Shakespeares elisabethanisches Publikum: Formen und Funktionen einer Fiktion der Shakespearekritik und -forschung 9783110945867, 9783484660489

Though little is known about Shakespeare's Elizabethan audience it has been a constantly recurring theme in Shakesp

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German Pages 287 [288] Year 2006

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Those nut-cracking Elizabethans
2. Shakespeares elisabethanisches Publikum am Schnittpunkt von Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft und literaturwissenschaftlicher Rezeptionsforschung
3. Das elisabethanische Publikum in der englischen Shakespearerezeption des 17. und 18. Jahrhunderts
4. »No man of genius ever wrote for the mob«: Das elisabethanische Publikum in der romantischen Shakespearekritik
5. Enter the groundlings
Exkurs: Das elisabethanische Publikum in der amerikanischen Shakespearekritik des 19. Jahrhunderts
6. Na(t)ive Informants: Der groundling und das innere Kind
7. Gallants versus Groundlings
8. »Neo-Elizabethanism«: Das Konzept der Authentizität und die funktionale Umbesetzung des elisabethanischen Publikums in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
9. Shakespeares elisabethanisches Publikum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Literaturverzeichnis
Register
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Shakespeares elisabethanisches Publikum: Formen und Funktionen einer Fiktion der Shakespearekritik und -forschung
 9783110945867, 9783484660489

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-J fhmtroti

Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste

Herausgegeben von Christopher Balme, Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele Band 48

Bettina Boecker

Shakespeares elisabethanisches Publikum Formen und Funktionen einer Fiktion der Shakespearekritik und -forschung

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006

Meinen Eltern

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN-13: 978-3-484-66048-9

ISBN-10: 3-484-66048-1

ISSN 0934-6252

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag G m b H , München http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel G m b H , Nehren Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Vorwort

Großen Dank schulde ich der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg, die das Entstehen dieses Buches von 2001 bis 2003 mit einem Promotionsstipendium gefördert und mir einen Forschungsaufenthalt an der British Library ermöglicht hat. Mein Betreuer, Herr Prof. Dr. Andreas Höfele, hat sich weit über das übliche Maß hinaus für meine Arbeit interessiert und engagiert. Für diese Unterstützung und Ermutigung möchte ich ihm herzlich danken. Mein Dank gilt darüber hinaus Prof. Dr. Dieter Schulz (Universität Heidelberg), der die Zweitkorrektur übernommen hat. Die Arbeit an diesem Buch hat mir Freude gemacht. Dazu hat mein privates Umfeld wesentlich beigetragen. Danken möchte ich insbesondere denjenigen, die Teile des Manuskripts gegengelesen haben. Darüber hinaus gilt mein größter Dank meiner Familie - vor allem meinen Eltern, denen diese Arbeit gewidmet ist.

V

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

1

2. Shakespeares elisabethanisches Publikum am Schnittpunkt von Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft und literaturwissenschaftlicher Rezeptionsforschung 2.1 2.2 2.3

Shakespeare als kultureller Bedeutungsträger Identität, Alterität, Authentizität Zur diachronen Dimension der Untersuchung

7 15 24

3. Das elisabethanische Publikum in der englischen Shakespearerezeption des 17. und 18. Jahrhunderts 3.1 3.2 3.3 3.4

Selbstbild und Fremdbild Shakespeares elisabethanisches Publikum im Zusammenhang mit dem faults and beauties- Ansatz der Kritik des 18. Jahrhunderts Shakespeare im Spannungsfeld zwischen idealem und historischem Publikum Topos und historische Kritik

29 33 47 53

4. »No man of genius ever wrote for the mob«: Das elisabethanische Publikum in der romantischen Shakespearekritik 4.1 4.2 4.3

The road not taken Jacobin Jacobeans: Hazlitt Coleridge und das elisabethanische Theaterpublikum

59 64 70

5. Enter the groundlings 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Die Geburt des groundling aus dem Geist des 18. Jahrhunderts Das prinzipiell und unausrottbar Nichtoffizielle: Groundling, pit und Karneval Dumb shows and noise Wretched beings: Das elisabethanische Publikum in der moralisierenden Shakespearerezeption des Viktorianismus A nation of groundlings!

Exkurs: Das elisabethanische Publikum in der amerikanischen Shakespearekritik des 19. Jahrhunderts

81 86 99 109 120

129

VII

6. Na(t)ive Informants: Der groundling und das innere Kind 6.1 6.2 6.3 6.4

Vom »verderbten« zum »naiven« Publikum Making pictures Telling stories Asking questions

7. Gallants versus 7.1 7.2 7.3

139 146 155 160

Groundlings

Die Wiederentdeckung der judicious few Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung Masse und »kritische Minderheit«

169 179 188

8. »Neo-Elizabethanism«: Das Konzept der Authentizität und die funktionale Umbesetzung des elisabethanischen Publikums in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 8.1 8.2 8.3

Das elisabethanische Publikum als Authentizitätsträger und Legitimationsinstanz Konstruktionen von Eindeutigkeit Spezialistentum versus common-sense approach

201 209 219

9. Shakespeares elisabethanisches Publikum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5

Der groundling und die Demokratie Wer ist das Volk? The great consensus? Struggle and change Mais quipaie?

225 230 240 246 257

Literaturverzeichnis

267

Register

277

VIII

1.

Einleitung: Those nut-cracking

Elizabethans

Those nut-cracking Elizabethans heißt eine Aufsatzsammlung von William John Lawrence aus dem Jahr 1935. 1 Dass Lawrence sich mit den frühneuzeitlichen Engländern speziell in ihrer Eigenschaft als Rezipienten des Shakespeareschen Dramas beschäftigt, bedarf für ein Fachpublikum kaum der Erwähnung: Ein Nüsse knackender Elisabethaner befindet sich per definitionem im Theater. Mit seinem Titel greift Lawrence auf Vorstellungen über das elisabethanische Theaterpublikum zurück, die in Shakespearekritik und -forschung weit verbreitet sind. Besonders geläufig ist die Annahme, dass Shakespeare bestimmte Passagen der Dramen speziell für die berüchtigten groundlings auf den billigen Stehplätzen geschrieben habe - schätzte er deren Auffassungsgabe doch offensichtlich nicht allzu hoch ein: Hamlet'. [...] O! it offends me to the soul to hear a robustious periwigpated fellow tear a passion to tatters, to very rags, to split the ears of the groundlings, who, for the most part, are capable of nothing but inexplicable dumb-shows and noise.2 Hamlets Auslassungen über die Zuschauer auf den Stehplätzen verleiteten nicht wenige Kritiker zu der Behauptung, der Dänenprinz fungiere hier als Sprachrohr des Autors, der seinem Unmut über ein seiner unwürdiges Publikum habe Luft verschaffen wollen. Dass derselbe Autor in Henry V. ein zuversichtliches »Work, work your thoughts« 3 an sein Publikum richtet, wurde dabei gerne übergangen - oder aber als Beleg dafür herangezogen, dass die englischen Theaterbesucher der Renaissance eben nicht besonders unverständig, sondern im Gegenteil besonders aufmerksam und einsichtig gewesen seien. Wer wann was zu beweisen versucht, ist keinesfalls kontingent. Dies ist eine wesentliche Einsicht der Shakespeareforschung der vergangenen beiden Jahrzehnte, in denen nicht nur Shakespeares Dramen bevorzugt »politischen« Lesarten unterzogen, sondern auch literaturkritische bzw. literaturwissenschaftliche Traditionen vermehrt in ihrer gesamtgesellschaftlichen Einbindung reflektiert worden sind. Dass das heute beispiellose kulturelle Prestige des »Barden« ein Ergebnis historischer Vorgänge ist, die den Rahmen des Literarisch-Ästhetischen eindeutig sprengen, ist durch die einschlägigen Monographien von Taylor, Dobson und Bate, aber auch in Sammelbänden wie Political Shakespeare schlüssig belegt worden. 4 Betont wird dabei

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William John Lawrence: Those nut-cracking Elizabethans. Studies of the early theatre and drama. London 1935. William Shakespeare: Hamlet. Hrsg. von G. R. Hibbard. Oxford 1987, m, ii: 8-12. William Shakespeare: Henry V. Hrsg. von Gary Taylor. Oxford 1994, Prol. m , 25. Jonathan Bate: Shakespearean Constitutions. Politics, Theatre, Criticism 1730-1830. Oxford 1989; Ders.: The Genius of Shakespeare. London 1997; Michael Dobson: The

1

immer wieder die Tatsache, dass auch die Shakespearekritik ihre historischen Rahmenbedingungen reflektiert, dass also unterschiedliche Perspektiven auf das Shakespearesche (Euvre von politischen und kulturellen Gegebenheiten der Gegenwart des jeweiligen Kritikers geprägt werden. Die genannten Studien widmen sich nicht nur der Rezeption der Dramen, sondern insbesondere der Funktionalisierung Shakespeares selbst. Dabei ist auch das Bild von der Renaissance als dem historischen »Hintergrund« seines Schaffens einer kritischen Analyse unterzogen worden. Tillyards Elizabethan World Picture etwa hat sich mindestens ebenso sehr als Dokument der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seiner Entstehungszeit und der politischen Sympathien des Autors erwiesen wie als Darstellung der »tatsächlichen« Gegebenheiten des elisabethanischen Zeitalters.5 Dass Tillyard weder der erste noch der einzige ist, für den die Renaissance auch - eine Projektionsfläche für eigene Befindlichkeiten darstellt, wird mittlerweile kaum noch bestritten. Dass dies umso mehr für die im Unterschied zum abstrakten »Zeitalter« gewissermaßen konkret greifbaren Elisabethaner gilt, die im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stehen sollen, ist ebenfalls keine ganz neue Einsicht: Bereits 1848 stellt G. H. Lewes das frühneuzeitliche Theaterpublikum als Hilfskonstruktion dar, die es der Shakespearekritik des 18. Jahrhunderts erlaubt habe, gleichzeitig sowohl die Gültigkeit der Regelpoetik als auch die überragende Größe Shakespeares - der in so vielerlei Hinsicht gegen die Regelpoetik verstößt - zu postulieren.6 Dass bezüglich der viktorianischen Shakespearerezeption exakt dieselben Mechanismen greifen, konstatiert John Dover Wilson in einem Vortrag vor der British Academy aus dem Jahr 1929: Der Unterschied liegt nach Wilson allein darin, dass das frühneuzeitliche Publikum für die Viktorianer nicht so sehr die »Formfehler« als vielmehr die bisweilen mangelnde moralische Wohlanständigkeit des »Barden« erklärt.7 1951 veröffentlicht Moody Ε. Prior den für diese Studie wegweisenden Aufsatz »The Elizabethan Audience and the Plays of Shakespeare«, in der er unterschiedliche Arten der Funktionalisierung der frühneuzeitlichen Theaterbesucher von den Anfängen der Shakespearekritik bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nachzeichnet.8 Speziell mit den Veränderungen, die das Bild vom elisabethanischen Publikum im 18. Jahrhundert durchläuft, befasst sich Robert Weimann in einem Anhang zu seiner Studie Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters.9 Beson-

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2

Making of the National Poet. Shakespeare, Adaptation and Authorship, 1660-1769. Oxford 1992; Gary Taylor: Reinventing Shakespeare. London 1989; Jonathan Dollimore / Alan Sinfield (Hgg.): Political Shakespeare. New essays in cultural materialism. Manchester 1985. Einen Überblick bietet hier Ulrich Suerbaum: Wiedergelesen: E. M. W. Tillyard, The Elizabethan World Picture (1943). In: Poetica 28 (1996), S. 466-478. George Henry Lewes: Shakespeare's Critics: English and Foreign. In: Edinburgh Review 90 (Juli 1849), S. 39-77. Hier: S. 46f. John Dover Wilson: The Elizabethan Shakespeare. Annual Shakespeare Lecture of the British Academy. London 1929, S. 20. Moody E. Prior: The Elizabethan Audience and The Plays of Shakespeare. In: Modern Philology 49 (1951-52), S. 101-123. Robert Weimann: Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters. Soziologie - Dramaturgie-Gestaltung. Berlin 1975.

ders wertvolle Anregungen verdankt diese Arbeit schließlich dem Kapitel »The Image of Elizabethan Drama« in Simon Shepherds und Peter Womacks English Drama: A Cultural History,10 Shepherd und Womack setzen sich dort insbesondere mit der Rolle der groundlings, auseinander. Dass das elisabethanische Publikum nicht nur als zu erforschendes historisches Phänomen - als explanandum - , sondern auch als Argumentationshilfe - als explanans - in der Auseinandersetzung mit Shakespeare eine bedeutende Rolle spielt, ist also durchaus erkannt worden. Eine umfassendere Studie zu diesem Thema liegt indes bislang nicht vor. Diese Lücke möchte die vorliegende Arbeit zu schließen versuchen. »Because the theatre is a public institution, it is a political institution«" - für die Bühne der Shakespearezeit trifft dies in ganz besonderem Maße zu, und zwar nicht nur, was ihre Funktion in der frühen Neuzeit angeht, sondern auch hinsichtlich ihrer Rolle in der Shakespearerezeption der nachfolgenden Jahrhunderte. Vor allem gilt dies für die Freilufttheater: Weil die Eintrittspreise dort deutlich niedriger lagen als in den (an sich ebenfalls öffentlichen) private theatres, waren sie zumindest theoretisch deutlich breiteren Gesellschaftsschichten zugänglich. Dieser Umstand war schon zu Shakespeares Lebzeiten ein Dorn im Auge der Obrigkeit. An Brisanz hat er bis heute nichts eingebüßt, sondern eher noch gewonnen: Shakespeares Ausnahmestatus als kulturelle Identifikationsfigur führt dazu, dass auch das Theater, in dem seine Werke ursprünglich aufgeführt wurden, Träger kultureller Bedeutung wird: Many people feel that the theatre of Shakespeare should be a kind of model. Though holding a mass audience, it was intimate, human, fast-moving, passionately real though without any fuss about stage illusion, and all this made it very democratic. Of course some critics want to refute the picture and prove that he wrote for the palace or for stately homes, but they still regard it in political terms.12

Ob öffentliche Theater oder Adelssitze - in beiden Fällen geht es weniger darum, für welchen Aufführungsort die Dramen konzipiert waren, sondern viel mehr um die Frage, was für ein Publikum sich dort versammelte. Über ihre ursprünglichen Zuschauer sollen die Dramen soziologisch verortet werden, und dies nicht nur im Kontext der frühen Neuzeit: Ob Shakespeare zu Lebzeiten der »Volkskultur« oder der »Elitenkultur« zuzurechnen war, hat unmittelbare Konsequenzen für seine Position im kulturellen Gesamtgefüge der Gegenwart des nachgeborenen Kritikers. Die Argumentationszusammenhänge sind dabei allerdings komplexer, als dies bei Empson anklingt. Nicht jeder Kritiker, der annimmt, Shakespeare habe ursprünglich für das Globe geschrieben, beurteilt diesen Umstand notwendigerweise positiv. Im Verlauf der Rezeptionsgeschichte wird der Einfluss des ursprünglichen Shakespearepublikums - ob man dieses nun in den öffentlichen Theatern oder bei Hofe vermutet - ausgesprochen unterschiedlich bewertet. Überaus wandelbar ist dementsprechend auch das jeweilige Bild von den Zuschauern: Im Laufe der Jahrhunderte hat die Shakespeareforschung zum Teil äußerst kontroverse Hypothesen über die

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Simon Shepherd / Peter Womack: English Drama: A Cultural History. Oxford 1996. Bate, Shakespearean Constitutions, S. 61. William Empson: The Globe Theatre. In: Ders.: Essays on Shakespeare. Cambridge 1986, S. 158-222. Hier: S. 159.

3

soziale Zusammensetzung, die intellektuellen Fähigkeiten und die Art der emotionalen Reaktionen gerade des Publikums in den Freilufttheatern aufgestellt. Dies ist umso erstaunlicher, als das zur Verfugung stehende Quellenmaterial nicht sehr umfangreich und alles andere als zuverlässig ist, stammt es doch zum Großteil von denjenigen, die - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen - ein Interesse daran hatten, die Theaterbesucher in einem ganz bestimmten Licht erscheinen zu lassen: Den Londoner Stadtvätern, die die Theater als potentielle Unruheherde betrachteten, den prinzipiell theaterfeindlichen Puritanern, und nicht zuletzt den Dramatikern selbst. 13 Wenn schon zeitgenössische Darstellungen des elisabethanischen Publikums vielfach unverhohlen parteiisch sind, dann bestehen in dieser Hinsicht ausgeprägte Kontinuitäten zur Shakespearekritik der nachfolgenden Jahrhunderte. Immer wieder prangert die einschlägige Literatur den Erfindungsreichtum der jeweils früheren Publikationen an. Eine (ihrerseits hoch umstrittene) neuere Studie, Ann Jennalie Cooks The Privileged Playgoers of Shakespeare's London, charakterisiert die Situation bezüglich der Quellen und der älteren Forschung folgendermaßen: [Contemporary] [r]eports of [the] nature of [the Renaissance playgoer] varied wildly. Was he ignorant or intelligent, riotous or refined, libertine or law abiding, plebeian or privileged? The answers depended always upon the nature of the report and the reporter. And so they still do. Modern accounts of the audience suffer from the bias of the writer fully as much as did the contemporary accounts. [...] As often as not, an interpretation reveals more about the interpreter's mind than it does about the mysteries of the past.14 Die Theaterbesucher der frühen Neuzeit sind eine historische Leerstelle, die die unterschiedlichsten Interpretationen provoziert. Die Tatsache, dass nur wenige Fakten über sie verbürgt sind, nimmt ihnen nichts von ihrer Attraktivität - im Gegenteil: Als Hilfskonstruktion, deren Erscheinungsbild von Faktoren bestimmt wird, die mindestens ebenso sehr in der Gegenwart des jeweiligen Kritikers wie in der Epoche Shakespeares zu suchen sind, spielen sie bei der »Nostrifizierung« Shakespeares eine bedeutende Rolle. Damit soll nicht postuliert werden, dass ein gänzlich »objektives« Bild des elisabethanischen Publikums möglich wäre. Jedes Bild der Vergangenheit beinhaltet Elemente des Fiktiven ebenso wie Elemente des Faktischen, ohne dass diese immer klar voneinander zu trennen wären. Zielsetzung dieser Studie ist es dementsprechend nicht, die Spreu des »Erfundenen« vom Weizen des »Tatsächlichen« zu trennen und so zu einem »richtigen« Bild des elisabethanischen Publikums zu gelangen. Vielmehr soll untersucht werden, welche Faktoren ausschlaggebend dafür sind, dass Vorstellungen vom elisabethanischen Publikum zu einem bestimmten Zeitpunkt eine ganz bestimmte Gestalt annehmen. Ein einleitendes Kapitel bettet diese Fragestellung in literatur- und kulturtheoretische Zusammenhänge ein. Im Anschluss daran ist die Arbeit im wesentlichen chronologisch gegliedert. Kapitel 3 behandelt das Entstehen des Topos vom elisabethanischen Publikum im »langen« 18. Jahrhundert; Kapitel 4 verfolgt seine Weiterent-

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4

Vgl. dazu Ε. K. Chambers: The Elizabethan Stage. Vol. 1 Oxford 1923, insbes. S. 236-307 und die dazugehörigen Appendizes. Ann Jennalie Cook: The Privileged Playgoers of Shakespeare's London, 1576-1642. Princeton 1981, S. 3.

Wicklung in der romantischen Shakespearekritik, insbesondere bei Hazlitt und Coleridge. Mit der Rolle der frühneuzeitlichen Theaterbesucher - insbesondere der berüchtigten groundlings - in der viktorianischen Auseinandersetzung mit Shakespeare befasst sich schließlich Kapitel 5. Im Anschluss erfolgt ein kurzer Exkurs zur Rolle der frühneuzeitlichen Theaterbesucher in der amerikanischen Shakespearerezeption des 19. Jahrhunderts. Ab der Wende zum 20. Jahrhundert ist im Vergleich zu den vorhergehenden Phasen der Rezeptionsgeschichte eine starke Auffächerung des Diskurses über Shakespeare zu beobachten, die auch in sehr unterschiedlichen Konzeptionen des elisabethanischen Publikums ihren Niederschlag findet. Kapitel 6 befasst sich mit demjenigen Strang der Shakespearekritik, der die Elisabethaner primär als kindlich und naiv darstellt; Kapitel 7 mit der Vorstellung eines »gespaltenen« bzw. ausschließlich elitären Shakespearepublikums. Dem aus heutiger Sicht eher randständigen, in seiner Funktionalisierung des elisabethanischen Publikums aber äußerst innovativen Neo-Elizabethanism ist Kapitel 8 gewidmet. Kapitel 9 schließlich untersucht die Funktionalisierung der frühneuzeitlichen Theaterbesucher in der Shakespearekritik seit etwa 1945.

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2.

Shakespeares elisabethanisches Publikum am Schnittpunkt von Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft und literaturwissenschaftlicher Rezeptionsforschung

2.1 Shakespeare als kultureller Bedeutungsträger Shakespeare besetzt im anglo-amerikanischen Kulturraum und darüber hinaus eine Position, wie sie innerhalb der Weltliteratur kein zweiter Autor aufweisen kann. Seine Bedeutung geht dabei weit über das rein Literarische hinaus: Als Bündelungspunkt der verschiedensten kulturellen Normen und Werte ist er zu einer Figur geworden, deren mannigfaltiges Bedeutungspotential sich längst von der historischen Person des Dramatikers, aber auch von seinen Werken, losgelöst hat. Diese Abstrahierung macht den Ausnahmestatus des Konstrukts »Shakespeare« einerseits zwar erst möglich, andererseits bewirkt sie aber auch eine erhebliche semantische Unscharfe. Aus diesem Grund ist es ausgesprochen schwierig, die zahlreichen kulturellen Funktionen, die das Phänomen Shakespeare erfüllt, zu erfassen und einer wissenschaftlichen Untersuchung zugänglich zu machen. The difficulty of articulating Shakespeare's value begins with the complex semantics and patterns of usage associated with his name. Shakespeare is a term with extraordinary currency in a wide range of discursive practices as a complex system of cultural value. [...] It refers equivocally to a particular man, an author, a body of works, a system of cultural institutions, and, by extension, a set of attitudes and dispositions. It defines taste communities and cultural positioning. But Shakespeare is not just a token of cultural worth and significance. The term has multiple and ambiguous valences, especially in its vernacular usage, where it may also signify privilege, exclusion, and cultural pretension.1

Die Multivalenz des Konstrukts »Shakespeare« ist, wie hier von Bristol, vielfach festgestellt, aber noch längst nicht erschöpfend untersucht worden. Eine wie auch immer geartete Erklärung für die beispiellose Nachwirkung Shakespeares zu finden, erweist sich als ausgesprochen schwierig, wenn nicht gar unmöglich, da die Geschichte der Shakespearerezeption weder linear erfasst noch auktorial erzählt werden kann: Jede Beschreibung der Rezeption ist gleichzeitig ein Akt der Rezeption und damit unweigerlich in die »Konstruktion« Shakespeares involviert, ein Sachverhalt, der zwar zur Kenntnis genommen werden kann, in letzter Konsequenz jedoch nicht zu ändern ist. Bisherige Abhandlungen über Shakespeares Rezeption und seinen Status als kultureller Bedeutungsträger bewegen sich, wohl aufgrund der skizzierten Schwierigkeiten, zum weitaus größten Teil im Rahmen eines historischen Abrisses des Fortlebens des Dramatikers inner- und außerhalb des Theaters, wobei insbesondere bei frühen Publikationen zum Thema die Betonung stark auf die Rolle historischer

Michael D. Bristol: Big-time Shakespeare. London / New York 1996, S. IX.

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Einzelpersönlichkeiten (Garrick, Davenant, die Herausgeber der frühen Editionen usw.) fällt.2 Neuere Arbeiten legen dagegen stärkeres Gewicht auf den historischen Kontext, in dem die Rezeption Shakespeares erfolgt, und rücken die politische und gesellschaftliche Gebundenheit von Perpetuierung, Tradierung und Ausbau der Position des »Barden« in den Mittelpunkt des Interesses.3 Was die Funktionalisierungen Shakespeares in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts angeht, kommt den Untersuchungen der cultural materialists eine Vorreiterrolle zu. Diese haben insbesondere die Inanspruchnahme des Dramatikers zur Perpetuierung des gesellschaftlichen status quo mehrfach dargestellt und erläutert. Aus Sicht des cultural materialism stellt sich Shakespeare als Garant des Systems Literatur dar, wie es an Schulen und Universitäten vermittelt wird: [Shakespeare's] construction in English culture generally as the great National Poet whose plays embody universal truths has led to his being used to underwrite established practices in literary criticism, and consequently, in examinations. For literary criticism, Shakespeare is the keystone which guarantees the ultimate stability and lightness of the category »Literature«. The status of other authors may be disputed - indeed, one of the ways criticism offers itself as serious and discriminating is by engaging in such disputes, policing its boundaries. But Shakespeare is always there as the final instance of the validity of Literature. 4

Da »Literatur« jedoch nicht isoliert steht, ergibt sich - insbesondere im Falle Shakespeares - eine Bündelungs- und Abgrenzungsfunktion, die sich auch auf andere Bereiche erstreckt. Shakespeare garantiert nicht nur die Stabilität der Instanz »Literatur«, sondern darüber hinaus auch die Stabilität des gesamtkulturellen Zusammenhangs, in den diese Instanz eingebunden ist. Dabei erweist er sich in seiner Funktionalisierung als zutiefst ideologisch: Diverse groups insist that they have the true Shakespeare because, almost like a religious relic, he constitutes a powerful cultural token. Shakespeare's plays are one site of cultural production in our society - they are one of the places where our understanding of ourselves is worked out and, indeed, fought out. [...] Shakespeare's plays constitute an influential medium through which certain ways of thinking about the world may be promoted and others impeded, they are a site of cultural struggle and change. 5

Entscheidend an dieser Darstellung des kulturellen Kapitals Shakespeares ist die Einsicht, dass sich die Bedeutung der Dramen in ständiger Fluktuation befindet, da sie als »site of cultural struggle and change« permanent widersprüchlichen Auslegungen unterzogen werden. Dieser Sachverhalt trifft allerdings nicht nur auf die Werke Shakespeares zu, sondern ebenso auf die Person, das Zeitalter usw.: Als site of cultural meaning umfasst Shakespeare einen ganzen Komplex von Vorstellungen,

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Vgl. F. E. Halliday: The Cult of Shakespeare. London 1957, sowie Louis Marder: His Exits and his Entrances. The Story of Shakespeare's Reputation. London 1963. So exemplarisch bei Taylor, Reinventing Shakespeare. Alan Sinfield: Give an account of Shakespeare and Education, showing why you think they are effective and what you have appreciated about them. Support your comments with precise references. In: Jonathan Dollimore / Alan Sinfield (Hgg.): Political Shakespeare. New essays in cultural materialism. Manchester 1985, S. 134-157. Hier: S. 135. Alan Sinfield: Introduction: Reproductions, interventions. In: Dollimore / Sinfield, Political Shakespeare, S. 130-133.

die mit dem literarischen Nachlass des Dramatikers oft nur noch mittelbar zu tun haben. Damit ist nicht nur die Bedeutung der Stücke, sondern die Bedeutung des gesamten Komplexes für eine bestimmte Kultur ständig neu zu verhandeln - wobei die Konstruktion »Shakespeare« als Ganzes oft wichtiger ist als die Dramen an sich: The literary body [of Shakespeare's works] has become largely inconsequential: it is present but often goes unnoticed; it is [...] a means to something else - and it always was. [...] Shakespeare may serve as the single most powerful signifier in literary culture, but it is culture that inscribes and reinscribes his name - that names and renames his name - and that gives a local habitation and a name to his corpus.6

An der Geschichte der Phänomens Shakespeare lässt sich also ablesen, wie innerhalb einer bestimmten Kultur literarische wie außerliterarische Werte und Normen konfiguriert, tradiert und durch ihre Zuschreibung an eine bestimmte historische Entität - Shakespeare - konkretisiert werden Die Basis dieses Prozesses bilden zunächst Shakespeares Stücke selbst, ebenso wie ihr tatsächlicher Erfolg zu seinen Lebzeiten. Allerdings werden ihnen, sobald die Konstruktion »Shakespeare« ein gewisses Prestige erlangt hat, Bedeutungen zugeschrieben, die einen außertextlichen Ursprung haben. Diese sind jedoch keineswegs willkürlich bzw. ausschließlich durch die Gegebenheiten des jeweiligen historischen Ortes zu erklären, sondern zumindest partiell - im Werk angelegt: A model of cultural authority based exclusively on fragmentary appropriations and local historical struggles tends to obscure larger social continuities. It also tends to overlook the specific properties of literary artifacts. [...] [T]he cogency of any functional analysis depends on establishing the existence of feedback mechanisms in order to account for the functional persistence of various practices. In other words, there must be some kind of causal link between a given pattern of activity and the historically downstream behavior that reflects or reproduces it. In the case of a literary work this causal connection is easy to demonstrate, since such an artifact is itself an example of a feedback mechanism. Shakespeare's works do not consist of empty signifiers freely available for opportunistic appropriation. [...] The ideological uses of this material are not well described as unilateral appropriations; these »uses« are more correctly viewed as the discovery of latent semantic potential.7

Übertragen auf Shakespeare als komplexe site of meaning, deren Grundlage ein Korpus literarischer Werke darstellt, heißt das, dass auch diese weder jeder beliebigen Aneignung zur Verfügung steht (wobei empirische Befunde den Glauben an diese Aussage doch bisweilen stark erschüttern können) noch autonomer Träger ihrer eigenen Bedeutung(en) ist. Zwischen Shakespeares Dramen und ihrer Auslegung, deren um vieles erweiterte Extension Shakespeare als Identifikations- und Integrationsfigur darstellt, besteht eine zumindest partielle Rückkoppelung, die allerdings umso schwächer wird, je weiter sich der Bedeutungskomplex Shakespeare verselbständigt, d.h. je mehr Shakespeare vom Dramatiker zur Identifikations- und Integrationsfigur späterer Gesellschaften wird.

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Ivo Kamps: Alas, poor Shakespeare! I knew him well. In: Christy Desmet / Robert Sawyer (Hgg.): Shakespeare and Appropriation. London / New York 1999, S. 15-32. Hier: S. 24f. Bristol, Big-time Shakespeare, S. 26.

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In der vorliegenden Studie soll deshalb die Situierung der Shakespearekritik am Schnittpunkt zwischen Innerliterarischem und Außerliterarischem, d.h. zwischen »reiner« Interpretation der konkreten Stücke und gesellschaftlich-historischer Gebundenheit an die Konstruktion eines kulturellen Bedeutungsträgers im Mittelpunkt des Interesses stehen. Konzeptionen von Shakespeares elisabethanischem Publikum werden dabei als Teilbereich des Bedeutungskomplexes »Shakespeare« in ihrem jeweiligen historischen Zusammenhang verortet. Diese Vorgehensweise kann mit Mailloux als rhetorical hermeneutics bezeichnet werden: [Rhetorical hermeneutics] promotes a rhetorical history that embeds the act of interpretation in its most relevant critical debates (and there may be several) and locates these ongoing arguments within the rhetorical traditions of relevant institutional discourses. The interpretive act, its arguments, and its framing institutions are then placed within the cultural conversations, relevant social practices, and constraining material circumstances of the act's historical moment. And of course this moment has its specific temporal history and geographical location within a culture's evolving social, political and economic formations.8 Literaturwissenschaftliche Rezeptionsforschung wird damit also unter kulturwissenschaftlichen Prämissen 9 betrieben. Untersucht wird nicht wie traditionell in der Rezeptionsforschung die Aufnahme des literarischen Werks, sondern Entstehen, Perpetuierung und Wandel eines Topos der Literaturen»/: zu einem bestimmten Autor. Kritik und Forschung zum Thema Shakespeare werden dabei über ihre innerliterarische Bedeutung hinaus als integrale Bestandteile der Konstruktion Shakespeares als einer kulturellen site of meaning verstanden. Im Zusammenhang mit dem elisabethanischen Publikum als Topos des Shakespearediskurses steht dabei der Aspekt der historischen Bedingtheit des Bedeutungskomplexes Shakespeare im Mittelpunkt des Interesses. Dabei greift die Untersuchung auf Überlegungen zurück,

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Steven Mailloux: Rhetorical Hermeneutics in Theory. In: William E. Cain (Hg.): Reconceptualizing American Literary / Cultural Studies. Rhetoric, History and Politics in the Humanities. New York / London 1996, S. 3-20. Hier: S. 6. Das oben zitierte Konzept einer historischen Kulturwissenschaft als rhetorical hermeneutics formuliert den Kern dessen, was am Beispiel des elisabethanischen Publikums dargelegt werden soll. Mailloux verwendet theoretische Grundbegriffe wie history, theory, pragmatics etc. allerdings sehr unbekümmert; darüber hinaus erscheinen seine Arbeiten oft eher rhetorisch denn inhaltlich überzeugend. Mailloux' Terminologie als Ganzes wird hier deshalb nicht übernommen. Zur Kritik an Mailloux vgl. auch Robert C. Holub: The rhetoric of rhetorical hermeneutics. In: William E. Cain (Hg.): Reconceptualizing American Literary / Cultural Studies. Rhetoric, History and Politics in the Humanities. New York / London 1996, S. 73-82. Der vielfach beklagten Unscharfe des Begriffs »Kulturwissenschaft« versucht neuerdings der von Ansgar Nünning herausgegebene Sammelband Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen, Ansätze, Perspektiven (Stuttgart 2003) abzuhelfen. Ob allerdings die dort durchgeführte Taxonomie allseits Anerkennung finden wird, steht dahin. Simon Friths (weite) Definition als kulturwissenschaftlich zu bezeichnender Ansätze, derzufolge diese »a concern for a variety of texts, not just literary works; a multidisciplinary approach, drawing from the social sciences as well as from the humanities [and] an emphasis on self-reflexive theory, on the ways in which knowledge creates its own object« aufweisen, schließt die Fragestellung der vorliegenden Arbeit in jedem Fall mit ein. (Simon Frith: Literary Studies as Cultural Studies - Whose Literature? Whose Culture? In: Critical Quarterly 34 (1992), S. 3-26. Hier: S. 4.)

wie sie - gerade im Kontext der Shakespeareforschung - insbesondere von den amerikanischen New Historicists vorgetragen worden sind: Integral to a [...] project of historical criticism must be a realization and acknowledgement that our analyses and our understandings necessarily proceed from our own historically, socially and institutionally shaped vantage points; that the histories we reconstruct are the textual constructs of critics who are, ourselves, historical subjects. If scholarship actively constructs and delimits its object of study, and if the scholar is historically positioned vis-avis that object, it follows that the quest of an older historical criticism to recover meanings that are in any final or absolute sense authentic, correct and complete is illusory. Thus, the practice of a new historical criticism invites rhetorical strategies by which to foreground the constitutive acts of textuality that traditional modes of literary history efface or misrecognize. It also necessitates efforts to historicize the present as well as the past, and to historicize the dialectic between them - those reciprocal historical pressures by which the past has shaped the present and the present reshapes the past. In brief, to speak today of an historical criticism must be to recognize that not only the poet but also the critic exists in history; that the texts of each are inscriptions of history; and that our comprehension, representation, interpretation of the texts of the past always proceeds by a mixture of estrangement and appropriation [...]. Such a critical practice constitutes a continuous dialogue between a poetics and a politics of culture.10

Der New Historicism hat die von Montrose dargestellte historisch-soziale Eingebundenheit literarischer wie literaturwissenschaftlicher Texte bislang hauptsächlich insofern thematisiert, als er zum einen die privilegierte Stellung des als ästhetisch behandelten Textes innerhalb des Diskursganzen einer bestimmten Epoche aufhebt: Das literarische Werk erweist sich als eine von vielen Stimmen, die weder in ihrer Aussagekraft besonders hervorgehoben ist noch aufgrund irgendwelcher ihr zugesprochenen Eigenschaften (»Überzeitlichkeit«, »Repräsentativität«) losgelöst von diesen anderen Stimmen verstanden werden kann. Zum anderen hat die Einsicht in die Uneinholbarkeit des Vergangenen, die dem Projekt historischer Rekonstruktion entgegensteht, den New Historicism zu einer intensiven Selbstreflexion geführt. Deren Gegenstand ist nicht nur das von vornherein immer schon gegebene Scheitern der Rekonstruktion einer vergangenen Totalität: Im Kontext der historischen Konditioniertheit des eigenen wissenschaftlichen Vorgehens hat man sich darüber hinaus intensiv mit institutionellen und politischen Voraussetzungen und Widersprüchlichkeiten des New Historicism befasst. Diese Auseinandersetzung geht allerdings oft nicht über den rhetorischen Gestus hinaus; vor allem wird über die eigene Nabelschau oft vergessen, dass dem Anspruch der historisch-kulturellen Selbstreflexion nicht schon mit den ritualisierten Topoi der Selbstbescheidung und Selbstkritik Genüge getan ist. Wirklich eingelöst wird dieser erst dann, wenn eine gesamtkulturelle Verortung von Kritik und Forschung in genau der Art erfolgt, die der New Historicism für literarische Artefakte der Renaissance, aber auch anderer Epochen, wegweisend initiiert hat. Diese Unterlassung ist umso erstaunlicher, als es gerade der Diskurs über Shakespeare ist - den Autor, anhand dessen sich der New Histori-

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Louis Montrose: Professing the Renaissance: The Poetics and Politics of Culture. In: H. Aram Veeser (Hg.): The New Historicism. New York/London 1989, S. 15-36. Hier: S. 23f. 11

cism paradigmatisch konstituiert hat - , an dem sich eine derartige gesamtkulturelle Einordnung exemplarisch durchführen lässt. Wie alle Diskurse erweist sich der Shakespearediskurs als wesentlich produktiv, und zwar in Dimensionen, die die Auslegung der einzelnen Stücke weit überschreiten und sich stark an die Geschichtsschreibung annähern können. Nicht nur Publikationen wie Tillyards The Elizabethan World Picture" - in letzter Zeit beliebtes Opfer des Tillyard-bashing12 - , die sich explizit um die erzählerische Rekonstruktion elisabethanischer Verhältnisse bemühen, tragen mittelbar und unmittelbar zur Entstehung eines Gesamtbildes des Dramatikers in seiner Zeit bei, sondern auch, und dies schon weit vor Tillyard und der Institutionalisierung des Universitätsfachs Englisch, alle Studien, die über einen rein textorientierten Ansatz hinausgehen - und in den meisten Fällen auch und vor allem die, die sich als »rein textorientiert« ausgeben. Der Shakespearediskurs kreiert in seiner Eigenschaft als Diskurs nicht nur seinen eigenen Shakespeare, sondern darüber hinaus auch einen ganzen kulturellhistorischen Zusammenhang, in den dieser eingebettet ist. Was prinzipiell für jede Art von Diskurs gilt, trifft für den über Shakespeare in besonderem Maße zu: Der Diskurs und sein Objekt können nicht voneinander getrennt werden, sie sind gegenseitig konstitutiv. »Shakespeare« bezeichnet nicht mehr nur einen konkreten historischen Autor und sein konkretes historisches Werk, sondern darüber hinaus immer auch die Bedeutungen, die verschiedene Epochen diesen zugeschrieben haben. Dieser Umstand ist das herausragende Kennzeichen des Phänomens Shakespeare im beginnenden 21. Jahrhundert, wird gleichzeitig aber nur aus der Rezeptionsgeschichte heraus verständlich: Shakespeare wird durch die Geschichte seiner Rezeption konstituiert und expliziert. [...] [T]he meaning of Shakespeare cannot be restricted to William Shakespeare's lifetime, it also has to embrace his afterlife as the »presiding genius« of later cultures. His friend Jonson claimed that he was »not of an age, but for all time«. The eighteenth-century elevation of him to the very image of creative genius fulfilled this prophecy. It allowed his communality to extend to his influence on the lives of subsequent readers, writers and playgoers.13 Neben dem Geniegedanken, mit dem das 18. Jahrhundert die Erhebung Shakespeares ins Überzeitliche, repräsentativ Allgemein-Menschliche ermöglichte, war für seine andauernde Aktualität eine kontinuierliche Präsenz auf der Bühne unerlässlich. Aufgrund dieses Umstandes konnte Shakespeare von jeder Generation als zeitgenössisch interpretiert werden, da seine Stücke immer gleichzeitig mit denen der jeweiligen Gegenwartsautoren gespielt wurden. Die Gesamtheit des dramatischen Kanons einer gegebenen Epoche setzt sich aus der Perspektive der Zeitgenossen damit stets

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E . M . W . Tillyard: The Elizabethan World Picture. London 1943 S. hierzu Hugh Grady: Hegemony and Tillyard's Hictorical Criticism. In: Peggy A. Knapp: Assays: Critical Approaches to Medieval and Renaissance Texts. Vol. V Pittsburgh 1989, S. 37-61; Ders.: Kapitel Professionalism. Nationalism, Modernism - The Case of E. M. W. Tillyard. In: Ders.: The Modernist Shakespeare. Critical Texts in a Material World. Oxford 1991, S. 158-189; Ulrich Suerbaum: Wiedergelesen: Ε. Μ. W. Tillyard, The Elizabethan World Picture (1943). In: Poetica 28 (1996), S. 466-478. Bate, The Genius of Shakespeare, S. 185.

aus Shakespeare auf der einen und den zeitgenössischen Autoren auf der anderen Seite zusammen: Für die beiden Hauptepochen des englischen Theaters werden dementsprechend immer die Renaissance und die jeweilige Gegenwart gehalten.14 Aus dieser fortdauernden Präsenz Shakespeares resultiert eine überproportionale Gewichtung der Renaissance innerhalb der anglo-amerikanischen Kultur im allgemeinen und innerhalb der literarischen Kultur im speziellen. Gleichzeitig aber ist eine Reduktion zu beobachten, da die Renaissance vielfach nicht um ihrer selbst willen und als Ganzes interessiert, sondern als ein Aspekt Shakespeares: [The] miscellaneous records [of the Elizabethan Age] form a unitary object because his presence unites them; it is the Age of Shakespeare that is grasped (and subsequently reproduced in a thousand book titles); so that, for example, to suggest that the most noteworthy poet of the Age of Shakespeare was someone other than Shakespeare is now not just a minority opinion but a contradiction in terms. His Age annotates him: it is not so much that Shakespeare appears as a part of Elizabethan culture, but rather that Elizabethan culture appears as a part of Shakespeare (the other parts, as we know, being not of an age but for all time).15

Was hier für die Kultur der Renaissance im allgemeinen festgestellt wird, gilt für das elisabethanische Publikum umso mehr, kristallisiert sich in den Theatergängern der Renaissance doch das gesamte Zeitalter: Abstrakte Einheitskonzepte wie »das elisabethanische Weltbild« werden in »den Elisabethanern«, die wiederum vor allem in ihrer Eigenschaft als »Shakespeares Publikum« interessieren, gewissermaßen konkret personalisierbar. Innerhalb des Theaterkontextes ist das Publikum zudem aufgrund des Prinzips der triadischen Kollusion16 von besonderer Bedeutung. Aus dem Zusammenspiel von Publikum, Bühne und Werk, das zum Zustandekommen der theatralen Illusion nötig ist, ergibt sich die Möglichkeit, von jedem der beteiligten Elemente auf eines der anderen zu schließen. Im Falle Shakespeares wird dies insbesondere dann relevant, wenn das Werkelement um die Komponente des Autors erweitert wird, so dass vom Werk auf den Autor geschlossen werden kann, in umgekehrter Richtung aber auch auf das Publikum. Autor und Publikum treten vermittels des Werks also in direkte Relation. Für die Konstruktion Shakespeares als site of meaning erhält das elisabethanische Publikum damit eine nicht zu unterschätzende Bedeutung, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil seit der durch die Romantik initiierten neuen Wertschätzung des (Autor-) Individuums das Konzept der (historischen) Authentizität virulent wird: The cult of individual creativity produced an anxiety about textual authenticity [...]. As a result, the drama's point of origin acquired a special interest as the moment of an original

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Shepherd / Womack, English Drama. S. 87f. Shepherd / Womack, English Drama, S. 87f. Für eine andere Verteilung der Gewichte im Verhältnis zwischen dem literarischen »Werk« und seinem geschichtlichen »Hintergrund« plädiert demgegenüber Brook Thomas: Figuring the Relation between Literary and Cultural Histories. In: REAL: Yearbook of Research in English and American Literature 17 (2001), S. 341-357. Zu diesem Begriff vgl. Klaus Lazarowicz: Gespielte Welt. Eine Einführung in die Theaterwissenschaft an ausgewählten Beispielen. Frankfurt / Main 1997, insbes. S. 97-111.

