachspiel mit der Thematisierung eines bestimmten Sachverhalts. Dieser wird aber nicht in Form einer behauptenden Sachaussage ins Bewusstsein gerufen, sondern in Form einer Entscheidungsfrage. Dadurch wird er nun aber schon hinsichtlich seiner möglichen Faktizität problematisiert. Erschwerend kommt außerdem hinzu, dass nicht nach einem Sachverhalt gefragt wird, der als ein möglicher empirischer Beobachtungsgegenstand direkt fassbar ist, sondern nur nach einem hypothetisch denkbaren Sachverhalt, an dem etwas Entscheidendes bzw. etwas üblicherweise Erwartbares fehlt (eine Sprache ohne Negationsformen). Das bedeutet, dass die Frage als formale Entscheidungsfrage eigentlich nicht mit einem Ja oder Nein beantwortet werden kann, da sie inhaltlich im Grunde auf das Problem abzielt, ob eine bestimmte Hypothese bzw. Fiktion überhaupt als sinnvoll anzusehen ist oder nicht. Eine sinnvolle Antwort auf die gestellte Frage ist nämlich kaum auf der Basis eines bestimmten empirischen Wissens zu geben, sondern allenfalls auf der Basis einer argumentativen Reflexion. Das bedeutet nun wiederum, dass die Frage auch nicht als eine Wissens- oder Vergewisserungsfrage zu verstehen ist, sondern vielmehr als eine bloße Spekulationsfrage. Dieser Eindruck verstärkt sich noch dadurch, dass die Frage mit Hilfe des Konjunktivs II formuliert worden ist. Dadurch signalisiert der Fragende implizit schon, dass er selbst nicht recht an die Richtigkeit der Hypothese glaubt, die seiner Frage zu Grunde liegt. Außerdem wird dadurch auch schon implizit dementiert, dass es sich bei der Frage um eine wirkliche Wissensfrage handelt, und gleichzeitig affirmiert, dass es sich eher um eine reine Spekulationsfrage handelt, die sich zwar nicht direkt beantworten lässt, aber über die man dennoch sinnvoll reflektieren kann. In dem kleinen Sprachspiel wird nun auf die gestellte Frage zunächst mit einem expliziten Nein geantwortet. Dadurch wird im Prinzip indirekt bestätigt, dass sie formal als Entscheidungsfrage Ernst genommen wird. Aber da dieses explizite Nein sofort mit der interpretierenden Metainformation wohl kaum in seinem Geltungsanspruch relativiert wird, signalisiert der Antwortende, dass er die Frage faktisch nicht als Entscheidungsfrage beantworten kann oder will, sondern dass er zu ihr nur einen subjektiven Kommentar abgeben möchte. Das bedeutet, das der Antwortende faktisch keine Auskunft über die Existenz des ins Auge gefassten Sachverhalts gibt, sondern nur kenntlich macht, wie er das thematisierte Problem einschätzt bzw. wie er mit der formal gestellten Entscheidungsfrage pragmatisch umgehen möchte.
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Insgesamt zeigt dieses kleine dialogische Sprachspiel, dass sich in ihm negierende und affirmierende bzw. sachthematische und reflexionsthematische Informationen auf eine sehr komplizierte, aber zugleich auch sehr sinnträchtige Art ineinander verschlingen. Das veranschaulicht, dass gerade Sprachspiele mit Negationsformen immer sehr unterschiedliche Kategorien von Informationen beinhalten. Daraus ergibt sich wiederum, dass Sprachspiele in der Tat als Lebensformen zu betrachten sind. Rein sachthematisch und deskriptiv orientierte Sprachspiele, die sich ganz auf sprachliche Darstellungs- oder gar Abbildungsfunktionen konzentrieren und die keinerlei argumentativen Implikationen und Funktionen haben, könnten deshalb im Prinzip auch auf Negationsformen verzichten. Sie ließen sich deshalb sogar als Sonderformen des Sprachgebrauchs bzw. als künstlich regulierte Sprachspiele ansehen, die ihre Existenz nur ganz bestimmten methodischen Abstraktionen verdanken.
8.3.3 Negationsformen als Ergebnisse und Prämissen von Stilformen Wenn man die Negation als eine Sprachuniversalie betrachtet, deren Teilaspekte sich mit Hilfe des Stil- und Sprachspielgedankens gut konkretisieren lassen, dann ergibt sich sowohl eine historische als auch systematische Wahrnehmungsperspektive für die Negationsproblematik. Beide Denkperspektiven lassen sich methodisch voneinander trennen, obwohl sie sich natürlich faktisch ergänzen bzw. sich wechselseitig bedingen. Sprachhistorisch gesehen zeigt sich, dass alle Sprachen ein reichhaltiges semiotisches Inventar von expliziten und impliziten Negationsmittel entwickelt haben, um Vorstellungen, die allgemein oder situativ als inadäquat angesehen werden, einerseits zwar argumentativ zu nutzen, aber andererseits dennoch inhaltlich zurückzuweisen oder zu relativieren. Dementsprechend lässt sich dann auch danach fragen, welche Motive kulturgeschichtlich wirksam geworden sind, um ein solch reichhaltiges Inventar von Negationsmitteln überhaupt auszubilden. Sprachsystematisch gesehen lässt sich zudem fragen, wie dieses Inventar bei der Ausbildung von Stilformen bzw. Sprachspielformen konkret genutzt bzw. weiterentwickelt wird. Durch diese kurzen Hinweise verdeutlicht sich schon, dass die Negationsproblematik eine sehr komplizierte logische Grundstruktur hat. Einerseits lassen sich nämlich Negationsformen als Produkte von Sprachspielen verstehen und andererseits als deren Voraussetzungen. Diese Sachlage ist für das systematische wissenschaftliche Denken sicherlich eine besondere Art von Schreckgespenst, weil dadurch das rein kategoriale deduktive Denken erschwert und die Stabilität von Ordnungskategorien deutlich relativiert wird. Für das historische, evolutionäre und dialektische Denken ist diese Sachlage dagegen weniger
414 � Die Negation als Stilmittel beunruhigend, da hier prinzipiell immer damit gerechnet wird, dass Ordnungskategorien nur heuristische Hilfsmittel sind, die keinen Endgültigkeitsstatus haben, sondern nur eine pragmatische Differenzierungsfunktion. Dieses Denken rechnet immer damit, dass sich die faktischen Formen und die pragmatischen Funktionen von Negationsmitteln nicht nur historisch, sondern auch im aktuellen Gebrauch ständig wandeln können oder gar wandeln müssen. Grundsätzlich lässt sich deshalb feststellen, dass explizite und implizite Negationsformen Ergebnisse von Sprachspielen aus der Vergangenheit sind, die sich gleichsam als eine Art vorgetaner Arbeit in den Sprachspielen der Gegenwart nutzen lassen. Das heißt, dass bei der Verwendung von Negationsformen ebenso wie bei der Nutzung von Sprache überhaupt frühere Generationen immer implizit mitdenken und mitsprechen. Das ist wie schon erwähnt nicht nur von Hugo von Hofmannsthal so gesehen worden, sondern auch von Hermann Paul, als dieser betonte, dass grammatische Kategorien aus psychologischen hervorgegangen seien. In diesem Zusammenhang lässt sich auch darauf verweisen, dass die klare kategoriale Unterscheidung von Struktur und Funktion, die dem strengen Systemdenken ganz selbstverständlich erscheint, dem historischen und evolutionären Denken sowohl in den Kultur- als auch in den Naturwissenschaften durchaus diskussionswürdig geblieben ist. In diesen Denken wird nämlich eine solche Unterscheidung aus methodischen Gründen nur dann als sinnvoll angesehen, wenn es um die Analyse der Funktionen von bestimmten Strukturen in einem eng begrenzten Zeitraum geht. Wenn man seinen Betrachtungsrahmen nämlich zeitlich ausweitet, dann verflüchtigt sich die kategoriale Unterscheidung von Funktionen und Strukturen gleichsam von selbst. Der Biologe Ludwig von Bertalanffy hat diesbezüglich darauf verwiesen, dass Strukturen, wie beispielsweise der anatomische Aufbau von Muskeln, evolutionär betrachtet als langsame Prozesswellen anzusehen seien, auf die sich Funktionen, wie etwa die Kontraktionen von Muskeln zur Realisierung ganz bestimmter Zwecke, als kurze Prozesswellen auflagerten.38 So gesehen bedingen dann die langsamen Prozesswellen die Funktionsmöglichkeiten der kurzen, aber die kurzen beeinflussen über evolutionäre Mutations-, Siebungsund Tradierungsprozesse auch wieder die Funktionsmöglichkeiten der langsamen. Dieses Denkmodell von Bertalanffy verdeutlicht sehr plastisch, dass man die faktischen sinnbildenden Funktionsmöglichkeiten gegebener Negationsformen nur dann wirklich versteht, wenn man zugleich auch ihre Entwicklungsge�� 38 Vgl. L. von Bertalanffy, Das biologische Weltbild, 1949, S. 129.
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schichte und ihre Zielorientierungen im Blick hat und sie damit auch als Erscheinungsformen einer Sprachuniversalie ernst nimmt, die für die Realisierung bestimmter kognitiver und kommunikativer Differenzierungs- und Gestaltungsprozesse pragmatisch unabdingbar ist. Dabei kann man dann auch auf die bekannte und seit Herder immer wieder vorgetragene These Bezug nehmen, dass die Kulturgeschichte im Prinzip als eine Fortsetzung der Naturgeschichte verstanden werden könne. Das evolutionäre Prozess- und das heuristische Strukturierungsdenken ist der normativ orientierten Stilistik naturgemäß fremder als der hermeneutisch orientierten, weil erstere insbesondere dem Systemdenken verpflichtet ist. In ihrem Denkrahmen hat sich dann auch die sogenannte Abweichungsstilistik entwickelt, der es hauptsächlich darum geht festzustellen, wie der individuelle Sprachgebrauch von den jeweilig konventionalisierten Gebrauchsnormen abweicht, aber nicht darum zu erfassen, welches konkrete Sinnbildungsinteresse hinter den aktuellen Abweichungen kulturgeschichtlich und individuell steht. Gerade im Hinblick auf die Negationsmittel der Sprache ergibt sich immer wieder die praktische stilistische Aufgabe, die konventionalisierten und meist recht pauschalen sprachlichen Abwehrmittel formal und funktional durch differenziertere zu ergänzen. Wer die Sprache nicht nur mechanisch als Mittel der Informationsweitergabe, sondern auch als Mittel der Sinnbildung verwenden möchte, dem müssen natürlich alle starren Normierungen der Negationsleistung von einzelnen Negationsformen suspekt erscheinen. Das schließt dann allerdings keineswegs aus, dass es in der Sprache und im Sprachgebrauch natürlich auch ganz elementare und pauschale Abwehrgesten geben kann, die dem Knurren von Hunden oder dem Wegwerfen von verabscheuten Gegenständen vergleichbar sind. Die kulturgeschichtliche Notwendigkeit, Negationsformen auszudifferenzieren, erklärt dann auch, warum Begriffsbildungen, die ursprünglich bestimmte Phänomene als defizitär und ablehnungswürdig bzw. als Privativa kategorisieren sollten, sich im Laufe der Zeit zu Begriffsbildungen transformieren konnten, die als positiv bzw. als werthaltig verstanden wurden (Gotik, Barock, Romantik). Jede lebendige Sprache muss im Hinblick auf ihre lexikalischen und grammatischen Zeichen gewisse Vagheiten und Gebrauchstoleranzen aufweisen, damit sich Sprachspiele wirklich entfalten können. Allerdings ist gleichzeitig auch zu beachten, dass zu große Freiheiten ebenso wie zu große Reglementierungen die Entfaltung von Sprach- bzw. Negationsspielen auch in die Sackgasse von Privatsprachen oder von formalisierten Fachsprachen führen können. In lebendigen Sprachen muss immer ein Fließgleichgewicht zwischen Chaos und Ordnung herrschen, was insbesondere der metaphorisierende und der modalisierende bzw. negierende Sprachgebrauch exemplifiziert.
416 � Die Negation als Stilmittel Das Sprachspielkonzept von Wittgenstein hat gerade hinsichtlich seiner Nähe zum Stilbegriff große Ähnlichkeiten mit dem Habituskonzept von Pierre Bourdieu. Dieser hat nämlich den Habitus als eine Verfahrensweise bzw. als eine Art innere Form der Kultur verstanden, der es als „modus operandi“ ermögliche, „alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen ‒ und nur diese.“39 Die einzelnen Habitusformen bilden für ihn Systeme von Handlungsdispositionen, die „als strukturierende Strukturen“ wirksam werden können.40 Im Habitus haben sich nach Bourdieu frühere Erfahrungen so niedergeschlagen, dass sie als verinnerlichte Handlungsdispositionen dabei helfen, neue Erfahrungen zu machen, zu strukturieren und sprachlich zu objektivieren, ohne dass das den jeweils Beteiligten in der Regel bewusst wird. Habitusformen treten so betrachtet dann für ihre Verwender eher als selbstverständliche Naturformen des Denkens, Wahrnehmens und Handelns in Erscheinung und weniger als historisch entwickelte Kulturformen. All das bedeutet, dass für Bourdieu der Habitus „als Spontaneität ohne Willen und Bewusstsein“ sowohl in einem gewissen Gegensatz zu zwingenden Notwendigkeiten steht als auch zu ganz freiheitlichen Reflexionen.41 Ein Habitus lässt sich dementsprechend ebenso wie ein bestimmter Stil oder ein bestimmtes Sprachspiel als ein Vermittlungsphänomen verstehen, das es den einzelnen Subjekten erlaubt, in die Welt hineinzugleiten bzw. eine Verbindung zwischen dem Objekt- und Subjektbezug des Denkens herzustellen, ohne dass ihnen das selbst wirklich bewusst wird. Das wird erst dann möglich, wenn die jeweiligen Subjekte in distanzierende Metareflexionen eintreten bzw. eintreten können. Sicherlich lässt sich auch die Fähigkeit zum Negieren als eine spezifische Ausprägungsform des Habitusphänomens verstehen. Diese Fähigkeit ermöglicht es den Subjekten nämlich, mit bestimmten kulturell vorgeprägten Welterfahrungen und Sprachformen umzugehen, ohne ihnen gänzlich zu verfallen. Da ein Habitus dazu dient, eine Brücke zwischen dem Sein und dem Bewusstsein herzustellen ist mit ihm zugleich auch die Notwendigkeit verbunden, ihn nicht nur zu nutzen, sondern auch partiell umzugestalten, um bestimmte Denkinhalte differenzierter strukturieren zu können. Als Habitus kann sich die Fähigkeit, etwas zu negieren, dann in Form ganz unterschiedlicher Handlungsformen konkretisieren, nämlich in Gestalt von Verfahren des Ausschlusses, der Ablehnung, der Kontrastierung, der Relativierung, der Problematisierung, der Vermutung, der Umakzentuierung usw.
�� 39 P. Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, 1974, S. 143. 40 P. Bourdieu, Sozialer Sinn, 1987, S. 98. 41 P. Bourdieu, Sozialer Sinn, 1987, S. 105.
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8.4 Die ästhetischen Aspekte von Negationen Solange man die Ästhetik als Lehre vom Schönen versteht, liegt der Gedanke natürlich nicht sehr nahe, sie direkt mit dem Phänomen der Negation in Verbindung zu bringen. Allenfalls wird man vielleicht noch zugestehen, dass Negationen wegen ihrer Nähe zu Oppositions- und Kontrastrelationen indirekt mit dem Reich der Ästhetik bzw. des Schönen verbunden sind. Wenn man nun aber in Betracht zieht, dass Negationsformen eine ganz wichtige Funktion bei der Konkretisierung sprachlicher Stilformen als sinnbildenden Gestaltungsformen spielen, dann ergibt sich eine etwas andere Sachlage. Allerdings hat man unter diesen Umständen dann auch sein Verständnis von Ästhetik ganz erheblich umzuorientieren. Die Ästhetik wäre dann nämlich primär nicht mit dem Gedanken der besonderen Schönheit von ganz bestimmten Wahrnehmungsgegenständen in Verbindung zu bringen, sondern vielmehr mit dem Gedanken der Sinnintensität von bestimmten Wahrnehmungsprozessen bzw. Zeichenkonstellationen. Um wenigsten ansatzweise die Frage nach den möglichen ästhetischen Implikationen von Negationen zu beantworten, soll hier nun der Versuch gemacht werden, das eigentlich sehr substanzorientierte klassische ästhetische Denken idealtypisch mit einem relationsorientierten semiotischen ästhetischen Denken zu konfrontieren. Dadurch kann sich dann recht deutlich herausstellen, dass das semiotisch geprägte ästhetischen Denkens sehr viel mehr Bezüge zur Negationsproblematik hat als das klassisch geprägte. Gerade weil uns der semiotische Denkansatz besonders sensibel für die Wahrnehmung verdeckter Negationsformen macht, kann er uns auch neue Sichtweisen auf die Relevanz von Negationen bei der Konstitution ästhetischer Phänomene eröffnen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass das semiotische ästhetische Denken sich weniger für das Ergebnis von konkreten Gestaltbildungsprozessen interessiert, sondern eher für deren Verlauf und deren Intensität.
8.4.1 Die Negation in der klassischen Ästhetik Die klassische Ästhetik ist vor allem an dem Problem interessiert, welche Eigenschaften bzw. Proportionen Wahrnehmungsgegenstände haben müssen, um als schön gelten zu können. Das exemplifiziert sich beispielsweise im optischen Bereich sehr klar durch das Konzept des goldenen Schnitts. Da nun Negationen nicht direkt dazu dienen, konkrete Eigenschaften in unser Wahrnehmungsbewusstsein zu rufen, sondern vielmehr dazu, etwas Denkbares als nicht gegeben bzw. als nicht aktuell zu thematisieren, scheinen diese auch keine genuinen
418 � Die Negation als Stilmittel Bezüge zu den konkreten Erscheinungsformen des Schönen zu haben. Sie helfen nämlich nicht dabei, etwas Schönes zu präsentieren bzw. imaginativ vorstellbar zu machen, da sie funktional ja immer auf die Abwesenheit von etwas bzw. auf einen Mangel aufmerksam machen. Für das klassische ästhetische Denken gelten in der Regel diejenigen Wahrnehmungsinhalte als schön, die auf sinnfällige Weise das Schöne exemplifizieren und eben dadurch den Rezipienten auch ermöglichen, an dem Phänomen des Schönen teilzuhaben. Sei es, dass die jeweiligen Wahrnehmungsinhalte ideale Proportionen aufweisen, sei es, dass sie intersubjektiv als wertvoll oder vorbildlich angesehen werden, sei es, dass sie zur Identifikation mit dem jeweils Wahrgenommenen einladen, oder sei es, dass sie zu einer sehr konkreten und lebendigen Vorstellungsbildung führen. Bei diesem Typ von ästhetischem Denken konstituiert sich dann das Reich des Schönen aus schönen Wahrnehmungsbzw. Vorstellungsgegenständen, zu denen die jeweiligen Subjekte eine kontemplative und bejahende Grundhaltung einnehmen können, ganz gleich, ob es sich nun um Gegenstände aus der Natur oder der Kultur handelt. Diese Grundeinstellung schließt nicht aus, dass das Schöne gerade in der Kultur auch in einer ganz besonderen Einkleidung bzw. Stilisierung in Erscheinung treten kann oder gar in der Form einer Verschleierung oder bloßen Andeutung. Das kann insbesondere dann aktuell werden, wenn das Schöne für die einzelnen Wahrnehmungssubjekte als eine Art Wahrheitserlebnis ganz übermächtig zu werden droht. Zuweilen muss sich das Schöne auch Einkleidungen leisten können, um seine Seinswürde bzw. Aura ausdrücklich kenntlich zu machen oder zu erhalten. Dann kann es nämlich besonders nachhaltig als eine eigenständige Seinsgröße wahrgenommen werden, die die jeweiligen Wahrnehmungssubjekte zwar betrachten, aber nicht beherrschen können. Angesichts dieser Denkvoraussetzungen wird offensichtlich, dass die Negation bei der Wahrnehmung des Schönen als einer eigenständigen Wesensgröße keine konstitutive Rolle spielt bzw. spielen kann. Durch Negationen werden ja keine unmittelbaren Substanzwahrnehmungen ermöglicht, sondern vielmehr Abgrenzungs- und Ausschlussrelationen hergestellt, die konkrete kontemplative Wahrnehmungshaltungen eher stören als begünstigen. Insbesondere in lyrischen Sprachspielen als den klassischen Exempeln für ästhetische Texte ist deshalb der Gebrauch von expliziten Negationsformen ebenso wie der Gebrauch von unterordnenden Konjunktionen immer wieder kritisiert worden. Das ist auch sehr gut verständlich, weil insbesondere diese beiden Typen von grammatischen Zeichen primär in das Reich des analysierenden Denkens und Argumentierens gehören. Beide Zeichentypen können nämlich die synthetisierende Einbildungskraft und die Entfaltung der Phantasie erheblich stören. Ebenso verpönt war deshalb auch der Gebrauch von Privativa bzw. von abstrak-
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ten negationshaltigen Begriffsbildungen in der klassischen Lyrik, weil durch diese die Aufmerksamkeit nicht auf etwas positiv Gegebenes bzw. Vorstellbares gerichtet wird, sondern vielmehr auf einen Mangel bzw. auf enttäuschte Erwartungen. Durch ihre Verwendung werden wir nämlich nicht in Kontemplationsprozesse geführt, sondern vielmehr in Reflexionsprozesse verwickelt. Sehr bezeichnend ist in diesem Zusammenhang eine Stellungnahme Goethes zur Hölderlins Elegie ›Der Wanderer‹. In einem Brief an Schiller vom 28. 6. 1797 bemängelt er, dass Hölderlin die Vorstellung der Wüste und des Nordpols nicht durch die Nennung eigenständiger Sachmerkmale konkretisiert habe, sondern nur über die Negation von ganz bestimmten Wahrnehmungserwartungen. Auf diese Weise könnten beide Phänomene nicht als eigenständige Größen mit konkreten natürlichen Charakteristika wahrgenommen werden, sondern nur als Mangelerscheinungen. Freilich ist die Afrikanische Wüste und der Nordpol weder durch sinnliches noch durch inneres Anschauen gemalt, vielmehr sind beide durch Negationen dargestellt, da sie denn nicht, wie die Absicht doch ist, mit dem hinteren deutsch-lieblichen Bilde genugsam kontrastieren. […] Einige lebhafte Bilder überraschen, ob ich gleich den quellenden Wald, als negierendes Bild gegen die Wüste, nicht gern stehen sehe.42
Tendenziell ganz ähnlich schreibt Goethe auch an den jungen Dichter H. G. Hellmann im April 1815. Auch hier betont er, dass der Gebrauch von Negationen im künstlerischen Schaffen ästhetisch fragwürdig sei, weil diese die lebendige Vorstellungsbildung durch die Begünstigung des reflexiven Denkens beeinträchtigten. Ganz offenbar korrespondieren für Goethe Negationsformen eher mit einem philosophischen als mit einem dichterischen Schaffen bzw. eher mit einer sentimentalischen als mit einer naiven Dichtung im Sinne Schillers. Hüten Sie sich vor allen Negationen, die ich mit rother Tinte unterstrichen habe, ferner vor allen Übertreibungen, welches indirecte Negationen sind. Beyde geben weder Bild, noch Empfindung, noch Gedanken.43
Wie sehr Goethe im künstlerischen Schaffen allen Formen der Negation als Hinweise auf Mangelerscheinungen bzw. auf theoretische Reflexionsprozesse misstraut, zeigt sich auch in einer Stellungnahme zu dem Bild einer Winterlandschaft aus dem Jahre 1827. Hier sieht er überall nur „Negationen des Lebens“ bzw. privative Phänomene dargestellt: „erstorbene Natur, Winterland-
�� 42 J. W. von Goethe, Goethes Briefe, Hamburger Ausgabe, Bd. 2 , 19682, S. 281. 43 J. W. von Goethe, Goethes Werke, Weimarer Ausgabe, Goethes Briefe 25. Bd. 1901, S. 264.
420 � Die Negation als Stilmittel schaft: […] dann Mönche, Flüchtlinge aus dem Leben, […] dann ein Kloster […] und nun zuletzt, nun vollends noch ein Toter, eine Leiche […]“ 44
8.4.2 Die Negation in der semiotischen Ästhetik Im klassischen ästhetischen Denken bilden die Welt der Logik und der Ästhetik bzw. die Welt der Philosophie und der Kunst eigenständige Universa, die sich kontrastiv gegenüberstehen, aber inhaltlich nicht sehr viel miteinander zu tun haben. Im semiotisch orientierten ästhetischen Denken stellt sich das nun etwas anders dar, weil hier beide Welten auf konstitutive Weise über den Zeichenbegriff inhaltlich miteinander verbunden sind. Das ist vor allem deshalb möglich, weil in der Semiotik nicht der Substanzgedanke im Mittelpunkt des Interesses steht, sondern vielmehr der Strukturgedanke, für den die Phänomene Relation, Funktion, Kontrastierung, Vermittlung und Interaktion eine ganz zentrale Bedeutsamkeit haben. Für die Semiotik tritt der Begriff des Schönen nicht mehr als Substanzkategorie in Erscheinung, sondern vielmehr als Relationskategorie, weil für das semiotische Denken das Schöne aus dem spezifischen Korrelations- und Interaktionszusammenhang von Einzelwahrnehmungen bzw. Zeichenformen resultiert. Auf diese Weise ergibt sich für die stilistische und ästhetische Beurteilung von Negationen dann auch eine ganz andere Grundlage. Sehr aufschlussreich für den Neuansatz des ästhetischen Denkens in der Semiotik ist die zunächst etwas überraschende These von Peirce, dass die Ästhetik und die Ethik als Teildisziplinen der Logik anzusehen seien. Diese These wird erst dann verständlich, wenn man wie schon erwähnt berücksichtigt, dass Peirce die Logik nicht wie üblich als Lehre vom schlussfolgernden begrifflichen Denken versteht, sondern vielmehr in umfassender Weise als Lehre vom sinnstiftenden Denken mittels Zeichen aller Art. Wenn man diesen Denkansatz akzeptiert, dann wird auch gut nachvollziehbar, warum Peirce Ethik und Ästhetik als propädeutische Wissenschaften der Logik bzw. der Semiotik betrachtet. Für ihn haben sich nämlich die Ethik mit den Motiven und Zielen des Denkens und Handelns zu beschäftigen und die Ästhetik mit den Intensitätsformen und der Klarheit des Denkens bzw. des Zeichengebrauchs.45 Dieser Denkansatz hat zur Folge, dass die Ästhetik sich nicht mit dem Schönen als einem substanziellen Phänomen zu befassen hat, sondern vielmehr mit dem ästhetisch Guten als einem sehr intensiven Wahrnehmungsphänomen.
�� 44 F. von Biedermann (Hrsg.), Goethes Gespräche, Bd. 3, 19102, S. 310. 45 Ch. S. Peirce, Collected Papers, 2.197‒199, 4.240, 5.129‒132.
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Das ästhetisch Gute ergibt sich für Peirce als eine steigerungsfähige Resultante aus der Korrelation von typologisch unterschiedlichen Zeichen, bei der alle Einzelzeichen so optimal aufeinander bezogen sind, dass sich dadurch eine prägnante konkrete Vorstellungs- bzw. Sinngestalt ergibt, die sich sowohl durch Sinnschärfe als auch durch Sinntiefe auszeichnet. Das kann dann zur Folge haben, dass solche Sinngestalten den jeweils Wahrnehmenden sowohl beglücken und zur Identifikation einladen als auch erschrecken und zu Abwehrreaktionen führen können. Wenn man auf diese Weise das ästhetisch Gute aus Zeichen- und Korrelationsprozessen mit hoher Sinnintensität ableitet, dann ist klar, dass man ihm im Prinzip keine substanzielle Eigenrealität zuordnen kann, sondern allenfalls, wie Max Bense es formuliert hat, eine „Mitrealität“.46 Es ist dann nämlich ein fragiles und variables Ergebnis von Zeichenprozessen, in denen die Objekt- und die Subjektsphäre des Wahrnehmens bzw. der Welt interaktiv auf sehr intensive und konstruktive Weise aufeinander bezogen werden. In solchen Interaktionsprozessen können dann natürlich Spiel-, Reflexions- und Negationsprozesse immer eine sehr wichtige Rolle spielen, weil all diese Interaktionsformen zur Steigerung der Außenkontakte von Subjekten beitragen und damit auch zur Steigerung ihres Lebensgefühls. Sofern man ästhetische Erfahrungen nicht mit der Teilhabe an einem Urschönen in Verbindung bringt, sondern vielmehr mit der Teilhabe an mehrdimensionalen bzw. komplexen Zeichen- und Sinnbildungsprozessen, dann haben in ihnen natürlich gerade Negationsprozesse immer eine große Bedeutsamkeit, da sich in ihnen sachthematische und reflexionsthematische Informationen auf eine sehr sinnintensive Weise ineinander verschlingen. Alles, was dem Aufbau, der Konkretisierung und der Qualifikation von Denkperspektiven und Denkinhalten dient, bekommt so gesehen eine mögliche ästhetische Funktion bzw. Mitrealität. Deshalb ist ja auch schon darauf verwiesen worden, dass Negationsprozesse vordergründig zwar als Verwerfungs- bzw. Ablehnungsprozesse in Erscheinung treten, aber hintergründig durchaus auch als Werdensprozesse, da sie im Prinzip ja immer bestimmte Denkinhalte ablehnen, abgrenzen, modalisieren, perspektivieren, transformieren oder vermitteln wollen. Gerade weil Negationen immer im Dienste von Relationierungs-, Strukturierungs- und Prägnanzbildungsprozessen stehen, kann man ihnen in semiotischer Sicht durchaus eine mehr oder weniger ausgeprägte ästhetische Funktion bzw. Qualität zuschreiben. Das trifft nicht nur auf die expliziten Formen der Negation zu, sondern insbesondere auch auf die impliziten Formen, was dann �� 46 M. Bense, Aesthetica, 1965, S. 25, 35.
422 � Die Negation als Stilmittel gerade der metaphorische und ironische Sprachgebrauch schlagend verdeutlicht. Obwohl dieser semantisch doppelbödig bzw. uneindeutig ist, hat er gleichwohl eine sachliche und intersubjektive Vermittlungsfunktion, weil darin immer sowohl die analysierenden als auch die synthetisierenden Sinnbildungskräfte des Denkens und Sprechens zum Ausdruck kommen. In diesem Zusammenhang kann dann auch auf den Begriff Synechismus verwiesen werden, der für das erkenntnistheoretische und semiotische Denken von Peirce eine ganz zentrale Rolle spielt und damit dann zugleich auch für sein semiotisch orientiertes Ästhetikkonzept. Diesen Terminus hat er aus dem ärztlichen Sprachgebrauch der Griechen übernommen, wo er insbesondere die Leistung von Chirurgen bezeichnete, getrennten Körperteilen wieder Zusammenhalt und Kontinuität zu geben, damit diese ihre konkreten Funktionen wieder erfüllen können.47 Mit Hilfe des semiotisch gewendeten Synechismusbegriffs positioniert Peirce sein Denken gegen alle Formen eines isolierenden und elementarisierenden Denkens, um kenntlich zu machen, dass für geistige Ordnungsanstrengungen die Prinzipien der Kontinuität (continuity), der Relation (relationship) und der Vermittlung (mediation) immer eine ganz konstitutive Bedeutsamkeit haben müssen. In allen zeichenfundierten Sinnbildungsprozessen geht es für Peirce nämlich nicht um die Trennung von Geist und Materie, sondern vielmehr um die Klärung ihrer Zusammengehörigkeit und ihrer Interaktionsfähigkeit. Das dokumentiert sich für ihn allein schon aus der Notwendigkeit, dass Zeichen immer eine sinnlich fassbare materielle Grundlage haben müssen, um ihre geistige Ordnungs- bzw. Sinnbildungsfunktionen erfüllen zu können. Gerade weil Peirce Zeichenprozesse als Interpretations- und Vermittlungsprozesse versteht, ist ihm der Synechismusgedanke so wichtig. Durch ihn lässt sich nämlich verständlich machen, dass Negationen, die vordergründig nur etwas abzutrennen und aufzuheben scheinen, hintergründig doch dazu dienen, schon vorhandenes Wissen mit neu zu bildendem Wissen in Verbindung zu bringen. So gesehen sind deshalb Negationen pragmatisch gesehen als Annäherungsverfahren an etwas zu verstehen, das man noch nicht kennt, zu dem man aber einen ersten Zugang über Ausschluss- bzw. Kontrastierungsverfahren finden kann. Deshalb können dann auch Negationen insbesondere für das künstlerische und religiöse Denken nicht nur hilfreich, sondern zuweilen auch unverzichtbar sein. Die Auffassung, dass Negationen eine bedeutsame ästhetische Funktion haben, weil sie sich letztlich als konstitutive Teile von sinnstiftenden Prozessen �� 47 Ch. S. Peirce, Collected Papers, 1958, 6.169, 6.173, 7.565‒573.
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ansehen lassen, hat insbesondere auch Gottfried Benn geteilt. Im Gegensatz zu Goethe hat er Negationen eine ganz fundamentale denkerische, künstlerische und ästhetische Sinnbildungsfunktion zugeordnet. Die Verneinung als Denkfunktion ist von höchstem Rang, vom Denken erzeugt und im Denken gegründet. In ihr erreicht es seine höchste Entwicklung. Sie umschließt das metaphysische Wesen des Denkens, sie ermöglicht seine allgemeine Bedeutung. Sie dient dem, was Kunst wird, wenn sie vollendet, und Erkenntnis, wenn sie tief ist: der Wirklichkeitsherstellung, der Produktion und der Ordnung von Realität. Wohin das Auge schweift: Möglichkeiten, Motive, Anspielungen, Perspektiven, ‒ in i h r äußert sich die Konsolidierung, der Zuwachs an Fond. Wohin das Auge reicht: Natur, das heißt Anbietungen und Überlaufen, hier ist Kontur, Selbstbegrenzung, Form. In ihr bekundet sich Detailbekämp48 fung, Antiemotionismus, Eindrucksfeindlichkeit ‒: Stil, kurz: anthropologischer Charakter.
8.4.3 Der ästhetische Gebrauch des Negationswortes nicht Die These, dass sich mit dem Negationswort nicht der faktische Geltungsanspruch einer Basisinformation aufheben lässt, ist sicherlich höchst trivial, wenn man sie in einer rein grammatisch und informationslogisch orientierten Wahrnehmungsperspektive wahrnimmt. Das ändert sich erst, wenn man in Betracht zieht, dass man diese These auch in einer informationsästhetischen Wahrnehmungsperspektive ins Auge fassen kann. Dann lässt sich nämlich danach fragen, welche spezifischen Intensivierungsfunktionen der Gebrauch dieses Negationswortes in ästhetischen Sinnbildungs- und Vermittlungsprozessen bekommen kann. Unter diesen Umständen steht nämlich nicht mehr die Frage im Mittelpunkt des Interessen, ob eine Aussage wahr oder falsch ist, sondern vielmehr die Frage, ob sie anregend oder banal ist. Beim Gebrauch von impliziten Negationsformen wie etwa metaphorischen und ironischen Redeweisen ist eine solche Fragestellung naheliegend. Weniger naheliegend ist sie beim Gebrauch von expliziten Negationsmittel wie etwa dem des Negationswortes nicht, das in der Regel natürlich als ein rein logisches bzw. grammatisches Operationszeichen ohne jegliche ästhetische Relevanz verstanden wird. Um diese recht übliche Sichtweise relativierend zu korrigieren und zu ergänzen, soll hier auf den eindrucksvollen lyrischen Gebrauch des Negationswortes nicht in einem Gedicht von Hans-Joachim Haecker aufmerksam gemacht werden. In diesem kleinen Sinngebilde wird das klassische Negationswort nicht informationslogisch weniger in einem rein aufhebenden Sinne verwendet, son�� 48 G. Benn, Der Roman des Phänotyp. Sämtliche Werke Bd. 4, Prosa Bd. 2, 1989, S. 298.
424 � Die Negation als Stilmittel dern eher in einem korrelierenden und informationsintensivierenden Sinne, womit es semiotisch dann durchaus eine ästhetische Dimension bekommt. Das bedeutet, dass es seine analysierende Abwehr- und Ausschließungsfunktion weitgehend verliert und stattdessen eine synthetisierende Brückenfunktion bekommt. Es dient nun nämlich dazu, den Blick von etwas unmittelbar Erfahrenem bzw. Bekanntem auf etwas noch Unbekanntes bzw. Unbenanntes zu richten. Dabei wird es in kleine Erzählungen eingebettet in denen klar benennbare empirische Fakten zu Zeichenträgern für etwas noch zu Erschließendes werden. Zeichen Manchmal überfällt uns ein Duft mitten in einem Fest. Aber es ist nicht der Duft. Manchmal erblickst du in einem Saale ein Bild. Du erstarrst. Aber es ist nicht das Bild. Manchmal berührt deinen Arm eine Hand. Und du bebst. Aber es ist nicht die Hand. Du suchst einen Namen. Aber der Name ist es nicht.
(1964)49
Die lyrische bzw. ästhetische Thematisierung der Zeichenproblematik durch Haecker konzentriert sich verständlicherweise nicht darauf, Zeichen als konventionalisierte Hilfsmittel für schon fixierte Denkinhalte ins Auge zu fassen. Ihn beschäftigt vielmehr die Frage, wie Zeichen für uns als Zeichen entstehen, welchen Sinn wir ihnen zuordnen können und ob sie durch sprachliche Benennungen in ihrem Inhalt bzw. in ihren Sinnbildungsfunktionen stabilisiert und fixiert werden können. Da Haecker das Phänomen Zeichen nicht auf den Begriff bringen will, sondern vielmehr das Problem der Zeichengenese ergründen möchte, bietet sich für ihn an, kleine Geschichten über Wahrnehmungsprozesse zu erzählen, in denen bestimmte sinnliche Erfahrungen nicht als faktische Sachinhalte aktuell werden, sondern als Hinweise auf etwas von ihnen Unterschiedenes, aber durchaus mit ihnen Verbundenes. Er will den Prozess erfassen, in dem die Wahrnehmung von etwas Faktischem in die Wahrnehmung von �� 49 H. J. Haecker, Lautloser Alarm, Gedichte, Calatra Press 1977 (Buch ohne Seitenzählung). Zur zeichentheoretischen Interpretation des Gedichts vgl. W. Köller, Narrative Formen der Sprachreflexion, 2006, S. 475‒514.
Die ästhetischen Aspekte von Negationen � 425
Zeichen übergeht, wobei das wahrgenommene Faktische nicht aufgehoben oder negiert wird, aber doch ergänzt und vervollständigt. Er will zeigen, dass die Wahrnehmung von etwas Konkretem in die Wahrnehmung von etwas Geistigem übergehen kann, ohne dass dabei das Faktische als Faktisches überflüssig oder nebensächlich wird. Bei diesen Bemühungen spielt nun für ihn das Negationswort nicht eine ganz zentrale Sinnbildungsrolle, weil mit ihm dazu aufgefordert werden kann, bestimmte konkrete Wahrnehmungen zu transzendieren, ohne sie für nichtig oder überflüssig zu erklären, was natürlich insbesondere bei ikonischen und indexikalischen Zeichenformen aktuell ist. Dadurch wird dann deutlich, dass mit dem Negationswort nicht keineswegs nur Aufhebungs-, sondern auch ganz wichtige Brücken- und Vermittlungsfunktionen thematisiert werden können. Einerseits fordert diese Negationsform zwar dazu auf, in eine andere Vorstellungswelt zu gehen, aber andererseits auch dazu, den Kontakt zu der ursprünglichen Erfahrungswelt weiterhin lebendig zu erhalten. Auf diese Weise verliert das Negationswort nicht pragmatisch gesehen zwar seine genuine sachthematische Ausschließungsfunktion, aber gewinnt zugleich eine reflexionsthematische Interpretationsfunktion, die sich auch als Synechismusfunktion verstehen lässt. Diese Funktion kann das Negationswort nicht vor allem auch deshalb übernehmen, weil Haecker sich nicht nur für rein sprachliche Zeichen und deren konventionalisierte Systemordnungen interessiert, sondern für Zeichen aller Art, die sich wechselseitig erzeugen und interpretieren können. Gerade in lyrischen bzw. ästhetischen sprachlichen Sinnbildungsprozessen ist nämlich offensichtlich, dass hier keineswegs nur konventionalisierte Zeichen eine Rolle spielen. Hier können vielmehr auch alle sinnlichen Erfahrungen und geistigen Vorstellungen, die sich mit Hilfe von sprachliche Zeichen thematisieren und objektivieren lassen, eine konstitutive Zeichenfunktion übernehmen, die dann wiederum in Negationsprozesse integrierbar ist. Es bedeutet weiterhin, dass in Interpretationsprozessen die Philologie der Wörter immer durch eine Philologie der Dinge zu ergänzen ist. Das schließt ein, dass auch das grammatische Negationswort nicht im ästhetischen Sprachgebrauch ein sehr viel differenzierteres Funktions- bzw. Sinnbildungsspektrum bekommen kann als in einem rein sachthematischen. Diese spezifischen Ordnungs- und Sinnbildungsstrukturen im ästhetischen Sprachgebrauch zeigen sich auch darin, dass Haecker Zeichen nicht als monologisch, sondern als dialogisch orientierte Sinneinheiten thematisiert. Zeichen sind für ihn Mittel für eine differenzierte Wahrnehmung von Welt, die grundsätzlich immer mit Erinnerungs-, Intentions- und Gestaltungsprozessen verknüpft sind, eben weil sie eine Brückenfunktion zwischen Objekt- und Subjekt-
426 � Die Negation als Stilmittel welten haben. Deshalb lässt sich das Zeichenverständnis von Haecker auch recht leicht mit dem Synechismusgedanken von Peirce in Verbindung bringen, weil für beide Zeichen letztlich immer auch dazu bestimmt sind, unterscheidbare Welten nicht nur voneinander zu trennen, sondern auch miteinander zu verbinden. Unter diesen Bedingungen kommt für Haecker sowohl dem Negationswort nicht als auch der kontrastierenden Konjunktion aber erstaunlicherweise nicht nur eine Analyse-, sondern auch eine Synthesefunktion zu, insofern mit beiden auf Wechselbedingtheiten aufmerksam gemacht werden kann. Mit dem Negationswort nicht wird keineswegs angestrebt, die Phänomene Duft, Bild, Berührung und Name als unerheblich zu qualifizieren. Es dient lediglich dazu, diese Einzelphänomene als Teile eines umfassenden Korrelations- und Sinnzusammenhangs ins Bewusstsein zu rufen. Es ist weniger dazu bestimmt, einer negierenden Behauptungshandlung Ausdruck zu geben, sondern eher dazu, einen experimentellen Denk- bzw. Sinnbildungsprozess zu konkretisieren. Es hilft angesichts der übermächtigen Komplexität und Intensität von Einzelerfahrungen dabei, nicht in ein resignierendes Schweigen zu verfallen, sondern auf vorläufige und ergänzungsbedürftige Weise so von der Sprache Gebrauch zu machen, dass das Rätselhafte seine immanente Erklärungsbedürftigkeit nicht verliert, dass es aber gleichwohl in erhellende Kontexte gestellt werden kann. Im Denkrahmen einer semiotisch orientierten Ästhetik ist in diesem Zusammenhang auch wichtig, dass Haecker am Ende des Gedichts sehr klar die Auffassung verneint, dass es möglich sei, Sachverhalte über die Etikettierung mit einem Begriffsnamen wirklich zu erkennen bzw. in seine eigene kognitive Gewalt zu bekommen. Das harmoniert mit der Grundauffassung von Peirce, dass der Prozess einer Zeichenwahrnehmung und Zeicheninterpretation zwar willentlich und methodisch abschließbar ist, aber nicht sachlich, weil jede über Zeichen objektivierte Interpretation von Phänomenen selbst hinsichtlich der dabei wirksamen Intentionen, Verfahren, Prämissen und Zeichen wieder interpretationsbedürftig ist (unendliche Semiosis). Gerade der ästhetische Sprachgebrauch als ein stilistisch besonders sorgfältig strukturierter und sinnintensiver Sprachgebrauch lässt sich immer sehr vielfältig und vielschichtig interpretieren, eben weil er sehr komplexe Korrelationen stiften soll. Dadurch gerät er auch intentional in eine Opposition zu einem begrifflichen Sprachgebrauch, der tendenziell immer eine ganz bestimmte Objektivierungs- bzw. Wahrnehmungsperspektive konkretisieren soll und der eben deshalb auch die Chance bietet, Sinnbildungsprozesse in einem ganz bestimmten gut abgrenzbaren Denkrahmen zu einem endgültigen Abschluss kommen zu lassen, was für den ästhetischen Sprachgebrauch dagegen gerade nicht typisch ist.