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purity. [...] Paradoxically, then, as the genius of Shakespeare was raised above history, it was also identified, more specifically than before, with its particular historical time. 17

Diese »particular historical time« ist jedoch genauso wie «Shakespeare« ein Entwurf, der wesentlich gegenwartsbestimmt ist. Zu beachten ist einerseits, dass dieser Entwurf aufgrund seines Konstruktcharakters nicht die stabile Entität ist, als die er erscheint. Andererseits muss der Bedeutungskomplex »Shakespeare« in seiner Eigenschaft als Träger von Nonnen und Werten, spezieller auch in seiner Eigenschaft als Verkörperung von high culture, den Eindruck der Stabilität erwecken, da Normen, Werte und Prestigeverteilung sonst als zeitlich gebunden und damit jederzeit hinterfragbar erscheinen würden. Die Inanspruchnahme Shakespeares durch wie auch immer geartete normsetzende Instanzen ist damit niemals völlig abgeschlossen, da auch die Illusion der Überzeitlichkeit immer wieder neu geschaffen werden muss. Noch bevor das Kriterium der Authentizität Shakespeare als kulturelle Instanz legitimieren hilft, spielt das Konzept der historischen Alterität eine entscheidende Rolle, da die Funktionalisierung des historisch Anderen die Konstruktion des historisch Konstanten oder Überzeitlichen erst ermöglicht. Für die Untersuchung der Konzeptionen Authentizität und Alterität als »mechanisms of cultural renown« ist das Konstrukt Shakespeare in der Tat eines der geeignetsten Objekte überhaupt.18 Die Grenzen der traditionellen Literaturwissenschaft werden, sobald Shakespeare nicht mehr »nur« als Autor bzw. als Überbegriff für eine Gruppe von Texten aufgefasst wird, jedoch klar überschritten. [...] [I]n order to interpret what a society does in the name of Shakespeare, you have to know what else that society does. You can hardly recount the history of the theatre, of publishing, censorship, journalism, education, morality, sex, without becoming entangled in the complex entirety of the host society, its economics, politics, ideology, its total social and material structure. And so a history of Shakesperotics [Taylor's term for Shakespeare as a site of cultural meaning] becomes, inevitably, a history of four centuries of our culture.19

Angesichts dieses umfassenden Anspruchs bleibt allerdings folgendes zu beachten: Alle Beiträge zum Thema Shakespeare zu untersuchen, ist kaum machbar. Auch wenn nur ein Teilausschnitt bearbeitet werden soll, wie hier diejenigen Texte, die sich in irgendeiner Form mit dem elisabethanischen Publikum befassen, kann Vollständigkeit immer nur angestrebt werden. Der Versuch der Situierung dieser Texte in ihrem historischen Kontext muss sich der Tatsache bewusst bleiben, dass dieser per se immer eine Konstruktion aus historischen Fragmenten bleibt, dass die Vergangenheit eben gerade dadurch, dass sie nicht mehr wirklich zu erfassen ist, sich als solche konstituiert. Trotz der dargestellten Einschränkungen und Schwierigkeiten ist das Erkenntnispotential des Untersuchungsgegenstandes groß. Mit der Sicht auf das elisabethanische Publikum und damit stellvertretend auch auf das elisabethanische Zeitalter erschließt sich eine wesentliche Komponente des kulturellen Bedeutungskomplexes

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Shepherd / Womack, English Drama, S. 90. Taylor, Reinventing Shakespeare, S. 6. Taylor, Reinventing Shakespeare, S. 6.

Shakespeare, da die Einbettung in einen geschichtlichen Kontext von Anfang an eines der wesentlichen Elemente des Diskurses über den Dramatiker und sein Werk ist. Die Geschichte des Renaissance-Theaterpublikums als eines rezeptionsgeschichtlichen Topos ist damit gleichzeitig eine Geschichte der Shakespeareforschung und -kritik in einem ihrer wesentlichen Stränge. Darüber hinaus allerdings ist die Geschichte der Konstruktion des ursprünglichen Shakespearepublikums die Geschichte der Konstruktion eines spezifischen Stücks Vergangenheit, und zwar einer Vergangenheit, die als Teil einer Figur betrachtet werden kann, die in ihrer Eigenschaft als Träger kultureller Werte und Normen die Identität einer oder mehrerer zu einer bestimmten Zeit existenter Gruppen sichert. Historische Erscheinungsformen und Funktionen des Publikums als Konstrukt der Shakespearekritik spiegeln damit die kollektiven Vorstellungen und Bedürfnisse, die diese Gruppierungen auch und vor allem in ihrer eigenen soziokulturellen Einbindung mit Shakespeare als cultural icon verbinden.

2.2 Identität, Alterität, Authentizität Identität kann als relationaler Begriff immer nur im Zusammenhang mit Alterität gedacht werden, da die Existenz einer Außengrenze für die Konstituierung einer Gruppe (aber auch des Subjekts) von entscheidender Bedeutung ist. Die Konstruktion einer »Gegenkultur« bzw. eines Gegenkonzeptes ist deshalb für jede gegebene Kultur von entscheidender Bedeutung: [...] [D]as Etikett, mit dem eine Kultur die mit ihr korrelierte Gegenkultur versieht, [dient] nicht nur dazu, ein bestimmtes Wirklichkeitssegment auszugrenzen, sondern auch dazu, dieses in inhaltliche Beziehung zu den für die Kultur maßgeblichen Ideen und Werten zu setzen. Das betreffende Wirklichkeitssegment wird ausgegrenzt, weil die für die Kultur verbindlichen Mentefakte in ihm nicht zu gelten scheinen. Durch die Ausgrenzung wird eine mögliche Bedrohung für die kulturspezifischen Mentefakte abgewendet und damit zugleich die Identität der betreffenden Kultur gefestigt.20

Diese Grenzziehung muss allerdings nicht notwendigerweise gegenüber einer »Fremdkultur« erfolgen (klassische Kultur Griechenlands im Gegensatz zu den »Barbaren«, europäische Kultur im Zeitalter der Entdeckungen im Gegensatz zu den »Wilden« usw.21), sondern kann auch innerhalb ein und derselben Kultur vorgenommen werden. Die Konstruktion einer historischen Alterität ist als ein solcher Fall der Grenzziehung innerhalb eines gesamtkulturellen Zusammenhangs zu betrachten, die unter Beibehaltung eines auf Differenz beruhenden Konzepts der Vergangenheit die Verbreitung identitätsstiftender, »überzeitlicher« Normen und Werte ermöglicht. Elemente, die für die Identität einer Kultur konstitutiv sind, können unter Rückgriff auf Kontinuität und Tradition legitimiert werden, während das Konstrukt der historischen Alterität das Auffangbecken für all das abgibt, was zwar

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Roland Posner: Kultur als Zeichensystem. Zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe. Aleida Assmann / Dietrich Harth (Hgg.): Kultur als Lebenswelt und Monument. Frankfurt / Main 1991, S. 37-74. Hier: S. 58. Weitere Beispiele bei Posner, Kultur als Zeichensystem, S. 58.

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überliefert und damit bekannt, aber mit den Anforderungen der aktuellen Identität nicht vereinbar ist. Tradiert werden kann also aufgrund der Relationalität des Begriffs nicht eine für sich alleine stehende Identität - sie muss notwendigerweise immer auch ihr Gegenbild, das, was sie gerade nicht ausmacht, in ihre eigene Weitergabe mit einschließen. Identität ist damit - gerade weil sie Stabilität zu vermitteln sucht - niemals statisch: Die »Identität« einer Kultur kann [...] immer nur ein fragiles Gleichgewicht im Übergang sein, das sich in ständiger Verhandlung mit intra- und interkulturellen Formen der Alterität konstituiert und rekonstituiert. Dies führt nicht nur in einem bestimmten historischen Moment zu einer ständigen Bewegung der Verhandlung, der Synchronisierung des Asynchronen, der Grenzziehung und gleichzeitigen Grenzverschiebung, sondern die jeweils entstehenden Kulturmodelle und Formen der kulturellen Selbstbeschreibung verändern sich ebenfalls. 22

Dieser Wandel ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass das Verhältnis von Kultur und Gegenkultur ein zutiefst ambivalentes ist, da jede Kultur dazu neigt, sich die von ihr konstruierte Gegenkultur anzueignen bzw. sie zu eliminieren. Dieser Prozess der Elimination ist auch in Form der Umbesetzung eines bereits vorhandenen Konzepts vorstellbar, so z.B. wenn das Konzept der Natur einen Bedeutungswandel von »zivilisierungsbedürftige Wildnis« zu »unberührtes Idyll« durchläuft. Genau die gleichen Mechanismen aber sind es, die den verschiedenen Phasen der Funktionalisierung Shakespeares im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte zugrunde liegen. Für deren Untersuchung ist das Konzept einer kollektiven Identität entscheidend: »Kollektive Identitäten sind Diskursformationen, sie stehen und fallen mit jenen Symbolsystemen, über die sich die Träger einer Kultur als zugehörig definieren und identifizieren«.23 Dies gilt vor allem auch für den Sonderfall der nationalen Identität, die sich wie die kollektive Identität im allgemeinen unter Rückgriff auf gemeinsame, jedoch stets neu zu verhandelnde Bedeutungsträger im weitesten Sinne aufbaut: [Die] nationale Identität ist eine kollektive Identität in dem Sinne, dass sie die Besonderungsaspekte der Individuen nivelliert und das Gemeinsame, ihren Zugehörigkeitsaspekt, stärkt. In diesem Fall formt und vollendet sich das Selbstbild nicht durch einen eigenständigen Sinnentwurf, sondern durch Übernahme eines gemeinsamen verbindlichen kulturellen Musters. Nationalstaaten stehen vor der Aufgabe, eine heterogene, von unterschiedlichen Loyalitäten und Lebensformen bestimmte Masse in ein »Volk« mit einem gemeinsamen Willen und Stolz umzuformen. Durch nationale Mythen wird die Chance der massenhaften Integration von Individuen zusätzlich zu bzw. auch jenseits von politischer Mitbestimmung eröffnet. Die Errichtung des Nationalstaats auf dem Sockel eines nationalen Mythos befördert Gruppensolidarität. Die damit gleichzusetzende kollektive Identität beruht auf der Bindung an gemeinsame Wertüberzeugungen, der Erinnerung an eine gemeinsame Geschichte und der Orientierung auf gemeinsame Ziele. 24

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Posner, Kultur als Zeichensystem, S. 58f. Aleida Assmann: Zum Problem der Identität aus kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Rolf Lindner (Hg.): Die Wiederkehr des Regionalen. Über neue Formen kultureller Identität. Frankfurt / New York 1994, S. 13-35. Hier: S. 16. Ebda.

Die Erhebung Shakespeares zum Nationaldramatiker im England des 18. Jahrhunderts ist wesentlich als ein solcher Mythos, als Ausdruck einer sich neu definierenden Identität zu verstehen. Am Augustan age, der Epoche, die für die weitere Entwicklung der Shakespearerezeption in mehrfacher Weise prägend ist, zeigt sich damit wegweisend für alle späteren Stadien das Verschwimmen der Grenze zwischen Innerliterarischem und Außerliterarischem, wie es für Shakespeare als site of meaning charakteristisch ist. Die nationalistische Funktionalisierung Shakespeares wird, wie auch im Zusammenhang mit dem elisabethanischen Publikum zu zeigen sein wird, nur im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten des 18. Jahrhunderts verständlich. Hier zeigt sich exemplarisch, dass die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften an den Bedeutungskomplex Shakespeare in keinem Fall isoliert von ihrem gesamtkulturellen Zusammenhang betrachtet werden kann, sondern nur unter Einbeziehung der Gesamtheit der zeitgenössischen kulturellen Debatten. Aus diesen Überlegungen resultiert ein mehrdimensionales Bild der tatsächlichen Vorgänge rund um die nationale Besetzung Shakespeares, die als wesentliche Voraussetzung für den heutigen Status des Dramatikers zu betrachten ist: Nationalism is a cultural phenomenon and one of its places of birth is therefore cultural tradition; the creation of an English literary history was a typical manifestation of mideighteenth century national (and anti-Gallic) consciousness. [...] [T]he veneration of Shakespeare as English national poet was in the first place a response to a patronizing and disparaging attitude towards his works on the part of French critics and a Francophile court taste. That response emerged among eighteenth-century England's »most socially conscious« groups, which is to say in anti-Jacobite, Whig circles, among what Marxist analysts have dubbed the incipient bourgeoisie. 25

Wenn Bate hier auf den Ort der Emergenz der nationalen Integrationsfigur Shakespeare verweist, so rückt damit ein wichtiger Sachverhalt in den Blickpunkt: Die Vorstellung von einer nationalen wie auch von einer kollektiven Identität im Allgemeinen stellt immer eine Vergröberung und Vereinfachung dar, da Kulturen nie, auch nicht im 18. Jahrhundert oder davor, so homogenen Gebilde sind, wie es die Vorstellung eines einheitlichen Selbstbilds impliziert. Vielmehr ist die Bedeutung Shakespeares als Bündelungspunkt kultureller Leitvorstellungen stets umstritten und neu verhandlungsbedürftig. Dies gilt vor allem auch in Hinblick auf seine Beanspruchung durch privilegierte und / oder dominierende Gesellschaftsschichten: Shakespeare's eighteenth-century emergence as England's genius was in part a manifestation of cultural nationalism. But the nation and the Establishment are by no means one and the same thing. This is something which the Establishment has a tendency to forget. Oddly, though, it is something which the anti-Establishment also has a tendency to forget. 26

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Bate, The Genius of Shakespeare, S. 171. Bate, The Genius of Shakespeare, S. 189. Ähnliches gilt im übrigen für die Rezeption in den USA, wo der populäre Shakespeare des 19. Jahrhunderts fast ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden ist. Vgl. dazu Lawrence L. Levine: Highbrow / Lowbrow. The Emergence of Cultural Hierarchy in America. Cambridge (Mass.) / London 1988, S. 3 I f f .

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Das Selbstbild verschiedener Untergruppierungen einer gegebenen Kultur übt also erheblichen Einfluss auf deren Positionierung gegenüber Konzepten wie »Nation« aus, die auf die Einheit des jeweiligen kulturellen Zusammenhanges verweisen. Dabei ist zu beachten, dass sich diese (zu vermittelnde) Einheit deshalb mit Hilfe von Mythen, Symbolfiguren, und anderen Bündelungsinstanzen formulieren kann, weil diese Bedeutungsfelder das, was die Identität der Gesamtgruppe ausmacht bzw. was ihr als identitätskonstituierend vermittelt werden soll, von dem Ort der Entstehung ihrer kulturellen Bedeutung abstrahieren und durch diese Ablösung von spezifischen kulturinternen Gebundenheiten überhaupt erst für das kollektive Selbstbild verwertbar machen. Abstraktion und Konkretisierung stehen damit bei der Ausbildung einer Gruppenidentität in engem Zusammenhang. Eine der entscheidenden Strategien, die im Zusammenspiel von Abstraktion und Konkretisierung die Herausbildung einer kollektiven Identität ermöglichen, ist die der Historisierung. Dieser Vorgang steht in direkter Beziehung zu der Notwendigkeit, Identität auf Kontinuität zu gründen: Wenn sich Selbstbilder in engem Bezug zu kollektiven sites of meaning konstituieren, dann müssen diese, wie bereits ausgeführt, einen Eindruck von Stabilität vermitteln, insbesondere dann, wenn sie - wie Shakespeare - über einen langen Zeitraum hinweg vermittelt und aufrechterhalten, dabei aber unterschiedlich interpretiert und funktionalisiert werden. Im Falle Shakespeares lassen sich jedoch jene Eigenschaften nicht völlig ignorieren, die mit der angestrebten Funktionalisierung nicht in Einklang zu bringen sind. Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet eine Aufspaltung: Die mit der aktuellen Identität konformen Elemente werden als »überzeitlich« definiert, die nicht konformen als durch die Eigenheiten der Epoche ihrer Entstehung geprägt. Das Konzept der historischen Alterität dient somit der Aufrechterhaltung der beiden für jegliche Identitätskonfiguration entscheidenden Bestandteile: Kontinuität auf der einen und Grenzziehung durch Differenz auf der anderen Seite.· Unter Einbeziehung der Operationen Abstraktion und Konkretisierung ergibt sich damit folgendes Modell: Von einer bestimmten historischen Begebenheit (Shakespeare als historische Person, Beliebtheit der Stücke usw.) wird zunächst abstrahiert, d.h. es werden aus den zur Verfügung stehenden Bestandteilen der Überlieferung diejenigen ausgewählt, die so »allgemein« sind, dass sie mit den Bedürfnissen einer kollektiven Identität in Einklang zu bringen sind. Das Ergebnis dieses Vorgangs kann als embodiment bezeichnet werden, d.h. als »a way of fixating or condensing a complex of meanings into a single expression«.27 Diese Reduktion ist auch die Grundlage dafür, dass das embodiment zum Träger immer wieder neuer und zusätzlicher Bedeutungen werden, dabei aber seine Allgemeinverbindlichkeit beibehalten kann.

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David F .Lindenfeld: On Systems and Embodiments as Categories of Intellectual History. In: History and Theory 27 (1988), S. 30-50. Hier: S. 39. Lindenfeld verweist richtig auf die allmähliche Loslösung der embodiments von ihrer ursprünglichen Bedeutung: »The meaning they embody within a tradition over generations is often at variance with the content of their original texts; their own intentions get lost, as do the subtleties of their arguments« (S. 40). Im Falle Shakespeares ist von einer noch wesentlich ausgeprägteren Vergröberung auszugehen - wenn der Begriff der Intention in diesem Zusammenhang auch sicherlich mehr als problematisch ist.

Gleichzeitig ergibt sich aber ein nicht zu integrierender »Restbestand« an Überlieferung, der nicht einfach ausgeblendet werden kann, sondern als das »Andere« konstruiert wird und somit der Außenabsicherung der entworfenen Identität dient. Damit die konstitutiven Bestandteile eines gegebenen Selbstbildes als überzeitlich und damit stabil entworfen werden können, konkretisiert sich das Andere im Historischen, d.h. in einem unter Umständen sehr elaborierten Bild der Vergangenheit oder einzelner Vergangenheitsabschnitte. Für die hier vorliegende Fragestellung ergeben sich aus diesem Prozess gewissermaßen zwei Shakespeares, wie sie sich (wenn auch zunächst verneinend) bereits in Ben Jonsons Apostrophierung des Autors als »not of an age, but for all time« andeuten: Eine quasi metahistorische Gestalt, auf die inner- und außerhalb der Literaturwissenschaft im engeren Sinne als kultureller Referenzpunkt zurückgegriffen werden kann, und eine durch ihre grundlegende Alterität charakterisierte Figur, der die mit den jeweils dominanten kulturellen Normen nicht zu vereinbarenden Elemente des Shakespeareschen Werkes als »historisch« zugesprochen werden. Damit ist nicht nur der historische Shakespeare als Entwurf anzusehen, dessen Form und Funktion von den Entwerfenden bestimmt werden; vielmehr kann letztlich davon ausgegangen werden, dass das Konzept des historischen Autors eingebettet ist in einen ebenso funktionalen Entwurf seiner Epoche. Diese Epoche wiederum kristallisiert sich in »den Elisabethanern«, speziell »den elisabethanischen Theaterbesuchern«. So schafft sich die Shakespearerezeption je nach ihren eigenen Bedürfnissen einen fiktiven Autor28 und ein fiktives Publikum, die in einer fiktiven Epoche situiert sind, um die mit Shakespeares Status als Nationaldramatiker nicht vereinbaren Elemente seiner Stücke in einen scheinbar objektiv gegebenen Kontext der historischen Fremdheit zu integrieren.29 Dieser Prozess beginnt bereits im England des 18. Jahrhunderts und macht sich dort sowohl in der Editionspraxis als auch auf der Bühne bemerkbar: The Shakespeare cult [...] led to the general diffusion of a printed text which partially failed to confirm the deity of the cult's own object. SHAKESPEARE, as bardolatrous typesetters preferred to call him, was undoubtedly immortal, but somehow not everything written by Shakespeare was SHAKESPEARE The rhetorical struggle to deal with this central instability is a rich source of eighteenth-century critical metaphor: gold and ore, flowers and weeds, jewels and rubbish, sun and cloud. Most of these images implicitly recommend a programme of purification, and this is what the theatre of Garrick did. The scripts were adapted to fit the mid-eighteenth-century theatre's production values, literary conventions and canons of decency. [...] In 1773, when the acting editions were printed, the editors made the best of it; they had, they said, preserved Shakespeare's beauties while expunging his deformities [...]. 30

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Gemeint ist natürlich ein Konstrukt des Autors Shakespeare, nicht Shakespeare als Namensgeber für die - jedenfalls nach Ansicht der Anti-Stratfordians - »in Wahrheit« von einer anderen Person verfassten Dramen. Zu beachten bleibt hierbei, dass jedes Bild der Vergangenheit immer auch ein Entwurf ist, d.h. dass auf der Skala zwischen dem gänzlich Fiktiven und dem gänzlich Authentischen eben jenes gänzlich Authentische als Fiktion anzusehen ist. Wenn die Konstrukte des elisabethanischen Zeitalters bzw. des elisabethanischen Publikums, die die Shakespearerezeption im Laufe der Zeit hervorgebracht hat, hier als Fiktionen bezeichnet werden, so impliziert dies nicht die Möglichkeit eines »unfiktiven« Epochen- bzw. Publikumsbildes. Shepherd / Womack, English Drama, S. 90f.

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Diese Enthistorisierung des Shakespeareschen Texts setzt sich in Form der modernisierten Edition bis in die Gegenwart hinein fort und stellt eine wesentliche Voraussetzung für die Entrückung des Dramatikers ins Überzeitliche dar. The modernised edition of Shakespeare [...] performs an essential service [...] by completing the continuum of language and literature, speech and writing, past and present, and enabling a »transhistorical« Shakespeare, purged of all disconcerting historical difference, to stand as an incontrovertible demonstration of the »greatness« embodied in »English« whether that nomenclature is employed to signify a literature, a language, a culture or a political state. 31

Dennoch ist die bloße Loslösung der Shakespeareschen Dramen aus ihrem historischen Kontext auf Dauer keine zufriedenstellende Lösung, da diese Art des Vorgehens - insbesondere dort, wo sie sich wie ζ. B. im 18. Jahrhundert nicht auf rein sprachliche Erscheinungen beschränkt - nur schwer mit einem der wichtigsten Postulate des Shakespearekults in Einklang zu bringen ist: Wenn Shakespeare als Repräsentant des überzeitlich Allgemein-Menschlichen konzipiert wird, so ist nur schwer zu erklären, warum seine Werke von den Spuren ihrer Zeitgebundenheit befreit werden müssen, hatte er diese der offiziellen Lesart zufolge doch eigentlich selbst überwunden. 32 Anders ausgedrückt: Die aus der Gesamtüberlieferung in Form der modernisierten oder purifizierten Edition extrapolierte Transhistorizität allein ist noch zu instabil; gleichzeitig müssen die der Modernisierung und Reinigung zum Opfer gefallenen Elemente in ein kohärentes Ganzes integriert werden - das elisabethanische Zeitalter, das im Zusammenhang des Diskurses über Shakespeare schließlich die repräsentative Verkörperung seiner historischen Alterität darstellt: [...] Elizabethan culture is the part of Shakespeare which is not us. In the editorial process [today as then], the notion of the age and its customs is triggered, as it were, only by those points which would appear anomalous, tasteless or unintelligible without it. A line which strikes everybody as fitting, tasteful and intelligible doesn't require the supplement of history. The age itself is therefore constructed out of everything which transgresses the prevailing canons of fitness, taste and intelligibility - that is, the Elizabethans are set up to be what we are not. This does not necessarily set them up to be what we dislike - on the contrary, [...] it can make them particularly attractive. But it does involve the cultural appropriation of »Elizabethan« drama in the logic of the Other, that figure which, securing my identity by being what I am not, appears as both the antithesis and the reflection of what I ™ 33 am.

Das Shakespearepublikum erscheint in diesem Zusammenhang in demselben Sinne als embodiment, wie Shakespeare dies für die Wertvorstellungen und Normen der englischen Kultur seit dem 18. Jahrhundert darstellt: Ebenso wie Shakespeare als site of meaning nicht-gegenständliche Merkmale der englischen Nationalidentität repräsentiert, kristallisiert sich in den elisabethanischen Theaterbesuchern eine ganze Epoche, da Abstrakta wie »das elisabethanische Weltbild« (alas, poor Till-

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20

Graham Holdemess / Andrew Murphy: Shakespeare's England: Britain's Shakespeare. In: John J Joughin (Hg.): Shakespeare and National Culture. Manchester / New York 1997, S. 19^11. Hier: S. 26. Shepherd / Womack, English Drama, S. 91. Shepherd / Womack, English Drama, S. 92f.

yard...) in diesen konkret fassbar und im Wortsinn verkörpert werden. Das Theaterpublikum der Renaissance stellt damit die Projektionsfläche par excellence für alle Vorgänge innerhalb der Shakespearerezeption dar, denen es mittelbar und unmittelbar um die Nostrifizierung des »Barden« zu tun ist, es ist dort das Heterostereotyp, wo Shakespeare das Autostereotyp ist. Innerhalb eines identitätskonstitutiven Entwurfs der elisabethanischen Epoche stellt das Theaterpublikum also den Faktor dar, an der sich Aneignungs- und Abwehrmechanismen der Shakespearerezeption am deutlichsten manifestieren. Dieser Sachverhalt wurde von Moody Ε. Prior schon 1951/52 in einem kaum beachteten Artikel in Modern Philology beschrieben, wobei Prior im elisabethanischen Publikum hauptsächlich eine ultima ratio sieht, auf die immer dann zurückgegriffen wird, wenn ein Problem, das sich für die Kritik aus den Dramen ergibt, anders nicht zu lösen ist: Most of those who interest themselves in the Elizabethan audience [...] are concerned not primarily [...] with restoring the theatrical life of the past but with discovering in such information support for certain conclusions about the plays. [...] If they have been conjuring with half-truths, myths, and fictions, it has been because an accurate picture of the audience is too cumbersome for their use and because they have seldom been disinterested. [...] The selection of the elements which in any given instance are combined to define the audience is not governed usually by the requirements of disciplined historical procedure. Rather, it seems to follow the demands of some critical end. [...] A vulnerable tacit element may affect either of the two parts of the deduction, or both; and the sometimes surprising results of this type of criticism can often be explained as a failure to perceive the presence of some hidden notion about human nature or drama in the chain of reasoning. [...] They appear to start with some significant characteristic of the audience which, it turns out, proves invaluable in illuminating some feature of the plays. In reality, the dramatic problem comes first, the audience is selectively created to meet the problem, and the »explanation« follows. [...] By this means the critic can meet any difficulty. 34

Was für Prior und die damalige Shakespeareforschung noch Symptom eines Unvermögens war, erweist sich heute als eingebettet in einen Gesamtzusammenhang, der das Phänomen Shakespeare zunehmend aus einem rein literaturwissenschaftlichen Kontext löst und als Teil übergreifender kultureller Zusammenhänge behandelt. Tatsächlich findet sich in zahlreichen Publikationen zu Shakespeare als site of meaning ein gewissermaßen implizites Wissen über die Funktionalisierung des elisabethanischen Publikums. Die einzige neuere Abhandlung, die dieses Wissen ausführlich thematisiert, ist - neben dem eingangs bereits erwähnten Anhang in Robert Weimanns Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters - jedoch das bereits mehrfach zitierte Kapitel »The image of Elizabethan drama« in Simon Shepherds und Peter Womacks English Drama: A Cultural History. Die Abhandlung beschränkt sich allerdings größtenteils auf die Funktionalisierung des Publikums im 19. Jahrhundert und die Emergenz des Begriffs groundlings. Im Zusammenhang mit Dowdens Shakspere: A Critical Study of His Mind and Art35 und dessen Entwurf eines poetic age wird festgestellt:

34 35

Prior, The Elizabethan Audience and The Plays of Shakespeare, S. 102f. Edward Dowden: Shakspere. A Critical Study of His Mind and Art [1875]. Third Edition London 1948.

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[...] [I]f Shakespeare is to save us from abstraction and doubt, he must be like us (otherwise we could not identify with him) and at the same time not like us (otherwise we could not believe that he has what we lack). The contradiction is organized in the way we have already encountered: when Shakespeare saves us through our identity with him, he is called Shakspere [sic], but when he saves us through his difference from us, his name is »Elizabethan drama«.36

Das Konzept der historischen Alterität, wie es bislang dargestellt wurde, erfährt hier eine entscheidende Modifikation, die keineswegs nur im Zusammenhang mit Dowden oder dem 19. Jahrhundert von Bedeutung ist. Differenz dient nicht mehr nur zur Etablierung der Außengrenze einer Gruppe, sondern gleichzeitig als Fundus zur Veränderung und Erneuerung einer gegebenen Identität, wenn diese (bewusst oder unbewusst) als modifikationsbedürftig empfunden wird. Hierin zeigt sich zum einen die bereits besprochene Tendenz jeder Kultur, das Andere durch Aneignung zu eliminieren sowie die Bedeutung dieses Vorgangs für historisch-kulturellen Wandel. Zum anderen aber wird das Begriffspaar Identität-Alterität um eine neue Komponente erweitert, die insbesondere in dem Moment relevant wird, wo die Identität einer gegebenen Gruppe selbstreflexiv wird und sich in ihrer eigenen Historizität zu erfassen beginnt. Dieses neue Element ist das der Authentizität, das wiederum in engem Zusammenhang mit der konstitutiven Bedeutung steht, die dem Element der Kontinuität bei der Herausbildung eines Selbstbildes zukommt. Wird dieses Selbstbild nämlich, wie bereits besprochen, über kollektive Symbolfiguren und Mythen herausgebildet, so können innerhalb sich wandelnder Verhältnisse, die neue Identitätsbedürfnisse nach sich ziehen, diese Mythen und Symbole dann beibehalten werden, wenn ihre Umbesetzung so erklärt wird, dass an die Stelle der bisherigen »falschen« Bedeutung nun die »richtige«, authentische tritt. »Authentizität« suggeriert damit die Existenz eines überzeitlichen Kontinuums, in das sich die neue Identität einordnen kann: Die authentische war schon immer die einzig wahre Bedeutung und wurde nur zwischenzeitlich falsch interpretiert. Damit allerdings ergibt sich für die Konstrukte »elisabethanisches Zeitalter« und spezieller »Shakespeares elisabethanisches Publikum« eine neue, ganz andere Rolle: Die Renaissance und ihre »Bewohner« werden zu Garanten für die Richtigkeit der jeweils vertretenen Bedeutung Shakespeares, Identität legitimiert sich also nicht mehr nur vermittels Alterität, sondern auch auf dem Wege der Identifikation. Wenn der eigene Shakespeare so interpretiert wird, wie es auch zu seinen Lebzeiten der Fall war - die Annahme, dass dies eindeutig feststellbar ist, ist eine Grundvoraussetzung dieses Argumentationsgangs - , dann ergibt sich für die eigene Position daraus eine äußerst schlagkräftige Form der Legitimierung, und zwar insbesondere dann, wenn diese auf vermeintlich objektiven historischen Befunden fußt. Die Figur der Authentizität verbindet damit in paradoxer Weise romantische Subjektivität mit historischer Objektivität: Die im romantischen Geniegedanken wurzelnde Vorstellung eines absoluten Autors als letzter Entscheidungsinstanz für die Bedeutung des Werkes wird kombiniert mit dem Anspruch der »objektiven« Geschichtsschreibung, die davon ausgeht, dass sich ein kohärentes Bild der Vergangenheit erfassen lässt, wobei die Betonung auf ein liegt: Die durch die Instanz des Autors abgesicherte eine

36

22

Shepherd / Womack, English Drama, S. 107.

Bedeutung des Werkes wird in der durch die Instanz des Historikers bzw. der wissenschaftlichen Geschichtsforschung abgesicherten einen Vergangenheit auf genau eine Art und Weise (die einzig mögliche) rezipiert. Das Konzept der Authentizität markiert damit eine Abwehrposition gegen die Bedrohung, die der historische Relativismus für die Verabsolutierung von Normen, Werten und anderen identitätskonstituierenden Elementen darstellt. Als das Andere, in Absetzung zu dem sich ein Selbstbild formiert, fungiert in diesem Falle nicht ein Konstrukt der Epoche, der das fragliche embodiment entstammt, sondern die Zeitspanne, die zwischen dem historischen Bezugspunkt und der jeweiligen Gegenwart liegt. Deren Interpretationen des kulturellen Bedeutungsträgers Shakespeare werden als fehlgeleitet konstruiert, so dass sich für die aktuelle Identität zwar keine zeitliche, wohl aber eine ideelle Kontinuität zwischen der Ausgangsepoche - in diesem Falle der Renaissance - und der Gegenwart ergibt. The simple attitude of pietas supposes an absolute identification of the apparatus of transmission with the point of origin, and thus finds no difficulty in trusting the principle of legitimate or apostolic succession. But another attitude is also possible, one that finds the point of origin to be of infinitely greater worth and dignity than any self-ordained administrative apparatus. On this view unthinking loyalty to the authority of a social agency, no matter how venerable, is equivalent to an apostasy, a renunciation of any real faith in tradition, which is understood to be whatever was present at the point of origin. This view of tradition privileges a return to that origin or source, and in practical terms it means both a revival of interest in originating texts and documents themselves (as opposed to established interpretations of those documents) and a radical repudiation of the deadening mass of accumulated interpretation, which is seen as progressively more distant from the source, and increasingly degraded by accumulated historical debris. In addition, the social agency that has claimed the role of preserving tradition is seen in this counter-movement as increasingly venal in promoting the interests of an administrative cadre to the detriment of the primary relationship between the originating source and the faithful subject. 37

Strategische Wichtigkeit kommt dieser gewissermaßen protestantische Deutungsmöglichkeit insbesondere dann zu, wenn eine Kultur nicht mehr als uniform gedacht wird, da Authentizität gerade bei der kulturellen Auseinandersetzung um die verbindliche Bedeutung einer site of meaning wirksam ins Feld geführt werden kann. Dieser Vorgang lässt sich in der Shakespearerezeption vielfach beobachten; religiöse undercurrents, wie sie in der oben zitierten Darstellung Bristols mehr als deutlich werden, sind im übrigen auch in der Shakespearerezeption klar auszumachen, wobei sie in verschiedenen Epochen mehr oder minder stark ausgeprägt sind. Bezüglich des komplexen Zusammenspiels der Konzepte Identität, Alterität und Authentizität spielt Shakespeares elisabethanisches Publikum innerhalb der Rezeptionsgeschichte des Dramatikers eine bedeutende Rolle. Wenn Prior 1951/52 im Hinblick auf die Rolle des Publikums noch konstatierte, »with this small and imperfect hook we shall never catch Leviathan«38, so ist ihm sicherlich insofern rechtzugeben, als das Publikum in der Tat oft gerade dann bemüht wird, wenn alle anderen rhetorischen und analytischen Mittel erschöpft scheinen. Andererseits aber bleibt

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38

Michael D. Bristol: Shakespeare's America, America's Shakespeare. L o n d o n / N e w York 1990, S. 47. Prior, The Elizabethan Audience and the Plays of Shakespeare, S. 123.

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zu bedenken, dass die elisabethanischen Theaterbesucher bei der Konstitution des kulturellen Bedeutungskomplexes Shakespeare ein besonders wirksames Element darstellen. Die hier vorliegende Untersuchung versteht sich entsprechend auch nicht als eine Geschichte der Sackgassen und Irrwege der Shakespearekritik, sondern als eine Studie über Konstituierung und Wandel kultureller Bedeutung am Beispiel Shakespeares. In diesen Wandel ist sie allerdings selbst elementar impliziert: Dass sich der »hook« elisabethanisches Publikum als weder so »small« noch so »imperfect« erweist, wie dies Mitte des 20. Jahrhunderts noch für Prior der Fall war, verweist darauf, dass der »Leviathan« Shakespeare seitdem auf eine Art und Weise neu entworfen worden ist, die eine Fragestellung wie die vorliegende überhaupt erst möglich gemacht hat.

2.3 Zur diachronen Dimension der Untersuchung Die Konzepte Identität, Alterität und Authentizität wurden bislang hauptsächlich in Zusammenhang mit einer bereits erfolgten Kanonisierung Shakespeares angeführt. Es bleibt jedoch zu beachten, dass dieser Vorgang sich über mehrere Jahrhunderte hinweg erstreckt hat, und dass das Shakespearebild, wie bereits mehrfach ausgeführt, historischem Wandel unterlag und unterliegt. Dieser Wandel ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass der kanonische Status des »Barden« über die Jahrhunderte hinweg aufrechterhalten werden kann. Zur Zeit der ersten großen Shakespeare-Editionen des 18. Jahrhunderts sind die Ausgangsbedingungen völlig andere als etwa Ende des 20. Jahrhunderts: Während Pope und seine unmittelbaren Nachfolger noch nicht von einer gesicherten Position Shakespeares innerhalb einer wie auch immer gearteten kulturell-literarischen Hierarchie ausgehen konnten, sondern selbst maßgeblich dazu beitrugen, dass diese Position entstand, ist sie ausgangs des 20. Jahrhunderts so gefestigt, dass sie selbst zum Gegenstand kritischer Reflexion werden kann (wie sich nicht zuletzt auch an dieser Arbeit zeigt). Wenn in jedem Stadium der Rezeptionsgeschichte Shakespeares der Verweis auf das Publikum als argumentativer Topos angeführt wird, so geschieht dies also innerhalb sehr unterschiedlicher Bedingungsgefüge. Dies gilt vor allem hinsichtlich der Selbstsituierung eines gegebenen Textes: Ist der Impetus vor der voll erfolgten Ikonifizierung eher ein offen konstruktiver, d.h. um die Schaffung eines gewissen Prestiges erst noch bemühter, der starken Begründungszwängen unterliegt, so ist in der Folgezeit eher davon auszugehen, dass perpetuierende Tendenzen die Oberhand gewinnen, dass also ein bereits erreichter Status gegenüber ihn vermeintlich infragestellenden Elementen (des Werkes selbst, wohlgemerkt) gerechtfertigt werden muss. Dies mag auf den ersten Blick »weniger konstruktiv« erscheinen, im Grunde handelt es sich jedoch um einen analogen Vorgang, nur dass er sich anderer rhetorischer Strategien bedient. Allerdings wird das Konzept der historischen Alterität - wie auch das der Authentizität - wesentlich virulenter als zu einem Zeitpunkt, zu dem Shakespeare noch nicht den Status einer Identifikations- und Integrationsfigur erreicht hatte, kann es doch dazu verwendet werden, eventuelle Erschütterungen des herrschenden kulturellen Wertgefüges, das im Konzept Shakespeare seinen paradigmatischen Ausdruck findet, abzuwenden. Bevor William Shakespeare zu SHAKESPEARE wird und die 24

aktuellen kulturellen Leitlinien gewissermaßen bündelt, ist die Gefahr einer Erschütterung des gesamtkulturellen Gefüges nicht gegeben, der Konformitätsdruck und damit der Drang zur Alterität als Erklärungsschema sind wesentlich geringer. Auch mit dem Konzept der Authentizität lässt sich nur dann argumentieren, wenn bereits ein Status erreicht ist, der im Rückgriff auf das Authentische verteidigt oder auch angegriffen werden kann. Authentizität als rhetorische Figur ist zur Etablierung kulturellen Prestiges zunächst ungeeignet; Symbole und Mythen, die als embodiments kultureller Identität fungieren, müssen sich aufgrund anderer Eigenschaften als solche konstituieren, bevor Authentizität als Argument in der Auseinandersetzung um ihre jeweils aktuelle Bedeutung ins Feld geführt werden kann. Beachtet werden müssen außerdem die Konsequenzen, die die Institutionalisierung des Universitätsfaches Englisch für den Shakespearediskurs nach sich zieht. Mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit verändern sich die rhetorischen Strategien, mit denen Shakespeare als Ort kultureller Bedeutung verhandelt wird. Über weite Zeiträume ihrer Geschichte hat sich auch die Literaturwissenschaft als »objektiv« verstanden - vom Standpunkt diese Arbeit aus zu Unrecht - , so dass davon auszugehen ist, dass die Konstruktion Shakespeares als Ort kultureller Bedeutung zum Teil in wesentlich subtilerer und versteckterer Art und Weise geschieht, als dies vor der Implementierung der Kategorie des Wissenschaftlichkeit der Fall war. Bei der vorliegenden Untersuchung muss also im Blick behalten werden, inwieweit Shakespeare bereits Bündelungspunkt literarisch-kultureller Wertvorstellungen ist, inwieweit er zu einem solchen Bündelungspunkt gemacht werden soll, und nicht zuletzt - wenn man sich von einem einheitlichen Kulturbegriff verabschiedet hat inwiefern er zur Durchsetzung bestimmter Ansprüche in einer Wertekonkurrenz instrumentalisiert werden soll. Letzterer Gesichtspunkt ist insbesondere nach erfolgter Kanonisierung Shakespeares relevant, da in diesem Moment Konstruktionen historischer Alterität nicht mehr nur zum Erreichen bzw. zur Perpetuierung des derzeitigen Status funktionalisiert werden können. Hat sich dieses Prestige nämlich einmal verselbständigt, kann es seinerseits benutzt werden, um weniger prestigereiche Gruppen, Meinungen etc. aufzuwerten. Hier kommt nun das Konzept der historischen Authentizität zum Tragen: Der »echte« Shakespeare wird der dominanten Kultur streitig gemacht und der unterdrückten oder sich unterdrückt fühlenden zugesprochen, die sich dadurch, dass sie Shakespeare für sich beansprucht, als die eigentlich »richtige« darstellt. Aus den voranstehenden Überlegungen ergibt sich für das methodische Vorgehen der Arbeit, dass zunächst jeweils die konkreten historischen Formen der Fiktion »Shakespeares Publikum« und ihre Modifikationen im Verlauf der Shakespearerezeption aus den verfügbaren Quellen zu ermitteln sind, bevor sie auf ihre Funktionen befragt werden können. Diese Trennung ist jedoch wohl nur theoretisch sauber durchzuführen - für die Strukturierung der Arbeit erscheint eine synchrone Betrachtung von Formen und Funktionen des Konstrukts »Publikum« in einer bestimmten Epoche sinnvoller. Eine derartige Problemgeschichte kann sich allerdings den Schwierigkeiten nicht entziehen, mit denen sich heute jede Form der Geschichtsschreibung konfrontiert sieht: Für die Geschichte in ihrer klassischen Form war das Diskontinuierliche gleichzeitig das Gegebene und das Undenkbare: das, was sich in der Art der verstreuten Ereignisse

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(Entscheidungen, Zufälle, Initiativen, Entdeckungen) bot; und was durch die Analyse umgangen, reduziert und ausgelöscht werden musste, damit die Kontinuität der Ereignisse erscheinen konnte. Die Diskontinuität war jenes Stigma der zeitlichen Verzettelung, die der Historiker aus der Geschichte verbannen musste. Sie ist jetzt eines der grundlegenden Elemente der Analyse geworden. [...] Einer der wesentlichsten Züge der neuen Geschichte ist ohne Zweifel [die] Deplazierung des Diskontinuierlichen: sein Übergang vom Hindernis zur Vertrautheit; seine Integration in den Diskurs des Historikers dort, wo er nicht mehr die Rolle einer äußerlichen Fatalität spielt, die man verringern muss, sondern die eines operationellen Begriffs, den man benutzt; und daher rührt die Umkehrung der Zeichen, dank derer er nicht mehr das Negativ der historischen Lektüre (ihre Kehrseite, ihr Scheitern, die Grenze ihrer Macht) ist, sondern das positive Element, das ihren Gegenstand determiniert und ihre Analyse gewichtet. 39

Dem Postulat der Entthronung der Kontinuität in der Geschichtsschreibung durch die Diskontinuität versucht beispielsweise der New Historicism insofern Rechnung zu tragen, als er Diachronie nur in Form der Hintereinanderschaltung synchroner Analysen zulässt. Die hinter dieser Vorgehensweise stehende Auffassung von der Geschichte als einer Reihe isolierter kultureller Momente hat allerdings ihre ganz eigene Problematik, und zwar insbesondere für den hier gewählten Untersuchungsgegenstand. Eine nationale Identifikationsfigur wie Shakespeare wird zwar immer wieder neu besetzt, ist aber gleichzeitig außerhalb einer Tradition nicht denkbar. Es ist keineswegs so, dass jede Generation die Größe Shakespeares immer wieder aufs Neue entdeckt; vielmehr wird seine herausragende Position vielfach akzeptiert, ohne dass die Grundlage dieser besonderen Stellung - das dramatische Werk - überhaupt bekannt wäre. Gewiss kann dieser Sachverhalt nicht auf die gesamte Rezeptionsgeschichte Shakespeares übertragen werden - der aktuelle Stand ist das Ergebnis eines über Jahrhunderte andauernden Prozesses. Deshalb darf das Element der Tradition zu keinem Zeitpunkt der Shakespearerezeption vernachlässigt werden. Vielmehr ist es für die Etablierung und Perpetuierung des kulturellen Prestiges des Dramatikers schon sehr früh konstitutiv. Eine isolierte Betrachtung des jeweiligen kulturellen Moments der Shakespearerezeption in seinem Zusammenhang mit der Konzeption des elisabethanischen Publikums stellt deshalb für die hier vorliegende Arbeit keine befriedigende Lösung dar. Zusätzlich ist zu beachten, dass die Zerschlagung der grand narrative der kontinuierlichen (Kultur-) Geschichte in vermeintlich isolierte kulturelle Momente im Grunde mehr rhetorischer Gestus denn echte Änderung der Methode ist. Die Grenzziehung zwischen diesen einzelnen Momenten erweist sich nämlich als mindestens ebenso konstruiert wie die Projektion einer Kontinuität: Wenn für die Etablierung eines kulturellen Moments das Kriterium der Gleichzeitigkeit entscheidend ist, so bleibt offen, wie genau denn nun Gleichzeitigkeit zu definieren ist. Die nach den Prämissen des New Historicism aufgebaute New History of French Literature der Harvard University Press 40 ist beispielsweise nach einzelnen Jahreszahlen gegliedert, konstituiert somit also ein Kalenderjahr als Maß der Gleichzeitigkeit. Die Willkür und damit die Anfechtbarkeit dieses Vorgehens liegen auf der Hand.

39 40

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Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt / Main 1973, S. 17f. Denis Hollier (Hg.): A New History of French Literature. Cambridge (Mass.) / London 1989

Gleichzeitigkeit wie Kontinuität sind Kriterien des menschlichen Zeitverstehens, die von der Außenperspektive des Nachgeborenen auf die Vergangenheit angewendet werden und diese dadurch als »Geschichte« konstituieren. Die Betrachtung isolierter kultureller Momente ersetzt damit nur die eine Konstruktion durch die andere (was nicht verwerflich, sondern unumgänglich ist). Die Unvermeidlichkeit des Konstruktcharakters jeglicher historischer Betrachtung soll hier nicht als Rechtfertigung dazu verwendet werden, einfach in traditioneller Weise vorzugehen. Ebenso wenig sollte aber übersehen werden, dass der rhetorische Anspruch der neuen Ansätze oftmals größer ist als das, was sie tatsächlich einzulösen vermögen, und dies nicht aufgrund des Unvermögens derer, die sie praktizieren, sondern aufgrund der inhärenten Beschränktheit menschlichen Erkenntnisvermögens. »Knowledge creates its own object« ist eine Aussage, die insbesondere für die historischen Wissenschaften gravierende Konsequenzen hat: Je mehr die Geschichte über ihre eigene historische Verwurzelung hinauszukommen versucht, desto mehr Anstrengungen unternimmt sie, um jenseits der historischen Relativität ihres Ursprungs und ihrer Optionen die Sphäre der Universalität zu erreichen; desto klarer trägt sie die Stigmata ihrer historischen Entstehung, desto deutlicher erscheint durch sie hindurch die Geschichte, zu der sie selbst gehört [...]. Je besser sie umgekehrt ihre Relativität akzeptiert, desto mehr dringt sie in die Bewegung ein, die ihr mit dem gemeinsam ist, was sie erzählt, desto mehr neigt sie zur Dünne der Erzählung und löst sich der ganze positive Inhalt auf, den sie sich durch die Humanwissenschaften gab. Die Geschichte bildet also für die Aufnahme der Humanwissenschaften ein gleichzeitig privilegiertes und gefährliches Gebiet.4' Als pragmatische Konsequenz aus dieser Einsicht ergibt sich für die hier vorliegende Studie, dass zunächst innerhalb konventioneller Parameter gearbeitet wird, und zwar insofern, als die Konzepte der Gleichzeitigkeit und Kontinuität zwar als grundsätzlich hinterfragbar erkannt, trotzdem aber aus pragmatischen Gründen in ihrer Eigenschaft als Konstruktionen weiterverwendet werden. Dies findet seinen Niederschlag vor allem in der Beibehaltung konventioneller Epochenbegriffe für die Strukturierung der Arbeit, die zwar aufgrund der ihnen zugrundeliegenden Annahme einer »geistigen Gleichzeitigkeit« - und auch aufgrund ihrer Konstruktion von Diskontinuität - innerhalb der Literaturwissenschaft schon längst problematisiert, aber wegen ihres praktischen Nutzens nie wirklich obsolet geworden sind. W o es die Materie erfordert, werden die tradierten Begriffe allerdings feiner untergliedert bzw. ganz aufgegeben. Gegenstand der Untersuchung ist zunächst die Shakespearekritik von ihren Anfängen bis heute. Shakespearekritik ist dabei im Sinne des englischen criticism zu verstehen, d.h. untersucht werden Texte sowohl aus einem akademischen als auch aus einem nichtakademischen Umfeld (Literaten, Theaterschaffende etc.). Aus pragmatischen Gründen beschränkt sich das Korpus auf Texte aus dem englischen Sprachraum; ursprünglich in anderen Sprachen erschienene Studien sollen nur dann berücksichtigt werden, wenn sie auch innerhalb des anglo-amerikanischen Shakespearediskurses breit rezipiert worden sind. Der Schwerpunkt der Studie liegt auf

Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt / Main 1971, S. 444. 27

Großbritannien; amerikanische Sonderentwicklungen im 19. Jahrhundert werden in einem gesonderten Exkurs behandelt. Ab der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert wird die Diskussion um Shakespeares elisabethanisches Publikum in England und den USA als weitgehend einheitliches Diskursfeld behandelt. Trotz der Untergliederung in synchrone Darstellungen einzelner Zeitabschnitte soll versucht werden, Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Verwendung des Publikums als Topos aufzuzeigen, d. h. ein Bild dieses Diskurses nicht nur in der Zeit, sondern auch über die Zeit hinweg aufzuzeigen. Dass diese Kontinuitäten dabei in letzter Konsequenz nicht »aufgezeigt«, sondern erst geschaffen werden, ist eine Tatsache, deren Leugnung enorme Naivität erfordern würde.

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3.

Das elisabethanische Publikum in der englischen Shakespearerezeption des 17. und 18. Jahrhunderts

3.1 Selbstbild und Fremdbild Entscheidend für die Auseinandersetzung mit Shakespeare und seinem elisabethanischen Publikum, wie sie in England ab dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts stattfindet, ist ein ausgeprägtes Gefühl der Dissoziation von einer wenig mehr als fünfzig Jahre zurückliegenden Vergangenheit. Die Epoche Shakespeares erscheint den Zeitgenossen einer gänzlich anderen Zeitrechnung anzugehören, die kaum Kontinuitäten zur Gegenwart aufweist. Der Sturz der alten Monarchie, der Bürgerkrieg und die Restauration werden nicht nur auf unmittelbar politischem, sondern auch auf kulturellem Gebiet als epochaler Einschnitt empfunden. Für die Konstituierung einer neuen nationalen Identität dient das England der Renaissance als Kontrastfolie - innerhalb einer progressiven Geschichtsauffassung hat die Vorstellung eines »Fortschritts« der eigenen Gegenwart gegenüber einer unaufgeklärten und unkultivierten Vergangenheit axiomatischen Charakter. Der Einfluss kontinentaleuropäischer Kultur wird als das entscheidende Moment des neuen englischen refinement ausgemacht, wobei Frankreich unter den Nationen Europas die kulturell führende Rolle zukommt. Eine progressive Entwicklung der Geschichte, die die Überlegenheit des eigenen Zeitalters über das vorangegangene sowie noch viel grundlegender die klare Geschiedenheit der beiden Epochen - postuliert, wird vielfach exogen begründet, d.h. nicht mit Rekurs auf innerenglische Entwicklungen, sondern auf Anstöße von außen. Hier kollidiert die Vorstellung vom refinement als einem konstitutiven Element des neuen Selbstverständnisses mit nationalistischen Argumentationsstrukturen, die für die Ausbildung der neuen Identität ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen: Da die Rhetorik des Nationalismus immer auch historisch argumentiert, muss eine patriotische Überhöhung des eigenen Landes von einer gewissen Kontinuität ausgehen und gerät in Schwierigkeiten, wenn sie die Überlegenheit der einen Epoche über die andere - d.h. des gegenwärtigen Zustande der Nation über einen vergangenen - durch äußere Einflüsse erklärt. Im Spannungsverhältnis zwischen einem postulierten Neuanfang einerseits und einer auf Kontinuität beruhenden nationalen Identität andererseits steht Shakespeare aufgrund der fortdauernden Präsenz seiner Dramen auf der Bühne und ihrer ungebrochenen Beliebtheit beim Publikum zunächst auf Seiten der Kontinuität. Wie nicht nur das Beispiel der frühen Editionen, sondern auch der zahlreichen ShakespeareAdaptationen deutlich macht, beruht Shakespeares kontinuierliche Anwesenheit im kulturellen Gesamtgefüge allerdings auf zum Teil massiven Eingriffen in den überlieferten Text. Ab der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert erstrecken sich diese Versuche der Angleichung an aktuelle Werte und (Geschmacks-) Normen nicht

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mehr nur auf die Dramen - auch der Autor selbst wird nun als kultureller Bedeutungsträger neu definiert: Once Shakespeare has been abstracted (or even rescued) from his texts by the likes of Pope and Dennis and personified as a true author in Rowe's biography [...], the adaptation and appropriation of Shakespeare's plays begins to decline in importance compared to the adaptation and appropriation of Shakespeare himself. Changing Shakespeare's words becomes only one among many ways of establishing what their author means, of promoting his authority, and of claiming him as an ally: from the 1730s onwards, the political and cultural arguments enacted in the adaptations of the preceding fifty years [...] overflow into other media, as Shakespeare the Author, just as much as his ceuvre, becomes the centre of a struggle to speak for the core of the national culture.1 Für eine Definition des »Herzstücks« der englischen Nationalkultur ist der Begriff des Fortschritts, nicht zuletzt aufgrund des Bedürfnisses nach einer klaren Abgrenzung von der Zeit des Bürgerkrieges, von entscheidender Bedeutung. Auf kulturellem Gebiet äußert sich dieser nach Ansicht der Zeitgenossen primär in refinement of taste: »[...] [J]ust as a person's taste revealed their degree of refinement, so the state of the arts showed how civilized a nation had become.« 2 In der Literatur bedeutet zivilisatorischer Fortschritt für viele vor allem eine vermehrte Rezeption der aus Frankreich importierten neoklassizistischen Regelpoetik: Die Erfüllung der neuen (bzw. wiederentdeckten) Vorgaben bezüglich Inhalt und vor allem Form des literarischen Kunstwerks gilt als Zeichen von Kultiviertheit, sie markiert die Hochwertigkeit des literarischen Textes und den Bildungsstand seines Autors. Die Regelpoetik wurde in England nie völlig verbindlich; dennoch galt sie als literarische Manifestation des neuen refinement - wenn auch nicht als die einzige. In der Shakespearerezeption des 18. Jahrhunderts ist dieser Umstand insofern entscheidend, als die Dramen des »Barden« den neuen Vorstellungen von Kultiviertheit nicht immer entsprachen, gleichzeitig aber im Verlauf der Epoche zusammen mit ihrem Autor zum Symbol einer nationalen Identität erhoben wurden, die sich nicht zuletzt über dieses refinement definierte. Im Versuch, diesen Widerspruch auszugleichen, liegen die Wurzeln der Diskussion um Shakespeares elisabethanisches Publikum. Entscheidend für die Rolle, die die Shakespearekritik den frühneuzeitlichen Theaterbesuchern im Spannungsfeld zwischen Neoklassizismus und nationaler Besetzung Shakespeares zuweist, ist zunächst der Umstand, dass es sich bei den englischen Theatern der Renaissance um öffentliche Einrichtungen handelte, die nach marktwirtschaftlichen Prinzipien organisiert waren, dass das Shakespearesche Drama also eine literarische »Ware« darstellte, die jedem zugänglich war, der den geringen - Eintrittspreis aufbringen konnte. Dieser Sachverhalt ist integraler Bestandteil der sogenannten historischen Apologie Shakespeares, d.h. der Entschuldigung seiner »schwachen« Passagen mit Hinweis auf seine geschichtliche Situation. So formuliert beispielsweise Pope im Vorwort zu seiner Shakespeare-Ausgabe:

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Michael Dobson: The Making of the National Poet. Shakespeare, Adaptation and Authorship, 1660-1769. Oxford 1992, S. 134. John Brewer: The Pleasures of the Imagination. English Culture in the Eighteenth Century. London 1997, S. XIX.

It must be allowed that Stage-Poetry of all other is more particularly levell'd to please the Populace, and its success more immediately depending upon the Common Suffrage. One cannot therefore wonder, if Shakespear, having at his first appearance no other aim in his writings than to procure a subsistence, directed his endeavours solely to hit the taste and humour that then prevailed. 3

Anstatt an einem idealen, überzeitlichen Publikum, in dem der Neoklassizismus den eigentlichen Adressaten jeder ernstzunehmenden Kunst sieht, orientiert sich Shakespeare an den Anforderungen seiner eigenen Zeitgenossen: Aufgrund materieller Zwänge muss sich der Dramatiker nach der common suffrage richten. Diese »Volksherrschaft« über die dramatische Produktion beurteilt Pope grundlegend negativ, und zwar, wie neben common suffrage auch der Begriff populace andeutet, nicht zuletzt deshalb, weil er von einer ganz bestimmten sozialen Zusammensetzung des Publikums ausgeht: The Audience was generally composed of the meaner sort of people; and therefore the Images of Life were to be drawn from those of their own rank: accordingly we find that not our Author's only but almost all the old Comedies have their Scene among Tradesmen and Mechanicks: And even their Historical Plays strictly follow the common Old Stories or Vulgar Traditions of that kind of people. 4

Die historische Apologie Shakespeares ist bei Pope also gleichzeitig eine soziologische; verantwortlich für die Makel im Shakespeareschen CEuvre ist nicht nur ganz allgemein ein unkultiviertes, semi-barbarisches Zeitalter, sondern sehr viel spezieller ganz bestimmte gesellschaftliche Schichten. Dennoch nimmt Pope keine totale Determination Shakespeares durch sein Publikum an. Das Genie des »Barden« bricht fast unwillkürlich immer wieder durch das Dickicht der zeitgenössischen Vorstellungen von gutem Drama: Diesen Umstand beschreibt Pope mit Hilfe eines bezeichnenden Vergleichs: In Tragedy, nothing was so sure to Surprize and cause Admiration, as the most strange, unexpected, and consequently most unnatural, Events and Incidents; the most exaggerated Thoughts; the most verbose and bombast Expression; the most pompous Rhymes, and thundering Versification. In Comedy, nothing was so sure to please, as mean buffoonery, vile ribaldry, and unmannerly jests of fools and clowns. Yet even in these our Author's Wit buoys up, and is bom above his subject: his Genius in those low parts is like some Prince of a Romance in disguise of a Shepherd or Peasant; a certain Greatness and Spirit now and then break out, which manifest his higher extraction and qualities. 5

Shakespeares »geistiger Adel« (der Begriff »prince« verweist erneut auf eine Dissoziation des »wahren«, »besseren« Shakespeares von den unteren Schichten) scheut sich also nicht, sich in die Verkleidung übernatürlicher Ereignisse, überfrachteter Sprache und derber Komik zu begeben. Dass das Genie des Dramatikers in diesen Passagen zwar durchblitzt, sich aber gegen die Überwucherung durch frühneuzeitliche Geschmacksverirrungen nicht vollständig durchsetzen kann, ist für Pope auch

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Alexander Pope: The Preface of the Editor to the Works of Shakespear [1725]. In: Ders.: The Prose Works of Alexander Pope. Edited by Rosemary Cowler. Vol. Π: The Major Works, 1725-1744. Oxford 1986, S. 1-^10. Hier: S. 15. Pope, Preface, S. 15. Pope, Preface, S. 15.

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darauf zurückzuführen, dass die gesellschaftlichen Eliten der Renaissance sich in ihrem Mangel an Kultiviertheit und Bildung kaum von den breiten Massen unterscheiden und hinsichtlich der Künste so keine Vorbilds- oder Führungsfunktion übernehmen können : [...] [N]ot only the common Audience had no notion of the rules of writing, but few even of the better sort piqu'd themselves upon any great degree of knowledge or nicety that way, till Ben Johnson [sic] getting possession of the stage brought critical learning into vogue. [...] Till then, our Authors had no thoughts of writing on the model of the Ancients [...]. To judge therefore of Shakespear by Aristotle's rules, is like trying a man by the laws of one Country, who acted under those of another. He writ to the People; and writ at first without patronage from the better sort, and therefore without aims of pleasing them: without assistance or advice from the learned, as without the advantage of education or acquaintance among them: without that knowledge of the best models, the Ancients, to inspire him with an emulation of them; in a word without any views of Reputation, and of what Poets are pleas'd to call Immortality. 6

Dass »writing to the people« nur negative Auswirkungen auf Form und Inhalt der Stücke haben kann, steht für Pope axiomatisch fest; eine Verbesserung der Dramen sieht er entsprechend ab dem Zeitpunkt gegeben, zu dem sie unter die Protektion des Hofes fallen: »The Dates of his plays sufficiently evidence that his productions improved, in proportion to the respect he had for his auditors.« 7 Literarische Qualität ist hier sowohl Ergebnis als auch Instrument sozialer Binnendifferenzierung. Während der elisabethanische Pöbel übernatürliche Ereignisse, Sprachspielereien und groben Humor verlangt, sind diejenigen Elemente der Dramen, die eher den Geschmacksnormen des Augustan age entsprechen, laut Pope auf den Einfluss der frühneuzeitlichen Eliten zurückzuführen. Mit der Zuweisung des »besseren« Shakespeares an die soziale Elite enthebt Pope den Dramatiker der gefährlich egalitären Grundsituation des elisabethanischen Theaters. Die Dissoziation von der Bühne wird dadurch befestigt, dass Pope nicht nur zwischen Shakespeare als »Dichter« und Shakespeare als Theaterschaffendem unterscheidet, sondern darüber hinaus einen fast unauflöslichen Gegensatz zwischen diesen beiden Inkarnationen des »Barden« konstruiert: Another Cause [for Shakespeare's faults] [...] may be deduced from our Author's being a Player, and forming himself first upon the judgments of that body of men whereof he was a member. They have ever had a Standard to themselves, upon other principles than those of Aristotle. As they live by the Majority, they know no rule but of pleasing the present humour, and complying with the wit in fashion; a consideration which brings all their judgment to a short point. Players are just such judges of what is right, as Taylors are of what is graceful. And in this view it will be but fair to allow, that most of our Author's faults are less to be ascribed to his wrong judgment as a Poet, than to his right judgment as a player. 8

Wiederum zeigt sich hier die Gleichsetzung des »schlechten«, »anderen« Shakespeares mit der Welt des durch die Gesetze des Marktes regulierten Theaters: Dieser Shakespeare ist kein Dichter, sondern ein Schauspieler - ein Entertainer. Popes negative Einschätzung der Auswirkungen marktwirtschaftlicher Bedingungen auf

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Pope, Preface, S. 15f. Pope, Preface, S. 61. Pope, Preface, S. 16.

die Qualität des literarischen Erzeugnisses gilt dabei keineswegs nur für die Renaissance, sondern ähnlich auch für den Theaterbetrieb seiner eigenen Gegenwart: Smithfield is the place where Bartholomew Fair was kept, whose Shews, Machines, and Dramatical Entertainments, formerly agreeable only to the Taste of the Rabble, were, by the Hero of this Poem and others of equal Genius, brought to the Theatres of Covent Garden, Lincolns-inn-Fields, and the Hay-Market, to be the reigning Pleasures of the Court and Town. This happened in the Year 1725, and continued to the Year 1728.9

Genauso wie die in den elisabethanischen Theatern versammelten unteren Bevölkerungsschichten für Shakespeares Normverstöße verantwortlich gemacht werden, ist für Pope auch der desolate Zustand der Bühne seiner eigenen Gegenwart darauf zurückzuführen, dass dort dem Geschmack des niedrigen Volkes (»the taste of the rabble«) entsprochen wird. Der verderbliche Einfluss dieser sozialen Schichten wird als historisch konstantes Phänomen dargestellt. Popes Konstruktion eines Shakespeares, dessen faults auf den Einfluss der »Tradesmen and Mechanicks« unter den Zuschauern zurückzuführen sind, schließt diese - ebenso wie den »rabble« des 18. Jahrhunderts - nachdrücklich von der Teilhabe am Shakespeare der beauties aus.

3.2 Shakespeares elisabethanisches Publikum im Zusammenhang mit dem faults-and-beauties-Ansatz der Kritik des 18. Jahrhunderts Die Unterscheidung zwischen faults und beauties, also zwischen Passagen von außerordentlicher literarischer Qualität einerseits und Shakespeares »Fehlern und Mängeln« andererseits, spielt in der ersten Phase der englischen Shakespearerezeption eine entscheidende Rolle. So formuliert etwa Dryden: Shakespear, who many times has written better than any Poet, in any Language, is yet so far from writing Wit always, or expressing that Wit according to the Dignity of its Subject, that he writes, in many places, below the dullest writer of ours, or any precedent Age. Never did any Author precipitate himself from such height of thought to so low expressions, as he often does. He is the very Janus of poets; he wears almost everywhere two faces; and you have scarce begun to admire the one, e're you despise the other. 10

In der Unterscheidung zwischen Passagen von herausragender literarischer Qualität einerseits und »Schwachstellen« im Werk andererseits zeigt sich der Einfluss des Neoklassizismus mit am deutlichsten: Der Katalog der Kritikpunkte an Shakespeares Werk umfasst die Vernachlässigung der Einheit von Ort, Zeit und Handlung, die Unkenntnis klassischer Autoren, sowie die Verletzung des decorum durch sprachliche Spielereien und Aufweichung der Gattungsgrenzen. Im Zuge der aufklärerischen Orientierung an der Vernunft gerät auch der »Aberglaube« der Vergangenheit unter Beschuss, im Falle Shakespeares heißt das: übernatürliche Kreaturen (ζ. B. die Hexen in Macbeth) und Ereignisse (wie etwa Hermiones »Versteinerung«

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Alexander Pope: The Dunciad. Edited by James Sutherland. London 1943, S. 60 (Book I, Note 2). Dryden, Defence of the Epilogue, S. 212.

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in A Winter's Tale). Wie viele andere Kommentatoren interpretiert Seward in seinem Vorwort zu einer Ausgabe der Werke Beaumonts und Fletchers von 1750 Shakespeares »Mängel« insgesamt, insbesondere aber seine Verhaftetheit in altem »Aberglauben«, als Konzession an den »schlechten Geschmack« seiner Zeit: [...] [T]he Faults that so much disgrace Shakespeare, [...] he committed to please the corrupt Taste of the Age he liv'd in, but to which Beaumont and Fletcher's Learning and Fortune made them superior. [...] The Taste of [the] Age call'd aloud for the assistance of Ghosts and Sorcery to heighten the Horror of Tragedy; this Horror [Beaumont and Fletcher] had never felt, never heard of but with Contempt, and consequently they had no Arche-types in their own Breasts of what they were called to describe. Whereas Shakespeare from his low Education had believ'd and felt all the Horrors he painted; for tho' the Universities and Inns of Court were in some degree freed from these Dreams of Superstition, the banks of the Avon were then haunted on every Side." Während Beaumont und Fletcher in den Genuss einer Erziehung zur Vernunft gekommen sind, teilt Shakespeare die Mentalität der unaufgeklärten Massen. Wenn seine »Verfehlungen« dem Geschmack seines Zeitalters zugeschrieben werden, das wird aus Sewards Ausführungen deutlich, so ist damit auch hier nicht die Renaissance im Allgemeinen gemeint, sondern ein spezifischer Teil der damaligen Bevölkerung, nämlich diejenigen, die nicht über das Privileg einer (aufklärerischen) Erziehung verfügten. Als Angehörigen der (Bildungs-) Elite gelingt es Beaumont und Fletcher, ihre eigene historische Situation zu transzendieren und so zu Trägem des gesellschaftlichen Fortschritts zu werden. Die Rückständigkeit, die Shakespeares Werk hinsichtlich des Rekurses auf das Übernatürliche erkennen lässt, wird also ähnlich wie auch bei Pope - nicht nur historisch, sondern auch soziologisch erklärt. Weit häufiger als solche gewissermaßen inhaltlichen Schwächen werden Shakespeares formale und stilistische »Mängel« kritisiert. Ausgesprochen verbreitet sind Einwände gegen sprachlichen Überschwang, wie er sich zum Beispiel in Reimen am (vermeintlich) falschen Ort äußert. So schreibt etwa Capell 1783 über Measure for Measure, III, ii, 26Iff.: Speeches, and parts of speeches, in rime (some in measures properly lyrical, like the sententious one here) are found in all parts of Shakespeare; and should be looked upon as the time's vices, sacrifices of judgment to profit, but not always unwilling ones; for such speeches are not of ill effect in all places, of which the present is an instance. But his lovers have cause to wish, notwithstanding, that he had less consider'd his audiences and comply'd less with their taste; for it happens but too often that constraints of rime or of measure operate badly on his expression, causing breaches of grammar, strange and scarce allowable ellipsis's, and usage of terms improper.12 Das elisabethanische Publikum verkörpert zunächst ganz allgemein den negativen Einfluss seines Zeitalters auf Shakespeare: »The time's vices« und »[the audience's] taste« sind deckungsgleich. Spezieller noch wird die Tatsache, dass es sich bei den

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Seward, Thomas: Preface to the Works of Mr Francis Beaumont, and Mr John Fletcher [1750]. Zitiert nach Brian Vickers: Shakespeare. The Critical Heritage. Vol. 3: 1733-1752. London / Boston 1975, S. 383-390. Hier: S. 386f. Edward Capell: Notes and Various Readings to Shakespeare [1783]. Zitiert nach Brian Vickers: Shakespeare. The Critical Heritage. Vol. 6: 1774-1801. London / Boston 1981, S. 218-272. Hier: S. 234.

öffentlichen Theatern der Renaissance um gewinnorientierte Unternehmen handelt, als notwendige Voraussetzung dafür präsentiert, dass die Anforderungen der Zuschauer solchen Einfluss auf das Shakespearesche Werk nehmen können. Mit Hilfe der frühneuzeitlichen Theaterbesucher wird Shakespeare hier wie andernorts nicht nur unter Verweis auf die historische, sondern vor allem auch auf die kommerzielle Gebundenheit seines Schaffens von der Verantwortlichkeit für seine »Mängel« entbunden. Erheblichen Anstoß nimmt die Kritik des 18. Jahrhunderts auch an Shakespeares Wortspielen. »A quibble, poor and barren as it is, gave him such delight, that he was content to purchase it by the sacrifice of reason, propriety, and truth. A quibble was to him the fatal Cleopatra for which he lost the world, and was content to lose it«13, seufzt Johnson 1765. Auch diese Vorliebe wird immer wieder auf den Geschmack des elisabethanischen Publikums zurückgeführt. So konstatiert Theobald: »[Figures and Flowers of Rhetorick] are Strokes of low Humour, thrown in purposely, ad captandum populum', or, to use the Poet's own Phrase, to set on some Quantity of barren Spectators to laugh α/.«14 Ähnlich findet sich dieser Argumentationsgang bereits bei Dryden (1672)15, aber auch bei Gould (1685)16, Echard (1694)17, Rowe (1709)18, Stubbes (1736)19 und Grey (1754)20. Was Theobald angeht, fällt ins Auge, dass die »Sündenböcke« für Shakespeares Verfehlungen sozial definit beschrieben sind: Mit dem »Volk« (populus), auf das Theobald verweist, ist kaum die Gesamtheit der Bevölkerung gemeint, sondern das »niedere Volk«, das in der Vorstellung der überwiegenden Mehrheit der Kritiker des 18. Jahrhunderts das Gros der frühneuzeitlichen Theaterbesucher stellte. Auf der anderen Seite wird auch ein Zusammenhang zwischen der Person James I. und Shakespeares Sprachspielereien gesehen - der Einfluss des Monarchen

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Johnson, Preface, S. 74. Lewis Theobald: Shakespeare Restored: or, a Specimen of the many Errors, As well Committed, as Unamended, by Mr. Pope in his Late Edition of this Poet. Designed not only to correct the said Edition, but to restore True Reading of Shakespeare in all the Editions ever yet publish'd. London 1726 / Repr. London 1971, S. 64. Dryden, Defence of the Epilogue, S. 205f. Robert Gould: The Play-House. A Satyr [1685]. Zitiert nach Brian Vickers: Shakespeare. The Critical Heritage. Vol. I: 1623-1692. London / Boston 1974, S. 4 1 4 ^ 1 6 . Im Bezug auf mehrere Literaten der Renaissance konstatiert Gould: »To the Judicious plainly it appears, / Their Slips were more the Age's Fault than theirs: / Scarce had they ever struck upon the Shelves, / If not oblig'd to stoop beneath themselves: / Where Fletcher's loose, 'twas Writ to serve the Stage; / And Shakespeare play'd with words to please a Quibbling Age«. (415f.) Lawrence Echard: Prefaces to Terence's Comedies and Plautus's Comedies [1694], Los Angeles 1968, fol. b 1. Echard stellt bei Plautus dieselbe Schwäche fest und schreibt sie ebenfalls dem Geschmack seines Zeitalters zu. Nicholas Rowe: Some Account of the Life & c. of Mr. William Shakespear [1709]. In: David Nichol Smith (Hg.): Eighteenth Century Essays on Shakespeare. New York 1962, S. 1-23. Hier: S. 13. George Stubbes: Some Remarks on the Tragedy of Hamlet [1736]. Zitiert nach Brian Vickers: Shakespeare. The Critical Heritage. Vol. 3: 1733-1752. London / Boston 1975, S. 40-69. Hier: S. 64. Zachary Grey: Critical, Historical, and Explanatory Notes on Shakespeare, with Emendations of the Text and Metre. Vol. 1 London 1754, S. VII.

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habe dazu geführt, dass der pun während seiner Regierungszeit eine nie da gewesene Blüte erlebte: [...] [T]he Age in which the Punn chiefly flourished, was the Reign of King James the First. That learned Monarch was himself a tolerable Punnster, and made very few Bishops or Privy-Counsellors that had not some time or other signalised themselves by a Clinch, or a Conundrum. It was therefore in this Age that the Punn appeared with Pomp and Dignity. It had before been admitted into merry Speeches and ludicrous Compositions, but was now delivered with great Gravity from the Pulpit, or pronounced in the most solemn manner at the Council-Table. The greatest Authors, in their most serious Works, made frequent use of Punns. The Sermons of Bishop Andrews, and the Tragedies of Shakespear, are full of them. The Sinner was punned into Repentance by the former, as in the latter nothing is more usual than to see a Hero weeping and quibbling for a dozen Lines together. 2 '

Addison ist sich dabei durchaus bewusst, dass die griechisch-römische Antike nicht als Autorität für die Ablehnung des Sprachspiels herangezogen werden kann, verweist er doch darauf, dass unter den antiken Autoren nur Quintilian und Longinus puns von true wit unterscheiden.22 Dennoch ist es Aufgabe nachgeborener Autoren, dieser Unterscheidung Rechnung zu tragen, denn »when [...] [this differentiation] was once settled, it was very natural for all Men of Sense to agree in it.«23 Als Manifestation eines kultivierten Geschmackes ist die Unterscheidung zwischen puns und true wit sowohl »natürlich« als auch »vernünftig« (sense); eine Übereinkunft (agreement) über ihre Verbindlichkeit ist also leicht herzustellen. Taste und Politeness als Kategorien, gegen die Shakespeare unter dem Einfluss seines elisabethanischen Publikums verstößt, spiegeln das Selbstbewusstsein einer neuen gesellschaftlich tragenden Schicht wider. Als Methoden der Kultivierung eines verfeinerten Geschmacks führt etwa Addison folgende Vorgehensweisen an: »to be conversant among the Writings of the most Polite Authors«, »Conversation with Men of a Polite Genius«, »to be well versed in the Works of the best Criticks both Ancient and Modern«24 - all dies steht aber potentiell jedem offen, nicht nur dem Aristokraten. Die Möglichkeit der Selbstvervollkommnung verweist dabei auf ein Modell des individuellen wie auch gesellschaftlichen Fortschritts, wie es typisch für die Whig interpretation of history ist. Trotz ihrer rhetorischen Entrückung ins rein Ästhetische sind auch taste und politeness letzten Endes politisch besetzte Kategorien. The aim of politeness was to reach an accommodation with the complexities of modern life and to replace political zeal and religious bigotry with mutual tolerance and understanding. The means of achieving this was a manner of conversing and dealing with people which, by teaching one to regulate one's passions and to cultivate good taste, would enable a person to realize what was in the public interest and for the general good. It involved both

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Joseph Addison: [On Punning]. In: The Spectator No. 61 (10. Mai 1711). Zitiert nach: The Spectator. In Four Volumes. Edited by Gregory Smith. Vol. 1 L o n d o n / N e w York 1907, S. 186-189. Hier: S. 186f. Addison, [On Punning], S. 188. Addison, [On Punning], S. 188. Addison, Joseph: [On Taste], In: The Spectator No. 409 (19. Juni 1712). Zitiert nach The Spectator. In Four Volumes. Edited by Gregory Smith. Vol. 3 London / New York 1907, S. 270-273. Hier: S . 2 7 1 f .

learning a technique of self-discipline and adopting the values of a refined, moderate sociability. 25 D a s K o n z e p t des G e s c h m a c k s ist damit k e i n e s w e g s bloß für einen marginal gedachten Bereich der höheren Lebensart oder der guten Manieren relevant, sondern definiert mit taste

als der Schnittstelle z w i s c h e n Privatem und Ö f f e n t l i c h e m den Ort

politischer Verantwortung. 2 6 Innerhalb dieses B e z u g s r a h m e n s erweist sich die Konstruktion eines unkultivierten, grobschlächtigen elisabethanischen Publikums, insbesondere während der Restauration und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als M e t h o d e der historischen A b g r e n z u n g der e i g e n e n Identität. 27 Dieser Prozess erfolgt allerdings nicht nur synchron, sondern auch diachron, d.h. auch in der e i g e n e n Gegenwart werden B e völkerungsgruppen isoliert, die am neuen refinement

keinen Anteil haben. A u f diese

W e i s e entsteht die M ö g l i c h k e i t zur sozialen Binnendifferenzierung: Kultiviertheit und Geschmackssicherheit werden z u m Indikator des gesellschaftlichen

standings',

die unteren Schichten werden ähnlich unzivilisiert und grobschlächtig dargestellt w i e das für Shakespeares » M ä n g e l « verantwortliche Unterschichtpublikum in den elisabethanischen Theatern. S o schreibt e t w a John Dryden: I Think or hope, at least, the Coast is clear, That none but Men of Wit and Sence are here: That our Bear-Garden Friends are all away, Who bounce with Hands and Feet and cry Play, Play: Who to save Coach-hire, trudge along the Street, Then print our Matted Seats with dirty Feet; Who, while we speak, make Love to Orange Wenches, And between Acts stand strutting on the Benches: Where got a Cock-horse, making vile Grimaces, They to the Boxes show their Booby Faces.

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Brewer, The Pleasures of the Imagination, S. 102. In diesem Zusammenhang ist zweierlei festzustellen: Zum einen ist das Konzept taste in der zur Debatte stehenden Epoche weitaus weniger umstritten als die neoklassizistische Regelpoetik, verfügt also über einen größeren Grad an Allgemeinverbindlichkeit. Aufgrund seiner »außerenglischen« Ursprünge ist es jedoch ebenfalls alles andere als unproblematisch, wie folgende Äußerung William Guthries deutlich macht: »We have often been surprized how that word [taste] happens to be applied in Great-Britain to poetry, and can account for it only by the servility we shew towards every thing which is French. Of all our sensations taste is the most variable and uncertain: Shakespeare is to be tried by a more sure criterion, that of feeling, which is the same in all ages and all climates. To talk of trying Shakespeare by the rules of taste is speaking like the spindle-shanked beau who languished to thresh a brawny coachman«. (In: Monthly Review XX (Nov.-Dez. 1765). Zitiert nach Brian Vickers: Shakespeare. The Critical Heritage. Vol. 5: 1765-1774. London / Boston 1979, S. 211-230. Hier: S. 212). Zur historischen Abgrenzung speziell im Zusammenhang mit taste vgl auch William Duff: Critical Observations on the Writings of the Most Celebrated Original Geniuses in Poetry [1770]. Zitiert nach Brian Vickers: Shakespeare. The Critical Heritage. Volume 6: 17741801. London / Boston 1981, S. 367-372, hier: S. 372; Francis Gentleman: [Commentary on Shakespeare], In: Bell's Edition of Shakespeare's Plays, As they are now performed at the Theatres Royal in London; Regulated from the Prompt Books of each House, by Permission; with Notes Critical and Illustrative; by the Authors of the Dramatic Censor [1773-74], Zitiert nach Vickers Vol. 6, S. 89-112, hier: 108f.; Alexander Gerard: An Essay on Genius [1774], Zitiert nach Vickers Vol. 6, S. 113-114, hier: S. 113. 37

A Merry-Andrew, such a Mob will serve, And treat them with such Wit as they deserve: Let 'em go People Ireland, where there's need Of such new Planters to repair the Breed; Or to Virginia or Jamaica Steer, But have a care of some French Privateer; For if they should become the Prize of Battle, They'll take 'em Black and White for Irish Cattle. 28

In mehrerlei Hinsicht wird hier eine englische »Leitkultur« definiert. Sie setzt bei denen, die in vollem Maße an ihr teilhaben, einen gewissen finanziellen Spielraum voraus (etwa zum Mieten einer Kutsche), und sie propagiert eine kontrollierte Form der Körperlichkeit: Schmutzige Füße auf den Theatersitzen, unruhiges Gestikulieren, laute Rufe (»Play, play!«), lebhafte Mimik (»vile Grimaces«) sowie (Verbal-) Erotik (»mak[ing] Love to Orange Wenches«) werden in die Domäne einer zunehmend stigmatisierten, hier sogar in die Nähe des Animalischen (»Irish Cattle«) gerückten Unterschichtkultur verwiesen. Wenn das Verhalten der »Bear-Garden Friends« für das englische Mutterland als unangemessen abgelehnt, andererseits für Kolonien wie Irland, Virginia oder Jamaica (wenn auch durchaus sarkastisch) aber als passend akzeptiert wird, so zeigt sich hieran besonders deutlich die Stoßrichtung von Drydens Polemik: Es geht nicht darum, die eigene Kultiviertheit nach und nach dem Gesellschaftsganzen zu vermitteln, sondern vielmehr darum, sich gegen die »Unkultur« weiter Bevölkerungskreise abzusetzen. Entsprechend funktionalisiert wird hier auch das koloniale Unterfangen: Dieses wird nicht mehr - wie dies von offizieller Seite bis ins zwanzigste Jahrhundert der Fall war - als zivilisatorische Mission zugunsten der Kolonien dargestellt, sondern eher als Selbstreinigung des Mutterlandes: Nicht konforme Elemente werden mehr oder minder bequem in die Kolonien entsorgt. Der öffentliche Raum, den Dryden hier zu konstituieren versucht, definiert sich hauptsächlich darüber, was er nicht ist: [...] [Dryden's] antagonism towards the »Boobies« [...] is part of an overall strategy of expulsion which clears a space for polite, cosmopolitan discourse by constructing popular culture as the »low-Other«, the dirty and crude outside to the emergent public sphere. Dryden is doing more than policing a fundamental opposition between high and popular culture, he is also constructing it in this prologue, making sure that his audience knows that they must chose [sic] one or the other - that to belong comfortably to both realms is a monstrosity. He is enforcing a choice of self-identity [...]. 2 9

Wenn Stallybrass und White weiterhin feststellen, »The Restoration theatre became one of the principal places in which a host of writers took up the task of transforming the mixed and unruly body inherited from the Renaissance into attentive citizens« 30 , dann hinterlässt dieser Transformationsprozess auch im Bild des elisabethanischen Theaters, wie es die Shakespearekritik nach der Restauration entwickelt, seine Spuren: Die Opposition zwischen high culture und popular culture wird durch

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John Dryden: Cleomenes. In: Ders.: The Works of John Dryden. Vol. XVI Berkeley 1996, S. 71-165. Prologue spoke by Mr MOUNTFORT S. 84f. Hier: S. 84. Peter Stallybrass / Allon White: The Politics and Poetics of Transgression. London 1986, S. 87. Stallybrass / White, Politics and Poetics of Transgression, S. 87.

die Konstruktion eines grobschlächtigen frühneuzeitlichen Theaterpublikums auch auf die Zeit vor dem Bürgerkrieg projiziert. Die Diskussion um die Verantwortlichkeit für Shakespeares »Mängel« wird dadurch verkompliziert, dass keineswegs immer klar ist, was nun als gut und was als schlecht zu gelten habe. Besonders deutlich zeigt sich dies bei der Debatte um Shakespeares weitgehende Nichtbefolgung der Einheit von Ort, Raum und Zeit. Anders als im Falle der puns und quibbles, die meist in direktem Zusammenhang mit dem Geschmack des elisabethanischen Publikums wegerklärt und von einem sich hinsichtlich seines literarischen Urteilsvermögen überlegen fühlenden Zeitalters nicht weiter verteidigt werden, ist die Kontroverse um die Verbindlichkeit des Postulats der drei Einheiten auch in ihrem Zusammenhang mit Shakespeares ursprünglichem Publikum wesentlich komplexer. Die unvollständige Akzeptanz des Neoklassizismus in England und der antifranzösische Impuls, der oftmals hinter der Ablehnung der Regelpoetik steht, wird hier in besonderem Maße deutlich. Schon 1694 beschreibt Dryden im Prolog zu seinem Stück Love Triumphant die Nichtbeachtung dieser Vorschrift als konstitutiven Bestandteil eines spezifisch englischen Dramas: [...] [ T ] is an original Absurdity, for the Audience to suppose themselves to be in any other place than in the very Theatre, in which they sit; which is neither Chamber, nor Garden, nor yet a Publick Place of any Business. For my Action, 'tis evidently double [...].Yet even this is a fault which I should often practise, if I were to write again; because 'tis agreeable to the English Genius. We love variety more than any other Nation; and so long as the Audience will not be pleased without it, the Poet is oblig'd to Humour them.31

Auch die Verbindlichkeit der Einheit der Zeit schränkt Dryden ein, und zwar mit dem Hinweis, dass der gewünschte Effekt auf das Publikum auch mit einem »lockereren« Zeitschema zu erreichen sei.32 Andere neoklassizistische Kritiker wie Gildon führen ebenfalls die Spezifika der englischen Nation als Grund für die eingeschränkte Verbindlichkeit der Forderung nach der Einheit von Ort, Raum und Zeit an, wobei neben der love of variety die love of liberty als entscheidendes Kennzeichen eines spezifisch englischen Bühnengeschmacks genannt wird.33 Massive Verstöße gegen das Postulat der Wahrscheinlichkeit sind für die meisten Kritiker jedoch auch durch die »nationale Apologie« nicht zu entschuldigen. So schreibt Gildon an anderer Stelle:

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John Dryden: Prologue to Love Triumphant. In: Ders.: The Works of John Dryden. Volume XVI Berkeley 1996, S. 169-172. Hier: S. 171f. Vickers' Einleitung zu Vol. 6 von Shakespeare. The Critical Heritage legt das Entstehen des pragmatischen Arguments gegen die drei Einheiten ins letzte Viertel des 18. Jahrhunderts. Diese Position ist m. E. nicht haltbar. (Brian Vickers: Introduction. In: Shakespeare. The Critical Heritage. Vol. 6: 1774-1801. London / Boston 1981, S. 1-86. Hier: S. 16.) Vgl. dazu Charles Gildon: Some Reflections on Mr Rymer's Short View of Tragedy and an Attempt at a Vindication of Shakespeare, in an Essay directed to John Dryden, Esq. In: Ders.: Miscellaneous Letters and Essays on Several Subjects in Prose and Verse [1694]. Zitiert nach Brian Vickers: Shakespeare. The Critical Heritage. Vol. 2: 1693-1733. London / Boston 1974, S. 63-85. A nice Observation of the Rules is a Confinement a great Genius cannot bear, which naturally covets Liberty. And tho' the French, whose Genius as well as Language is not strong enough to rise to the majesty of Poetry, are easier reduc'd within the Discipline of Rules, and have perhaps of late years more exactly observ'd 'em, yet I never met with any Englishman who wou'd prefer their Poetry to ours« (S. 70).

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For to make a good Tragedy, that is, a just Imitation, the Action imitated ought not in reality to be longer than the Representation; for by that Means it has more Likeness and by Consequence is the more perfect. But as there are actions of ten or twelve Hours, and their Representations cannot possibly be so long, then must we bring in some of the Intervals of the Acts the better to deceive the Audience, who cannot be impos'd on with such tedious and long Actions as we have generally on the Stage, as whole Lives, and many Actions of the same Man, where the Probable is lost as well as the Necessary. And in this our Shakespeare is every where faulty through the Ignorant Mode of the Age in which he liv'd [...]. 34

Shakespeare selbst befindet sich nach Gildon hinsichtlich der Vorschriften der Regelpoetik in einem Dilemma: Zum einen erkennt er die Unzulänglichkeiten der dramatischen Konventionen seiner Zeit - als Beweis dafür führt Gildon die Verweise des jeweiligen Chors auf die häufigen Ortswechsel in Pericles und die Unzulänglichkeit der Schlachtszenen in Henry V an - andererseits ist er jedoch nicht im Stande, sie zu überwinden: »[...] [H]e chose to go on in the Way that he found beaten to his Hands because he unhappily knew no better Road.« 35 Hätte Shakespeare sich an die neoklassizistischen Regeln gehalten, so Gildon, wären seine Stücke »far more noble«. 36 Diese Aussage ist auch im Kontext der vieldiskutierten Frage nach Shakespeares Grad an (klassischer) Bildung zu situieren. Ob und in welchem Maße von einer Vertrautheit des »Barden« mit den griechischen und römischen Klassikern ausgegangen werden könne, gehört zu einem der am heftigsten debattierten Punkte des Shakespearediskurses im 18. Jahrhundert. Für seine Kenntnis der Regel von der Einheit von Ort, Zeit und Handlung schien deren (annähernde) Befolgung in The Tempest und The Merry Wives of Windsor zu sprechen. Damit war aber erklärungsbedürftig, warum nur diese beiden Stücke den klassischen Regeln folgten - eine nicht unerhebliche Schwierigkeit, die meist mit Rekurs auf das elisabethanische Publikum gelöst wurde: »[Shakespeare's] Merry Wives of Windsor demonstrates how much he acted against his better judgment, when he stretched his wings into the extravagance of popular prepossessions.« 37 Die Verwendung des Begriffes »populär« deutet auch hier darauf hin, dass für Shakespeares mangelnde Umsetzung seiner theoretischen Einsicht in die Überlegenheit der Postulate der Regelpoetik weniger die elisabethanische Epoche in ihrer Gesamtheit verantwortlich gemacht wird, sondern vielmehr die Tatsache, dass das elisabethanische Theater keine sozial exklusive Einrichtung darstellte. Dass diese Argumentation meist eher von ihrem Ende her (der »Rettung« Shakespeares vor eventuellen Prestigeverlusten) konzipiert wurde denn von ihrem Anfang, zeigt sich an einer merkwürdigen Vagheit in der Konzeption der Beziehung zwischen Shakespeare und seinem ursprünglichen Publikum, von dem er sich in der Vorstellung der Kritiker einerseits dissoziiert, andererseits aber auch wieder nicht. So legt Elizabeth Montagu am Beispiel von Henry VI, V, vii dar:

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Charles Gildon: An Essay on the Arts, Rise and Progress of the Stage in Greece, Rome and England [1710], Zitiert nach Brian Vickers: Shakespeare. The Critical Heritage. Vol. 2: 1693-1733. London / Boston 1974, S. 216-262. Hier: S. 222. Gildon, Essay on the Art, Rise and Progress of the Stage, S. 223. Gildon, Essay on the Art, Rise and Progress of the Stage, S. 248. William Guthrie: An Essay Upon English Tragedy with Remarks upon the Abbe de Blanc's Observations on the English Stage. London 1747 / Repr. London 1971, S. 7.