9 Die Negation in Religion und Theologie Das Sprechen über religiöse und theologische Denkgegenstände und insbesondere das Sprechen über Gott gehört sicherlich zu denjenigen Formen des Sprachgebrauchs, die am wenigsten durch unsere sinnliche Erfahrung kontrolliert bzw. verifiziert oder falsifiziert werden können. Den dabei jeweils verwendeten Sprachformen wird man eine Bedeutung bzw. eine pragmatische Bedeutsamkeit sicherlich nicht absprechen können, aber strittig kann durchaus sein, ob die jeweils verwendeten sprachlichen Begriffe und Aussagen einen ontischen Seinsbezug haben. Immer wieder ist im Laufe der Kulturgeschichte die Auffassung vertreten worden, dass religiöse und theologische Aussagen nicht als Sachaussagen mit einem Anspruch auf faktische Referenz zu werten seien, sondern allenfalls als sprachliche Manifestationen von menschlichen Fiktionen und Projektionen, die zwar geglaubt, aber nicht nach den üblichen Verfahren verifiziert oder falsifiziert werden können. Gleichwohl lässt sich aber wohl kaum in Frage stellen, dass religiöse und theologische Aussagen Ausdrucksformen menschlicher Sinnbildungsanstrengungen sind, die einen Anspruch auf intersubjektive Verständlichkeit erheben und bei denen deshalb aus strukturellen Gründen Affirmations- und Negationsprozesse natürlich eine ganz wichtige Rolle spielen. Gerade bei diesem Typ von Aussagen stellt sich immer das Problem, dass wir nicht klar zwischen der Objektsphäre und der Subjektsphäre des Denkens unterscheiden können, weil alle sprachlichen Objektivierungen Ausdrucksformen von interpretierenden Sinnbildungsanstrengungen sind, in denen es nicht nur um die Repräsentation von Sachverhalten geht, sondern auch um deren hermeneutische Erschließung sowie um deren subjektive bzw. soziale Wertschätzung. Das bedeutet dann zugleich auch, dass Wahrheitsprobleme immer auch mit Konsensproblemen verquickt sind. Aus diesen Rahmenbedingungen ergibt sich dann die Notwendigkeit, sich beim religiösen und theologischen Sprachgebrauch nicht nur sachthematisch damit zu beschäftigen, was in ihm affirmiert und negiert wird, sondern auch reflexionsthematisch damit, welche Wahrheitsansprüche die jeweils verwendeten Redeformen stellen bzw. stellen können. Ganz offensichtlich ist nämlich, dass diese Formen des Sprachgebrauchs nicht nur eine konstatierende bzw. behauptende Sinnbildungsfunktion haben, sondern auch eine affektive, heuristische und sozialintegrative. Das heißt dann weiterhin, dass in ihnen die ganze Spannweite von expliziten und impliziten Negationsmöglichkeiten in Erscheinung treten kann, weil die Sprache natürlicherweise immer wieder an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit stößt und deshalb gleichsam für die Bewältigung
428 � Die Negation in Religion und Theologie ihrer aktuellen Sinnbildungsintentionen immer wieder neu hergerichtet werden muss. Im religiösen und theologischen Sprachgebrauch gerät deshalb dann auch die klassische zweiwertige Logik mit ihren alternativen Wahrheitswerten von wahr und falsch immer wieder an ihre Grenzen, da die Sprache zwangsläufig nicht nur in einem begrifflichen, sondern auch in einem bildlichen, andeutenden, heuristischen, affektiven und wertenden Sinne genutzt werden muss. Die Probleme, die sich bei der Funktionsanalyse von expliziten und impliziten sprachlichen Negationsformen im religiösen und theologischen Sprachgebrauch stellen, sind nicht nur auf diese Redeweisen und Gegenstandsbereiche selbst beschränkt, sondern haben zugleich auch eine exemplarische Relevanz für ähnliche Typen sprachlicher Sinnbildungsanstrengungen. Sie betreffen nämlich im Prinzip generelle sprachliche Strukturfragen, die sich immer dann stellen, wenn die konventionalisierte Sprache dazu verwendet wird, Denkgegenstände sprachlich zu objektivieren, die jenseits unserer empirisch-sinnlichen Erfahrungskontrolle liegen und damit jenseits des Operationsrahmens, für den die Sprache ursprünglich entwickelt und genutzt worden ist. Diesem sprachlichen Aufgabenbereichbereich kann sich die Sprache prinzipiell gar nicht entziehen, weil es zum pragmatischen Sinnbildungspotenzial aller natürlich gewachsenen Sprachen gehört, dass mit ihnen sowohl die rein sinnlich fassbare Welt als auch die schon konventionalisierten Sprachformen transzendiert werden. Um die Funktion von expliziten und impliziten Negationsformen im religiösen und theologischen Sprachgebrauch herauszuarbeiten, wird nun folgender Weg beschritten. Nach einigen grundsätzlichen Überlegungen zur Wahrheitsproblematik im religiösen und theologischen Denken wird zunächst etwas näher auf die spezifischen Formen und Strukturen der Negation im religiösen Sprachgebrauch eingegangen, was sich dann insbesondere am mystischen Sprechen recht gut exemplifizieren lässt. Anschließend soll sich dann das Interesse auf den Negationsproblematik im theologischen Sprachgebrauch konzentrieren, der natürlicherweise eine große strukturelle Ähnlichkeit mit dem philosophischen Sprachgebrauch hat, weil beide Unsinnliches begrifflich zu objektivieren versuchen. Das lässt sich dann insbesondere am Beispiel der sogenannten negativen Theologie recht gut verdeutlichen. Zum Abschluss soll dann noch etwas näher auf die Sinnstruktur der theologischen Formel Schöpfung aus dem Nichts (creatio ex nihilo) eingegangen werden. An dieser lässt sich nämlich sehr gut zeigen, welche sprachtheoretischen und sprachpraktischen Probleme sich stellen, wenn sich unsere sprachlichen Sinnbildungsanstrengungen auf Denkbereiche richten, die jenseits unserer üblichen empirischen Erfahrungs- und begrifflichen Objektivierungsmöglichkeiten liegen.
Das Wahrheitsproblem im religiösen und theologischen Denken � 429
9.1 Das Wahrheitsproblem im religiösen und theologischen Denken Im Laufe der Kultur- bzw. Philosophiegeschichte haben sich unterschiedliche Konzepte für das Verständnis von Wahrheit herausgebildet, die auch sehr bedeutsam dafür sind, wie wir uns die Wahrheitsproblematik im Bereich des religiösen und theologischen Sprachgebrauchs strukturieren können. Hinsichtlich der hier aktuellen Fragestellungen lässt sich idealtypisch zwischen einem korrespondenztheoretischen, kohärenztheoretischen und pragmatischen Wahrheitsverständnis unterscheiden. Alle drei haben nämlich wichtige heuristische Funktionen, wenn wir uns die Frage zu beantworten versuchen, welche Rolle Negationshandlungen und Negationsformen im religiösen und theologischen Sprechen spielen bzw. in den damit verbundenen Sinnbildungsanstrengungen.
9.1.1 Der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff Die Grundidee des korrespondenztheoretischen Wahrheitskonzeptes besteht in der Auffassung, dass sprachliche Objektivierungsformen im Prinzip direkt mit gegebenen Tatbeständen korrespondieren bzw. diese im Idealfall sogar auf deckungsgleiche Weise widerspiegeln können. Dieses Wahrheitsverständnis bestimmt nicht nur weitgehend unser alltägliches Denken und Sprechen, sondern hat seit der Antike auch eine lange philosophische Tradition, die insbesondere unser wissenschaftliches Denken und Sprechen nachhaltig geprägt hat. Gleichwohl ist aber immer wieder geltend gemacht worden, dass dieses Konzept auch problematisch sei, da es einem allzu großen Sprachvertrauen Vorschub leiste und nicht zureichend beachte, dass unsere Begriffe und Aussagemuster eigentlich keine Abbildungsfunktionen hätten, sondern eher perspektivierende Erschließungsfunktionen, die immer durch ganz bestimmte pragmatische Differenzierungsbedürfnisse strukturiert und reguliert würden. Schon im mittelalterlichen Nominalismus ist lange vor dem modernen Konstruktivismus ausdrücklich die Auffassung vertreten worden, dass es keine natürliche und stabile Symmetrie zwischen Seinsformen (modi essendi), Wahrnehmungsformen (modi intelligendi) und Sprachformen (modi dicendi) gebe und dass alles Begreifen letztlich als ein geistiges Produzieren zu verstehen sei (concipere enim est producere intra se).1 Humboldt hat dann später nachdrücklich betont, dass die Struktur der jeweils genutzten Sprache Einfluss auf die �� 1 Vgl. H. Rombach, Substanz, System, Struktur, Bd. 1, 1965, S. 90.
430 � Die Negation in Religion und Theologie Formierung unserer Denkinhalte habe. Whorf hat diesbezüglich sogar von einem sprachlichen Relativitätsprinzip gesprochen. Im Laufe der Zeit hat sich immer deutlicher die grundsätzliche Einsicht durchgesetzt, dass sowohl unser alltägliches als auch unser wissenschaftliches Denken als Logos nicht in eine direkte Korrespondenzrelation zu einem gegebenen Kosmos gebracht werden könne, sondern allenfalls in eine bestimmte Interpretationsrelation, und dass die Sprache eher von ihrer Handlungsfunktion als von ihrer Abbildungsfunktion her näher zu bestimmen sei. Der Mensch könne prinzipiell immer nur perspektivisch wahrnehmen und denken bzw. nicht ohne bestimmte Vorbedingungen. Er könne außerdem auch keinen unabhängigen Sehepunkt für die Wahrnehmung der Welt einnehmen, von dem sich dann neutral bzw. gottgleich die Korrespondenz von gegebener Welt und ihrer jeweiligen sprachlichen Objektivierung affirmieren oder negieren lasse. Gerade im Hinblick auf die Sinnbildungsanstrengungen im religiösen und theologischen Sprechen treten daher die Probleme bzw. die Defizite der Korrespondenztheorie der Wahrheit besonders deutlich hervor. In diesem Sprachverwendungsbereich kommen nämlich ganz offensichtlich Wahrheitsvorstellungen ins Spiel, die von dieser Wahrheitstheorie nicht erfasst bzw. nicht als relevant angesehen werden, insofern man in diesem Bereich den Wahrheitsbegriff in der Regel eher mit dem Vertrauens- und Verstehensbegriff zu korrelieren versucht als mit dem Abbildungs- und Korrespondenzbegriff. Im religiösen und theologischen Sprachgebrauch lässt sich das Wahrheitsverständnis kaum auf fruchtbare Weise allein mit der Objektsphäre des Denkens in Verbindung bringen. Auf ganz selbstverständliche Weise wird hier immer wieder versucht, das Wahrheitsverständnis von konkreten sprachlichen Äußerungsformen über den Gedanken einer fruchtbaren Korrelation des Objektbereichs mit dem Subjektbereichs des Denkens zu strukturieren. Gerade dieses sehr pragmatisch und individualpsychologisch orientierte Wahrheitsverständnis, das natürlich zu allen Zeiten gerade dem fachwissenschaftlichen Denken immer sehr suspekt gewesen ist, war dann auch der Ausgangspunkt der Religionskritik der korrespondenztheoretisch orientierten Wahrheitstheoretiker. In dieser Denkperspektive fiel es nämlich relativ leicht, alle religiösen und theologischen Begriffsbildungen bzw. Aussagen nicht nur unter den allgemeinen Verdacht der Fiktivität, Unwahrheit oder Täuschung, sondern auch unter den der Sinnlosigkeit zu stellen, da diese eigentlich nichts faktisch Gegebenes abbildeten, sondern allenfalls subjektive Wunschvorstellungen oder Illusionen zum Ausdruck brächten. Dieser Denkansatz und diese Form der Religionskritik hat seit der Antike eine lange Tradition. Schon Xenophanes hatte kritisiert, dass sich die Menschen ihre Götter auf anthropomorphe Weise objektivierten. Homer und Hesiod hätten
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ihnen alles angedichtet, was bei den Menschen als Schimpf und Schande gelte, nämlich „Stehlen, Ehebrechen und sich gegenseitig Betrügen“. Die Afrikaner stellten sich ihre Götter „schwarz und stumpfnasig vor, die Thraker dagegen blauäugig und rothaarig“. Wenn Pferde und Kühe malen könnten, „dann würden die Pferde pferde-, die Kühe kuhähnliche Götterbilder malen und solche Gestalten schaffen, wie sie selber haben“.2 In der Neuzeit hat dann Feuerbach ausdrücklich postuliert, dass Religionen und Theologien eigentlich auf Anthropologien zurückgeführt werden könnten, weil sich in ihnen Denkinhalte manifestierten, die nicht mit gegebenen Realitäten korrespondierten, sondern allenfalls mit menschlichen Projektionen und Wunschvorstellungen. „Wer keine übernatürlichen Wünsche mehr hat, der hat auch keine übernatürlichen Wesen mehr.“3 Insbesondere der Positivismus hat dann auch sehr programmatisch die These vertreten, dass religiöse Verlautbarungen aller Art gar keinen Wahrheitsanspruch stellen dürften, sondern nur wissenschaftliche. Aber letztere auch nur dann, wenn sie konsequent alle Begriffe aus ihrem Sprachgebrauch eliminierten, die sich der empirischen Erfahrungskontrolle entzögen, was insbesondere Begriffsbildungen wie Gott, das Nichts, das Unbedingte, das Wesen, der absolute Geist usw. betreffe, da diese Begriffe rein spekulativ seien. Ihr Gebrauch führe zu Scheinsätzen, deren Wahrheitsanspruch von vornherein negiert werden könne und müsse.4 Auch Wittgenstein hat in seiner ersten positivistisch geprägten Denkphase die Auffassung vertreten, dass die Möglichkeit des Satzes „auf dem Prinzip der Vertretung von Gegenständen durch Zeichen“ beruhe. Dementsprechend hat er dann auch den immer wieder gern zitierten Satz geäußert, dass das wissenschaftliche bzw. das wahrheitstheoretisch beurteilbare Sprechen auf folgende Weise einzuschränken sei: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ Dennoch hat er gleichzeitig aber auch ausdrücklich eingeräumt, dass selbst dann, wenn „alle m ö g l i c h e n wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ Für ihn gibt es nämlich durchaus etwas anthropologisch Relevantes, was aber wissenschaftlich unaussprechlich ist. „Dies z e i g t sich, es ist das Mystische.“5 Aus diesen kurzen Hinweisen zur Struktur und Verwendung des korrespondenztheoretischen Wahrheitskonzeptes lässt sich vielleicht entnehmen, �� 2 W. Capelle (Hrsg.), Die Vorsokratiker, 1968, S. 121. 3 L. Feuerbach, Das Wesen der Religion, 1967, S. 256. 4 Vgl. R. Carnap. Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, Erkenntnis 2, 1931, S. 227. 5 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 19855, 4.0312, S. 37; 7, S. 115; 6.52, S. 114; 6.522, S. 115.
432 � Die Negation in Religion und Theologie dass dieses für die wahrheitstheoretische Qualifizierung von religiösen und theologischen Denkmustern und Aussagen eigentlich zwei Konsequenzen hat. Entweder müssen all diese Formen wahrheitstheoretisch als falsch qualifiziert werden, weil sie keine empirisch überprüfbare faktische Referenz haben bzw. keine Abbildungsfunktion, oder sie müssen als Formen qualifiziert werden, die sich jeder wahrheitstheoretischen Qualifizierung entziehen, weil sie als rein fiktive Denkformen weder verifiziert noch falsifiziert werden können. Das bedeutet dann zugleich, dass auch negierte religiöse und theologische Begriffe und Aussagen korrespondenztheoretisch betrachtet im Prinzip ohne wirklichen inhaltlichen Sachgehalt sind, da sie sich nicht auf faktische Seinsgrößen beziehen, sondern allenfalls auf fiktive Denkgrößen, die wahrheitstheoretisch weder positiv noch negativ qualifiziert werden können. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit geht im Prinzip davon aus, dass sprachliche Affirmationen und Negationen nur dann wahrheitstheoretisch sinnvoll beurteilt werden können, wenn es sich um Gegenstände und Sachverhalte handelt, die einer empirischen Erfahrungskontrolle unterworfen werden können, weil nur dann wirklich feststellbar ist, ob die jeweiligen geistigen bzw. sprachlichen Objektivierungen faktisch Gegebenes adäquat abbilden (adaequatio intellectus ad rem) oder nicht. Sie wendet sich nämlich ganz entschieden gegen alle Versuche, Dinge und Sachverhalte so wahrzunehmen, wie es uns die gegebenen Denk- und Sprachmuster nahelegen (adaequatio rei ad intellectum) bzw. aus der bloßen Existenz von bestimmten Denk- und Sprachformen schon auf die Existenz bestimmter Seinsformen zu schließen. Obwohl die Korrespondenztheorie der Wahrheit in vielen Hinsichten plausibel ist und für unser alltägliches Wahrheitsverständnis wohl auch unverzichtbar, so muss doch festgehalten werden, dass sie sich konsequent weigert, die prinzipielle Perspektivengebundenheit des menschlichen Wahrnehmens und Denkens wahrheitstheoretisch zur Kenntnis zu nehmen bzw. adäquat zu berücksichtigen und auf dieser Grundlage ihren Wahrheitsbegriff dann auch mit anthropologischen Überlegungen zu verknüpfen. Dass bedingt dann auch ein sehr mäßiges Interesse dieser Theorie für die Sprache als eigenständiges Erkenntnis- und Objektivierungsmedium bzw. für Negationen als operative heuristische Verfahren, bei denen der Gebrauch von Negationsformen sowohl an ihre jeweiligen Bezugsbereiche als auch an die internen Ordnungsstrukturen der jeweiligen Sprache als auch an die pragmatischen Sinnbildungsintentionen der jeweiligen Kommunikanten angepasst wird. Dadurch gerät dann auch die anthropologische Relevanz der Sprache weitgehend aus ihrem Blickfeld. Im Grunde sind Negationen für das korrespondenztheoretische Wahrheitsdenken nur sprachinterne Verfahren für die Nutzung von gegebenen Sprachmustern, aber
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keine heuristischen Erschließungsverfahren für Denkgegenstände, die sich der direkten sinnlichen Wahrnehmung bzw. Erfahrung entziehen.
9.1.2 Der kohärenztheoretische Wahrheitsbegriff Das kohärenztheoretische Wahrheitskonzept geht von der Grundüberzeugung aus, dass sprachliche Begriffe und Aussagen dann als wahr gelten können, wenn sie sich problemlos in ein schon anerkanntes System von Begriffen und Aussagen einfügen lassen. Das bedeutet, dass sich in diesem Wahrheitskonzept das Hauptinteresse nicht auf die Übereinstimmung von sprachlich objektivierten Inhaltsvorstellungen mit gegebenen Seinsformen richtet, sondern vielmehr auf den Passungscharakter von bestimmten Inhaltsvorstellungen mit unbezweifelten Grundvorstellungen, Axiomen oder Dogmen. Das eröffnet dann natürlich konkreten sprachlichen Sinnbildungsprozessen ganz bestimmte Chancen, aber auch Risiken. In dem kohärenztheoretischen Wahrheitskonzept kann sich der Wahrheitsanspruch von sprachlich objektivierten Denkinhalten weitgehend von allen empirischen Verifikationsproblemen lösen und sich darauf konzentrieren, genau zu prüfen, ob bestimmte Vorstellungen mit unbezweifelten bzw. unbezweifelbaren Grundannahmen widerspruchslos vereinbar sind oder nicht. Das fördert dann natürlich die Tendenz, Denkgebäude zu entwerfen, die sich nicht durch konkrete Sacherfahrungen erschüttern lassen, sondern allenfalls durch logische Inkohärenzen mit unbezweifelten schon vorhandenen Grundüberzeugungen, Grundannahmen oder erkenntnistheoretischen Axiomen. Deshalb ist der kohärenztheoretische Wahrheitsbegriff dann natürlich auch nicht nur für alle ideologischen Denksysteme höchst attraktiv geworden, sondern auch für dasjenige theologische Denken, das sich auf ganz bestimmte kanonische Offenbarungstexte beruft, bzw. für alle wissenschaftlichen Denkweisen, die danach streben, ihr Detailwissen in hierarchisch strukturierte Denksystemen einzuordnen. Erschüttert wird dieses Wahrheitsverständnis nur dann, wenn die jeweiligen Denkprämissen und Denkaxiome problematisch werden bzw. wenn neue ordnungsstiftende Denkparadigmen in Erscheinung treten, die überzeugendere Ordnungsrelationen zwischen den einzelnen Denkinhalten herstellen können als die alten. Dafür legt die sogenannte kopernikanische Wende Kants im Bereich der Erkenntnistheorie bzw. der Evolutionsgedanke im Bereich der Biologie ein beredtes Zeugnis ab. Für das kohärenztheoretische Wahrheitsverständnis spielen sprachliche Affirmations- und Negationsverfahren natürlich eine ganz konstitutive Rolle, weil durch sie ja ordnungsstiftende Grenzen gezogen werden, die das Systemdenken
434 � Die Negation in Religion und Theologie stabilisieren. Im politischen Denken führt dieses Wahrheitsverständnis sehr leicht und schnell zu einem vereinfachenden Freund-Feind-Denken und im religiösen und theologischen Denken zu einer vereinfachende kategorialen Trennung von Gläubigen und Ungläubigen bzw. zwischen Rechtgläubigen und Häretikern. Das kohärenztheoretische Denken wird in allen Religionen durch die Formulierung von Geboten und Verboten gefördert, die alle die Aufgabe haben, Denk- und Handlungsverfahren übersichtlich zu strukturieren. Kohärenztheoretisch gesehen haben deshalb Negationen für Religionsgemeinschaften eine ebenso wichtige identitätsbildende Funktion wie Affirmationen bei den konkreten Ausgestaltungen von Glaubensbekenntnissen, Riten und Handlungspostulaten. Beide Verfahren dienen dazu, religiösen Vorstellungswelten bzw. Handlungspostulaten eine übersichtliche Gestalt zu geben und damit dann auch den jeweiligen religiösen Gruppen eine identitätsstiftende innere Kohärenz. Dabei ist nun zu beachten, dass Verbote bzw. Negationen kontrastive Gestaltbildungen in der Regel stärker fördern als Gebote bzw. Affirmationen, weil sie klarere Grenzen ziehen. Bedrängte religiöse Gruppen bzw. Märtyrer gewinnen deshalb ihr Selbstverständnis und ihre Identität in der Regel auch eher über die Negation konkurrierender Anschauungen und Handlungen als über die Affirmation eigener Anschauungen und Handlungen. Unbedrängte religiöse Gruppen können sich deshalb auch sehr viel leichter variable und liberale Denkweisen leisten als bedrängte.
9.1.3 Der pragmatische Wahrheitsbegriff Das pragmatische Wahrheitskonzept versucht, sich von allen normativen ontischen und begrifflichen Denkvorgaben so weit wie möglich freizuhalten, weil es sich vor allem mit den sozialen, praktischen und konsensbedürftigen Implikationen des Wahrheitsgedankens beschäftigt. Das dokumentiert sich dann insbesondere darin, dass es weniger danach strebt, den substantivischen Begriff der Wahrheit normativ zu definieren, sondern vielmehr danach, umfassend zu erkunden, wie wir mit dem konkreten qualifizierenden Adjektiv wahr in unseren Äußerungen und Sprachspielen umgehen und welche Sachverhalte wir mit diesem Wort bezeichnen und qualifizieren möchten. Das bedeutet nun, dass sich das pragmatische Verständnis von Wahrheit weniger dafür interessiert, ob bestimmte Begriffsbildungen und Aussagen eine ontische Referenz haben bzw. ob sie in bestimmte Systemordnungen passen, sondern eher dafür, ob wir bestimmte Vorstellungen und Sachverhalte für wahr im Sinne von vertrauenswürdig, sinnvoll, fruchtbar und lebensförderlich halten
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(wahrer Freund, wahre Liebe, wahres Wort, wahre Aussage). In dieser Sichtweise wird der Wahrheitsbegriff weitgehend der Alternativlogik von wahr und falsch entzogen. Stattdessen wird er nach Intensitätsstufen differenzierbar gemacht und zugleich mit menschlichen Hoffnungen, Intentionen und Grundüberzeugungen in Verbindung gebracht. Das hat dann zur Folge, dass der Wahrheitsbegriff eher in der Welt der Anthropologie als in der Welt der Ontologie und der Systemlogik angesiedelt wird. Das pragmatische Wahrheitsverständnis lässt sich nicht nur anthropologisch motivieren, sondern auch etymologisch herleiten. Im Deutschen verfügen wir erst seit der Mystik über das abstrakte Substantiv Wahrheit. Dieses war ursprünglich ein Kompositum, das sich aus dem ahd. Adjektiv wār (vertrauenswürdig, gültig) und dem inzwischen ausgestorbenen ahd. Substantiv heit (Wesen, Gestalt) zusammengesetzt hat und deshalb soviel wie verlässliche Vorstellung bedeutet hat. Dafür spricht auch, dass das ahd. Adjektiv wār etymologisch mit dem ahd. Substantiv wāra (Treue, Bündnis, Sicherheit) verwandt ist. Dementsprechend ließen sich ursprünglich dann unter dem Begriff Wahrheit alle Vorstellungsinhalte zusammenfassen, die man als verlässlich, tragfähig und fruchtbar ansah und die eben deshalb auch pragmatisch als wichtig gelten konnten. Dieses Wahrheitsverständnis findet sich auch in anderen Sprachen wieder. Das Äquivalent für das deutsche Wort Wahrheit ist im Hebräischen das Wort ämät, das seinerseits auf ein Verb zurückgeht, das soviel wie fest sein oder tragfähig sein bedeutete. Deshalb ließ sich im Hebräischen auch alles unter dem Begriff ämät zusammenfassen, was mit Geboten und Handlungen in Einklang stand, die etwas Zuverlässiges schafften bzw. schaffen sollten.6 Dieses Verständnis der Wörter wahr und Wahrheit schimmert auch heute noch durch, wenn wir von der Wahrheit als einer Kraft sprechen, die uns frei mache, sinnvoll und fruchtbar zu handeln. Auch Nietzsches Polemik gegen die Dominanz des üblichen Wahrheitsbegriffs ist von dieser ursprünglichen Wahrheitsvorstellung noch nachhaltig geprägt. „Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte.“7 Der pragmatische Wahrheitsbegriff ist primär weder mit dem Gedanken einer ontischen Abbildung noch mit dem einer logischen Widerspruchslosigkeit verbunden, sondern vielmehr mit dem der Fruchtbarkeit und des sinnvollen Handelns. Das schließt dann auch weitgehend aus, dass man zu dem, was man für wahr ansieht, eine rein kontemplative bzw. theoretische Grundhaltung ein-
�� 6 Vgl. K. Koch, Der hebräische Wahrheitsbegriff im griechischen Sprachraum, in: H.-R. MüllerSchwefe (Hrsg.), Was ist Wahrheit, 1965, S. 50ff. 7 F. Nietzsche, Aus dem Nachlaß der achtziger Jahre, Werke Bd. 3, 19737, S. 844.
436 � Die Negation in Religion und Theologie nehmen kann bzw. einen Besitz- oder Herrschaftsanspruch. Stattdessen ist mit der Vorstellung von Wahrheit immer die immanente Aufforderung verbunden, in sinnvolle und fruchtbringende Handlungsprozesse einzutreten und die Handlungspostulate ernst zu nehmen, die mit der Wahrnehmung von Wahrheit verbunden sein können. Das bedeutet dann zugleich auch, dass man das Wahre nicht an sich und für sich erfassen kann, sondern nur an den positiven Konsequenzen bzw. Früchten, die mit ihm verbunden sind. Dementsprechend ist dann auch das Unwahre das, was früher oder später in eine Sackgasse führt bzw. sich als nicht lebensdienlich erweist. Infolgedessen hat das pragmatische Wahrheitsverständnis auch nicht nur für das alltägliche, sondern auch für das religiöse Denken eine ganz wichtige Funktion, weil es auf genuine Weise mit dem Handlungsgedanken und der Ethik verbunden ist. Das pragmatische Wahrheitsverständnis hat seit dem stoischen und epikuräischen Denken bis in die Gegenwart eine lange Tradition. Goethe hat ihm in einem Brief an Schiller vom 19. 12. 1798 einen sehr prägnanten Ausdruck gegeben. „Übrigens ist mir alles verhaßt, was mich blos belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder zu beleben.“8 In seinem Gedicht ›Vermächtnis‹ hat er dieses Verständnis von Wahrheit noch bündiger formuliert: „Was fruchtbar ist, allein ist wahr.“9 Auch Musil hat in einer aphoristischen Äußerung sehr einprägsam darauf verwiesen, dass mit dem Wahrheitsbegriff eigentlich keine kontemplativen, sondern vielmehr immer konkrete Handlungskonsequenzen verbunden seien. „Die Wahrheit ist eben kein Kristall, den man in die Tasche stecken kann, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt.“10 Dadurch, dass Musil in Abrede stellt, dass man sich die Wahrheit substanziell im Bildes eines Kristalls vorstellen könne, negiert er zugleich auch, dass man die Wahrheit in seine persönliche Verfügungsgewalt bringen könne. Stattdessen affirmiert er indirekt, dass wir uns über konkrete Handlungen auf dieses Phänomen einzustellen haben, weil wir ansonsten in ihm untergehen könnten. Das bedeutet, dass mit dem Wahrheitsgedanken auch immer die indirekte Aufforderung verbunden ist, die Wahrheit nicht nur als ein rein kontemplativ zu betrachtendes Phänomen zu betrachten, sondern handelnd auf sie zu reagieren, was dann natürlich gerade für das religiöse Verständnis von Wahrheit immer sehr bedeutsam gewesen ist.
�� 8 J. W. von Goethe, Goethes Briefe, Hamburger Ausgabe, Bd. 2, 19682, S. 362. 9 J. W. von Goethe, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 1, 19647, S. 370. 10 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke, 1978, Bd. 2, S. 533‒534.
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Pragmatische Wurzeln hat letztlich auch die sogenannte Konsensustheorie der Wahrheit. Nach diesem Wahrheitskonzept lassen sich Vorstellungen bzw. Aussagen nur dann als wahr bezeichnen, wenn sie nach einer eingehenden Prüfung in herrschaftsfreien Diskursen anerkannt werden können. Da die Konsensustheorie auf diese Weise ausdrücklich auf die interaktiven Aspekte unserer Wahrheitsvorstellung aufmerksam macht und damit auf ihre soziale Integrationsfunktion und ihre anthropologische Relevanz, ist sie natürlich auch für die Beschreibung der Wahrheitsproblematik im religiösen sowie im theologischen Sprachgebrauch sehr bedeutsam. Dem Wahrheitsproblem bzw. den Wahrheitsvorstellungen kann auf diese Weise dann nämlich nach einer alten theologischen Denkfigur immer ein konkreter Sitz im Leben zugeordnet werden und nicht nur ein Sitz im theoretischen bzw. begrifflichen Denken.
9.2 Formen und Strukturen des religiösen Sprachgebrauchs Die Formen und Strukturen des religiösen Sprachgebrauchs werden durch zwei unterschiedliche Grundintentionen geprägt. Einerseits sollen in ihm sinnlich nicht fassbare Inhalte sprachlich so objektiviert werden, dass sie intersubjektiv verstehbar werden. Andererseits sollen in ihm aber nicht nur Inhalte benannt, sondern auch bestimmte Handlungen evokativ ausgelöst werden. Aus diesen Grundfunktionen ergibt sich schon, dass im religiösen Sprechen sowohl affirmierende Zustimmungsprozesse als auch negierende Abgrenzungs- und Abwehrprozesse eine ganz konstitutive Rolle spielen. Außerdem ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass im religiösen Sprachgebrauch zwangsläufig sprachliche Formen verwendet werden müssen, die zunächst zur sprachlichen Bewältigung von ganz anderer Kognitions- und Kommunikationsprobleme entwickelt worden sind. Dieser komplexe Problemzusammenhang soll hier nun in drei Hinsichten näher untersucht werden. Erstens soll erörtert werden, welche Probleme sich ergeben, wenn man die Erfahrung des Heiligen zu versprachlichen sucht. Zweitens soll thematisiert werden, welche Rolle die analogisierenden bzw. metaphorisierenden Redeweisen im religiösen Sprachgebrauch spielen, die ja durchaus ganz spezifische Affirmations- und Negationsimplikationen aufweisen. Drittens soll dem Problem nachgegangen werden, welche Rolle Verbote und Gebote in Religionen spielen, da diese ja immer auch als Indizien für ganz bestimmte Lebensformen in Erscheinung treten und nicht nur als Bestandteile von bestimmten Vorstellungswelten und Redeweisen.
438 � Die Negation in Religion und Theologie 9.2.1 Die sprachliche Bewältigung des Heiligen Rudolf Otto hat auf erhellende Weise darauf aufmerksam gemacht, dass die Erfahrung des Heiligen bzw. des Numinosen zum Kernbestand aller Religionen gehöre und dass ihre sittlichen Postulate sich erst nach und nach aus dieser Grunderfahrung entwickelt hätten. Er hat sich intensiv darum bemüht, die Erfahrung des Heiligen phänomenologisch hinsichtlich ihrer konstitutiven Aspekte zu beschreiben, um auf diese Weise den energetischen Kern aller Religionen zu erfassen, aus denen sich dann auch ihre spezifischen geistigen, sittlichen und sprachlichen Strukturierungskräfte herleiteten.11 Das Heilige bzw. das Numinose tritt nach Otto nicht direkt als ein positiv bestimmbares Wahrnehmungsobjekt in Erscheinung. Es ist für Otto auch eigentlich unsagbar (ineffabile). Gleichwohl könnten wir es aber als ein eigenständiges Phänomen indirekt über die konkreten Reflexe erfassen, die es bei den jeweiligen Wahrnehmungssubjekten auslöse. Diese beschreibt Otto mit Hilfe folgender Denkmuster: Ergriffenheit, Kreaturgefühl, Scheu, Abhängigkeitsgefühl, Profanitätserfahrung usw. Daraus ergibt sich für ihn, dass das Heilige gerade wegen seiner genuinen Erhabenheit (majestas) und Anziehungskraft (faszinosum) mit den Mitteln unserer alltäglichen Sprache nicht wirklich objektivierbar und beschreibbar sei, sondern allenfalls indirekt auf dem Wege über die Negation unserer üblichen Begriffs- und Denkmuster: das Unfassbare, das Unheimliche, das Ungeheuere, das Unnahbare, das Unsagbare usw. Das Heilige tritt nach Otto für die jeweiligen Wahrnehmungssubjekte nur in einer spannungsvollen Ambivalenz bzw. Kontrastharmonie in Erscheinung. Einerseits übe es als etwas ganz Anderes bzw. als faszinosum eine unabweisbare Anziehungskraft aus. Andererseits trete es aber auch als etwas Unfassbares und Beängstigendes bzw. als mysterium tremendum in Erscheinung. Das bedeutet, dass die vom Heiligen Betroffenen dieses Phänomen nicht auf den Begriff bringen und es dementsprechend auch nicht geistig beherrschen könnten. Das dokumentiere sich auch darin, dass nach der Grundauffassung aller Religionen ein begriffener bzw. kategorisierter Gott eigentlich kein wirklicher Gott mehr sei, insofern er eben dadurch seine majestas verlieren würde. Wenn man diese phänomenologische Beschreibung des Heiligen bzw. von religiösen Gotteserfahrungen akzeptiert, dann offenbart sich zugleich eine spezifische Spannung im Hinblick auf die Möglichkeiten, die konventionalisierte Sprache überhaupt zum Ausdruck religiöser Erfahrungen und Vorstellungen zu verwenden. Die Sprache kann im Bereich des Religiösen nämlich nicht abstrak�� 11 R. Otto, Das Heilige, 196331-35.
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tiv auf ihre Darstellungsfunktionen reduziert werden, weil immer auch ihre Ausdrucks- und Appellfunktionen wichtig werden. Über die Erfahrung des Heiligen lässt sich nicht ohne Affekte sprechen, weil es nicht rein kontemplativ wahrnehmbar ist, sondern zugleich immer auch ganz bestimmte Erregungszustände auslöst. Die Erfahrung des Heiligen kann deshalb nicht nur zu verbalen Lobpreisungen oder zu verstummenden Schweigeritualen führen, sondern auch zu Gesängen, Zeremonien und asketischen Handlungen, um mit dem unfassbaren und erregenden Erlebnis des Heiligen faktisch und semiotisch fertig zu werden. Bei der sprachlichen Bewältigung des Heiligen offenbaren sich zumindest zwei sehr fundamentale sprachliche Strukturverhältnisse. Einerseits lässt sich das als heilig Empfundene nicht einfach die Sehepunkte, Wahrnehmungsperspektiven und sprachlichen Formen aufzwingen, die wir üblicherweise verwenden, um bestimmte Wahrnehmungsgegenstände bzw. Erfahrungen zu erfassen und auf den Begriff zu bringen. Vielmehr zwingt die Erfahrung des Heiligen die jeweiligen Wahrnehmungssubjekte dazu, sich selbst zu bewegen, um es angemessen wahrzunehmen bzw. um semiotisch angemessen darauf reagieren zu können. Wenn im Laufe der Kulturgeschichte dann vom Staunen als dem genuinen Anfang aller Philosophie gesprochen worden ist, dann spiegelt sich darin gleichsam eine Säkularisierung einer ursprünglich zunächst religiösen Grunderfahrung wider. Andererseits wird dadurch aber auch deutlich, dass das Heilige nicht einfach mit den Mitteln zu erfassen ist, mit denen wir uns üblicherweise Profanes objektivieren und repräsentieren können, weil dann seine Andersartigkeit bzw. seine majestas gar nicht mehr in Erscheinung treten kann. Das bedeutet, dass alle Erscheinungsformen der Negation von expliziten Negationswörtern über implizite Negationsformen bis hin zu metaphorischen und paradoxen Redeweisen zu den genuinen sprachlichen Ausdrucksformen der Erfahrung und der geistigen Bewältigung des Heiligen gehören. Aus all dem lässt sich nun ableiten, dass der religiöse Sprachgebrauch strukturell durch einen ganz besonderen Umstand geprägt ist. In ihm müssen unsere konventionalisierten Sprachformen oft so verwendet werden, dass sie gleichsam in der konkreten Nutzung ihre üblichen Sinnbildungsfunktionen auf fassbare Weise selbst dementieren, wenn nicht sogar negieren müssen, weil sie auf eine andere Weise dem Heiligen in seiner prinzipiellen Andersartigkeit semiotisch sonst gar nicht gerecht werden können. Das in der Sprache manifestierbare Wissen über das Heilige tritt deshalb im Sinne der Wissenstypologie von Max Scheler dann auch nicht in Form eines Herrschafts- oder Bildungswissens in Erscheinung, sondern allenfalls in Form eines Erlösungswissens, inso-
440 � Die Negation in Religion und Theologie fern es die jeweiligen Wahrnehmungssubjekte immer dazu anregt, sich in eine als höher angesehene Ordnung bzw. Welt zu integrieren.12 Um das Heilige sprachlich bzw. semiotisch zu bewältigen und sich von ihm nicht psychisch überwältigen zu lassen, neigt der religiöse Sprachgebrauch dann natürlich zu ganz bestimmten Ritualisierungen. Diese haben eine ambivalente pragmatische Sinnbildungsfunktion. Einerseits lassen sie sich nämlich als Abgrenzungsstrategien gegenüber dem Profanen verstehen, aber andererseits auch als Keimzellen von Rationalisierungen, insofern sie die Erfahrung des Heiligen pragmatisch handhabbar machen. Ritualisierungen akzentuieren das Heilige als eine eigenständige Welt und grenzen es eben dadurch von der Alltagswelt ab, aber sie machen das Heilige zugleich auch in seiner Unfassbarkeit und Übermacht pragmatisch handhabbar, da es ja nun über Zeichen doch irgendwie repräsentierbar und objektivierbar wird bzw. zumindest thematisierbar Zu solchen ambivalenten Ritualisierungen im religiösen Sprachgebrauch gehört sicherlich auch der Gebrauch von Negationen. Durch diese lassen sich einerseits Oppositionsrelationen konkretisieren und konventionalisieren, aber andererseits auch problematisieren, weil diese durchaus als Ausdrucksformen von heuristischen Erschließungsprozessen verstanden werden können. Über Negationen lassen sich Denksysteme einerseits stabilisieren, weil sie das Entweder-Oder-Denken begünstigen, aber andererseits auch auflösen, weil sie den Blick auf neue Wahrnehmungsmöglichkeiten dadurch eröffnen, dass sie alte verwerfen.
9.2.2 Der analogisierende Sprachgebrauch In der Regel wird der begriffliche Sprachgebrauch als der eigentliche Sprachgebrauch vom bildlichen bzw. metaphorischen als dem uneigentlichen abgegrenzt, insofern letzterem nur ornamentale bzw. spielerische Funktionen zugeschrieben werden. Diese Auffassung ist sicherlich solange plausibel, wie wir die genuine Sinnbildungsleistung der Sprache aus ihrer Darstellungs- bzw. Abbildungsfunktion für Seiendes ableiten und nicht aus ihrer Erschließungsfunktion für Seiendes. Unter dieser Denkprämisse lassen sich richtig gebildete Begriffe dann prinzipiell als Seinsformen im Sinne von platonischen Ideen ansehen und nicht als heuristische Hypothesen im Sinne des mittelalterlichen Nominalismus bzw. im Sinne der pragmatisch orientierten Semiotik von Peirce.
�� 12 Vgl. M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, Gesammelte Werke Bd. 8, 19602, S. 205.