Our author, by following minutely the chronicles of the times has embarrassed his drama's [sic] with too great a number of persons and events. The hurley-burley of these plays recommended them to a rude illiterate audience, who as he says, loved a noise of targets. His poverty, and the low condition of the stage (which at that time was not frequented by persons of rank) obliged him to this complaisance; and unfortunately he had not been tutored by any rules of art, or informed by acquaintance with just and regular drama's [sic]. 38

Unklar bleibt, ob ein Mehr an klassischer Bildung es Shakespeare ermöglicht hätte, sich über die historisch bedingte low condition of the stage und rude illiterate audience hinwegzusetzen, insbesondere deshalb, weil das Wort complaisance impliziert, dass ihm die Möglichkeit eines »besseren« Dramas durchaus bewusst war. Daraus ergäbe sich eine Konzeption Shakespeares, die ihn einerseits kognitiv ins Überzeitliche steigert, da ihm das Idealbild der unter dem Einfluss antiker Vorbilder »reformierten« Bühne vor Augen steht, andererseits aber von der Unmöglichkeit der praktischen Umsetzung dieser Einsicht ausgeht, und zwar aufgrund materieller Zwänge. Deutlich wird also eine grundlegende Ambivalenz gegenüber der Einbindung der Künste in den Wirtschaftsraum, ein Gebiet, auf dem sich im 18. Jahrhundert ein tiefer Umbruch vollzog: Während aristokratische patronage immer mehr im Zurückgehen war, setzten sich im »Literaturbetrieb« langsam die Gesetze der Marktwirtschaft durch. Ein Teil der Zeitgenossen sah darin einen Niedergang der literarischen Kultur, da eine durch materielle Interessen besudelte Lohnschreiberei an die Stelle einer von profanen Motiven unbefleckten Hingabe an die Kunst trete. 39 Der Literatur kommt so die ästhetische ebenso wie die moralische Autorität abhanden. Ein Zusammenhang besteht dabei auch mit der Verbreiterung des Lesepublikums: Geschrieben wird nicht mehr nur für den einen, gebildeten, fast immer adeligen und immer reichen patron, sondern für sehr viel breitere Bevölkerungsschichten. Für Kritiker wie Montagu stellt dies eine potentielle Bedrohung für die Qualität des literarische Produkts dar, da sie von einem direkten Zusammenhang zwischen dem Niveau des literarischen Werkes und dem Niveau seines Zielpublikums ausgehen. Die Qualität des Dramas als »populärer« Kunstform ist so direkt abhängig vom Grade dessen, was man »Volkserziehung« nennen könnte. Dies erklärt für Montagu letztendlich auch, warum Shakespeare sich nicht an die klassischen Vorbilder hält: Shakespear's plays were to be acted in a paltry tavem, to an unlettered audience, just emerging from barbarity: the Greek tragedies were to be exhibited at the public charge, under the care and auspices of the magistrates of Athens; where the very populace were critics in wit, and connoisseurs in public spectacles. 40

Wenn Shakespeare und seine Werke zum Kristallisationspunktpunkt nationaler Identität stilisiert werden sollen, so bietet es sich eigentlich an, die Größe des Werkes - wie es später auch tatsächlich geschieht - gerade darauf zurückzuführen, dass es einen gesellschaftlich übergreifenden, allen Engländern gemeinsamen Nationalcharakter zum Ausdruck bringe. Die Erhebung Shakespeares zur kulturellen Identi-

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Elizabeth Montagu: An Essay on the Writings and Genius of Shakespear, compared with the Greek and French Dramatic Poets. With some Remarks Upon the Misrepresentations of Möns. De Voltaire. London 1769 / Reprint London 1970, S. 71. Brewer, The Pleasures of the Imagination, S. 144f., 16If. Montagu, Essay on the Writings and Genius of Shakespear, S. 14.

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fikationsfigur erfolgt bei Montagu aber so, dass gerade das Element des »Volksnahen« als das Andere, nicht Identitätskonstitutive festgelegt wird. Das Volk als positiver Faktor bei der Entstehung künstlerischer Ausnahmeleistungen ist offensichtlich nur dann akzeptabel, wenn es historisch so weit entrückt ist wie das Volk im klassischen Athen (das zudem noch »under the care and auspices of the magistrates of Athens« agiert). Ansonsten wird ihm das zugeschrieben, was zu den herrschenden (Geschmacks-) Normen in Widerspruch steht. Innerhalb der Debatte um Shakespeares (Nicht-) Befolgung der drei Einheiten und seine (Un-) Kenntnis der antiken Klassiker hat dies sehr direkte Auswirkungen. Wenn Kenntnis der klassischen Regelpoetik bedeutet, dass Shakespeares Dramen eine Konzession an den Publikumsgeschmack darstellen, so wird ihm diese zum Teil vehement abgesprochen: As to all that critical parade concerning the dramatick unities, the hackneyed topick of every Italian, French and English critick for above a century last past, and which the bountiful fecundity of Mr Warburton's imagination makes a present of to Shakespeare on the occasion of [King Lear I, i, 128], there is not the least reason to believe it ever entered into his thoughts at the time he wrote it, nor indeed that he was initiated into this doctrine, much less that he was convinced of the necessity and advantages of conforming to it. The trite argument drawn from the observation of these unities in The Tempest hath very little force in it [...]. And after all, what does the poet get by this illjudged illiberality towards him? Only the imputation of a sneaking submission to the ignorance and unimproved taste of the age he lived in, when he himself had it in his power by the superior knowledge we would attribute to him to have instructed, and by the unrivalled ascendency [sic] of his genius, which is indisputable, to have reformed it.41 Wenn Dennis im selben Zusammenhang konstatiert, »[...] he who allows that Shakespear had Learning and a familiar Acquaintance with the Ancients, ought to be look'd upon as a Detractor from his extraordinary Merit, and from the Glory of Great Britain«2, dann geht es dabei nicht nur darum, Shakespeares »Regellosigkeit« als integralen Bestandteil einer spezifisch britischen Variante des Dichtergenies darzustellen, sondern auch um die Etablierung eines Verhältnisses zwischen dem Dramatiker und seinem elisabethanischen Publikum, das aus der Sicht des 18. Jahrhunderts mit dem Status Shakespeares als nationaler Integrations- und Identifikationsfigur vereinbar war. Die bevorzugte Vorstellung vieler Kritiker ist dabei die einer totalen Dissoziation zwischen Shakespeare und den Anforderungen seiner ursprünglichen Zuschauer. So konstruiert Rowe in der bedeutendsten 43 der historischen Apologien der Epoche

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Benjamin Heath: A Revisal of Shakespeare's Text, Wherein The ALTERATIONS introduced into it by the more modern Editors and Critics, are particularly considered [1765]. Zitiert nach Brian Vickers: Shakespeare. The Critical Heritage. Vol. 4: 1753-1765. London / Boston 1976, S. 550-564. Hier: S. 558. John Dennis: On the Genius and Writings of Shakespeare [1712]. In: Ders.: The Critical Works of John Dennis. Edited by Edward Niles Hooker. Vol. Π: 1711-1729. Baltimore 1943, S. 1-18. Hier: S. 14. Vickers begründet diese Einschätzung von Rowes Apologie mit deren großer Verbreitung: »The most important of [the authors making use of the historical apologia] is Nicholas Rowe, whose preface was reprinted in almost every edition of Shakespeare's works up to the variorum of 1821, and can thus be claimed as the most disseminated Shakespeare critic before Johnson«. Vgl. Vickers, Introduction, In: Shakespeare. The Critical Heritage, Vol. 2, S. 9.

ein elisabethanisches Zeitalter, das Shakespeare in seiner Unkultiviertheit keine Möglichkeit einer die historischen Gegebenheiten transzendierenden Horizontbildung lässt, gerade dadurch aber zur Kontrastfolie seines Genies wird: If one undertook to examine the greatest part [of Shakespeare's tragedies] by those rules which are establish'd by Aristotle, and taken from the model of the Grecian stage, it would be no very hard task to find a great many faults: But as Shakespear liv'd under a kind of mere light of nature, and had never been made acquainted with the regularity of those written precepts, so it would be hard to judge him by a law he knew nothing of. We are to consider him as a man that liv'd in a state of almost universal licence and ignorance: There was no establish'd judge, but every one took the liberty to write according to the dictates of his own fancy. When one considers that there is not one play before him of a reputation good enough to entitle it to an appearance on the present Stage, it cannot but be a matter of great wonder that he should advance dramatick Poetry so far as he did. 44

Folgerichtig hält Rowe sich auch kaum mit einer Diskussion der mangelnden Regelhaftigkeit des Shakespeareschen Dramas auf, sondern konzentriert sich auf die Darstellung der Stärken. Was Rowe noch relativ zurückhaltend als »a matter of great wonder« bezeichnet, wird später in Zusammenhang mit einem Begriff gesetzt, der für die Weiterentwicklung der Shakespearerezeption von entscheidender Bedeutung wird - dem des Genies: »[...] [Gjenius was a category invented in order to account for what was peculiar about Shakespeare«45 ist eine Einschätzung, die zumindest innerhalb der Grenzen der englischen Literaturkritik und -theorie durchaus haltbar erscheint. Durch die Erklärung der Shakespeareschen »Fehler und Mängel« mit den Anforderungen eines unkultivierten elisabethanischen (Unterschicht-) Publikums bewirkt die englische Shakespearekritik des 17. und 18. Jahrhunderts zunächst vor allem, dass der »Barde« trotz der Anfechtung, die der Neoklassizismus generell für die Bewertung der literarischen Qualität seiner Dramen darstellt, nicht als minderer Schriftsteller eingeordnet werden muss. Diese Defensivhaltung entsteht nicht nur in Reaktion auf kontinentaleuropäische Diatriben gegen Shakespeare - allen voran die Voltaires 46 - , sondern auch auf englische Kritiker wie Dennis und Rymer, ange-

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Rowe, Some Account«, S. 15f. Bate, The Genius of Shakespeare, S. 183. Voltaires »Ablehnung« Shakespeares ist keinesfalls so total, wie dies die englische Kritik des 18. Jahrhunderts oftmals annimmt. 1734 schreibt er: »Les Anglais avaient dejä un theatre aussi bien que les Espagnols, quand les Fran9ais n'avaient que des treteaux. Shakespeare que les Anglais prennent pour un Sophocle, florissait ä peu pres dans le temps de Lope de Vega: il crea le theatre: il avait un genie plein de force et de fecondite, de naturel et de sublime, sans la moindre etincelle de bon goüt, et sans la moindre connaissance des regies. Je vais vous dire une chose hasardee, mais vraie: c'est que le merite de cet auteur a perdu le theatre anglais; il y a de si belles scenes, des morceaux si grands et si terribles repandus dans ses farces monstrueuses qu'on appelle tragedies, que ses pieces ont toujours ete jouees avec un grand succes. Le temps, qui fait seul la reputation des hommes, rend ä la fin leurs defauts respectables. La plupart des idees bizarres et gigantesques de cet auteur ont acquis au bout de deux cents ans le droit de passer pour sublimes. Les auteurs modernes l'ont presque tous copie; mais ce qui reussissait dans Shakespeare est siffle chez eux, et vous croyez bien que la veneration qu'on a pour cet ancien augmente ä mesure que l'on meprise les modernes. On ne fait pas reflexion qu'il ne faudrait pas l'imiter, et le mauvais succes de ses copistes fait seulement qu'on le croit inimitable.« (Francis-Marie Voltaire: CEuvres Completes. Vol. 22: Melanges I. Paris 1879, S. 148f.) Wenn Voltaire Shakespeare

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sichts deren massiver Kritik an der Bühne im Allgemeinen und an Shakespeare im Speziellen man sich in der Tat mit Brian Vickers fragen kann, warum Shakespeare überhaupt noch gelesen bzw. aufgeführt wurde. Eine Teilantwort liefert Vickers gleich selbst: »One reason is clear, that [by the end of the 17th century] his prestige was already so great that the unanimous objections of a generation of critics could not damage it.«47 Resistenz und Eigendynamik des Phänomens Shakespeare gegenüber der neoklassizistischen Anfechtung sind sicherlich keinesfalls zu unterschätzen. Auf der Basis neuerer Untersuchungen muss jedoch die vermeintlich einmütige »Verurteilung« Shakespeares durch die entschiedeneren Anhänger der klassizistischen Regelpoetik in einem wesentlich differenzierteren Licht betrachtet werden, so dass das »Beharrungsvermögen« Shakespeares schließlich weit weniger außergewöhnlich erscheint, als Vickers dies darstellt: The greatest single misconception attached to this period is its fondness for the so-called rules, the dramatic unities and the standard of decorum. Scholars in the nineteenth and twentieth centuries have been too willing to attribute early disapproval of Shakespeare to his failure to follow these neoclassical strictures - and many leave their examination of Shakespeare criticism at that. [...] During this period, only three critics, Dryden, Rymer, and Dennis, examined Shakespeare in the light of the rules. Most of their contemporaries were interested in the rules and found them important assets to tragedy - but only in contemporary drama. [...] In our own idolatrous age it is often difficult to remember that in the early eighteenth century, Shakespeare, although revered, was not yet beyond reproach. [...] [H]is lack of »art« as embodied in the mechanical rules was his most obvious flaw - and one which could easily be overturned by a defense of natural genius. When discussing Shakespeare, most critics rejected the rules in terms as conventional as their praise. 4 '

Als entscheidende rhetorische Strategie zur Entkräftung der Anfechtung Shakespeares durch das neoklassizistische Regelwerk spielt die Argumentation mit dem Konzept des Naturgenies auch für die Diskussion des elisabethanischen Publikums eine nicht ganz unerhebliche Rolle. Wenn die Regellosigkeit Shakespeares zum einen als nature apostrophiert wird, zum anderen aber - und diese beiden Strategien werden durchaus im Verbund miteinander angewendet - im Rückgriff auf das elisabethanische Publikum als historisch erklär- und entschuldbar dargestellt wird, dann ergibt sich aus den Gleichsetzungen Regellosigkeit = Natur und Regellosigkeit = the age / the audience zumindest eine potentielle Deckung zwischen einer als Gegenbild konstruierten Vergangenheit bzw. einem als Gegenbild konstruierten elisabethanischen Publikum und dem Konzept der Natur bzw. des Naturhaften. Wenn der Begriff der Natur im Zusammenhang mit dem Geniegedanken nun eindeutig positiv

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auch als Vorbild für die Dramatiker seiner eigenen Gegenwart für ungeeignet hält, gesteht er den Stücken also dennoch durchaus einen gewissen Eigenwert zu. Brian Vickers: Introduction. In: Shakespeare. The Critical Heritage. Volume 2: 1693-1733. London / Boston 1974, S. 1-21. Hier: S. 7. Jean Marsden: The Re-Imagined Text. Shakespeare, Adaptation and Eightennth-Century Literary Theory. Lexington 1995, S. 53. Bei der von Marsden angesprochenen perspektivischen Verzerrung handelt es sich um einen Vorgang der Kanonbildung innerhalb der Shakespearekritik, im Zuge dessen ex post vermeintliche »Hauptstränge« des Shakespearediskurses isoliert werden. Dies kann zu starken Vergröberungen bzw. Falschaussagen führen, selbst noch bei Aussagen über diese Falschaussagen: Auch der von Marsden angeführte Dryden war kein uneingeschränkter Neoklassizist. Vgl. dazu etwa den bereits zitierten Prolog zu Love Triumphant.

besetzt ist, entsteht daraus ein im Grunde unauflösbarer Widerspruch. Dies gilt insbesondere aufgrund des subversiven Potentials des Naturgenies - auch in Gestalt Shakespeares: That Shakespeare became England's supreme culture hero in the eighteenth century caused great difficulty for the ancien regime aesthetics associated with theorists like Gildon and John Dennis. To characterize Shakespeare by way of his native genius made it impossible to sustain arguments about the need for refinement and control. But then the dangerous thing about genius is that it is no respecter of rank. 49

Wenn nun gerade die Tatsache der Regellosigkeit seiner Werke Shakespeare für die nationalistische Besetzung so geeignet macht, gleichzeitig aber eben diese Regellosigkeit auf die Ungehobeltheit seines Zeitalters und konkreter seiner als sozial niedriggestellt beschriebenen Zuschauer zurückgeführt wird, dann stoßen dabei zwei Vorgänge innerhalb der Ausbildung der nationalen Identität aufeinander: Zum einen die synchrone Abgrenzung nach außen, d.h. in diesem Fall insbesondere gegen den durch den Neoklassizismus symbolisierten französischen Einfluss, zum anderen die diachrone Abgrenzung nach innen, d.h. gegen ein früheres Stadium der eigenen Geschichte. Die Ausbildung eines neuen Selbstverständnisses beruht hier auf dem Postulat, dass die eigene Epoche mit der vorhergehenden, durch innere Uneinigkeit gekennzeichneten, nichts gemeinsam hat. Dass Shakespeare trotz der neoklassizistischen Einwände bereits im 18. Jahrhundert zur kulturellen Identifikationsfigur erhoben wird, verweist allerdings darauf, dass für die Herausbildung einer neuen Nationalidentität auch die Konstruktion grundlegender Kontinuitäten mit der Vergangenheit eine bedeutende Rolle spielt. Dabei ist es zunächst offensichtlich wichtiger, überhaupt eine Verbindung zur Vergangenheit herzustellen, als zu definieren, worin diese Verbindung eigentlich besteht: Während Shakespeare gewissermaßen als abstrakte Entität zur nationalen Symbolfigur erhoben wird, unterscheidet man innerhalb der Textüberlieferung zwischen faults und beauties, also zwischen »echtem« Shakespeare und Passagen, die auf den schädlichen Einfluss des frühneuzeitlichen Publikums zurückgehen. Die Haltung gegenüber dem Text - und dieser stellt ja die einzige Grundlage jeglicher Form der Auseinandersetzung mit Shakespeare dar - ist also keineswegs eine grundlegend affirmative. Momente der Kontinuität - wie auch Momente der Abgrenzung - werden den Bedürfnissen der eigenen Gegenwart entsprechend auf die Vergangenheit projiziert; Tradition ist also mindestens ebenso sehr fictio wie datum. Bewahrt wird nicht zuletzt um des Bewahrens willen: [...] [Conservative thought [can be understood] as a self-consciously provisional and pragmatic affirmation of »tradition« not for its essential or intrinsic value - of which it remains sceptical - but for its political, cultural and affective instrumentality. Conservatism therefore involves a contradictory sort of belief whose stabilizing motive to conserve what

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Bate, The Genius of Shakespeare, S. 174.

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is given is predicated on a destabilized attitude toward what is entailed in that very »givenness«. 50

Gerade im Zusammenhang mit dem elisabethanischen Publikum wird besonders deutlich, dass die von Shakespeare verkörperte literarische Tradition für ganz bestimmte politische Interessen instrumentalisiert wird. Wenn Shakespeares ursprüngliche Zuschauer für die Unkultiviertheit und Unaufgeklärtheit einer ganzen Epoche stehen, gleichzeitig aber in der Vorstellung zahlreicher Kritiker im wesentlichen aus Angehörigen der Unterschicht bestehen, dann ist dies ein Hinweis darauf, dass neben der diachronen Abgrenzung von der eigenen Vergangenheit und der synchronen Abgrenzung nach außen, d.h. gegen andere Nationen, als dritter Faktor bei der Ausbildung einer postrevolutionären englischen Nationalidentität auch Prozesse der sozialen Binnendifferenzierung eine erhebliche Rolle spielen. Ihr Einfluss auf die Konzeption der frühneuzeitlichen Theaterbesucher zeigt sich mehr als deutlich, und er wird gerade an den Widersprüchen im Diskurs über Shakespeare und sein ursprüngliches Publikum besonders greifbar. Insbesondere gilt dies hinsichtlich der potentiellen Deckung eines positiv besetzten Begriffs der Natur mit einer an sich negativen Vorstellung vom elisabethanischen Publikum. Die frühneuzeitlichen Theaterbesucher stehen innerhalb des oben skizzierten Gleichungssystem nicht mehr nur für die deutlich mit den unteren gesellschaftlichen Schichten assoziierte »Unkultiviertheit« der Renaissance, sondern gleichzeitig auch für die positive Variante dieser Unkultiviertheit, das »Naturhafte«. Das Genie Shakespeare und sein Publikum bilden in ihrer Bezogenheit auf dieses Naturhafte eine Einheit, die weit mehr als die etwa von Pope so sorgfältig vorgenommene Isolation Shakespeares aus dem Kontext des Theaters grundlegend destabilisiert: »To speak of Shakespeare as boundless and wild, to characterize genius in terms of enthusiasm and excess, is to reinvent the poet as revolutionary man, free from restraints of decorum and rank.« 51 Innerhalb einer derartigen Konzeption des »Barden« kann aber kaum mehr mit dem verderblichen Einfluss eines sozial niedriggestellten Publikums argumentiert werden. Dass dies trotzdem geschieht, dass Shakespeare in Reaktion auf den Neoklassizismus einerseits positiv als Naturgenie apostrophiert wird, andererseits im Zuge seiner Inanspruchnahme durch die gesellschaftlichen Eliten von einem elisabethanischen Publikum isoliert wird, das gerade aufgrund seiner »Unkultiviertheit« in deutliche Nähe zum Naturhaften steht, daran offenbart sich eine der größten inneren Widersprüchlichkeiten des Shakespearediskurses im 18. Jahrhundert - aber auch der Ausbildung einer englischen Nationalidentität ganz generell.

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Michael McKeon: Cultural Crisis and Dialectical Method: Destabilizing Augustan Literature. In: Leo Damrosch (Hg.): The Profession of Eighteenth-Century Literature. Reflections on an Institution. Madison 1992, S. 42-61. Hier: S. 44. Bate, The Genius of Shakespeare, S. 186.

3.3 Shakespeare im Spannungsfeld zwischen idealem und historischem Publikum Dass die erste Phase der englischen Shakespearekritik in ihrer Konzeption des Verhältnisses zwischen Shakespeare und seinem ursprünglichen Publikum so vage bleibt, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass gerade das Lavieren zwischen unterschiedlichen Positionen für die Apologie und schließlich die Apotheose Shakespeares den größtmöglichen Nutzen zeitigt. Besonders deutlich zeigt sich dies dort, wo Sinn und Zweck der Literatur bzw. die Aufgabe des Dichters in der Gesellschaft definiert werden soll. Gemäß der Horazschen Maxime des prodesse et delectare propagiert der Neoklassizismus im Wesentlichen eine erzieherische Funktion der Literatur: Aufgabe des Dichters bzw. des Dramatikers ist gerade nicht, blind den Wünschen seines Publikums zu folgen und dadurch Gefallen zu erzeugen; vielmehr besteht sein Auftrag darin, derart auf die zeitgenössische Öffentlichkeit einzuwirken, dass diese sich dem »idealen Publikum«, in dem der Autor nach Vorstellung der Neoklassizisten stets seine eigentlichen Adressaten zu sehen hat, immer mehr annähert. Aus dieser didaktischen Zielsetzung ergibt sich der Primat des Zwecks über die Mittel: Die Regelpoetik legitimiert sich letztendlich dadurch, dass sie dabei hilft, beim Publikum den gewünschten Effekt zu erzielen. Genau diesen Umstand machen sich englische Kritiker des 18. Jahrhunderts zunutze, um Shakespeare gegen die Anfechtung durch den Neoklassizismus zu verteidigen. Johnson etwa formuliert dieses »pragmatische Argument« folgendermaßen: Shakespeare's plays are not in the rigorous and critical sense either tragedies or comedies, but compositions of a distinct kind; exhibiting the real state of sublunary nature, which partakes of good and evil, joy and sorrow, mingled with endless variety of proportion and innumerable modes of combination [...]. Shakespeare has united the powers of exciting laughter and sorrow not only in one mind, but in one composition. Almost all his plays are divided between serious and ludicrous characters, and, in the successive evolutions of the design, sometimes produce seriousness and sorrow, and sometimes levity and laughter. That this is a practice contrary to the rules of criticism will be readily allowed; but there is always an appeal open from criticism to nature [meine Hervorhebung]. The end of writing is to instruct; the end of poetry is to instruct by pleasing. That the mingled drama may convey all the instruction of a tragedy or comedy cannot be denied, because it includes both its alternations of exhibition, and approaches nearer than either to the appearance of life, by shewing how great macinations and slender designs may promote or obviate one another, and the high and the low co-operate in the general system by unavoidable concatenation. 52

Dass sich Johnsons Einwand gegen die uneingeschränkte Verbindlichkeit der neoklassizistischen Vorschriften auf die didaktische Zielsetzung der Literatur stützt, wird hier besonders deutlich: »That the mingled drama may convey all the instruction of a tragedy or comedy cannot be denied [...].« Ähnlich argumentiert bereits 1709 auch Rowe;53 noch 1783 bedient sich Blair54 sehr ähnlicher rhetorischer Strategien. 52

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Samuel Johnson: [Preface to Shakespeare] [1765]. In: Ders.: The Yale Edition of the Works of Samuel Johnson. Volume VII: Johnson on Shakespeare. New Haven / London 1968, S. 59-113. Hier: S. 66f. Rowe, Some Account, S. 10. Hugh Blair: Lectures on Rhetoric and Belles Letters. Vol. 1 London 1783 / Repr. Carbondale / Edwardsville 1965, S. 39f.

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Was Johnson noch mit dem abstrakten Begriff nature umschreibt, der klassischen Parole gegen die Regelpoetik, wird bei anderen Kritikern wesentlich konkreter benannt: So convinced was Shakespeare that his countrymen could not be satisfied with their dramatic exhibitions without some mixture of merriment that, in his most serious plays, he has thrown in characters of levity or oddity to enliven the scene [Falconbridge, the witches in Macbeth [!], Casca, Polonius, Osric and the gravediggers in Hamlet, Roderigo]. These comic characters, placed in proper situations to produce action arising from the plot, never failed to raise gaiety and diversion amidst scenes of the most affecting pathos and the most afflicting terror. What affords the most evident proofs of our author's infallible judgment and sagacity is that, notwithstanding the great alteration and improvement in the public taste respecting the amusements of the theatre, these characters and scenes never fail to produce the same effect at this day [...]. 5 5

Johnsons »Natur« findet in Shakespeares elisabethanischen Zuschauern ihre Verkörperung. Die Regelverstöße des Dramatikers - hier die Neigung zur Tragikomik rechtfertigen sich dadurch, dass sie beim elisabethanischen Publikum die gewünschte Reaktion hervorrufen - die frühneuzeitlichen Theaterbesucher dienen also in ganz anderer Weise als im Zusammenhang mit der »klassischen« historischen Apologie zur Verteidigung Shakespeares. Als visionär erweist sich Shakespeare darüber hinaus insofern, als der Effekt auf die Zuschauer über die Zeiten hinweg konstant geblieben ist (»these characters and scenes never fail to produce the same effect at this day«): Dadurch, dass Shakespeare auf die Bedürfnisse seiner elisabethanischen Zuschauer eingeht, wird er gleichzeitig den Anforderungen des überzeitlichen, »idealen« Publikums gerecht. Entscheidend ist dabei, dass sowohl das historische als auch das überzeitliche Publikum wesentlich durch seine Nationalität geprägt ist (»his countrymen«): Die Wendung gegen den Neoklassizismus erfolgt also auch hier deutlich im Zuge einer nationalistischen Besetzung Shakespeares - mit nicht zu übersehenden Auswirkungen auf die Vorstellung vom elisabethanischen Publikum. Dieses fungiert hier nicht mehr als Heterostereotyp, sondern als Verkörperung nationaler Eigenart, dient entsprechend auch nicht mehr als Kontrastfolie zum eigenen Selbstverständnis, sondern als Identifikationsobjekt. Dass die Möglichkeit einer positiven Bewertung des elisabethanischen Publikums gerade im Rückgriff auf das Konzept der Natur bzw. des Naturgenies nicht nur theoretisch mit angelegt ist, wird am Beispiel Davies' besonders deutlich. Die englische Shakespearekritik des 18. Jahrhunderts propagiert stattdessen jedoch mehrheitlich eine mehr oder minder weitreichende Dissoziation zwischen dem »Barden« und seinen ursprünglichen Zuschauern. Dabei ist es zunächst von sekundärer Bedeutung, ob eher dem Neoklassizismus oder eher der Genieästhetik der Vorzug gegeben wird, denn die Vorstellungen von der Beziehung zwischen Autor und Rezipienten sind nicht unbedingt grundlegend unterschiedlich. Herausragendes Merkmal des Genies ist die Fähigkeit zur naturhaften Schöpfung aus sich selbst heraus, d.h. ohne Bezug auf ein Publikum. Der Klassizismus geht im Zuge einer didaktischen Literaturkon-

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Thomas Davies: Dramatic Miscellanies: consisting of Critical Observations on several Plays of Shakespeare: with a Review of his principal Characters, and those of various eminent Writers, as represented by Mr. Garrick, and other celebrated Comedians. With Anecdotes of Dramatic Poets, Actors, & c. Vol. Π London 1783 / Repr. New York 1973, S. 22f.

zeption hingegen wesentlich von einer gesellschaftlichen Eingebundenheit des Autors aus. Diese Bezogenheit auf das Publikum impliziert aber insofern eine Geschiedenheit von Dichter und Zuschauern, als sie dem Schriftsteller einen didaktischen Auftrag und damit notwendig überlegene Einsicht zuschreibt. Beide Konzeptionen positionieren den Schriftsteller, wenn auch in unterschiedlichem Grade, außerhalb oder über der Gesellschaft, die damit auch nicht die letzte Instanz für die Beurteilung seines Handelns bzw. Schaffens sein kann. Strenggenommen erlauben also weder Genieästhetik noch Neoklassizismus eine historische Apologie des Dichters, da beide ihm eine Transzendierung der historisch-sozialen Gegebenheiten entweder als Aufgabe stellen bzw. ihn gerade durch diese Transzendierung erst als Dichter definieren. Während für das Genie die Treue zur Autonomie des eigenen Subjekts zum letzten Maßstab wird, ist dies für den Dichter des Neoklassizismus die Treue zur eigenen höheren Einsicht. Entsprechend wird Shakespeare fast überall im Gegensatz zu seinen ursprünglichen Zuschauern definiert - wobei man ihm bisweilen durchaus das Bemühen attestiert, erzieherisch auf diese einzuwirken, wohl nicht zuletzt aus dem Bedürfnis heraus, den Dramatiker auch »moralisch« unangreifbar zu machen: While the stage was thus over-run with ignorance, impertinence and the lowest quibble, our immortal Shakespear arose. But supposing him to have produced a commission from that heaven whence he derived his genius, for the reformation of the stage, what could he do in the circumstances he was under? He did all that man, and more than any man but himself could do. He was obliged, indeed, to strike in with the peoples [sic] favourite passion for the clangor of arms, and the MARVELLOUS of exhibition; but he improved, he embellished, he ennobled it. The audience no longer gaped after unmeaning shew. Pomp, when introduced, was attended by poetry, and courage exalted by sentiment. But are we to imagine that Shakespear could reform the taste of the people into chastity? No; they had the full, the wanton, enjoyment of his genius, when irregular; and they were both too uninformed, and too incontinent, to exchange LUXURY for ELEGANCE. This would, undoubtedly, have been the case, even supposing Shakespear to have attempted a reformation of the drama. But I believe he attempted none. His houses were crouded; his applause was full, and his profits were great. His patrons were pleased with the conduct of his plays: Why then should he attempt a reformation, which, with the public, must have been impracticable, and, to his own interest, might have been detrimental?56

Guthrie fasst mehrere für die Epoche typische Widersprüche in der Konzeption des Verhältnisses zwischen Autor und Publikum zusammen. So ist das Talent Shakespeares eindeutig metaphysisch besetzt (»immortal«; »that heaven whence he derived his genius«; »[h]e did all that man, and more than any man but himself could do«) und damit überzeitlich; dennoch gelingt es ihm kaum, auch nur eine halbherzige Reform des Theaters zu bewirken. Das Scheitern des Genies ist nicht ohne eine gewisse Peinlichkeit, insbesondere angesichts der nachgerade heroischen Rhetorik, mit der Guthrie seine Bemühungen beschreibt: »He improved, he embellished, he ennobled it« - veni, vidi, vicil Guthrie nimmt schließlich also doch lieber an, Shakespeare habe diese Reform »nicht wirklich« versucht. Wenn der Dramatiker sich in der Bezogenheit auf sein Publikum einerseits als etwas anderes als ein aus dem gesellschaftlichen Kontext losgelöstes Naturgenie zu erkennen gibt, so ent-

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Guthrie, Essay Upon English Tragedy, S. 9f.

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spricht er andererseits auch nicht der neoklassizistischen Idealvorstellung eines Autors: Die Beziehung zwischen Shakespeare und seinen Zuschauern ist keine didaktische, sondern eine kommerzielle. Dass Guthrie diesen Umstand durchaus auch unter ethischen (und nicht nur unter ästhetischen) Aspekten betrachtet, zeigt seine Wortwahl: Chastity, luxury und wanton erinnern an die Rhetorik der Puritaner. Hinsichtlich der Eingebundenheit Shakespeares in ein kommerziell orientiertes Volkstheater können sich nur wenige Kritiker des 18. Jahrhunderts zu einer so nüchternen Sichtweise wie Thomas Warton durchringen: »Shakespeare's aim was to collect an audience, and for this purpose all the common expedients were necessary. No dramatic writer of his age has more battles or ghosts. His representations abound with the usual appendages of mechanical terror, and he adopts all the superstitions of the theatre.« 57 Für den Großteil der Zeitgenossen war die Vorstellung eines primär als literarischer Unternehmer agierenden Shakespeares inakzeptabel; die Abhängigkeit von den frühneuzeitlichen Theaterbesuchern wurde zwar wieder und wieder zur Entschuldigung »schwacher« Passagen herangezogen, durfte andererseits jedoch nicht überbetont werden, da dies mit Shakespeares Erhebung zum kulturellen Identifikationsobjekt kaum zu vereinbaren gewesen wäre. Diesem Dilemma wurde in unterschiedlicher Art und Weise begegnet. Eine Möglichkeit bestand zunächst darin, Shakespeares Fähigkeit zur Anpassung an den Geschmack seines Publikums als Teil seines Genies zu werten: [The supernatural elements in Macbeth] did not in the least over burthen the Credulity of his Audience. [...] I do not doubt but the Scenes of Enchantment were thought by himself and his Audience very awful and affecting. Through all the Scenes of Inchantment [sic] it is observable that Shakespeare has selected his infernal Ceremonies with the utmost Judgment. He artfully conforms to vulgar Opinions and Traditions [,..]. 58

Shakespeare und sein ursprüngliches Publikum unterscheiden sich in ihrem »Aberglauben« hier zunächst kaum voneinander: »Scenes of Enchantment were thought by himself and his Audience very awful and affecting.« Dennoch wird nicht von einer kompletten Determinierung des Dramatikers durch sein historisch-soziales Umfeld ausgegangen, impliziert die Vorstellung der artful conformity doch trotz der bewussten Orientierung am Volksglauben eine diesem übergeordnete Stufe der Erkenntnis bzw. der Aufklärung: »Vulgär [meine Hervorhebung] Opinions and Traditions« - auch hier wird das elisabethanische Theaterpublikum eindeutig als Unterschichtpublikum klassifiziert - werden als solche erkannt, jedoch nicht verurteilt. Die Mehrheit der Kritiker des 18. Jahrhunderts konzipiert die Beziehung zwischen Shakespeare und seinen ursprünglichen Zuschauern jedoch als wesentlich weniger harmonisch und versucht stattdessen, den »Barden« aus dem als Wirtschaftsraum verstandenen elisabethanischen Theater zu isolieren. Da diese Isolation aufgrund der apologetischen Funktion des Publikums für Shakespeares Normverstöße keine totale sein kann, wird meist in einer etwas abgemilderten Variante von einer emotional-

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Thomas Warton: The History of English Poetry, from the Close of the Eleventh to the Commencement of the Eighteenth Century. Volume ΙΠ London 1781, S. 361f. Arthur Murphy im Gray's-Inn Journal No. 8 (17. November 1753). Zitiert nach Brian Vickers: Shakespeare. The Critical Heritage. Vol. 4: 1753-1765. London / Boston 1976, S. 84-109. Hier: S. 85ff.

kognitiven Dissoziation des Dramatikers von der Bühne ausgegangen: Für Rowe ist »a disgust he had taken at the then ill taste of the Town, and the mean condition of the Stage« 59 der Grund für Shakespeares Rückzug nach Stratford am Ende seiner Karriere; Montagu sieht eine abschätzige Beurteilung des Publikums für die Gesamtheit der Renaissance-Dramatiker als erwiesen an. 60 Wenn der negative Einfluss des frühneuzeitlichen Publikums auf Shakespeare für die Mehrheit der Kritiker des 17. und 18. Jahrhunderts axiomatischen Charakter hat, so finden sich doch auch abweichende Meinungen, so zum Beispiel die, dass der Grund für Shakespeares »schwache« Passagen nicht in der Abhängigkeit von der großen Masse, sondern in der Angewiesenheit auf einen patron zu suchen sei - im Falle Shakespeares auf James I.: »One could wish that Shakespeare was as free from flattery as Sophocles and Euripides. But our liberty was then in its dawn, so that some pieces of flattery which we find in Shakespeare must be ascribed to the times.« 61 Upton, der sich hier einen unabhängigeren Shakespeare wünscht, verbindet im übrigen in seinen Critical Observations das Lob Shakespeares in paradigmatischer Weise mit einem ausgeprägten antifranzösischen Impuls, der sich sowohl gegen die Regelpoetik als auch gegen die effeminate manner der französischen Kultur wendet. Vor diesem nationalistischen Hintergrund nimmt er eine äußerst positive Einschätzung des elisabethanischen Zeitalters vor: Das Moment der Abgrenzung gegen Frankreich überwiegt gegenüber dem Moment der historischen Abgrenzung gegen die Epoche des Bürgerkriegs. Entsprechend stellt Upton auch das elisabethanische Publikum dar: Die überzüchtete Hofkultur unter James I. ist für gelegentliche Lapsus Shakespeares verantwortlich und markiert den Beginn des Niedergangs einer genuin englischen Kultur62, an dem das in den öffentlichen Theatern versammelte »Volk« gerade nicht die Schuld trägt.

59 60 61

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Rowe, Some Account, S. 7. Montagu, Essay on the Writings and Genius of Shakespeare; S. 20 John Upton: Critical Observations on Shakespeare [2nd Ed. 1748]. Zitiert nach Brian Vickers: Shakespeare. The Critical Heritage. Vol. 3: 1733-1752. London / Boston 1975, S. 290-323. Hier: S. 299. Auch Gentleman vermutet - allerdings im Zusammenhang mit der Verwendung übernatürlicher Elemente - den Versuch der Umschmeichlung James I., der an die heilenden Kräfte seiner Hände glaubte. Vgl. dazu Francis Gentleman: The Dramatic Censor; or, Critical Companion [1770]. Zitiert nach Brian Vickers: Shakespeare. The Critical Heritage. Vol. 5: 1765-1774. London / Boston 1979, S. 373^109. Hier: S. 384. Uptons Darstellung der geschichtlichen Entwicklung seit der Zeit Elisabeths ist dabei direkt konträr zu dem von der Mehrheit der Kritiker vertretenen Fortschrittsmodell: »[Shakespeare] was bred in a learned age, when even the court ladies learnt Greek, and the Queen of England among scholars had the reputation of being a scholar. Whether her successor had equal learning and sense is not material to be at present enquir'd into; but thus far is certain, that letters, even then, stood in some rank of praise. Happy for us that our poet and Johnson came into life so early, that they lived not in an age when not only their art but every thing else that had wit and elegance began to be despised, 'till the minds of the people came to be disposed for all that hypocrisy, nonsense, and superstitious fanaticism which soon after like a deluge overwhelmed this nation. 'Twere to be wished that with our restored king some of that taste of literature had been restored which we enjoyed in the days of Queen Elizabeth. But when we brought home our frenchified king we did then, and have even to this day continued to, bring from France our models not only of letters but (O shame to free bom Englishmen!) of morals and manners. Hence every thing, unless of French extraction, appears aukward [sic] and antiquated.« Critical Observations, 51

Uptons positive Einschätzung des elisabethanischen Zeitalters ist in der Kritik des 18. Jahrhunderts kein Einzelfall. Das »Nationale« an Shakespeare wird aber, anders als bei Upton, in der überwiegenden Zahl der Fälle sozial restriktiv definiert, d.h. Shakespeare wird zwar als National-, nicht jedoch gleichzeitig auch als Volksdramatiker gesehen. Das als sozial heterogen oder niedrigstehend beschriebene Theaterpublikum bleibt klar negativ besetzt. Shakespeares Tribut an den Geschmack seiner Zeitgenossen wird entsprechend gerade im Zusammenhang mit der Vorstellung eines Unterschichtpublikums von der Mehrheit der Kritiker als sacrifice of virtue to convenience63 bzw. sacrifice of judgment to profit64 verurteilt. Montagus mangelnde Nachsicht bezüglich dieser »Zugeständnisse« ist repräsentativ: Shakespeare is never more worthy of the true critic's censure, than in those instances, in which he complies with [a] false pomp of manner. It was pardonable in a man of his rank, not to be more polite and delicate than his contemporaries; but we cannot so easily excuse such superiority of talents for stooping to any affectation. 65

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum die Konstruktion eines Shakespeares, der aus finanziellen Interessen oder aus Bequemlichkeit sein überlegenes Urteil zugunsten des Publikumsgeschmacks zurückstellt, von der Mehrheit der Kritiker der Vorstellung vorgezogen wurde, dass Shakespeare und sein Publikum letzten Endes nicht sauber zu trennen sind, d.h. dass beide demselben historischen Bezugsrahmen und damit letztlich auch demselben Wertesystem angehören. Zunächst handelt es sich hier insofern um einen grundlegenden Mechanismus kultureller Aneignung, als Shakespeares Urteil implizit mit dem eigenen gleichgesetzt wird. Der derart nostrifizierte »Barde« bürgt so für die transhistorische Richtigkeit der Wertmaßstäbe des späten 17. und des 18. Jahrhunderts. Damit wird die eigene Identität gegen die Anfechtung durch den historischen Relativismus abgesichert, denn wenn Shakespeare wider besseres Wissen handelt statt nach seinen eigenen Normen, dann ist dieses »bessere Wissen« (auch wenn es zunächst nicht in die Praxis umgesetzt wird) als Fundament des eigenen Selbstbildes nicht gefährdet. Weiterhin ist die Vorstellung von einem publikumsfeindlichen Shakespeare, dessen Genie durch das Theater und die mit der Bühne assoziierte Volkskultur eher gehemmt als gefördert wird, integraler Bestandteil eines größeren Prozesses, der sich zur selben Zeit ähnlich auch in den Editionen abspielt: [T]he growth of a literary and scholarly tradition of Shakespearean editing independent of a dramatic tradition, embodying a concern for the values of the printed book as against oral

63

64 65

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S. 290f. Eine derartige Einschätzung des elisabethanischen Zeitalters findet sich nicht nur bei Upton: Stubbes, Remarks on the Tragedy of Hamlet, lobt die »virtuous Plainness of our Fore-fathers« (S. 56); ähnlich auch Nicolas Rowe: Prologue to The Tragedy of Jane Shore [1714], Edited by Harry William Pedicord. Lincoln / Nebr. 1975, S. 9: »Their [the Elizabethans] words no shuffling, double-meaning knew, / their speech was homely, and their hearts were true. / In such an age, immortal Shakespeare wrote, / By no quaint rules or hampering critics taught.« Johnson, Preface, S. 123. Johnson urteilt in diesem Zusammenhang: »This fault the barbarity of his age cannot extenuate, for it is always a writer's duty to make the world better, and justice is a virtue independent on time and place.« Capell, Notes and Various Readings to Shakespeare, S 71. Montagu, Essay on the Writings and Genius of Shakespeare, S. 286.

tradition and the spoken word [is a major eighteenth-century development]. This concern is humanist and, arguably, Protestant. It celebrates Shakespeare as a literary hero, as an English literary classic, as a poet: a poet whom critics and scholars wished to see as an embodiment of natural genius, a brilliant individual, rather than as a social function. It sees his plays as constituting a body of literary work, within a literary context, recoverable and interpretable by the scholarly study of that context. 66

Dieses Phänomen ist kein ausschließlich literarisches bzw. philologisches - seine Implikationen sind sozial und politisch. Wenn die frühneuzeitlichen Theaterbesucher explizit oder implizit als lower class beschrieben werden, dann macht dies deutlich, dass mit der Loslösung Shakespeares aus dem Theater eine Vereinnahmung des Dramatikers für bestimmte gesellschaftlich dominante Schichten einhergeht, gerade auch unter dem Gesichtspunkt, dass Volkskultur und die hier angeführte mündliche Kultur oft weitgehend deckungsgleich sind. Die von Shakespeare verkörperte »Nationalkultur« ist keineswegs von vornherein homogen zu denken; ihre Ausformung spiegelt innergesellschaftliche Machtstrukturen wider. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass mit der Ikonifizierung Shakespeares eine immer größere Monopolisierung der Auslegungskompetenz über den Autor einhergeht: Die Deutung des Dramatikers wird zunehmend aus dem Theater heraus (wo der Interpretationsbeitrag der Zuschauer unabdingbar ist) in den Bereich kritischer Analyse und Exegese verlegt. Während sie Shakespeare also einerseits zum Autorgott stilisiert, der sich letztlich - wenn überhaupt - nur dem Schriftgelehrten erschließt, konstruiert die Shakespearekritik andererseits im Zusammenhang mit der historischen Apologie einen Dramatiker, der »Zugeständnisse« an das elisabethanische Theaterpublikum machen muss, dem die Autorität über seine eigene Produktion also letzten Endes verwehrt bleibt, bzw. der aus Gründen des Profits oder der Bequemlichkeit freiwillig auf sie verzichtet. Bedeutungsentscheidende Instanz für sein Werk ist Shakespeare also nur dann, wenn er sich an die überhaupt erst im Zusammenhang des Shakespearediskurses entworfenen Prämissen des Autor-Genies hält, in allen übrigen Fällen, insbesondere im Fall der (ja immer nur präsupponierten) pragmatischen Entscheidung zugunsten eines »volkstümlichen« Theaters und seiner Besucher wird ihm diese abgesprochen.

3.4 Topos und historische Kritik Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wird die apologetische Funktionalisierung des elisabethanischen Publikums zum Topos. Wenn bereits in den frühen Stadien der Shakespearekritik die Widerständigkeiten des Shakespeareschen Werks durch den Verweis auf die »barbarische« Renaissance bzw. die ebenso barbarischen Theaterbesucher mit bemerkenswerter Leichtigkeit wegerklärt werden, so ist die historische Apologie schon zu Anfang des 18. Jahrhunderts derart gängig, dass sie Eingang in Bereiche des Shakespearediskurses findet, die kaum noch im engeren Sinne als Literaturkritik zu bezeichnen sind. So reimt beispielsweise Elijah Fenton:

66

Marcus Walsh: Shakespeare, Milton, and Eighteenth-century Literary Editing. The Beginnings of Interpretative Scholarship. Cambridge 1997, S. 124.

53

Shakespeare the Genius of our Isle, whose Mind The universal Mirror of Mankind Express'd all Images, enrich'd the Stage But stoop'd too low to please a barb'rous Age. When his Immortal Bays began to grow Rude was the Language, and the Humour Low. He, like the God of Day, was always bright, But rolling in its Course, his Orb of Light Was sully'd and obscur'd, tho soaring high, With Spots contracted from the nether Sky. But whither is th'advent'rous Muse betray'd? Forgive her Rashness, venerable Shade! May Spring with Purple Flow'rs perfume thy Urn, And Avon with his Greens thy Grave adorn. Be all thy Faults, whatever Faults there be, Imputed to the Times, and not to Thee. 67 Während die Argumentation mit den elisabethanischen Theaterbesuchern zunehmend z u m T o p o s wird, verliert die A n f e c h t u n g , die die Regelpoetik für Shakespeares Werk darstellt, an Schlagkraft. 6 8 A n z e i c h e n dafür finden sich bereits in Theobalds Vorwort zu seiner Shakespeare-Ausgabe v o n 1733, w o der übliche V e r w e i s auf die »unkulivierte« Renaissance zwar nicht fehlt, aber in durchaus abgemilderter Form erfolgt: The Genius that gives us the greatest Pleasure, sometimes stands in Need of our Indulgence. Whenever this happens with regard to Shakespeare I would willingly impute it to a Vice of his Times. We see complaisance enough, in our Days, paid to a bad Taste. So that his Clinches, false Wit, and descending beneath himself, may have proceeded from a Deference paid to the then reigning Barbarism,m In

den

folgenden

Ausführungen

Shakespearescher faults

räumt

Theobald

dem

üblichen

Katalog

kaum Raum ein; auch nimmt die Erwähnung der ge-

schmacklichen V e r f e h l u n g e n der e i g e n e n Zeit der negativen Einschätzung des elisa-

67

Elijah Fenton: An Epistle to Mr. Southerne, From Kent, January 28, 1711. Zitiert nach Brian Vickers: Shakespeare. The Critical Heritage. Vol. 2: 1693-1733. London / Boston 1974, S. 265f. Ein Beispiel für diesen Vorgang findet sich u.a. auch bei George Colman, der die historische Apologie in Form eines »Traumes« ausdrückt: Schlechte Dichtung soll in diesem Traum Apollo und den Musen geopfert werden, wobei die Neoklassizisten den Priestern assistieren wollen, von diesen aber indigniert abgelehnt werden. Die Dichter verschiedener Epochen treten dann einzeln vor. »SHAKESPEARE carried to the altar a long string of puns, marked >The Taste of the Agethat although SHAKESPEARE was quite ignorant of that exact oeconomy [sic] of the stage which is so remarkable in the Greek writers, yet the meer strength of his genius had in many points carried him infinitely beyond them.«< In: The Adventurer 90 (15. 9. 1753). Zitiert nach Brian Vickers: Shakespeare. The Critical Heritage. Vol. 4: 1753-1765. London / Boston 1976, S. 56-59. Hier: S. 59.

68

Prior: The Elizabethan Audience and the Play of Shakespeare, S. 107-109. Lewis Theobald: [Preface to Edition of Shakespeare] [1733]. In: David Nichol Smith (Hg.): Eighteenth Century Essays on Shakespeare. New York 1962, S. 63-91. Hier: S. 73.

69

54

bethanischen Zeitalters viel von ihrer Schärfe: Theobald proklamiert nur noch einen graduellen Fortschritt seiner eigenen Gegenwart, nicht mehr, wie z.B. noch Dryden, eine totale Dissoziation von der »barbarischen« Vergangenheit. Diese Entwicklung setzt sich bei Johnson fort: [Shakespeare's] plots, whether historical or fabulous, are always crouded with incidents, by which the attention of a rude people was more easily caught then by sentiment or argumentation; and such is the power of the marvellous even over those who despise it, that every man finds his mind more strongly seized by Shakespeare than of any other writer; others please us by particular speeches, but he always makes us anxious for the event, and has perhaps excelled all but Homer in securing the first purpose of a writer, by exciting restless and unquenchable curiosity and compelling him that reads [!] his work to read it through.70

Oberflächlich betrachtet wird die herkömmliche Sichtweise der Shakespeareschen »Mängel« und entsprechend auch des frühneuzeitlichen Publikums zunächst beibehalten. Mit der Erwähnung Homers und dem Hinweis, dass Shakespeare »the first purpose of a writer« in exemplarischer Weise erfüllt habe, wird dem »Barden« und seinen Dramen aber unabhängig von den Anforderungen der Regelpoetik ein Eigenwert zugestanden. Ähnlich rehabilitiert wird implizit auch das elisabethanische Publikum: Da die Reaktionen, die das Shakespearesche Drama hervorruft, sich seit der frühen Neuzeit kaum verändert haben, rücken die Theaterbesucher der Renaissance in deutliche Nähe zum transhistorischen, »idealen« Publikum, wie es der Neoklassizismus konzipiert. 71 Während das Gros der Shakespeare-Apologeten bei den poetischen Regeln ansetzt und Shakespeares Verstöße gegen sie in Zusammenhang mit einem entsprechend unkultiviert konzipierten Publikum setzt, geht Johnson umgekehrt vor: Sein Ansatzpunkt ist Shakespeares andauernder Erfolg über die Zeiten hinweg, und dieser Erfolg relativiert den Geltungsanspruch der Regelpoetik. Er setzt sie außer Kraft bzw. verweist sie auf eine untergeordnete Ebene. Das (überzeitliche) Publikum ist die Instanz, die über die Reputation eines Autors entscheidet. Gegen Ende des Jahrhunderts schließlich werden die neoklassizistischen Einwände gegen Shakespeare fast zur Nebensächlichkeit. Gleichzeitig aber, und das ist für die Weiterentwicklung des Diskurses über Shakespeares elisabethanisches Publikum von entscheidender Bedeutung, wird die konventionelle Erklärung für die Existenz anstößiger Passagen durchaus beibehalten. So schreibt etwa Sherlock über die Totengräberszene in Hamlet: »For this single scene which takes up eight minutes in representation, the enlightened critics of this age have condemned ten volumes of the plays of Shakespeare. The master of Shakespeare and Moliere was the people, a foolish and fantastic monster.« 72 Die Zugeständnisse an ein unkultiviertes Unterschichtpublikum bleiben eine historische »Tatsache«, obwohl mit der Wendung gegen den Neoklassizismus der ursprüngliche Anlass für die Entstehung der historischen Apologie entfällt. Dass sich gerade an den Shakespeare-Editionen des 18. Jahrhunderts besonders gut nachvollziehen lässt, wie die apologetische Funktionalisierung des elisabethani-

70 71 72

Johnson, Preface, S. 83. Prior, The Elizabethan Audience and the Plays of Shakespeare, S. 108. Martin Sherlock: A Fragment on Shakespeare. London 1786, S. 36f.

55

sehen Publikums v o m »echten« Argument z u m T o p o s wird, ist kein Zufall. Z w i schen der A u s g a b e Popes, die den Shakespeareschen Text an z e i t g e n ö s s i s c h e ästhetische Vorstellungen anzugleichen versucht, und der Edition M a l o n e s , die den Text auch und vor allem in seiner Eigenschaft als historisches D o k u m e n t würdigt, spielt sich ein für die weitere Entwicklung der Shakespearekritik s o w i e der ShakespeareA u s g a b e n entscheidender V o r g a n g ab. M a l o n e s Edition unterscheidet sich insofern von den vorhergehenden, als sie die Vergangenheit nicht mehr als gewissermaßen amorphe M a s s e behandelt, sondern eine » E p o c h e Shakespeares« isoliert. D e s s e n Normverstöße werden entsprechend nicht mehr als » U n g l ü c k der frühen Geburt« erklärt, sondern als die -

i n z w i s c h e n überholten -

K o n v e n t i o n e n einer anderen

Zeit. 7 3 W i e D e Grazia darlegt, hat dieser historische Relativismus allerdings relativ e n g gesteckte Grenzen: Malone's invocation of a discrete Shakespearean age appears an overdue advance over his predecessor's homogenization of the past. His historicism made Shakespeare's past an object of study separate from the subject studying it, an object that resided not in continuing discourse, practices, and institutions but rather in inert archives, records and documents. To experience that remote object it was necessary to suspend present standards [...]. [...] Yet the prescribed change had its limits. While the past age was credited with characteristic »manners, and habits, and prejudices«, it was not deemed to have »judgment« or »reason« of its own: while particulars may have shifted with the times, universale remained constant. [...] Practices which could not be brought within the confines of rationality and decency were explained by an appeal to the inexplicable usage and custom of the times, the historically contingent served as a repository for anything that fell outside the pale of the selfevidently true and right. Thus, while salvaging the past differences that his own universal standards could not comprehend, Malone's historicism still permitted those standards to appear universally valid. 74 M a l o n e unterscheidet sich also letztendlich darin v o n seinen Vorgängern, dass seine historischen Erklärungsmuster die Vergangenheit nicht mehr ausschließlich

- aber

eben weiterhin durchaus auch - zu apologetischen Z w e c k e n bemühen. W e n n er die Shakespearezeit nicht v o n vorneherein als rückständig, sondern zunächst (aber nicht unbedingt stattdessen) als untersuchungsbedürftig behandelt, s o schöpft er dabei k e i n e s w e g s aus d e m Nichts. S c h o n 1756 hatte Samuel Johnson konstatiert: When a writer outlives his contemporaries, and remains almost the only unforgotten name of a distant time, he is necessarily obscure. Every age has its modes of speech and its cast of thought; which, though easily explained when there are many books to be compared with each other, become sometimes unintelligible and always difficult when there are no parallel passages that may conduce to their illustration. Shakespeare is the first considerable authour [sic] of sublime or familiar dialogue in our language. Of the books which he read, and from which he formed his stile, some perhaps have perished, and the rest are neglected. His imitations are therefore unnoted, his allusions are undiscovered, and many beauties, both of pleasantry and greatness, are lost with the objects to which they were united, as the figures vanish when the canvas has decayed. It is the great excellence of Shakespeare, that he drew his scenes from nature, and from life. He copied the manners of the world then passing before him, and has more allusions than other poets to the traditions

73

74

56

Margreta De Grazia: Shakespeare Verbatim. The Reproduction of Authenticity and the 1790 Apparatus. Oxford 1991, S. 115f. De Grazia, Shakespeare Verbatim, S. 128f.

and superstitions of the vulgar; which must therefore be traced before he can be understood. Bezüglich des elisabethanischen Publikums bringen Johnsons Ausführungen eine Widersprüchlichkeit zum Ausdruck, die De Grazia bei Malone im Umgang mit dem elisabethanischen Zeitalter als ganzem feststellt: Die Tatsache, dass Shakespeares historische Schaffensbedingungen erheblich zum Verständnis des Werks beitragen können, zieht eine Anerkennung des Eigenwerts dieser Bedingungen unabhängig von den Standards der eigenen Gegenwart nicht oder nur in sehr eingeschränktem Maße nach sich. Wie die weitaus überwiegende Mehrheit seiner Zeitgenossen betrachtet auch Johnson Shakespeares ursprüngliche Zuschauer als unkultivierte Unterschichtler (»the vulgar«). Gleichzeitig sind aber genau diese Bevölkerungsschichten nun unerlässlich für das Shakespeareverständnis, (»the traditions and superstitions of the vulgar [...] must [...] be traced before he can be understood«). Es ergibt sich also ein Paradoxon, das De Grazia ähnlich auch bei Malone konstatiert: In der Erklärung wird ein historischer Relativismus bemüht, während in der Bewertung gleichzeitig ein historischer Absolutismus beibehalten wird. Im Falle des elisabethanischen Theaterpublikums führt dies zum Fortleben eines aus einer historischen Apologie stammenden Topos innerhalb eines philologischen Verfahrens, das eine apologetische Funktionalisierung der Geschichte an sich nicht mehr zulässt. Mit dem Aufkommen des Konzepts der historischen Authentizität ist die Verwendung der Renaissance als Kontrastfolie zur eigenen Gegenwart und damit als Erklärung für die »Verfehlungen« Shakespeares wesentlich problematischer als zuvor. Der Topos vom elisabethanischen (Unterschicht-) Publikum erfüllt bei der Konstruktion Shakespeares als kultureller Identifikationsfigur aber offensichtlich so grundlegende Funktionen, dass seine Geschichte mit dem Ende des 18. Jahrhunderts nicht aufhört, sondern erst anfängt.

75

Samuel Johnson: Proposals For Printing, by Subscription, the Dramatick Works of William Shakespeare, Corrected and Illustrated by Samuel Johnson. London, June 1, 1756. In: Ders.: The Yale Edition of the Works of Samuel Johnson. Volume VE: Johnson on Shakespeare. New Haven / London 1968, S. 51-58. Hier: S. 52f. 57

4.

»No man of genius ever wrote for the mob«: Das elisabethanische Publikum in der romantischen Shakespearekritik

4.1 The road not taken W a s den Begriff der Literatur und das K o n z e p t des Autors angeht, verändert die »romantische R e v o l u t i o n « nicht nur als literarisches, sondern auch als literaturkritisches P h ä n o m e n die Argumentationssituation b e z ü g l i c h der Theaterbesucher der frühen N e u z e i t erheblich - zumindest theoretisch. Bemerkenswert ist allein schon die Tatsache, dass der T o p o s v o m elisabethanischen Publikum nicht v ö l l i g obsolet wird, denn mit der nachdrücklichen A b w e n d u n g der Romantiker v o n der R e g e l p o e tik entfällt einer der wesentlichen Gründe für das Entstehen der historischen A p o l o gie. E i n e Verteidigung Shakespeares g e g e n neoklassizistische Vorbehalte war an sich nicht mehr nötig: [...] [W]ith the elimination, in the minds at least of some, of the compelling validity of the neoclassical rules about plays, it was possible to talk about the art of Shakespeare without apology. The appearance, during the later years of the century, of special studies and works of scholarship, as distinct from discussions of the problem of Shakespeare and general characterizations of his genius, is illustrative of the possibilities opened by these critical developments. That many of the critical studies had to do with the characters of the plays may be a consequence of those defenses of Shakespeare which, as in the case of Dryden and Johnson, shifted the emphasis from the formal conventions to the »imitation of humour and passions« or of »general nature« as the grand rule and the ultimate excellence. [...] If the critics of the nineteenth century failed, therefore, to remind their readers of the lowness of Shakespeare's audience, it was not because they were unfamiliar with the previous century's concern with it. The character of their criticism rendered it incongruous. 1 Grundlegende Kontinuitäten z w i s c h e n den romantischen Shakespearekritikern 2 und ihren Vorgängern sind in der Tat nicht v o n der Hand zu weisen: Selbst in den un-

Prior, The Elizabethan Audience and the Plays of Shakespeare, S. 109f. Mit den »romantischen Shakespearekritikern« sind Coleridge, Hazlitt, Lamb sowie ferner De Quincey, Wordsworth und Southey gemeint. Durch die Fokussierung auf die kanonisierten Texte soll allerdings nicht der Eindruck erweckt werden, dass die romantische Kritik zu ihrer Zeit das einzige bzw. auch nur das dominante Paradigma im Umgang mit Shakespeare gewesen wäre - eine Vorstellung, die oft noch dadurch befördert wird, dass im Vergleich zum 18. Jahrhundert eine »Tiefendimension« fehlt: Es gibt keine minor Romantic Shakespeare critics in dem Sinne, wie es minor neoclassicist critics gibt - wohl aber minor critics, die keinen »romantischen« Ansatz verfolgen. Die romantische Kritik stellt eine Auffächerung des Shakespearediskurses an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert dar. Solange ihre Eingebettetheit in die Gesamtheit des Diskurses im Auge behalten wird, ist eine Abhandlung als separate Entität jedoch nicht nur legitim, sondern angezeigt. Dies steht vor allem mit der enormen Nachwirkung der Romantiker in Zusammenhang: Der romantische Zugang zu Shakespeare ist wegweisend nicht nur für das Shakes59

verwässertsten Ausprägungen des faults-and-beauties-Ansaizes findet sich ein einhelliges Lob der Charakterisierungskunst Shakespeares, so dass die Konzentration auf die Bühnenpersonen, die häufig als eines der wesentlichen Kennzeichen romantischer Shakespearekritik angeführt wird, kaum eine echte Neuerung darstellt. Der Übergang ist nicht nur in dieser Hinsicht ein gradueller: »The shift from Johnson to Coleridge, from classic to Romantic, is not a matter of condemnation giving way to commendation but of the great exception becoming the great exemplum.« 3 Das Shakespearesche Werk ist in der Romantik - anders als im Neoklassizismus nicht mit einer bereits existenten, normativen Vorstellung von Literatur konfrontiert, sondern wesentlich in die Entstehung und Ausformung eines neuen Konzepts eingebunden. Diese neue Konzeption wiederum ist in mehrerlei Hinsicht ohne die im 18. Jahrhundert gelegten Grundlagen nicht denkbar: Like the movement in which it plays so large a part, the Romantic approach to Shakespeare has its roots deep in the eighteenth century. Those critics and aestheticians of the second half of the eighteenth century who laid the groundwork for the Romantics by exploring the creative power imagination turned again and again to Shakespeare for examples of that power. The rise of Romanticism and the growth of Shakespeare idolatry are parallel phenomena. 4

Die gegenseitige Beeinflussung von Shakespearerezeption und literarischer Romantik beschränkt sich jedoch nicht auf den Bereich des Autorkults. Shakespeare ist für zahlreiche romantische Dichter ein bedeutender Einfluss; darüber hinaus haben während des 18. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit Shakespeare formulierte Konzepte wesentliche Auswirkungen auf die Herausbildung einer spezifisch romantischen Literaturtheorie - nach deren Vorgaben dann wiederum das Shakespearebild modifiziert wird: In the Romantic period, the impact of Shakespeare played a large role in the newly emerging definition of »literature«, and in turn this new conception of literature led to a theoretical remaking of Shakespeare. Difficulties, challenges to understanding, that had once been condemned as obscurity, were newly praised as deep meaning. Four emphases seem most important: the shift from stage to page; the shift from judgement to interpretation; the changed character of mimesis, by which the work becomes a resource of learning; and the tendency to understand what is learned as involving »uniqueness«, a particularity.5

Wenn Arac von »the shift from stage to page« spricht, dann ist damit nicht nur eine empirische Entwicklung beschrieben, sondern durchaus auch eine wertende Haltung: Die Romantiker verlegen sich in ihrer literarischen Produktion nicht nur selbst weitgehend auf nicht-dramatische Genres, sondern bringen vielfach und nachdrück-

3 4 5

60

pearebild des Viktorianismus, sondern legt darüber hinaus den Grundstein für Analysen und Interpretationen des Shakespeareschen Werkes, wie sie auch heute noch zu finden sind. Auch in ihren weniger rationalen Aspekten - die bardolatry erreicht ein neues Maß an Intensität - trägt die romantische Shakespearerezeption wesentlich zur weiteren Ikonifizierung des »Barden« bei. Jonathan Bate: Shakespeare and the English Romantic Imagination. Oxford 1986, S. 8. Bate, Shakespeare and the English Romantic Imagination, S. 6. Jonathan Arac: The impact of Shakespeare. In: The Cambridge History of Literary Criticism. Volume 5: Romanticism. Edited by Marshall Brown. Cambridge 2000, S. 272-295. Hier: S. 281.

lieh eine A b n e i g u n g g e g e n die B ü h n e z u m Ausdruck, und zwar nicht nur g e g e n die ihrer e i g e n e n Gegenwart, sondern g e g e n das Theater ganz generell. D i e s betraf auch und vor allem Shakespeare. Lamb etwa postuliert: It may seem a paradox, but I cannot help being of opinion that the plays of Shakespeare are less calculated for performance on a stage, than those of almost any other dramatist whatever. Their distinguished excellence is a reason that they should be so. There is so much in them, which comes not under the province of acting, with which eye, and tone, and gesture, have nothing to do. 6 D i e Wiedergabe der dichterischen V i s i o n auf d e m Theater bleibt also notwendigerw e i s e unvollständig, w a s die B ü h n e insbesondere angesichts der romantischen Überhöhung der Autorpersönlichkeit in ein schlechtes Licht rückt. Nicht zuletzt deshalb g e b e n die Romantiker d e m geschriebenen Wort den Vorzug: Books abstract, impersonalize, idealize; what had been an interaction between a cast and an audience became instead a kind of message left by an untrenchable author for any and all possible readers. The text became a thing, a perfect timeless thing, and any attempt to transform it back into an action came to be regarded as a transgression; any actualisation diminishes the ideal by confining it to a particular time and place and person. 7 Allerdings ist ein g e w i s s e r Widerspruch z w i s c h e n romantischer Autorkonzeption und der Kommunikationssituation i m Theater w o h l nicht der ausschließliche Grund für die A v e r s i o n g e g e n die Bühne. H ä u f i g angeführt werden daneben auch die A u s stattungsexzesse in der z e i t g e n ö s s i s c h e n Theaterpraxis, die für die Romantiker d e m eigentlichen W e s e n des Shakespeareschen Dramas zuwiderlaufen. 8 Außerdem wird die W e n d u n g g e g e n das Theater auch damit erklärt, dass d i e s e s nach Ansicht der Romantiker das imaginative Potential der Zuschauer unterdrücke: »The romantics feel that performance frustrates the audience by making it passive.« 9 Eigentlich verständlich wird die romantische A b w e n d u n g v o n der B ü h n e aber erst vor d e m Hintergrund

weit

längerfristiger Entwicklungen,

die Arac folgendermaßen

be-

schreibt: The shift from stage to page redefines Shakespeare as producing literature to be read rather than drama to be staged, watched and heard. The larger shift in which this is implicated is the long-ongoing definition of a canon of high culture in the vernacular languages. As Greek and Latin became standard for an ever-smaller percentage of the total reading public, a select group of honoured works in the modern literatures played an increasing role as alternatives to commercialized mass culture. [...] Samuel Johnson had defined his high evaluation of Shakespeare in response to the question of what »can please many, and please long«. Shakespeare, it began to seem, offered a »higher«, »deeper«, overall more

6

7 8

9

Charles Lamb: On the tragedies of Shakespeare [1811]. In: Joan Coldwell (Hg.): Charles Lamb on Shakespeare. Gerrards Cross 1978, S. 24-42. Hier: S. 28. Taylor, Reinventing Shakespeare, S. 108. Eine ausführliche Diskussion des Verhältnisses der Romantiker zur Bühne bietet z.B. Frederick Burwick: Shakespeare and the Romantics. In: Duncan Wu (Hg.): A Companion to Romanticism. Oxford 1998, S. 512-519. Zu Coleridge vgl. Μ. Μ. Badawi: Coleridge: Critic of Shakespeare. Cambridge 1973, S. 200f. Janet Ruth Heller: Coleridge, Lamb, Hazlitt and the Reader of Drama. Columbia / London 1990, S. 4. 61

challenging and difficult experience than the term pleasure conveys. The discourse of the sublime was one influential way of conveying Shakespeare's value in a new affective idiom. 10

Die Apostrophierung Shakespeares als »challenging« und »difficult« macht klar, dass die romantische Neukonzeption des »Barden« ihn keineswegs als kulturellen Besitz einer breiten Öffentlichkeit entwirft. Im Gegenteil: Es handelt sich um einen exklusiven Shakespeare, der kontrapunktisch zur Kultur der »Massen « konstruiert wird. In ihrer grundsätzlichen Ablehnung des Theaters reiht sich die Mehrheit der Romantiker in eine literaturkritische Tradition ein, die mindestens bis Rymer zurückreicht. Dieser Umstand kann zunächst, wie Arac dies tut, als Teil einer wesentlich umfassenderen Etablierung eines hochkulturell besetzten Raumes verstanden werden - oder aber, wie bei Bate, als Ausdruck eines typisch romantischen Individualismus: [...] Lamb's reservations about the stage, which Coleridge shared, are symptomatic of a farreaching desire to repossess Shakespeare for the self and to remove him from the political appropriators. Some would praise Coleridge and Lamb for this; others would argue that the Romantics are themselves engaged in a political appropriation in the name of privacy and individualism."

Ob sich die politische Besetzung Shakespeares durch die Romantiker nur darauf beschränkt, ihn für das Private und das Persönliche in Anspruch zu nehmen, erscheint allerdings zweifelhaft. Hervorzuheben ist in jedem Fall, dass die romantische Wendung gegen die Bühne in genau der Tradition steht, in der auch der Topos vom elisabethanischen Unterschichtpublikum als den Verantwortlichen für Shakespeares »Fehler und Mängel« wurzelt. Brisant ist dieser Umstand vor allem deshalb, weil in der (nicht nur englischen, sondern auch europäischen) Romantik gleichzeitig eine Wiederentdeckung und vor allem Neubewertung des (niederen) Volkes und seiner Kultur erfolgt. Insbesondere die erste englische Romantikergeneration definiert ihr literarisches Projekt wesentlich über eine neue Affinität zu den einfachen Leuten: The principal object [...] which I proposed to myself in these Poems was to choose incidents and situations from common life, and to relate or describe them, as far as was possible, in a selection of language really used by men. [...] Low and rustic life was generally chosen, because in that condition, the essential passions of the heart find a better soil in which they can attain their maturity, are less under restraint, and speak a plainer and more emphatic language; because in that condition of life our elementary feelings co-exist in a state of greater simplicity and, consequently, may be more accurately contemplated, and more forcibly communicated; because the manners of rural life germinate from those elementary feelings; and, from the necessary character of rural occupations, are more easily comprehended; and are more durable; and lastly, because in that condition the passions of men are incorporated with the beautiful and permanent forms of nature. The language, too, of these men is adopted (purified indeed from what appear to be its real defects, from all lasting and rational causes of dislike and disgust) because such men hourly communicate with the best objects from which the best part of language is originally derived; and because, from their rank in society and the sameness and narrow circle of their intercourse,

10 11

62

Arac, The impact of Shakespeare, S. 281. Jonathan Bate: Shakespearean Constitutions. Politics, Theatre, Criticism Oxford 1989, S. 134.

1730-1830.

being less under the influence of social vanity they convey their feelings and notions in simple and unelaborated expressions. 12

Die im vorhergehenden Kapitel immer wieder herausgestellte potentielle Deckungsgleichheit zwischen dem »Naturhaften« der Genieästhetik und den von der Zivilisation vergleichsweise wenig berührten unteren sozialen Schichten wird hier programmatisch zum Ausgangspunkt einer neuen Literatur erhoben. Nicht nur wegen der endgültigen Wendung gegen die Regelpoetik, sondern insbesondere auch aufgrund dieser positiven Sicht auf das einfache Volk wäre zu erwarten, dass die Vorstellung von Shakespeares elisabethanischem Publikum in ihrer bislang etablierten Form für die Romantiker obsolet wird. Wenn Prior den Topos des unkultivierten frühneuzeitlichen Theaterbesuchers bezüglich der romantischen Shakespearekritik als Leerstelle bezeichnet, als conspicuous absence, dann beschreibt er damit die logische Konsequenz der Abwendung vom Neoklassizismus - allerdings auch hier wieder nur in der Theorie. Wird die »Beurteilung« des literarischen Werkes durch seine Interpretation ersetzt, treten die Individualität des Autors und seines Schaffens in den Mittelpunkt des Interesses, dann erklärt das, warum die »Schwächen« des Shakespeareschen Werks, die die neoklassizistische Kritik mit Hinweis auf das elisabethanische Theaterpublikum entschuldigt hatte, nun kaum oder nur noch sehr eingeschränkt als Mängel wahrgenommen werden. Der Verweis auf die unkultivierten, grobschlächtigen Theaterbesucher der frühen Neuzeit findet sich entsprechend weit weniger häufig als in der Shakespearerezeption der vorhergehenden Epoche aber: Dort, wo er auftaucht, wird er in so gut wie unveränderter Form übernommen. So schreibt etwa Charles Lamb über Richard III.: »Shakespear has not made Richard so black a Monster, as is supposed. Wherever he is monstrous, it was to conform to vulgar opinion. But he is generally a Man.« 13 Ähnlich äußert sich auch Wordsworth: A dramatic Author, if he writes for the stage, must adapt himself to the taste of the audience, or they will not endure him; accordingly the mighty genius of Shakspeare was listened to. [··•] At all events, that Shakspeare stooped to accommodate himself to the People, is sufficiently apparent; and one of the most striking proofs of his almost omnipotent genius, is, that he could turn to such glorious purpose those materials which the prepossessions of the age compelled him to make use of. Yet even this marvellous skill appears not to have been enough to prevent his rivals from having some advantage over him in public estimation; else how can we account for passages and scenes that exist in his works; unless upon a supposition that some of the grossest of them, a fact which in my own mind I have no doubt of, were foisted in by the Players, for the gratification of the many? 14

Gerade vor dem Hintergrund der einleitend zu den Lyrical Ballads so nachdrücklich verkündeten Affinität zum einfachen Volk der eigenen Gegenwart muss Wordsworths Haltung hier verwundern. Gewisse Ambivalenzen sind jedoch bereits dort zu

12

13

14

William Wordsworth: Preface and Appendix to Lyrical Ballads [1800, 1802], In: Ders.: Wordsworth's Literary Criticism. Edited by W. J. B. Owen. London 1974, S. 6 8 - 9 5 . Hier: S. 7Of. Charles Lamb: [On Richard ID.]. In: Charles Lamb on Shakespeare. Edited by Joan Coldwell. Gerrards Cross 1978, S. 18. William Wordworth: Essay, Supplementary to the Preface to The Excursion [1815]. In: Ders.: Wordsworth's Literary Criticism. Edited by W. J. B. Owen. London 1974, S. 192218. Hier: S. 198.

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erkennen: Nicht nur werden »[the] real defects« »und »[the] lasting and rational causes of dislike and disgust« der Sprache des einfachen Volkes erwähnt; darüber hinaus ist für Wordsworth auch Unterschicht nicht gleich Unterschicht: [...] [T]he human mind is capable of being excited without the application of gross and violent stimulants; and he must have a very faint perception of its beauty and dignity who does not know this; and who does not further know, that one being is elevated above another, in proportion as he possesses this capability. It has therefore appeared to me, that to endeavour to produce or enlarge this capability is one of the best services in which, at any period, a Writer can be engaged; but this service, excellent at all times, is especially so at the present day. For a multitude of causes, unknown to former times, are now acting with a combined force to blunt the discriminating powers of the mind, and unfitting it for all voluntary exertion to reduce it to a state of almost savage torpor. The most effective of these causes are the great national events which are daily taking place, and the increasing accumulation of men in cities, where the uniformity of their occupations produces a craving for extraordinary incident, which the rapid communication of intelligence hourly gratifies.15

Das Projekt der Romantik stellt sich zwar einerseits auf die Seite der einfachen Landbevölkerung, wendet sich andererseits aber explizit gegen die urbane Vermassung und insbesondere das die Städte bevölkernde Proletariat (avant la lettre). Die Identifikation mit dem »Volk« ist keineswegs eine generelle Parteinahme für die Unterschicht, sondern ein Eintreten für bestimmte bereits im Verschwinden begriffene vorindustrielle Lebensformen, dem nicht selten etwas Wehmütiges anhaftet. Das Verhältnis der Romantiker zum »Volk« ist zutiefst ambivalent - was sich nicht zuletzt an den Äußerungen über das Shakespearesche Volkstheater und sein Publikum zeigt. Weil Shakespeares »Mängel« nicht mehr als solche wahrgenommen werden, spielen die elisabethanischen Theaterbesucher als Argumentationshilfe für die meisten Romantiker dennoch eine untergeordnete Rolle. Zwei der bedeutendsten Kritiker dieser Phase der Shakespearerezeption setzten sich jedoch ausführlicher mit Shakespeares Zeitgenossen auseinander: Hazlitt und Coleridge. Wenn sie dabei vielfach konträre Positionen beziehen, dann verdeutlicht das nicht nur, dass der Terminus »Romantik« ein Dachbegriff für zum Teil gegenläufige Tendenzen ist. Darüber hinaus wird auch klar, dass Konzeptionen des elisabethanischen Publikums nicht nur auf die für den jeweiligen Kritiker gültigen ästhetischen Standards schließen lassen, sondern darüber hinaus - und vielleicht sogar noch mehr - auf seine politischen Loyalitäten. Die Unterschiede zwischen Hazlitt und Coleridge sind anders kaum zu erklären.

4.2 Jacobin Jacobeans:

Hazlitt

Bei näherer Betrachtung ist es nicht nur erstaunlich, dass die Argumentation mit dem elisabethanischen Publikum die »romantische Revolution« überdauert, sondern auch keineswegs selbstverständlich, dass das Prestige Shakespeares selbst durch die in vielerlei Hinsicht so umstürzlerischen Romantiker nicht nur nicht angetastet,

15

64

Wordworth, Preface to Lyrical Ballads, S. 73.

sondern im Gegenteil noch vermehrt wird. Dies gilt gerade auch für Hazlitt. Unaufhaltsam erscheint diese Entwicklung bestenfalls aus der Sicht der Nachwelt: »Why did a revolution not happen in England?« The question is as important and as obvious as, »Why did one happen in France?« But most literary critics do not ask themselves why Shakespeare stayed on top during the Romantic period, because they assume that he belongs on top, and they assume too that continuity is normal. Inertial motion is, indeed, a large part of the explanation for his continued predominance; his reputation had developed so much momentum that it could have been stopped only by an obstacle or countermovement of enormous force. No such obstacle presented itself; instead, Shakespeare's momentum was accelerated.16

Allerdings ist die Eigendynamik des Phänomens Shakespeare noch keine ausreichende Erklärung für dessen kulturelles »Beharrungsvermögen«, insbesondere nicht angesichts der Tatsache, dass die Romantik eine der wirkungsmächtigsten literarischen Bewegungen überhaupt darstellt, in mancherlei Hinsicht durchaus »a countermovement of enormous force«. Um die Kontinuität des Prestiges Shakespeares über die Romantik hinweg erklären zu können, müssen weitere Faktoren berücksichtigt werden. Einer davon ist zunächst die Einbettung der englischen Romantik in einen gesamteuropäischen Zusammenhang, und dies sowohl in ästhetischer als auch in politischer Hinsicht. Die Revolutionen auf dem europäischen Kontinent hatten die Erlangung jener Freiheiten zum Ziel, die dem englischen Volk bereits deutlich früher gewährt worden waren. Als »freiheitlich« galt auch eine Nationalliteratur, die einem internationalen System ästhetischer Normen, wie es der Neoklassizismus darstellte, nicht entsprach. Shakespeare als repräsentative Verkörperung einer solchen durch Freiheit und nationale Eigenständigkeit geprägten literarischen Kultur stellt einen der wesentlichsten englischen Beiträge zu Ideologie und Rhetorik der gesamteuropäischen Romantik dar. Gerade die von der englischen Kritik des 18. Jahrhunderts so sehr forcierte Opposition zwischen Shakespeare und einem »absolutistischen« Regelwerk wird zum Grundstein für dessen kontinentaleuropäische Rezeption' 7 , die ihrerseits auch auf die innerenglische Sicht des »Barden« zurückwirkt. Ein weiterer Faktor ist die Wahrnehmung des Shakespeareschen Prestiges durch die Romantiker selbst. Da die innovative, kaum mehr neoklassizistisch beeinflusste Kritik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Zeitschriften und wenig einschlägigen Büchern verstreut war, konnte der Eindruck entstehen, dass Shakespeare immer noch einer umfassenden Rehabilitierung bedürfe: For the Romantics, what was accessible, what was inescapable, was the eighteenth-century editorial tradition, which brought Shakespeare's text into the nineteenth century encumbered with all the outmoded baggage of prefaces and critical notes from Rowe to Steevens. The Romantics took arms against the big books, against the anthologies, against the variorum editions, against the strictures in popular collected editions of The Tatler and The Spectator, against David Hume's History of England [...]. In doing so they fought a battle won long before on the bloody fields of polemical journalism. Having mistaken him for

16 17

Taylor, Reinventing Shakespeare, S. 148. Taylor, Reinventing Shakespeare, S. 122f.

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David, the Romantics rushed to defend Goliath - and prided themselves on their part in his victory. 18

Teil dieser Verteidigung war allerdings nicht nur eine ästhetische bzw. poetologische, sondern auch eine politische Neukonzipierung des »Barden« - wenn auch in durchaus unterschiedlicher Weise. Wenn eingangs bemerkt wurde, dass die Argumentation mit dem unkultivierten elisabethanischen Publikum auch aus politischen Gründen hätte obsolet werden müssen, dann führt das Beispiel Hazlitts in besonders deutlicher Weise vor Augen, warum. Als überzeugter Anhänger der Ideale der französischen Revolution versucht Hazlitt, dan Nationaldramatiker Shakespeare für die Sache der Freiheit in Anspruch zu nehmen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei zunächst eine Neubewertung des elisabethanischen Zeitalters in seiner Gesamtheit. In für den romantischen Nationalismus typischer Weise verbindet Hazlitt das Konzept der (nationalen) Partikularität mit dem der naturhaften Unverfälschtheit und Unmittelbarkeit: [In the Elizabethan age,] [o]ur writers and great men had something in them that savoured from the soil from which they grew: they were not French, they were not Dutch, or German, or Greek, or Latin; they were truly English. They did not look out of themselves to see what they should be; they sought for truth and nature, and found it in themselves. There was no tinsel, and but little art; they were not the spoiled children of affectation and refinement, but a bold, vigorous, independent race of thinkers, with prodigious strength and energy, with none but natural grace, and heartfelt unobtrusive delicacy. They were not at all sophisticated. The mind of their country was great in them, and it prevailed. With their learning and unexampled acquirement, they did not forget that they were men: with all their endeavours after excellence they did not lay aside the strong and original bent and character of their minds. 19

Sehr deutlich zeigt sich hier, wie das von der Kritik des 18. Jahrhunderts immer wieder evozierte Konzept der artlessness bzw. eines direkten Rapports zwischen Dichter und Natur im Sinne eines Nationalgefühls besetzt werden kann: nämlich durch die Konstruktion einer national geprägten »Natur«, eines Nationalcharakters oder »Volksgeistes«. Dass angesichts Hazlitts überaus positiver Sicht der Renaissance jedwede Form der historischen Apologie hinfällig wird, liegt auf der Hand. Entsprechend deutlich ist Hazlitts Ablehnung der aus dem 18. Jahrhundert stammenden Funktionalisierung der Vergangenheit als Kontrastfolie zum »Fortschritt« der Gegenwart: There is not a lower ambition, a poorer way of thought, than that which would confine all excellence, or arrogate its final accomplishment to the present, or modem times. We ordinarily speak and think of those who had the misfortune to write or live before us, as labouring under very singular privations and disadvantages in not having the benefit of those improvements which we have made [...]. If we have pretty well got rid of the narrow bigotry that would limit all sense of virtue to our own country, and have fraternized, like true cosmopolites, with our neighbours and contemporaries, we have-made our self-love amends

18 19

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Taylor, Reinventing Shakespeare, S. 150. William Hazlitt: Lectures on the Dramatic Literature of the Age of Elizabeth [1818]. In: Ders.: The Complete Works of William Hazlitt. Edited by P. .P. Howe. After the Edition of R. A. Waller and Arnold Glover. Volume 6: Lectures on the English Comic Writers and Lectures on the Age of Elizabeth. London / Toronto 1931, S. 175.

by letting the generation we live in engross nearly all our admiration and by pronouncing a sweeping sentence of barbarism and ignorance on our ancestry backwards, from the commencement (as near as can be) of the nineteenth, or the latter end of the eighteenth century.20

Eine derart »kosmopolitische« Geisteshaltung fordert Hazlitt nicht nur, was gegenwärtige Verhältnisse angeht, sondern auch in Bezug auf die Vergangenheit. Ähnlich wie Gleichheit und Brüderlichkeit - seiner Ansicht nach - die Einstellung zu den ausländischen Nachbarn prägen, sollen sie auch die Haltung zur Vergangenheit bestimmen; ebenso wie die nationalistische Überhöhung der eigenen Heimat ein Ende gefunden hat, soll auch die Verabsolutierung der Standards der eigenen Gegenwart aufhören. Eine positive Haltung gegenüber den Elisabethanern ist für Hazlitt also ein mehr oder minder direkter Ausfluss republikanischer Ideale - wenn Gleichheit und Freiheit auf dem Gedanken einer allumfassenden Menschlichkeit beruhen, dann hat das nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Haltung gegenüber den eigenen Vorfahren Konsequenzen: »The vulgar Elizabethan barbarians of the previous age do not exist for Hazlitt. Shakespeare's auditors are members of a great and characteristically English age, and they are men first before they are Elizabethans.« 21 Mit dieser nachdrücklichen Betonung der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen verschwindet auch der Gedanke einer Dissoziation des Dichters von seiner Umgebung, wie ihn die historische Apologie formuliert hatte. Eine Überhöhung des Autors ins Quasi-Metaphysische findet nicht statt: »[Authors] did not forget that they were men«, betont Hazlitt. Die Situierung Shakespeares innerhalb seiner Epoche ist dementsprechend eine ganz andere als in der weit überwiegenden Mehrheit der neoklassizistischen Kritik: We affect to wonder at Shakespear, and one or two more of that period, as solitary instances upon record; whereas it is our own dearth of information that makes the waste; for there is no time more populous of intellect, or more prolific of intellectual wealth, than the one we are speaking of. Shakespear did not look upon himself in this light, as a sort of monster of poetical genius, or on his contemporaries as »less than smallest dwarfs, « when he speaks with true, not false modesty, of himself and them, and of his wayward thoughts, »desiring this man's art and that man's scope«. [...] He indeed overlooks and commands the admiration of posterity, but he does it from the tableland of the age in which he lived. [...] He was not something sacred and aloof from the vulgar herd of men, but shook hands with nature and the circumstances of the time, and is distinguished from his immediate contemporaries, not in kind, but in degree and greater variety of excellence. He did not form a class or species by himself, but belonged to a class or species. 22

Die historische Apologie wird im Wesentlichen aus zwei Gründen abgelehnt: Zum einen aufgrund der nunmehr positiven Einschätzung der Renaissance, zum anderen, weil Hazlitt auch die hinter der historischen Apologie stehende Vorstellung einer absoluten, überhistorischen und damit auch übergesellschaftlichen Autorpersönlichkeit ablehnt. Vielmehr betont er die Eingebettetheit des Künstlers in sein Zeitalter -

20 21 22

Hazlitt, Dramatic Literature of the Age of Elizabeth, S. 176f. Prior, The Elizabethan Audience and the Plays of Shakespeare, S. 111. Hazlitt, Dramatic Literature of the Age of Elizabeth, S. 180.