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Am Beispiel des religiösen, aber auch am Beispiel des theologischen und des philosophischen Sprachgebrauchs, in dem man sich notwendigerweise auch auf sinnlich bzw. empirisch nicht direkt fassbare Denkgegenstände beziehen muss, lässt sich nun aber zeigen, dass der bildliche bzw. der analogisierende Sprachgebrauch sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht möglicherweise eine Priorität zumindest gegenüber dem streng begrifflichen zukommt. So gesehen könnte dann der bildliche bzw. metaphorische Sprachgebrauch durchaus als der eigentliche und der begriffliche bzw. kategorisierende eher als der uneigentliche angesehen werden, der sich kulturgeschichtlich nur für ganz bestimmte kognitive und kommunikative Zielsetzungen eingebürgert hat. Für diese Sichtweise lassen sich folgende Überlegungen geltend machen. Pragmatisch gesehen entspringen alle Wort- bzw. Begriffsbildungen bestimmten Differenzierungs- und Objektivierungsintentionen. Bei Eigennamen dienen Wörter im Prinzip dazu, sich bestimmte Einzelphänomene in unterschiedlichen Wahrnehmungssituationen als mit sich selbst identische Einzelgrößen geistig präsent zu machen und zu halten, obwohl sie für uns faktisch jeweils in ganz anderen Relationsgeflechten und Wahrnehmungszusammenhängen in Erscheinung treten. Bei Begriffsnamen dienen Wörter dazu, faktisch unterschiedliche Einzelphänomene, die in gewissen Hinsichten bestimmte Ähnlichkeiten miteinander haben, kategorial als identisch zu betrachten, weil sie typologisch gesehen einem bestimmten Grundmuster entsprechen. Solche abstraktiven Musterbildungen sind für alle Lebewesen eine pragmatische Notwendigkeit, um aus Einzelerfahrungen ein generelles Wissen ableiten zu können, mit dem sie sich im Überlebenskampf besser behaupten können. Bei den Menschen haben sich im Vergleich zu den Tieren die Möglichkeiten zur Bildung und Variation solcher Muster ungeheuer ausgeweitet, da diese sich auf recht einfache Weise durch sprachliche Zeichen objektivieren, stabilisieren und tradieren lassen. Bei den Tieren müssen solche Wahrnehmungsmuster dagegen weitgehend auf evolutionäre Weise genetisch verankert bzw. durch frühe zerebrale Prägungsprozesse fixiert werden. Während genetisch fixierte unzweckmäßige Musterbildungen bei Tieren sehr schnell zu deren Tod im Überlebenskampf führen, lassen sich sprachlich fixierte unzweckmäßige Musterbildungen relativ leicht verwerfen, variieren oder anderen Objektivierungs- und Differenzierungsbedürfnissen anpassen. Durch die großen Freiheitsspielräume bei sprachlich fixierten Musterbildungen ergeben sich bei diesen allerdings erhebliche Legitimationsprobleme. Immer wieder ist zu klären, wie weit bei den Musterbildungen auf die Strukturverhältnisse der jeweiligen Objektseite Rücksicht zu nehmen ist und wie weit auf die kulturellen und individuellen Differenzierungsbedürfnisse auf der Subjektseite. Dieses Problem konkretisiert sich dann in der Frage, welche Ähnlich-
442 � Die Negation in Religion und Theologie keitsrelationen es rechtfertigen, verschiedene Einzelphänomene unter einem bestimmten Begriffsmuster typologisch zusammenzufassen, obwohl sie faktisch keineswegs als identisch anzusehen sind, bzw. welche sinnlichen und geistigen Differenzierungsbedürfnisse der Menschen dabei eine konstitutive Rolle spielen. Diese Rahmenbedingungen rechtfertigen es dann auch, das Ähnlichkeitsbzw. Analogieprinzip als eine kognitive Universalie anzusehen, ohne das eine brauchbare Weltorientierung und Weltinterpretation gar nicht möglich ist. Gerade bei der sprachlichen Objektivierung von unsinnlichen bzw. abstrakten Denkinhalten, wozu sicherlich sowohl religiöse und theologische als auch philosophische und wissenschaftliche Vorstellungen gehören, tritt die Notwendigkeit sehr deutlich in Erscheinung, solche Objektivierungen über Analogisierungen mit konkreten sinnlichen Erfahrungen subjektiv und intersubjektiv fassbar und verständlich zu machen. Das dokumentiert sich dann sehr deutlich durch die Verwendung von Beispielen, Gleichnissen, Sinnbildern und Metaphern in individuellen und kulturellen sprachlichen Sinnbildungsanstrengungen. All diese sprachlichen Objektivierungsverfahren haben immer sehr wichtige Affirmations- und Negationsimplikationen, insofern sie uns sowohl etwas über die Sachstruktur bestimmter Phänomene vermitteln wollen als auch etwas über die Abgrenzungsbedürfnisse der jeweiligen Subjekte. Das rechtfertigt es dann auch, die Kategorie der Analogie bzw. Ähnlichkeit sowohl als eine ontische Seins- als auch als eine kulturelle Wahrnehmungskategorie zu verstehen. Wahrheitstheoretisch betrachtet ist die Analogie sicherlich als ein sehr ambivalentes Erkenntnis- und Sinnbildungsmittel anzusehen. Einerseits hat sie eine unverzichtbare Funktion in allen Erkenntnis-, Kategorisierungs- und Interpretationsprozessen, weil sie es uns ermöglicht, Unbekanntes über Bekanntes zu erschließen. Andererseits birgt sie aber auch die Gefahr, etwas aus bestimmten individuellen oder kulturellen Wahrnehmungsbedürfnissen für ähnlich oder gar identisch zu erklären, was letztlich doch recht unterschiedlich ist und was auf diese Weise unser Wissen von der Welt auch verzerren oder in die Irre führen kann. Novalis hat daher im Hinblick auf das Verständnis von Geschichte vom „Zauberstab der Analogie“13 gesprochen und André Gide sogar vom „Dämon der Analogie“, der der schärfste Feind des Denkens sei.14 Wenn man von der dämonischen Kraft der Analogie spricht, dann sollte man allerdings auch nicht vergessen, das mit dem Denkmuster Dämon bei den Griechen ursprünglich eine unbegreifliche göttliche Macht bezeichnet wurde,
�� 13 Novalis, Christenheit oder Europa, Werke Bd. 2, 1999, S. 734. 14 A. Gide, Journal 1889‒1939, 1951, S. 822. „Il n’y a pas pire ennemi de la pensée, que le démon de l’analogie.“
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die erst im Christentum als eine böse und zerstörerische Kraft verstanden worden ist. Das dokumentiert sich auch darin, dass Sokrates seine innere Stimme, die ihn davor warnte, Böses zu tun, Daimonion genannt hat. In Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen ist die Nutzung von Analogien sicher kein unproblematisches Verfahren, aber es ist zugleich auch ein unabwendbares, eben weil die Menschen nur perspektivisch und medial gebunden wahrnehmen und denken können. Insbesondere in den rein analytisch orientierten Wissenschaften sind Analogieschlüsse im Vergleich mit Deduktionsschlüssen ebenso verpönt wie analogisierende Argumentationen und Sinnbildungsanstrengungen, weil diese Verfahren zu unsicheren und kaum zu kontrollierenden Ergebnissen führen. Dennoch sind derartige Denkstrategien zumindest als heuristische Annäherungsverfahren bei komplexen Sachverhalten bzw. bei Sachverhalten außerhalb von empirischen Kontrollmöglichkeiten unverzichtbar. Auch die sogenannten exakten Wissenschaften sehen sich immer wieder genötigt, metaphorisch zu reden, wenn sie an die Grenzen ihrer tradierten Vorstellungswelten geraten, aber gleichwohl nicht darauf verzichten möchten, zumindest andeutungsweise von dem zu reden, was jenseits der etablierten wissenschaftlichen Begriffswelten liegt (schwarze Löcher, Ursuppe, Urknall). Das analogisierende Denken und Sprechen lässt sich eigentlich nicht der Logik des Abbildens, Klassifizierens und Behauptens zuordnen, sondern allenfalls einer Logik des Vermutens, Findens und Fragens, weil dabei nicht nach einem Beherrschungswissen gesucht wird, sondern nach einem Zugangswissens. Dieses ist weniger darum bemüht, etwas abschließend auf den Begriff zu bringen, sondern eher darum, mit Hilfe alter Erfahrungen neue zu machen. In ihm werden die Standards vernünftigen Denkens nicht prinzipiell aufgegeben, sondern vielmehr erprobt, wie man seine eigenen Denkverfahren verändern muss, um Zugänge zu ganz besonderen Denkinhalten zu finden, die aber gleichwohl dennoch intersubjektiv verständlich sein sollen. Mit ihm werden Sinnbildungsziele angestrebt, die eher mit Synthese- als mit Analyseanstrengungen in Verbindung gebracht werden können. Deshalb hat sich auch der späte Wittgenstein nicht gescheut, folgende These zu vertreten: „Ein gutes Gleichnis erfrischt den Verstand.“15 Analogien sind eher dem Reich der geistigen Einbildungskraft zuzuordnen als dem der geistigen Abbildungskraft. Von dieser Einbildungskraft hat Blaise Pascal gesagt, dass sie „gerade dadurch so trügerisch ist, weil sie es nicht immer ist.“16 Mit Analogien scheint außerdem ein gewisser Ikarus-Effekt verbunden zu
�� 15 L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe Bd. 8, 1984, S. 451. 16 B. Pascal, Gedanken, o. J., S. 139.
444 � Die Negation in Religion und Theologie sein, insofern man mit ihrer Hilfe zu Wahrnehmungsmöglichkeiten aufsteigen kann, durch die man mehr als üblich sieht. Aber durch sie kann man in Erkenntnisprozessen auch abstürzen, wenn man vergisst, unter welchen Rahmenbedingungen man sich Zugang zu seinen jeweiligen Wahrnehmungsinhalten verschafft hat und welche Geltungsansprüche ihnen deshalb auch nur zugebilligt werden können. Im Rahmen des semiotischen Denkens lassen sich Analogien den geistigen Abduktionsanstrengungen zurechnen. Diese ordnet Peirce den üblichen logischen Deduktions- und Induktionsverfahren vor, weil durch sie erst die Hypothesen und Denkperspektiven geschaffen würden, mit denen die gängige Schlussfolgerungslogik arbeite.17 Abduktionen bzw. Analogien sind daher dem Synthese- und dem Interaktionsprinzip verpflichtet, die beide heuristische Funktionen haben. Diese hat Lichtenberg in einem Aphorismus auf einleuchtende Art folgendermaßen beschrieben: „Man muß etwas Neues machen, um etwas Neues zu sehen.“18 Das analogisierende Denken spielt im religiösen Denken eine so wichtige Rolle, weil es als eine implizite Negation des rein begrifflichen Denkens verstanden werden kann. Es macht nämlich insbesondere darauf aufmerksam, dass man bestimmte Phänomene erst dann wirklich in den Blick bekommt, wenn man diese nicht den konventionalisierten Denkkategorien unterwirft, sondern wenn man neue Objektivierungsmittel entwickelt bzw. sich eben dadurch dann auch selbst geistig bewegt. Dieses Postulat, dass man sich selbst und seine Wahrnehmungsperspektiven und Denkmittel verändern muss, um bestimmte Einsichten gewinnen zu können, ist nicht nur für das religiöse und insbesondere mystische Denken konstitutiv, sondern durchaus auch für bestimmte säkulare Denkformen. So geht beispielsweise der Marxismus ebenfalls davon aus, dass bestimmte Einsichten nur dann zu gewinnen seien, wenn sich auch die Produktionsbedingungen, die Lebensformen sowie die Denkmittel und Denkverfahren der Menschen ändern. Ein frühes Zeugnis dafür, dass eine immanente Analogie zwischen den jeweiligen Erkenntnisobjekten und den jeweiligen Erkenntnissubjekten unter Einschluss der von ihnen verwendeten Wahrnehmungsformen vorliegen müsse, um bestimmte Erkenntnisse gewinnen zu können, stammt von dem Vorsokratiker Empedokles: „Die Erkenntnis des Gleichen erfolgt durch das Gleiche.“19 Diese �� 17 Ch. S. Peirce, Collected Papers 5.81, 5.145, 5.171, 6.474. 18 G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher II, 2005, S. 321, J 1770. 19 W. Capelle (Hrsg.) Die Vorsokratiker, 1968, S. 236, Nr. 157. Vgl. auch A. Schneider, Der Gedanke der Erkenntnis des Gleichen durch Gleiches in antiker und patristischer Zeit, in: Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Suppl. II, 1923, S. 65‒76.
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These ist natürlich erkenntnistheoretisch keineswegs unbedenklich, weil sie sich natürlich dem Vorwurf aussetzt, in einem Erkenntniszirkel zu münden, in dem man mehr oder weniger nur noch das findet, was man immer schon weiß bzw. vorausgesetzt hat. Gleichwohl ist der Gedanke einer immanenten Analogie von Erkenntnisgegenständen bzw. Erkenntnisinhalten und Erkenntnisformen nicht grundsätzlich zu verwerfen. Wir können weder davon ausgehen, dass unsere Erkenntnismittel und Erkenntnisverfahren autonom und sakrosankt sind, noch davon, dass mit ihnen absolut gültige Ergebnisse zu erzielen sind. Wir haben immer zu berücksichtigen, dass diese Mittel auf unsere Erkenntnisobjekte und Erkenntnisziele abgestimmt werden müssen, wenn wir unsere jeweiligen Erkenntnisgegenstände als eigenständige Größen bzw. als Dialogpartner ernst nehmen wollen, die wir über unsere jeweils verwendeten Erkenntnisformen keineswegs immer vollständig beherrschen können. Gerade im religiösen und theologischen Bereich haben wir zu beachten, dass unsere Denkprämissen, Denkmittel und Denkverfahren nicht unangreifbar über unseren Denkgegenständen stehen, sondern auf diese ausgerichtet werden müssen. Ansonsten läge nämlich auch die Auffassung nahe, dass im Meer nur solche Fische existierten, die sich in unserem Netz mit einer ganz bestimmten Maschengröße fangen lassen. Wenn wir tatsächlich unsere Denk- und Sprachformen für selbstverständlich und unangreifbar halten und es nicht mehr für notwendig halten, diese auf die mit ihnen zu erschließenden Denkgegenstände abstimmen, dann verfehlen wir sicherlich auch die spezifischen Sinnbildungsfunktionen von Affirmationen und Negationen im religiösen und theologischen Denken und Sprechen. Gerade im Hinblick auf die hier praktizierten Redeweisen ist es dann auch problematisch, den metaphorischen bzw. bildlichen Sprachgebrauch als den uneigentlichen und den begrifflichen als den eigentlichen anzusehen. Dann würden wir nämlich eine ganz bestimmte Verwendungsweise von Sprache als sakrosankt ansehen, die weder historisch einen Absolutheitsanspruch für Sinnbildungsprozesse gehabt hat noch systematisch einen solchen erheben kann. Beide Gebrauchsweisen von Sprache sind mediale Erschließungs- und Aneignungsformen von Welt mit einem je eigenständigen Sinnbildungsprofil, das sich eher ergänzt als ausschließt. Allerdings ist es durchaus ein Problem, die spezifische Leistungsfähigkeit der beiden Sprachverwendungsformen klar voneinander abzugrenzen und zu qualifizieren. Das sprachphilosophische Denken Humboldts, die Philosophie der symbolischen Formen Cassirers und der Sprachspielgedanke Wittgensteins haben uns aber dafür sensibilisiert, die konkreten Sinnbildungsleistungen be-
446 � Die Negation in Religion und Theologie stimmter sprachlicher Formen nicht nach einem einzigen Maßstab zu beurteilen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Vico dem bildlichen und metaphorischen Sprachgebrauch eine historische und anthropologische Priorität gegenüber dem begrifflichen und argumentativen eingeräumt hat. Er spricht sogar von einer spezifischen „poetischen Logik“, die im Gegensatz zu der begrifflichen nicht von den menschlichen Sinnen und Leidenschaften abstrahiere.20 Auch für Jean Paul hat der bildliche Sprachgebrauch eine größere anthropologische Relevanz als der begriffliche. „Wenigstens würde in Bildern sich das verwandte Leben besser spiegeln als in toten Begriffen ‒ nur aber für jeden anders.“21 Die hohe anthropologische und kognitive Relevanz von Analogien für Denkprozesse hat auch Wittgenstein ganz nachdrücklich betont. „Alles, was mir in den Weg kommt, wird mir zum Bild dessen, worüber ich noch denke.“22 Probleme ergeben sich allerdings, wenn der erschließende metaphorische und der deskriptive begriffliche Sprachgebrauch ineinander übergehen, was sowohl für religiöse und theologische als auch für philosophische Redeweisen nicht untypisch ist. Immer wenn von unsinnlichen Strukturverhältnissen bzw. von etwas Transzendentem oder Transzendentalem die Rede ist, dann müssen wir die heuristischen Brücken von Analogien benutzen, um uns etwas auf verständliche Weise sprachlich zu objektivieren. Die Rede von solchen Denkgegenständen kann nicht nur sachthematisch, sondern muss immer auch reflexionsthematisch orientiert sein bzw. medien- und sprachsensibel. Solange man das Fragen und die Suche nach Antworten zu den Grundbedingungen des menschlichen Lebens rechnet, solange gehört auch das Verfahren der Analogiebildung zu den unverzichtbaren menschlichen Denkmethoden. Solange man Warum-Fragen stellt, wird die Frage nach fundamentalen Ordnungsprinzipien und damit auch nach Gottesvorstellungen faktisch unvermeidlich. Solange man solche Fragen versuchsweise zu beantworten versucht und nicht von vornherein als unbeantwortbar ansieht bzw. durch Schweigen beantwortet, solange bleibt der analogisierende und metaphorische Sprachgebrauch unverzichtbar. Dieser tritt nicht nur dadurch in Erscheinung, dass man sagt, wo man in seinen konkreten Welterfahrungen Ähnlichkeiten mit etwas Transzendentem sieht (affirmative Analogien, affirmative Theologie), sondern auch sagt, welche Analogien man ausschließt (negative Analogien, negative Theologie).
�� 20 Vgl. G. Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, 1966, S. 77‒81. 21 J. Paul, Vorschule der Ästhetik § 1, Werke Bd. 9, 1975, S. 30. 22 L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe Bd. 8, 1984, S. 492.
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Die Nutzung von Analogien im religiösen und theologischen Sprachgebrauch ist sicherlich als ein anthropomorph orientiertes Sinnbildungsverfahren zu beurteilen, aber als eines, das als conditio sine qua non beim religiösen und theologischen Sprechen nicht zu beseitigen ist, das aber gerade deshalb auch immer nur in reflexionsthematisch sensibilisierter Weise genutzt werden sollte.23 Probleme ergeben sich allerdings, wenn im religiösen und theologischen Sprachgebrauch Analogien nicht mehr heuristisch bzw. erschließend, sondern begrifflich bzw. behauptend verwendet werden und auf diese Weise zu konstitutiven Bestandteilen von Dogmen werden, in denen nicht nur konkrete Sachbehauptungen aufgestellt werden, sondern auch konkrete Verbote und Gebote formuliert werden.
9.2.3 Religiöse Verbote und Gebote Die Ethisierung bzw. die theologische Systematisierung der religiösen Sphäre steht in einer unaufhebbaren Spannung zur Manifestation dieser Sphäre als Erlebnis des Heiligen bzw. des Numinosen. Zugleich dokumentiert sich in dieser Spannung aber auch ein unaufhebbarer historischer Prozess. Dieser tritt in den schriftgebundenen und damit auch abstrakter und begrifflicher orientierten monotheistischen Religionen natürlich sehr viel stärker hervor als in den sehr raum- und sinnengebundenen polytheistischen Religionen. Da zu den allgemeinen pragmatischen Funktionen von Verboten und Geboten schon Aussagen gemacht worden sind (Kap. 3.4.2.), soll sich hier das Hauptinteresse auf ihre religiösen Sinnbildungsfunktionen im engeren Sinne richten. Diese sind dadurch charakterisiert, dass durch sie nicht nur soziale Verhaltensregeln formuliert werden, sondern darüber hinaus auch Grundsätze für das Verständnis der Welt und die Stellung des Menschen in ihr. Nach Walter Burkert ist der antike Polytheismus durch geprägt, dass nicht nur an demselben Ort und in derselben Zeit viele Götter verehrt werden, sondern auch von derselben Gruppe und denselben Individuen. Kein Einzelgott stelle die Existenz und die Existenzberechtigung eines anderen Gottes in Frage. Verhängnisvoll für die Menschen könne sich nur auswirken, einzelne Götter zu übersehen oder gering zu achten. Die ganze Götterwelt werde als ein sehr komplexes Netzwerk von Beziehungen mit relativ offenen Grenzen zwischen den Herrschafts- und Zuständigkeitsbereichen der einzelnen Götter verstanden, die sich ihrerseits auch nicht zu schade seien, sich wechselseitig zu täuschen oder �� 23 Vgl. E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 20017, S. 307‒408.
448 � Die Negation in Religion und Theologie gar zu betrügen. Deshalb dürfe man die antike polytheistische Götterwelt auch nicht als ein durchorganisiertes Ordnungssystem verstehen, aus dem sich in Form von klaren Geboten und Verboten dann auch kohärente Regeln für menschliche Verhaltensweisen ableiten ließen.24 Für Odo Marquard ist der antike Polytheismus gerade deshalb so faszinierend, weil mit ihm keine kohärenten theologischen Lehren verbunden seien bzw. verbunden werden könnten, sondern nur eine Vielfalt von sinnträchtigen Geschichten. Es gebe in ihm keinen Monomythos, sondern nur eine sehr vielfältige Polymythie, die eine geschlossene Sinn- und Theoriebildung von vornherein ausschließe bzw. argumentative dogmatische Aussagen, die ganz konkrete Affirmations- oder Negationsfunktionen hätten. Diese Vielfalt von sinnträchtigen Geschichten möchte Marquard als eine Erscheinungsform von Gewaltenteilung verstanden wissen, durch die den einzelnen Individuen im Denken und Handeln relative große Spielräume eröffnet würden. Durch die Kollision von Einzelgewalten entstehe ein gewisses Maß an Chaos und Inkohärenzen, das von ihm dann ausdrücklich als „Bedingung der Möglichkeit der Individualität“ verstanden wird. Aus der Teilung von Gewalten könne die Grundhaltung der Skepsis entstehen, die Marquard aber nicht als „Apotheose der Ratlosigkeit“ verstehen möchte, sondern vielmehr als einen „Abschied vom Prinzipiellen“ bzw. als eine Offenheit für den Aspektreichtum von Phänomenen, welcher sich schwerlich in einer monolithischen Lehre erfassen lasse.25 Wenn man im Sinne von Marquard denkt, dann liegt natürlich die Annahme nahe, dass Verbote im Sinne von Negationen im religiösen und praktischen Leben eigentlich keine sehr dominierende Rolle spielen sollten. Stattdessen hätte man Geboten ein größeres Gewicht zuzuordnen, weil mit ihnen immer Gestaltungspostulate verbunden sind, die in der Regel vielfältige Realisierungsmöglichkeiten zulassen. Von hier aus wird dann auch ganz gut verständlich, warum die 10 alttestamentlichen Handlungsregeln 8 Verbote und nur 2 Gebote umfassen. Das hatte insbesondere den pragmatischen Zweck, die jüdische Religionsgemeinschaft als Gruppe zu stabilisieren, insofern man 8 mögliche, aber sozial sehr unverträgliche Handlungsweisen explizit zu eliminieren versuchte. Nur die Forderung, den Feiertag zu heiligen sowie Vater und Mutter zu ehren hat sich dann biblisch als ein inhaltlich offenes soziales Gestaltungsziel etabliert, das natürlich recht unterschiedliche konkrete Realisationsmöglichkeiten ermöglicht. Im
�� 24 Vgl. W. Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, 1977, S. 331ff. 25 O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, 1981, S. 98, 108 und 17.
Der mystische Sprachgebrauch � 449
Christentum kam noch das Gebot der Nächstenliebe hinzu, das ebenfalls sehr unterschiedliche Realisationsmöglichkeiten bis hin zur Feindesliebe denkbar machte. Wenn man nach der Funktion von Geboten und Verboten im religiösen Denken fragt, dann muss man sich auch mit dem expliziten Bilderverbot im Judentum, Christentum und Islam beschäftigen, das für monotheistische Religionen im Gegensatz zu polytheistischen offenbar eine ganz konstitutive Funktion hat. Dieses Verbot gründet sich nicht nur auf praktische Abgrenzungsbedürfnisse zu animistischen Naturreligionen und zu dem antiken Polytheismus, wo die kultische Verehrung von Dingen und Bildern immer ganz selbstverständlich und unproblematisch war. Das monotheistische Bilderverbot hat nämlich auch sehr grundsätzliche theologische und ontologische Motive und Implikationen. Deshalb soll es am Beispiel des byzantinischen Bilderstreites auch noch als theologisches Problem gesondert behandelt werden, weil sich über diesen Streit die eher rituell orientierte christliche Ostkirche dann von der eher dogmatisch orientierten christlichen Westkirche getrennt hat.
9.3 Der mystische Sprachgebrauch Im mystischen Sprachgebrauch spiegeln sich auf exemplarische Weise die grundlegenden Probleme der religiösen Sprachverwendungsweisen bzw. Sinnbildungsprozesse wider. Diese Auffassung lässt sich auch durch die Etymologie des Wortes Mystik stützen. Dieses leitet sich nämlich über das lat. Substantiv mysterium (Geheimlehre) aus dem griechischen Verb myein (Augen/Mund schließen) ab. Daraus lässt sich dann schließen, dass den Erscheinungsformen der Mystik offenbar der Wunsch zugrunde liegt, mit etwas Kontakt aufzunehmen, was jenseits des sinnlich Fassbaren liegt und was mit den üblichen Sprachformen nicht befriedigend erfasst werden kann. Der Mystik geht es so gesehen also immer darum, Kontakt zu einer Sphäre zu bekommen, die hinter den üblichen sinnlichen Erfahrungsmöglichkeiten und ihren direkten sprachlichen Objektivierungsmöglichkeiten liegt. Das, was insbesondere die christlichen Mystiker anstreben die unio mystica ist eine Gotteserfahrung, die als Eins-Werden der menschlichen Seele mit dem Einen bzw. dem Absoluten verstanden wird, bei dem alle als schmerzhaft empfundenen Grenzen und Abtrennungen überwunden werden können. Es wird also angestrebt, mit etwas eins zu werden, was eine verlässliche Stabilität hat, was sich nicht ständig wandelt, was durch keine trennenden Abgrenzungen geprägt wird und was nicht zurückweicht, wenn man sich ihm nähert.
450 � Die Negation in Religion und Theologie Aus dieser Sinngeschichte des Wortes Mystik ergibt sich schon, dass dieser Terminus nicht als Bezeichnung für ein Lehrgebäude über etwas Transzendentes verstanden werden sollte, sondern vielmehr als Bezeichnung für ein Denkund Sprachgebrauchsverfahren, mit dem man Kontakt mit einer anderen als der alltäglichen Erfahrungswelt aufnehmen kann. Wenn man die Mystik in diesem Sinne als spezifisches Erschließungsverfahren für eine transzendente bzw. andere Welt versteht, dann wird offensichtlich, dass es ihr primär nicht um sprachliche Objektivierungen von Sachverhalten geht, die in einem korrespondenztheoretischem Sinne als richtig oder falsch beurteilt werden können, sondern vielmehr um sprachliche Sinnbildungsanstrengungen, die als weiterführende Wege bzw. als Brückenbauten in eine andere Welt anzusehen sind. Dementsprechend hat der mystische Sprachgebrauch dann auch keine Abbildungs- bzw. Behauptungsfunktionen, sondern vielmehr Erschließungs- und Vermittlungsfunktionen, die im Prinzip nach Fruchtbarkeitskriterien zu beurteilen sind und nicht nach Abbildungskriterien in einem korrespondenztheoretischen Sinne. Das hat dann auch dazu geführt, dass die Mystik kulturhistorisch sehr unterschiedliche Ausprägungsformen gefunden hat, die von einer intellektuellen Kontemplations- und Ideenmystik bis zu einer ekstatischen Gefühlsund Rauschmystik reichen. Aus diesem Verständnis von Mystik ergibt sich, dass Affirmationen und Negationen im mystischen Sprachgebrauch natürlich nicht im üblichen Sinne als direkte Behauptungshandlungen zu verstehen sind, sondern vielmehr als heuristische Interpretations- bzw. Abduktionshandlungen. Um deren konkrete Sinnbildungsfunktion zu verstehen, müssen wir bereit sein, uns selbst bzw. unsere üblichen Denkperspektiven und Handlungsdispositionen zu ändern. Der mystische Sprachgebrauch ist daher auch durch grundlegende dialektische Spannungen und Ambivalenzen geprägt, die sich über die kontrastive inhaltliche Korrelation von Oppositionsbegriffen konkretisieren lassen: Sprachfremdheit ‒ Sprachnähe, Sprachabwehr ‒ Sprachgestaltung, Sprachfeindschaft ‒ Sprachliebe. Durch dieses sehr ambivalente Sprachverständnis der Mystik eröffnet sich dann die Chance, gerade am Beispiel des mystischen Sprachgebrauchs auf exemplarische Weise zu verdeutlichen, was es heißt, die Sprache primär nicht als sachthematisches Abbildungs-, sondern als reflexionsthematisches Sinnbildungs- und Vermittlungswerkzeug zu verstehen und zu verwenden.
9.3.1 Die Sprachfremdheit der Mystik Wenn man sich die Intentionalität des mystischen Denkens und Sprechens vergegenwärtigt, die sich in der Vorstellung einer unio mystica zusammenfassen
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lässt, dann wird klar, dass die Mystik auf eine konstitutive Weise durch ihre Sprachfremdheit geprägt sein kann. Zumindest die konventionalisierte Sprache ist für sie wegen ihrer historischen Entwicklungsgeschichte bzw. wegen ihrer praktischen Primärfunktionen nicht dazu prädestiniert, die sprachlichen bzw. semiotischen Sinnbildungsprobleme zu bewältigen, die sich beim religiösen Einswerdens mit Gott bzw. dem Absoluten stellen. Dieselbe Problematik ergibt sich für das christliche mystische Denken dann auch im Hinblick auf die etablierte Theologie und ihre philosophisch bzw. dogmatisch orientierte Fachsprache. Weniger betroffen ist von diesem Problem dann allerdings für die Mystiker die variable natürliche Volkssprache mit ihrer großen situativen und intentionalen Gebrauchs- und Sinnbildungsflexibilität. Weiterhin wird auch verständlich, warum für die Mystik bei der angestrebten Gotteserfahrung in der unio mystica das heilige Schweigen (sanctum silentium) eine so wichtige Rolle spielt. Für sie war es gleichsam immer ganz selbstverständlich, dass Gott über profane Sprachformen nicht direkt zugänglich werden kann, eben weil er jenseits des üblichen Operationsfeldes und der vertrauten Sinnbildungsfunktionen dieser Sprachformen zu suchen ist und weil er in diesem Rahmen daher dann auch nicht direkt fassbar bzw. sagbar werden kann (ineffabile). Allerdings sollte man in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen, dass in einem umfassenden Verständnis das Schweigen immer auf eine dialektische Weise mit dem Sprechen verbunden ist. Zu einem wirklichen Schweigen kommt es nämlich nur dann, wenn man weiß, dass die mit dem Sprechen üblicherweise verbundenen Erwartungen aktuell oder prinzipiell nicht zu erfüllen sind oder nicht erfüllt werden sollen. Das bedeutet dann, dass mit dem Schweigen durchaus ein ganz bestimmter kommunikativer Effekt verbunden sein kann. Dieser ist allerdings nicht immer leicht zu konkretisieren, weil er von vielfältigen Faktoren abhängig ist. Das Schweigen kann nämlich signalisieren, dass jemand nicht sprechen will, dass jemand nicht sprechen kann, dass jemand durch das Sprechen bestimmte Sachthemen oder Situationen nicht trivialisieren möchte, dass jemand noch nach einem angemessenen sprachlichen Ausdruck sucht, dass jemand provozieren will usw. Ebenso wie es ein angemessenes und ein unangemessenes Sprechen gibt, so gibt es natürlich auch ein angemessenes und unangemessenes Schweigen. Von hier aus wird dann auch verständlich, warum die Sprachvorbehalte der Mystik nicht nur einer gewissen Sprachfremdheit Ausdruck geben können, sondern im Extremfall sogar einer Sprachfeindschaft, Sprachabwehr oder sogar Sprachnegation. Angesichts der Sprachkreativität der Mystik ist das nun allerdings nicht als ein generelles Urteil zu verstehen, sondern nur als ein vorläufiges Urteil zum Zwecke einer ganz bestimmten Aufmerksamkeitslenkung. In
452 � Die Negation in Religion und Theologie diesem Sinne sind dann wohl auch die Ausführungen Max Schelers zu der vermeintlich genuinen Sprachgegnerschaft der Mystik zu beurteilen. Nur die mystische Erkenntnisart ist sozusagen die geborene Gegnerin der Sprache und des formulierten Ausdrucks überhaupt. Schon aus diesem Grunde hat sie eine stark individualisierende und isolierende, vereinsamende Tendenz, die sich freilich mit einer kosmopolitischen Tendenz verbindet. Mystisches Wissen soll prinzipiell «ineffabile» sein. Das gilt ebensowohl für die «helle» geistige Ideenmystik, wie für die für die «dunkle» vitale Mystik der Einsfühlung in den Urgrund der schaffenden Natur (natura naturans) […]. Von Plotin bis zu Bergson sieht die Mystik ‒ sowohl die religiöse wie die metaphysische ‒ in der Sprache nicht nur ein unzureichendes Darstellungsmittel des Gedankens und des in der mystischen «unio» und «extasis» Erlebten und Geschauten, sondern ihre Vertreter neigen sogar dazu, in der Sprache und im «discursus» die tiefste und unüberwindlichste Täuschungs- und Irrtumsquelle für dasjenige «Wissen» zu sehen, das sie als Mystiker anstreben.26
Die immer wieder postulierte Gegnerschaft der der Mystik zur Sprache ist deshalb keineswegs als eine generelle Feindschaft zur Sprache zu verstehen. Ihre Vorbehalte gegen die Sprache sind Vorbehalte gegen eine bestimmte Verwendungsform von Sprache, die ihren Abbildungsanspruch über ihren Sinnbildungsanspruch stellt und darüber ihre Interpretations- und Vermittlungsfunktionen vergisst. Die Mystik negiert nicht die religiöse Relevanz der Sprache an sich, sondern lediglich die religiöse Relevanz eines ganz bestimmten Sprachgebrauchs und Sprachverständnisses. Von einer generellen Gegnerschaft der Mystik zur Sprache kann deshalb auch keine Rede sein, da sie einen rituellen, metaphorischen, evokativen, negierenden oder gar paradoxen Sprachgebrauch keineswegs verschmäht, sondern immer wieder sucht und nutzt. Sie praktiziert nämlich immer wieder einen experimentellen Sprachgebrauch, der ganz bestimmte Annäherungs- und Perspektivierungsfunktionen hat. Deshalb hat Alois Haas das Ziel der christlichmystischen Gotteserfahrung auch unter der tradierten Formel „cognitio Dei experimentalis“ zusammengefasst.27
9.3.2 Die Sprachnähe der Mystik Die Vorstellung von der Sprachfremdheit oder gar Sprachgegnerschaft des mystischen Denkens lässt sich nur dann aufrechterhalten, wenn man sein Ver-
�� 26 M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, Gesammelte Werke Bd. 8. 19602, S. 64. 27 A. M. Haas, Sermo mysticus, 1979, S. 145, 168.
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ständnis von Sprache sehr eng mit dem Abbildungs- und Systemgedanken verbindet und nicht mit dem Vermittlungs- und Kreativitätsgedanken. Nur wenn man Sprache als Werk (Ergon) und nicht als Kraft (Energeia), als fixierte Form (forma formata) und nicht als formbildendes Verfahren (forma formans), als Einordnungsmittel und nicht als Sinnbildungsmittel versteht, könnte man von einer wirkliche Gegnerschaft der Mystik zur Sprache sprechen. Wenn man dagegen annimmt, dass das Schweigen und das paradoxe Sprechen in der Mystik kein wirkliches Verstummen ist, sondern eher ein Indiz dafür, dass man in der Anstrengung begriffen ist, neue Denk- und Mitteilungsformen zu entwickeln, dann kann man sogar eine besondere Sprachsensibilität der Mystik annehmen. Die faktische Sprachnähe der Mystik dokumentiert sich dann nicht nur in der Ausbildung neuer Wort-, Begriffs- und Aussageformen, sondern auch im intensiven Gebrauch von Negationsformen aller Art, die gerade wegen ihrer reflexionsthematischen Interpretationsfunktion und ihrer sprachlichen Selbstreferenz immer ein hohes sprachschöpferisches Sinnbildungspotenzial haben können. Das mystische Schweigen und Negieren ist deshalb nicht nur als Hinweis auf einen bestimmten psychischen Zustand von Menschen im Kontext von sprachlichen Defiziterfahrungen zu verstehen, sondern auch als ein spezifisches Erkenntnis- bzw. Sinnbildungsverfahren, das zur Annäherung an Seinsebenen und Denkinhalte dienen soll, die nicht in der Reichweite der üblichen konventionalisierten Sprachformen liegen. Das Negieren kann dann sogar als ein ausgesprochen kreativer Sprachgebrauch verstanden werden, der dazu dient, sich von der Schwerkraft der üblichen Denkgewohnheiten, Vorstellungserwartungen und Sprachformen zu lösen, um sich auf diese Weise neue Wahrnehmungs- und Denkebenen zu erschließen. So betrachtet gehört dann der Gebrauch und die Fortentwicklung von Negationsformen nicht nur zu der von Humboldt postulierten Grundfunktion der Sprache, „den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen“, sondern auch zu dessen Grundüberzeugung, dass es zwischen „Denkkraft und Denkkraft“ letztlich „keine andre Vermittlerin als die Sprache“ gebe bzw. dass die Sprache „von endlichen Mitteln ein unendlichen Gebrauch“ machen müsse.28 Wenn man die Mystik in dieser Denkperspektive nicht nur in einem immanenten Spannungsverhältnis zu allen konventionalisierten und verfestigten Sprachmustern sieht, sondern darüber hinaus auch zu allen erstarrten sozialen und kulturellen Institutionen, dann lässt sie sich in einem umfassenden Sinne als eine kulturelle Selbsterneuerungskraft verstehen. Diese kann in allen Gesellschaften in unterschiedlichen Ausprägungsformen in Erscheinung treten, da sie �� 28 W. von Humboldt, Werke Bd. 3 , 19693, S. 418, 139, 477.
454 � Die Negation in Religion und Theologie sich im Prinzip gegen alle Formen dogmatischen Denkens und Sprechens richtet bzw. gegen alle Formen kultureller und sprachlicher Erstarrung. Insbesondere wendet sich die Mystik direkt oder indirekt gegen die Auffassung, dass das Feld des Religiösen eine Domäne bestimmter kultureller Institutionen wie etwa der Kirche oder der Theologie sei und dass die natürlichen Volkssprachen im religiösen Leben keine konstitutive Rolle spielen dürften. Für sie hat die Religion bzw. das religiöse Sprechen und Denken einen festen Sitz im Leben. Deshalb verstehen sich die großen Mystiker, wie Haas treffend betont, auch nicht als Gelehrte bzw. „lesemeister“, sondern vielmehr als „lebmeister“.29 Aus diesem Denkansatz ergibt sich dann die natürliche Konsequenz, dass die Mystiker in ihrem Denken und Sprechen nicht an geschlossenen Begriffspyramiden und an logischen Ableitungen aus Grundaussagen interessiert waren, sondern vielmehr an allen sprachlichen Ausdrucksformen, denen ein experimenteller, analogisierender oder negierender Grundcharakter zugesprochen werden kann, da sich unter diesen Umständen das Denken nicht als ein Abbildungs- bzw. Schlussfolgerungsprozess, sondern vielmehr als ein Werdens- bzw. Sinnbildungsprozess verstehen lässt. In einen solchen Sprachgebrauch lassen sich Negationsformen dann auch ganz selbstverständlich nicht nur für logische Ausschlussoperationen verwenden, sondern immer auch für anregende Provokationen. Wenn die Mystiker in ihrem Sprechen immer wieder Negationsformen verwenden, dann ist das nur vordergründig als Hinweis auf Unzulänglichkeiten der Sprache bei der Objektivierung von bestimmten konkreten Denkinhalten zu verstehen. Hintergründig ist es meist auch ein Indiz dafür, dass die Mystiker die Sinnbildungskraft der Sprache nicht nur auf der Ebene ihrer jeweilig gegebenen konventionalisierten Formen zu nutzen wissen, sondern auch auf der Ebene ihrer Fähigkeiten für die Gestaltung neuartiger Sinnbildungsprozesse. Gerade weil die Mystiker anstreben, die Sprache nicht nur objektsprachlich und sachthematisch zu verwenden, sondern auch metasprachlich und reflexionsthematisch, stellt sich nun die Aufgabe, den mystischen Gebrauch von Negationsformen und Negationsverfahren näher zu untersuchen. Dabei darf man dann allerdings nicht aus den Augen verlieren, dass gerade der exzessive Gebrauch von Negationen auch die Gefahr heraufbeschwören kann, eine esoterische Privatsprache zu entwickeln, die intersubjektiv unverständlich werden kann.
�� 29 A. M. Haas, Die deutsche Mystik im Spannungsbereich von Theologie und Spiritualität, in: L. Grenzmann/K. Stackmann (Hrsg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, 1994, S. 609.
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9.3.3 Der Negationsgebrauch im mystischen Sprechen Die Frage nach dem Gebrauch von Negationsformen und Negationsverfahren im mystischen Sprechen ist nicht leicht zu beantworten, weil das Spektrum von Negationsbedürfnissen hier außerordentlich groß ist. Es reicht von der Unzufriedenheit mit den vorhandenen Sprachmustern für die jeweiligen religiösen Ausdrucksbedürfnisse bis zur Suche nach sprachlichen Ausdrucksformen, mit denen auf Gott Bezug genommen werden kann, ohne ihn als Ding unter Dingen wahrnehmen zu müssen. Der Gebrauch von Negationen in der Mystik ähnelt so gesehen einer Pilgerfahrt, bei der man sich sukzessiv von seinen vertrauten sprachlichen Denkformen und Objektivierungsverfahren lösen muss, um Zugang zu neuen Denk- und Vorstellungswelten finden zu können. Eben dieser Strukturzusammenhang ist nun nicht nur als ein rein mystischer oder religiöser Problemzusammenhang zu verstehen, sondern zugleich immer auch als ein kulturgeschichtlicher, für den die Mystik nur ein besonders illustratives Beispiel ist. Die in ihm aktuellen sprachlichen Sinnbildungsansprüche kommen ohne metaphorische und negierende Redeweisen überhaupt nicht aus. Beide ermöglichen es nämlich, das Medium Sprache zu gebrauchen, ohne ihren vorstrukturierenden Denkformen ganz zu verfallen. Beide gestatten es wegen ihrer reflexionsthematischen Implikationen, die Sprache unter Vorbehalt zu verwenden. Angesichts der nicht immer direkt zu erfüllenden anspruchsvollen sprachlichen Sinnbildungsziele muss man in keine faktische Sprachlosigkeit mehr verfallen. Auf einer sehr elementaren Ebene offenbart sich die große sprachschöpferische Leistung der Mystik in der Bildung von abstrakten Substantiven. Das ist ein klares Zeichen dafür, dass man sich nicht mehr mit solchen Begriffsmustern zufrieden gibt, die sich nur auf die sprachliche Bewältigung von sinnlich direkt fassbaren Phänomenen beziehen. Für ihre spezifischen Sinnbildungsbedürfnisse benötigt die Mystik Denkmuster, mit denen sich auch verborgene bzw. abstrakte Strukturverhältnisse sprachlich thematisieren lassen. Die sprachliche Objektivierung von solchen abstrakten Begriffsmustern ist im Prinzip auch als eine Relativierung des Geltungsanspruchs von solchen Substantiven zu verstehen, die sich auf die sprachliche bzw. begriffliche Kategorisierung der sinnlich fassbaren Erfahrungswelt beschränken. Dabei ist natürlich immer zu beachten, dass ohne solche abstrakten Begriffsmuster auch der philosophische und wissenschaftliche Sprachgebrauch letztlich gar nicht denkbar ist. Diesbezüglich ist nun festzuhalten, dass im Deutschen unsere substantivischen Abstrakta mit den Suffixen -heit, -keit und -ung auf die Wortbildungsanstrengungen der Mystiker zurückgehen. Diese Wortbildungsmorpheme leisten im Deutschen das, was im Lateinischen die Wortbildungssuffixe -tas (veritas)
456 � Die Negation in Religion und Theologie bzw. -tio (revolutio) leisten. Mit ihrer Hilfe lassen sich sprachliche Objektivierungsformen ausbilden, mit denen man die Welt abstrakter Ordnungsformen bzw. platonischer Ideen thematisieren kann, die vielleicht hinter unseren individuellen konkreten Einzelwahrnehmungen stehen. Auf solche abstrakten Begriffsmuster können wir überhaupt nicht verzichten, wenn wir unsere rein sinnliche fassbare Erfahrungswelt transzendieren wollen, um auch die verborgenen Ordnungsstrukturen zu erfassen, die möglicherweise als formbildende Prinzipien hinter den sinnlich fassbaren Ordnungsgestalten stehen. Solche Abstrakta haben die Mystiker auf der Basis vorhandener Substantive, Verben und Adjektive gebildet, mit denen ursprünglich sinnlich fassbare Einzelphänomene kategorial benannt werden konnten (mensch/menschheit, erfüllen/erfüllunge, ȋtel/ȋtelkeit, viel/vielheit). Sogar aus Zahlwörtern und Pronomen haben die Mystiker abstrakte Begriffe hergestellt (drȋ/drȋheit, ich/ichheit).30 Der Bedarf der Mystiker an expliziten Negationsmitteln bei der Bildung von neuen Begriffsmustern wird ganz offensichtlich, wenn sie in ihren innovativen Begriffsbildungsprozessen auf Negationspräfixe und Negationssuffixe zurückgreifen. Bei diesen Verfahren wird eine sinnlich fassbare Grundvorstellung mit dem Ziel thematisiert, sie hinsichtlich ihres üblichen semantischen Geltungsanspruchs aufzuheben bzw. zu überwinden. Auf diese Weise wollen sie einen Denkprozess in Gang setzen, in dem eine bestimmte Vorstellung ins Bewusstsein gerufen wird, um sie im Hinblick auf eine höherrangiges Sinnbildungsziel zu überwinden, ohne sie dabei allerdings vollständig zu vernichten oder gar für sinnlos erklären zu müssen. In solchen Sinnbildungsanstrengungen können dann selbst neu gebildete Abstrakta durch Negationspräfixe in ihrem Geltungsanspruch wiederum in Frage gestellt werden (ungeschaffenheit, unwizzenheit). Wenn die Mystiker bei ihren neuen Wortbildungen ständig auf Negationsmorpheme zurückgreifen (unȗzsprechlich, wortelos, namelos, freudelos) dann verlassen sie ja die Sprache nicht, sondern machen nur von den evolutionär entwickelten Selbsterneuerungskräften der Sprache einen sehr intensiven Gebrauch. Zu diesen gehören im Sinne einer sprachlichen Universalie dann zweifellos auch die sprachlichen Negationsverfahren in Wortbildungsprozessen. In dieser Wahrnehmungsperspektive wird nun auch verständlich, warum die Mystiker auch vor einem paradoxen Sprachgebrauch keineswegs zurückschrecken. Paradoxe Redeweisen entziehen sich nämlich ebenso wie metapho-
�� 30 Vgl. J. Quint, Mystik und Sprache, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 27, 1953, S. 72f. J. Quint, Die Sprache Meister Eckeharts als Ausdruck seiner mystischen Geisteswelt, a. a. O., 6, 1928, S. 684ff.
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rische der üblichen Bewertung nach wahr und falsch im Denkrahmen der zweiwertigen Logik, da sich in ihnen sachthematische und reflexionsthematische Informationen ineinander verschlingen. Deshalb hat Novalis dann auch betont, dass eine paradoxe Äußerung dem Menschen „schlechterdings keinen Frieden ließe“, weil sie ihn „immer anzöge, und abstieße“ und ihn eben deswegen auch ständig beschäme. „Nach alten mystischen Sagen ist Gott für die Geister etwas Ähnliches.“31 Das Paradoxon ist für ihn daher eine Sprachform, die dazu auffordere, etwas zu denken, was üblicherweise nicht gedacht werden könne. Paradoxe Aussagen sind für die Mystiker deshalb so attraktiv, weil sie einerseits Alternativen zum Schweigen angesichts eines Übermächtigen sind und weil sie andererseits das Denken ständig in Fluss halten, insofern sie immanent auf die Grenzen der begrifflichen Aussagemöglichkeiten aufmerksam machen. Meister Eckhart hat deswegen auch Sätze über Gott formuliert, die sich das begriffliche Denken eigentlich streng verbieten müsste, die aber dem mystischen Denken durchaus naheliegen, weil sie unsere üblichen begrifflichen Unterscheidungen bei der Rede über Gott sehr konsequent in Frage stellen. Got und ich wir sint ein. Das ouge, dȃ inne ich got sihe, daz ist daz selbe ouge, dȃ inne mich got sihet; min ouge und gotes ouge, daz ist éin ouge und éin gesiht und éin bekennen und éin minnen.“32
Wenn Gott im mystischen Denken und Sprechen immer wieder mit dem absoluten Privativum Nichts thematisiert bzw. bezeichnet wird, dann wirkt das auf den ersten Blick höchst widersinnig, da üblicherweise ja angenommen wird, dass Gott gleichsam das höchst Sein repräsentiere. Diese Sichtweise auf Gott wird nur dann verständlich, wenn wir annehmen, dass über diese Redeweise ausgedrückt werden soll, dass Gott sowohl vor als auch hinter allem Seienden anzusiedeln ist und eben deshalb auch nicht auf unmittelbare Weise als substanziell fassbare Seinsgröße fassbar und beschreibbar ist, sondern allenfalls auf dimensionale Weise als eine bedingende Ermöglichungsgröße für gegebene Seinsgrößen. Haas hat deshalb die sprachliche Thematisierung von Gott als Nichts auch als Ausdrucksform einer „Sprengmetaphorik“ bezeichnet, die darauf aufmerksam machen solle, Gott als eine Überwesenheit zu verstehen, die von den üblichen innerweltlichen sprachlichen Objektivierungskategorien nicht erfasst wer-
�� 31 Novalis, Logische Fragmente, Werke Bd. 2, 1999, S. 314. Vgl. auch S. 395, Nr. 59. 32 Zitiert nach A. M. Haas, Das mystische Paradox, in: P. Geyer/R. Hagenbüchle, Das Paradox, 20022, S. 280 und S. 285‒286.
458 � Die Negation in Religion und Theologie den könne und die sich daher auch nicht auf die übliche Weise sprachlich objektivieren lasse.33 Wenn man dieser relationalen Bestimmung des Sinns der Begriffsbildung Nichts folgt, dann lässt sich diese Vorstellung sicherlich mit dem mystischen Gottesgedanken in Verbindung bringen. Man könnte zwar einwenden, dass diese Gottesvorstellung eine rein denkbezogene menschlich Projektion sei, aber phänomenologisch und kausaltheoretisch wäre sie keineswegs absurd oder willkürlich, weil sie zumindest ein Versuch darstellt, etwas zur Sprache zu bringen, was jenseits der üblichen sprachlichen Objektivierungsverfahren liegt. Ein sehr aufschlussreiches Beispiel dafür, wie Mystiker mit Hilfe von Negationen über Gott zu sprechen versuchen, ist das Gedicht ›Der unerkandte Gott‹ des Mystikers Angelus Silesius aus dem Zeitalter des Barock. In ihm dokumentiert sich sehr klar die Grundüberzeugung der Mystiker, dass man über Gott nicht angemessen mit Begriffen sprechen kann, mit denen wir über unsere profane Alltagswelt sprechen, bzw. dass sich Gott im Netz dieser Begriffe weder kognitiv einfangen noch beherrschen lässt. Der unerkandte Gott Was GOtt ist weiß man nicht: / Er ist nicht Licht / nicht Geist/ Nicht Wonnigkeit / nicht Eins / nicht was man Gottheit heist: Nicht Weißheit / nicht Verstand / nicht Liebe / Wille / Gütte: kein Ding / kein Unding auch / kein Wesen / kein Gemütte: Er ist was ich / und du / und keine Creatur/ Eh wir geworden sind was Er ist / nie erfuhr.34
9.4 Die Negation im theologischen Sprachgebrauch Da sich der theologische Sprachgebrauch historisch als ein argumentativ orientierter Sprachgebrauch aus dem religiösen Sprachgebrauch entwickelt hat, ist er mit diesem inhaltlich natürlich eng verwandt. Gleichzeitig steht er zu diesem aber auch in einer spezifischen Oppositionsbeziehung, weil mit ihm durchaus andere kognitive und kommunikative Zielsetzungen verbunden sind. Das legt dann auch nahe, beide Gebrauchsformen von Sprache als unterschiedliche Sprachspiele zu verstehen, insofern sie in unterschiedliche Denk- und Lebens-
�� 33 A. M. Haas, Das Nichts Gottes und seine Sprengmetaphorik, in: H. Herwig u. a. (Hrsg.), Lese ‒ Zeichen, 1999, S. 53‒70. 34 Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann IV, 21, 1984, S. 154.
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formen eingebunden sind und eben deshalb auch mit unterschiedlichen Affirmations- und Negationsintentionen verbunden sind. Aus der sprachlichen Genese des Theologiebegriffs ergibt sich, dass dieser zunächst insbesondere dazu dienen sollte, alle Aussagen über Gott bzw. über göttliche Offenbarungen kategorial zusammenzufassen und zu systematisieren. Entsprechend des recht großen Umfangs des griechischen Begriffs logos (Vernunft, Theorie, Sprache, Aussage) konnte man deshalb mit dem Terminus Theologie zunächst sowohl auf Geschichten und Mythen über Götter bzw. Gott Bezug nehmen als auch auf theoretische Äußerungen über die Sphäre des Göttlichen bzw. des Transzendenten. Erst nach und nach hat sich der Begriff Theologie unter dem Einfluss monotheistischer religiöser Vorstellungen in den Buchreligionen so verengt, aber auch präzisiert, dass er nur noch argumentativ verwendbare Aussagen über Gott betraf bzw. Aussagen über das, was in den heiligen Offenbarungsbüchern von Gott mitgeteilt worden war und was dementsprechend als Gegenstand des religiösen Glaubens anzusehen war. Aus diesem kulturgeschichtlichen Tatbestand ergeben sich nun wichtige sprachtheoretische Konsequenzen. Die Struktur des theologischen Sprachgebrauchs lässt sich gleichsam exemplarisch für alle Sprachverwendungsformen untersuchen, die sich auf Denkinhalte beziehen, die sich einer direkten empirisch-sinnlichen Erfahrungskontrolle und Verifizierbarkeit entziehen, aber die dennoch eine intersubjektiv verständliche sprachliche Objektivierungsform gefunden haben bzw. suchen. Dabei ist auch zu beachten, dass diese Denkinhalte zugleich auch eine große anthropologische Bedeutsamkeit haben, weil sie etwas mit menschlichen Orientierungsbedürfnissen zu tun haben bzw. mit den menschlichen Anstrengungen, das unmittelbar sinnlich fassbare in umfassendere Ordnungszusammenhänge einzubetten. Theologische Verstehens- und Sinnbildungsprozesse exemplifizieren deshalb strukturell noch klarer als philosophische, was es heißt, mittels Sprache die Objektsphäre und die Subjektsphäre des Denkens miteinander in Beziehung zu setzen und Wahrnehmungsprozesse nicht nur als deskriptiv orientierte Kontemplationsprozesse anzusehen, sondern auch als konstruktiv orientierte Gestaltungs- und Sinnbildungsprozesse. Diese Problemlage tritt besonders deutlich hervor, wenn wir diesbezüglich auch auf den Begriff des Glaubens Bezug nehmen. Dieser Begriff spielt ja nicht nur im Kontext der Theologie und der Offenbarungsschriften eine wichtige Rolle, sondern auch in allen Formen von Theoriebildungen, weil diese ohne die Setzung und Übernahme von bestimmten Denkprämissen gar nicht denkbar sind. Auch den wissenschaftlichen Aussagen liegen letztlich immer Wenn-DannRelationen zugrunde bzw. Denkprämissen, die meist unthematisiert und unproblematisiert in bestimmte Denkergebnisse eingehen.
460 � Die Negation in Religion und Theologie In theologischen Sinnbildungsverfahren wird das nur sehr viel offensichtlicher als in philosophischen und wissenschaftlichen, weil in ihnen neben der Objektorientierung auch die Subjektorientierung sehr viel deutlich hervortritt. Die mittelalterliche Formel von Anselm von Canterbury bzw. Augustin, dass man etwas glauben müsse, um etwas erkennen zu können (credo ut intelligam), thematisiert das sehr klar. Der Theologe Paul Tillich hat deshalb den Sachbezug der Theologie auch auf sehr dezidierte Weise folgendermaßen gekennzeichnet: „Der Gegenstand der Theologie ist das, was uns unbedingt angeht.“35 Wenn man die Aufgaben der Theologie in dieser Perspektive ins Auge fasst, dann wird offensichtlich, dass die Strukturanalyse theologischer Sprachspiele eine Erhellungsfunktion für die Strukturanalyse aller komplexen sprachlichen Sinnbildungsanstrengungen und Denkbedürfnisse hat, die als geistig bedeutsam angesehen werden. An ihr lässt sich exemplarisch demonstrieren, welche semiotischen Probleme sich in mehrschichtigen und polyfunktionalen Sprachgebrauchssituationen stellen und welche Rolle insbesondere Negationsverfahren und Negationszeichen dabei spielen können.
9.4.1 Die Zielorientierung des theologischen Sprachgebrauchs Pragmatisch gesehen unterscheidet sich der theologische vom religiösen Sprachgebrauch insbesondere dadurch, dass der religiöse eher eine evokative Funktion hat, insofern er von einer profanen Welt in eine nicht-profane Welt führen will, und der theologische eher eine kognitive Funktion, insofern er kognitiv und argumentativ über eine transzendente Welt bzw. über begrifflich konkretisierbare Gottesvorstellungen aufklären will. Deshalb kann der religiöse Sprachgebrauch auch problemlos narrative, metaphorische und rituelle Redeweisen nutzen, während der theologische primär auf begriffliche zurückzugreifen hat, obwohl er letztlich aber auch auf bildliche angewiesen ist, insofern er ja oft interpretierend von solchen ausgeht oder zusammenfassend bei solchen endet. Sowohl für das religiöse als auch für das theologische Sprechen ist jedenfalls konstitutiv, dass beide immer wieder auf die Grenzen unserer sprachlichen Objektivierungs- und Artikulationsmöglichkeiten stoßen und dass beide darauf angewiesen sind, auf umfassende Weise zwischen dem Objekt- und dem Subjektbezug des Denkens zu vermitteln. Von dieser pragmatischen Aufgabe können beide Formen des Sprachgebrauchs methodisch nicht abstrahieren, ohne �� 35 P. Tillich, Die Frage nach dem Unbedingten, Gesammelte Werke Bd. 5, 1964, S. 173.
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sich selbst irrelevant zu machen. Das bedeutet insbesondere für den theologischen Sprachgebrauch, dass er auf metasprachliche bzw. metakommunikative und selbstinterpretative Sprachschleifen nicht verzichten kann, wenn er seine anthropologische Relevanz und semiotische Sensibilität nicht verlieren will. Diese Strukturverhältnisse könnten die Auffassung nahelegen, dass der theologische Sprachgebrauch gegenüber dem religiösen nicht nur der kulturgeschichtlich spätere, sondern auch der qualitativ höherwertige sei. So hat beispielsweise Hegel in seinem kulturgeschichtlichen bzw. philosophischen Fortschrittsglauben betont, dass die begriffliche Wahrnehmungsform prinzipiell höherrangiger als andere sei, weil in ihr alle anderen im zweifachen oder gar dreifachen Sinne aufgehoben würden, nämlich beseitigt, bewahrt und hochgehoben.36 Diese erkenntnistheoretische Hierarchisierung der Denk- und Sprachformen hat natürlich sowohl in der Philosophie als auch in der Theologie ihre Anhänger und Gegner gefunden. Das dokumentieren die Auseinandersetzungen über die Eliminierung von metaphorischen Begriffsbildungen und Aussagen in der Philosophie und der Streit über die Möglichkeiten der Entmythologisierung biblischer Aussagen in der Theologie sehr deutlich. Immer wieder ist betont worden, dass Philosophie und Theologie die Anstrengungen des Begriffs nicht scheuen dürften, wenn sie ihren Aufgaben gerecht werden wollten. Immer wieder ist aber auch betont worden, dass beide Denkweisen sich selbst strangulierten, wenn sie bildliche und narrative Sinnbildungsanstrengungen nicht ernst nähmen und nutzten. Ansonsten würden sie nämlich die Antriebskräfte und Wurzeln ihres Denkens und Wahrnehmens aus dem Blick verlieren und zugleich die Chance verspielen, die Ergebnisse des begrifflichen Denkens in prägnanten Sinnbildern gestalthaft und pragmatisch wirksam zusammenzufassen. So betrachtet ließe sich dann das Verhältnis von religiösem und theologischem Sprachgebrauch in Analogie zum bildlichen und begrifflichen als ein symbiotisches Verhältnis ansehen, in dem wechselseitig die Schwächen und Stärken des jeweils anderen ausgeglichen werden. Das bedeutet, dass sich beide Sprachverwendungsweisen zwar vordergründig wechselseitig negieren, aber hintergründig durchaus ergänzen und interpretieren. Auf sehr pointierte Weise hat der jüdische Religionswissenschaftler Pinchas Lapide darauf aufmerksam gemacht, dass die beiden biblischen Testamente anfangs als heilige bzw. religiöse Texte verstanden wurden, die einer unmittelbaren Gotteserfahrung Ausdruck zu geben versuchten und die eben deshalb zu�� 36 G. W. F. Hegel, Wissenschaft von der Logik I, Werke Bd. 5, 1986, S. 113f.
462 � Die Negation in Religion und Theologie nächst auch eher eine evokative als eine feststellende Mitteilungsfunktion gehabt hätten. „Erst viel später wurden sie von abendländischen Theologen kalt gelesen, zerebral ausgelegt und wissenschaftlich entmythologisiert.“37 Für Lapide ist die biblische Sprache keine „Himmelssprache“, die in einem direkten Sinne ewige Wahrheiten verkünde, sondern vielmehr eine Übersetzungssprache, die etwas vermitteln wolle und die eben deshalb in einem ziemlich wörtlich zu verstehenden Sinne von einem anderen Ufer komme. Im Kontext seiner Überlegungen zu Übersetzungsproblematik kommt er dann zu einer sehr bemerkenswerten These: „Es gibt im Grunde nur zwei Arten des Umgangs mit der Bibel: man kann sie wörtlich nehmen oder man nimmt sie ernst. Beides zusammen verträgt sich nur schlecht.“38 Den von Lapide thematisierten Antagonismus bei der Rezeption biblischer Texte kann die Theologie nun allerdings zu einem fruchtbaren Antagonismus machen, wenn sie ihre jeweiligen Sachaussagen dogmatisch nicht so verhärtet, dass aus einzelnen perspektivierenden Erschließungssätzen abschließende dogmatische Behauptungssätzen werden. Theologische Aussagen wären dementsprechend dann immer so zu gestalten, dass ihnen keine kalte Lektüre der jeweiligen Bezugstexte zu Grunde gelegt wird, sondern eine Lektüre, die Antworten auf zentrale menschliche Sinnfragen sucht, die zwar verdrängt werden können, die aber keineswegs als gegenstandslos oder gar als unsinnig zu betrachten sind. So gesehen hätte dann auch der theologische Sprachgebrauch mit seinen spezifischen Affirmationen und Negationen eine große strukturelle Ähnlichkeit mit einem hermeneutisch orientierten philosophisch-ontologischen. Dieser ließe sich mit Gadamer dadurch bestimmen, dass er letztlich nicht auf den Bau von Lehrgebäuden oder gar ontologischen Dogmen hinausläuft, sondern vielmehr auf die Verschmelzung von zunächst isolierten Denkhorizonten bzw. Wissensbeständen. Beide Sinnbildungsanstrengungen wären dann im Prinzip als faktisch unabschließbare dialogische Prozesse zu verstehen, in denen Antworten zu Fragen werden können und Fragen zu Antworten. Infolgedessen kommt Gadamer dann auch zu der folgenden programmatischen hermeneutischen Grundthese: „Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte.“39 Diese Verschmelzung von vermeintlich eigenständigen Denkhorizonten ist für Gadamer „die eigentliche Leistung der Sprache“, die man nicht völlig in seine
�� 37 P. Lapide, Ist die Bibel richtig übersetzt? 19893, S. 8. 38 P. Lapide, a. a. O. 19893, S. 12. 39 H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 19652, S. 289.
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Gewalt bringen könne, insofern sie einen genuin sozialen Charakter habe und deshalb die Vorbedingung von Subjektivität und Intersubjektivität sei bzw. von Sinnbildungsanstrengungen aller Art.40 Aus diesem Grunde kann dann auch sowohl der philosophische als auch der theologische Sprachgebrauch nicht auf metaphorische bzw. sinnbildliche Redeweisen verzichten, da in beiden Sprachgebrauchsweisen ja nicht nur etwas festgestellt, sondern auch etwas verstanden werden soll. Gerade das setzt dann aber sowohl die Nutzung von sachthematischen als auch von reflexionsthematischen Sinnbildungsverfahren voraus, wozu dann natürlich nicht zuletzt neben den bildlichen auch die negierenden Sprachmittel zu rechnen sind.
9.4.2 Der Negationsgebrauch bei transzendenten Denkinhalten Am Beispiel von zwei fiktiven, aber dennoch sehr illustrativen Geschichten, soll nun veranschaulicht werden, welche Rolle Analogisierungs- und Negationsverfahren spielen können, wenn erfahrungstranszendente bzw. nicht-empirische Denkinhalte sprachlich objektiviert und intersubjektiv vermittelt werden sollen. Zu diesen gehören sicherlich Gottesvorstellungen bzw. die theologische Denkkonzepte über die Existenz und die Wirkungsmöglichkeiten eines höheren Wesens. Bei der ersten Geschichte geht es einerseits um das Problem, ob man aus der Existenz einer geordneten Welt auf die Existenz eines ordnungsstiftenden Schöpfergottes schließen kann bzw. aus der Existenz eines geordneten Gartens auf die Existenz eines ordnungsstiftenden Gärtners, und andererseits um das Problem, ob sich solche Hypothesen experimentell überprüfen bzw. verifizieren lassen. Bei der zweiten Geschichte geht es um die Frage, ob und wie ein visionsbegabtes Muscheltier anderen Muscheltieren, die nur über sehr begrenzte Erfahrungs- und Denkmöglichkeiten verfügen bzw. über sehr eingeschränkte Einbildungskräfte, etwas über die Existenzform eines Menschen als eines höheren Wesens objektivieren und vermitteln kann. Die erste Gleichnisgeschichte stammt von John Wisdom in der Fassung von Antony Flew. Sie ist so konzipiert, dass sie Aufschluss über diejenigen Strukturprobleme geben soll, die sich für Theisten, Atheisten und Agnostiker immer ergeben, wenn sie die Frage nach der Existenz und Wirkungsweise Gottes nach dem Vorbild und Verfahren der experimentellen Wissenschaften zu beantworten versuchen. �� 40 H.-G. Gadamer, a. a. O. 19652, S. 359.
464 � Die Negation in Religion und Theologie Es waren einmal zwei Forscher, die stießen auf eine Lichtung im Dschungel, in der unter vielem Unkraut allerlei Blumen wuchsen. Da sagt der eine: „Ein Gärtner muß dieses Stück Land pflegen.“ Der andere widerspricht: „Es gibt keinen Gärtner.“ Sie schlagen daher ihre Zelte auf und stellen Wachen aus. Kein Gärtner läßt sich jemals blicken. „Vielleicht ist es ein unsichtbarer Gärtner.“ Darauf ziehen sie einen Stacheldrahtzaun, setzen ihn unter Strom und patrouillieren mit Bluthunden. (Denn sie erinnern sich, daß ›Der unsichtbare Mann‹ von H. G. Wells zwar gerochen und gefühlt, aber nicht gesehen werden konnte.) Keine Schreie aber lassen je vermuten, daß ein Eindringling einen Schlag bekommen hätte. Keine Bewegung des Zauns verrät je einen unsichtbaren Kletterer. Die Bluthunde schlagen nie an. Doch der Gläubige ist immer noch nicht überzeugt: „Aber es gibt doch einen Gärtner, unsichtbar, unkörperlich und unempfindlich gegen elektrische Schläge, einen Gärtner, der nicht gewittert und nicht gehört werden kann, einen Gärtner, der heimlich kommt, um sich um seinen geliebten Garten zu kümmern.“ Schließlich geht dem Skeptiker die Geduld aus: „Was bleibt eigentlich von deiner ursprünglichen Behauptung noch übrig? Wie unterscheidet sich denn das, was du einen unsichtbaren, unkörperlichen, ewig unfaßbaren Gärtner nennst, von einem imaginären oder von überhaupt keinem Gärtner?“ 41
Diese gleichnishafte Erzählung zeigt sehr schön, welche methodischen und sprachlichen Probleme sich stellen, wenn wir eine Hypothese auf kontrollierte bzw. wissenschaftliche Weise zu verifizieren oder zu falsifizieren versuchen. Es wird sehr offensichtlich, dass wir die damit verbundenen Fragen nur dann sinnvoll beantworten können, wenn wir uns vorab auch darüber verständigen, im Rahmen welcher Realitäts- bzw. welcher Methoden- und Sprachvorstellungen wir eine solche Aufgabe überhaupt bewältigen können. Im Fall dieser Geschichte wäre dann vor allem zu klären, was wir mit den Wörtern Gärtner oder Gott überhaupt benennen wollen und welche Verifikationsverfahren wir für die jeweiligen Existenzannahmen akzeptieren und welche nicht. Dieses Problem verdeutlicht sich in unserer Geschichte insbesondere dadurch, dass der Befürworter der Gärtnerhypothese seinen Begriff des Gärtners sofort ändert, wenn ein bestimmtes empirisches Verifikationsverfahren scheitert (sichtbarer/unsichtbarer, körperlicher/unkörperlicher Gärtner). Sein Kontrahent fragt deshalb zu Recht, wie sich denn ein methodisch nicht fassbarer Gärtner von einem rein imaginären unterscheide. Diese Frage wirft dann zugleich auch das Problem auf, ob nur das existiert, was wir mit unseren prinzipiell immer beschränkten, wenn auch verbesserbaren Methoden, begrifflich thematisieren bzw. faktisch nachweisen können.
�� 41 A. Flew, Beitrag zum Symposium „Theologie und Falsifikation“, in: I. U. Dalferth (Hrsg.), Sprachlogik des Glaubens, 1974, S. 84. Die ursprüngliche Fassung der Geschichte von John Wisdom ist in demselben Sammelband abgedruckt, S. 69‒70.
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Wenn man aus der Erfahrung eines geordneten Gartens auf die Existenz und Wirksamkeit eines dafür ursächlichen Gärtners schließt bzw. analog dazu von der Existenz eines geordneten Kosmos auf die Existenz eines dafür verantwortlichen Schöpfers, dann stellt sich natürlich die grundsätzliche Frage, ob wir mit einem solchen Denkmodell theologisch überhaupt sinnvoll arbeiten können, weil es zweifellos einen sehr anthropomorphen bzw. soziomorphen Charakter hat. Ist Gott in dem Sinne Schöpfer der Welt, wie ein Gärtner Schöpfer eines Gartens sein kann? Ist Gott in dem Sinne Vater bzw. Mutter, in dem Menschen diese biologische bzw. soziale Rolle ausfüllen? Ist Gott in dem Sinne Richter, wie Menschen diese Funktion wahrnehmen können? All diese Fragen machen deutlich, wie schwer es ist, Gottesvorstellungen zu entwickeln, die nicht affirmierend oder negierend auf schon vorhandene Denkund Sprachmuster Bezug nehmen (gerechter Gott, unsichtbarer Gott, Schöpfergott, allmächtiger Gott, Gott als Nichts). So signalisiert beispielsweise schon die Wort- und Begriffsbildung Atheist, dass eine damit bezeichnete Person von einer Basisvorstellung über die religiöse Grundorientierung von Menschen abweicht und dass sie eben deswegen diese Abweichung dann auch zu motivieren oder gar zu begründen hat. Ein Atheist würde diesen immanenten Rechtfertigungsdruck aber wohl als gegenstandslos ablehnen und eher dem Theisten die Beweislast für seine Gottesannahme auferlegen, sofern so etwas für ihn überhaupt ein sinnvolles Beweisthema darstellt. Die beiden Forscher in unserem Gleichnis sind als Wissenschaftler im Prinzip Skeptiker, insofern sie gewohnt sind, vorgeschlagene Hypothesen nicht einfach hinzunehmen, sondern auf ihren Wahrheitsgehalt bzw. Realitätsbezug zu überprüfen, wobei dann meist insbesondere Kausalitätsketten im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Der Vertreter der Gärtnerhypothese scheitert allerdings mit allen Versuchen, seine Annahme experimentell zu beweisen bzw. so zu modifizieren, dass sie beweisbar wird. Umgekehrt würde allerdings auch der andere Forscher scheitern, wenn er die Existenz des geordneten Gartens auf nachprüfbare Weise ursächlich erklären wollte. Auch die mögliche Hypothese, dass der vorgefundene Garten als Produkt eines natürlichen Evolutionsprozesses anzusehen sei, wäre experimentell bzw. empirisch wohl ebenfalls schwerlich zu beweisen. Die Annahme, dass der faktisch wahrnehmbare Garten ein Produkt aus Zufall und Notwendigkeit sei, wäre jedenfalls auch nicht besonders plausibel. Wenn wir diese Geschichte als ein Gleichnis für das Problem der Existenzannahme eines allmächtigen, aber wissenschaftlich nicht fassbaren Schöpfergottes verstehen, dann gewinnt sie eine spezifische geistige Tiefendimension. Diese bestünde dann insbesondere darin, dass sie uns sowohl auf die kognitiven als auch auf die anthropologischen Implikationen des Kausalprinzips auf-
466 � Die Negation in Religion und Theologie merksam macht. Dieses strukturiert im Sinne des Apriori-Gedankens von Kant nämlich nicht nur unser alltägliches und wissenschaftliches Denken und Sprechen auf sehr grundlegende Weise, sondern hat auch konstitutive Bezüge zu unserer Gottesvorstellung bzw. zu der Affirmations- und Negationsproblematik in theologischen Argumentationsprozessen. Wenn man seine Gottesvorstellung so konzipiert, dass Gott als Ursache von allem Existierenden angesehen wird bzw. als erste aller denkbaren Ursachen, dann kann er nach den Prinzipien unserer üblichen Schlussfolgerungslogik nicht selbst unter die strukturierende Herrschaft des Kausalitätsprinzips fallen, weil er ja als entscheidende Voraussetzung der Wirksamkeit dieses Prinzips anzusehen ist. Deshalb hat Kant dann auch betont, dass die Existenz Gottes weder bewiesen noch negiert werden könne, aber dass man sie als Postulat der praktischen Vernunft ansehen könne.42 Das bedeutet dann auch, dass die experimentellen und begrifflichen Verifikationsverfahren für die Existenz eines allmächtigen Schöpfergottes ebenso zum Scheitern verurteilt sind wie die für die Existenz eines unsichtbaren Gärtners, weil man in beiden Fällen ja immer in den Strukturbedingungen des Kausalitätsprinzips als eines apriorischen Denkprinzips gefangen bliebe. Die Affirmations- und Negationsproblematik im erkenntnistheoretischen Denken darf nicht nur systemimmanent auf die Frage reduziert werden, ob eine Hypothese zu bestätigen oder zu verwerfen ist, sondern muss auch auf die Frage ausgedehnt werden, ob unsere Verifikations- bzw. Falsifikationsverfahren bei der wahrheitstheoretischen Beurteilung der jeweiligen Fragestellung überhaupt greifen. Wenn wir diese Frage nicht stellen, dann lassen sich sowohl im fachwissenschaftlichen als auch im philosophischen und theologischen Denken Negationen als Mittel der Selbstkorrektur des Denkens nicht sinnvoll nutzen. Gerade bei der Verwendung von Negationen im theologischen Denken gilt, was Kant wie schon erwähnt für alle anspruchsvollen Denkprozesse postuliert hat: „Das: I c h d e n k e muss alle meine Vorstellungen begleiten k ö n n e n.“ 43 Wenn man so denkt, dann lässt sich das Gärtnergleichnis durchaus auch als ein wissenschaftskritisches Gleichnis verstehen, das uns darauf aufmerksam machen kann, dass nicht nur alltägliche, sondern auch wissenschaftliche Negationsverfahren immer nur eine begrenzte Reichweite bzw. einen ganz begrenzten Geltungsanspruch haben. Das bedeutet, dass der Aussageinhalt bzw. die Argumentationskraft des Gärtnergleichnisses mit unseren experimentellen Verifikations- und Falsifikationsverfahren kaum abschließend auf sinnvolle Weise
�� 42 Vgl. I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A. 220, 239, Werke Bd. 7, 19762, S. 252 , 264. 43 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 132, Werke Bd. 3, 19762, S. 136.
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beurteilt werden kann. Allenfalls lässt sich sagen, dass die Annahme eines konkreten Gärtners im üblichen sachthematischen Sinne eine etwas voreilige menschliche Projektion darstellt, die in jedem Fall zu modifizieren ist. Die zweite fiktive Geschichte zur Problematik des Gebrauchs von Negationen in Bezug auf transzendente Denkinhalte thematisiert die Frage, wie man Gesprächspartnern Denk- bzw. Wahrnehmungsinhalte vermitteln kann, die außerhalb des Rahmen von deren sinnlichen und kognitiven Wahrnehmungsmöglichkeiten liegen. Das wird am Beispiel eines visionsfähigen Muscheltieres demonstriert, das seine individuelle Vision vom Menschen anderen Muscheltieren mit sehr begrenzten Wahrnehmungs- und Vorstellungsmöglichkeiten mitzuteilen versucht. Dabei wird dann das Problem aktuell, ob bzw. inwieweit man faktische Wissensdefizite mit Hilfe der Negierung des jeweils gegebenen Wissens thematisieren, überbrücken oder gar ausgleichen kann und inwieweit es in Verstehensprozessen zu einer sachgerechten Verschmelzung von unterschiedlichen Denkhorizonten kommen kann, die dann auch unseren begrifflichen Argumentationsprozessen zugänglich sind. Stellen wir uns ein mystisches Muscheltier vor, einen Weisen unter den Muscheltieren, der (entrückt in einer Vision) eine Ahnung davon bekommt, was der Mensch ist. In dem Bericht, den er seinen Schülern darüber gibt, die selbst Visionen haben (wenn auch seltener als er), wird er viele Negationen gebrauchen müssen. Er wird ihnen sagen müssen, daß der Mensch keine Schale habe, daß er nicht an einem Felsen klebe und auch nicht von Wasser umgeben sei. Die Schüler nun, unterstützt von ihren eigenen Visionen, bekommen eine gewisse Vorstellung vom Menschen. Doch da tauchen gelehrte Muscheltiere auf, Muscheltiere, die Geschichten der Philosophie schreiben und Vorlesungen über vergleichende Religionskunde halten, die aber niemals eigene Visionen gehabt haben. Das, was sie den Worten des prophetischen Muscheltieres entnehmen, sind ausschließlich Negationen. Unkorrigiert durch jeden wirklichen Einblick, bauen sie sich daraus ein Bild vom Menschen als einer Art amorphen Gelees (hat er doch keine Schale), der an keinem bestimmten Ort existiert (klebt er doch nicht an einem Felsen) und niemals Nahrung zu sich nimmt (gibt es dort ja kein Wasser, das sie ihm zutreibt). Da sie den Menschen nun auch noch traditionellerweise verehren, kommen sie zu dem Schluß , ein ausgehungerter Wackelpudding in einer dimensionslosen Leere sei die höchste Form der Existenz; und sie lehnen jede Lehre, die dem Menschen eine bestimmte Gestalt, eine Struktur und Organe zuweist, als rohen materialistischen Aberglauben ab.44
Dieses theologische Gedankenexperiment zeigt sehr schön, dass Negationen immer auf einen bestimmten Wissensstand und den daraus resultierenden Informationserwartungen bezogen sind. Daraus ergibt sich dann das Problem, ob Negationen von den jeweiligen Negationsempfängern genauso verstanden wer�� 44 C. St. Lewis, Wunder. Möglich ‒ wahrscheinlich ‒ undenkbar? , 19802, S. 106.
468 � Die Negation in Religion und Theologie den, wie sie von den jeweiligen Negationsproduzenten gemeint worden sind. Daran muss man insbesondere dann Zweifel haben, wenn die jeweiligen Erfahrungsmöglichkeiten und die daraus resultierenden Wissensbestände der jeweiligen Kommunikanten sehr unterschiedlich sind. Unter diesen Umständen besteht nämlich die Gefahr, dass immer nur solche Informationen assimiliert und verarbeitet werden, die in das eigene Denksystem passen, und dass die Möglichkeiten nicht sehr groß sind, sich in Akkommodationsprozessen auf die Mitteilungsintentionen von Partnern wirklich einzustellen. Zwar bestehen für Menschen im Gegensatz zu Muscheltieren durch die reflexionsthematische Nutzung von Metaphern, Gleichnissen und Negationen vielfältige Möglichkeiten, die Vorstrukturierung des Denkens durch die gegebenen Wahrnehmungs- und Sprachformen abzumildern und naheliegende Vorstellungen auch zu transzendieren, aber sicherlich nicht alle. Das hat Lewis durch seine Parabel zu den Verstehensmöglichkeiten der Muscheltiere glänzend exemplifiziert. Auf dieselbe Problematik ist auch schon in einer mittelalterlichen Erzählung aufmerksam gemacht worden. Hier spekulieren zwei Mönche darüber, wie es im Himmelreich wohl aussehe und ob ihre diesbezüglichen Vorstellungen zutreffend seien. Schließlich einigen sich beide darauf, dass derjenige, der zuerst sterbe, dem anderen im Traum erscheinen und nur ein einziges Wort sagen solle, nämlich entweder taliter (So ist es.) oder aliter (Es ist anders.). Als einer der Mönche dann stirbt, erscheint er dem anderen tatsächlich im Traum. Allerdings äußert er entgegen der Absprache bzw. der vereinfachenden Alternative zwei Wörter: totaliter aliter. Diese kleine Geschichte ist für unsere Thematik auf doppelte Weise interessant. Mit dem Wort taliter soll eine vorab entwickelte Hypothese affirmiert und mit dem Wort aliter negiert werden. Mit der Formel totaliter aliter werden nun nicht nur die beiden vorab entwickelten Hypothesen negiert, sondern zugleich auch die Denkprämisse, dass das Himmelreich überhaupt im Rahmen der vereinfachenden Opposition von taliter und aliter zureichend erfasst werden könne, weil dabei nämlich auf zu viele anthropomorphe Erfahrungen und Denkmuster zurückgegriffen wird, die keine faktische Referenz im Himmelreich haben und deshalb auch keine sinnvollen Beschreibungs- und Kategorisierungsfunktionen. Mit den anthropologischen und erkenntnistheoretischen Implikationen unseres Denkens und Wahrnehmens hat sich natürlich auch Kant beschäftigen müssen, als er sich darum bemühte, diejenigen Strukturzusammenhänge aufzudecken, die als transzendentale Denkprämissen vor unseren konkreten Wahrnehmungsinhalten liegen oder die als transzendente Wahrnehmungsinhalte jenseits unserer empirischen Erkenntnismöglichkeiten liegen. In diesem Zu-
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sammenhang spricht Kant dann von einem dogmatischen und einem symbolischen Anthropomorphismus und verweist darauf, dass wir in beiden Fällen zwangsläufig immer wieder auf das Denkschema der Analogie zurückgreifen müssten, um uns das zu vergegenwärtigen, was vor oder hinter unseren konkreten Erfahrungsmöglichkeiten liegt. So bleibt uns nichts anders übrig, als die Analogie, nach der wir Erfahrungsbegriffe nutzen, um uns von intelligibelen Dingen, von denen wir an sich nicht die mindeste Kenntnis haben, doch irgend einigen Begriff zu machen.45
In diesem Zusammenhang warnt Kant davor, in einen dogmatischen Anthropomorphismus zu verfallen, der darin bestehe, substanzielle Analogien zwischen ganz unterschiedlichen Sachbereichen anzunehmen. Gerade wenn wir von einem höchsten Wesen sprächen, „dessen Begriff selbst außer aller Erkenntnis liegt, deren wir innerhalb der Welt fähig sein“, dürften wir keineswegs in einen „d o g m a t i s c h e n Anthropomorphismus“ verfallen. Allenfalls könnten wir uns einen „s y m b o l i s c h e n Anthropomorphismus“ erlauben, „der in der Tat nur die Sprache und nicht das Objekt selbst angeht.“46 Gerade bei diesem symbolischen Anthropomorphismus sind dann natürlich selbstreflexive Prozesse im Denken und Sprechen ganz unverzichtbar. In jedem Sprachgebrauch müssen sich gerade hier Affirmations- mit Negationsprozessen miteinander verbinden, wenn sinnvolle Aussagen gemacht werden sollen.
9.4.3 Die Analogie des Seins (analogia entis) Auch wenn es uns heute vielleicht naheliegt, dem theologischen Sprachgebrauch eher eine reflexionsthematische und hermeneutische als eine rein sachthematische und behauptende Sinnbildungsfunktion zuzuordnen, so dürfen wir darüber nicht vergessen, dass es zumindest historisch gesehen immer starke Tendenzen gegeben hat, diesem Sprachgebrauch auch einen unmittelbar sachverhaltsabbildenen Wahrheitsanspruch zuzuordnen. Das bedeutet dann auch, dass theologische Grundaussagen keineswegs immer als erschließende Als-ObAussagen verstanden worden sind, sondern sehr oft als dogmatische Basisaussagen mit einem direkten normativen Geltungsanspruch. An der mittelalterlichen bzw. scholastischen Lehre von der Analogie des Seins (analogia entis) lässt �� 45 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft B 594, Werke Bd. 4, 19762, S. 511. 46 I. Kant, Prolegomena zu einer künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können A 175, Werke Bd. 5, 19782, S. 232‒233.
470 � Die Negation in Religion und Theologie sich diese Problematik recht gut exemplifizieren, insofern mit dieser Denkfigur nicht nur theologische, sondern immer auch ontologische Wahrheitsansprüche verknüpft worden sind. Die Lehre von der Analogie des Seins ist nun aber nicht nur theologisch und ontologisch interessant, sondern auch sprachtheoretisch, weil in ihr der analogisierende Sprachgebrauch letztlich nicht als ein nur vorläufiger, heuristischer und übertragener Sprachgebrauch verstanden wird, sondern durchaus als ein sachlich zulässiger bzw. eigentlicher. Analogien zwischen unterschiedlichen Denkgegenständen werden nämlich nicht als bloß sprachlich gesetzt (analogia nominum), sondern vielmehr als ontisch gegeben (analogia entis) verstanden. Das bedeutet, dass es für dieses ontologisch-theologische Konzept auch keine prinzipielle Trennung von einer sinnlich wahrnehmbaren materiellen Welt auf der einen Seite und einer nur geistig thematisierbaren intelligiblen Welt auf der anderen Seite gibt, sondern vielmehr substanzielle innere Verwandtschaften bzw. vielfältige Überschneidungen zwischen beiden Welten. Mit dieser ontologischen Anschauung steht die scholastische Lehre von der Analogie des Seins keineswegs völlig allein. Beispielsweise hat Goethe die sachliche Erkenntnisfunktion des Analogieprinzips zumindest für den innerweltlichen Bereich folgendermaßen verteidigt: „Jedes Existierende ist ein Analogon alles Existierenden; daher erscheint uns das Dasein immer zu gleicher Zeit gesondert und verknüpft.“47 Auch Peirce hat in seinem Synechismus-Konzept ausdrücklich betont, dass materielle und geistige Welten bzw. sinnliche und kognitive Wahrnehmungen als zusammengehörig bzw. miteinander verwachsen zu betrachten seien, insofern sie sich wechselseitig konstituierten und erhellten. Gerade mit seinem dreistelligen Zeichenmodell und seiner Zeichentypologie (Ikon, Index, Symbol) hat er intensiv auf den ontologischen Wert des Relationsund Vermittlungsgedankens aufmerksam gemacht und sich gegen alle Formen eines radikal abgrenzenden und dualistischen Denkens ausgesprochen.48 Im theologischen Denken ist die Sinnbildungskraft des Analogieprinzips heute allerdings wohl sehr viel umstrittener als im ontologischen Denken. Einerseits sieht man darin zwar eine Chance, auf verständliche Weise über Gott zu sprechen, ohne seine Göttlichkeit prinzipiell zu verfehlen, eben weil man die Sprache ja nur in einem vorläufigen und heuristischen Sinne verwendet. Andererseits sieht man darin aber auch die Gefahr, die Unterschiede zwischen der jenseitigen göttlichen Welt und der diesseitigen menschlichen Welt unzulässig einzuebnen und auf diese Weise zu verhindern, Gott als den ganz Anderen
�� 47 J. W. von Goethe, Maximen und Reflexionen, Hamburger Ausgabe Bd. 12, 19635, S. 368. 48 Ch. S. Peirce, Collected Papers 7.567, 6.169, 6.172‒173, 7.570.
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wahrzunehmen. Man argwöhnt, die negierenden Implikationen der analogisierenden metaphorischen Rede zu vergessen, so dass sich diese dann allzu leicht in eine affirmierende und dogmatische Rede umwandeln könne. Die scholastische Lehre von der Analogie des Seins hat in der Tat die Analogie nicht nur als Denkprinzip, sondern auch als Seinsprinzip verstanden. Sie hat diese Lehre einerseits in der aristotelischen Metaphysik und dem Substanzgedanken verankert und andererseits im christlichen Schöpfungsglauben und in der Emanationslehre Plotins. Ihre Pointe besteht nämlich darin, dass das Sein als ein steigerungsfähiges Phänomen anzusehen sei und dass alles Seiende in unterschiedlicher Intensität an eine Grundsubstanz bzw. an einem absoluten Sein (Gott) teilhabe. Auf diese Weise könne sich Gott in unterschiedlicher Intensität allem Geschaffenen mitteilen (communicatio), und alles Geschaffene könne in unterschiedlicher Intensität am Sein Gottes teilhaben (participatio). Ontologisch und theologisch bedeutet das nun, dass nach diesem Denkmodell alles Seiende vertikal und horizontal immer auf anderes Seiende zu verweisen vermag bzw. immer als ein natürliches ikonisches Zeichen für etwas anderes angesehen werden kann. Dementsprechend kann Physisches auf anderes Physisches verweisen, aber auch auf Humanes, Geistiges oder sogar Göttliches bzw. auch umgekehrt. Das führt dann sowohl ontologisch als auch theologisch zu einem sehr dichten und hierarchisch strukturierten Weltverständnis und Welterlebnis mit sehr weitreichenden ontologischen und theologischen Konsequenzen für das Verständnis Gottes und die Möglichkeiten, über ihn zu reden.49 Das ontologische und theologische Denkmodell von der Analogie des Seins hat natürlich auch erheblich sprachtheoretische Konsequenzen für das Verständnis von Zeichen und Sprache bzw. für die mit ihnen verbundenen Affirmations- und Negationsprozesse. Man hat nun nämlich nicht nur mit einer Sprache der Worte (voces) zu rechnen, sondern auch immer mit einer Sprache der Dinge (res), was es dann wiederum erforderlich macht, neben der Philologie der Wörter auch eine Philologie der Dinge zu entwickeln, um Kontakt zu der Sphäre des Göttlichen zu finden. Zuweilen ist sogar angenommen worden, dass der Weg zu Gott über die Sprache der Dinge bzw. über das Buch der Natur verlässlicher sei als der Weg über die Worte bzw. über das Buch der Schrift, weil die Natur als Gotteswerk verlässlicher sei als die Sprache als Menschenwerk. Vergessen wurde dabei aber meist, dass zumindest nach unserem heutigen Verständnis so-
�� 49 Vgl. H. Rombach, Substanz, System, Struktur, Bd. 1, 1965, S. 57. E. Heintel, Transzendenz und Analogie, in: H. Fahrenbach (Hrsg.), Wirklichkeit und Reflexion, 1973, S. 267‒290. W. Pannenberg, Grundfragen systematischer Theologie, 1971, S. 181ff. E. Przywara, Analogia entis, Schriften Bd. 3, 1962.