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und vor allem in einen gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang. Der Dichter spricht nicht für sich, sondern für die Gemeinschaft, der er entwächst - das Volk: Where are we to find the intellect of the people? Why, all the intellect that ever was is theirs. The public opinion expresses not only the collective sense of the whole people, but of all ages and nations, of all those minds that have devoted themselves to the love of truth and the good of mankind, - who have bequeathed their instructions, their hopes, and their example to posterity, - who have thought, spoke, written, acted, and suffered in the name and on the behalf of our common nature. All the greatest poets, sages, heroes, are ours originally, and by right.23

Neben der Vorstellung einer wesentlich auf das Volk bezogenen und durch das Volk garantierten historischen Kontinuität fällt hier die Vorstellung einer Art »Volkssouveränität« über die großen Gestalten der Geschichte und Zivilisation ins Auge. 24 Dieser Anspruch wird noch deutlicher, wenn Hazlitt fortfährt: All that has ever been done for society, has [...] been done for it by this intellect, before it was cheapened to be a cat's -paw of divine right. All discoveries and all improvements in arts, in science, in legislation, in civilization, in every thing dear and valuable to the heart of man, have been made by this intellect - all the triumphs of human genius over the rudest

23

24

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William Hazlitt: What is the People? [1818]. In: Ders.: The Complete Works of William Hazlitt. Edited by P. P. Howe. After the Edition of R. A. Waller and Arnold Glover. Volume 7: Political Essay, with Sketches of Public Characters. London / Toronto 1932, S. 259-281. Hier: S. 269. Eine ähnliche Konzeption findet sich auch in Emersons Representative Men, wo »a ground in popular tradition « (111) zur wesentlichen Grundlage der Arbeit des Dichters erklärt wird. Diese Vorstellung steht in engem Zusammenhang damit, dass Emerson ein sammelndes, bündelndes Wirken des Dichters höher einschätzt als das seiner Ansicht nach zweifelhafte Konzept der Originalität. Dass die Wendung gegen dieses für die Genieästhetik so wichtige Moment der mehr oder minder isolierten schöpferischen Individualität eine wesentlich politische Komponente hat, zeigt sich deutlich, wenn Emerson schreibt: »[...] [A]ll originality is relative. Every thinker is retrospective. The learned member of the legislature, at Westminster or at Washington, speaks and votes for thousands. [...] As Sir Robert Peel and Mr. Webster vote, so Locke and Rousseau think for thousands, and so there were fountains all around Homer, Menu, Saadi, or Milton, from which they drew [...]. It is easy to see that what is best written or done by genius, in the world, was no man's work, but came by wide social labour, when a thousand wrought like one, sharing the same impulse.« (114f.) Diese grundlegend egalitäre Konzeption des Verhältnisses von Dichter und Publikum ist jedoch, ähnlich wie bei Hazlitt, nicht ungebrochen. So wird Shakespeare für Emerson dem eigentlichen »Auftrag«, der ihm aus seinem Genie erwächst, in letzter Konsequenz nicht gerecht: »Other admirable men have led lives in some sort of keeping with their thought; but this man [Shakespeare], in wide contrast. [...] [T]his man of men, he who gave to the science of mind a new and larger subject than had ever existed, and planted the standard of humanity some furlongs forward into Chaos - that he should not be wise for himself - it must even go into the world's history, that the best poet led an obscure and profane life, using his genius for the public amusement.« (124f.) Obwohl der Dichter für sein Schaffen wesentlich auf sein Umfeld angewiesen ist, also nicht quasimetaphysisch, sondern gewissermaßen sozial inspiriert ist, steht er insofern isoliert von bzw. über diesem, als die funktionale Besetzung dieser Inspiration (Vergnügen, Belehrung, etc.) ihm überlassen bleibt. Für Emerson besteht damit durchaus ein Unterscheid zwischen »Repräsentanten« und »Repräsentierten«. (Alle Seitenangaben nach Ralph Waldo Emerson: The Collected Works of Ralph Waldo Emerson. Volume IV: Representative Men: Seven Lectures. Cambridge (Mass.) / London 1987)

barbarism, the darkest ignorance, the grossest and most inhuman superstition, the most unmitigated and remorseless tyranny, have been gained by themselves for the people. 25

Die Träger gesellschaftlichen und zivilisatorischen Fortschritts gehören ihrem Wesen nach nicht einer besonders ausgezeichneten separaten Klasse an, sondern sind representative men in dem Sinne, dass sie das geistige Streben des Volksganzen bündeln. Sie sind damit in Isolation von diesem Volk nicht zu denken. 26 Eventuelle »Fehler und Mängel« des literarischen Werkes können entsprechend auch nicht mit dem Einfluss der breiten Volksmassen wegerklärt werden - zum einen, weil dieser Einfluss bei Hazlitt grundsätzlich positiv besetzt ist, und zum anderen, weil es erst gar keine dichterische Inspiration gibt, die separat vom Volk zustande kommen könnte. Von dessen »Einfluss« zu sprechen, wäre deshalb nicht nur untertrieben, sondern unlogisch - »Volkspoesie« (Herder) ohne Volk ist nicht möglich. Als Volksdichter kann Shakespeare nicht mehr mit Hilfe seines elisabethanischen Publikums entschuldigt werden - wenn Volksdichter überhaupt in irgendeiner Form der Rechtfertigung bedürfen, sind sie durch repräsentative Funktion doch immer schon von vorneherein legitimiert: Einen Volksdichter zu kritisieren, hieße letztendlich ja, das Volk zu kritisieren. Wenn Hazlitt Shakespeares Verwurzelung in volkstümlichen Traditionen in expliziter Absetzung gegen die Kritiker des 18. Jahrhunderts durchweg positiv beurteilt, so leistet er damit einen wichtigen Beitrag dazu, dass das immense Prestige des »Barden« auch für den politisch radikaleren Strang der englischen Romantik unangetastet bleibt bzw. sich sogar noch vermehrt. Mit seiner Umdeutung des Dramatikers gibt er ein Schema vor, das für alle »alternativen« Shakespeares der Folgezeit Modellcharakter hat: Eine sich als Gegenbewegung verstehende kulturelle Strömung propagiert nicht ihre eigenen Identifikationsfiguren, sondern bedient sich eines bereits vorhandenen Trägers kultureller Bedeutung, dessen Prestige sie nicht angreift, sondern im Sinne der eigenen Wertmaßstäbe neu zu besetzten versucht. Die Gegenbewegung bleibt damit insofern systemimmanent, als sie nicht einen kompletten Umsturz in Gestalt eines Austausches der Identifikationsobjekte anstrebt, sondern sich auf die (letztlich systemstabilisierende?) Auseinandersetzung um die Bedeutung dieser Objekte beschränkt. Das Beispiel Hazlitts führt besonders deutlich vor Augen, dass neue Auffassungen darüber, was und wie Literatur zu sein habe, im Verbund mit einer Neubewertung des »Volkes«, wie sie mit der Romantik gerade in

25 26

Hazlitt, What is the people?, S. 269. Dass diese Vorstellung auch für Hazlitt selbst nicht ganz unproblematisch ist, zeigt sich an einer Passage aus Characters of Shakespear's Plays (William Hazlitt: The Complete Works of William Hazlitt. Edited by P. P. Howe. After the Edition of R. Α. Waller and Arnold Glover. Volume 4: The Round Table and Characters of Shakespear's Plays. London/Toronto 1930), deren politische Konnotationen unverkennbar sind: »The principle of poetry is a very anti-levelling principle. [...] It presents a dazzling appearance. It shows its head turreted, crowned, and crested. Its front is gilt and blood-stained. [...] It has its altars and its victims, sacrifices, human sacrifices. Kings, priests, nobles are its train-bearers, tyrants and slaves its executioners. - >Camage is its daughters - Poetry is right-royal. It puts the individual for the species, the one above the infinite many, might before right.« (S. 214f.)

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ihrer Eigenschaft als »Gegenbewegung« assoziiert werden, an sich zu einem Obsoletwerden der apologetischen Argumentation mit Shakespeares elisabethanischem Publikum hätten führen müssen.

4.3 Coleridge und das elisabethanische Theaterpublikum Coleridges Shakespearekritik entsteht im Wesentlichen nach seiner Abwendung von der französischen Revolution. Gerade im Vergleich mit Hazlitt wird deutlich, dass dieser Umstand eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für seine Sicht auf das elisabethanische Theaterpublikum hat. Während Coleridge einerseits einen entscheidenden Beitrag zu den romantischen Neuerungen in der Interpretation und Analyse Shakespeares leistet, bleibt er insofern traditionell, als sein Bild der frühneuzeitlichen Theaterbesucher zumindest in Teilen das der Neoklassizisten ist. Dass veränderte literaturtheoretische Prämissen die konventionelle Vorstellung von den elisabethanischen Theaterbesuchern nicht hinfällig machen, ist der wesentliche Grund dafür, dass Shakespeares elisabethanisches Publikum auch über die romantische Revolution hinaus als Argumentationshilfe dienen kann: Während die »Sündenbockfunktion« der frühneuzeitlichen Theaterbesucher generell erhalten bleibt, wird neu definiert, woran genau sie denn nun die Schuld tragen. Der für Shakespeares »Mängel« verantwortlich gemachte Geschmack des Renaissance-Publikums ändert sich also je nach Bedarf. Zum Fortbestand des Topos vom elisabethanischen Publikum trägt Coleridge insofern entscheidend bei, als er trotz paradigmatisch »romantischer« Interpretations- und Bewertungskriterien die elisabethanischen Theaterzuschauer in vielerlei Hinsicht genauso funktionalisiert wie bereits seine neoklassizistisch beeinflussten Vorgänger. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass auch Coleridge mit neoklassizistischen Idealen keineswegs vollständig bricht. Beispielhaft zeigt sich dies an der Begrifflichkeit, mit der er sich gegen die Forderung nach der Einheit von Zeit, Ort und Handlung wendet: We have had occasion to speak at large on the subject of the three Unities, Time, Place and Action, as applied to the Drama in abstract, and to the particular stage for which Shakspeare [sic] wrote as far as he can be said to have written for any stage but that of the universal Mind. We succeeded in demonstrating that the two former instead of being Rules were mere inconveniences attached to the local peculiarities of the Athenian Drama; that the last alone deserved the name of a principle, and that in this Shakespear [sic] stood preeminent. 27

Sehr deutlich wird hier die Betonung der überzeitlichen Natur des Shakespeareschen Dramas gegenüber der als geschichtlich bedingt dargestellten, damit an das Zeitliche gebundenen und somit zu vernachlässigenden Regelpoetik. Allerdings bewegt sich

27

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Samuel Taylor Coleridge: Lectures 1808-1819 On Literature. Vol. Π. Edited by R. A. Foakes. (= The Collected Works of Samuel Taylor Coleridge, Vol.5.) London / Princeton 1987, S. 361f. Foakes' Ausgabe ist die heute maßgebliche. Zur Überlieferungslage, insbesondere zu den Mitschriften bzw. Editionen Colliers und Raysors vgl. John Klancher: Transmission Failure. In: David Perkins (Hg.): Theoretical Issues in Literary History. Cambridge (Mass.) / London 1991, S. 173-195.

Coleridge mit dieser Argumentationsweise keinesfalls gänzlich außerhalb neoklassizistischer Parameter, greift er doch von den Klassizisten vorgegebene logische Schemata auf: Die Wertung der Begriffe Zeitlichkeit und Überzeitlichkeit wird völlig unverändert übernommen - den vormals als überzeitlich konstruierten klassizistischen Normen wird nun allerdings genau diese Eigenschaft abgesprochen. Die Vorstellung einer allgemeinen Verbindlichkeit der Regelpoetik wertet Coleridge als historisches Phänomen. Dies ist so und ähnlich auch schon in früheren Stadien der Shakespearekritik zu beobachten, ebenso wie der Bezug auf ein überzeitliches Publikum, den Coleridge herstellt: Die neoklassizistische Regelpoetik legitimiert sich letzten Endes ja gerade dadurch, dass sie bei einem idealen Publikum eine bestimmte Reaktion hervorruft. Als Instanz zur Beurteilung der Qualität eines gegebenen Kunstwerks bzw. als Bezugspunkt für den wahren Dichter bleibt »the universal mind« für Coleridge unangefochten. Während die Regeln der Einheit von Zeit und Ort mit dem Hinweis auf die Einheit der Handlung und der daraus resultierenden organischen Geschlossenheit des Dramas als Ganzem für obsolet erklärt werden, ist die Sachlage hinsichtlich anderer »Mängel« Shakespeares allerdings auch für Coleridge komplizierter. Dies zeigt sich etwa am Beispiel bestimmter sprachlicher Eigenheiten: It was Coleridge's intention not to pass any of the important conceits in Shakespeare some of which were introduced in his after productions with great propriety - It would be recollected that at the time this great Poet lived there was an attempt [at] and an affectation of quaintness which emanated [even] from the Court and to which satire had been directed by Osrick in Hamlet. Among the schoolmen of that age nothing was more common than such conceits as he had employed and it was aided after the restoration of letters & the bias thus given was very generally felt.28

Diese Passage hätte so oder ähnlich in einer kritischen Abhandlung aus dem 18. Jahrhundert stehen können und wäre dann in eine mehr oder minder ausformulierte Version der historischen Apologie gemündet. Nicht jedoch bei Coleridge: »But he [Coleridge] was only palliating Shakespeare as a man because he did not write for his own but for all ages, & so far he admitted it to be a defect.«29 Im weiteren wird die Verantwortung für die diagnostizierten »Fehler und Mängel« jedoch durchaus Shakespeare selbst zugeschrieben, und zwar insofern, als er sich seiner (offensichtlich α priori feststehenden) Bestimmung für das Ideale, Überzeitliche nicht genügend bewusst ist oder dieser Bestimmung nicht ausreichende Bedeutung beimisst: Shakespeare vergisst sozusagen sein besseres Ich. Der enge Zusammenhang zwischen der Gültigkeit bzw. Ungültigkeit der historischen Apologie und der Konzeption des Autorgenies (die Hazlitt in dieser Form ablehnt) zeigt sich hieran sehr deutlich: Eine Beeinflussung durch historische Gegebenheiten (und eine solche »Gegebenheit« stellt auch das elisabethanische Publikum dar) würde einen Verrat des Autors an sich selbst und seiner transhistorischen Be-

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Samuel Taylor Coleridge: Lectures 1808-1819 On Literature. Vol. I. Edited by R. A. Foakes. (= The Collected Works of Samuel Taylor Coleridge, Vol. 5) London / Princeton 1987, S. 312. Ich zitiere diese Ausgabe unter Auflösung der Abkürzungen und unter Auslassung der Durchstreichungen. Coleridge, Lectures 1808-1819 On Literature, Vol. I, S. 312f.

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Stimmung darstellen und ist deshalb unter genieästhetischen Prämissen nicht akzeptabel. Aufgrund der Vorstellung, dass das Autorgenie seinen eigenen Schaffensprozess bewusst reflektiert, ist allerdings auch eine Konzeption Shakespeares als »reine Natur« für Coleridge nicht mehr zu vertreten. Gegen die Kritik des 18. Jahrhunderts wird das herausragende Urteilsvermögen Shakespeares, sein künstlerisches Wollen, in den Vordergrund gerückt. Auch dieser Gedanke ist mit einer Apologie einzelner Elemente der Dramen unter Bezugnahme auf das elisabethanische Publikum kaum zu vereinbaren, da dies implizieren würde, dass vermeintlich »schlechte« oder »vulgäre« Bestandteile des Werks absichtlich in dieses inkorporiert wurden - was mit dem Status Shakespeares als kultureller Identifikationsfigur, als romantischem Autorgott, nicht zu vereinbaren wäre. Im Zuge einer integrierenderen Sicht des Shakespeareschen Werks unterscheidet Coleridge deshalb nicht zwischen faults und beauties, sondern versucht, die vormals bemängelten Elemente in den Gesamtzusammenhang einer auktorialen Intention einzuordnen. Dabei wird vorausgesetzt, dass dieses Wollen auch bei einer gewissen Anpassung an die Gegebenheiten ein fast ausschließlich ästhetisches ist, wie sich am Bespiel der von den Neoklassizisten so häufig kritisierten komischen Figur zeigt: »Shakespeare at the same time that he accomodated himself to the taste of the times employed [fools and clowns] to [a Foakes] most terrible effect in heightening the mysery [sic] of the most distressing scenes.« 30 Eine Anpassung an den Geschmack des frühneuzeitlichen Theaterpublikums (»the taste of the times«) wird hier zwar konzediert, durch den Verweis auf die künstlerische Qualität und dramatische Wirksamkeit der entsprechenden Szenen aber sofort wieder relativiert. Zu Zugeständnissen an das Publikum ist Shakespeare nur dort bereit, wo sie sich in die Gesamtkonzeption der Dramen integrieren lassen so dass sie letztendlich den Charakter eines Zugeständnisses verlieren. Durch die Umfunktionalisierung der komischen Figur begibt sich Shakespeare für Coleridge emphatisch nicht auf das Niveau seines ursprünglichen Publikums. Entsprechend nachdrücklich ist die Ablehnung der bisherigen Versuche der »Entlastung« Shakespeares: Coleridge went on to ridicule the modern commentators still further asserting that they only exercised the most vulgar of all feelings - that of wonderment - They had maintained that Shakespeare was an irregular poet that he was now above all praise and now if possible below contempt & they reconciled it by saying that he wrote for the mob. - No man of genius ever wrote for the mob - he never would consciously write that which was below himself. Careless he might be or he might write at a time when his better genius did not attend him but he never wrote anything that he knew would degrade him. Were it so, as well might a man pride himself on acting the beast [...]. 31

Die Apologie Shakespeares mit Hilfe des elisabethanischen Publikums wird nicht nur als Ausfluss einer falschen Literaturkonzeption abgelehnt, sondern auch als soziale Verortung des Dichters: Sie bedeutet für Coleridge die Etablierung einer Verbindung zwischen Shakespeare und einem als Pöbel vorgestellten Volk, die er vehement ablehnt. Dass Coleridge hier von den Theaterbesuchern der frühen Neuzeit als einem »Mob« spricht, mag angesichts seiner zunehmend ablehnenden Hal-

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Coleridge, Lectures 1808-1819 On Literature, Vol. 1, S. 212. Coleridge, Lectures 1808-1819 On Literature, Vol. 1, S. 353.

tung g e g e n ü b e r der französischen R e v o l u t i o n 3 2 nicht verwundern: Unter d e m Eindruck der Ereignisse von 1 7 8 9 erschien j e d e öffentliche A n s a m m l u n g von M e n schen - insbesondere, w e n n diese (vermeintlich) den unteren Schichten angehörten - als potentiell bedrohlicher Unruheherd. D i e Tatsache, dass er den Begriff gerade mit B e z u g auf neoklassizistische Traditionen der Argumentation mit Shakespeares elisabethanischem Publikum verwendet, macht darüber hinaus deutlich, dass C o l e ridge den s o z i o l o g i s c h e n Aspekt dieser A p o l o g i e klar erkennt. N i c h t s d e s t o w e n i g e r oder gerade deshalb - ist die emphatische A b k o p p l u n g Shakespeares v o m frühneuzeitlichen Volkstheater und seinen Besuchern durch den bedeutendsten romantischen Shakespearekritiker von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Ein g e w i s s e r Z u s a m m e n h a n g dürfte dabei durchaus auch mit den R a h m e n b e d i n g u n g e n v o n C o l e ridges Shakespeare-Vorträgen bestehen - insbesondere mit deren Publikum: Coleridge, who addresses his lectures to »the higher and middle classes of English society«, contrives to gentrify Shakespeare while also implying that he transcends anything so transient as class. »Shakespeare combined the poet and the gentleman « and »No man of genius ever wrote for the mob« [...] were precisely the kind of things that Coleridge's gentle audience liked to hear. 33 D i e (immer nur präsupponierte) soziale Z u s a m m e n s e t z u n g des frühneuzeitlichen Publikums dient also auch hier der Etablierung bzw. Stabilisierung e i n e s Selbstbildes, das sich i m Gegensatz z u m » M o b « in den elisabethanischen Theatern definiert - und, wichtiger noch, im Gegensatz zu den breiten V o l k s m a s s e n der e i g e n e n Gegenwart. Im Unterschied zur »klassischen« Form der historischen A p o l o g i e , die das ursprüngliche Shakespearepublikum repräsentativ für ein ganzes Zeitalter für rüde

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Besonders massiv spricht sich Coleridge gegen die Jakobiner aus - und das noch lange nach ihrer Entmachtung. So schreibt er beispielsweise im Courier vom 29. September 1814: »The visible organization of Jacobinism has been crushed or torn asunder; but the life, the evil principle, cannot die, as long as the soil of a half-knowledge and a proud ignorance supplies its own specific juices to envy, ambition and revenge, which, alas! are the indigenous growth of poor human nature. Many and strangely various are the shapes which the spirit of Jacobinism can assume. Now it is PHILOSOPHY, contending for indifference to all positive institutions, under the pretexts of liberality and toleration, and yet with all the bigotry of self-conceit, and all the diligence of bigotry, through every channel of communication, and by all the implements of annoyance, by contempt, by ridicule, by opprobrious charge or implication, persecuting all, as persecutors, who will not believe their forefathers fools and tyrants! Now it appears as refined SENSIBILITY and PHILANTROPY, declaiming piteously concerning the wrongs and wretchedness of the oppressed many, and in a play or novel amending the faulty and partial schemes of Providence, by assigning every vice and folly to the rich and noble, and all the virtues, with every amiable quality, to the poor and ignorant! But mark you, not to flatter them into greater contentment with their lot. No! but to teach them to pity themselves alone, and at once to despise, hate, and envy their superiors. Their very crimes forsooth are not their own, but the crimes of their hard and neglectful guardians! Their very crimes are not crimes , but brave acts of natural vengeance on their plunderers and taskmasters.« (Samuel Taylor Coleridge: Essays on His Times in The Morning Post and The Courier. Vol. Π. Edited by David V. Erdman. London 1978, S. 383f.) Das Jakobinertum wird von der historischen Erscheinung zum (un-) ethischen Prinzip.

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Bate, Introduction. In: Ders. (Hg.): The Romantics on Shakespeare. London 1992, S. 1-36. Hier: S. 18f. 73

und grobschlächtig erklärt, gibt Coleridge diesen historischen Aspekt aber fast gänzlich auf. Damit wird ähnlich wie bei Hazlitt ein positives Bild der Renaissance möglich, das Coleridge insbesondere auch im Kontrast zu seiner eigenen Zeit entwirft: There was, in truth, an energy in the age, an energy of thinking, which gave writers of the reigns of Elizabeth & James, the same energy. At the present, the chief object of an author [is] to be intelligible at the first view; then, it was to make the reader [!] think - not to make him understand at once, but to show him rather that he did not understand, or to make him to review, & re-meditate till he had placed himself upon a par with the writer. 34

Für die Weiterentwicklung der Vorstellung vom elisabethanischen Theaterpublikum ist hier vor allem eines entscheidend: Die Vorstellung eines Autors, der sich nicht unmittelbar, sondern nur nach intensiver Reflexion erschließt, denn das Konzept eines »schwierigen« Dichters zieht letztendlich auch eine Rekonfiguration des literarischen Kommunikationsprozesses nach sich. Unter anderem aus dieser Rekonfiguration erklärt sich die »Theaterfeindlichkeit« der Romantiker; im Falle Coleridges jedoch führt sie zusätzlich zu einer Modifikation der bisherigen Vorstellungen von der Situation in den öffentlichen Theatern der frühen Neuzeit. Würde ein Publikum in Gestalt eines »Mobs« angenommen, müsste eigentlich von einem permanenten Fehlschlagen der dramatischen Kommunikation zwischen dem »schwierigen« Autor und seinen Zuschauern ausgegangen werden. An ein derart totales Scheitern Shakespeares zu seinen eigenen Lebzeiten möchte Coleridge jedoch offensichtlich nicht glauben. Er führt deshalb ein Konzept ein, das in späteren Stadien des Diskurses über die Theaterbesucher der frühen Neuzeit große Bedeutung gewinnt - das der split audience: [Shakespeare] lived in an age in which from the religious controversies carried on in a way of which we have no conception!,] [t]here was a general energy of thinking, a pleasure in hard thinking and an expectation of it from those who came forward to solicit public praise[,] of which, in this day, we are equally ignorant. Consequently the judges were real amateurs. The author had to deal with a learned public, & he had no idea of a mixed public - it was divided, in truth, between those who had no taste at all & who went merely to amuse themselves - and those who were deeply versed in the literature to which they gave encouragement. 35

Zusätzlich zum »Mob«, mit dem die Shakespearekritik das Globe traditionell bevölkert hatte, nimmt Coleridge ein weiteres Zuschauersegment an, das der hochgebildeten Literaturkenner und Mäzene, die die Autoren zu Höchstleistungen veranlassen die Vorstellung einer gewissen Kontinuität des Erfolges ist für Perpetuierung und Ausbau von Shakespeares Status als kultureller Identifikationsfigur von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Während der gehobene Teil von Shakespeares ursprünglichem Publikum - ebenso wie später Coleridge und seine Zuhörer - sich aufgrund ihrer Erkenntnis des transhistorischen, idealen Charakters des Shakespeareschen Werks als seine eigentlichen Adressaten fühlen dürfen, wird dem nach

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Coleridge, Lectures 1808-1819 On Literature, Vol. 1, S. 229. Coleridge, Lectures 1808-1819 On Literature, Vol. 1, S. 228.

Amüsement strebenden »Mob «jedes Verständnis des Dramatikers abgesprochen.36 Eine derart modifizierte Konzeption der elisabethanischen Theaterrealität dient Coleridge dann dazu - und auch hierin greift er späteren Entwicklungen voraus - , seine Interpretation der Shakespeareschen Dramen als die (einzig) »richtige« zu legitimieren: The Theatre itself had no artificial, extraneous inducements - few scenes, little music, & all that was to excite the senses in a high degree was wanting. [...] The circumstances of acting were altogether different from ours - it was much more of [a] recitation, or rather, a medium between recitation & what we now call recitation. - The idea of the poet was always present, not of the actors, not of the thing to be represented. It was at that time more a delight & employment for the intellect than [an] amusement of the senses. It was natural that Shakespeare should avail himself of all that imagination afforded. [... ] Now, there is so much to please the senses in the performance & so much to offend them in the play, that he would have constructed them no doubt on a different model. [...] All may be delighted that Shakespear did not anticipate, & write his plays with any conception of that strong excitement of the senses, that inward endeavour to make everything appear reality which is deemed excellent as to the effort of the present day. 37

Die Konzeption Shakespeares als auch und vor allem intellektuell überlegenes Autorgenie wird nicht nur durch die Bezugnahme auf einen sozial wie seiner Bildung nach exklusiven Teil des Publikums gestützt. Gleichzeitig wird der mit der Vorstellung eines Schreibens »für die Bühne« assoziierte Faktor des »Volkstümlichen« dadurch ausgeschaltet, dass Coleridge die Bühnenrealität der Renaissance ausdrücklich von der seiner eigenen Zeit dissoziiert: Die elisabethanische Bühne ist eigentlich gar kein Theater, sondern eine Art literarische Deklamieranstalt. »Authentisch« bzw. »richtig« verstanden wird Shakespeare dann, wenn die Art der Rezeption der elisabethanischen möglichst nahe kommt - also nicht, wenn er den Konventionen des 19. Jahrhunderts entsprechend inszeniert, sondern wenn er gelesen wird. Wenn die Konzeption des elisabethanischen Theaters hier an sich eine positive ist, so steht dies in gewissem Widerspruch zur Vorstellung einer split audience was hat der »Mob« im Globe verloren, wenn es ihm nicht nur am nötigen Intellekt, sondern auch an der nötigen Fantasie fehlt, um den auf der nackten Bretterbühne deklamierten Texten irgendetwas abzugewinnen? Coleridge stellt sich dieser Frage jedoch nicht. Vielmehr fällt die Klarheit ins Auge, mit der er zwischen den beiden Zuschauerklassen unterscheidet - einen middle ground gibt es offensichtlich nicht. Ein derart klar gegliedertes Publikum entspricht einer stark hierarchischen Gesell-

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Badawi wird in diesem Zusammenhang Coleridges Sicht des elisabethanischen Publikums nur ungenügend gerecht, wenn er schreibt: »[...] [Coleridge] entertained no misguided notions on the intellectual standard of the Elizabethan audience. They were not ignorant people whose barbaric taste was responsible for all the unhappy irregularities of Shakespeare's plays - the thing which we constantly hear in the eighteenth century, especially in its first half. [...] Just as he exploded the preposterous notion that Shakespeare was a wild and irregular genius Coleridge showed this view of the Elizabethan audience to be crude and unacceptable. The picture he painted of the intellectual standard of Shakespeare's times was, if anything, slightly idealized.« (Badawi, Coleridge, S. 90) Diese Darstellung geht über das Konzept der split audience, insbesondere über dessen soziale Implikationen, komplett hinweg und trifft nur auf den »gehobenen« Teil des von Coleridge konzipierten Publikums zu.

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Coleridge, Lectures 1808-1819 On Literature, Vol. 1, S. 228f.

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schaft. Es stellt damit in gewisser Weise auch ein Gegenmodell zur sozialen Realität in Coleridges eigener Zeit dar, wo bislang so gut wie undurchlässige soziale Barrieren zunehmend aufweichten. In ähnlich sozialkonservativer Weise entwirft Coleridge auch sein Bild von Shakespeare selbst: To his lecturing audiences Coleridge transmitted a »respectable Shakespeare« [...]. Such a Shakespeare resisted absorption by the »fashionables« crowding the lecturing halls; he brought the spirit of the old hereditary institutions into the soulless frames of the new capitalist institutions. Unlike the anxious bourgeois social climber or the middle-class reformer, Coleridge's Shakespeare does not generalize or theorize: everything is tacit, embodied, »philosophical« only by the implication of his language, the gestures of his characters, the vast design of his organically constructed plays. 38

Da Formen der sozialen Binnendifferenzierung für Coleridge offensichtlich eine so bedeutende Rolle spielen, ist es zunächst verwunderlich, dass er die besondere Qualität des Shakespeareschen Dramas gerade darin sieht, dass es beides, sowohl intellektuelle Ansprüche wie auch den profaneren Wunsch nach Unterhaltung, bediene: [...] [T]he excellence of the English drama was that it possessed that which delighted both classes, but in different ways. One man would c a n y away nothing but the jokes and what was externally ludicrous, while the other would be pleased that his fellow-citizens had received an innocent enjoyment, which had been to him a profitable employment. He saw that which gave him a deeper knowledge of his own heart, & of the actions of his fellowcreatures, and he wonders that this great man could at the same time excite the admiration of the most profound metaphysician & draw tears or awake laughter from the most ignorant. 39

Die offensichtlich nicht nur das Publikum, sondern letztendlich auch das Werk durchziehende Spaltung steht in nicht unerheblichem Widerspruch zur Rhetorik des »Organischen«, wie sie Coleridge andernorts pflegt. 40 Während die unterschiedlichen Reaktionen der jeweiligen Zuschauergruppen noch damit erklärt werden können, dass die an sich »organischen« Dramen gewissermaßen eine Oberflächen(»what was externally ludicrous«) und eine Tiefendimension aufweisen, in dieser Auffächerung aber ihre (organische) Einheit bewahren, so ist nicht abzustreiten, dass ein derart konzipiertes Drama hinsichtlich seines Publikums sicher nicht einheitsstiftend wirkt. Bezeichnenderweise spricht Coleridge von Zuschauerklassen: Soziale Unterschiede werden durch seine Version des Shakespeareschen Dramas unterstützt und verstärkt; das Theatererlebnis wirkt keineswegs egalisierend, sondern differenzierend. In der Gegenüberstellung der beiden »Klassen« des elisabethanischen Publikums, wie Coleridge sie vornimmt, offenbart sich ein paternalistisches Gesell-

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Klancher, Transmission Failure, S. 184. Coleridge, Lectures 1808-1819 On Literature, Vol. I, S. 229. So schreibt er beispielsweise im Zusammenhang mit Romeo and Juliet: »[...] [I]nstead of Unity of Action I should great[ly] prefer the more appropriate tho' scholastic and uncouth words - Homogeneity, proportionateness and totality of Interest. - The distinction or rather the essential difference betwixt the Shaping skill of mechanical Talent, and the creative Life-power of inspired Genius. In the former each part [is] separately conceived and then by a succeeding Act put together - not as Watches are made for wholesale - for here each part supposes a preconception of the Whole in some mind - but as the Pictures on a motley Screen [...].« (Coleridge, Lectures 1808-1819 On Literature, Vol. Π, S. 362.)

schaftsmodell, in dem der weitestgehend auf seine Affekte reduzierte sozial niedrig gestellte Teil des Publikums sich des Wohlwollens der Eliten sicher sein darf, so lange er sich auf »innocent enjoyment« beschränkt, eine Wortwahl, die nicht zufällig an die harmlosen Spiele unbedarfter Kinder erinnert. Eine ähnlich herablassendwohlwollende Haltung gegenüber den betreffenden Gesellschaftsschichten schreibt Coleridge auch Shakespeare selbst zu: In this play [The Tempest] [...] are also shown the springs of the vulgar in politics, - of that kind of politics which is inwoven with human nature. In his treatment of this subject, wherever it occurs, Shakspeare is quite peculiar. In other writers we find the particular opinions of the individual; in Massinger it is rank republicanism; in Beaumont and Fletcher even jure divino principles are carried to excess; - but Shakspeare never promulgates any party tenets. He is always the philosopher and the moralist, but at the same time with a profound veneration for all the established institutions of society, and for those classes which form the permanent elements of the state [...]. If he must have any name, he should be styled a philosophical aristocrat, delighting in those hereditary institutions which have a tendency to bind one age to another, and in that distinction of ranks, of which, although few may be in possession, all enjoy the advantages. Hence, again, you will observe the good nature with which he seems always to make sport with the passions and follies of a mob, as with an irrational animal. He is never angry with it, but hugely content with holding up its absurdities to its face; and sometimes you may trace a tone of almost affectionate superiority, something like that in which a father speaks of the rogueries of a child. 41

Hier finden sich alle Elemente, die bereits weiter oben mit einem paternalistischen Gesellschaftsmodell in Zusammenhang gebracht worden waren: Die Reduzierung der Unterschichten auf die Affekte (»irrational animal«), die hier noch deutlicher ist als in der bereits zitierten Passage, die Parallelisierung ihrer geistigen Kapazitäten mit denen eines Kindes, die herablassend-wohlwollende Haltung des unendlich Überlegenen. Auch Coleridge ist dort am ideologischsten, wo er vorgibt, die Dinge »objektiv« darzustellen: Die Shakespeare zugesprochene Haltung wird auf eine »neutrale« Ebene jenseits aller politischen Zwistigkeiten verwiesen, womit sie einen gewissermaßen übergeordneten Wahrheitswert erhält, der - angeblich - aus philosophischen und moralischen Überlegungen entspringt und von Einzelinteressen und tagespolitischen Erwägungen unbefleckt bleibt. Äußerst fraglich erscheint dabei allerdings, inwiefern irgendeinem von Coleridges Zeitgenossen - einschließlich seiner selbst- diese Position tatsächlich als apolitisch zu vermitteln war. In der überaus starken Betonung, die Coleridge auf Werte wie Beständigkeit und Tradition legt, klingen politische Grundhaltungen an, wie sie etwa auch Edmund Burke formuliert, der familiäre Beziehungen im übrigen ebenfalls als Modell für die Organisation der Gesellschaft als Ganzes anführt: [...] [B]y preserving the matter of nature in the conduct of the state, in what we improve we are never wholly new; in what we retain we are never wholly obsolete. By adhering in this manner and on those principles to our forefathers, we are guided not by the superstition of antiquarians, but by the spirit of philosophic [!] analogy. In this choice of inheritance we have given to our frame of polity the image of a relation in blood; binding up the constitution of our country with our dearest domestic ties; adopting our fundamental laws into the bosom of our family affections; keeping inseparable, and cherishing with the warmth of all

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Coleridge, Lectures 1808-1819 On Literature, Vol. Π, S. 272f.

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their combined and mutually reflected charities, our state, our hearths, our sepulchres, and our altars. 42

Während Tradition für Burke (und implizit auch für Coleridge) ihre Legitimation immer schon in sich trägt, sah das progressive Lager den gesellschaftlichen Status quo als im Grunde jederzeit neu verhandelbar: The circumstances of the world are continually changing, and the opinions of men change also; and as government is for the living, and not for the dead, it is the living only that has any right in it. That which may be thought right and found convenient in one age, may be thought wrong and found inconvenient in another. In such cases, Who is to decide, the living or the dead? 43

Auch Burke postuliert im Zusammenhang mit dem Ideal einer organischen, paternalistisch strukturierten Gesellschaft eine tagespolitischen Interessen übergeordnete Wahrheits- und Erkenntnisebene. Diese wird allerdings nicht explizit auf eine moralisch-philosophische Ebene verwiesen, sondern firmiert - etwas verdeckter - unter dem Begriff nature. In diesem Konzept impliziert ist die Vorstellung von einer durch die Zeiten hindurch konstanten Gesellschaftsform, die auch und vor allem dahingehend »naturhaft« ist, dass sie in letzter Konsequenz nicht auf ihre Angemessenheit und Richtigkeit hin überprüft werden kann. Genau das sieht Paine anders: Eine bestehende soziale und politische Organisationsform muss sich unter der Prämisse des beständigen Wandels aller Dinge in jedem Moment ihrer historischen Existenz aufs Neue legitimieren. Historisch unveränderlich ist nur die Autonomie des Menschen, seine Lebensumstände zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte nach seinem Willen zu verändern. Wofür Coleridge auch und gerade in seiner Darstellung Shakespeares Position ergreift, liegt vor diesem Hintergrund auf der Hand. »Coleridge's Shakespeare criticism is political in its essence, not merely in certain superficial details« 44 - diese Einschätzung ist auch hinsichtlich seiner Konstruktion des elisabethanischen Publikums zutreffend. Die Rolle, die die frühneuzeitlichen Theaterbesucher in der »klassischen« historischen Apologie des 18. Jahrhunderts spielen, wird dabei im Zuge der endgültigen Abdankung des neoklassizistischen Ansatzes in der Shakespearekritik einem Funktionswandel unterzogen: Die Zuschauer in den öffentlichen Theatern der englischen Renaissance stehen immer weniger repräsentativ für ein ganzes Zeitalter, sondern - und hierin ist Coleridge wegweisend für spätere Entwicklungen - verkörpern ganz bestimmte Eigenschaften, für die der Nationaldramatiker Shakespeare nicht stehen soll. Die Zugehörigkeit zu den unteren gesellschaftlichen Schichten ist unter diesen aus der offiziellen Kultur verbannten Merkmalen das wesentliche. Wenn sich diese Tendenz im 19. Jahrhundert verstärkt und für die Weiterentwicklung des Diskurses über Shakespeares elisabethanisches Publikum zunächst bestimmend wird, so ist dabei stets zu beachten, dass eine Konzeption des Verhältnisses zwischen Shakespeare und seinen

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Edmund Burke: Reflections on the Revolution in France [1790). Harmondsworth 1987, S. 120. Thomas Paine: Rights of Man [1791/92]. Edited with an Introduction by Henry Collins. Harmondsworth 1969, S. 67. Bate, Jonathan: The Politics of Romantic Shakespearean Criticism: Germany, England, France. In: European Romantic Review 1,1 / 1990, S. 1-26. Hier: S. 16.

dass eine Konzeption des Verhältnisses zwischen Shakespeare und seinen ursprünglichen Zuschauern, wie sie Hazlitts »volkspoetisches« Modell postuliert, jederzeit reaktivierbar ist - insbesondere vor dem Hintergrund, dass Hazlitt und Coleridge eine positive Konzeption der Renaissance als Epoche in den Diskurs über die Theaterbesucher der frühen Neuzeit einbringen. Damit entkleiden sie die historische Apologie ihres historischen Aspekts - was im wesentlichen zwei Konsequenzen hat: Zum einen wird das Renaissance-Publikum in neuem Maße definitionsbedürftig, d.h. es muss dort, wo es weiterhin zur Entlastung Shakespeares angeführt wird, anders als über seinen geschichtlichen Moment beschrieben werden. Zum anderen ist in einer positiven Beurteilung der Renaissance zumindest potentiell eine positive Bewertung der frühneuzeitlichen Theaterbesucher angelegt. Damit ergibt sich die Möglichkeit, das ursprüngliche Shakespearepublikum grundlegend anders als bisher zu funktionalisieren: Nicht mehr als Verkörperung historischer Alterität, sondern als Garanten geschichtlicher Echtheit, nicht mehr als Kontrastfolie zum eigenen Selbstbild, sondern als Identifikationsobjekt. Auch wenn die Shakespearekritik von diesen Möglichkeiten erst weit später Gebrauch macht, besteht der wesentliche Beitrag Coleridges und Hazlitts zum Diskurs über das elisabethanische Publikum doch darin, sie überhaupt denkbar gemacht zu haben.

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5.

Enter the

groundlings

5.1 Die Geburt des groundling aus dem Geist des 18. Jahrhunderts [...] I believe that species come to be tolerably well-defined objects, and do not at any one period present an inextricable chaos of varying and intermediate links: firstly, because new varieties are very slowly formed, for variation is a very slow process, and natural selection can do nothing until favourable variations chance to occur, and until a place in the natural polity of the country can be better filled by some modification of some one or more of its inhabitants. And such new places will depend on slow changes of climate, or on the occasional immigration of new inhabitants, and, probably, in a still more important degree, on some of the old inhabitants becoming slowly modified, with the new forms thus produced and the old ones acting and reacting on each other. So that, in any one region and at any one time, we ought only to see a few species presenting slight modifications of structure in some degree permanent; and this assuredly we do see.1

In der Shakespearekritik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist eine für den Diskurs über das elisabethanische Publikum entscheidende Entwicklung zu beobachten: Die Entstehung der »Spezies« groundling, ein Konzept, das in der Beschreibung der elisabethanischen Theaterrealität, aber auch bezüglich der Verortung Shakespeares auf dem Spektrum zwischen populärer Kultur und Elitenkultur bis heute nicht obsolet geworden ist. Die Annahme, dass die Entstehung einer neuen Art nicht das Ergebnis eines »inextricable chaos of varying and intermediate links« ist, drängt sich auch bezüglich der groundlings auf: Ihr Erscheinen auf der Bühne der viktorianischen Shakespearerezeption ist vielmehr als Hinweis auf Veränderungen in den Rahmenbedingungen des Diskurses über das elisabethanische Publikum zu verstehen, insbesondere aber auf Neuverhandlungen des kulturellen »Ortes« des Nationaldramatikers Shakespeare. Das Entstehen einer Nische für die groundlings ist keine autonome oder isolierte Entwicklung. Insbesondere bezüglich bereits bestehender Konzeptionen des elisabethanischen Publikums ist die Bezogenheit der groundlings auf schon etablierte Traditionen stets mitzubedenken. Ihr Erscheinen in der viktorianischen Shakespearekritik bedeutet nicht, dass jede Diskussion des Renaissance-Publikums automatisch eine Diskussion der groundlings darstellt: Zwar ist jeder groundling auch ein elisabethanischer Theaterbesucher, aber nicht jeder elisabethanische Theaterbesucher ist auch ein groundling. Die Vorstellungen über das Publikum im Allgemeinen stehen in enger Wechselwirkung mit denen speziell über die Zuschauer auf den Stehplätzen - um es mit Darwin zu sagen: Die Entstehung einer neuen Spezies »depend[s] [...] on some of

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Charles Darwin: The Origin of Species [1859]. Edited with an Introduction by Gillian Beer. Oxford 1996, S. 145.