472 � Die Negation in Religion und Theologie wohl das Verständnis von Sprachzeichen als auch das von Naturzeichen Menschenwerk ist und sich nicht einfach von selbst ergibt. Das Konzept der Analogie des Seins wird für die Theologie natürlich zu einem großen Problem, wenn man den Gedanken des Monotheismus, der Allmächtigkeit und Transzendenz Gottes sowie der schriftlich fixierten göttlichen Offenbarung in einer sehr radikalen Weise versteht. Deshalb hat dieses Konzept im Katholizismus im Gegensatz zum Protestantismus auch eine sehr viel größere Akzeptanz gefunden, weil im protestantischen Denken das Prinzip der schriftlichen Offenbarung (sola scriptura) immer eine ganz dominierende Rolle gespielt hat und weil die Vorstellung von vermittelnden Zwischenwelten (Heilige, Reliquien, Kirche) für das religiöse Leben und Denken eigentlich als ziemlich irrelevant angesehen worden ist. Das dokumentiert sich dann auch in der protestantischen Bilderstürmerei bzw. der ästhetischen Kargheit kirchlicher Bauten und Riten. All das lässt sich nämlich durchaus als eine ganz spezifische Negation von bestimmten sehr sinnlich orientierten Religiositätsformen verstehen. Eine gewisse Ausnahme bildet im Protestantismus nur die Einbeziehung der Musik in das religiöse Leben, die allerdings von vornherein auch keinen begrifflichen oder gar dogmatischen Wahrheitsanspruch stellt bzw. stellen kann. Der protestantische Theologe Karl Barth, der prinzipiell Gott als den ganz Anderen verstehen möchte, dem man sich nicht über sinnliche Erfahrungen, sondern nur über die biblische Offenbarung nähern könne, hat sogar einmal geäußert, dass er die Lehre von der analogia entis für die Erfindung des Antichrist halte und denke, „daß man ihretwegen nicht katholisch werden kann.“50 Auch der protestantische Theologe Paul Tillich steht dem Konzept der Analogie des Seins höchst skeptisch gegenüber. „Aber die analogia entis ist in keiner Weise imstande eine natürliche Theologie zu schaffen. Sie ist keine Methode, die Wahrheit über Gott zu finden.“51 Allerdings räumt Tillich diesem Konzept durchaus eine gewisse heuristische und pragmatische Funktion bei der Verkündung von Offenbarungserkenntnissen ein, weil er ähnlich wie Peirce der Überzeugung ist, dass sich geistige Denkinhalte durchaus über sinnliche Erfahrungsinhalte bzw. über religiöse Denkbilder ins Bewusstsein bringen ließen. Es kann kein Zweifel bestehen, daß jede konkrete Aussage über Gott symbolisch sein muß; denn eine konkrete Aussage ist eine solche, die einen begrenzten Ausschnitt der endlichen Erfahrung benutzt, um etwas über Gott auszusagen. Sie geht dabei über die
�� 50 K. Barth, Kirchliche Dogmatik Bd. I,1, VIII, zitiert nach E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 20017, S. 385. 51 P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1, 19563, S. 157.
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Grenzen dieses Ausschnitts hinaus und schließt ihn doch zugleich ein. Der Ausschnitt der endlichen Wirklichkeit, der zum Träger einer konkreten Aussage über Gott wird, wird zugleich bejaht und verneint.[…] Die analogia entis gibt uns allein das Recht, überhaupt von Gott zu sprechen.52
Tillich ist nicht bestrebt, religiöse Symbole bzw. ikonische Zeichen ontologisch zu rechtfertigen, aber durchaus bereit, sie heuristisch und existenziell für sinnvoll anzusehen. Als Theologe sieht er sich zwar gezwungen, das Konzept von der Analogie des Seins als theologische Lehre abzulehnen. Diese Lehre ist für ihn nämlich viel zu statisch. Sie vernachlässige außerdem die Subjektivität der Gruppe, die immer am Entstehen und Erleben religiöser Symbole beteiligt sei.53 Bildliche Vorstellungen bzw. ikonischen Zeichen sind für Tillich aber sowohl im religiösen als auch im theologischen Denken und Sprechen im Prinzip unabdingbar, da sie für ihn die einzigen Mittel sind, sinnvoll von dem zu reden, was die Menschen existenziell angehe bzw. was als unbedingt anzusehen sei. Allerdings bergen für ihn solche Symbole auch Gefahren, wenn sie nicht als verweisende, sondern als abbildende Zeichen verstanden würden. „Ein Glaube, der seine Symbole wörtlich versteht, wird zum Götzenglauben.“54
9.4.4 Der byzantinische Bilderstreit Tillichs Warnung, dass wörtlich verstandene symbolische bzw. metaphorische Redeweisen im religiösen und theologischen Sprachgebrauch höchst bedenklich seinen, weil sie einem Götzenglauben Vorschub leisten könnten, lässt sich möglicherweise auch auf die Verwendung und das Verständnis von Bildern im religiösen Leben ausweiten. Das theologische Denken muss sich deshalb auch dem Problem stellen, über welche Zeichenformen Menschen überhaupt Kontakt zu transzendenten Welten bekommen können und worin die impliziten Affirmations- und Negationsfunktionen bildlicher bzw. sprachlicher Zeichen tatsächlich bestehen. Die Problematik der Verwendung von konkreten Bildern im religiösen Leben ist uns heute im Zeitalter der massenhaften Produktion und Rezeption von Bildern schwer verständlich, weil Bildern mittlerweile kaum noch ein ganz eigenständiger Seinswert zugeordnet wird geschweige denn eine substanzielle Teilhabe an dem von ihnen jeweils Abgebildeten. Allenfalls billigt man ihnen �� 52 P. Tillich a. a. O. Bd. 1, 19563, S. 277‒278. 53 P. Tillich, Nachruf auf Gustav Jung, Gesammelte Werke Bd. 12, 1971, S. 316‒319. 54 P. Tillich, Gesammelte Werke Bd. 8, 1970, S. 147.
474 � Die Negation in Religion und Theologie noch einen bestimmten Illustrationswert zu. Das war in frühen Kulturepochen allerdings ganz anders. Daher rechtfertigt es sich auch, die Bildproblematik in die Überlegungen zu den Affirmations- und Negationsintentionen beim religiösen und theologischen Zeichengebrauch einzubeziehen. Für den Polytheismus war es im Prinzip völlig selbstverständlich, Bilder in das religiöse Leben und Denken zu integrieren, weil hier das Göttliche im Gegensatz zum Monotheismus nicht als ein welttranszendentes, sondern vielmehr als ein weltimmanentes Phänomen verstanden wurde. Deshalb begreifen sich die monotheistische Religionen auch weitgehend als Religionen, die ihre Denkinhalte im Prinzip immer sprachlich bzw. begrifflich objektivieren müssen und nicht sinnlich oder rituell und die deshalb auch ihre spezifische Identität gerade darin finden, dass sie den Bilderkult der polytheistischen Religionen konsequent negieren. Die Auseinandersetzung über den religiösen und theologischen Status von sinnlich fassbaren Bildern im religiösen Leben kommt im sogenannten byzantinischen Bilderstreit des 8. und 9. Jahrhunderts innerhalb der christlichen Kirche auf ganz exemplarische Weise sehr sinnfällig zum Ausdruck. Dessen Brisanz ist uns heute kaum noch nachvollziehbar, weil sich unser Bildverständnis inzwischen grundlegend verändert hat. Daher ist es uns heute auch kaum noch verständlich, warum dieser Bilderstreit im oströmischen Reich nicht nur zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen geführt hat, sondern auch zu der religiösen und theologischen Trennung der orthodoxen oströmischen Kirche von der katholischen weströmischen. Ausgelöst wurde der byzantinische Bilderstreit durch islamische Vorwürfe, in denen die immer stärker um sich greifende Bilderverehrung in der hellenistisch geprägten christlichen Ostkirche als Götzendienst gebrandmarkt wurde. Dieser Vorwurf war sachlich durchaus gerechtfertigt, weil die religiöse Bilderverehrung sich hier immer mehr ausgebreitet hatte. Heiligenbildern wurde nicht nur eine direkte heilende Wirksamkeit zugeschrieben, sie wurden sogar als Paten eingesetzt. Deshalb erließ die Kirche 730 ein generelles Bilderverbot, das wieder an das allgemeine Bilderverbot des Urchristentum anknüpfte, mit dem sich dieses deutlich gegenüber seiner polytheistischen Umwelt abzugrenzen und zu behaupten versucht hatte. Das Bilderverbot von 730 führte nun allerdings im oströmischen Reich zu schweren sozialen, religiösen und theologischen Konflikten zwischen Bilderfreunden und Bilderfeinden. Die Bilderfreunde rekrutierten sich dabei aus dem allgemeinen Kirchenvolk, in dem durchaus alte polytheistische Denk- und Frömmigkeitsformen weiterlebten, aus dem niederen Klerus, der zum Teil von der Herstellung der Heiligenbilder lebte, sowie aus Theologen, die im Hinblick
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auf Gott das Bilderverbot zwar respektierten, aber nicht im Hinblick auf Christus, der ja Mensch geworden sei. Der hohe ostkirchliche Klerus hielt dagegen streng am allgemeinen Bilderverbot der urchristlichen Kirche fest. Im Kaisertum gab es aus theologischen, aber auch aus machtpolitischen Gründen sowohl Bilderfeinde als auch Bilderfreunde, was dann auch zu großen innerfamiliären Konflikten geführt hat. Der Bilderstreit (Ikonoklasmus) endete dann schließlich auf einem Konzil 843 damit, dass in der Ostkirche die Bilderverehrung nicht nur theologisch legitimiert, sondern sogar zu einer religiösen Pflicht gemacht wurde. In der Westkirche wurde dieser Bilderstreit eigentlich hinsichtlich seiner Motive und theologischen Implikationen nie ganz verstanden, weil hier Bildern von vornherein ein ganz anderer ontologischer Status zugeschrieben wurde als in den ostkirchlichen Denktraditionen. In der Westkirche wurde Bildern, ganz ähnlich wie Wörtern, nur ein funktioneller Verweisungswert, aber kein substanzieller Seinswert zugebilligt. Das führte dann auch dazu, dass man schließlich auch gar keine Scheu mehr hatte, selbst Gott bildlich darzustellen, da man hier mit Bildern ganz andere Affirmations- und Negationsimplikationen verbunden sah als in der orthodoxen christlichen Ostkirche. Die Auseinandersetzung um die religiöse Verwendung und den theologischen Status von Bildern spitzte sich im byzantinischen Bilderstreit auf das Problem zu, ob man Christus bildlich darstellen dürfe oder nicht. Diese Auseinandersetzung wird nur verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass dabei sehr unterschiedliche ontologische Auffassungen über das Verhältnis von Bild und abgebildetem Original wirksam wurden. Die Bilderfeinde argumentierten, dass nicht nur Gott, sondern auch Christus bildlich nicht repräsentierbar und objektivierbar sei, weil dabei allenfalls seine menschliche, aber keinesfalls seine göttliche Natur erfasst werden könne. Das Geheimnis der Verbindung beider Naturen könne nur gedacht und geglaubt, aber nicht bildlich dargestellt werden.55 Die Sprache ist den Bilderfeinden als Objektivierungsmittel für Christus dagegen nicht verdächtig, weil Worte im Gegensatz zu Bildern, abgesehen von einem magischen Sprachgebrauch, nicht dazu einladen, mit dem identifiziert zu werden, was sie repräsentieren bzw. ins Bewusstsein rufen sollen. Da wir heute im Zeitalter der Bildinflation diese Gefahr auch nicht mehr sehen, wird uns die Negationshaltung der Bilderfeinde erst wirklich verständlich, wenn wir uns das
�� 55 Vgl. G. Ostrogorsky, Studien zur Geschichte des byzantinischen Bilderstreites, 19642, S. 17f, 25. K. Schwarzlose, Der Bilderstreit, 1890, S. 92ff. H. Fischer, Die Ikone, 1995, S. 76ff. H. Belting, Bild und Kult, 19912, S. 166ff.
476 � Die Negation in Religion und Theologie Bildverständnis der Bilderfreunde zu rekonstruieren versuchen, in dem noch viele ontologische Denktraditionen der antiken Wahrnehmung von Bildern nachwirken. Das Bildverständnis der Bilderfreunde ist dadurch geprägt, dass Bilder nicht nur über bestimmte äußere Ähnlichkeiten an ihre jeweiligen Bezugsgegenstände bzw. Originale erinnern, sondern dass sie auf ganz wesenhafte Weise auch an dem teilhaben, was sie faktisch darstellen. Das bedeutet, dass sich der relationale Repräsentationsgedanke beim Verständnis von Bildern zu einem substanziellen Partizipationsgedanke verdichtet, wenn nicht sogar zu einem Emanationsgedanken im Sinne des Neuplatonismus von Plotin. Das Bild dient dann nämlich nicht nur als eine bloße Erinnerungsbrücke zu dem, was es abbildet, sondern wird so verstanden, dass mit ihm eine Art Realpräsenz des abgebildeten Originals möglich wird. Dementsprechend wird das Bild dann auch nicht als Kunstwerk von dem erzeugt, der es faktisch herstellt, sondern von dem Original, das in ihm präsent wird bzw. das für das Bild ursächlich ist. Das Bild lässt sich daher dann auch nicht als ein bloßes Artefaktum oder Manufaktum verstehen, sondern vielmehr nur als Teil bzw. als faktische Mitgegenwart der Sache, die es jeweils abbildet. Im Rahmen dieses Bildverständnisses der Bilderfreunde haben deshalb auch Ikonen bzw. heilige Bilder keinen konkreten individuellen Seheindruck auf realistische bzw. auf zentralperspektivische Weise widerzuspiegeln, sondern vielmehr das substanzielle Wesen der jeweiligen Person wiederzugeben. Deswegen werden die dargestellten Personen auch nicht in zufällige Kontexte integriert, sondern nur kontrastiv von einem goldfarbenen Grund abgesetzt, der das Wahrnehmungsinteresse ganz auf die jeweilige Person lenken soll, aber nicht auf die Zusammenhänge, in die sie zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort eingebettet ist. Von hier aus wird dann auch verständlich, warum das Malen von Ikonen in bestimmte religiöse Riten eingebettet wurde, die sicherstellen sollten, dass der jeweilige Maler Zugang zum inneren Wesen des jeweiligen Originals finden konnte. Die philosophisch und theologisch gebildeten Bilderfreunde leugneten natürlich nicht die ontische Differenz zwischen Bild und Original. Aber diese Differenz spielte im Rahmen ihres ontologischen Partizipationsgedankens keine wichtige Rolle. Die Verehrung von Christus- und von Heiligenbildern wurde auch theologisch als legitim angesehen, weil sie sich natürlich nicht auf das Bild als ein materielles Gebilde beziehen sollte, sondern vielmehr auf das, was das Bild als ideelle Substanz geistig präsent zu machen hatte. Das hat der Bilderfreund Theodorus von Studion dann so formuliert: „Das Bild Christi ist im
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Grunde nichts anderes als Christus selbst, abgesehen von der Verschiedenheit der Materie.“56 Wenn man auf diese Weise Bilder nicht als bloße Verweisungs- oder Erinnerungszeichen versteht, sondern als ideelle Realpräsenz der jeweiligen Originale, dann haben Christus- und Heiligenbilder natürlich eine fundamentale bildliche Affirmationsfunktion. Sie können und dürfen nicht frei gestaltet oder in ihrer pragmatischen Relevanz interpretiert werden oder situativ unbeachtet bleiben. Man muss sich ihnen gegenüber so verhalten, wie man sich gegenüber den jeweiligen Originalen zu verhalten gehabt hätte. Deshalb ist die Ikonenmalerei auch streng ritualisiert, typisiert und anonymisiert worden, um die Autarkie und Authentizität der Bilder zu akzentuieren. Sie ließ deshalb im Prinzip auch keinen geschichtlichen Wandel in ihren Darstellungsweisen zu, da die Bilder ja keineswegs als Bestandteile der Kunstgeschichte verstanden werden sollten. Das macht es dann auch verständlich, dass schnell vielerlei Legenden in Umlauf kamen, dass beispielsweise alle Christusbilder auf ein authentisches Abbild von ihm zurückgeführt werden könnten, das dann als Vorbild für alle späteren Bilder von ihm gedient habe.57 In diesem Zusammenhang hat man dann allerdings weniger an einen optischen, sondern eher an einen ideellen und ontischen Realismus zu denken. Dieser hatte dann natürlich auch immer eine theologische Relevanz, weil in ihm der Gedanke der Mitgegenwart des Originals eine ganz wichtige Rolle spielte. Ein solches theologische Denken war der Westkirche im Prinzip ziemlich fremd, obwohl es auch im Eucharistieverständnis der katholischen Kirche eine gewisse Rolle spielt. Dem protestantischen Denken und insbesondere dem bilderstürmenden Calvinismus war es dagegen völlig fremd. Dieser hat deswegen auch nicht nur die Transsubstanzialisierungslehre der katholische Kirche im Hinblick auf das Abendmahl verworfen, sondern auch die didaktischen Funktionen von Bildern für die Konkretisierung das religiöse Lebens. Wie sehr das Problem der religiösen Relevanz von Bildern die Menschen noch im 16. Jahrhundert bewegt hat, mag folgende Anekdote veranschaulichen. Der hugenottische Fürst Condé sieht einen protestantischen Soldaten, der gerade ein steinernes Heiligenbild über dem Eingangsportal einer Kirche zu zertrümmern versucht. Er hält sein Pferd an und macht ihn darauf aufmerksam, dass die Kriegszucht der Armee solche Gewalttaten mit dem Tode bestrafe. Der Soldat erwidert dann allerdings trotz der schon erhobenen Büchse von Condé:
�� 56 Zitiert nach K. Schwarzlose, Der Bilderstreit, 1890, S. 186. 57 Vgl. E. Benz, Geist und Leben in der Ostkirche, 1957, S. 11ff.
478 � Die Negation in Religion und Theologie „Haben Sie gerade noch ein wenig Geduld, bis ich das Götzenbild fertig mache; dann will ich sterben, wenn es Ihnen gefällt!“58
9.5 Die negative Theologie Der Begriff Theologie im Sinne einer allgemeinen Gotteslehre hatte in der Antike im Einklang mit seiner etymologischen Herkunft einen sehr viel größeren Umfang als heute. Mit ihm ließen sich wie schon erwähnt ursprünglich alle Redeinhalte und Redeweisen zusammenfassen, welche die Sphäre der Götter bzw. des Göttlichen betrafen von religiösen Aussagen und Riten über Göttergeschichten und Mythen bis hin zu philosophischen Spekulationen über den Ursprung der Welt und der Weltordnung. Dabei stellte sich dann schon früh das Problem, ob man über die Sphäre des Göttlichen in derselben Weise denken und sprechen könne wie über die Sphäre der sinnlich fassbaren empirischen Erfahrungswelt. Xenophanes hatte schon darüber gespottet, dass die Menschen sich die Welt der Götter allzu menschenförmig bzw. anthropomorph vorstellten. Diesbezüglich unterschieden sich die Menschen wohl kaum von Kühen und Pferden, die sich ihre Götterwelt wahrscheinlich kuh- bzw. pferdeförmig dächten.59 Platon lässt dann seinen Timaios auf folgendes Objektivierungsproblem aufmerksam machen: „Also den Urheber und Vater dieses Weltalls aufzufinden ist schwer, nachdem man ihn aber auffand, ihn allen zu verkünden, unmöglich.“60 Für die monotheistischen Schrift- bzw. Offenbarungsreligionen mit ihren expliziten Verboten, Gott bildlich dazustellen, ergab sich dann im Laufe der Kulturgeschichte zugleich auch das Problem, ob man denn über ihn mit Hilfe der konventionalisierten Sprache überhaupt verbindliche Aussagen machen könne, da diese ja üblicherweise für ganz andere Zwecke verwendet würde. Da sich in den monotheistischen Offenbarungsreligionen im Hinblick auf Gott nun aber in Analogie zu dem optischen Bilderverbot verständlicherweise kein allgemeines verbales Redeverbot durchsetzen ließ, musste man sich natürlich Gedanken darüber machen, wie man überhaupt über Gott sprechen könne und dürfe und wie sich die Rede über Gott von der Rede über profane Sachverhalte zu unterscheiden habe. Die metaphorischen und paradoxen Redeweisen der
�� 58 Zitiert nach J. Cambon, Der französische Protestantismus, 18383, S. 65. 59 W. Capelle (Hrsg.), Die Vorsokratiker, 1968, S. 121. 60 Platon, Timaios 28 c, Werke Bd. 5, S. 121.
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Mystiker bzw. ihr beredtes Schweigen exemplifizieren dieses Problem dann sehr deutlich. Eine andere Möglichkeit, über Gott zu sprechen, sah man auch darin, über Gott keine affirmativen Aussagen zu machen, sondern allenfalls ausschließende bzw. negierende, um sich ihn nicht zu direkt bzw. allzu welt- und menschenförmig vorstellen zu müssen. Natürlich taucht auch bei dieser Form des Sprachgebrauchs das Problem auf, ob nicht selbst die negierende Redeweise über Gott noch mit unzulässigen anthropomorphen Vorstellungen arbeitet, da das Denken über Gott mit Begriffen perspektiviert und objektiviert wird, die ursprünglich ja nur für die Bewältigung der profanen Welt entwickelt worden waren.
9.5.1 Der Denkansatz der negativen Theologie Um die eben skizzierten Probleme zu erfassen, zu strukturieren und zu bewältigen ist Anfang des 6. Jahrhunderts unter dem maßgeblichen Einfluss des sogenannten Pseudo-Dionysius Areopagita die kataphatische bzw. negative Theologie entstanden. Diese versuchte, sich von der apophatischen bzw. affirmativen Theologie abzusetzen, die natürlich immer eine immanente Tendenz hatte, ihre feststellenden Aussagen über Gott zu einem geschlossenen, dogmatisch durchstrukturierten Lehrgebäude zusammenzufassen.61 Diese Genese macht es dann auch verständlich, dass die negative Theologie eigentlich nicht als eine inhaltlich fixierbare Lehre von Gott zu verstehen ist, sondern vielmehr als eine bestimmte Methode, theologische Sinnbildungsprozesse mit Hilfe von sprachlichen Negationsformen unterschiedlicher Art zu konkretisieren. Im Kontext dieser Grundorientierung ist deshalb die negative Theologie auch nicht nur in theologischer Hinsicht interessant, sondern zugleich auch in erkenntnistheoretischer und sprachtheoretischer bzw. semiotischer. Durch sie wird nämlich das grundsätzliche Problem aktuell, wie wir im Rahmen der natürlichen Sprache über Gegenstände sprechen können, die zwar jenseits unserer sinnlichen bzw. empirischen Erfahrungswelt liegen, aber möglicherweise nicht jenseits unserer geistigen bzw. intelligiblen Vorstellungswelt. Wenn man so denkt, dann ist sicherlich unstrittig, dass in bestimmten sprachlichen Sinnbildungsprozessen neben dem Gebrauch der gleichnishaften und metaphorischen Rede (via analogiae) auch auf den Gebrauch der negierenden Rede (via negationis) nicht verzichtet werden kann.
�� 61 Vgl. J. Hochstaffl, Negative Theologie, 1976, S. 13ff., 122ff.
480 � Die Negation in Religion und Theologie Natürlich hat auch die negative Theologie bestimmte affirmative Implikationen. Obwohl sie negiert, dass sich Gott mit Hilfe der üblichen sachthematisch orientierten Sprachformen zutreffend objektivieren und charakterisieren lässt, wird natürlich dennoch seine Existenz, Transzendenz und Bedeutsamkeit immer affirmativ vorausgesetzt. Die negative Theologie ist deshalb auch nicht als eine Erscheinungsform des Atheismus zu verstehen, sondern nur als eine spezifische sprachliche Denk- und Objektivierungsform für einen ganz bestimmten Denkgegenstand. Das Wort Gott repräsentiert in ihr weder einen Eigennamen noch einen Begriffsnamen, der referenziell bzw. sachlich genau bestimmbar wäre, aber doch so etwas wie ein Pronomen, das ersatzweise als sprachlicher Statthalter für ein Phänomen fungiert, das begrifflich nicht fixierbar ist. Als pronominal zu verstehende sprachliche Einheit hat dann auch das Wort Gott das Schicksal der substantivierten Pronomen zu teilen, das beispielsweise in der Tiefenpsychologie den Wörtern Ich, Es oder Über-Ich beschieden ist. Auch diese sollen ja auf Inhalte verweisen, deren Existenz zwar nicht in Frage gestellt wird, obwohl sie inhaltlich kaum befriedigend auf deskriptive Weise begrifflich erfassbar und bestimmbar sind, sondern allenfalls auf normative Weise. Deshalb ist es dann ja auch keineswegs völlig überraschend, wenn die Mystiker für das von ihnen pronominal verstandene Wort Gott ersatzweise die substantivierte Pronominalform Nichts verwendet haben. Konzeptionell gesehen ist die negative Theologie von einer großen Bescheidenheit geprägt. Als spezifisches theologisches Denkverfahren erhebt sie nicht den Anspruch, eine kohärente Vorstellung von Gott auszuarbeiten. Sie will sich ihren Denkgegenstand nicht auf den Begriff bringen und ihn eben dadurch dann auch theoretisch beherrschen. Sie will sich diesem Denkgegenstand vielmehr in seiner Selbstgegebenheit bzw. Widerständigkeit nur dimensional annähern. Sie will Denk- und Wahrnehmungsprozesse nicht abschließen, sondern anregen und offen halten. Deshalb hat die negative Theologie auch eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit mit der neuzeitlichen Phänomenologie. Wie diese versucht sie ihren Gegenstand durch Abschälungsverfahren bzw. durch phänomenologische Reduktionen von allem Randständigen und Unwichtigem abzutrennen, ohne dabei den Anspruch zu erheben, ihn abschließend substanziell bestimmen zu können. Beide Denkverfahren sind letztlich bestrebt, sensibel dafür zu bleiben, dass unsere Denkinhalte immer von unseren jeweiligen Denkprämissen vorstrukturiert werden. Die Negationsformen der negativen Theologie sind deshalb auch nicht als Träger von sachthematischen und argumentativen Verneinungs- und Ablehnungsinformationen zu verstehen. Sie sind vielmehr als Formen der Kontaktaufnahme mit einem Gegenstandsbereich anzusehen, bei denen unsere üblichen Denk- und Sprachformen deutlich an ihre kognitiven und operativen
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Grenzen stoßen. Deshalb ließe sich die negative Theologie vielleicht auch eher als eine Erscheinungsform der Kunst und weniger als eine Erscheinungsform der deskriptiven Wissenschaft verstehen, obwohl ihr Name das natürlich nicht nahelegt. Sie sucht nämlich keine kontemplative Distanz zu ihrem Denkgegenstand, sondern vielmehr eine affektive Anteilnahme an ihm, weil er als Bestandteil der eigenen Lebensform wahrgenommen werden soll. Sehr aufschlussreich für ein solches Verständnis der Zielsetzungen der negativen Theologie ist vielleicht die Antwort, die Moses nach dem biblischen Bericht von Gott bekommt, als er diesen danach fragt, welchen Namen er für ihn verwenden solle, wenn er den Israeliten von ihm berichten möchte. Gott sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde. Und sprach: so sollst du zu den Israeliten sagen: »Ich werde sein«, der hat mich zu euch gesandt. (2. Mose, 3.14)
Diese Antwort ist wohl so zu verstehen, dass Gott es ablehnt, mit einem konkreten Namen benannt zu werden, über den eine bestimmte begriffliche oder gar bildliche Vorstellung von ihm evoziert werden könnte. Dadurch liefe er nämlich Gefahr, als Ding unter Dingen wahrgenommen zu werden. Stattdessen bringt er zum Ausdruck, dass man sich von ihm allenfalls eine offene und dynamische Prozessvorstellung zu machen habe, die sich weder mit Hilfe eines vereinzelnenden Eigennamens noch mit Hilfe eines kategorisierenden Begriffsnamens verwirklichen lässt. Diese Namensverweigerung auf der sprachlichen Ebene ist deshalb weitgehend mit der Bildverweigerung auf der optischen Ebene zu analogisieren. Beide Verweigerungsformen sind keine Negationsformen für eine Existenzannahme, aber sehr wohl Negationsformen dafür, sich Gott nach dem Muster der Objektivierungsformen vorzustellen, die für empirische Denk- oder Erfahrungsgegenstände üblich sind. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird nun auch verständlich, warum der Denkansatz der negativen Theologie von der Spätantike über die Renaissance bis in die Neuzeit immer wieder Widerhall gefunden hat. Wenn man in Sinnbildungsanstrengungen den Weg der Negation geht, um komplexe Sachverhalte sprachlich zu bewältigen, dann offenbart sich darin eine Sensibilität für das Problem, dass sich die Sprache oft nur indirekt als Objektivierungsmittel nutzen lässt und dass man sie immer wieder neu an ihre jeweiligen Gegenstände anzupassen hat. Das illustrieren zwei Aphorismen von Friedrich Schlegel sehr schön. Jeder Begriff von Gott ist leeres Geschwätz. Aber die Idee der Gottheit ist die Idee aller Ideen.
482 � Die Negation in Religion und Theologie Verbindet die Extreme. So habt ihr die wahre Mitte.62
Im Folgenden soll nun versucht werden, die Antriebskräfte zu rekonstruieren, die in der Spätantike zur Ausbildung der negativen Theologie geführt haben. Im Anschluss daran soll dann dem Problem nachgegangen werden, welche Folgewirkungen dieser Denkansatz über die Renaissance bis in das gegenwärtige theologische und sprachtheoretische Denken gehabt hat.
9.5.2 Die negative Theologie bei Pseudo-Dionysius Areopagita Unter dem Namen Dionysius Areopagita sind philosophisch-theologische Schriften überliefert worden, die nicht nur als Gründungsurkunden der negativen Theologie angesehen werden können, sondern auch als Anstrengungen, griechische und insbesondere neuplatonische Denktraditionen mit christlichen zu verbinden. Lange hat man diese Schriften dem Dionysius Areopagita zugeschrieben, der nach der Apostelgeschichte von Paulus (17.34) in Athen von Paulus selbst bekehrt worden sei und der dort dann auch als erster Bischof gewirkt haben soll. Heute herrscht allerdings Einverständnis darüber, dass diese Schriften faktisch von einem Theologen aus dem griechischen Kulturkreis stammen, der um 500 gelebt hat. Deshalb wird der Verfasser dieser Schriften inzwischen auch meist als Pseudo-Dionysius Areopagita bezeichnet.63 Die Zielsetzungen des areopagitischen Denkens und die Rolle der Negationen in ihm werden verständlich, wenn man sich die ontologische Grundüberlegung vergegenwärtigt, die in Platons Parmenides hinsichtlich des Einen bzw. des Seins angestellt worden sind, aus dem alles konkret Seiende hervorgegangen sein könnte. Dieses Sein wird nämlich als etwas thematisiert, das keiner Veränderung in der Zeit unterworfen sei und das eben deshalb auch nicht als etwas Seiendes im üblichen Sinne zu verstehen sei, weil es ja allem Seienden als Grundlage bzw. Quelle voraus liege. Daraus wird dann der Schluss gezogen, dass dieses Eine auch nicht wie das übliche Seiende sprachlich objektivierbar sei, weil es einer Ebene angehöre, die von der üblichen Sprache für die Objektivierung der menschliche Erfahrungswelt gar nicht erreicht werden könne: „Also wird es auch nicht benannt, nicht erklärt, nicht vorgestellt, nicht erkannt […].“64 �� 62 F. Schlegel, Kritische Schriften 19642, S. 90 und 97. 63 Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die Mystische Theologie und Briefe, 1994. Vgl. auch B. R. Suchla, Dionysius Areopagita, in: W. Geerlings (Hrsg.) Theologen der griechischen Antike, 2002, S. 202‒220. 64 Platon, Parmenides 142a, Werke Bd. 4, S. 78.
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In seiner Emanationslehre legt dann später Plotin nahe, dass das Eine immer eine innere Tendenz habe, sich in Vielheiten zu entfalten bzw. Seiendes aus sich zu entlassen, das dann für uns erst konkret fassbar werde. Dadurch ergebe sich dann die Möglichkeit, im Blick auf das konkret Seiende auch etwas indirekt über das eigentlich unfassbare Sein zu sagen, aus dem es sich herleite. Das könne sprachlich dann allerdings nicht in einem behauptenden bzw. abbildenden Sinne dargestellt werden, sondern allenfalls in einem verweisenden. Wie aber können dann wir etwas über Jenes aussagen? Nun, wir sagen wohl etwas über jenes aus, und haben nicht Erkenntnis noch Denken seiner […]. Nun wenn wir es nicht in der Erkenntnis haben, so ist das doch kein vollkommenes Nichthaben […]. Wir sagen ja aus, was es nicht ist; und was es ist, das sagen wir nicht aus; somit geht das, was wir über es aussagen, von den Dingen aus, die später sind als es. Es zu haben aber, sind wir nicht gehindert, auch wenn wir es nicht aussagen können […].“ 65
Diese Ausführungen Plotins deuten darauf hin, dass das Eine für uns nur dann eine zumindest umrisshafte Gestalt gewinnen kann, wenn wir zu ihm nicht in ein kontemplatives, sondern in ein dialogisches und interaktives Verhältnis treten. Dieser Umstand macht dann auch verständlich, warum Plotin nicht nur für das mystische, sondern auch für das theologische Denken so wichtig geworden ist. Aus diesen Überlegungen ergibt sich für den Areopagiten nämlich die Konsequenz, dass man über das sogenannte Eine, das über jede konkrete positiv formulierbare Sachaussage völlig erhaben sei, nur so sprechen könne, dass man alle Charakteristika negiere, die man aus seiner eigenen profanen Welterfahrung mit ihm in Verbindung bringen könne. Bei diesen negierenden Redeweisen über das Eine ist dann natürlich immer zu beachten, dass die jeweiligen Negationen keine sachthematischen und kontrastierenden Abgrenzungsfunktionen haben, die man dann in einem zweiten Denkschritt positiv konkretisieren bzw. richtig stellen könnte (X ist nicht Y, sondern Z.). Den Negationen kommen in solchen Äußerungsweisen vielmehr reflexionsthematische Sinnbildungsfunktionen zu, die wie Sprungbretter dazu dienen, in eine andere Welt zu gelangen, in der die üblichen sprachlichen Unterscheidungen gar nicht mehr greifen bzw. funktionslos werden. Deshalb ist das areopagitische Denken auch nicht nur für das mystische und theologische Denken so wichtig geworden, sondern auch für das dialektische. Dem Einen als der Allursache versucht sich der Areopagite über den reflexionsthematischen Negationsgebrauch anzunähern. Dieser hat nicht das Ziel,
�� 65 Plotin, Seele ‒ Geist ‒ Eines, 1990, Enneade V 3, 14, S. 115‒117.
484 � Die Negation in Religion und Theologie Kontrastrelationen in einer gegebenen Welt bzw. in einem gegebenen Systemzusammenhang zu thematisieren, sondern eine Sensibilität für die Wahrnehmung dessen zu erzeugen, was hinter unseren jeweiligen sensiblen oder intelligiblen Welterfahrungen steht oder stehen könnte. Noch höher aufsteigend sagen wir von ihr (der Allursache) aus, daß sie weder Seele ist noch Geist; ihr ist auch weder Einbildungskraft, Meinung, Vernunft oder Denken zuzuschreiben, noch ist sie mit Vernunft und Denken gleichzusetzen, noch wird sie ausgesagt, noch gedacht. Sie ist weder Zahl noch Ordnung, weder Größe noch Kleinheit, weder Gleichheit noch Ungleichheit, weder Ähnlichkeit noch Unähnlichkeit. Sie hat weder einen festen Stand, noch bewegt sie sich, noch rastet sie. Ihr ist auch weder Kraft zuzuschreiben, noch ist sie mit Kraft identisch, noch mit Licht. Sie ist weder lebendig noch mit Leben identisch. Auch ist sie nicht Sein, nicht Ewigkeit, nicht Zeit. Sie kann aber auch nicht gedanklich erfaßt, noch gewußt werden. Auch ist sie weder mit Wahrheit, noch mit Herrschaft oder Weisheit gleichzusetzen. Sie ist weder eines noch Einheit, weder Gottheit noch Güte. […] Sie gehört weder dem Bereich des Nichtseienden noch dem des Seienden an. […] Sie entzieht sich jeder (Wesens-) Bestimmung, Benennung und Erkenntnis.[…] Man kann ihr überhaupt weder etwas zusprechen noch absprechen. […] Denn sie, die allvollendende einzige Ursache aller Dinge, ist ebenso jeder Bejahung überlegen, wie keine Verneinung an sie heranreicht, sie, die jeder Benennung schlechthin enthoben ist und alles übersteigt.66
Prinzipiell ist der Areopagite der Überzeugung, dass Gott als transzendentes Phänomen jenseits von allen üblichen ontologischen und sprachlichen Charakterisierungs- und Objektivierungsmöglichkeiten liegt und dass ihn deshalb auch der negierende Sprachgebrauch nicht wirklich erfasst, sondern dass er durch diesen allenfalls in einem dimensionalen Sinne lokalisiert und thematisiert werden kann. Das heißt nun aber nicht, dass die negierende Redeweise über ihn überhaupt keinen Erkenntniswert hat, denn diese impliziert immerhin, dass Gott ein Denkgegenstand ist, der sich als Allursache jeder positiven begrifflichen Bestimmung im üblichen Sinne entzieht und dass auf ihn daher nur in einem pronominalen Verweisungssinn als auf etwas ganz anderes aufmerksam gemacht werden kann. Obwohl man nach dem Areopagiten nun prinzipiell nicht wagen darf, „irgendetwas über die überwesentliche und verborgene Gottheit zu sagen oder gleichwohl zu denken mit Ausnahme dessen, was uns durch göttliche Eingebung in der Heiligen Schrift geoffenbart worden ist“67, so kann er doch in Betracht ziehen, auf indirekte Weise symbolisch bzw. metaphorisch über ihn zu sprechen. Letzt-
�� 66 Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die Mystische Theologie und Briefe, 1994, S. 79‒80. 67 Dionysius Areopagita, Die Namen Gottes, 1988, S. 22.
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lich ist Gott für ihn aber eine Größe, die jenseits aller direkten sprachlichen Affirmations- und Negationsmöglichkeiten liegt. Die Vielfalt der sprachlichen Erschließungs- und Thematisierungsmöglichkeiten für Gott veranschaulicht er mit dem Vorstellungsbild, dass die „Lichter von Lampen in einem einzigen Zimmer sowohl vollständig ganz und gar ineinander gehen als auch eine vollkommene eigentlich bestehende Geschiedenheit voneinander aufweisen und somit geeint in der Geschiedenheit und in der Erinnerung geschieden sind.“68 Obwohl der Areopagite negierende Bestimmungen über Gott letztlich als höherrangiger und aufschlussreicher ansieht als affirmierende, so ist er sich doch immer bewusst, dass beide Sprachverwendungsweisen dialektisch ineinander verschränkt sind, weil negierende Aussagen nur dann sinnvoll sind, wenn sie ganz bestimmte konkretisierende Denkperspektiven in ihre Schranken verweisen bzw. negieren. Das bedeutet im Prinzip dann weiterhin, dass es auch Negationen von Negationen geben muss, um sich soweit wie möglich der Sphäre anzunähern, auf die man mit dem Worte Gott operational in einem rein dimensionalen Sinne zu verweisen versucht. Die Negation wird so gesehen dann zu einem unverzichtbaren Mittel jeden faktischen inhaltlichen Denkschritt weiterzuführen und von den endlichen Mitteln der Sprache ganz im Sinne Humboldts einen unendlichen Gebrauch zu machen.
9.5.3 Die negative Theologie bei Nikolaus von Kues In noch grundsätzlicher Weise als bei Pseudo-Dionysius Areopagita wird die Notwendigkeit bzw. die Struktur einer negativen Theologie 900 Jahre später in der Frührenaissance bei Nikolaus von Kues erörtert.69 Für ihn ist bezeichnend, dass er Negationsformen nicht nur als konstitutiv für das religiös-theologische Denken und Sprechen ansieht, sondern zugleich auch für das philosophischerkenntnistheoretische. Ihm geht es nämlich um das grundsätzliche Problem, welche Rolle dem denkenden Subjekt bei der Konstitution von relevanten Objektvorstellungen bzw. Denkinhalten zuzuordnen ist und welcher Gebrauch dabei von Negationsverfahren gemacht werden kann. Das Wissen von Gott ist dabei für ihn gleichsam nur der Extremfall der Wissensbildung überhaupt. „Weil
�� 68 Dionysius Areopagita, a. a. O., 1988, S. 32. 69 Vgl. Nikolaus von Kues, Die wissende Unwissenheit (De docta ignorantia) 1. Buch, Kap. XXVI, Philosophisch-theologische Schriften, Bd. 1, 2014, S. 293‒297.
486 � Die Negation in Religion und Theologie alles, was gewußt wird, besser und vollkommener gewußt werden kann, wird nichts so, wie es wißbar ist, gewußt.“70 Philosophisch und theologisch geht Nikolaus von Kues davon aus, dass Gott als Schöpfergott bzw. als Ur-Sache und Prämisse alles Seienden selbst nicht etwas bloß Seiendes ist und sich eben deshalb auch nicht sinnvoll von einem benachbarten anderen Seienden abgrenzen lässt. Gott ist für ihn deshalb auch nicht der Ganz-Andere als eine höchste Steigerung der Andersartigkeit, weil auch ein gesteigertes Indefinitpronomen mit seinen Negationsimplikationen nicht genüge, um ihn in seiner prinzipiellen Andersartigkeit wirklich kenntlich zu machen oder gar zu erfassen. Deshalb thematisiert er Gott sprachlich auf eine fast paradoxe Weise als das Nicht-Andere (non aliud), um auf diese Weise darauf aufmerksam zu machen, dass Gott einer Vorstellungsebene zuzuordnen ist, die unseren üblichen Erfahrungsrahmen vollständig transzendiert. Das Nicht-Andere ist weder ein Anderes noch ein Anderes vom Andern noch ist es im Anderen ein Anderes; und aus keinem anderen Grund als dem, daß das Nicht-Andere in keiner Weise ein Anderes sein kann; als würde ihm gleichsam wie einem Anderen etwas fehlen.71
Diese etwas komplizierte Argumentation wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Gott für Nikolaus von Kues gar nicht im üblichen Sinne ist, da er sich ja nicht kontrastiv von einem anderen Seienden so abgrenzen lässt, wie man einen Stein von einem Baum abgrenzen kann. Gott ist für ihn einer Sphäre zuzuordnen, in der unsere üblichen Kriterien für Begriffsbildungen nicht mehr greifen und wo wir deshalb immer Gefahr laufen, wider Willen zum Gefangenen unserer eigenen konventionalisierten Denkmuster zu werden. Für Nikolaus von Kues verlieren daher im Hinblick auf Aussagen über Gott die drei regulative Axiome der klassischen Logik ihre Grundlagen und Gültigkeiten, nämlich das Axiom der Identität (A bleibt in allen konkretisierten Relationen mit sich selbst identisch), das Axiom vom verbotenen Widerspruch (von A dürfen keine widersprüchlichen Aussagen gemacht werden) und das Axiom vom ausgeschlossenen Dritten (eine Aussage ist entweder wahr oder unwahr). Um die Sonderstellung Gottes zu kennzeichnen greift er deshalb zu einer höchst paradoxen Denkfigur. Er thematisiert Gott nämlich als Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum). Diese Denkweise impliziert, dass die Rede
�� 70 Nikolaus von Kues, Die Jagd nach der Weisheit (De venatione sapientiae), Kap. XII, a. a. O., Bd. 1, 2014, S. 51. 71 Nikolaus von Kues, Das Nicht-Andere (De non-aliud), a. a. O., Bd. 2, 2014, S. 465.
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über Gott auch nicht den Schlussfolgerungsregeln der klassischen Logik unterworfen werden kann. Das verdeutlicht er durch folgendes Denkmodell. Wenn man die Menge der Zahlen ins Auge fasse, dann könne man feststellen, dass es keine Zahl für die Einheit der Vielzahl von Einzelzahlen gebe. Eine solche Zahl würde ja auch aus dem System der sich voneinander unterscheidenden Einzelzahlen herausfallen und könnte deshalb auch nicht als Zahl unter Zahlen verstanden und verwendet werden. Wenn man die Zahl als Urbild der Dinge betrachtet, so scheint es, daß jene göttliche Einheit allem vorangeht und alles in sich einschließt. Sie geht jeder Vielheit voraus, steht vor aller Verschiedenheit, Andersheit, Gegensätzlichkeit, Ungleichheit, Trennung und allem anderen, das die Vielheit begleitet.72
Mit der Thematisierung Gottes als Nicht-Anderes will Nikolaus von Kues darauf aufmerksam machen, dass dieser Denkinhalt weder begrifflich erfasst noch pronominal im üblichen Sinne gehandhabt werden kann. Für ihn laufen im Hinblick auf das Phänomen Gott alle begrifflichen Objektivierungsverfahren des Verstandes ins Leere, selbst wenn man Gott im Sinne der Hochscholastik als höchstes Sein (ens perfectissimus) versteht. Allenfalls könne er mit Hilfe der Vernunft auf unbegriffliche bzw. unbegreifende Weise (incomprehensibiliter) wahrgenommen werden. „Wir schließen daraus, daß im Dunkel unserer Unwissenheit auf unbegreifliche Weise die genaue Wahrheit leuchte. Und das ist jene wissende Unwissenheit, die wir suchen [...].“73 Im Hinblick auf das Konzept der negativen Theologie bei Nikolaus von Kues ist immer zu beachten, dass alle Negationsformen eigentlich keine sachthematischen Behauptungsfunktionen haben, sondern vielmehr reflexionsthematische Regulationsfunktionen für das Denken, da sie ja im Dienste der Zielsetzung wissende Unwissenheit (docta ignorantia) stehen. In solchen geistigen Prozessen können dann auch Unterscheidungen, die wir zunächst für unantastbar halten, letztlich doch hinfällig werden. Das trifft für Nikolaus von Kues beispielsweise für die Unterscheidung von Kurve und Linie zu, die ihre Differenzierungskraft verliert, wenn wir den Radius einer Kurve unendlich vergrößern. Die negative Theologie ist weder bei Pseudo-Dionysius Areopagita noch bei Nikolaus von Kues als eine zum Dogma tendierende Lehre zu verstehen, sondern nur als ein Denkverfahren für die Kontaktaufnahme mit einer Sphäre, die sich einer direkten sprachlichen Objektivierung entzieht. Sie hat deshalb auch
�� 72 Nikolaus von Kues, Die Mut-Maßungen (De coniecturis) Kap. VII, a. a. O., Bd. 2, 2014, S. 19. 73 Nikolaus von Kues, Die wissende Unwissenheit (De docta ignorantia) 1. Buch Kap. XXVI, a. a. O., Bd. 1, 2014, S. 297.
488 � Die Negation in Religion und Theologie eine strukturelle Verwandtschaft mit Wittgensteins Sprachspielgedanken, insofern sie die Vermittlungsfunktion der Sprache in den Mittelpunkt des Interesses stellt bzw. die Verknüpfung von Sprachformen mit Denk- und Lebensformen. Die negative Theologie strebt nur danach, die Sprache so gegenstandsadäquat wie möglich verwenden. Das schließt nicht nur den Gebrauch von Negationen ein, sondern auch den Gebrauch der Negation der Negation, ohne dass dieser spezifische Negationsgebrauch im Sinne der klassischen Logik natürlich in eine faktische Affirmation umschlägt. Nikolaus von Kues hat ebenso wie der mittelalterliche Nominalismus auf entscheidende Weise dazu beigetragen hat, das uns prinzipiell immer sehr naheliegende Substanzdenken durch ein operatives Relations- und Funktionsdenken abzulösen, welches unserem faktischen Wissen im Prinzip immer den Status von Mutmaßungen bzw. die Qualität einer wissenden Unwissenheit gibt. Gerade dadurch sind seine Überlegungen aber nicht nur theologisch, sondern auch semiotisch und erkenntnistheoretisch sehr wichtig geworden. In ihnen manifestiert sich nämlich die grundsätzliche Auffassung, dass unser Wissen eigentlich keinen Endgültigkeitsstatus bekommen kann, sondern sich vielmehr ständig neu perspektivisch organisieren muss. Am Beispiel der Rede über Gott wird von ihm auf exemplarische Weise auf die konkreten Bedingungen aufmerksam gemacht, unter denen wir von komplexen Denkgegenständen reden können. Dadurch wird dann zugleich auch deutlich, dass die Negation als eine Sprachuniversalie anzusehen ist, auf deren Leistung kein anspruchsvoller sinnbildender Sprachgebrauch verzichten kann.74
9.5.4 Die sprachtheoretische Bedeutsamkeit der negativen Theologie Die negative Theologie macht uns nicht nur dafür sensibel, wo die Grenzen der begrifflichen Objektivierungskraft der Sprache liegen, sondern auch dafür, wie man mit Hilfe von Negationen in einer nicht-resignativen Weise mit diesen Grenzen umgehen kann. Sie macht uns außerdem verständlich, dass sich in allen anspruchsvollen sprachlichen Sinnbildungsprozessen der sachthematische Objektbezug der Sprache nicht sinnvoll von ihrem reflexionsthematischen Subjekt- bzw. Selbstbezug trennen lässt. Dadurch wird auch unmissverständ�� 74 Zur philosophischen Einordnung von Nikolaus von Kues vgl. folgende Publikationen: H. Rombach, Substanz, System, Struktur Bd. 1, 1965, S. 150ff., 206ff.; St. Otto, Nikolaus von Kues, in: O. Höffe (Hrsg.), Klassiker der Philosophie Bd. 1 , 19852, S. 245‒261. St. Meier-Öser, Nikolaus von Kues, in: T. Borsche (Hrsg.), Klassiker der Sprachphilosophie, 1996, S. 95‒109. K. Flasch, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung, 1998.
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lich klar, dass Affirmationen und Negationen wie Dioskuren unzertrennlich zusammengehören bzw. dass wir bei ihrem Gebrauch ebenso wie der Gott Janus zugleich immer in zwei Richtungen zu blicken vermögen. Diese innere Dialektik der sinnvollen Nutzung von Sprache lässt sich durch die Denkfigur vom Blick aus dem Bilde recht gut veranschaulichen, die Nikolaus von Kues in die Welt gesetzt hat. Dieses Denkmodell verdeutlicht, dass wir immer zwei gegenläufige Denkstrategien in ein Fließgleichgewicht miteinander zu bringen haben, wenn wir bei der Sprache nicht die Abbildungs-, sondern die Vermittlungsfunktion als pragmatische Grundfunktion ansehen wollen. Die Denkfigur vom Blick aus dem Bilde leitet Nikolaus von Kues aus der visuellen Erfahrung ab, dass konkrete Personen auf Gemälden für uns so in Erscheinung treten können, dass sie von ihren jeweiligen Betrachtern nicht nur als passive Wahrnehmungsobjekte in einer ganz bestimmten Wahrnehmungsperspektive erfasst werden, sondern dass sie als abgebildeten Personen auch ihre Betrachter ständig anschauen können, selbst wenn diese ihren faktischen räumlichen Standort vor dem Bild verändern. Angesichts dieser visuellen Erfahrung stellt sich ihm und uns natürlich eindringlich das Problem, wie klar und eindeutig Wahrnehmungsobjekte und Wahrnehmungssubjekte in Wahrnehmungsprozessen voneinander isoliert werden können bzw. was zur Objektsphäre und was zur Subjektsphäre von Wahrnehmungsprozessen gehört.75 Dieselbe Problematik von komplexen sinnträchtigen Wahrnehmungsprozessen hat auch Rilke, wie schon erwähnt, in seinem Sonett ›Archaϊscher Torso Apollos‹ veranschaulicht und existenziell gedeutet: „[...] denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.“76 Die Denkfigur vom Blick aus dem Bilde veranschaulicht sehr eindringlich, dass man auch visuelle Wahrnehmungsprozesse verkürzt, wenn man sie nur in einem rein kontemplativen Sinne versteht und dabei ihre dialogischen Dimensionen auf abstraktive Weise methodisch ausklammert. Auch unser optisches Sehen kann immer ein Gesehen-Werden implizieren bzw. zumindest die Notwendigkeit, sich auch Rechenschaft über seine jeweiligen Wahrnehmungsprämissen, Wahrnehmungsmethoden, Wahrnehmungsziele und Wahrnehmungsfolgen abzulegen. So betrachtet haben also nicht nur kognitive, sondern auch visuelle Wahrnehmungsprozesse im Prinzip immer eine dialogische und damit auch existenzielle Dimension, da auch sie zu den durchaus gestaltungsbedürf�� 75 Nikolaus von Kues, Die Gottesschau (De visione Dei), Philosophisch‒theologische Schriften Bd. 3, 2014, S. 95ff. Vgl. auch H. Herold, Bild der Wahrheit ‒ Wahrheit des Bildes. Zur Deutung des „Blicks aus dem Bild“, in: V. Gerhardt/H. Herold (Hrsg.), Wahrheit und Begründung, 1985, S. 71‒98. 76 R. M. Rilke, Werke in drei Bänden, Bd. 1, 1991, S. 313.
490 � Die Negation in Religion und Theologie tigen Lebensformen des Menschen gehören. Der Biochemiker Erwin Chargaff hat diesbezüglich den folgenden erkenntnistheoretischen Aphorismus formuliert: „Wir sehen nur, was uns sieht.“77 Aus denselben Gründen sollten daher auch Negationsprozesse nicht nur als monologische Abwehrverfahren verstanden werden, sondern vielmehr immer auch als dialogisch orientierte Sinnbildungsverfahren. Beim Gebrauch von Negationen kann man nämlich nicht nur lernen, mit den Widerständigkeiten von Denkgegenständen, Sachverhalten und Gesprächspartnern umzugehen, sondern darüber hinaus auch, sich selbst besser zu verstehen. Man hat beim Gebrauch von Negationen nämlich immer mitzubedenken, was einem selbst wichtig ist und was man in allen expliziten und impliziten Negationsanstrengungen gleichwohl doch immer noch affirmieren möchte. Die Verwendung von Negationsformen zeigt einerseits, dass wir in unserem Denken und Sprechen immer an die Nutzung bestimmter vorgegebener Denkund Sprachmuster gebunden sind. Sie zeigt aber andererseits auch, dass wir beim Gebrauch sprachlicher Formen ziemlich große Spielräume haben, weil wir unseren konkreten Sprachgebrauch immer durch metainformative Informationen interpretieren und variieren können. Ähnlich wie wir bei Segeln durch bestimmte Bauformen von Schiffen und bestimmte Steuermannskünste mit dem Wind gegen den Wind ansegeln können, so können wir auch durch den flexiblen Gebrauch sprachlicher Formen und insbesondere durch die Nutzung von expliziten und impliziten Negationsformen mit der Sprache gegen die Vorgaben der konventionalisierten Sprache anreden. Auf den ersten Blick könnte man vielleicht annehmen, dass die negative Theologie eigentlich eine spezifische Erscheinungsform des Agnostizismus oder gar des Atheismus sei, weil man sich natürlich die Frage stellen kann, ob etwas existiert, das man sich faktisch nicht vorstellen kann bzw. dem faktisch alle vorstellbaren konkreten Eigenschaften abgesprochen werden. Ein solches Verständnis der negativen Theologie entspräche aber nicht den Zielsetzungen und dem Selbstverständnis dieser theologischen Denkrichtung, weil es in ihr intentional darum geht, Gott als ein Phänomen zu verstehen, das unsere üblichen sprachlichen Objektivierungsmöglichkeiten prinzipiell transzendiert. Das heißt für die negative Theologie nun aber keineswegs, dass sich über Gott nur schweigen lässt, sondern allenfalls, dass über ihn anders als üblich gesprochen werden muss. Ihre negierenden Redeweisen über Gott sollen deshalb auch nicht seine Existenz und Wirksamkeit in Frage stellen, sondern ihn nur als nicht direkt kategorisierbar, vergleichbar und kognitiv beherrschbar kennzeichnen. �� 77 E. Chargaff, Bemerkungen, 1981, S. 138.
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So betrachtet liegt deshalb auch die Annahme nahe, dass der Theist und der Atheist gar nicht über dasselbe reden, wenn sie das Wort Gott verwenden bzw. wenn sie die Wirklichkeit Gottes affirmieren oder negieren. Möglicherweise kennt der Atheist nämlich die Region gar nicht, auf die sich der Theist mit dem mehr oder weniger pronominal zu verstehenden Wort Gott zu beziehen versucht. Möglicherweise ist für den Theisten aber auch gar nicht wirklich nachvollziehbar, dass der Atheist dort gar nichts wahrnimmt, wo er selbst eine höchste Realität annimmt, obwohl er diese höchste Realität sprachlich nicht so objektivieren kann, wie er sich die daraus abgeleiteten Realitäten üblicherweise sprachlich vergegenständlicht. Der Atheist könnte dem Theisten vorwerfen, dass er naiv sei, weil für ihn das, was sprachlich direkt oder indirekt thematisierbar sei, gleichsam schon den Charakter einer Realität bekomme, obwohl es doch faktisch eigentlich nur den Charakter einer Fiktion habe. Umgekehrt könnte der Theist dem Atheisten vorhalten, er sei naiv, weil sich für ihn die Realität in dem erschöpfe, was sich im Netz der von ihm akzeptierten und praktizierten Wahrnehmungsverfahren und Objektivierungsbegriffe einfangen lasse. Der Atheist könnte mit Feuerbach sagen, dass das Phänomen Gott eine bloße Projektion des Menschen sei und dass sich deshalb die ganze Theologie letztlich in Anthropologie auflösen lasse. Der Theist könnte umgekehrt sagen, dass alle Denk- und Prüfverfahren des Atheisten selbst eine anthropologische bzw. historische Genese hätten und daher auch immer nur eine begrenzte Relevanz und Reichweite. Obwohl die negative Theologie eindringlich auf die Grenzen der Objektivierungskraft der Sprache verweist, so stellt sie dennoch ihre Vermittlungsfunktion nur partiell, aber keineswegs grundsätzlich in Frage, eben weil es die Möglichkeit des metaphorischen und des negierenden Sprachgebrauchs gibt. Eben deshalb lässt sich die Sprache dann auch als eine sehr anpassungsfähige Lebensform im Sinne Wittgensteins ansehen. Auf diese Weise bekommt dann die negative Theologie auch eine strukturelle Verwandtschaft zu allen sprachtheoretisch sensiblen philosophischen Denkströmungen der Gegenwart. So wendet sich beispielsweise Richard Rorty gegen die Vorstellung, die Philosophie solle und könne die Wirklichkeit widerspiegeln. Er strebt ganz ähnlich wie die negative Theologie eine „bildende Philosophie“ an, die „nicht darauf abzielt, Wahrheiten zu entdecken, sondern darauf, ein Gespräch fortzusetzen.“ Sie solle helfen, „die Selbsttäuschung zu vermeiden, der wir verfallen, wenn wir unsere Selbsterkenntnis durch die Erkenntnis objektiver Tatsachen zu erzielen glauben.“78 �� 78 R. Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, 19943, S. 404.
492 � Die Negation in Religion und Theologie Eine Philosophie, die sich selbst eher als einen heuristischen Prozess und weniger als abschließende Lehre versteht, ist selbstverständlich auf den Gebrauch von vielfältigen Objektivierungs- und Negationsformen angewiesen. Durch diese kann sie sich nämlich eine anthropologische und pragmatische Grundorientierung geben, die natürlich immer dialogisch und interaktionistisch und nicht monologisch und deskriptiv akzentuiert ist. Ähnliches trifft natürlich auch auf das semiotische Denken von Peirce und die Philosophie der symbolischen Formen von Cassirer zu. Gegen ein solches Verständnis der Aufgaben philosophischen Denkens gibt es natürlich nicht nur in der positivistisch, sondern auch in der analytisch orientierten Philosophie der Gegenwart ganz erhebliche Bedenken. Letztere akzeptiert zwar, dass es Sprachverwendungsformen geben muss, deren Sinn darin besteht, kenntlich zu machen, dass man noch um ein angemessenes Verständnis von bestimmten Sachverhalten ringe. Aber sie wendet sich entschieden dagegen, diese kognitiven Anstrengungsformen als philosophische oder theologische Analyseformen in einem wissenschaftlichen Sinne zu betrachten, da sie für diese Denkrichtung zu keinen intersubjektiv überprüfbaren und legitimierbaren Ergebnissen führen. Gerade im analytischen philosophischen Denken möchte man den Negationen nur einen rein sachthematischen Informations- bzw. Argumentationswert innerhalb von begrifflich durchstrukturierten Denk- und Aussagesystemen zuordnen, über die die zweiwertige Logik von wahr und falsch und insbesondere der Satz vom verbotenen Widerspruch nicht einfach außer Kraft gesetzt werden darf. Die negative Theologie bleibt deshalb für Franz von Kutschera weitgehend ohne sachlichen Gehalt. Sie besage nur, dass Gott völlig anders sei „als alle Dinge, die wir kennen.“ Damit unterscheide sie sich „nicht wesentlich vom Agnostizismus, nach dem Gott, wenn es ihn gibt, jedenfalls unerkennbar ist.“79 Kutschera will damit nun allerdings nicht behaupten, dass religiöse Äußerungen, deren Inhalte sich nicht begrifflich objektivieren und paraphrasieren ließen „keinen kognitiven Sinn“ hätten, sie „stellten nur keine wissenschaftlichen Aussagen dar.“ Deshalb möchte er auch klar zwischen der Sprache der Religion und der Sprache der Theologie unterschieden wissen. Ebenso wie bei dichterischen Aussagen liege die Signifikanz religiöser Aussagen „oft nicht in dem, was sie in ihrem wörtlichen Sinn nach besagen, sondern in der Art und Weise, wie sie uns etwas zeigen.“80
�� 79 F. von Kutschera, Vernunft und Glaube, 1990, S. 73. 80 F. von Kutschera, a. a. O., 1990, S. 81, 82.
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Gegen diese Argumentation lässt sich im Prinzip nicht viel einwenden, weil sie im Rahmen ihrer Denkprämissen stimmig ist. Allerdings muss man diesbezüglich nun auch sehen, dass hier ein Wissenschaftsbegriff zugrunde gelegt wird, der einen scharfen Schnitt zwischen den Intentionen und Formen des wissenschaftlichen und des alltäglichen Sprachgebrauchs macht. Kutschera wendet sich gegen alle Tendenzen, die Wissenschaft als eine Sinnbildungs- und Lebensform unter anderen zu betrachten. Er möchte sie als einzigen legitimen Weg zur Wahrheit in einem korrespondenztheoretischen Sinne verstanden wissen, in dem letztlich nur klar definierbare Begriffe, aber keine Metaphern und reflexionsthematischen Negationen einen legitimen Platz haben. Bei allen wissenschaftlichen Aussagen habe es nämlich immer um eine gültige sprachliche Repräsentation von Welt zu gehen und nicht um unterschiedliche Erschließungsweisen für die verschiedenen Ebenen der Welt. Deshalb ist für die analytische Philosophie Gott letztlich auch kein legitimer Gegenstand der Wissenschaft, weil er kein Gegenstand der empirischen Erfahrung ist, der klar bestimmt werden kann. Der reflexionsthematische bzw. heuristische Negationsgebrauch gehört für dieses Denken daher auch nicht zum Kernbereich der eigentlichen Wissenschaft, sondern allenfalls in ihr Zusatzfeld bzw. in das Feld ihrer methodischen und argumentativen Korrektur- und Abwehrstrategien. Diese Präzisierung des Wissenschaftsbegriffs in der analytischen Philosophie ist natürlich legitim. Sie ist aber nicht völlig selbstverständlich, weil damit zwei wichtige Implikationen verbunden sind, die nicht jedermann für akzeptabel halten wird, weil auf diese Weise dem wissenschaftlichen Denken und Sprechen recht enge Grenzen auferlegt werden. Zum einen wird dadurch nämlich weitgehend ausgeschlossen, dass diejenigen Formen des Denkens, die sich auf dezidierte Weise auch hermeneutisch, heuristisch bzw. abduktiv orientieren, zum Bereich der eigentlichen Wissenschaft gehören, da in diesem Denken natürlich nicht nur rein deskriptive Zielsetzungen verfolgt werden, sondern natürlich auch perspektivierende bzw. operative und sinnbildende. Zum andern wird dadurch auch weitgehend ausgeschlossen, dass die Philosophie als eine Art Metawissenschaft für alle Einzelwissenschaften zu verstehen ist, die den Stellenwert und die Leistungsmöglichkeiten der einzelnen Fachwissenschaften zu untersuchen hat. In dieser Sichtweise ist die Philosophie dann nämlich nicht nur eine Wissenschaft unter anderen Wissenschaften, sondern vielmehr eine sinnstiftende Meta- bzw. Integrationswissenschaft, die anthropologische, erkenntnistheoretische und semiotische Orientierungen methodisch nicht ausklammern darf, sondern vielmehr zu suchen hat. In dieser Sicht bekommt dann die Philosophie natürlich immer auch eine strukturelle Nähe zur Theologie bzw. zum reflexionsthematischen Negationsgebrauch in komplexen mehrschichtigen Sinnbildungsprozessen. Sie muss sich
494 � Die Negation in Religion und Theologie dann nämlich immer auch die Grundsatzfrage stellen, was man an relevanten Erkenntnis- und Wissensmöglichkeiten verliert, wenn man all das für wissenschaftsfremd erklärt, was sich einer ganz bestimmten wissenschaftlichen Objektivierungsmethode entzieht. Unter diesen Umständen ließe sich die Philosophie dann jedenfalls kaum noch als eine Wissenschaft von den Strukturen der Sinnbildung verstehen.
9.6 Die Schöpfung aus dem Nichts (creatio ex nihilo) Die lateinische Formel creatio ex nihilo lässt sich im Deutschen auf unterschiedliche Weise wiedergeben: Schöpfung aus dem Nichts; Schöpfung aus Nichts; Schöpfung aus nichts; Schöpfung aus etwas, was wir nicht kennen und einordnen können. Obwohl oder gerade weil diese lateinische Formel aus dem 2. Jh. n. Chr. nicht sehr eindeutig ist, so hat sie das christliche Schöpfungsverständnis bzw. das christliche theologische Denken doch sehr nachhaltig geprägt. Das ist insofern bemerkenswert, weil diese Formel nicht direkt auf einen kanonisierten biblischen Text zurückgeführt werden kann, sondern ein Interpretationsergebnis zur biblischen Schöpfungsgeschichte ist, das selbst in einem hohen Grade interpretationsbedürftig ist. Das machen schon die recht unterschiedlichen Übersetzungsmöglichkeiten ins Deutsche kenntlich. Die sachthematische Unschärfe dieser Formel hat ihre pragmatische Bedeutsamkeit aber eher gestärkt als geschwächt, eben weil sie sich deshalb verhältnismäßig leicht in ganz unterschiedliche religiöse und theologische Denkweisen integrieren ließ. Sprachtheoretisch ist die Formel vor allem deshalb sehr interessant, weil sich gerade an ihr die erkenntnistheoretische, anthropologische und semiotische Relevanz des Negationsphänomens facettenreich diskutieren lässt. An ihr kann nämlich gut demonstriert werden, dass in umfassenden Sinnbildungsbemühungen der sachthematische und der reflexionsthematische Negationsgebrauch immer ineinandergreifen müssen, um komplexe Wissensbildungen zu ermöglichen. Gerade am Beispiel dieser Formel kann gezeigt werden, wie sich bei der sprachlichen Strukturierung und Objektivierung vielschichtiger Denkzusammenhänge das sachthematische Verstandesdenken und das reflexionsthematische Vernunftdenken wechselseitig ergänzen können bzw. müssen.
9.6.1 Die erkenntnis- und sprachtheoretische Dimension der Formel Auf den ersten Blick kann man die Denkformel Schöpfung aus dem Nichts (creatio ex nihilo) sicherlich als eine etwas verschleierte Sachbehauptung verstehen,
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da sie sich recht leicht paraphrasierend in eine feststellende Sachaussage transformieren lässt: Die Welt ist aus dem Nichts erschaffen worden. Deshalb muss es diese Formel sich auch gefallen lassen, mit der Wahrheitsfrage im üblichen korrespondenztheoretischen Sinne konfrontiert zu werden. Dann stößt aber wohl ihre zustimmende Beurteilung sowohl im alltäglichen als auch im wissenschaftlichen Denken recht schnell auf eine entschiedene Ablehnung. Ihr sachlicher Gehalt scheint nämlich weder mit unserer praktischen Welterfahrung noch mit unserer üblichen Kausallogik vereinbar zu sein. Dabei kann man sich dann auch auf die Grundüberzeugung der antiken Naturphilosophie berufen, für die es immer schon als ausgemacht galt, dass aus Nichts nichts entstehen könne (ex nihilo nihil fit). Auf den zweiten Blick ist nun aber zumindest in Erwägung zu ziehen, ob diese Formel überhaupt als eine Sachbehauptung bzw. als ein konstatierender Sprechakt angesehen werden muss. Es spricht nämlich viel dafür, sie pragmatisch als einen hypothetisierenden bzw. abduktiven Sprechakt zu verstehen, der eher dazu dient, reflexionsthematische Sinnbildungsanstrengungen anzuregen, und weniger dazu, eine Sachbehauptung mit einem deskriptiven Wahrheitsanspruch aufzustellen. So gesehen hätte dann die Formel vor allem die provozierende Funktion, unsere Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie wir mit dem Problem des Weltursprungs überhaupt sinnvoll umgehen können. Sprechakttheoretisch gesehen hätte sie dann auch weniger eine Behauptungs-, sondern eher eine Fragefunktion. Ihr käme vor allem die Aufgabe zu, auf die Dimensionen eines relevanten Sachproblems aufmerksam zu machen und in Erfahrung zu bringen, wie man sich selbst in seinem Denken zu bewegen hat, um einen adäquaten Zugang zu diesem Sachproblem zu finden. In Erwägung wäre dabei dann auch zu ziehen, ob diese Formel überhaupt dazu dienen soll, etwas über den faktischen Ursprung der Welt im Sinne der heutigen Naturwissenschaften mitzuteilen, oder ob sie nicht eher eine spezifische sprachliche Ausdrucksform für die Konkretisierung einer ganz bestimmten Gottesvorstellung ist. Dann würde sie nämlich besagen, dass man sich die Schöpfung der Welt nicht in Analogie zu der Herstellung handwerklicher Produkte vorzustellen habe, sondern dass die Schöpfung der Welt eigentlich nichts anderes voraussetze als allein den Schöpfer. Dieser wäre dann selbst an keine bestimmten Schöpfungsprämissen in der Weise gebunden, wie ein Handwerker in seinen Erzeugnissen immer an bestimmte Rohstoffe, Werkzeuge und Fertigkeiten gebunden ist. Dann wäre diese Formel pragmatisch gesehen auch keine Erklärungsformel, sondern vielmehr eine Lobpreisungsformel, die Zeugnis von einer ganz bestimmten Gottesvorstellung ablegen soll. Diese Vorstellung wäre dann insbesondere dadurch geprägt, dass sie klar in Abrede stellt, dass man
496 � Die Negation in Religion und Theologie sich über den Denkinhalt Gott noch etwas Höherrangiges, Elementareres oder Wirksameres denken kann. Wenn wir mit Kant davon ausgehen, dass unsere konkreten Erkenntnisinhalte immer auf ganz fundamentale Weise durch bestimmte apriorische Erkenntniskategorien wie etwa Raum, Zeit oder Kausalität strukturiert und vorgeprägt werden, oder wenn wir mit Humboldt, Peirce und Cassirer der Meinung sind, dass in Erkenntnisprozessen auch kulturell entwickelte Denkmuster eine konstitutive Rolle spielen können, dann stellt sich natürlich unabweislich die folgende Grundfrage: Haben wir überhaupt objektivierende Denk- und Sprachformen bzw. wissenschaftliche Analyseverfahren, um verlässliche und allgemeingültige Sachbehauptungen über den Ursprung der Welt zu machen? 81 Unter diesen Umständen hätten wir dann insbesondere zu klären, welchen Sachbezug das Substantiv Nichts haben soll bzw. haben kann und ob wir mit ihm überhaupt Substanzvorstellungen im üblichen Sinne verbinden dürfen. Weiterhin stellte sich natürlich auch die Frage, ob das, was mit dem Wort Nichts inhaltlich benannt werden soll, der konkreten Weltschöpfung überhaupt zeitlich voraus liegt. Eine solche Auffassung würde nämlich beinhalten, dass das Nichts als ein Produkt einer Vorschöpfung angesehen werden müsste. Weiterhin stellte sich das Problem, ob unsere strukturierenden Erkenntniskategorien bzw. Erkenntnismittel (Raum, Zeit, Kausalität, Begriffe, Prädikation) einen unabhängigen und absoluten Ewigkeitswert haben oder ob sie möglicherweise auch selbst Bestandteile der Schöpfung sind. Falls wir vor dem Hintergrund dieser Überlegungen nun in Betracht ziehen, die Formel creatio ex nihilo nicht als Sachbehauptung zu verstehen, sondern eher als eine heuristische und perspektivierende Denkfigur, um uns einen Problemzusammenhang zu strukturieren, der jenseits unserer empirischen Erfahrungs- und Verifikationsmöglichkeiten liegt, dann ergibt sich natürlich auch unausweichlich ein philologisches Problem. Sollen wir, wie schon erwähnt, die Formel creatio ex nihilo im Deutschen mit Schöpfung aus dem Nichts, mit Schöpfung aus Nichts oder mit Schöpfung aus nichts wiedergeben. Dieses Problem ist nun allerdings keineswegs nur ein philologisches Problem, sondern zugleich auch ein ontologisches, theologisches und sprachtheoretisches, weil mit jeder Variante natürlich ganz unterschiedliche Denkhorizonte eröffnet werden. Die Übersetzung der Formel mit Schöpfung aus dem Nichts entspricht philologisch sicherlich am genauesten der lateinischen Vorlage. Der im Deutschen verwendete bestimmte Artikel dem hat zwar im Lateinischen als einer artikello-
�� 81 Vgl. dazu auch H. Hoping, creatio ex nihilo, Jahrbuch für biblische Theologie, 12, 1997, S. 290‒307.
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sen Sprache keine direkte morphologische Parallele, aber das lat. Wort nihilo ist zweifellos als Ablativ des Substantivs nihilum (das Nichts) anzusehen. Damit ergibt sich dann sowohl für das Lateinische als auch für das Deutsche das ontologische Problem, ob ein ursprünglich synsemantisches grammatisches Funktionswort (nihil bzw. nichts) überhaupt zu einem autosemantischen lexikalischen Inhaltswort (nihilum bzw. das Nichts) umgewandelt werden darf, mit dem wir natürlich typologisch ganz andere semantische Erwartungen verbinden als mit dem ursprünglichen grammatischen Funktionswort nichts. Von einem Substantiv erwarten wir nämlich kraft Analogie zu anderen Substantiven, dass es einen Sachbezug hat, den man sich in Form einer materiellen oder geistigen Substanz vorstellen und beschreiben kann, selbst wenn das im Einzelfall nicht immer leicht fällt. In unserer Formel kollidiert die grammatische Sinnerwartung bei dem Substantiv das Nichts nun aber ganz offensichtlich mit der Intention, die mit der faktischen Begriffsbildung das Nichts semantisch verbunden ist. Diese scheint nämlich das Ziel zu haben, die Vorstellung eines absoluten Privativums zu thematisieren. Damit wird dann allerdings nicht nur die Wort-, sondern auch die Begriffsbildung das Nichts sachthematisch sofort paradoxieverdächtig, da zwei sehr unterschiedliche bzw. zwei sich widerstreitende Informationen miteinander verbunden werden. Die Form (Wortart) und der Inhalt (Semantik) dieser Begriffsbildung schließen sich gleichsam wechselseitig aus. Deshalb hat dann ja auch, wie schon erwähnt, der frühe Carnap sehr heftig gegen den Gebrauch dieser Wort- bzw. Begriffsbildung in der Philosophie und Wissenschaft polemisiert, während der eher hermeneutisch orientierte Heidegger ganz unbeschwert davon Gebrauch gemacht hat. In der Tat ergeben sich sehr große Probleme, wenn wir versuchen, den begrifflichen bzw. semantischen Gehalt des Substantivs das Nichts näher zu bestimmen, weil dessen pragmatische Funktion ja gerade darin besteht, einen Denkinhalt sprachlich zu objektivieren, der mit Hilfe unserer üblichen Beschreibungskategorien nicht erfasst werden kann. Was sich nun aber mit unseren üblichen Denkkategorien nicht richtig objektivieren und beschreiben lässt, das betrachten wir in der Regel auch als faktisch nicht existent oder zumindest nicht als einen einigermaßen sinnvollen Denkgegenstand. Das einzige, was man so gesehen über die Semantik des Substantivs Nichts sagen könnte, wäre dann, dass es intentional etwas sprachlich thematisieren soll, das völlig konturlos außerhalb unserer möglichen Erfahrungen liegt und das eben deshalb auch kein wirklicher Wissensgegenstand für uns sein kann. Dieses Problem verschärft sich im Deutschen im Gegensatz zum Lateinischen noch durch die Verwendung des bestimmten Artikels das, für den es im Lateinischen keine Analogie gibt. Die bestimmten Artikel sind im Deutschen
498 � Die Negation in Religion und Theologie sprachgeschichtlich aus Demonstrativpronomen hervorgegangen, was hinsichtlich ihrer intentionalen Sinnbildungsfunktion keineswegs bedeutungslos ist. Es macht nämlich verständlich, dass bestimmte Artikel im Deutschen pragmatisch nicht nur das Geschlecht des jeweiligen Substantivs bezeichnen sollen, sondern zugleich immer auch eine ganz bestimmte Zeige- bzw. Vergewisserungsfunktion haben. Durch bestimmte Artikel werden wir nämlich in Verstehensprozessen dazu aufgefordert, auf schon thematisierte Vorinformationen zurückzugreifen bzw. auf allgemein bekannte Tatbestände. Aber gerade das ist ja nun bei dem Substantiv das Nichts kaum möglich. Dieses Problem würde sich nur dann etwas entschärfen, wenn wir es ohne bestimmten Artikel verwenden (Schöpfung aus Nichts), weil wir dann nicht auf eine schon gegebene Vorinformation bzw. auf einen allgemein bekannten Wissensbestand verwiesen würden, den wir faktisch gar nicht haben bzw. prinzipiell gar nicht haben können. Diese paradoxen Implikationen der Formel creatio ex nihilo werden etwas erträglicher wenn wir diese Formel im Deutschen mit Schöpfung aus nichts wiedergeben. In diesem Fall würden wir grammatisch nämlich nicht dazu aufgefordert, uns irgendwelche Substanzvorstellungen von dem Referenzbereich dieses Wortes zu machen. Wir würden nur dazu animiert, das sprachliche Zeichen nichts als negiertes Indefinitpronomen zu verstehen (nichts = nicht etwas), mit dem nicht ein bestimmtes Phänomen begrifflich eingeordnet werden soll, sondern mit dem lediglich auf etwas verwiesen wird, das kategorial noch nicht bestimmt ist bzw. das möglicherweise auch gar nicht kategorial bestimmt werden kann.82 Die Übersetzung der Denkfigur creatio ex nihilo würde sich im Deutschen dann etwas umständlich folgendermaßen auf interpretierende Weise paraphrasieren lassen: Schöpfung aus etwas, was uns inhaltlich im Rahmen unserer menschlichen Welterfahrung und unserer gegebenen sprachlichen Denkkategorien aktuell oder prinzipiell nicht näher bestimmbar ist. Es ist offensichtlich, dass ein solches Verständnis der Formel creatio ex nihilo theologisch, ontologisch und wissenschaftlich ziemlich unproblematisch ist, weil die Formel unter diesen Umständen nicht als Sachbehauptung zu verstehen ist, sondern vielmehr nur als eine Reflexionsaufforderung, die in keinem unmittelbaren inhaltlichen Konflikt mit unserer allgemeinen Welterfahrung und unserem üblichen Kausaldenken steht. Sie hat dann primär nur die Aufgabe, darauf aufmerksam zu machen, dass menschliche Erfahrungsinhalte immer perspektivisch vorstrukturiert sind und eigentlich ihre faktischen Prämissen nicht wirklich transzendieren können. �� 82 Vgl. dazu Kap. 4.2.3 dieses Buches.
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Dieses pronominale und operative Verständnis der Formel creatio ex nihilo und die damit verbundenen Negationsimplikationen lassen sich vielleicht am besten dadurch plausibel machen, dass wir uns die Entstehungsgeschichte dieser Formel vergegenwärtigen. Dadurch kann dann auch verständlich werden, dass diese Formel ursprünglich vielleicht eher einen Beitrag zum biblischen Gottesverständnis leisten sollte als einen Beitrag zur Entstehungsgeschichte der physisch gegebenen Welt.
9.6.2 Die Entstehungsgeschichte der Formel Da sich die formelhafte Denkfigur creatio ex nihilo nicht direkt aus kanonischen biblischen Texten herleiten lässt, kann sie im Prinzip eigentlich nur als eine theologische Interpretationsformel verstanden werden, deren Entstehungsgeschichte infolgedessen dann natürlich eine ganz besondere Aufmerksamkeit beanspruchen darf. Ihr ursprünglicher Sinn wird nämlich sehr gut fassbar, wenn man sie als Ergebnis der Auseinandersetzung des frühen Christentums mit zeitgenössischen Denkströmungen versteht. Diese Formel sollte nämlich zunächst gar keiner eigenständigen Kosmologie Ausdruck geben, sondern vielmehr den monotheistischen christlichen Allmachtsgedanken gegenüber den gängigen polytheistischen, pantheistischen und dualistischen religiösen Vorstellungen der damaligen Zeit hervorheben bzw. verteidigen. Im Schöpfungsbericht der Genesis wird nämlich lediglich gesagt, dass Gott am Anfang Himmel und Erde gemacht habe, dass er sein Werk allein durch die Macht des Wortes hervorgebracht habe und dass er das von ihm Geschaffene anschließend in Einzelformen ausdifferenziert habe. Bemerkenswert bei dieser sprachlichen Darstellung der Welterschaffung ist nun, dass dabei auf das Verb bara zurückgegriffen wird, das im Hebräischen ausschließlich für die Bezeichnung göttlicher Schaffensvorgänge verwendet wird, wobei nie das Material benannt wird, aus dem etwas hergestellt wird.83 Lediglich in einem apokryphen biblischen Text, der vermutlich im 1. Jh. v. Chr. in griechischer Sprache verfasst worden ist, findet sich eine Aussage, die die These von der creatio ex nihilo ansatzweise biblisch legitimieren könnte. Hier ermahnt eine Mutter nämlich ihren Sohn mit folgenden Worten dazu, den Märtyrertod auf sich zu nehmen, um nicht auf Befehl eines heidnischen Königs als Jude vom Gesetz der Väter abzufallen: „Ich bitte dich, mein Kind, sieh Himmel und Erde an und alles, was darin ist, und bedenke: dies alles hat Gott aus nichts �� 83 Vgl. J. Schwanke, Creatio ex nihilo, 2004, S. 46.
500 � Die Negation in Religion und Theologie gemacht, und wir Menschen sind auch so gemacht.“ (2. Makkabäer, 7. 28) Außerdem könnte auf eine Passage im Römerbrief von Paulus verwiesen werden, in der allerdings lediglich gesagt wird, dass Gott die Toten lebendig machen könne, ebenso wie er auch durch seinen Ruf bewirken könne, dass das sei, „was nicht ist.“ ( Römer 4. 17) Wichtig für die Entstehungsgeschichte der Schöpfungsformel ist auch, das der jüdisch-hellenistische Philosoph Philo von Alexandrien, ein Zeitgenosse von Jesus, sich sehr intensiv darum bemüht hat, das kosmologische Denken der griechischen Philosophie, wie es beispielsweise in Platons Timaios zum Ausdruck kommt, mit dem jüdischen Denken in Einklang zu bringen. Im platonischen Timaios-Dialog wird nämlich davon gesprochen, dass der Welturheber sein Grundmaterial schon vorfand und dass er als schöpferischer Weltbaumeister aus einem ursprünglichen amorphen Chaos einen gestalthaften Kosmos gemacht habe.84 Das entspräche dann dem Werk eines Töpfers, der aus einem ungestalteten Tonklumpen ein geformtes Gefäß herzustellen weiß. Wenn Philo nun betont, dass Gott „aus dem Nichtseienden“ geschaffen habe, so schließt er damit die Existenz einer schon gegebenen ewigen Materie keineswegs aus. Er will mit dieser Ausdrucksweise lediglich sagen, dass die gegebene und geordnete Welt so nicht schon ewig bestanden habe, sondern aus einem bestimmten einmaligen Gestaltungsakt hervorgegangen sei. Die Ewigkeit der Materie im Sinne eines ungestalteten Stoffs setzt er dabei wohl als ganz selbstverständlich voraus.85 Dieser ontologische Denkansatz zur Schöpfungsproblematik ändert sich im theologischen Denken des 2. Jahrhunderts entscheidend, weil man sich immer nachhaltiger mit zwei Grundproblemen konfrontiert sah. Einerseits musste man die eigene monotheistische Gottesvorstellung nachdrücklich gegenüber polytheistischen Gottesvorstellungen verteidigen und dabei insbesondere den Allmachtsgedanken hervorheben, der im Prinzip die Annahme ausschloss, dass es neben Gott noch in Form einer ewigen Materie ein ungewordenes und damit gleichursprüngliches Sein geben könne. Andererseits musste man sich aber auch gegen dualistische Denkströmungen zur Wehr setzen, die annahmen, dass die Welt durch den Kampf gegensätzlicher Prinzipien geprägt werde wie etwa der Opposition von Licht und Dunkel, Gut und Böse oder Geist und Materie. All das hat dann dazu geführt, dass man das Handwerkermodell für die Schöpfung der Welt durch Gott nicht mehr akzeptieren konnte. Stattdessen entwickelte man die Vorstellung einer creatio ex nihilo. Nach dieser geht dann auch
�� 84 Platon, Timaios 30a, Werke, Bd. 5, S. 155. 85 Vgl. G. May, Schöpfung aus dem Nichts, 1978, S. 16ff.
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die eigentlich formlose bloße Materie aus Gottes Schöpfungsprozess hervor, denn neben Gott konnte man natürlich kein gleichursprüngliches anderes Phänomen bzw. Sein akzeptieren. Augustin hat dann in einer Anrede an Gott ausdrücklich betont, dass dieser Himmel und Erde aus Nichts (de nihilo) geschaffen habe, da neben ihm nicht noch etwas anderes gewesen sei (Et aliud praeter te non erat.).86 Nach Augustin muss die Schöpfung aus Nichts erfolgen, weil es sich ansonsten nicht um eine wirkliche Schöpfung handeln würde, sondern um lediglich um eine Umformung. Deshalb ist für ihn auch die Zeit kein ewiges und eigenständiges Phänomen, sondern etwas, was erst durch die Schöpfung seine Existenz gewonnen habe und deshalb auch als ein rein innerweltliches Phänomen anzusehen sei. Auch Thomas von Aquin hat ausdrücklich postuliert, dass es neben Gott keine ungeschaffene Materie gegeben habe und dass der Schöpfungsprozess mehr gewesen sei als ein bloßer Umformungsprozess. „Aus Nichts Etwas machen, ist das Erschaffen“ (creare est aliquid ex nihilo facere).87 Für Luther ist die Formel creatio ex nihilo theologisch ebenfalls sehr bedeutsam. Damit werde nämlich klargestellt, dass alles Geschaffene und damit auch der Mensch ontisch allein von Gott abhänge. Gott sei der Unbedingte, der sein Handeln an nichts Vorgegebenes anknüpfen müsse und der auch nicht der Geltung des Kausalprinzips unterworfen sei. Das impliziert für Luther weiterhin, dass die Schöpfung im Prinzip nicht als abgeschlossen zu betrachten sei, sondern vielmehr als ein dauerhafter Prozess angesehen müsse (creatio continua).88
9.6.3 Die pragmatische Funktionalität der Formel Sowohl dem alltäglichen als auch dem wissenschaftlichen Denken ist die Vorstellung ziemlich fremd, dass sich etwas schaffen lässt, ohne dabei auf einen vorgegebenen Stoff und auf vorgegebene Strukturierungsprinzipien wie etwa Kausal- und Zeitrelationen zurückzugreifen. Ohne rohe Materie, ohne vorgegebene Ordnungsprinzipien und ohne ein bestimmtes Vorwissen scheint sich jedenfalls von Menschen nichts Konkretes gestalten zu lassen. Den Gedanken einer Schöpfung aus nichts bzw. aus dem Nichts kann man sich nur rein spekulativ mit Hilfe einer Sprache entwickeln, die nicht von vornherein nur dazu
�� 86 A. Augustinus, Confessiones/Bekenntnisse, Buch XII, 7, 19663, S. 682f. Vgl. auch Buch XIII, 33, S. 834ff. 87 Thomas von Aquin, Summe der Theologie, Bd. 1, 19543, S. 202, I qu. 45,1. 88 Vgl. J. Schwanke, Creatio ex nihilo, 2004, S. 136.