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the old inhabitants becoming slowly modified, with the new forms thus produced and the old ones acting and reacting on each other.« Die Geschichte der groundlings ist zunächst die Geschichte eines Begriffes. In gewisser Weise symptomatisch für die vielfach zirkuläre Argumentation mit dem elisabethanischen Publikum und spezieller den groundlings erscheint es, dass die Benennung dieser Untergruppe des Publikums auf denjenigen zurückgeht, zu dessen Entschuldigung und Auslegung sie in der Folgezeit immer wieder herangezogen wurde - auf Shakespeare selbst. Hamlets Klage über die Unfähigkeit der Schauspieler und das begriffsstutzige Publikum ist der früheste Beleg für die Verwendung der bislang einer den Grund von Teichen und Seen bevölkernden Fischart vorbehaltenen Bezeichnung für einen bestimmten Teil der Theaterbesucher. Hamlet: [...] O! it offends me to the soul to hear a robustious periwigpated fellow tear a passion to tatters, to very rags, to split the ears of the groundlings, who, for the most part, are capable of nothing but inexplicable dumb-shows and noise.2 Von den im O E D unterschiedenen Bedeutungen sind für den hier diskutierten Zusammenhang zum einen »a frequenter of the ground or >pit< of a theatre; hence, a spectator of low or inferior tastes; an uncritical or unrefined person«, zum anderen »one of humble rank; one of base breeding or sentiments« 3 die entscheidenden. Bereits zu Shakespeares Zeiten wurde die Neuprägung aufgenommen. Dekkers Güls Horne-book spottet 1609: »[Y]our Groundling and gallery-Commoner buyes his sport by the penny.« 4 In Fletchers Prophetess (I, iii) proklamiert Geta, der Narr: »We Tilers may deserve to be Senators, [...] For we are born three Stories high; no base ones, / None of your groundlings, master.« 5 Im 17. und 18. Jahrhundert ist das Wort mehrfach, und zwar so gut wie ausschließlich in literarischen - nicht literaturkritischen - Texten, belegt. Im Diskurs über Shakespeare spielt es keine Rolle. 6 Bezüglich der Unterscheidung der beiden oben angeführten Bedeutungen ist von Anfang an eine gewisse semantische Unscharfe zu beobachten. Schon die Tatsache, dass Dekker »Groundling and Gallery-Commoner [meine Hervorhebung]« in einem Atemzug nennt, weist darauf hin, dass der Ort des Zuschauers im Theater als seinem sozialen »Ort« korrespondierend verstanden wird. Wenn sich die Bedeutung des Begriffes aus dem ursprünglichen Theaterkontext löst und auf die soziale Realität außerhalb übertragen wird, so hat dies umgekehrt auch für die Verwendung im ursprünglichen Zusammenhang Konsequenzen: Die Vorstellung eines als groundlings zu bezeichnenden Teils des Theaterpublikums der Renaissance ist gekoppelt an

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Shakespeare, Hamlet, ΙΠ, ii: 8-12. The Oxford English Dictionary. Being a Corrected Re-Issue with an Introduction, Supplement, and Bibliography of A New English Dictionary on Historical Principles. Founded mainly on the Materials Collected by The Philological Society. Volume IV: F-G. Oxford 1933, s.v. »groundling«. Thomas Dekker: The Güls Hornbook and the Belman of London. [1609] London 1904, S. 47. John Fletcher / Philip Massinger: The Prophetess [1622]. Edited by George Walton Williams. In: The Dramatic Works in the Beaumont and Fletcher Canon. Vol. IX Cambridge 1994, S. 221-318. Hier: S. 238. Die Ausnahme bildet eine späte Version von Maurice Morganns Essay on the Dramatic Character of Sir John Falstaff, auf den später gesondert einzugehen sein wird.

eine Vorstellung von dessen sozialer Position - und die ist ganz klar eine niedrige. Dieser semantisch-lexikalische Hintergrund ist ein Aspekt, der für den Versuch, die »Nische« der Spezies im Shakespearediskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu beschreiben, entscheidende Hinweise gibt: Soziale Gegebenheiten nicht nur der Renaissance scheinen für die Herausbildung des Konzepts groundling in der Shakespearerezeption von entscheidender Bedeutung zu sein. Wenn die positive Neukonzeption der Renaissance durch Coleridge und Hazlitt es nicht mehr zulässt, die Elisabethaner aus historischen Gründen für Shakespeares »Mängel« verantwortlich zu machen, dann trägt der Begriff groundling dieser Entwicklung insofern Rechnung, als er das soziologische Argument, das das historische ersetzt, schon rein etymologisch in sich trägt. Auffällig ist gerade auch in der Definition des OED die Verwendung des Wortes hence: Der Zusammenhang zwischen einem bestimmten Platz im Theater und einem »schlechten« Geschmack ist keinesfalls evident - das OED definiert hier nicht, es reproduziert eine Tradition. Obwohl die Volksmassen in den Londoner Theatern der Shakespearezeit von den Kritikern des 18. Jahrhunderts meist mehr als abfällig charakterisiert werden, wird der Begriff groundling nicht benutzt. Auch zu Anfang des 19. Jahrhunderts beschränkt sich seine Verwendung meist auf mehr oder minder direkte Zitate der Passage aus Hamlet 7 , ein Kontext, aus dem sich der groundling bis zur Mitte des Jahrhunderts allerdings zusehends verselbständigt. Bei diesem Vorgang handelt es sich, wie im folgenden gezeigt werden soll, nicht nur um eine terminologische, sondern in letzter Konsequenz auch um eine konzeptuelle Neuerung: Das Erscheinen der Spezies groundling in der Shakespearekritik des 19. Jahrhunderts stellt eine Weiterentwicklung und Konkretisierung von bereits in der vorhergehenden Epoche zu beobachtenden Ansätzen dar. Wenn die vom 18. Jahrhundert als »Fehler und Mängel« Shakespeares wahrgenommenen Eigenheiten der Stücke dem Geschmack des elisabethanischen Publikums zugeschrieben werden, so geschieht dies in der weit überwiegenden Zahl der Fälle im Zusammenhang mit einem sehr negativ gefärbten Bild der englischen frühen Neuzeit insgesamt (nicht jedoch der Renaissance als kontinentaleuropäischem Phänomen!), von dem bestenfalls Elisabeth selbst und die »großen Männer« der Epoche ausgenommen werden. Diese pauschale Aburteilung ist mit dem Aufkommen der historischen Shakespeareforschung 8 so nicht mehr haltbar. Entsprechend geraten auch die argumentativen Strategien der älteren Kritik unter Beschuss: [Even in the eighteenth century,] [n]o system of criticism could obscure the splendour of [Shakespeare's] genius. It was necessary, therefore, that an attempt of some kind should be made to reconcile the contradiction presented by a great poet, acknowledged to surpass the most finished artists in his effects, yet supposed all the time »totally ignorant of art«. The reconciliation was brought about by means of the word »inspiration«. In this attempt we read the idolatry of Shakespeare's admirers. Homer, indeed, might occasionally nod; Aes-

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Shepherd / Womack, English Drama, S. 111. Die historische Shakespeareforschung ist dabei keineswegs ein isoliertes Phänomen; ohne das im 19. Jahrhundert vermehrt aufkommende Interesse an Geschichtlichkeit an sich und die Verwissenschaftlichung der Auseinandersetzung mit der Geschichte ist sie nicht denkbar. Der Blickwinkel der neueren Forschung zur Shakespearerezeption der Epoche ist in diesem Zusammenhang oft sehr eng.

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chylus be obscure; Euripides prosaic, and Virgil verbose and tautologous; for they were men. - But Shakespeare could have made mistakes only because he had not read certain classic authors: a tincture of learning would have infallibly guarded him from every error! If he wrote trash sometimes, it was to please the groundlings [meine Hervorhebung]; while his false metaphors, disgusting images, and tedious speeches must have been »foisted in by the players«. Thus Pope, in his celebrated Preface, attributes the bombast and triviality to be found in Shakespeare, wholly to the necessity of addressing a vulgar audience. And with this judgment Warburton agrees [...]. 9

Wenn Lewes 1849 die Rolle des Publikums in der Argumentation der Kritiker des vorhergehenden Jahrhunderts auf den Wunsch zurückführt, weder die Größe Shakespeares noch das gerade aktuelle ästhetische Normensystem relativieren zu müssen, so ist diese »Verzerrung« des »Faktums« Shakespeare für ihn ein Phänomen der Vergangenheit. Die Notwendigkeit von Operationen, die die Konstruktion eines »makellosen« Shakespeares ermöglichen, also das »Faktum« den aktuellen Anforderungen anpassen, ist allerdings keineswegs mit dem Obsoletwerden des Neoklassizismus erledigt. Einen solchen Neuentwurf des »Barden« nimmt auch Lewes eigene - und aus heutiger Perspektive jede - Gegenwart vor. Ebenso paradoxer- wie typischerweise manifestiert sich diese zeitgenössische Neuerung bei Lewes in einer Aussage über die Vergangenheit: »If [Shakespeare] wrote trash sometimes, it was to please the groundlings.« Mit dieser Formulierung ist das argumentative Vorgehen Popes, Warburtons und zahlreicher anderer adäquat erfasst, Lewes charakterisiert es jedoch mit Hilfe einer Kategorie, die seinen Vorgängern so noch nicht zur Verfügung stand: groundlings. Er unterscheidet also zwischen groundlings und non-groundlings, wo die ältere Kritik, Coleridge natürlich ausgenommen, weitgehend eine amorphe Masse von rüden Rabauken annahm. Für die Antwort auf die Frage, was ein groundling in der kollektiven Vorstellung des Viktorianismus eigentlich ist und woher er kommt, gibt Lewes einen wichtigen Hinweis: Groundlings sind offenbar diejenigen, denen schon das 18. Jahrhundert pauschalisierend Shakespeares Normverstöße zuschreibt: »If Shakespeare wrote trash sometimes [, so Pope and Warburton say,] it was to please the groundlings.« Die evolutionären Vorstufen der neuen Spezies sind damit eindeutig in der neoklassizistisch beeinflussten Kritik zu suchen. Die englische Shakespearerezeption des 18. Jahrhunderts bemüht das Publikum vorzugsweise des Globe zwar oft und gerne, greift dabei aber nicht oder kaum auf historische Quellen zurück. Sofern die Unkultiviertheit der Theaterbesucher überhaupt als belegbedürftig angesehen wird und sich für die Autoren nicht apriorisch aus der angenommenen Rückständigkeit der Renaissance und der unreformed stage in ihrer Gesamtheit ergibt, werden die Publikumsbeschimpfungen der RenaissanceDramatiker selbst als Beweis für die postulierte Eigenart der Zuschauer herangezogen. Das Belegmaterial ist also knapp und hinsichtlich seiner Objektivität von zweifelhaftem Wert. Bezüglich der groundlings als spezieller »Untergruppe« des Renaissancepublikums mit eindeutig festzumachenden Eigenschaften ist die Lage noch desolater.

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Lewes, Shakespeare's Critics: English and Foreign, S. 46f.

Die Mittelbarkeit der Informationen, auf denen das 18. Jahrhundert seine Argumentation mit dem Publikum basiert, wird mit dem Auftauchen des groundling noch gesteigert: Wie das Beispiel G. H. Lewes' zeigt, wird die historische Existenz dieser Zuschauerklasse auch im 19. Jahrhundert nicht aus wie auch immer gearteten Quellen abgeleitet, sondern aus einer Tradition des Diskurses über das, was diese Quellen - die das 18. Jahrhundert allerdings kaum interessierten - vermeintlich enthalten. Für die Begriffsgeschichte des Wortes groundling stellen Shepherd und Womack fest: »A whole class of Elizabethan spectators has come into existence on the basis of a couple of contemporary references.« 10 Die Verhältnisse erweisen sich bei genauerer Betrachtung aber als eher noch verwickelter: »A whole class of Elizabethan spectators seems to have come into existence on the basis of a host of diffuse eighteenth-century references to a couple of contemporary references.« Der Sachverhalt ist so kompliziert wie der ihn beschreibende Satz. Mit dem Übergang des Begriffs groundling in den Sprachgebrauch der Shakespearekritik wird bezüglich der elisabethanischen Theaterbesucher eine retrospektive Neuklassifizierung vorgenommen. Aus der für weite Teile der Shakespearerezeption der vorhergehenden Epoche durchgehend unkultivierten Masse des Publikums werden im 19. Jahrhundert groundlings, und damit auch - notwendigerweise - nongroundlings. Diese Kategorisierung geht Hand in Hand mit einer konzeptuellen Differenzierung: Die Kategorie groundling muss mit Inhalt gefüllt werden. Bis heute erfreut sich die Spezies einer ausgesprochenen Vitalität: »[...] [E]ducated people in the twentieth century apparently know intuitively what these spectators [the groundlings] were like, how they behaved, and - despite the fact that, being ex hypothesi illiterate, they left no record of themselves - exactly which scenes they enjoyed.« 11 Darüber hinaus ist das Konzept »groundling« offensichtlich so nützlich - und so dehnbar - , dass es bereits im 19. Jahrhundert die Grenzen des literaturkritischen Diskurses über Shakespeare verlässt. 1873 spekuliert Symonds über die literarische Öffentlichkeit des klassischen Griechenlands: »Had the Greek race perceptions infinitely finer than ours? Or did the classic harmonies of Pindar sweep over their souls, ruffling the surface merely, but leaving the deeps untouched, as the soliloquies of Hamlet or the profound philosophy of Troilus and Cressida must have been lost upon the groundlings of Elizabeth's days, who caught with eagerness at the queen's poisoned goblet or the byplay of Sir Pandarus?« 12 Smyth transferiert 1900

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Shepherd / Womack, English Drama, S. 111. Shepherd / Womack, English Drama, S. 11 If. Sowohl bezüglich der groundlings als auch bezüglich des Publikums im Allgemeinen ist dieses intuitive »Wissen« bis in die unmittelbare Gegenwart und den deutschen Sprachraum nachzuweisen. So schreibt die Frankfurter Rundschau vom 17. 9. 2002: »Wer [Hamlet] [inszeniert,] steht sehr schnell vor ebenso tiefen Fragen wie der grüblerische Dänenprinz, aber auch vor ganz banalen wie >Was lasse ich weg?< Denn William Shakespeare schrieb nach dem bewährten Baukastenprinzip: Sex and Crime satt, aber auch eine kräftige Prise Philosophie, individuell dosierbar je nach Zusammensetzung des wenig zimperlichen elisabethanischen Publikums, das die Schauspieler schon einmal mit verfaultem Gemüse oder Schlimmerem bewarf, wenn die Darbietung missfiel.« John Addington Symonds: Studies of the Greek Poets [1873], Third Edition London 1920, S. 233.

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die Kategorie »groundling« direkt in das Theater des klassischen Griechenlands: »The dithyramb was a meretricious art and appealed to the taste of the groundlings.«13 Dass der groundling um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im klassischen Athen einen neuen Lebensraum findet, bestätigt nur, dass sich die inhaltliche Besetzung des Konzeptes längst von der materiellen Realität des RenaissanceTheaters gelöst haben muss, allein schon deshalb, weil die Theater des klassischen Griechenlands sich von ihrem Aufbau her deutlich vom Theater der Shakespearezeit unterscheiden. Der groundling des klassischen Griechenlands befindet sich zwar im Theater, wird aber offensichtlich nicht durch dieses definiert. Umgekehrt lässt auch dieser Umstand den bereits aufgrund der Etymologie des Wortes gezogenen Schluss zu, dass auch der originale groundling der Shakespearekritik des 19. Jahrhunderts durch mehr - und vielleicht sogar hauptsächlich durch etwas anderes - definiert sein muss als »nur« durch den elisabethanischen Theaterkontext, da sonst ein Transfer in die ihm an sich fremde Welt der Antike (ein eklatanter Anachronismus) kaum möglich wäre. Für die Frage danach, wie genau man sich die groundlings vorstellt, welche Umstände zu ihrem Erscheinen in der Shakespearekritik des Viktorianismus führen, und welche Wechselwirkungen zwischen Konzeptionen des elisabethanischen Theaterpublikums im Allgemeinen und der groundlings im Speziellen bestehen, ist es aufgrund der oben skizzierten Umstände hilfreich, das Konzept zunächst als eine Art imaginative Leerstelle zu betrachten, auch wenn es auf der Hand liegt, dass die Art und Weise, wie diese Leerstelle schließlich besetzt wird, auch hier durch Vorerfahrung bzw. Tradition - die des 18. Jahrhunderts - wesentlich bestimmt ist: Dass der Begriff zumindest im 19. Jahrhundert eine klar negative Konnotation hat, ist unstrittig, ebenso klar ist auch, dass diese negative Besetztheit die weitere Füllung des Konzepts entscheidend steuert. Dennoch ist der groundling zunächst ein Unbekannter, ein Phantom. In Anlehnung an die Konventionen eines Genres, das den Befindlichkeiten der Viktorianer in mehrerlei Hinsicht besonders entgegenkam - des Kriminalromans - beginnt die Suche nach ihm deshalb dort, wo er zuletzt gesehen wurde: im Theater.

5.2 Das prinzipiell und unausrottbar Nichtoffizielle: Groundling, pit und Karneval Wenn die Shakespearekritik des 19. Jahrhunderts die Theatersituation des elisabethanischen Englands vor dem Hintergrund der Bühnensituation ihrer eigenen Gegenwart betrachtete, so war diese Zusammenschau durchaus eine spannungsreiche. Suchte man den groundling im zeitgenössischen Theater, so blieb diese Suche - j e nachdem, ob sie eher zu Anfang oder eher zu Ende des Jahrhunderts stattfand mehr oder minder ergebnislos, denn bis zum Ende des Jahrhunderts war mit dem pit seine angestammte Heimat aus den Theatern verschwunden. Damit ging nicht nur eine jahrhundertealte englische Theatertradition zu Ende, sondern es verschwand

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Herbert Weir Smyth: Greek Melic Poets [1903]. New York 1963, S. lvii.

auch ein wesentliches Verbindungsglied zum Theater der Shakespearezeit. Dies bedeutet jedoch nicht, dass kein Zusammenhang zwischen der viktorianischen Theaterwelt und bestimmten Veränderungen in der Vorstellung vom elisabethanischen Publikum, insbesondere dem Erscheinen der groundlings, bestünde - im Gegenteil: Bei genauerem Hinsehen erweisen sich diese in mehrfacher Hinsicht als Reflex auf Neuerungen in der Bühnenlandschaft des Viktorianismus, von denen hier zunächst das Verschwinden des pit als Relikt einer älteren Theaterform, die in einem ausgeprägten Gegensatz zum Illusionstheater des 19. Jahrhunderts steht, behandelt werden soll. Der groundling ist die elisabethanische Version des pittite. Kulturgeschichtliche Analysen des pit als eines diachronen Phänomens können deshalb wertvolle Hinweise darauf geben, wie diese spezielle Untergruppe des elisabethanischen Publikums von den Viktorianern inhaltlich besetzt wird. Was für die Zuschauer im pit ganz allgemein gilt, so ist zu vermuten, gilt auch - und erst recht? - für deren elisabethanische Ausprägung. Ein wesentliches Kennzeichen scheint aus heutiger Perspektive die ambivalente Position dieses Teils des Theaters zu sein, die sich aus den räumlichen Gegebenheiten herleitet, aber nicht auf diese beschränkt bleibt. [The pit] was an ambiguous part of the house - privileged, because it had the most immediate relationship with the stage, and because it could be seen from many of the other seats; but also low, not only literally, but also in its traditions of exhibitionism, jostling and noise. A box contains its occupants - that is, both affords them a protected space and prevents them from invading other people's space; in the pit, on the other hand, you are out in the open, at once less protected and less constrained.14

Festzuhalten ist zunächst insbesondere das non-containment, die Zügellosigkeit der pittites, aber auch die Tatsache, dass sie sichtbar sind und sich dieser Sichtbarkeit bewusst (»exhibitionism«). Die privilegierte Stellung der pittites, die sich primär aus deren Nähe zur Bühne ergibt, hat allerdings noch eine weitere, in der oben zitierten Passage nicht genannte Dimension: Der pit befindet sich zwischen der Bühne und den Zuschauern auf den übrigen Plätzen, verfügt damit aber über die Möglichkeit, die Relation zwischen diesem Teil des Publikums und dem Bühnengeschehen zu beeinflussen. Er ist eine potentielle Störquelle für die theatrale Illusion der Zuschauer auf den teureren Plätzen.

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Shepherd / Womack, English Drama, S. 112. Allerdings konnten auch Logen sehr öffentlich werden: »[...] to the King's to The Mayds Tragedy; but vexed all the while with two talking ladies and Sir Ch. Sidly [Sir Charles Sedley], yet pleased to hear their discourse, he being a stranger; and one of the ladies would, and did, sit with her mask on all the play; and being exceeding witty as ever I heard a woman, did talk most pleasantly with him; but was, I believe, a virtuous woman and of quality. He would fain know who she was, but she would not tell. Yet did give him many pleasant hints of her knowledge of him, by that means setting his brains at work to find out who she was; and did give him leave to use all means to find out who she was but pulling off her mask. He was mighty witty; and she also making sport with him very inoffensively, that a more pleasant rencontre I never heard. But by that means lost the pleasure of the play wholly, to which now and then Sir Ch. Sidlys exceptions against both words and pronouncing was very pretty. So home and to office; did much business; then home to supper and to bed.« (Samuel Pepys: The Diary of Samuel Pepys. A new and complete transcription edited by Robert Latham and William Matthews. Volume Vffl: 1667. London 1974, S. 71f. (18. Februar 1667))

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Das illusionsstörende Potential der pittites verweist zunächst auf eine Gefährdung bzw. ein Aufbrechen des sozialen Ordnungsgefüges, da diejenigen auf den »billigen Rängen« trotz ihrer »niedrigen« Position das Geschehen insofern bestimmen können, als ein Mangel an Wohlverhalten seitens der pittites das von den Zuschauern auf den teureren Plätzen bezahlte Theatererlebnis zunichte machen kann. Dies bedeutet eine Verzerrung der außerhalb des Theaters gegebenen sozialen Verhältnisse: Während dort ein Mehr an Kap;7al in aller Regel automatisch ein Mehr an Macht bedeutet, ist diese Relation innerhalb des Theaters durch den pit außer Kraft gesetzt. Dessen Verschwinden kann deshalb als Angleichung der Theaterrealität an die gesellschaftliche Realität insgesamt interpretiert werden: »It is no coincidence that the final triumph of the changes in theatre seating occurred in the same era that saw three classes of railway carriages and even separate lifts in blocks of flats.« 15 Bauliche Veränderungen der Theater entsprechen also durchaus den Bedürfnissen einer Gesellschaft, die auf die Aufrechterhaltung sozialer Schranken großen Wert legt. Wenn Vorstellungen über das Theaterpublikum der Renaissance, insbesondere aber über die groundlings, als Projektion einer faktisch nicht mehr gegebenen Theatersituation betrachtet werden, dann spielt auf der einen Seite das Element des Egalitären oder sogar Subversiven für diese historische Fiktion eine entscheidende Rolle, als dessen Kehrseite aber auch das Element der sozialen Kontrolle. Eine soziale und politische Prägung der viktorianischen Neuerungen in der Konzeption des elisabethanischen Publikums, insbesondere des Auftauchens des groundling, liegt im Zusammenhang mit dem Verschwinden des pit also durchaus nahe. [...] [The idea of »groundlings«] is a class myth, whose structure has as much to do with the period of its formation (the nineteenth century) as with the period on to which it is projected (the sixteenth). In particular, the rise of the groundlings as an explanatory category in Shakespeare criticism coincides with the long drawn out decline and fall of a related English theatrical institution: the pit. [...] The groundlings [were] got rid of; and it is easy to see that their appearance in the accepted picture of Elizabethan theatres is an ideological reflex of their expulsion from the Victorian ones. 16

Eines ist dabei einschränkend festzuhalten: Es kann nicht unbesehen davon ausgegangen werden, dass der pit nur eine Domäne der Unterschichten gewesen wäre Baers Untersuchung der Old Price riots (OP riots)17 zeigt deutlich, dass dessen soziale Zusammensetzung durchaus heterogen war: »The complex relationship between occupation and location [in the theatre] qualifies the simple determinism of contemporaries, reiterated by later students, that seating in theatres perfectly reflected the social divisions of Georgian society.« 18 Für die hier untersuchte Frage da-

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Marc Baer: Theatre and Disorder in Late Georgian London. Oxford 1992, S. 53. Shepherd / Womack, English Drama, S. 112ff. Das Covent Garden Theatre in London war im September 1808 komplett abgebrannt. Als das Haus ein Jahr später wiedereröffnet wurde, waren nicht zuletzt wegen der hohen Kosten des Wiederaufbaus die Eintrittspreise erheblich erhöht worden. Aus Protest gegen die neue Preispolitik kam es an 67 aufeinanderfolgenden Abenden zu Unruhen im Publikum den sogenannten Old Price riots. Es handelte sich meist um (erfolgreiche) Versuche, einen ungestörten Ablauf der Bühnenhandlung durch konkurrierende »Inszenierungen« im Publikum (Lärm, »Gegenmonologe«, Tanz etc.) zu verhindern. Baer, Theatre and Disorder, S. 143.

nach, inwieweit Konstruktionen des elisabethanischen Publikums bzw. der groundlings im England des 19. Jahrhunderts unter anderem auch Veränderungen im zeitgenössischen Theater reflektieren, sind die Auffassungen der Zeitgenossen allerdings keineswegs so irrelevant, wie Baer dies für die von ihm bearbeitete Thematik annimmt. Wenn diese das Theater unabhängig von den »tatsächlichen« Gegebenheiten als Abbildung einer sozialen bzw. politischen Realität und insbesondere deren Differenzierungen betrachten, dann ist davon auszugehen, dass ihre (Re-) Konstruktionen einer vergangenen Theaterwirklichkeit, speziell des elisabethanischen pit, von dieser Annahme beeinflusst werden. Eine soziale und politische Besetzung der Kategorie groundling ergibt sich darüber hinaus auch aus der Tradition des Diskurses über das Publikum im 17. und 18. Jahrhundert. Damit ist die Analyse allerdings keineswegs an ihrem Ende, sondern erst an ihrem Anfang. Wenn sowohl das Verschwinden des pit als auch dessen Reflektion im Erscheinen des groundling ein »ideologisches« Phänomen darstellt, so ist zunächst festzustellen, inwiefern der pit über die bereits beschriebenen Zusammenhänge hinaus »politischen« oder »ideologischen« Charakter hat, und worin dieser besteht. Im Zusammenhang mit der im 19. Jahrhundert sich vollendenden Entwicklung der Guckkastenbühne 19 kann der pit in gewisser Weise als Relikt einer früheren Theaterform betrachtet werden, die mit der von der englischen Gesellschaft zunehmend privilegierten Form der theatralen Illusion nicht mehr in Einklang zu bringen ist. Worin sich diese privilegierte Illusionsbildung von älteren Theaterformen unterscheidet, und inwiefern Vorstellungen über das Theater der Shakespearezeit diese Differenz reflektieren, wird insbesondere anhand des Begriffs der Selbstinszenierung und seiner Bedeutung für die Diskussion über das elisabethanische Publikum einerseits und den pit andererseits deutlich. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang einmal mehr Baers Untersuchung über die OP riots von 1809, die auf detaillierten Quellenstudien sowohl des »normalen« Verhaltens der pittites als auch der verschiedenen Protestformen gegen die neuen Eintrittspreise beruht. Baer betont immer wieder das Element der theatricality, das für die OP riots so prägend ist, und in einer ritualisierten Protestform wie dem OP-Dance20 paradigmatisch zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig stellt er fest: »What should be evident [...] is that for most theatre disturbances and certainly for the OP riots, >disorder< was only a variation of normal patterns of audience participation in or reaction to the theatre.« 21 Es ergibt sich damit zunächst eine enge Verbindung zwischen disorder und theatricality bzw. dem, was Sheperd und Womack als exhibitionism bezeichnen.

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Die Komplettierung des Proszeniumsbogens zum picture frame erfolgt 1880 im Haymarket unter Bancroft. Elaine Hadley: The Old Price Wars: Melodramatizing the Public Sphere in EarlyNineteenth-Century England. In: PMLA 107 (1992), S. 524-537. Hier: S. 524. Den OP' Dance beschreibt Baer unter Verweis auf zeitgenössische Quellen folgendermaßen: »[...] [T]he OP dance [...] was performed with deliberate and ludicrous gravity, each person pronouncing the letters O.P. as loud as he could, and accompanying the pronunciation of each with a beat or blow on the floor or the seat beneath him with his feet, a stick, or a bludgeon.« (Baer, Theatre and Disorder, S. 28.) Baer, Theatre and Disorder, S. 182.

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Inwiefern diese Zusammenhänge sich auch auf die Konzeption des elisabethanischen Publikums auswirken, lässt sich paradoxerweise besonders gut an einem nicht-englischen Text aufzeigen - Hippolyte Taines Histoire de la litterature anglaise. Diese zwar nicht in England verfasste, dort jedoch ausgesprochen breit rezipierte Literaturgeschichte nimmt entscheidenden Einfluss auf die Vorstellung vom Theaterpublikum der Renaissance; für die Konzeption »der Elisabethaner« im Diskurs über Shakespeare ist sie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein prägend. Die historische Situation im England der Renaissance stellt Taine zunächst folgendermaßen dar: There was no model imposed upon them [the Elizabethans], as nowadays; instead of affecting imitation, they affected originality. Each strove to be himself, with his own oaths, peculiar ways, costumes, his specialities of conduct and humor, and to be unlike everyone else. They said not, »So and so is done,« but »I do so and so.« [...] Their inborn instincts have not been tamed, nor muzzled, nor diminished. [...] They were carmen in body and gentlemen in sentiment, with the dress of actors and the tastes of artists.22

Bezeichnend ist die Wendung »the dress of actors«. Taine charakterisiert die Elisabethaner als Meister der inszenierten Individualität, einer Individualität allerdings, die nicht naturgegeben zu sein scheint, sondern Gegenstand ständigen Bemühens ist: »Each strove to be himself«. Die Subjekthaftigkeit der Elisabethaner unterliegt offensichtlich einem bewussten Kunstwollen; man könnte beinahe von einer Vorwegnahme des Greenblattschen »self-fashioning« 23 sprechen. Dieser geradezu anarchische Zug der Renaissance tritt bei Taine auch am Beispiel des Theaterpublikums zutage, wobei hier eine explizite Differenzierung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen vorgenommen wird. Taine unterscheidet zwischen »the people in the pit, butchers, mercers, bakers, sailors, apprentices« und »[a]bove them, on the stage, [...] the spectators able to pay a shilling, the elegant people, the gentlefolk.« Bezeichnenderweise lässt Taine die »unspektakuläreren« Galerien unerwähnt, das von ihm beschriebene elisabethanische Theater besteht ausschließlich aus den extrem Privilegierten und der Masse. Trotz der großen Unterschiede zwischen diesen Zuschauerklassen - die in dieser Form beide in den zeitgenössischen Theatern nicht mehr vorhanden sind - wird beiden eine Einstellung zum Theater bzw. der Bühne zugeschrieben, die durch Grenzüberschreitungen charakterisiert ist, durch disorder, unruliness und verschiedene Formen von theatricality. Zunächst zum pit: While waiting for the piece, [the people in the pit] amuse themselves after their fashion, drink beer, crack nuts, eat fruit, howl, and now and then resort to their fists; they have been known to fall upon the actors, and turn the theatre upside down. At other times they were dissatisfied and went to the tavern to give the poet a hiding or toss him in a blanket; they were coarse fellows, and there was no month when the cry of »Clubs« did not call them out of their shops to exercise their brawny arms.24

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Hippolyte A. Taine: History of English Literature [ Band 1 der frz. Ausgabe erstmals erschienen 1863]. Translated from the French by H. van Laun. In three Volumes. Volume I New York 1877, S. 257f. Zu beachten bleibt dabei allerdings, dass die Kleiderordnung im frühneuzeitlichen England strikt geregelt war. Vor allem Taines Darstellung weicht also deutlich von den (in diesem Falle gesicherten) historischen Fakten ab. Taine, History, S. 254.

Taines elisabethanische pittites verhalten sich zunächst in einem relativ einfachen Sinne subversiv - sie randalieren. Sowohl die bauliche Intaktheit des Theaters als auch die körperliche Unversehrtheit der Schauspieler bzw. des Dichters können einem tätlich zum Ausdruck gebrachten Negativurteil über ein Stück zum Opfer fallen. Dieser Umstand hat jedoch nicht nur den Aspekt der simplen Krawallmacherei. Indem sie das Privileg des Handelns für sich in Anspruch nehmen, verstoßen Taines pittites gegen die Konventionen einer späteren Zeit - und eines anderen Theaters. Wenn Schauspieler auf der Bühne die vom Autor vorgegebene fiktive Handlung nachahmend darstellen, verlagern sie diese Fiktion vom Bereich des rein Imaginären in den des visuell konkret Fassbaren. In diesem Sinne »handeln« sie, jedoch nicht nach ihren eigenen Intentionen, sondern innerhalb mehr oder minder enger Vorgaben. Die Bühne nimmt damit eine Zwischenstellung zwischen der rein imaginären und der tatsächlichen, im vollen Sinne intentionalen Handlung ein; eine prekäre Position, die der Regelung bedarf, auch mit Hinsicht auf den Reaktionsspielraum des Publikums. Vom 18. zum 19. Jahrhundert entwickelt sich diese Regelung immer mehr dahingehend, dass die beinahe einzige erlaubte Handlung seitens des Publikums in Reaktion auf die Bühnenhandlung die des Beifallklatschens ist, ein ungeschriebenes Gesetz, gegen das der von Baer beschriebene pit der Old Price Riots, aber auch Taines Elisabethaner, verstoßen. Viktorianische Beschreibungen der groundlings gehen häufig in die gleiche Richtung.25 Dadurch, dass auf die Bühnenhandlung nur mehr mit der Handlung des Klatschens geantwortet werden kann, wird die Grenze zwischen Fiktion und Realität befestigt. Taines randalierende Metzger, Bäcker und Lehrburschen aber stellen genau diese Grenzziehung in Frage. In anderer Form tun dies auch diejenigen, die sich durch ihren Platz auf der Bühne von vornherein schon besonders »nahe« an der dort dargestellten Fiktion befinden. Taine schreibt: [The gentlefolk] gesticulate, swear in Italian, French, English; crack aloud jokes in dainty, composite, high-colored words: in short, they have the energetic, original, gay manners of artists, the same humor, the same absence of constraint, and, to complete the resemblance, the same desire to make themselves singular, the same imaginative cravings, the same absurd and picturesque devices, beards cut to a point, into the shape of a fan, a spade, the letter T, gaudy and expensive dresses, copied from five or six neighboring nations, embroidered, laced with gold, motley, continually heightened in effect or changed for others: there was, as it were, a carnival in their brains as well as on their backs.26

»All the world's a stage, and all the men and women merely players« - für Taines Renaissance trifft dies den Kern der Sache. Die elegante Welt auf der Bühne stellt eine mit der »eigentlichen« (eine problematische Apostrophierung) Bühnenhandlung konkurrierende Inszenierung dar: Ebenso wie das, was die Schauspieler darstellen,

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Vgl. ζ. B. A. C. Bradley, Shakespeare's Theatre and Audience, S. 378: »[In the back stage] was the curtain (more strictly, the curtains) through which the actors peeped at the audience before the play began, and at which the groundlings hurled apples and other missiles to hasten their coming or to signify disapproval of them.« (Bradley, A. C.: Shakespeare's Theatre and Audience [1902]. In: Ders.: Oxford Lectures on Poetry. London 1934, S. 361393.) Taine, History, S. 254f.

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ist die von den adligen Theaterbesuchern auf der Bühne zur Schau gestellte Person ein Kunstprodukt. Es handelt sich somit um eine weiteres Beispiel für die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion, eine Umstand, dessen destabilisierende Wirkung sich schon in Taines Wortwahl ausdrückt: Die Kleidung wird als »motley« beschrieben, als »continually heightened or changed«, sie ist ein Stückwerk aus der Mode von fünf oder sechs verschiedenen Nationen, lässt sich nicht einer bestimmten Identität zuordnen, ist semantisch fluktuierend und vage und damit schwer zu kontrollieren, ähnlich wie der sich in einer langen Kette von Reihungen permanent entziehende Satz Taines. Die Inszenierung des adeligen Subjekts, wie sie auf der elisabethanischen Bühne stattfindet, steht paradigmatisch für die ontologische Problematik des Dramas, wie sie auf der elisabethanischen Bühne besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Während das Theater des 19. Jahrhunderts die Grenze zwischen Fiktion und Realität zunehmend durch klare strukturelle Oppositionen markiert - der Zuschauerraum wird dunkel, die Bühne erleuchtet, ein Vorhang kündigt Anfang, Ende und Unterbrechung der Fiktion an, »Darstellung« ist auf die Bühne beschränkt, auf der sich ausschließlich Schauspieler befinden - verzichtet das Theater der Shakespearezeit auf alle diese materiellen »Fiktionsmarkierungen«, ja thematisiert oft genug das Verschwimmen eben jener Grenze zwischen »echter« und »gespielter« Wirklichkeit. Die Unterscheidung zwischen Schauspieler und Zuschauer droht zusammenzubrechen. Die grundlegende Fremdheit des elisabethanischen Theaters und seiner Besucher manifestiert sich für Taine allerdings nicht nur in einem undisziplinierten Darstellungstrieb, sondern auch in einer ebenso undisziplinierten Körperlichkeit: When the beer took effect, there was a great upturned barrel in the pit, a peculiar receptacle for general use. The smell rises, and then comes the cry »Burn the juniper!« They bum some in a plate on the stage, and the heavy smoke fills the air. Certainly the folks there assembled could scarcely get disgusted at anything, and cannot have had sensitive noses. In the time of Rabelais there was not much cleanliness to speak of. Remember that they were hardly out of the middle age, and that in the middle age man lived on a dunghill.27

Die von Taine geradezu riechbar dargestellten Zustände im pit sprechen eine eindeutige Sprache: Hier stehen ansonsten tabuisierte körperliche Funktionen im Vordergrund. Auch respektieren die elisabethanischen pittites, wie weiter oben dargelegt, das Handlungsmonopol der Bühne nicht. Bezeichnend ist aus heutiger Sicht schließlich der Verweis auf Rabelais: Sowohl die Aufhebung der Differenzierung zwischen Darsteller und unbeteiligtem Betrachter wie auch die betonte Körperlichkeit der von Taine beschriebenen essenden, trinkenden, heulenden (!) und gewalttätigen pittites oder groundlings verweisen auf das Bachtinsche Konzept des Karnevalesken: Die Sprache des Karnevals, ein System von Zeichen, die, nach bestimmten Regeln ausgewählt und zu Folgen kombiniert, kulturellen Sinn hervorbringen, verfügt über eine bestimmte Anzahl von Paradigmen, die alle vom Lachprinzip bestimmt sind. Diese Paradigmen sind: fröhliche Relativität, Instabilität, Offenheit und Unabgeschlossenheit, das Metamorphotische, die Ambivalenz, das Exzentrische, die Materialität-Leiblichkeit, der Über-

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Taine, History, S. 254.

fluss, das Austauschen der Wertpositionen: oben / unten, Herr / Sklave, und das Gefühl der Universalität des Seins. 28

Aus der Unabgeschlossenheit des Karnevals, seiner Instabilität und Ambivalenz, ergibt sich sein grundlegend partizipativer Charakter: Der Karneval kennt keine Unterscheidung zwischen Darstellern und Zuschauern. Er kennt keine Rampe, nicht einmal in der rudimentärsten Form. Die Rampe würde den Karneval zerstören (wie umgekehrt die Abschaffung der Rampe das Theater zerstören würde). Den Karneval schaut man sich nicht an, man lebt ihn, alle leben ihn, denn er ist von seiner Idee her dem ganzen Volk gemeinsam. M

Während Taine verschiedene Aspekte des Karnevalesken (»there was, as it were, a carnival in their brains as well as on their backs«) auf verschiedene Publikumssegmente des älteren Theaters verteilt - im Essen und Trinken der pittites ist eine der wesentlichen Funktionen des grotesken Körpers zu sehen 30 , die adeligen Zuschauer auf der Bühne machen schon allein durch ihre räumliche Position den Schauspielern ihr Privileg der Zurschaustellung streitig - bündelt der englische pit des 18. und 19. Jahrhunderts das gesamte karnevaleske Spektrum. Sowohl subversive Körper- bzw. Tätlichkeit als auch mit der Bühnenwirklichkeit konkurrierende Selbstinszenierung werden immer wieder mit diesem Teil des Publikums in Verbindung gebracht. Der pit erweist sich damit als Atavismus, als das »prinzipiell und unausrottbar >Nichtoffizielleevery person a criticInterdum dormitat Homerus.< Homer is sometimes

80 81

John W. Hales: Notes and Essays on Shakespeare. London 1884, S. 288f. Haies, Notes and Essays, S. 289.

114

caught napping. But Shakespeare never? No one would deliberately say so; and yet perpetually critics argue on this presumption.«82 Inferiorität und Authentizität schließen sich also nicht aus: Ein Shakespeare mit gelegentlich nachlassenden Kräften tritt an die Stelle der Vorstellung eines immer gleich genialen, jedoch zu Zugeständnissen an die Masse bereiten Dichters. Wollte man diese Veränderung aus der Sicht der weniger (oder auch nur auf andere Weise) verklärenden Shakespearerezeption des 20. und 21. Jahrhunderts beurteilen, man könnte sie durchaus als Wandel hin zu größerer Realitätsnähe betrachten. Eine derartige Wertung sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter Haies Argumentation nur bedingt eine Relativierung des Shakespeareschen Prestiges steht, und erst recht nicht eine stärkere Gewichtung des »populären« Elements der Dramen - im Gegenteil: Haies verändert die Konzeption der groundlings im Grunde nämlich dahingehend, dass die Passagen, aus denen ihre Existenz überhaupt erst abgeleitet worden waren, nicht mehr als Konzessionen an ihren Geschmack interpretiert werden müssen. Der »echte« groundling ist - auch wenn er sich auf einem anderen als seinem angestammten Platz befindet - »genuine animal«, »thorough-bred sensationalist«83; Shakespeares »schlechte« Passagen sind somit nicht schlecht genug, um dem Geschmack dieser Halbbarbaren gerecht zu werden. Damit ist Shakespeare gerettet, der groundling auf eine noch tiefere Stufe gestellt. Sowohl Haies als auch Bradley negieren also eine direkte Relation zwischen der als obszön bzw. pietätlos interpretierten Pförtnerszene und einem bestimmten Publikumssegment, auf dessen Existenz unter anderem gerade aufgrund dieser Szene geschlossen worden war. Paradoxerweise tragen sie aber innerhalb genau dieses Vorgangs zur weiteren Ausdifferenzierung und vor allem zur Verselbständigung der Vorstellungen von dieser Zuschauergruppe bei. Die groundlings werden nicht mehr durch die Pförtnerszene in Macbeth charakterisiert, die ihrem Geschmack vermeintlich entspricht, sondern erhalten eine Existenz, die losgelöst vom Shakespearekanon ist. Sie sind damit nicht mehr in die Dramen »eingeschrieben«, sondern bestehen außerhalb und unabhängig von ihnen. Diese »Auslagerung« hat nicht nur Auswirkungen auf die Konzeption der groundlings, sondern erleichtert darüber hinaus die Anpassung der kulturellen Integrationsfigur Shakespeare an die stark moralisierende Grundhaltung dieser Phase der Rezeptionsgeschichte, und zwar auch deshalb, weil der Text der Dramen im 19. noch mehr als im 18. Jahrhundert in den Vordergrund rückt und schließlich gegenüber der Performanz dominiert. Wenn die groundlings nicht in diesen »eingeschrieben« sind, dann ist auch all das nicht Teil dieses Textes, was an negativen Eigenschaften mit ihnen assoziiert wird. Shakespeare kann damit in die Reihe der großen »Integrierer« von Kunst und Moral eingereiht werden: The motive of Shakspeare, the master-thought at the bottom of Shakspeare's production, is the same as the master-thought at the bottom of the production of Homer and Sophocles, Dante and Moliere, Rousseau and George Sand. With all the differences of manner, power

82 83

Hales, Notes and Essays, S. 290. An der Vorstellung vom groundling als sensationalist zeigt sich einmal mehr der Einfluss des Melodramas und seines viktorianischen Publikums auf die Ausformung der neuen Spezies.

115

and performance between these makers, the governing thought and motive is the same. It is the motive enunciated in the burden to the famous chorus in Agamemnon - [...] »Let the good prevail.« Until this is recognized, Shakspeare's work is not understood. We connect the word morality with preachers and bores, and no one is so little of a preacher and bore as Shakspeare; but yet to understand Shakspeare aright, the clue to seize is the morality of Shakspeare. The same with the work of the older French writers, Moliere, Montaigne, Rabelais. The master-pressure upon their spirit is the pressure exercised by this same thought: »Let the good prevail.« And the result is that they deal with the life of all of us the life of man in its fulness and greatness. 84 Allerdings stand die viktorianische Gesellschaft nicht nur bezüglich der Herleitung dieser Moral aus den Dramen Shakespeares, sondern auch b e z ü g l i c h ihrer A l l g e meinverbindlichkeit in der e i g e n e n Gegenwart durchaus vor e i n e m Problem. Zahlreiche Sozialstudien, darunter auch die von der Regierung in Auftrag g e g e b e n e n Blue Books85

attestierten den z e i t g e n ö s s i s c h e n Unterschichten eine ähnliche Verro-

hung, w i e sie Bridges und zahlreiche andere den Elisabethanern im A l l g e m e i n e n oder den groundlings

i m S p e z i e l l e n zuschrieben. D i e s e Vorstellung fand auch in die

viktorianische Kulturkritik Eingang. Im Z u g e seiner Dreiteilung der Gesellschaft in Barbaren, Philister und g e m e i n e s V o l k verweist auch Matthew Arnold Rohheit, Grobheit, Brutalität und Unmoral d e m unteren Bevölkerungsdrittel als typische Eigenschaften zu (auch w e n n A n g e h ö r i g e anderer sozialer Schichten ebenfalls Ansätze zu unterschichttypischem Fehl verhalten in sich tragen): And as to the populace, who, whether he be Barbarian or Philistine, can look at them without sympathy, when he remembers how often, - every time that we snatch up a vehement opinion in ignorance and passion, every time that we long to crush an adversary by sheer violence, every time that we are envious, every time that we are brutal, every time that we adore mere power or success, every time that we add our voice to swell a blind clamour against some unpopular personage, every time that we trample savagely on the fallen, - he has found in his bosom the eternal spirit of the Populace, and that there needs only a little help from circumstances to make it triumph in him untameably? 86 A u c h die Romanliteratur der Zeit reproduziert derartige A u f f a s s u n g e n . Autoren w i e Gissing tendieren in ihren Darstellungen des niederen V o l k e s kaum zur verniedlichenden Stilisierung oder zur counter-picturesqueness

eines Dickens. D i e s zeigt sich

beispielhaft an der Beschreibung des karnevalesken V o l k s v e r g n ü g e n s u m den Crystal Palace (Kapitelüberschrift ist »Io Saturnalia!«): [The grounds around the Crystal Palace are] a great review of the People. [...] Not one in a thousand shows the elements of taste in dress; vulgarity and worse glares in all but every

84

85

86

Matthew Arnold: George Sand. In: Philistinism in England and America. Edited by R. H. Super. (= The Complete Prose Works of Matthew Arnold, Vol. X) Ann Arbor 1974, S. 187-189. Hier: S. 188. Aufgrund der Farbe des Einbands wurden ursprünglich alle Veröffentlichungen im Auftrag des Unter- bzw. Oberhauses als Blue Books bezeichnet. Kaum eine erzielte allerdings ein so hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit wie die auf Beschluss des Parlaments durchgeführten Sozialstudien: Sprach man von Blue Books, waren - soweit nicht weiter spezifiziert - meist diese Erhebungen gemeint. Matthew Arnold: Culture and Anarchy [1869]. Edited by Samuel Lipman. New Hav e n / L o n d o n 1994, S. 72.