502 � Die Negation in Religion und Theologie dient, die gegebene Welt mit Hilfe sprachlicher Zeichen so abzubilden, wie sie ist. Sie muss als Sinnbildungswerkzeug vielmehr auch in der Lage sein, hypothetische Denkmodelle für denkbare Formen der Welt und des Handelns zu entwickeln, selbst wenn diese sich nach genauerer Prüfung später als nicht haltbar erweisen und daher ontologisch wieder negiert werden müssen. Für solche Sinnbildungsverfahren ist natürlich der Gebrauch von expliziten und impliziten Negationsformen unabdingbar. Mit ihrer Hilfe lassen sich nämlich nicht nur unbeschränkt theoretische Oppositionsbegriffe zu gegebenen Erfahrungsbegriffen konstruieren, sondern auch alternative Denkwelten zu empirischen Erfahrungswelten entwerfen. Diese haben zunächst natürlich immer nur einen rein hypothetischen Charakter, aber sie können für ihre Produzenten und Rezipienten durchaus Realitätscharakter bekommen, wenn sie bestimmten Sinnbildungsbedürfnissen entgegenkommen bzw. sich in bestimmten Hinsichten pragmatisch bewähren. Auf jeden Fall lässt sich gerade im Hinblick auf den Gebrauch sprachlicher Negationsformen die sprachtheoretisch wichtige Grundthese rechtfertigen, dass man zuweilen auch seine Denkmittel ändern muss, wenn man Neues wahrnehmen und sprachlich objektivieren will. Die Substantivierung des grammatischen Negationspronomens nichts zu dem Wort bzw. zu der hypothetischen Seinsgröße Nichts ist dafür ein sehr illustratives Beispiel. Eine zweite Frage ist dann allerdings, ob oder wie sich gerade im Hinblick auf unsere Schöpfungsformel ein solcher Transformationsprozess rechtfertigen lässt. Offensichtlich ist aber zugleich auch, dass sich verlässliche Aussagen über die Entstehung der Welt kaum mit den konventionell etablierten Sprachformen realisieren lassen, da diese ursprünglich natürlich für ganz andere pragmatische Zwecke entwickelt worden sind und daher auch auf ganz anderen Sacherfahrungen und Sinnbildungsintentionen aufbauen. Im Rahmen eines reflexionsthematischen Denkens und Sprechens über den Ursprung der Welt kommen wir bei der Beurteilung von entsprechenden Denkinhalten und sprachlichen Aussagen auch mit einem korrespondenztheoretisch orientierten Wahrheitsbegriff nicht recht weiter. Bei dieser Zielsetzung des Denkens kann man nämlich nicht nur die Intention verfolgen, Vorgegebenes in einem feststellenden Sinne abzubilden. Vielmehr hat man sich dann immer auch dem Problem zu stellen, wie man sich Unerfahrbarem und vielleicht sogar Unverstehbarem so sinnvoll wie möglich als einem möglichen Denkgegenstand sprachlich annähern kann. Deshalb ist hier von dem Wahrheitsgedanken allenfalls im Sinne des Kohärenz- und Fruchtbarkeitsgedankens Gebrauch zu machen bzw. im Sinne des Abduktionsgedankens von Peirce. Dabei gerät man dann allerdings leicht in die Gefahr, seine Denkinhalte so zu strukturieren und sprachlich zu objektivieren, dass sie ganz bestimmten dogmatischen, ideologischen oder manipulativen Zwecken dienstbar gemacht werden können, inso-
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fern sie sich unter diesen Umständen natürlich recht leicht allen intersubjektiv kontrollierbaren und rational begründbaren Maßstäben entziehen lassen. Die religiösen und theologischen, aber auch die denkpsychologischen Funktionen der Formel creatio ex nihilo sind einem rein sachthematischen Denken kaum zugänglich, sondern allenfalls einem Denken, dass sich sowohl sachthematisch als auch reflexionsthematisch orientiert bzw. semiotisch, hermeneutisch und heuristisch. Gersholm Scholem hat deshalb auch darauf verwiesen, dass diese Formel in mystischen Denkströmungen meist so verstanden worden sei, dass damit eine Schöpfung aus Gott gemeint sei. In diesem Denkrahmen werde Gott nämlich verständlicherweise nicht als Seiendes unter anderem Seienden verstanden, sondern vielmehr als ein Nichts im Sinne eines Überseins.89 Die Identifizierung Gottes mit dem oder einem Nichts ist im Rahmen eines rein sachthematischen Denkens natürlich höchst paradox. Diese Paradoxie verliert sich aber, wenn man die Begriffsprägung das Nichts in einen ganz anderen Sprachgebrauch bzw. in eine ganz andere Sprachspielform einordnet. Beispielsweise hat nach Scholem ein unbekannter Kabbalist den Sinn des Wortes Nichts in der Schöpfungsformel folgendermaßen bestimmt. „Schöpfung aus Nichts bedeutet nun zweierlei: erstens daß die Welt nicht ewig ist, und zweitens, daß sie nicht aus einer Urmaterie außerhalb von Gott selber stammt.“90 Auf ganz ähnliche Weise hat dann auch Jakob Böhme auf die Schöpfungsformel Bezug genommen: „dann Gott hat alle dinge auß Nichts gemacht / vnd dasselbe Nichts ist er selber […].“91 Wenn man nun die Formel Schöpfung aus dem Nichts im Sinne des religiöstheologischen Sprachspiels versteht, dass Gott allein durch seinen allmächtigen Willen etwas geschaffen habe bzw. durch sein Wort, aber nicht in Abhängigkeit von einer schon existenten Urmaterie neben ihm, dann ist er in der Tat der Allmächtige. Er fällt dann nämlich aus dem Geltungsbereich der Ordnungskategorien heraus, die unser übliches Seins- und Weltverständnis prägen (Zeit, Raum, Kausalität, Substanz, Relation, Abgrenzbarkeit usw.) Er ist dann das NichtAndere im Sinne von Nikolaus von Kues bzw. des Nichts im Sinne von Jakob Böhme, weil er nur über die Negation dessen thematisierbar ist, was wir als etwas ansehen können. Die Thematisierung Gottes mit Hilfe der Substantivierung eines negierten Indefinitpronomens als Nichts besagt dann eigentlich nichts anderes als die
�� 89 G. Scholem, Über einige Grundbegriffe des Judentums, 1970, S. 53ff. 90 G. Scholem, a. a. O., 1970, S. 83. 91 J. Böhme, De signatura Rerum, Kap. VI, Werke, 1997, S. 566. Bibliothek der frühen Neuzeit, Bd. 6.
504 � Die Negation in Religion und Theologie Hervorhebung seiner Analogielosigkeit mit allem, was wir als Welt erfahren bzw. was wir uns sinnlich oder geistig vorstellen können. Damit wird die Bestimmung Gottes als Nichts dann zu einer Variante seiner Bestimmung als absolute Transzendenz, zu der es dann eigentlich auch keine Brücke im Sinne der scholastischen Lehre von der analogia entis gibt. Die Formel von der Schöpfung aus dem Nichts wäre dementsprechend dann auch nicht als ein zusammenfassender Sachbericht über die Entstehung der Welt zu verstehen, sondern eher als ein Bekenntnisbericht, in dem versucht wird, etwas zu versprachlichen, was sich eigentlich unseren üblichen sprachlichen Objektivierungskategorien vollständig entzieht und was sich allenfalls als Denkmöglichkeit über bestimmte sprachliche Negationsverfahren andeuten lässt. Mit den sprachlichen Negationszeichen das Nichts, Nichts, nichts und nicht können wir uns nämlich etwas in unserer Einbildungskraft hypothetisch präsent machen, was sich im üblichen Sinne weder konkret beschreiben noch kategorial einordnen noch mit konkret fixierbaren Grenzen versehen lässt. Wenn man die Denkfigur Schöpfung aus dem Nichts in dieser Weise versteht, dann liegt es natürlich auch nahe, den Schöpfungsvorgang nicht als einen abgeschlossenen Vorgang zu verstehen, da die Kategorie der Zeit diesbezüglich dann ja keine wirkliche Ordnungskraft mehr hat. Vielmehr wäre er als einen fortlaufenden Prozess im Sinne Augustins (creatio continua) anzusehen. Bei diesem Schöpfungsverständnis relativierte sich dann natürlich auch die grundsätzliche Opposition von Geist und Materie bzw. von Schöpfung und Evolution. Unser Erkenntnisinteresse würde sich dann nämlich nicht nur darauf richten, Seiendes von anderem Seienden zu unterscheiden, sondern auch darauf, unsere Aufmerksamkeit für die Prämissen unserer jeweiligen Denk-, Wahrnehmungs- und sprachlichen Sinnbildungsprozesse zu lenken bzw. unsere Sensibilität für Werdensprozesse zu steigern. Deshalb ist es dann auch prinzipiell plausibel, dass alle Formen des Gebrauchs von Negationen immer wieder mit Werdensvorstellungen in Zusammenhang gebracht worden sind. Diese Sichtweise unterstützt außerdem natürlich auch die These, dass Negationsformen nicht nur eine sachthematische Relevanz in argumentativen Sprachspielen haben, in denen es um unterscheidende Grenzziehungen geht. Vielmehr hätten sie auch eine reflexionsthematische Relevanz in solchen sprachlichen Sinnbildungsspielen, in denen es um heuristische Erschließungsprozesse mit sehr unterschiedlichen bzw. vielfältigen Zielsetzungen geht. Die anthropologische Relevanz von Negationen bestände dann nicht nur darin, die Welt durch Unterscheidungen auf den Begriff zubringen, sondern auch darin, die Sprache so zu gebrauchen bzw. umzugestalten, dass wir einen bestimmten relationalen Kontakt zu dem bekommen, was wir zwar sprachlich thematisieren wollen, was wir aber nicht oder noch nicht direkt begrifflich ob-
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jektivieren können. Gerade in diesen Zusammenhängen wird dann die Negation als eine Erscheinungsform von Werdensprozessen wichtig, die es ermöglichen, von den endlichen Objektivierungsmitteln der jeweils gegebenen Sprache ganz im Sinne Humboldts einen unendlichen Gebrauch zu machen. So gesehen könnten dann auch sprachliche Negationsverfahren als genuine Erscheinungsformen von Erkenntnisverfahren angesehen werden, die sich evolutionär nach und nach in sehr differenzierter Weise aus meist sehr groben, aber dennoch lebensdienlichen Abwehrverfahren entwickelt haben. Diese versuchen vordergründig zwar immer, etwas zu beseitigen, auszugrenzen oder in Abrede zu stellen, aber hintergründig bestätigen sie auch immer etwas, weil sie ganz bestimmte Korrelations- bzw. Interpretationszusammenhänge stiften. Auf diese Weise lassen sich über Negationen die Grenzen des Vorstellbaren zwar nicht beseitigen, aber dennoch partiell verschieben und flexibilisieren. Gerade diese Fähigkeit wird man nun aber wohl zu den Grundvoraussetzungen des menschlichen Denk- und Sprachvermögens zu rechnen haben. Das mögen fünf Aphorismen veranschaulichen, die von Autoren mit sehr unterschiedlichen Denk- und Lebenserfahrungen stammen. Sie alle sind aus dem Meer des Internets gefischt, wo sie wie unvermessene und unvermessbare Eisberge herumtreiben. Gleichwohl führen sie uns aber sehr nachhaltig vor Augen, welche Rolle Negationen bzw. Vorstellungen vom Nichts spielen, wenn wir an die Grenzen unserer üblichen Sinnbildungsverfahren geraten bzw. wenn Wissen, Glauben und Handeln in Kontakt miteinander kommen. Wer nichts zu schaffen hat, dem macht das Nichts zu schaffen. (Friedrich Nietzsche) Die Evolutionstheorie ist eine weltweit anerkannte Theorie, nicht, weil sie bewiesen werden könnte, sondern, weil sie die einzige Alternative zur Schöpfung ist, an welche wir nicht glauben wollen. (James D. Watson, Biochemiker und Nobelpreisträger) Es ist absurd und absolut unsinnig zu glauben, dass eine lebendige Zelle von selbst entsteht, aber dennoch glaube ich es, denn ich kann es mir nicht anders vorstellen. (Ernest Kahane, Biochemiker, in einem Vortrag am 17.1. 1964 im Cern bei Genf) Es ist ebenso schwer, das Nichts aus der Welt zu schaffen, wie die Welt aus dem Nichts. (Sigbert Latzel, Sprachwissenschaftler, *1931) Die Konstante, mit der immer und ewig zu rechen ist: das Nichts. (Walter Fürst,*1932)
10 Zusammenfassende Schlussbemerkungen Die hier vorgetragenen Überlegungen und Untersuchungen hatten das Ziel, die beiden anfangs formulierten Basisthesen zu entfalten und zu erläutern, dass die Negation als Sprachuniversalie anzusehen sei und dass der Mensch auch als homo negans bestimmt werden könne. Beide Thesen beinhalten, dass die Negation nicht sinnvoll als eine bloße Formkategorie zu betrachten ist, die sich auf befriedigende Weise allein morphologisch und systemtheoretisch beschreiben lässt. Deshalb wurde dann auch postuliert, sie als eine sinnbildende Lebenskategorie von großer anthropologischer Relevanz anzusehen, ohne die sich weder die biologische noch die geistige Existenzweise des Menschen als Kulturwesen befriedigend erfassen, strukturieren und verstehen lässt. Diese Denkposition schließt die These ein, dass man vom Phänomen der Negation zu wenig wahrnimmt, wenn man sie nur als ein Verfahren zur Aufhebung von Geltungsansprüchen und damit als eine Erscheinungsform der Vernichtung von etwas betrachtet. Sie legt in einer dialektischen Denktradition eher nahe, das Negationsphänomen immer auch als ein Erschließungs-, Erkenntnis- und Erzeugungsverfahren anzusehen bzw. als eine besondere Strategie der Sinnbildung und eben deshalb dann auch als eine spezifische Erscheinungsform des Lebens, des Werdens sowie der menschlichen Existenz- und Identitätssicherung. Das hatte dann natürlich zur Folge, das Interesse an Negationen nicht nur in einem systemtheoretisch orientierten Denkrahmen auf die explizit konventionalisierten sprachlichen Negationsformen zu beschränken. Es wurde vielmehr auf alle sprachlichen bzw. semiotischen Gestaltungsformen ausgeweitet, mit denen sich ganz bestimmte Einschränkungs-, aber auch Erschließungshandlungen durchführen lassen, die im Dienst von konkreten Wahrnehmungs-, Interaktions- und Sinnbildungsprozessen stehen. Diese Ausweitung des Interesses an Negationen auf ihre vielfältigen anthropologischen und semiotischen Implikationen war natürlich nicht problemlos. Sie beinhaltete nämlich, dass die Frage nach den Formen und Funktionen von Negationen weder allein in der Sicht der klassischen zweiwertigen Logik noch in der einer rein systemorientierten Sprachwissenschaft beantwortet werden konnte, da beide naturgemäß immer nur Teilaspekte der Negationsproblematik in den Blick bekommen. Letztlich musste diese Frage als eine genuin philosophische und semiotische Frage verstanden werden, die das rein fachwissenschaftliche Begriffs- und Methodeninventar überschreitet, insofern bei ihrer Beantwortung immer anthropologische, erkenntnistheoretische und zeichen-
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theoretische Grundprobleme zu beachten waren, die natürlich einen rein fachwissenschaftlich orientierten Denkhorizont immer transzendieren. Zu der Natur dieser Frage gehört es nämlich, dass jede mögliche Antwort nicht nur neue Fragen provoziert, sondern auch provozieren soll. Ihr Sinn besteht weniger darin, eine abschließende Antwort zu finden, sondern eher darin, die Dimensionen des Phänomens Negation kenntlich zu machen und uns Rechenschaft von unseren eigenen Erkenntnisinteressen an diesem Phänomen abzulegen. Sie fordert uns indirekt dazu auf, uns auf einen Erkenntnisweg zu begeben, auf dem die vielfältigen Aspekte des Negationsphänomens wie beim Rundgang um eine Skulptur erst nach und nach in Korrelation mit unserer eigenen Beweglichkeit in den Blick kommen. Das bedeutet, dass der Sinn der Frage nach den Formen und Funktionen der Negation eigentlich darin besteht, in einen interaktiven und konstruktiven Dialog mit sehr komplexen und widerständigen Erfahrungs- und Verfahrensphänomen einzutreten, der den jeweils Fragenden auch immer wieder dazu zwingt, sich Zeugnis von seinen eigenen Wahrnehmungsinteressen und Denkmöglichkeiten abzulegen. Gerade wenn wir von der Grundüberzeugung ausgehen, dass die Negation eine Sprach-, Denk- und Lebensuniversalie von großer anthropologischer Relevanz ist, dann werden wir sicherlich einzuräumen haben, dass wir dieses Phänomen nicht neutral in einer perspektivisch uneingeschränkten göttlichen Sicht abschließend wahrnehmen können. Vielmehr haben wir zu akzeptieren, dass wir es nur in einer perspektivisch bzw. methodisch gebundenen menschlichen Sicht wahrnehmen können, gerade weil es in einem sehr hohem Maße mit den biologischen und geistigen Grundlagen der menschlichen Lebensweise verwachsen ist. Wenn das Phänomen der Negation völlig durchschaubar und abschließend objektivierbar wäre, dann würde es auch seine fundamentale Funktion verlieren, auf konstruktive und konstitutive Weise zur Ausbildung der menschlichen Existenzform und Identität beizutragen. Für Menschen ist es anthropologisch gesehen vermutlich sehr viel wichtiger, aktiv und passiv auf flexible Weise mit Negationen umzugehen und ein Fließgleichgewicht zwischen konkreten Affirmations- und Negationsanstrengungen herzustellen, als dieses Phänomen morphologisch und funktional erschöpfend begrifflich zu bestimmen, eben weil Negationen ganz elementare und konstitutive Bestandteile von menschlichen Lebens- und Verhaltensweisen sind. Deshalb wurde hier auch von vornherein darauf verzichtet, das Negationsphänomen in einer rein systemtheoretisch orientierten sprachwissenschaftlichen Wahrnehmungsperspektive zu thematisieren. Vielmehr wurde der Versuch unternommen, es in einem sehr umfassenden philosophisch-semiotischen Denkrahmen ins Auge zu fassen, in dem unsere sehr vielfältigen sprachlichen,
508 � Zusammenfassende Schlussbemerkungen textuellen und operativen Negationsformen nicht nur als bloße Konventionsformen in Erscheinung treten, sondern immer auch als anthropologisch relevante Kultur- und Lebensformen. Um das Erkenntnisinteresse an Negationsformen zu konkretisieren, wurde immer wieder betont, dass Negationen sowohl eine sachthematische als auch eine reflexionsthematische Sinnbildungsfunktion haben. Damit sollte verdeutlicht werden, dass sie prinzipiell zwei unterschiedliche, aber dennoch zusammengehörige elementare pragmatische Funktionen haben, die gleichsam symbiotisch miteinander verwachsen sind. Das bedeutet, dass Negationen nicht nur in das Reich des analysierenden und schlussfolgernden Verstandes gehören, sondern auch in das Reich der synthetisierenden und sinnbildenden Vernunft. Einerseits sind nämlich Negationen zweifellos dazu dienlich, unser sachthematisches Denken und Argumentieren intersubjektiv verständlich sprachlich zu objektivieren und zu strukturieren sowie wahrheitstheoretisch nach der zweiwertigen klassischen Logik zu beurteilen. Insofern gehören Negationen dann auch in den Rahmen der Darstellungs- und Abbildungsfunktion der Sprache bzw. in den Rahmen von sachgerechten Wahrnehmungs-, Entscheidungsund Handlungsprozessen, was ja gerade die Diskussion über die Existenz von sogenannten negativen Tatsachen deutlich exemplifiziert. Andererseits sind Negationen aber zweifellos auch dazu dienlich, unser reflexionsthematisches Denken direkt oder indirekt zu ermöglichen und zu aktivieren, weil sie über Ausschlussverfahren dabei helfen, Unbekanntes bzw. Unkategorisiertes auf kontrastive Weise zu lokalisieren und damit in einem ersten Schritt auch sprachlich zu objektivieren. Insofern gehören Negationen dann auch zu den elementaren Erscheinungsformen der Heuristik und Hermeneutik, weil sie eine unverzichtbare Brückenfunktion in Wahrnehmungs- und Sinnbildungsprozessen übernehmen können, über die Neuland kognitiv und sprachlich bzw. semiotisch erschlossen werden kann. Das bedeutet, dass Negationen für Menschen nicht nur wichtige Verfahren sind, Subjektwelten mit Objektwelten miteinander in Beziehung zu setzen, sondern auch sehr wirksame Mittel, dialogisch orientierte Denkprozesse vielfältiger Art in Gang zu setzen. Beim Gebrauch von Negationen werden die Gegenstände des aktuellen Denkens nämlich in ihrer Widerständigkeit ernst genommen, obwohl oder gerade weil sie ja oft nicht unmittelbar benennbar sind, sondern erst interpretierend erschlossen werden müssen. Das macht es dann faktisch erforderlich, nicht nur das eigene Denken, sondern auch die eigene Sprache seinen jeweiligen Denkgegenständen immer wieder neu anzupassen bzw. im Sinne Humboldts von den endlichen Mitteln unserer Sprache einen unendlichen Gebrauch zu machen. Aus diesen Strukturverhältnissen ergab sich dann die weitere Konsequenz, das Interesse an Negationen von der Ebene der explizit
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konventionalisierten Negationsformen auf die Ebene der Negationsimplikationen von anderen Sprachformen auszuweiten bzw. auf die Ebene von spontan erzeugten Negationsformen und Negationsverfahren. Das pragmatisch orientierte Grundinteresse an Negationen hat außerdem dazu angeregt, sich nicht nur mit dem Problem zu beschäftigen, wie man mit Negationen den faktischen Geltungsanspruch von sprachlichen Aussagen und Denkmustern in Frage stellen kann, sondern auch mit den Problemen, wie man überhaupt kognitive Grenzen ziehen, wie man Aussagen relativieren, wie man Zweifel anmelden, wie man Hypothesen entwerfen und wie man erfahrungstranszendente Denkinhalte sprachlich thematisieren kann. Das schloss dann auch ein Interesse dafür ein, wie man logisch und anthropologisch mit dem Begriff der Wahrheit umzugehen hat. Auf jeden Fall sollte durch diese Überlegungen klar gemacht werden, dass Negationen intellektuelle Differenzierungsbemühungen nicht nur abschließen, sondern auch eröffnen oder provozieren können. Das rechtfertigte dann zugleich auch die These, dass die Negation als eine Kategorie des Werdens anzusehen ist, über die Seinswelten nicht nur voneinander unterschieden, sondern auch miteinander verbunden werden können. Außerdem konnte dadurch auch plausibel gemacht werden, warum man im konkreten Sprachgebrauch natürlich nicht nur auf bereits konventionalisierte Negationsformen zurückgreifen muss, sondern dass man auch ständig neue entwickeln darf und muss. Diese setzen sich dann entweder evolutionär durch oder sie verschwinden wieder aus dem Sprachgebrauch, wenn sie in unseren sprachlichen Sinnbildungsprozessen keine dauerhafte Relevanz erlangen können. Nicht zuletzt ist Mephisto ja gerade deshalb eine so faszinierende Figur, weil er ein Meister beim Gebrauch von expliziten, impliziten und spontanen Negationen ist bzw. weil er immer wieder Negationsprozesse in Affirmationsbzw. neue Sinnbildungsprozesse umschlagen lassen kann. Negationen sind deshalb sicherlich auch zu den Listen der Vernunft bzw. zu denen des sinnbildenden Denkens zu rechnen, da sie unseren Denkprozessen ja eine innere Dynamik verleihen können, die diese höchstens methodisch aber nie faktisch zur Ruhe bzw. zum Abschluss kommen lassen. Das bedeutet dann auch, dass wir unser Denken nicht nur von seinen Ergebnissen her zu beschreiben und zu qualifizieren haben, sondern auch von seinem spezifischen Bewegungsmodus her. Etwas restlos zu durchschauen und zu objektivieren führt schnell zur Langeweile bzw. zum Tode des Denkens als Lebensform. Begriffliche Siege führen leicht zur Erstarrung und Dummheit, während Niederlagen und Negationen erfinderisch machen können, da sie das Denken ja nachhaltig zu stimulieren wissen. Faktischer Erfolg und stabiles Wissen ist ebenso wie normative Schönheit für Menschen wahrscheinlich kaum dauerhaft zu ertragen, weil uns all das durchaus von lebendigen Sinnbildungsprozessen, von der spie-
510 � Zusammenfassende Schlussbemerkungen lerischer Funktionslust in geistigen Anstrengungen und von der schöpferischen Einbildungskraft abschneiden kann. Das verdeutlicht dann auch sehr klar, dass Affirmations- und Negationsprozesse für menschliche Sinnbildungsprozesse wie Dioskuren unzertrennlich zusammengehören. Negationshandlungen sind immer Antworten auf gestellte oder ungestellte Fragen bzw. Reaktionen auf offenkundige oder verdeckte Annahmen oder Hypothesen. Daher repräsentiert sich in allen Negationsformen auch ein ganz bestimmter Typus von Wissen. Dieser gehört in der Regel allerdings nicht zu unserem direkt nutzbarem Gegenstandswissen. Es repräsentiert vielmehr ein operativ nutzbares Handlungswissen darüber, wie man in ganz bestimmten Erkenntnis-, Kommunikations- und Interaktionssituationen sprachlich bzw. semiotisch verfahren kann. Daher gehört das mit Hilfe von Negationen konkretisierbare Wissen auch nicht nur in die Welt des Seins bzw. in die Welt der monologischen Beschreibungen und Objektivierung von Sachverhalten, sondern auch in die Welt des Denkens und der dialogischen Interaktionen. In der klassischen Logik ist man verständlicherweise immer bestrebt gewesen, Negationen als Denkmittel und Denkverfahren so weit wie möglich zu konventionalisieren und dadurch auch zu domestizieren. Das dokumentieren nicht nur die begrifflichen Interpretationen unserer Negationshandlungen durch Verben wie verneinen, widersprechen, bestreiten, verwerfen, leugnen usw., sondern auch die unterschiedlichen Negationssiglen der formalen Logik. Im natürlichen und alltäglichen Sprachgebrauch gleichen Negationen allerdings eher unkontrollierbaren Wirbelstürmen, die recht unübersichtliche Ursachen, Strukturen und Konsequenzen haben. Negationen können nämlich nicht nur ablehnende, verwerfende oder gar zerstörerische Funktionen bekommen, sondern auch hilfreiche, insofern sie sich auch dazu nutzen lassen, Versteifungen, Erstarrungen und Verholzungen aller Art aufzuheben und immer wieder neue Korrelationen herzustellen. Dadurch ergeben sich dann auch vielfältige Chancen, das jeweils Negierte nicht gänzlich aus dem Bewusstsein verschwinden zu lassen, sondern mit einen anderen Stellenwert auch in ihm zu verankern. Negationsformen gehören so gesehen nicht als Sonderformen an den Rand der Sprache bzw. des Denkens und Kommunizierens, sondern als Elementarformen in die Mitte unseres Sprachvermögens, weil ohne sie ein flexibler und kreativer Sprachgebrauch gar nicht vorstellbar wäre. Die Verwendung von expliziten, impliziten und spontanen Negationsformen ist nicht nur ein Hinweis darauf, dass man die tradierte Sprache polyfunktional verwenden kann, sondern auch darauf, dass man das alte Wegenetz der Sprache einerseits erhalten, aber andererseits auch aus- und umgestalten kann. Mit Hilfe von Negationen lässt sich der Gebrauch der Sprache dann sowohl zu einem begrifflich-logischen Kalkulierungsprozess als auch zu einem heuristisch-hermeneutischen Erschlie-
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ßungsvorgang machen. Dadurch erweist sich die Sprache dann nach Bühler auch ein als geformter Mittler. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Heimat der Negation eher der Dialog und die polyfunktionale Interaktion ist als der Monolog und die rein sachthematische Objektivierung von gegebenen Sachverhalten. Deshalb ist die Negation als Sprachuniversalie sicherlich auch den Selbstschöpfungskräften der Sprache zuzurechnen. Die historisch bereits entwickelten und konventionalisierten sprachlichen Negationsformen gehören zweifellos zu der Sprache als einer gefestigten sozialen Institution (forma formata). Aber die Möglichkeit zum Negieren bzw. zur Entwicklung neuer Negationsformen gehört ebenso zweifellos zu der Sprache als einem universal verwendbaren Handlungs- und Sinnbildungswerkzeug (forma formans). Da Negationen in allen darstellenden, behauptenden und argumentativen Sprachverwendungsweisen eine wichtige pragmatische Sinnbildungsfunktion haben, können wir sie zweifellos dem Arbeitsmodus des Sprachgebrauchs zurechnen. Aber ebenso zweifellos können wir sie immer auch dem Lustmodus des Sprachgebrauchs zuordnen. Mit Hilfe von Negationen können wir nämlich problemlos auch über das sprechen, was sich normalerweise unserer empirischen Erfahrungskontrolle entzieht und was uns in das Reich der kreativen Einbildungskraft führt. Gerade diese sprachliche Gestaltungskraft von Negationen macht uns das Reich der Realitäten oft erst wirklich verständlich, weil wir uns auf diese Weise nämlich konkrete gestaltbildende Kontrastrelationen herstellen können. Deshalb wird man gerade diesem Gebrauchsmodus von Sprache auch einen ganz eigenständigen pragmatischen Wert kaum absprechen können. Ebenso wie auch nicht-beantwortbare Fragen sinnvoll sein können, weil sie uns für die mögliche Struktur von sehr komplexen Sachverhalten sensibilisieren, so kann auch der nicht-behauptende, reflexionsthematische und heuristische Negationsgebrauch sinnvoll sein, insofern er etwas zu unserer Weltorientierung und damit zu unseren Lern- bzw. Sinnbildungsverfahren beitragen kann und somit dann auch zu unserer Identitätsbildung. Auf jeden Fall ist festzuhalten, dass in jedem Negationsprozess Erfahrungen verarbeitet, Vorstellungs- und Wissensräume strukturiert und Wahrnehmungsintentionen präzisiert werden. Negationen stehen dann natürlich nicht mehr nur im Dienste der Registrierung von Tatsachen, sondern auch im Dienste der inhaltlichen Erschließung von Denkgegenständen. In diesem Denkrahmen wird dann auch die Subjektorientierung des Denkens nicht mehr zu einem konträren Gegenpol der Objektorientierung, sondern eher zu einem konstitutiven Bedingungsfaktor der Erzeugung von anthropologisch wichtigen Objektvorstellungen. Wirkliche Realisten sind wir wahrscheinlich nur dann, wenn wir akzeptieren, dass wir die Welt nicht an sich wahrnehmen und sprachlich objektivieren
512 � Zusammenfassende Schlussbemerkungen können, sondern nur so, wie es die Struktur unserer Vernunft bzw. die Struktur unserer sprachlichen bzw. semiotischen Objektivierungsmittel und Objektivierungsverfahren zulässt oder zumindest nahelegt. Zu diesen Bedingungen gehört dann sicherlich auch die Negation als ein Denk- und Sprachmittel, das im Laufe der Kultur- und Sprachgeschichte sehr vielgestaltige Ausdrucksformen gefunden hat und weiterhin wohl auch noch finden wird. Negationsformen und Negationsverfahren sind daher unabdingbare Sinnbildungsmittel, da sie uns in die Lage versetzen, mit tradierten Denk- und Sprachformen flexibel umzugehen und die Sprache nicht nur sachthematisch, sondern auch reflexionsthematisch zu nutzen. Alle Lebewesen nehmen die Welt relativ zu ihren Wahrnehmungsmitteln wahr. Beim Menschen haben sich diese Möglichkeiten durch die Entwicklung der Sprache und nicht zuletzt durch die differenzierte Ausbildung von Negationsformen im Vergleich zu den sprachlosen, wenn auch nicht zeichenlosen Tieren gewaltig ausgeweitet. Deshalb sind die konventionalisierten Negationsformen ebenso wie alle anderen lexikalischen und grammatischen Sprachformen auch als eine Art vorgetaner Arbeit anzusehen, deren Ergebnisse produktiv in aktuellen sprachlichen Sinnbildungsprozessen genutzt werden können. Das fällt bei lexikalischen Sprachformen allerdings sehr viel deutlicher auf als bei grammatischen, weil letztere als Organisationsformen des Denkens in der Regel meist als ganz selbstverständliche Naturformen des Denkens verstanden werden und kaum als historisch erarbeitete Kulturformen. Die konventionalisierten Negationsmittel und Negationsverfahren sind aber zweifellos als Kulturformen zu verstehen, in denen sich ganz bestimmte Strukturierungsanstrengungen semiotisch manifestiert und konkretisiert haben. Das schließt allerdings nicht aus, dass das Prinzip der Negation auch eine biologische Grundlage hat und insofern letztlich dann auch als eine anthropologische Naturform angesehen werden kann. Wenn das nicht so wäre, dann wäre es auch nicht sehr sinnvoll, die Negation als Sprachuniversalie zu klassifizieren, da sie ja ein sehr produktives Verfahren darstellt, ganz bestimmte Relationen zwischen unterschiedlichen Denkinhalten herzustellen. Solche Prozesse, die nicht nur zur Ausdifferenzierung von Vorstellungsinhalten führen, sondern auch zur Konstitution ganz neuartiger Korrelationsgeflechte bzw. Sinnbildungsverfahren, scheinen zu den immanenten Zielen aller Evolutionsprozesse in Natur und Kultur zu gehören. Das bedeutet nun, dass man zu kurz greift, wenn man annimmt, dass Negationen in der Sprache bzw. in der Kultur nur die Aufgabe hätten, bestimmte Vorstellungsinhalte aktuell oder prinzipiell für unzutreffend oder ungültig zu erklären. Sie dienen nämlich merkwürdigerweise auf eine ganz hinterlistig dialektische Weise auch dazu, das jeweils Negierte als Seins- oder Denkmöglichkeit
Zusammenfassende Schlussbemerkungen � 513
im Bewusstsein präsent zu halten. Wenn wir nämlich etwas negieren, dann blicken wir es natürlich immer auch an und lassen uns möglicherweise auch von ihm anblicken. Damit erhält sich das Negierte für uns als ein wirksamer Bestandteil unserer faktischen Vorstellungswelt. Was wir negieren, das gerät nicht in Vergessenheit, sondern bleibt etwas, mit dem wir uns auseinander zu setzen haben und das eben dadurch auch immer zu unserem Leben bzw. zu unserer Denkwelt gehört. Insofern sind die unterschiedlichen Negationshandlungen dann auch merkwürdiger- oder sogar paradoxerweise auch Strategien gegen das Vergessen bzw. auch Beiträge zur Ausbildung und Belebung unseres kulturellen Gedächtnisses. Daher lässt sich auch sagen, dass Kulturen sich nicht nur durch das konstituieren, was sie direkt oder indirekt affirmieren, sondern auch durch das, was sie direkt oder indirekt negieren bzw. auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Intensität auch negieren können. Auf jeden Fall halten Negationen das Denken in Fluss, weil sie noch deutlicher als Affirmationen Begründungen erforderlich machen und eben deshalb das Denken nie zur Ruhe kommen lassen. Beim Negieren geht das Denken nämlich auf ganz natürliche Weise immer wieder von Sachreflexionen in Sprach- und Selbstreflexionen über. Da jeder anspruchsvolle bzw. reflektierte Gebrauch von kulturellen Zeichensystemen und insbesondere von Sprache einerseits immer auf dem Vertrauen auf die adäquate Objektivierungs- und Sinnbildungskraft von Zeichen beruht, aber andererseits auch auf dem Bewusstsein der Differenz von Zeichen und gemeinter Sache, ist er natürlich immanent ständig mit der Negationsproblematik konfrontiert. Zu jedem sachthematischen Bewusstsein bzw. Denkinhalt kann prinzipiell ein reflexionsthematisches Begleitbewusstsein entwickelt werden, in dem der Geltungsanspruch der jeweils verwendeten Objektivierungsmittel positiv oder negativ qualifiziert werden kann. Ohne die Verwendung expliziter und impliziter Negationsverfahren ist der Aufbau eines solchen Begleitbewusstseins bzw. der Aufbau der dafür notwendigen Denkschleifen gar nicht vorstellbar. Negationen als Korrekturen und Interpretationen von Sachaussagen bzw. von Objektivierungsmitteln sind deshalb unabdingbare Bestandteile jedes anspruchsvollen komplexen Sprachspiels und daher auch Indikatoren für die Lebendigkeit des Denkens und die Wachstumsfähigkeit der Sprache. Negationen haben nämlich nicht nur etwas mit der Irrtumsfähigkeit von Konzepten und Zeichen zu tun, sondern immer auch etwas mit deren Wandlungsund Regenerationsfähigkeiten. Über Negationen können wir nicht nur unseren Umgang mit den Dingen regeln, sondern auch unseren Umgang mit den Zeichen für faktische oder vermeintlich Phänomene. Daher sind dann auch Negationsprozesse nicht nur als Auslöschungs- oder Vernichtungsprozesse zu verstehen, sondern immer auch
514 � Zusammenfassende Schlussbemerkungen als strukturierende Abstraktions- und Gestaltungsprozesse. Sie haben nämlich immer ganz bestimmte formbildende bzw. aufmerksamkeitslenkende Funktionen und können sowohl zu Assimilations- als auch Akkommodationsprozessen motivieren. Als Denk- und Sprachuniversalien gehören Negationen zur Lebendigkeit des menschlichen Denkens und Sprechens bzw. zur Ausbildung kultureller und individueller Identitäten. Das bedeutet nun, dass der homo loquens im Prinzip zugleich immer auch ein homo negans ist oder sogar sein muss. Jedes konkrete neue Wissen erzeugt sich nämlich auf der Basis eines ungenauen bzw. korrekturbedürftigen Vorwissens, wobei es dann zugleich auch immer auf ein neues Nichtwissen aufmerksam macht. So hat beispielsweise die euklidische Geometrie die nicht-euklidische provoziert und das kantische Denken das neukantische. Dabei darf dann allerdings nicht vergessen werden, dass die nicht-euklidische Geometrie die euklidische immer voraussetzt und eben deshalb auch irgendwie in sich enthält ebenso wie das neukantische Denken natürlich auch das kantische voraussetzt und in sich enthält. Jede Lehre und insbesondere jede Ideologie trägt deshalb in sich immer auch schon die Keime für ihre Negation und Transformation. Wenn man in dieser Weise die Negation letztlich nicht als Auslöschungs-, sondern als Interpretations- und Perspektivierungsverfahren versteht, dann lässt sie sich im Prinzip auch als eine genuine Ausdrucksform kognitiver und kommunikativer Lebendigkeit begreifen. Negationen lassen sich zweifellos sachthematisch sinnvoll gebrauchen, aber ebenso zweifellos lassen sie sich auch dazu nutzen, neue Relationen, Resonanzen und Interdependenzen zu stiften, die natürlich zu allen Formen von komplexen Sinnbildungsprozessen gehören. Negationen haben immer etwas mit Prozessen der Aufhebung bzw. der Vernichtung zu tun, aber zugleich auch immer etwas mit Prozessen der Sinnstiftung bzw. der Wissensbildung, weil sie etwas mit der Präzisierung und Transzendierung von Grenzen zu tun haben und mit der Fähigkeit des Denkens, neue Balancen und Fließgleichgewichte herzustellen und damit zugleich auch ein neues Wissen über vermeintlich schon gesicherte Tatsachen. Novalis hat diese dialektische Grundfunktion von Negationen sehr klar erkannt. So gut, wie alle Kenntnisse zusammenhängen, so gut hängen auch alle Nichtkenntnisse zusammen ‒ Wer eine Wissenschaft machen kann ‒ muß auch eine Nichtwissenschaft machen können ‒ wer etwas begreiflich zu machen weis, muß es auch unbegreiflich zumachen wissen ‒ Der Lehrer muß Wissenheit und Unwissenheit hervorzubringen vermögen.1
�� 1 Novalis, Das allgemeine Brouillon, 612, Werke Bd. 2, 1999, S. 613.
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Personenregister Adamzik, K. 121, 135 Admoni, W. 122, 138, 276 Adorno, Th. 350 Alice im Wunderland 144f. Angelus Silesius 458 Anselm von Canterbury 460 Apollo 313, 489 Arendt, H. 350 Aristoteles 9, 182f, 221, 355, 369 Arnauld, A. v. 377 Augustin 183, 261, 343f., 353, 460, 500 Bacon, F. 304f., 308, 313-315 Barth, K. 472 Bartlett, F. C. 227 Baruzzi, A. 346 Baumgarten, F. 353 Belting, H. 475 Benn, G. 423 Bense, M. 421 Benz, E. 477 Berg, H. 274, 410 Bergson, H. 332, 451 Bernhard 367f Bertalanffy, L. v. 46, 414 Best, O. 322 Biedermann, F. v. 420 Black, M. 229 Blackmore, S. 41 Blasius, E 334 Bloch, E. 209 Blühdorn, H. 121 Blumenberg, H. 219, 227 Boeckh, A. 367 Böhme, J. 256, 503 Böll, H. 288 Bollnow, F. 251, 396 Boost, K. 272f. Borchert, W. 53 Bourdieu, P. 13, 416 Boyd, R. 36 Brecht, B. 290, 356 Brinkmann, H. 266f. Bruner, J. S. 372
Büchner, G. 116, 295 Büchner, W. 237 Bühler, K. 67, 228, 367, 383, 405, 410, 511 Buffon 387f. Burkert, W. 447 Camus, A. 208 Capelle, W. 203, 431, 445, 478 Carnap, R. 192, 198-201, 206, 431, 497 Carroll, L. 144, 156 Cassirer, E. 14, 31, 64f., 395, 401, 446, 492, 495 Cavour, C. B. 353 Celan, P. 295 Chambon, J. 478 Chamisso, A. v. 188 Chargaff, E. 384, 489 Condé 477 Danton 116, 295 Darwin, Ch. 32-35, 348 Dawkins, R. 39f. Descartes, R. 1, 29 Deutsch, G. 231 Dionysius Areopagita 482, 484 Dioskuren 488, 509 Ditfurth, H. v. 35 Don Quichotte 373 Ebner Eschenbach, M. v. 296, 311 Eco, U. 11, 335, 365 Eigen, M. 407 Eisenberg, P. 138 Empedokles 445 Epikur 309f. Erkenbrecht, U. 197 Escher, M. C. 256 Esser, J. 375, 377 Eva 371 Fauconnier, G. 228f. Ferguson, A. 37 Feuerbach, L. 431, 491
528 � Personenregister Figuth, G. 306, 350 Fischer, H. 475 Flasch, K. 488 Flew, A. 463 Ford, H. 309f. Freud, S. 94, 132, 145, 324, 330f., 337 Frey, G. 108 Frisch, M. 312f. Fürst, M. 197 Gadamer, H. G. 396, 462 Galilei 280 Gamm, H. J. 334 Gehlen, A. 15 Geismann, G. 346 Gide, A. 442 Giono, J. 296 Glasersfeld, E. v. 106 Goethe, J. W. v. 46, 160, 307, 319, 419, 423, 436, 470 Goodman, N. 230, 372 Gottsched, J. Ch. 144 Graf, R. 270 Grotius, H. 344 Guericke, O. v. 191 Guyer, W. 16 Haas, A. 452, 454, 457f. Haecker, H.- J. 423-426 Hamann, J. G. 297 Hamlet 77 Hayek, F. A. v. 37f. Hebbel, F. 203 Hegel, G. W. F. 11, 175, 206, 233f., 238, 309, 401, 461 Heidegger, M. 192, 198f., 200-202, 206, 208, 497 Heine, H. 323 Heinemann, W . 123f. Heinrich, K. 131, 308 Heinroth, J. Ch. A. 348 Heintel, E. 471 Heisenberg, W. 85 Helbig, A. 276 Helbig, G. 127, 137, 276, 281 Hellmann, H. G. 419 Hemingway, E. 296
Heraklit 46, 206 Herder, J. G. 15, 17f., 187, 415 Herold, H. 489 Hesiod 430 Hinrich, M 197 Hippokrates 304 Hirsch, E. Ch. 338 Hochstaffl, J. 479 Hölderlin F. 419 Hofer, W. 397 Hofmannsthal, H. v. 154, 187, 239, 414 Hofstadter, D. R. 256 Homer 430 Hoping, H. 496 Hubbard, E. G. 296 Humboldt, W. v. 1, 7, 21, 54, 112, 120, 178, 366f., 385, 388f., 393, 395, 408, 410, 429, 446, 453, 485, 495, 504 Hume, D. 37 Humpty Dumpty 156 Ibsen, H. 350 Ihering, R. v. 378 Iser, W. 293 Isokrates 286 Jacobi, F. H. 309 Jachmann, M. 379 Jacobs, J. 121, 135 Jakobson, R. 131, 133, 214, 368 Janus 488 Jelles, J. 308 Jensen, H. 264f. Johannes vom Kreuz 197 Johnson, M. 232 Jerusalem, W. 103 Jüngel, E. 447, 472 Kafka, F. 7, 254, 257 Kahl-Furthmann, G. 198 Kant, I. 7, 24, 44, 85, 103, 117f., 125, 184, 198, 208, 233, 259, 268, 306, 309f., 315, 323, 330, 345f., 358, 364, 368, 395f., 433, 466, 468f., 484 Kaplan. R. 104, 205 Kaulen, H. 67 Keller, G. 28
Personenregister � 529
Kierkegaard, S. 238f, 251 Kleist, H. v. 295 Klemperer, V. 356 Klosa, A. 163 Koch, K. 435 Köller, W. 20, 22, 63, 93, 221, 263, 371, 383, 389f., 403, 423 König, G. 360 Koestler, A. 327 Kohlhaas, M. 295 Kolumbus 306 Konersmann, R. 231 Kraus, K. 147, 317, 319 Krohn, W. 305 Kürschner, W. 121 Kudszus, H. 318 Kuhn, Th. S. 88 Kutschera, F. v. 492 Lakoff, G. 232 Lamarck, J. B. 32-35, 40 Landmann, M. 14f. Laotse 197 Lapide, P. 462 Larenz, K. 375, 379f. Latzel S. 197 Lavater, J. C. 160 Lavi, D. 299 Lec, St. J. 14, 311, 316 Leibniz, G. W. 230 Leisegang. H. 28, 401f. Lenneberg, E. H. 410 Lessing, G. H. 144 Lewis, C. St. 467 Liessmann, K. P. 44, 308 Lichtenberg, G. Ch. 142, 186f., 235, 305f. 308, 310, 314f., 322f., 400, 444 Locke, J. 184 Löwith, K. 84 Lukács, G. 251f. Lütkehaus, L. 203 Lundy, M. 82 Luther, M. 295, 501 Luther, W. 342 Mandeville, B. 37 Mann, Th. 240, 248f.
Marfurt, B. 329 Marquard, O. 156, 359, 398f., 448 Mauthner, F. 149, 194f., 352, 366 May, G. 500 Mayer, H. 287 Meier-Öser, St. 488 Meister Eckhart 457 Mephisto 27, 107, 348, 509 Merton, R. K. 52 Monod, J. 35 Moses 371, 481 Müller, R. 328 Müller, W. G. 387f. Müller-Schwefe, H. R. 435 Musil, R. 249f., 269, 320, 370, 436 Niederhauser, J. 281 Nietzsche, F. 44, 65, 77, 197, 226, 247, 307f., 310, 323, 352, 354, 365f., 386, 435 Nikolaus von Kues 485-488, 503 Novalis 255, 315, 324, 405, 442, 457, 513 Nussbaumer, M. 135 Odysseus 144 Ödipus 249 Olson, D. R. 372 Oksaar, E. 298 Orwell, G. 356 Ostrogorsky, G. 475 Otto, R. 438f. Otto, S. 488 Pannenberg, W. 471 Parmenides 202, 482 Pascal, B. 256, 314, 443f. Paul, H. 382f., 414 Paul, Jean 109, 187, 220, 223, 240, 306, 324, 329, 337, 446 Paulus 482, 499 Peirce, Ch. S. 7, 20, 22-25, 79f., 110, 244, 316, 391-395, 420-422, 426, 440, 444, 470, 472, 492, 495, 502 Philo von Alexandrien 499f. Piaget, J. 47, 50 Picasso, P. 68f., 235, 370
530 � Personenregister Platon 63, 174, 187, 342, 369, 478, 482, 499 Plessner, H. 332f. Plotin 297, 452, 471, 476, 482, 484 Polyphem 144 Popper, K. R. 90 Prometheus 335 Preisendanz, W. 328 Prinz Eugen 378 Przywara, E. 471 Pseudo-Dionysius Areopagita 297, 479, 482‒485 Pufendorf, S. 344 Pythagoras 296 Quint, J. 456 Raynauld, F. 258f. Rausch, H. 360 Reisenberg, M. G. 197 Révész, G. 215 Ribbeck, O. 237 Richards, I. A. 229 Richerson, P. J. 36 Rilke, R. M. 313, 489 Rösler, W. 369 Romains, J. 296 Rombach, H. 31, 364, 429, 471, 488 Rorty, R. 491 Roth, G. 16, 107 Rüthers, B. 379 Russell, B. 11, 365 Salomo 304, Sancho Pansa 373 Saussure, F. de 21, 81, 390f., 394 Savigny, F. C. v. 379 Schädlich, H. J. 22 Schapp, W. 230, 410 Scheler, M. 18, 439f., 452 Schiewe, M. und J. 334 Schiller, F. v. 69, 395, 419, 436 Schlegel, F. 238, 307, 323, 328, 481 Schlemihl, P. 188 Schmidt, W. 267 Schmitz, U. 288, 292, 294 Schneider, A. 445
Schöne, A. 269f. Scholem, G. 502f. Schopenhauer, A. 206, 326f., 346, 388 Schottländer, P. 343 Schrödinger, E. 86 Schwanke, J. 499, 501 Schwarzlose, K. 475 Searle, J. 57, 112, 292 Seel, M. 102, 233 Sigwart, Ch. 102 Simmel, G. 299, 350 Simon, F. B. 108 Sisyphos 208 Sitta, H. 135 Šklovskij, V. 69f. Sokrates 17, 237, 247, 443 Solon 342 Sommer, V. 349 Sommerfeldt, K. E. 274 Sophokles 249 Spencer, H. 406 Spengler, O. 351 Spinoza, B. 308 Spitz, R. A. 132 Spitzer, L 384 Sprachabschneider, der 22 Springer, S. P. 231 Stern, C. und W. 59 Stickel, G. 121, 135 Strub, Ch. 224 Suchla, R. 482 Theodorus von Studion 477 Thomas von Aquin 501 Tillich, P. 460, 472f. Timaios 478f., 499-501 Tomasello, M. 55 Tucholsky, K. 179, 189 Turner, M. 228f. Uexküll, J. v. 52 Ulbricht, W. 145, 337 Vaihinger, H. 360-362, 382 Valentin, K. 280 Valéry, P. 70f., 317 Vargas Losa, M. 373
Personenregister � 531
Vegesack, S. v. 296 Vico, G. 84, 220, 446 Voltaire, F. M. 330 Wagenschein, M. 367 Watzlawick, P. 106, 284 Weier, W. 209 Weinrich, H. 64, 78, 103, 124, 151, 224226, 241, 262f., 353 Weischedel, W. 299 Weiss, W. 157 Weizsäcker, F. v. 74 Wellershoff, D. 62, 70 Wezel, J. C. 280
Whitehead, A. N. 90 Whorf, B. L. 264, 430 Wisdom, J. 463 Winkler, R. 407 Wittgenstein, L. 9, 192, 195f., 201, 211, 225, 300, 340, 405, 408, 410, 431, 443, 446, 487, 491 Wunderlich, D. 262 Xenophanes 430, 478 Zima, P. V. 71
Sachregister Abbildungsgedanke 9, 23, 47, 56, 74, 77, 80f., 106, 167, 183, 189-201, 218f., 222, 257, 318, 361f., 403, 409, 429, 432, 440, 443, 450, 452 Abduktion 26, 316f., 371, 444, 450, 493, 495, 502 Abstrakta 455f. Abstraktionsprozesse 170, 172, 187 Abwehrhandlungen 8f. 14, 48, 55f., 58f., 61, 71, 73, 91, 93-95, 106, 132f., 150, 251, 258, 347, 415, 421, 504f. Abweichungsstilistik 415 Adoptionsrecht 375 Ähnlichkeit 46, 219, 221, 324, 327, 361, 365, 405, 441 Ästhetik 248, 417-426 ‒ klassische 417-420 ‒ semiotische 417, 420-423 Affekte 439 Affirmation 12, 15f., 22, 25f., 46, 58-60, 78, 83, 96, 102, 169, 185, 399-402 Agnostizismus 490, 492 Aggression 246, 256, 326, 330f. Akkommodation 47-50, 65f., 81, 86, 108, 196, 235f., 350, 371, 399, 408, 514 Allmachtsgedanke 31, 235f., 255, 472, 499 Als-Ob-Struktur 358, 360-364, 374, 470 Alternativen 350, 358 Ambivalenz 17, 53, 88, 129, 180, 188, 284, 287f., 296, 329, 332, 334, 442, 450 analogia entis 469-473, 503 Analogie 46, 219, 357f., 360f., 368, 377, 442, 446, 463, 469f. Analyseanstrengung 8, 84, 233, 308, 323, 372, 443 Angst 52, 206f., 335 Andersartigkeit Gottes 486 animal symbolicum 1, 14 Anschauung 63 Anspielung 88 Anthropologie 5, 13-18, 132, 296-299, 346-351, 403, 431f., 435, 491, 504, 506f.
Anthropomorphismus 469, 478 Antinomie 401 Antonyme 10 Antworten 4, 17, 93, 462, 509 Aphasie 130f. Aphorismus 22, 197, 301-320 Arbeit, vorgetane 154, 187, 414, 512 Arbeitsmodus des Sprachgebrauchs 511 Arbeitsprozesse 5, 16, 67, 231, 233, 403, 407, 511 Argumentation 77 Artikel, bestimmter 497f. Artikelsprachen 4, 193 Askese 18, 17, 64 Aspekte 395 Assertionsparadigma 58, 78 Assimilation 47-50, 65f., 81, 86, 108, 196, 235, 336, 371, 399, 408, 514 Atheismus 480, 490 Atheist 103, 465, 490f. Aufmerksamkeitslenkung 398 Aufrichtigkeit 345 Augen 63 Aura 418 Aussage, affirmierende 12 ‒ falsche 342, 344 ‒ negierende 12 Ausschlussverfahren 101-103, 129 Autorität 87 Axiom 284, 433 Axiom der Identität 75f., 486 Axiom vom ausgeschlossenen Dritten 76, 96, 486 Axiom vom verbotenen Widerspruch 76, 96, 486, 492 Axiome der Logik 75, 77, 486 Assoziationen 355 Baustein 311 Begleitbewusstsein 513 Begreifen 362, 364, 429 Begriff 46, 76, 169, 208, 220, 234, 362, 380, 409, 441, 461
Sachregister � 533
Begriffsbildung 9-11, 22, 30f., 81, 110, 120, 167-209, 309, 365f., 441f., 456 Begriffsfelder/Begriffssysteme 72f., 169, 172, 177-180, 309 Begriffsname 441, 481 Begriffspyramide 401, 454 Benennungsmöglichkeit 484 Besitzstandswahrung 213 Besser-Verstehen 396-398 Bestimmung als Verneinung 308f. Bestimmungsbegriff 135, 224 Bewegungsfähigkeit 63 Bewusstsein 108 Bezeichnungsformen (modi significandi) 260 Beziehungsebene 22, 276, 279, 383 Bild 446, 474 Bilderstreit, byzantinischer 449, 473-478 Bildersturm 472, 477 Bilderverbot 449, 474, 478 Bildungswissen 439 Binaritätsprinzip 60, 74, 76-78, 175f. Bisoziation 327 Blick aus dem Bild 488f., 513 Blutrache 347 Blut und Boden 356 Brückenfunktion 83, 119f., 219, 235, 324, 424f., 446, 450, 476, 504, 508 Buch der Natur 471 Chaos 102, 448, 500 Christentum 448f. Christus 475, 477 cognitio experimentalis 7 coincidentia oppositorum 486 communicatio 471 Dämon 442f. Dauer im Wechsel 46 Deduktion 26, 87, 316f., 444 Dekadenz 246 Denken, analogisierendes 444 ‒ analysierendes 6f., 84, 235, 323, 396, 418, 422, 443 ‒ aufklärerisches 217, 269, 323 ‒ begriffliches 2, 413 ‒ dialektisches 11, 483
‒ dialogisches 15 ‒ dogmatisches 238, 323 ‒ dualistisches 470 ‒ evolutionäres 2, 413 ‒ experimentelles 7, 68, 91, 196f., 269, 303, 314-318, 320, 360, 405, 408, 426, 454, 464f. ‒ hermeneutisches 84, 106, 215 ‒ heuristisches 84, 198, 208 ‒ ideologisches 333f. ‒ kreatives 327 ‒ kulturhistorisches 2, 413 ‒ mystisches 444, 453f., 483 ‒ mythisches 194, 200 ‒ operatives 61 ‒ paradoxes 457 ‒perspektivisches 6, 109 ‒ relationales 32, 185 ‒ religiöses 444 ‒ subjektives 103f. ‒ synthetisierendes 6f., 83, 235, 323f., 396, 418-420, 422, 443 Denkform 11, 15, 138, 303, 305, 308, 444 Denkgröße 183f., 191 Denkhorizonte 54, 93, 462f. Denkkonzepte 334 Denkmuster 334, 337, 363, 502 Denkobjekte 75 Denkprämissen 460, 464, 469, 480 Denkstil 402 Denksubjekte 75f. Denktraditionen 17 Denkuniversalie 1-3, 5 Denksysteme 88 Determinationsrelation 112, 135, 153, 155, 224f., 257, 266, 309, 353, 355 Deuteropraxis 372f. Dialektik 52, 119, 132, 299, 307, 317f., 389, 400f., 450, 512 Dialog/dialogisch 15, 19, 54, 91, 94, 110f., 122-124, 251, 280, 300f., 483, 489f., 508, 510f. Dialogpartner 313, 445 Differenzierungsbemühungen 53, 363, 442, 509 Ding an sich 7, 24, 76, 85, 168, 194, 200, 395
534 � Sachregister Dioskuren 488, 510 Distanzierung 70, 102, 233, 246f., 251, 255, 272f.,330, 332f. Distanzierungssignal 272, 298 Dogma 5f., 361, 433, 447, 462, 470, 487 Dogmatismus 304, 315, 361, 448, 454, 479 Drittheit 80 Dyade 82 Ehrfurcht 297 Eid 357 Eigenname 172, 441, 481 Eigenwelt 52, 363 Einbildungskraft 52, 63, 77, 84, 205, 231, 293, 313, 323, 350f., 360, 370f., 418, 443, 504, 510 Einspruch 124, 153 Emanationsgedanke 471, 476, 482 Emotion 6, 56, 77, 91, 95, 103, 107 Empirismus, logischer 199 Energeia 120, 453 Engelsvorstellung 27, 129 Entfaltungsprozesse 30 Entelechiekonzept 30, 32, 34 Entfremdung 233, 408 Entmythologisierung 461f. Entscheidungsfrage 19, 92f., 128-130, 282, 412 Entscheidungsprozesse 66 Entweder-Oder-Denken 50, 61, 70, 175, 440 Epen/Sagen 40 Erfahrungskontrolle 205, 427f., 432f. Erfahrungswelt 479, 482, 501f. Ergänzungsfragen 92 Ergon 120, 453 Erkenntnisinteresse 7, 47, 73, 357, 362 Erkenntniskategorien 495f.,503 Erkenntnisprozesse 66, 357, 506 Erkenntnistheorie 84-90 Erlösungswissen 439 Erotik 240, 247, 251, 396 Erschließungsgedanke 5, 166, 205, 208, 222, 314, 361, 366, 385, 429, 433, 450, 493, 502, 506, 510 Erstheit 80
Ertötung der sinnlichen Welt 234 Erwartungsentäuschung 12, 67, 78, 140f., 146, 148, 151f., 161f., 165, 183, 202, 283, 321, 325f., 336 Ethik 43, 45, 111, 267, 311, 347, 349, 357, 420, 436 Etymologie 169, 435, 449 Evolutionsgedanke 6, 14f., 29-42, 67, 318, 347, 433, 347, 504, 512 Evolution, kulturelle 29, 33-38, 90, 399 Existenzialismus 208, 251 Experiment 314-317, 405 Fabel 268 Fachsprache 72f., 83, 111, 173, 177 Fakten 372, 374 Falschgeld 344, 351-353 Falsifikation 90 Familienähnlichkeit 405 Faszinosum 438 Feldgedanke 154, 177f., 213f. Fenster 311, 313f., 395 Figur und Grund 43, 134, 165, 270, 325 Figur, rhetorische 237, 251 Fiktion 9, 79, 168, 175, 246, 342, 357-382, 412, 432 ‒ begriffliche 362-368 ‒ heuristische 358 ‒ juristische 362, 374-382 ‒ literarische 362, 368-373 Fiktionssignale 345, 380f. Fiktivtext 114 Fließgleichgewicht 32, 34f.,46, 318, 328, 333, 362, 409, 415, 489, 513 Flüche 93 Form, innere 388f. forma formans 46, 120, 385, 453, 511 forma formata 46, 120, 388, 453, 511 Formkategorie 46, 317, 385, 506 Form-Funktions-Relation 7, 33, 125, 317, 385 Formalismus, russischer 69 Formtrieb 69 Frage 4f., 17, 45, 92, 147, 196f., 218, 277, 282f., 412, 446, 462, 464, 509f. Frage, rhetorische 19, 134, 137f., 148, 218, 282f.
Sachregister � 535
Fragen zur Negation 110f., 211f., 218 Frage-Antwort-Spiel 5, 92f., 129f. Fragment 311f. Freiheit 66, 70, 348, 350 Freiheitsfiktion 382 Fruchtbarkeitsgedanke 79, 219, 319f.,450, 502 Funktion, illokutionäre 112f. Funktionsgedanke 31, 47, 414, 420, 488 Funktionslust 67, 405 Funktionsreserven 36 Funktionszeichen, synsemantische 3, 104, 193, 288, 496 Furcht 207 Gärtnergleichnis 464 Ganzheitlichkeit 395 Gebote 66, 110, 116-119, 434f., 447-449 Gedächtnis 51, 107, 354, 513 Gedankenexperiment 357, 360 Gedankenkreis 401 Gefangenschaft 63, 317 Gefühl 38, 95 Gegenstandsbegriff 135, 224 Gegenstandswissen 62, 100 Gehalt, propositionaler 112f. Gehirn 35, 40f., 51, 61, 63, 67, 107, 109 231 Geist 29, 349, 422, 431, 504 Geld 187, 351f., 359, 362 Geltungsanspruch 19, 22, 28,32, 61, 115, 119, 122, 125, 157, 242, 257-259, 262, 264, 268-270, 275, 277 Gemacht-Sein, das 84, 235, 306, 324, 364, 429 Gene 34, 39-42 Geschichtsfähigkeit 51 Gesellschaftsvertrag 351f. Gestaltpsychologie 2, 101, 134, 175, 185, 228 Gestaltung 6f., 15, 43, 46, 52, 59, 63, 66, 71, 117f. 132f., 173, 308, 349, 358, 388, 401f., 405, 409, 514 Gesten 8f., 14, 55-57, 91, 93, 113f, 123, 133, 279f. Gewaltenteilung 231, 240, 398, 448 Glaube 459
Gleiche, das 445 Gleichgewichtsbildung 47f., 66, 255 Gleichnis 443, 464-468 Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 36 Götter 431, 447f. Götzenglaube 473f., 478 Gottesvorstellung 27, 105, 199, 207, 255, 371, 429, 431, 438, 446, 451f., 455, 457f., 459f., 462f., 465f., 470f., 473, 475, 478-481, 484-488, 490, 493, 495, 498, 500-503 Grammatik 166 Grenze 2, 10, 32, 42-54, 65, 270, 371, 488 Grenzziehung 2, 6, 10, 46, 52-54, 169, 173, 240f., 270, 308-310, 320f., 373, 504, 513 Grenzsituation 291 Größen, negative 184f Grund und Figur 175f., 185f., 325f. Habitus 13f., 416 Häresie 17 Handeln, soziales 111 Handlungsgedanke 9, 14, 16, 109f., 111f., 320, 416 Handlungsformen, 62 Handlungswissen 62 Haiku 293 Hedonismus 309 Heilige, das 61, 438-440 Hermeneutik 2, 21, 49, 57, 71, 78, 93, 124, 155, 166, 173, 179, 211f., 216, 226, 243, 286, 289, 336f., 358, 382, 404, 462f., 493, 508 Herr und Knecht 176, 180, 400f. Herrschaftsanspruch 297, 353, 365 Herrschaftswissen 439, 443 Herz, doppeltes 343, 353 Heuristik 21, 45, 78, 84, 101, 124, 198, 201, 219, 222, 226, 228, 289, 314, 336f., 358, 360, 447, 493, 504, 508 Hintergrundsinformationen 272, 283 Hochstapler 348 Höflichkeitssignal 275 Höhlengleichnis 63, 174, 187 Hörspiel 115 Hoffnung 52, 209
536 � Sachregister Hofnarr 222f. homo loquens 290, 296, 514 homo negans 1, 506, 514 Horizontverschmelzung 463, 467 Hunger 209 Hypothese 12, 19, 26, 37, 39, 44, 59, 74, 77, 79, 85, 123, 171, 194, 266, 272, 277, 304, 317, 357, 361, 364, 371, 375, 378, 380, 412, 440, 444, 463f., 468, 510 Hypothesesignal 272 Ich 16, 64, 71, 86, 132, 205 Idealismus 23f. Idee, platonische 30, 76, 109, 168, 171, 184, 361, 363f.,440, 456 ‒ regulative 76f. Identifikation 421 Identitätsaxiom 250 Identitätsbildung 6, 14, 16, 43, 65, 86, 102, 132, 394, 434, 474, 506f., 511, 514 Ideologie 88, 334 Idole 305 Ikarus-Effekt 444 Ikon 393f., 470 Ikone 476f. Illokution 114 Imperativ 267f. ‒ kategorischer 117f., 268, 310, 379 Indefinitpronomen 140f. Index 393, 470 Indikativ 266, 411 Induktion 26, 87, 316 ineffabile/unsagbar 438, 451f. Informationserwartung 59, 202, 286, 289, 294, 300, 313, 383, 411, 419, 468 Informationsspeicherung 36 Informationsunsicherheit 13, 202, 355 Individualität 488 Induktion 26, 317, 444 Inhaltsebene 22, 276, 279, 383 Inhaltszeichen, autosemantische 3, 21, 104,125, 193, 280, 288, 496 Inkohärenz 243-245, 248-257, 322, 330, 334, 448
Inkongruenzen 326f., 330 Inkompetenzkompensationskompetenz 156 Institution, soziale/kulturelle 15, 234, 321, 347, 454, 511 Intellektualität 27, 95, 348f. Intelligenz, operative 354 Intelligenzverstärkung 41, 348 Intensität des Denkens 420, 423, 426 intentio obliqua 21, 80, 232 intentio recta 21, 79, 232 Intentionalität 6, 232, 357, 451 Interaktion 2, 5, 14, 47-49, 52, 55f., 65, 74, 76, 91, 106, 111, 117, 123f., 234, 257, 284,328f., 403, 407, 409, 420f., 483, 506, 511 Interdependenzgedanke 33, 36, 513 Interpretationsgedanke 54, 65, 74f., 77, 80, 271 Intersubjektivität 463 Intonation 113f., 280 Ironie 8, 15, 60, 88, 235-241 Ironieadressat 241-243, 248 Ironiemodell 241-243 Ironieobjekt 241-243 Ironiesignale 237, 241, 243 Ironiesubjekt 241-243 Irritation 252 Irrtum 342, 512 Islam 449 Isotopiebruch 328 ja 15, 57-60, 76, 129, 173, 282, 292, 412 Janusköpfigkeit 106, 284 Judentum 448f. Kampf 247 Kategorie, grammatische 383 ‒ psychologische 383 Katholizismus 472 Kausalgedanke 382, 466, 495, 498 Können 315 Kohärenz 334, 357 kein 145-150 Kognition 61f. Komplexitätsreduktion 53 Komposita 125, 153
Sachregister � 537
Konjunktion 3, 418 Konjunktiv 53, 268-270, 411 Konjunktiv I und II 19, 268f., 270-275, 310, 329, 412 Konsensgedanke 87, 437 Konstruktionsgedanke 51f., 71, 106-109, 313, 357, 364, 429 Kontaktaufnahme 487 Kontemplation 24, 75, 235, 250, 320, 374, 391, 436, 439, 459, 481, 483, 489 Kontinuität 422 Kontrastharmonie 284, 438 Kontrastrelationen 15, 17, 32, 100f., 121, 134, 165, 173f., 185, 215, 270, 357f., 361, 391, 401, 416f., 420, 422, 440, 483, 511 Konventionen 352, 390, 393 Kopfschütteln 133 Korrekturproblematik 386, 513 Korrektursignal 138, 165 Korrelation 6, 42f., 46, 178, 204, 224, 268, 286, 308, 317, 327, 359, 430, 509 Kosmos 37f.,219, 430, 465, 500 Kreativität 226f., 387 Kritik 90 Kultur 29, 36f., 39, 44, 50, 349, 363, 415f., 508, 512 ‒ orale 40 ‒ schriftliche 40 Kulturapriori 52, 86 Kulturform 5, 512 Kulturgeschichte 415 Kunst 63, 67-71, 109, 480 Lachen 321, 325, 329-335 language game 411 Leben 63 Lebensform 2, 5, 15, 19, 27, 35, 47, 51, 63, 66, 195, 211, 238, 240, 301, 408f., 437, 444, 446, 480f., 491, 506f., Lebensgefühl 200, 207, 421 Lebenskategorie 506 Lebenslüge 350, 355 Lebenswelt 53, 66, 173, 360 Leerstelle 293 Leibapriori 52, 86
Lektüre, kalte 462 Lernprozesse 6, 16f., 36, 38, 61, 66, 108 403, 407f. Lernwesen 16, 18, 36 Lexik 166 Licht 89, 311, 313f., 395 Licht- und Schattenperspektive 280 Listen der Vernunft 509 Loch 186, 188f. Logik, klassische/zweiwertige 6, 25, 46, 73-78, 81, 96, 115, 166, 225, 254, 428, 457, 492, 510 ‒ poetische 220, 446 ‒ semiotische 25, 73f., 78-83, 84, 166, 316, 420 Logikaxiome 75-78 Logikformen 443 Logos 217, 430, 459 Lüge 168, 340-357, 375 ‒ durchsichtige 168, 341, 368, 375 Lüge als Kunst 348 Lügensignale 345 Lustmodus des Sprachgebrauchs 231, 331, 511 Lyrik 418f. 423 Machtansprüche 350 Mängelwesen 18 majestas 438f. Marxismus 444 Maske 245f. Materie 29, 422, 500f., 503f. Mathematik 3, 5, 104 Maxime, pragmatische 25, 110 Meme 39-42 Menge, leere 142f. Metainformation 20f., 258, 270 Metapher 7f., 46, 73, 88, 136, 169, 176, 200f., 208, 217-235, 295, 298, 315, 360 ‒ Interaktionsmodell 228-232 ‒ Prädikationsmodell 224-227 ‒ Projektionsmodell 228 ‒ Substitutionsmodell 221-224 ‒ Überblendungsmodell 228f ‒ absolute 227 ‒ kühne 225f.
538 � Sachregister Midas-Effekt 227 Metaphysik 207 Metainformation, grammatische 270 Metasätze 270 Mimesis 68 Mimik 113f. Minuszeichen 5, 29, 73, 84, 122 Mitrealität 421 Mittel, endliche 1, 21, 28, 61, 453, 485, 504, 508 Mittler, geformter 367, 383, 511 Modaladverbiale 277 Modaladverbien 276 Modalisator 259, 276 Modalisierung 114, 122, 124, 133f., 152, 259, 274, 276-278, 282 Modalität 122, 257f. Modalpartikeln 19, 113, 134, 137f., 148, 260, 278-283 Modalwörter 78, 92, 260, 275-278, 410 Modifikation 258f., 276 Modifikator 259, 276 Modusformen 260, 264-270 Möglichkeitssinn 269, 370 Monade 82 Monolog/monologisch 110f., 123, 251, 511 Monotheismus 459, 472, 474 Mord 178f. Muscheltiere 467f. Musterbildung 441f. Mutation 34 mysterium tremendum 438 Mystik 49, 194, 205, 297, 435, 449f. Mystisches 431 Mythos 200, 207, 217, 448 Namensverweigerung 481 Natur 29, 39, 50, 415, 511 natura naturans 452 Naturformen 512 Naturgeschichte 415 Negation, doppelte 38, 59, 95-100 Negationsaffixe 125f., 153-166, 174, 456 Negationsbegriff 28, 32, 109 Negationsbezug 56, 60, 83, 96, 127 Negationsformen 8, 15, 32, 41, 53, 55, 60, 62, 110, 460
‒ explizite 121-166 ‒ implizite 88, 109, 210-299 Negationshandlungen 15, 54, 56-58, 60, 65, 92, 94, 110, 121f., 133, 153-156, 159 Negationsimplikationen 83f., 122, 212299, 272 Negationsintensität 4, 8, 15, 19, 26, 50, 56, 59f., 77f., 83, 96-98, 124, 126f., 139, 143, 272, 513 Negationsmelancholie 240 Negationsmittel 8, 246, 413 Negationsmorpheme 122, 126, 210, 212, 456 Negationspathos 240 Negationspräfixe 155-163, 181, 456 Negationsprinzip 5-8, 28, 42, 55, 71 Negationspronomen 141, 192f. Negationssuffixe 163-166, 456 Negationswörter 20, 122, 125f., 126-152, 134 Negationszeichen 8, 19-22, 56, 60f., 71, 110, 273, 460 ‒ grammatische 10, 126 ‒ lexikalische 10 Negation der Negation 11, 485, 488 Nein 14f., 57-60, 70f., 76, 128-133, 173, 278, 282, 292, 412 Nein-Sagen 131f., 159 Neuronen 51 nicht 134-139, 278, 283, 423-426, 504 Nicht-Andere, der 486f. , 503 nichts 139-142, 183f., 202, 494-498, 505 Nichts 10, 104, 139, 169, 189-209, 256, 457f., 494-505 niemand 142-145 Nihilismus 209, 239 Nominalismus 11, 31, 364, 429, 440, 488 Nominalwert 344, 351 Normen 180f., 201, 282, 321, 332-335, 347, 349, 390, 415 Notwehr 346 Null 104f., 204f Nullmorphem 78 Numinose, das 438, 477 Objektbezug 23, 416, 511
Sachregister � 539
Objektsphäre des Denkens 79, 85f., 103, 106, 170, 205, 259, 360, 382, 387, 410, 430, 441, 459 Offenbarung 472 Offenbarungsfunktion 246 ohne 150-152 Ontogenese 29, 50f.,57, 268 Operationsgedanke 47, 204 Operationszeichen, synsemantische 15, 59, 104, 125, 204 Opfer 27, 63-65 Oppositionsbegriffe 173-177 Oppositionsrelationen 10, 15, 90, 154, 158-160, 167, 173-177, 212-215, 357, 434, 440 Ordnung 72, 347 Organismus 48 Orientierungsanstrengung 173, 202, 459 Original 476f. Paradigmenwechsel 26, 49, 88-90, 247 Paradoxie 15, 22, 140, 190, 197, 202f., 252-257, 298, 457 Partizipationsgedanke 471, 476 Pathos 240 Perspektivenbildung 6, 17, 70f., 81, 165f., 169, 272, 175, 197, 219, 222, 297, 306, 317, 324, 360, 372, 387, 390, 394, 401f. Perspektivierungsmittel 5, 308, 324, 360 Perspektivität 175, 219, 317, 394f. Pfennigs-Wahrheiten 306f. Phänomenologie 285f., 403f., 480 Philologie der Dinge 425, 471 Philosophie 45, 200f., 207, 227, 492f. Phylogenese 29, 50f., 57, 268 Pilgerfahrt 360, 455 Poesis 68, 70 Pointe 321, 325-329 Polytheismus 447f., 474 Positivismus 103, 106, 431 Prädikation 224, 355 Präfixe 155-163 Prägnanzgedanke 101, 289, 400, 421 Präsupposition 93, 124, 129f. Pragmatik 109-120, 257 Pragmatismus 23-25
Prinzipien, regulative 358 Privativa 10, 120, 169, 180-189, 202, 212, 283f., 415, 418-420, 457, 497 Privatsprache 415, 455 Profanes 439f. Projektionen 427, 431, 458, 467, 491 Pronomen 140, 480 Proposition 113, 128 Protestantismus 472 Protokollsprache 103, 300 Prozesse, kognitive 410 Prozessvorstellung 481 Prozesswellen 414 Pseudobegriffe 76, 191, 199f. pseudos 342, 369 Psychologie 79, 91-109 Pygmalion-Effekt 227 Radikalismus 240 Rätsel 140f., 228 Raffsignal 271 Realismus 23f., 477, 512 Realitätsprinzip 331 Recht 347, 376 Rechtsgüter 344 Rede, abhängige/indirekte 269, 270, 273-275 Reduktion, phänomenologische 286, 362 Reflexion 108, 200, 270 reflexionsthematisch 6, 12, 16, 19, 21, 41, 61, 75, 81, 86, 95, 119, 160, 292, 211, 219, 232, 266, 276, 310, 318, 367, 421, 450, 453-455, 463, 469, 483, 488, 494, 502, 508, 511f. Regel 407 ‒ goldene 117, 379 Reichtum 309 Reise 360 Reiz-Reaktions-Schema 51 Relate 81f., 91 Relationsgedanke 25, 29-33, 80-82, 91, 178, 181-183, 190, 198, 204-206, 226, 228, 242, 372, 420, 422, 470, 488 Relativitätsprinzip, sprachliches 430 Religion 438 Religionskritik 430
540 � Sachregister Revolution, wissenschaftliche 88 Rhetorik 217, 221 Rose 299 Rückprägung 35, 40, 61, 409 Sachtext 114 sachthematisch 6, 12, 16, 19, 21, 41, 61, 75, 81, 86, 95, 119, 130, 159, 198, 202, 211, 219, 232, 266, 276, 278, 310, 318, 367, 421, 463, 469, 483, 488, 494, 502, 508, 512 Satzmodus 257 Satznegation 135 Schaden 344 Schatten 186-188, 314 Schattierung 280f. Scheinsätze 200, 431 Schematisierung 70 Scheuklappen 105, 384 Schlange aus dem Paradies 343, 371 Schleier 245 Schlussfolgerungslogik 115 Schnabeltier 10f., 364f. Schöne, das 71, 329, 418, 420f. Schöpfer 465, 486 Schöpfung aus dem Nichts (creatio ex nihilo) 428, 494- 505 Schöpfungsverständnis 471, 495, 499501, 504f. Schriftkultur 369 Schweigekultur 298 Schweigen, das 203, 248, 293-299, 446, 451, 453, 490 ‒ beredtes 116, 290, 294f., 451, 478 ‒ heiliges 451 Schweigepflicht/Schweigerecht 285, 292 Schweigerituale 285, 293, 298f. Seinsbegriff 204f., 380 Seinsformen 11, 30, 181-183, 193f., 204, 222, 260, 363f., 380, 429, 432f., 458 Selbstbehauptung 348 Selbstbeweglichkeit 232f., 236, 252f., 258, 336 Selbstbewusstsein 15, 65 Selbsterkenntnis 491 Selbsterneuerung 46, 62, 223, 321, 454, 456f.
Selbstironie 247, 251 Selbstkonstitution 15f., 69 Selbstkorrektur 49, 61, 256, 258, 466, 513 Selbstorganisation 35, 38, 46, 61, 66, 110f., 236, 511 Selbstreflexion 513 Selbsttäuschung 350, 491 Selbstzerstörung 238, 345f. Selektion 34-40, 48 Semiosis 426 Semiotik 6, 22f., 79, 202, 351f., 420, 440, 460 Sinnbilder 219, 311-314 Sinnbildung 6, 14, 25, 40, 48, 74, 79, 81, 107, 166, 201, 208, 211, 242, 248, 254, 256, 279, 285, 289, 295, 309, 362, 390, 392, 408, 415, 420, 422, 426-428, 442, 451f., 459f., 463, 479, 488, 493, 497, 506, 513 Sinnbildungsmittel 1f., 222, 250, 308, 383, 409, 497, 512 Sinnintensität 336, 417, 420f. Sinnlosigkeit 430 Sinnrelief 271f., 274, 281, 314, 382, 397, 410 Sinnsuche 256 Sitte 347 Sitz im Leben 303, 437, 454 Skepsis 5, 255, 273, 398-400, 448, 465 Skepsissignal 273 Skizze 312 Sondernegation 135f. Spekulation 357 Spiegel, lebendiger 230 Spiel 63, 65-67, 231, 314-316, 318, 323, 331f., 402-413 Spielformen 404 Spielprozesse 16, 46, 66, 315f., 318, 331, 402f. Spielregeln 66, 116f., 334, 407 Spieltrieb 69, 256 Sprachabschneider, der 22 Sprachbegriff 125, 233, 349 Sprache, natürliche 1, 7, 395f. Sprache als System 5 Spracherneuerung 119f., 226f., 297
Sachregister � 541
Spracherwerb 50, 57-60, 287 Sprachformen 429 Sprachfremdheit 451f. Sprachgebrauch 409f. ‒ analogisierender 440-447 ‒ begrifflicher 176, 220, 441 ‒ bildlicher 441, 445 f. ‒ experimenteller 452 ‒ dialogischer 280 ‒ empraktischer 410 ‒ fiktiver 114f. ‒ ironischer 45, 50, 109, 216 235-257 ‒ metaphorischer 45, 61, 109, 176, 216235, 439f., 443, 445f, 452 ‒ modaler 257-283 ‒ mystischer 449-458 ‒ paradoxer 45, 109, 115f., 252-257, 439, 452, 457 ‒ philosophischer 201, 441 ‒ religiöser 437-458, 473 ‒ ritueller 452 ‒ theologischer 441, 458-478, 473 ‒ uneigentlicher 217, 220, 222, 440f, 445 Sprachgefühl 8, 38, 98, 211, 232, 243, 268, 272, 401 Sprachgrenzen 488, 491 Sprachnähe 453-455 Sprachregulierung 356 Sprachskepsis 239, 245, 366, 451f. Sprachspiel 8, 20, 141, 148f., 192-198, 211, 216, 223, 245, 316, 340, 408413, 459, 487, 504 Sprachuniversalie 1-9, 13, 26, 34, 125, 258, 288, 415, 488, 506f., 512 Sprachverlust 130f. Sprachvermögen 509 Sprachvertrauen 252, 386, 429 Sprachwissen 8, 179, 211, 232, 243, 268, 401 Sprachwissenschaft, systemtheoretische 6, 121 Sprechakte 57, 111, 115, 124, 138, 281, 292, 495 Sprechpausen 287 Sprengmetaphorik 458 Sprungbrettfunktion 483 Staunen, das 209, 328, 439
Steifheit 196, 251, 332f., 407 Stilbedarf 399 Stilbegriff 385-394 Stilformen 211, 383, 385, 387, 389, 398f. Stilisierung 400 Stilistik 96, 98, 278, 383-426 Stilistik, semiotische 389-394 Stilnormen 389, 410 Stofftrieb 69 Strafverfahren 92f., 129 Strukturgedanke 68, 72, 74, 205, 326, 349, 390, 407, 414, 416, 420 Strukturierungskraft 66, 349 Subjektbezug 23, 416, 511 Subjektsphäre des Denkens 79, 85f., 103, 106, 170, 259, 360, 382, 387, 410, 430, 441, 459 Substantivierung 192-195, 202, 496-498 Substanzgedanke 29-33, 80, 181f., 188, 195, 364, 372, 420, 471, 488, 498 Substanz-Akzidenz-Relation 188 Sündenfall 371 Symbiose 43, 284f., 288, 461, 508 Symbol 393f., 470 Synapsen 51, 109 Synechismus 317, 422, 425f., 470 Syntheseanstrengung 8, 84, 106, 233, 308, 323, 372, 443 Systemgedanke 5, 14f., 18, 61, 64, 72f., 74, 109, 177f., 204f., 255f., 307, 321, 326, 335, 347, 391, 414, 434, 509 Systemwissen 252, 256, 483 Tabu 331 Tätigkeitsbegriff 408 Täuschung 63, 341f., 345, 348f., 351, 353, 356f., 430 Tatsache, negative 11-13, 105, 508 Tauschwert 362 Taxis 37f. Temporalität 260 Tempusformen 260-264 Textmuster 20, 22, 94, 114, 197, 300f., 320f., 369f., 371f. Theist 464f, 490f. Thema-Rhema-Relation 164, 279f. Theologie 200, 205, 431, 499f.
542 � Sachregister ‒ affirmative 447, 479 ‒negative 428, 447, 478-493 Theorie 359f., 459f. These-Antithese-Synthese 11, 167 Tiefenpsychologie 480 Tod 63 Torso 311. 313 totaliter aliter 468 Traditionsballast 36 Traditionsbruch 40 Transzendenz 472 Triade 82 Übersetzungssprache 462 Umstrukturierung 72 Ungeburtstag 156, 159 Ungültigkeit 102f. unio mystica 449, 451f Universalienstreit 363 Untiefe 160 Unwissenheit, wissende (docta ignorantia) 487 Ur-Sache 486 Utopie 6, 175, 209, 357 Vagheit 415 Vakuum 190, 198 Variation 34, 36f. Verbote 66, 110, 116-119, 371, 434, 447449 Verdrängung 94 Verfassungssätze 114 Verfremdung 69f., 328 Vergessen, das 90, 513 Verifikation 90, 391, 433, 464, 466f. Verlernen, das 17 Vermittlungsgedanke 23, 26, 42, 61, 80, 82, 170, 218f., 235, 240, 257, 272f.,316, 367, 403, 410, 416, 420, 422, 453, 470, 487 Vernetzung 46, 349 Vernunft 6f., 24, 494, 508 Vernunftbegriffe 358, 364 Verstand 6, 75, 494, 508 Verstandesbegriffe 358, 364 Verstehen, das 54
Versteifung 62, 66, 68, 223, 241, 250f., 307, 321, 326, 332f., 347, 370, 407, 454, 510 Verstellung 236f., 246 Verzicht 286 via analogiae 479 ‒ negationis 174, 479, 481, 484f. Viabilität 107 Vision 357, 467 Vitalisierung 332 Vitalität 334 Vordergrundsinformation 272 Vorgestalt 289 Volkssprache 454 Vorstellungsgenese 81 Vorstellungswelt 479 Wahrhaftigkeit 341f., 344f., 356, 371 Wahrheit 9, 40, 134, 318-320, 341, 348f., 350, 356, 371, 374, 427, 429-437, 509 ‒ kohärenztheoretische 318f, 374, 429, 433f., 502 ‒ konsenstheoretische 83, 319, 437 ‒ korrespondenztheoretische 11, 83, 135f., 318f., 374, 429-433, 494, 502 ‒ nackte 24, 217 ‒ pragmatische 319, 429, 434-437, 502 Wahrnehmungserwartung 419 Wahrnehmungsformen 260, 429, 442, 512 Wahrnehmungsgestalt 107 Wegvorstellung 239 Weg der Negation 479, 481 Welt, sinnliche 234 Welt an sich 85, 168, 234, 511 Welt für uns 85, 168, 234 Weltoffenheit 17f. Weltwissen 8, 20, 243, 273, 294 Wende, kopernikanische 309, 433 Wenn-Dann-Relation 80, 460 Werdensgedanke 62f., 70, 84, 100, 132, 206, 219, 239f., 368, 421, 454, 504, 506, 509 Werkzeug, heuristisches 358f., 361, 372, 383 Wertgedanke 6, 27, 64, 162, 164
Sachregister � 543
Wesensbegriff 31, 80, 184, 190, 362, 364, 403 Widerspruch 320, 357, 492 Widerständigkeit 313, 508 Wille zur Macht 77, 307 Wirklichkeit 362 Wirklichkeitssinn 269, 370 Wissen, das 15, 17, 24, 26, 35, 62, 81, 87, 100f., 108, 173, 202, 252, 403, 410, 422, 510, 514 Wissensbildung 7, 35, 75, 86-88, 100, 102, 106f., 441, 484, 514 Wissensformen 17, 36, 62, 87, 108, 178, 256, 304f., 439f., 443 Wissenschaftsbegriff 199-201, 443, 492f. Wissenschaftssprachen 170, 443 Wissenstypologie 439 Wissensunsicherheit 13, 58 Witz 22, 93, 109, 117, 320-340 Wortarten 3f. Wortbildung 155, 456 Wortfeld 76-78 Wortspiele 93 Würde 345 Wüste 186 Zahlen 82, 104, 204, 487 Zeichen 3, 7, 20, 23f., 244, 424 Zeichen, grammatische/synsemantische 3, 32, 166
‒ lexikalische/autosemantische 3, 32, 166 Zeichenbildung 68 Zeichenformen 291 Zeicheninterpretant 21f, 244, 392 Zeichenmodell, dreistelliges 20f., 80-82, 391f., ‒ zweistelliges 20, 80-82, 390 Zeichenobjekt 21, 244, 392 Zeichenträger 21, 244, 392 Zeichensysteme, geschlossene 2 ‒ offene 2 Zeigefunktion 492, 497 Zeigelicht 314 Zeigewort 141, 143, 497 Zeit 46, 76, 261f. Zensur 119 Zerstörung 350 Ziel 65 Zirkelstruktur 28 Zitiersignal 271, 273 Zufall 66, 117, 315 Zugangswissen 100 Zurückweisung 91 Zustimmungshandlungen 23, 58, 258 Zweckgedanke 37, 66, 257, 279, 374, 378, 380, 407 Zweifel 251 Zweitheit 80