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costume. Observe the middle-aged women; it would be small surprise that their good looks had vanished, but whence comes it they are animal, repulsive, absolutely vicious in ugliness? Mark the men in their turn: four in every six have visages so deformed by ill-health that they excite disgust; their hair is cut down to within half an inch of the scalp; their legs are twisted out of shape by evil conditions of life from birth upwards. Whenever a youth and a girl come along arm-in-arm, how flagrantly shows the man's coarseness! They are pretty, so many of these girls, delicate of feature, graceful did but their slavery allow them natural development; and the heart sinks as one sees them side by side with the men who are to be their husbands. 87

Giesings Beschreibung des Volkes erfolgt unter einem Blickwinkel, der Ästhetik und Moral auf das engste verbindet: Die Vulgarität selbst der jüngeren Frauen zeigt sich schon an ihrer Kleidung, bei denen mittleren Alters ist die Depraviertheit offensichtlich soweit fortgeschritten, dass ihnen die Menschlichkeit - auch bezüglich des moralischen Empfindens - abgesprochen wird (»animal«). Die Formulierung »vicious in ugliness« schließlich macht vollends deutlich, dass auch die nachfolgende Beschreibung der männlichen Besucher keineswegs bloß auf eine Wiedergabe ihres äußeren Erscheinungsbilds abzielt, sondern vielmehr auch ein Innenleben evoziert, auf das Gissings Leserschaft ebenso wie auf die Gesichter der Männer mit Ekel reagiert. Auch das metaphorische »the heart sinks« deutet auf eine Mischung von intellektuellen und körperlichen Reaktionen hin - ein Hinweis darauf, wie sehr der Moralkodex internalisiert worden ist, aber auch ein Pendant zur implizierten Deckungsgleichheit zwischen dem verkommenen Äußeren und dem verkommenen Inneren des Volkes. Beschreibungen der Depraviertheit der unteren Bevölkerungsschichten finden sich nicht nur in fiktionalen Texten wie dem Gissings. Auch Mayhews London Labour and the London Poor bietet reichlich Material, das fiktionale Entwürfe wie den Gissings als »realistisch« bestätigt. In der folgenden Passage beschreibt Mayhew das Publikum eines penny gaff\ besonders bemerkenswert ist dabei die Verbindung von karnevalesker unruliness mit moralischer Abgestumpftheit - beides Elemente, die auch dem elisabethanischen Publikum und insbesondere den groundlings immer wieder zugeschrieben werden. When [the audience of the previous performance] had left, a rush for places by those in waiting began, that set at defiance the blows and stragglings of a lady in spangles who endeavoured to project order and take the checks. [...] Singing and dancing formed the whole of the performance, and, of the two, the singing was preferred. [...] The »comic singer,« in a battered hat and the huge bow to his cravat, was received with deafening shouts. Several songs were named by the costers, but the »funny gentleman« merely requested them »to hold their jaws,« and putting on a »knowing« look, sang a song, the whole point of which consisted in the mere utterance of some filthy word at the end of each stanza. Nothing, however, could have been more successful. The lads stamped their feet with delight; the girls screamed with enjoyment. Once or twice a young shrill laugh would anticipate the fun - as if the words were well known - or the boys would forestall the point by shouting it out before the proper time. When the song was ended the house was in a delirium of applause. The canvass front to the gallery was beaten with sticks, drum-like, and sent down showers of white powder on the heads in the pit. Another song followed, and the actor knowing on what his success depended, lost no opportunity of increasing his laurels. The most obscene thoughts, the most disgusting scenes were coolly described, making a poor child near me

87

George Gissing: The Nether World [1889]. London / New York 1973, S. 109f.

117

wipe away the tears that rolled down her eyes with the enjoyment of the poison. [...] One [of the songs,] written about »Pine-apple rock,« was the grand treat of the night, and offered greater scope to the rhyming powers of the author than any of the others. In this, not a single chance had been missed; ingenuity had been exerted to its utmost lest an obscene thought should be passed by, and it was absolutely awful to behold the relish with which the young ones jumped to the hideous meaning of the verses. There was one scene yet to come, that was perfect in its wickedness. A ballet began between a man dressed up as a woman, and a country clown. The most disgusting attitudes were struck, the most immoral acts represented, without one dissenting voice. If there had been any feat of agility, any grimacing, or, in fact, anything with which the laughter of the uneducated classes is usually associated, the applause might have been accounted for; but here were two ruffians degrading themselves each time they stirred a limb, and forcing into the brains of the childish audience before them thoughts that must embitter a life time, and descend from father to child like some bodily infirmity. 88 D i e Diskrepanz z w i s c h e n den v o n M a y h e w beschriebenen, v o n der Unmoral w i e v o n einer p h y s i s c h e n Krankheit befallenen Kindern einerseits und den Kinderheilig e n und Kindermärtyrern e i n e s D i c k e n s andererseits ist größer kaum vorstellbar. D a s s die Kultur der penny

gaffs Vorstellungen v o n moralischer Wohlanständigkeit,

w i e sie sich die viktorianische Mittelschicht aufs Banner geschrieben hatte, absolut zuwiderläuft, ist evident. B e z e i c h n e n d e r w e i s e findet sich in der Beschreibung der für M a y h e w so schockierenden Vorstellung aber auch ein Großteil der Elemente, die immer wieder speziell mit den groundlings

assoziiert werden - Musik, Körperko-

mik, vor allem aber Obszönität. Z w i s c h e n der kulturellen Funktion einer derart g e z e i c h n e t e n Unterschicht und der der groundlings

ergibt sich damit durchaus eine

g e w i s s e Parallelität. Was [von Mayhew] offensichtlich entworfen wird, ist der Gegentyp zum viktorianischen Bürger. [...] Doch geleitet von Mayhews nachdenklichem und eine gewisse Faszination nicht verhehlenden Kommentar [...] wird die Position in der Negation sichtbar: die Elemente des Heroischen im Ertragen von Entbehrungen; der intensive Genuss des Augenblicks, der von bürgerlicher Sorge und Vor-Sicht stets in die Zukunft verschoben wird; die Freiheit, die sich selbst aufs Spiel setzen darf; eine sinnenhaft-sinnliche Lebensweise und Körperlichkeit, wie sie die wiederholte Verwendung von Wörtern wie Lust, Leidenschaft, Gefallen, Freude anzeigt. Das Straßenvolk lebt für Mayhew nicht nur in einem materiellökonomischen Reich der Notwendigkeit, es lebt auch in einem libidinösen Reich der Freiheit, das inmitten der viktorianischen Welt als ein anarchisches Fremdes, als ein lustvoll Anderes existiert. 89 Insbesondere b e z ü g l i c h des Aspekts des u n g e z ü g e l t Libidinösen und der unkontrollierten Körperlichkeit können auch das elisabethanische Publikum und insbesondere die groundlings

als »bürgerliche Projektion« 9 0 bezeichnet werden. In d i e s e m Zu-

sammenhang ist es w e n i g verwunderlich, dass die Charakterisierung der Moral oder Unmoral s o w o h l der groundlings

als auch der Unterschichten immer wieder u m

Fragen der i m Viktorianismus mit so zahlreichen Tabus belegten Sexualität kreist.

88 89

90

Mayhew, London Labour, S. 41 f. Kurt Tetzeli von Rosador: Henry Mayhews Vielstimmigkeit. In: Mayhew, Henry: Die Armen von London. Ein Kompendium der Lebensbedingungen und Einkünfte deijenigen, die arbeiten wollen, derjenigen, die nicht arbeiten können, und derjenigen, die nicht arbeiten wollen. Frankfurt / Main 1996, S. 361-381. Hier: S. 376f. Tetzeli, Henry Mayhews Vielstimmigkeit, S. 277.

118

Nicht umsonst entsetzt sich Mayhew vor allem über die zahlreichen Mädchen im von ihm beobachteten Publikum, da deren Verhalten sowohl dem Ideal viktorianischer Weiblichkeit zuwiderläuft als auch die Vorstellung von der Kindheit als Zeit der Gnade und der naturgegebenen Unschuld demontiert. In diesem Zusammenhang ist auch Bridges' weiter oben zitierte Entrüstung über Mirandas verbalen Wagemut zu sehen, den er unter Rekurs auf das depravierte elisabethanische Publikum erklärt. Von der viktorianischen Publizistik gern als soziales Integrationsmittel reklamiert, erweist sich Moral in den zuvor zitierten Texten als durchaus klassenspezifisch: Die Unterschicht verfügt nur sehr begrenzt über moralische Maßstäbe. Dies bedeutet: Wenn Shakespeares moralische Fehltritte einem historischen Publikumssegment zugeschoben werden, das in seiner moralische Depraviertheit den zeitgenössischen Unterschichten gleicht, dann ergibt sich daraus nicht nur der Ausschluss der groundlings vom »echten«, transhistorischen Shakespeare, sondern auch der Ausschluss der viktorianischen Unterschichten von der Teilhabe am immer wieder als Identifikations- und Integrationsfigur beschworenen »Nationalbarden«. Disraelis so oft zitierte »two nations« verfügen also nicht nur über eine geteilte Moral, sondern auch über einen geteilten Shakespeare: Melodramatische Einlagen, Effekthascherei, Grobheiten und obszöne Entgleisungen für den groundling, sei er nun elisabethanisch oder viktorianisch, der hochwertige Restbestand für die bessergestellten Schichten. Auf diese Weise werden die »anstößigen« Stellen in den Dramen zum Prüfstein für die moralische Unanfechtbarkeit des Rezipienten, damit aber auch zum Ort der Konstituierung identitätsstiftender Differenz: [...] Shakespeare should not be put into the hands of the young without the warning that the foolish things in his plays were written to please the foolish, the filthy for the filthy, and the brutal for the brutal; and that, if out of veneration for his genius we are led to admire or even tolerate such things, we may be thereby not conforming ourselves to him, but only degrading ourselves to the level of his audience, and learning contamination from those wretched beings who can never be forgiven their share in preventing the greatest poet and dramatist of the world from being the best artist.91

Dabei stellt sich für die Kritiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bezüglich des Shakespeareschen Werkes ein in gewisser Weise ähnliches Problem wie bezüglich des Melodramas: Während dessen klare moralische Wertungen, die deutliche Absetzung von Gut und Böse, auf eine geradezu didaktische Zielsetzung des Genres zu deuten schienen, lief die Abbildung klarer Normverstöße und unmoralischen Verhaltens einer solchen Interpretation zuwider. Shakespeares prinzipiell zu verurteilendes »Aus-der-Rolle-Fallen« in Form der Zugeständnisse an ein nach Unterhaltung strebendes, moralischen Werten gegenüber gleichgültiges Publikum stand in krassem Gegensatz zu den ästhetischen und (moral-) philosophischen Höhenflügen des »Barden«. Bradley geht diese Schwierigkeit folgendermaßen an: Ignorant, noisy, malodorous, too fond of dances and songs and dirty jokes, of soldiers and trumpets and cannon, the groundling might be: but he liked poetry. If he had not liked it,

91

Bridges, Influence, S. 28f.

119

he, with his brutal manners, would have silenced it, and the Elizabethan drama could never have been the thing it was. 92

Auch hinter dieser Passage steht eine komplexe logische Operation: Groundlings müssen roh und ungehobelt gewesen sein, um die Existenz bestimmter Passagen erklären zu können. Aufgrund dieser Grobschlächtigkeit verfügen sie aber über ein derart großes Störpotential, dass es kaum mehr vorstellbar ist, wie den groundlings nicht genehme Stücke und Passagen auf der elisabethanischen Bühne hätten bestehen sollen. In den stinkenden Rabauken müssen also, das schließt nicht nur Bradley, poetische Seelen gewohnt haben.

5.5 A nation of

groundlings!

Innerhalb der bislang untersuchten Kontexte erweist sich die viktorianische Vorstellung vom elisabethanischen Publikum und insbesondere von den groundlings als eine deutlich negative. Die Theaterbesucher in ihrer Gesamtheit, insbesondere aber die auf den Stehplätzen, stellen in vielfacher Hinsicht einen Gegenentwurf zum Selbstbild derjenigen Schichten dar, die Shakespeare für die dominante Kultur in Anspruch nehmen (wollen). Vor diesem Hintergrund ist es verwunderlich, wenn sich ausgerechnet bei einem Klassiker der viktorianischen Shakespearekritik wie Edward Dowden folgende Passage findet: »The [Elizabethan] drama was not the creation of a few eminent individuals, but rather a product of the national mind distinguished by the features of the national character.« 93 Die enorme Bedeutung des elisabethanischen Dramas - und damit Shakespeares - scheint für Dowden, ebenso wie vor ihm für Hazlitt, weniger Ergebnis individueller Begabung als vielmehr Manifestation einer kollektiven Befindlichkeit zu sein. Neben dem genieästhetischen Ansatz, der in Shakespeare vor allem das herausragende Individuum sieht, besteht die Interpretation der englischen Renaissance als einer Zeit herausragender »Volkspoesie« (Herder) also weiter. Diese Vorstellung von der Renaissance als Epoche der »nationalen Größe«, wie sie bei Dowden anklingt, ist der Grundannahme der im 18. Jahrhundert entwickelten historischen Apologie, die Shakespeares »Mängel« auf sein pauschal als barbarisch abgeurteiltes Zeitalter schiebt, polar entgegengesetzt. Da der Topos vom elisabethanischen Publikum aber in engster Verbindung mit der historischen Apologie Shakespeares entsteht, ja geradezu die paradigmatische Erscheinungsform dieser Apologie darstellt, wäre anzunehmen, dass im Kontext einer national orientierten Interpretation der (Literatur-) Geschichte, die die Sicht der »Shakespearezeit« radikal zum Positiven verändert, auch eine Modifikation der Vorstellung vom Shakespearepublikum stattfindet, wie sie etwa Hazlitt, eingeschränkt aber auch Coleridge, vornimmt. Dass dies in vielerlei Zusammenhängen auch im 19. und frühen 20. Jahrhundert gerade nicht der Fall ist, haben die bisherigen Analysen gezeigt; auch

92 93

Bradley, Shakespeare's Theatre, S. 392. Edward Dowden: Introduction to Shakespeare. London 1893, S. 44.

120

die Tatsache, dass der Begriff groundling

gerade in dieser Zeitspanne s o l c h e Kon-

junktur entwickelt, spricht - zunächst - g e g e n eine s o l c h e Annahme. Ein B l i c k auf die gesamte Bandbreite der viktorianischen Shakespearerezeption zeigt j e d o c h , dass die Vorstellungen v o m elisabethanischen Publikum und die Argumentationszusammenhänge, innerhalb derer auf d i e s e s B e z u g g e n o m m e n wird, k e i n e s w e g s s o bruchlos sind, w i e es bislang den A n s c h e i n hatte. Deutlich vor D o w den, deutlich auch vor Bradleys Vorstellung des groundling

mit der lyrischen Ader

findet sich b e i s p i e l s w e i s e bei Froude e i n e Darstellung der Elisabethaner, die de facto einen Gegenentwurf z u m sonst s o dominanten Bild der rüden Rabauken darstellt. S e i n e K o n z e p t i o n der englischen Renaissance erweist sich in mancherlei Hinsicht als rückwärtsgewandte Utopie: No great general ever arose out of a nation of cowards; no great statesman or philosopher out of a nation of fools; no great artist out of a nation of materialists; no great dramatist except when the drama was the passion of the people. Acting was the especial amusement of the English, from the palace to the village green. It was the result and expression of their strong tranquil possession of their lives, of their thorough power over themselves, and power over circumstances. They were troubled with no subjective speculations; no social problems vexed them with which they were unable to deal; and in the exuberance of vigour and spirits they were able, in the strict and literal sense of the word, to play with the materials of life. 94 Insbesondere auch in den Literaturgeschichten, die mit ihrer »nationalen« Schwerpunktsetzung für den öffentlichen Diskurs immer wichtiger werden 9 5 , lässt sich eine K o n z e p t i o n des elisabethanischen Publikums erkennen, die oft deutlich von der bislang umrissenen abweicht. D i e s gilt vor allem b e z ü g l i c h desjenigen Aspekts, der s o w o h l i m Z u s a m m e n h a n g mit d e m pit b z w . s e i n e m V e r s c h w i n d e n als auch i m Kontext des viktorianischen Melodrama immer wieder in den Vordergrund gerückt war: popular

theatre96

Wards History

of English

94

95

96

und popular Dramatic

audience. Literature

Paradigmatisch zeigt sich dies in to the Death

of Queen

Anne:

James Anthony Froude: History of England from the Fall of Wolsey to the Death of Elizabeth. Vol. 1 London 1856. Vgl. dazu Klaus Stierstorfer: Konstruktion literarischer Vergangenheit. Die englische Literaturgeschichte von Warton bis Courthope und Ward. Heidelberg 2001, S. 203: »Nach und nach stieg sie [die Literaturgeschichte] zum alles überragenden Paradigma der Beschäftigung mit Literatur auf und hielt diesen Platz bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Diese neue Wertigkeit der Gattung blieb keineswegs auf den literarischen Diskurs beschränkt, sondern erstreckte sich auch auf das gesamte kulturelle und gesellschaftliche Umfeld. Englische Literatur und Geschichte wurde zu einem wichtigen Austragungsort des gesellschaftlichen und politischen Disputs im viktorianischen Großbritannien. Die Folge war, dass sie sich als der dominante Diskurs an den zentralen Schaltstellen soziokultureller Reproduktion in den Schulen und Universitäten, aber auch als kultureller Hintergrund für die Organisation und Verwaltung des gesamten Empire institutionell zu etablieren begann.« Während der Begriff des popular theatre im Deutschen mit »Volkstheater« (bzw. dem volkskundlichen Begriff eines »populären« Theaters) zumindest annähernd wiedergegeben werden kann (wobei der deutsche Begriff andere Konnotationen hat als der englische), stellen sich bezüglich popular audience erhebliche Schwierigkeiten. Es werden deshalb die englischen Begriffe verwendet. 121

Before the Elisabethan [sic] period, there existed no higher secular literature which was, properly speaking, the possession of the nation. It was unacquainted with what it possessed, and therefore did not possess it. [... ] Surrey and Wyatt and their successors, Sidney and even Spenser himself, with their sonnets and odes and allegories in prose and verse, had neither aimed at nor succeeded in popularising higher poetic literature. The chroniclers with leaden foot were only beginning to follow the chapmen and their dubious wares into the homes of the people. The stage had at last furnished a field for the growth of a literature which was of its nature essentially popular [meine Hervorhebung], Men of talent, quite recently even men of genius, had begun to awake to so magnificent an opportunity. [...] When, therefore, Shakspere came up to London as a youth ambitious of trying his fortune, he had before him the choice of entering the old or the new sphere of literary life. If he desired literary fame, in the circles which regarded themselves and were regarded by authors as its dispensers, he would have to seek it by compositions such as those which perhaps he brought with him to London, which at all events were early productions, and were more than equal in merit to most of what accepted poets had produced for the entertainment of lords and ladies and the satisfaction of academical critics. [...] On the other hand there was the stage, supported as a pastime by a section of the same kind of patrons, or relying amidst dangers and difficulties upon its popularity among the lower orders. Here in return for hard toil, for a willingness and an aptitude to meet the tastes of very different classes of supporters was the prospect of modest gain, and of a doubtful position; here was also the opportunity of displaying, after an inevitable period of apprenticeship, the full vigour of conscious genius. Shakspere, without wholly abandoning the intent to please by literary offerings of the other kind, chose the stage. The motives which determined the choice it is impossible to estimate; the result was that he at once and for ever associated his genius with the tendency which popularised and nationalised poetic literature. 97 Wards letzter Satz gibt den entscheidenden Hinweis, worin der Grund für die im Vergleich zum bislang Besprochenen so veränderte Bewertung des Populären zu suchen ist: im äußerst engen, wenn nicht sogar unauflösbaren Zusammenhang zwischen popularization

und nationalization98,

oder anders - zwischen V o l k und Nati-

on. D i e Konzeption eines historisch konstanten Volksganzen, das sich durch seine anderen Nationen potentiell überlegene spezifische Eigenart auszeichnet, ist ein wesentliches Element jeder nationalistischen Argumentation. Aufgrund des kollektiven Charakters des Theatererlebnisses bietet das Drama weitaus mehr als andere literarische Gattungen die Gelegenheit zur Manifestation und Tradition nationaler Einheit. Das genuine »Volkstheater«, das alle gesellschaftlichen Schichten im Theatererlebnis zu einer Gemeinschaft zusammenfasst - und der »nivellierende« pit hat diesbezüglich Beispielscharakter - stellt sich als Miniaturmodell der Nation in ihrer Gesamtheit dar. Im Kontext des kulturellen Nationalismus muss die Konzeption des Publikums damit notwendig eine positive s e i n . "

97

98

99

Adolphus William Ward: A History of English Dramatic Literature to the Death of Queen Anne. Vol. 1 London 1875, S. 273f. Ähnlich ζ. Β. auch Seccombe / Allen, Age of Shakespeare, S. 4: »It was the desire of [Renaissance dramatists] to nationalize [...] poetic literature. For this purpose their art must appeal to the people, must be popular.« In einem gewissen Gegensatz dazu steht die Tatsache, dass Ward die Beliebtheit bei den unteren Schichten mit Begriffen wie »danger«, »difficulties« und »hard toil« in Beziehung setzt: Die offensichtliche Mühsamkeit der Stiftung nationaler Gemeinschaft steht in einem gewissen Gegensatz zur Rhetorik des Naturhaften, wie sie dem Nationalismus oft zu eigen ist. Die »Mission« des nationalen Dramatikers Shakespeare erscheint beinahe als quest,

122

Ward ist in diesem Zusammenhang in mehrfacher Hinsicht repräsentativ. Seine Kontrastierung des klassenübergreifende Shakespearetheaters mit dem »Klüngeltheater« des Adels und der Akademiker ist ein fester Bestandteil der nationalistischen Interpretation der Shakespeareschen Bühne: [...] [T]he growth of permanent theatres guaranteed that the drama should have as its patrons and inspirers, not a clique or a coterie, but the nation at large. Sidney and his school might sigh after an ideal of classical perfection, and ridicule the conventionalities of popular drama, rendered so transparent by the simplicity of Elizabethan mise-en-scene. But the people, with its eager, straining life, was careless of perfection. What it wanted was vigour and movement, and these it found in the plays which were the product of untutored instinct, not of formal rule. Thus a mighty impulse was given to the native species of dramatic art, and that in more ways than one.100

Boas' Wortwahl lässt für eventuelle Uneindeutigkeiten keinen Raum. »Clique« und »coterie« sind klar negativ konnotiert, sie bilden den Gegenpol zum mit dem Naturhaften, Instinktiven assoziierten Volk. Vigour und movement im Drama entsprechen hier der Kraft und Energie des Volksganzen, können aber gleichzeitig als Verweis auf diejenigen Elemente des Shakespearedramas - drum-and-trumpet-history, sensationalism, excitement - interpretiert werden, die im Zusammenhang mit einer Klassifizierung als »melodramatisch« von Teilen der Shakespearekritik des 19. Jahrhunderts negativ beurteilt werden. Auch die innerhalb einer negativen Konzeption des elisabethanischen Publikums, insbesondere hinsichtlich der groundlings, immer wieder angeführte animalische Rohheit präsentiert sich hier als kernige Unverbildetheit, deren »eager, straining life« Ausdruck der Vitalität der Nation ist. Diese Janusgesichtigkeit des Volkes erweist sich als ein wesentliches Charakteristikum der viktorianischen Konzeption des Shakespearepublikums. Ein- und derselbe Autor kann das elisabethanische Publikum dort, wo es repräsentativ für die englische Nation steht, deutlich anders beschreiben als dort, wo es die »Schwächen« des Shakespeareschen Werkes erklären soll: Haies, der im Zusammenhang mit der Pförtnerszene in Macbeth die groundlings als tierhaft und sensationswütig darstellt, lässt andernorts eine überaus positive Sicht der Elisabethaner in ihrer Gesamtheit erkennen, attestiert ihnen »active intellectuality«, »keen intellectual impulses«, »readiness and facility of their imaginations«: »Was there ever in England such an age of movement? - an age so eager, so fearless, so sanguine, so exultant in its liberty, so swift to do or die? Never, perhaps, was the national imagination so quickened and so vigorous.«101 »Vigour«, »movement«, »eagerness« - das Bild der elisabethanischen Engländer, das Boas und Ward entwerfen, gleicht sich bis in die Wortwahl hinein.102 Diese

100 101 102

was wiederum sowohl seinem Schaffen als auch der Nation, in deren Dienst er steht, einen metaphysischen Anstrich verleiht. Boas, Shakspere and his Predecessors, S. 35. Hales, Essays and Notes, S. 145ff. Ein Bild der elisabethanischen Epoche, das Vitalität und Impusivität so stark betont, steht in gewissem Gegensatz zum Selbstbild der »verwissenschaftlichen« Viktorianer. Vgl. dazu Edward Dowden: »To many, at the present time, the sanity and the strength of Shakspere would assuredly be an influence that might well be called religious. The Elizabethan drama is thoroughly free from lassitude, and from that lethargy of heart, which most of us have

123

R o b u s t h e i t , Vitalität u n d g e i s t i g e Agilität der E l i s a b e t h a n e r s o stark b e t o n e n d e S i c h t ist t y p i s c h für e i n e in der F o l g e z e i t i m m e r a u s g e p r ä g t e r w e r d e n d e N e i g u n g zur picturesqueness

in der D a r s t e l l u n g d e s R e n a i s s a n c e - P u b l i k u m s - o f t a u c h i m Z u -

s a m m e n h a n g mit einer M y s t i f i z i e r u n g d e s d e n N a c h g e b o r e n e n s o f r e m d g e w o r d e n e n ( o d e r auch: d e s v o n d e n N a c h g e b o r e n e n s o f r e m d g e w o l l t e n )

Renaissance-

Publikums. His quick-pulsed audience! Yes, we must take that into account. Athenian audiences are a mystery; Elizabethan audiences more mysterious still. Was it the grandeur of the age in which they lived? Or the might of the ale which they q u a f f e d ? Or the »merrie heart«, which has long ceased to be a symbol of England? What was it which fired their brains with intelligence and m a d e them appreciate drama, whose power is, after all, literary, though human, not conveyed through incident or »situations«; the most exacting drama which the world has seen; of which, indeed, Shakspere is but as a »Jupiter« in a sphere of planets; drama appealing to intellect and not to curiosity. 1 0 3 Durch die Apostrophierung z w i s c h e n grandeur

als g e h e i m n i s v o l l

u n d Starkbier - coincidentia

und unergründlich oppositorum

(der

Kontrast

- steigert d e n N i m b u s

der E l i s a b e t h a n e r eher, als d a s s er ihn mindert) rückt d a s e l i s a b e t h a n i s c h e P u b l i k u m b e i n a h e in d e n B e r e i c h d e s M e t a p h y s i s c h e n . D i e v e r m e i n t l i c h e » M i n d e r u n g « d e s Status S h a k e s p e a r e s durch d e n V e r w e i s auf s e i n e fast g e n a u s o g e n i a l e n Z e i t g e n o s sen, w i e ihn a u c h D o w d e n v o r g e n o m m e n hatte, e r w e i s t s i c h b e i g e n a u e r e r B e t r a c h t u n g nicht u n b e d i n g t als s o l c h e . V i e l m e h r hat d a s P r e s t i g e S h a k e s p e a r e s i m 19. Jahrhundert o f f e n s i c h t l i c h derartige D i m e n s i o n e n erreicht, d a s s e s auf a n d e r e Dra-

felt at one time or another. Those whose lot falls in a period of doubt and spiritual alteration, between the ebb and the flow, in the welter and wash of the waves, are, - because they lack the joyous energy of a faith - peculiarly subject to this mood of barren lethargy. And it is not alone in the mystic, spiritual life of the soul that we may suffer f r o m coldness or aridity. [...] T o this mood of barren world-weariness the Elizabethan drama comes with no direct teaching, but with the [sic] vision of life. Even though death end all, these things at least are - beauty and force, purity, sin, and love, and anguish and joy. These things are, and therefore life cannot be a little idle whirl of dust. [...] The vision of life rises before us; and we know that the vision represents a reality. These things, then, being actual, how poor and shallow a trick of the heart is cynicism!« (Edward Dowden: Shakspere. A Critical Study of his Mind and Art [1875]. Third edition London 1948, S. 29f.) Shepherd und W o m a c k interpretieren Dowdens Aussagen in diesem Z u s a m m e n h a n g als »a Statement of cultural need so naked that it's almost touching«. (English Drama, S. 105). Ähnliche Darstellungen finden sich - wenn auch zu einem etwas späteren Zeitpunkt durchaus auch außerhalb Großbritanniens. So schreibt der Amerikaner Brander Matthews 1913: »The Tudor Englishman, as he is stripped for our study in the literature [...] of the time, is seen to be sensuous and sensual, joying in the things of the flesh, yet capable also of appreciating the things of the mind. Eager and enthusiastic, he had a hearty and affluent nature. H e scorned premeditation and was swift to act on sudden impulse. He was furious in hate as love. He was overflowing with animal spirits, more willing to give a blow than to take one and finding unfailing pleasure even in looking on at a fight, whether in the street or the theater. He had no timid shrinking from pain or wounds or death; and he was as ready to bear them himself as to bestow them on others.« (Brander Matthews: Shakspere as a Playwright. New York / London 1913, S. 297.) 103

Charles Halford Hawkins: The Stage-Craft of Shakspere. In: Ders. / Winchester College Shakspere Society (Eds.): Noctes Shaksperianae. A Series of Papers by Late and Present Members. Winchester / London 1887, S. 1 2 1 - 1 6 5 . Hier: S. 131.

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matiker der Epoche und genauso auch auf sein Publikum abstrahlt. Die (Wieder-) Eingliederung Shakespeares in seinen zeitgenössischen Bühnenkontext wertet nicht den Dramatiker ab, sondern das Theater auf; da dieses aber repräsentativ für die Nation steht, steigert schließlich die nationale Identifikationsfigur Shakespeare das kulturelle Kapitel jener Gruppen, die ihn überhaupt erst zu einer solchen Figur erhoben hatten - ein in seiner Zirkularität höchst effektiver Prozess, der allerdings ohne eine Neukonfiguration im Bild des elisabethanischen Publikums nicht auskommt. Die Einflussnahme des elisabethanischen Publikums auf die Gestalt der Shakespeareschen Dramen, die im Zusammenhang mit einer apologetischen Funktionalisierung der Theaterbesucher der Renaissance und insbesondere der groundlings in den bislang besprochenen Zusammenhängen klar negativ apostrophiert war, erfährt also im Zusammenhang der immer ausgeprägter werdenden Stilisierung Shakespeares zum Symbol nationaler Größe eine teilweise Umwertung, und zwar zunächst in Verbindung mit einer veränderten Sicht der Renaissance als (nicht nur literarischer) Blütezeit der englischen Nation, die vorexerziert, worin Englishness besteht und zu welcher Größe sie gelangen kann. Dem Theater kommt dabei insofern eine herausgehobene Rolle zu, als es die Befindlichkeiten der Zeit bündelt und ihnen paradigmatischen Ausdruck verleiht. Dies geschieht in enger Wechselbeziehung zwischen der Bühne und einem Publikum, das sich wesentlich durch die historische Orientierung seines Nationalgefühls auszeichnet. But if the national mind had become more wide and diversified in its sympathies, yet there had never been, and never could have been, a time in which those sympathies were more generally and intensely directed towards the nation's own history. The greatness of England was now no phrase, no dream: it was a reality. [...] Let any period of contagious and active patriotism be taken in the history of any nation, and in the popular literature of that period will be found the inevitable reflex of that spirit - sympathy with the national history. [...] And so the great national age of the latter half of Elizabeth's reign was in truth a golden time for the most directly popular expression of the nation's historic sense - the English historical drama.104

Shakespeares elisabethanisches Publikum erweist sich also in seiner eigenen Zeit als Subjekt eines nationalen Geschichtsbewusstseins, das sich anhand der Geschichte seiner nationalen Identität gewahr wird und versichert. Für die viktorianische Gegenwart hingegen ist es Objekt eines solchen Geschichtsbewusstseins geworden, das gerade aufgrund seiner erinnernden Subjekthaftigkeit in der eigenen Gegenwart Vorbildfunktion übernehmen kann. Das elisabethanische Publikum exerziert vor, wozu sich auch die viktorianische Öffentlichkeit aufgerufen sehen kann: »sympathy with the national history«. Shakespeares besondere Größe aber ergibt sich damit nicht zuletzt aus seiner besonderen historischen Situation, in der die elisabethanische Öffentlichkeit - sein Publikum - den Ausdruck ihres eigenen nationalen Empfindens auf der Bühne forderte, ein Wunsch, dessen beispielhafte Erfüllung nach Ward die Geschichtsdramen darstellen. Einmal mehr zeigt sich die Vorstellung vom »nationalen Volkstheater« der Renaissance damit als ein Modell der doppelten Rückkopplung: Aus der direkten Beziehung zum Publikum ergibt sich für das Drama die Möglichkeit, dessen nationales Empfinden abzubilden. Diese Abbildung und ihre

104

Ward, History, S. 480f.

125

Rezeption durch die Zuschauer führen dann wiederum zu einer Konsolidation bzw. Verstärkung nationaler Identität und Solidarität. Dass eine derartige Konzeption nicht mit der Vorstellung eines in seiner Gesamtheit rüden, grobschlächtigen, moralisch verderbten Publikums in Einklang zu bringen ist, muss wohl kaum weiter dargelegt werden. Da nationalistische Argumentationsgänge wesentlich auf der Vorstellung eines selbstverständlich positiv konnotierten, historisch konstanten Volksganzen beruhen, dessen Einheit und Einmütigkeit immer wieder beschworen werden, ergeben sich bezüglich der bislang beschriebene Funktionalisierung der Theaterbesucher der Renaissance, insbesondere der groundlings und ihres vermeintlich so großen Einflusses, erhebliche Schwierigkeiten. Allerdings ist zunächst zu bedenken, dass auch für die notwendig positive Publikumskonzeption nationalistischer Argumentationsgänge ein Traditionsstrang nachweisbar ist. Dieser wurzelt in den stark antifranzösisch geprägten Konstruktionen der Epoche Shakespeares als Zeit unaffektierter, genuin englischer simplicity, mit denen die Shakespeare-Apologeten des 18. Jahrhunderts sich gegen die Anfechtung einer als »französisch« empfundenen Regelpoetik wandten, so zum Beispiel Upton (1748). 1 0 5 Noch direkter ist der Bezug, den Stubbes schon 1736 zwischen der von ihm beobachteten Eigenart der Stücke Shakespeares und deren Entstehungszeit herstellt, wieder einmal bezüglich der weiblichen Wohlanständigkeit: This I have observed in general in [Shakespeare's] Plays, that almost all his young Women (who are designed as good Characters) are made to behave with a Modesty and Decency peculiar to those Times, and which are of such pleasing Simplicity as seem too ignorant and unmeaning in our well taught knowing Age; so much do we despise the virtuous Plainness of our Fore-fathers!106 Diese Einschätzung der Renaissance und des elisabethanischen Publikums ist bei den Kritikern des 18. Jahrhunderts allerdings selten und meist voller Widersprüche. Ein Autor wie Stubbes kann im selben Atemzug, in dem er die »virtuous plainness« der Vorfahren lobt, auf deren Neigung zum artifiziellen Wortspiel und zu gekünstelten moralischen Sentenzen verweisen. 1 0 7 Eine durchgehend positive Konzeption der englischen Renaissance, die sich - anders als bei Coleridge - auch auf das »Volk« in seiner Gesamtheit erstreckt, findet sich zwar bei Hazlitt, allerdings ist die gegenseitige Dependenz von Bühne und Zuschauern in seinem Modell keineswegs so ausgeprägt wie etwa bei Ward. Konsistenz in der Vorstellung vom elisabethanischen Publikum kann allerdings auch kaum einem derjenigen viktorianischen Kritiker bescheinigt werden, die auf den ersten Blick einer positiven Konzeption der Theaterbesucher der Shakespearezeit anzuhängen scheinen. Haies lässt sich beinahe schwärmerisch über Vitalität und Scharfsinn der Elisabethaner aus, reduziert die groundlings aber an anderer Stelle noch unter das (niedrig angesetzte) Niveau der traditionell mit ihnen assoziierten

105 106 107

Vgl. S. 51. Stubbes, Some Remarks on the Tragedy of Hamlet, S. 50. Stubbes S. 56. Im folgenden greift Stubbes auf die gold I dross-Metaphorik zurück, um Shakespeare Mischung aus ansprechenden und abstoßenden Elementen zu charakterisieren. Eine entsprechendes Konglomerat aus positiven und negativen Eigenschaften scheint er auch der ganzen Epoche zuzuschreiben.

126

Pförtnerszene. Seccombe und Allen erklären die Beliebtheit beim Volk zum ausschlaggebenden Faktor einer Nationalliteratur, schreiben aber gleichzeitig Tamburlaines »rhodomontade« dem Geschmack der groundlings zu. Selbst Ward zeigt sich ambivalent, wenn er bezüglich der Autorschaft des Stücks The Birth of Merlin argumentiert: »[...] [T]he possibility of Shakspere's participation in the piece is out of the question. [...] [H]ad Shakespeare addressed himself to this part of the Arthurian legend, he would hardly have contented himself with dressing it up in this way for the gratification of the groundlings. «108 Die genannten Widersprüchlichkeiten sind weit mehr als Inkonsistenzen in der Argumentation einzelner Autoren - sie sind symptomatisch für die Problematik des elisabethanischen Publikums im Allgemeinen und des groundling im Speziellen. In Weiterfuhrung der aus dem 18. Jahrhundert überlieferten historischen Apologie benutzt die viktorianische Shakespearerezeption die Theaterbesucher der Renaissance, um den Elementen der Dramen, die dem gültigen Shakespearebild zuwiderlaufen, ihr subversives Potential zu nehmen. Wie gezeigt werden konnte, bestand dieses Potential für das 19. und frühe 20. Jahrhundert in mindestens dreierlei Hinsicht: Erstens bezüglich der mit dem Konzept des Karnevalesken assoziierten anarchischen und egalisierenden Tendenzen in bestimmten Passagen der Dramen, die insbesondere im Zusammenhang mit dem im Verschwinden begriffenen pit diskutiert wurden. Als elisabethanischer pittite stellt der groundling eine historische Rückwärtsprojektion dessen dar, was mit dem pit aus dem »seriösen Sprechtheater« als Ort der viktorianischen Shakespeare-Inszenierung verbannt worden war. Diese »Verbannung« geschieht im Zuge einer Ausdifferenzierung der viktorianischen Kulturlandschaft, die insofern eine prekäre ist, als mit der Aufhebung des Patent Act der institutionelle Rahmen einer Unterscheidung zwischen high culture und low culture auf dem Theater zunächst wegfällt. Die Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung aufgrund »intrinsischer« Merkmale wird durch den Wegfall einer äußeren Differenzierungsinstanz eher erhöht, erwies sich aber im Falle Shakespeares als schwierig: Diverse Passagen erinnerten allzu sehr an populäre Unterhaltungsformen, insbesondere an das Melodrama. Dies ist der zweite potentiell subversive Aspekt des Shakespeareschen Werkes, der mit Rekurs auf das elisabethanische Publikum entschärft wird: Eine Interpretation dieser Stellen als mehr oder minder widerwillige Zugeständnisse an den Geschmack der Zuschauer, speziell der groundlings, ermöglicht es, die gefährdete Opposition zwischen ernstem Drama und populärer Unterhaltung aufrechtzuerhalten, ohne den »echten« Shakespeare in Teilen an das populäre Drama und sein sozial eher niedriggestelltes Publikum abtreten zu müssen - und zwar weder bezüglich der Vergangenheit noch bezüglich der Gegenwart. Ein sehr ähnlicher Vorgang zeigt sich drittens und letztens hinsichtlich der Moral: Eine Interpretationsrichtung, die den »Barden« zum »angel messenger of the Almighty God«109 stilisieren wollte, sah sich bezüglich diverser Textstellen vor erhebliche Probleme gestellt - in einem einigermaßen kritischen Licht betrachtet war Shakespeare als Verkünder der master narrative der gesellschaftlich dominie-

108 109

Ward, History, S. 469. George Dawson: Shakespeare and other lectures. London 1888, S. 106.

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renden Schichten nicht der geeignetste Kandidat. Auch diese Schwierigkeit ließ sich jedoch umgehen, indem man einen Zusammenhang zwischen den entsprechenden Textstellen und den Anforderungen eines rohen, grobschlächtigen Publikums oder Publikumssegments - den groundlings - herstellte, denen Shakespeare sich - eigentlich gegen seinen Willen - zu beugen hatte. Allen diesen Operationen ist eines gemeinsam: Die Konzeption des elisabethanischen Publikums ist weitgehend eine negative 110 , und zwar besonders uneingeschränkt dort, wo speziell mit den groundlings argumentiert wird. Darüber hinaus ergibt sich eine klare Assoziation der historischen groundlings mit der viktorianischen Unterschicht, und zwar aufgrund dreier wesentlicher Faktoren: der Wahrnehmung des pit, der Charakterisierung des Melodramas als UnterschichtEntertainment, und der Parallele zwischen der aus bestimmten Passagen extrapolierten Amoral der groundlings und der den zeitgenössischen Unterschichten zugeschriebenen Brutalität, Rohheit und Verkommenheit. Da die viktorianische Konzeption der groundlings ihr Profil also in weiten Teilen aus Kontexten bezieht, die klar als »Unterschicht« markiert sind, ist eines klar: Wenn der gültige Shakespeare des Viktorianismus sich in Opposition zu den groundlings konstituiert, so konstituiert er sich damit auch in Opposition zu den zeitgenössischen Unterschichten. Genau hierin aber liegt ein eklatanter Widerspruch zu denjenigen Darstellungen, die Shakespeare als Symbol nationaler Größe und damit auch nationaler Einheit konstruieren. Die gesellschaftlich dominanten Mittel- und Oberschichten benutzen Shakespeare einerseits zur soziokulturellen Binnendifferenzierung, stilisieren ihn aber gleichzeitig zur Instanz nationaler Abgrenzung nach außen. Aus dieser Dichotomie resultiert die Uneindeutigkeit und Widersprüchlichkeit in der funktionalen Besetzung des elisabethanischen Publikums. Sofern die viktorianische Shakespearekritik diesen Widerspruch überhaupt auflöst, geschieht dies unter Zuhilfenahme des groundlings: Diese neue Spezies erlaubt es einerseits, Shakespeares Größe im Einklang mit der Englishness seines sozial neutralen Renaissance-Publikums zu bestimmen, und andererseits, eine sozial definite Teilmenge dieses Publikums für die Verstöße Shakespeares gegen aktuelle Geschmacks- und Moralvorstellungen verantwortlich zu machen. Damit ist dieses Publikumssegment - die groundlings allerdings nicht nur von der Teilhabe am offiziellen Shakespeare ausgeschlossen, sondern letzten Endes auch von der Teilhabe an der durch ihn offiziell verkörperten Nation. Aufgrund der ausgeprägten Parallelen zwischen groundlings und viktorianischen Unterschichten überträgt sich dieser Ausschluss von der englischen Renaissance auf die Gegenwart des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Nische der Spezies groundling erweist sich als Kluft: als Kluft zwischen Abgrenzung nach außen und sozialer Binnendifferenzierung, zwischen Rhetorik der nationalen Einheit und Realität der Klassengesellschaft.

110

Differenzierter betrachtet werden müssten Bradley und insbesondere Taine.

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Exkurs: Das elisabethanische Publikum in der amerikanischen Shakespearekritik des 19. Jahrhunderts

Aufgrund der engen Zusammenhänge zwischen den sozialen und kulturellen Gegebenheiten des viktorianischen Englands und der Ausdifferenzierung der Vorstellung von Shakespeares elisabethanischem Publikum ist ein Blick auf die amerikanische Shakespearerezeption desselben Zeitraums von besonderem Interesse. Gemäß der These, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einen wesentlichen Einfluss nicht nur auf die Besetzung der Identifikationsfigur Shakespeare, sondern insbesondere auch auf die Vorstellung von seinen ursprünglichen Zuschauern haben, müsste deren Rolle im amerikanischen Diskurs über den »Barden» eine andere sein als im englischen. Dass gerade im 19. Jahrhundert die amerikanische Shakespearerezeption keineswegs deckungsgleich mit der des englischen Mutterlandes ist, haben zuletzt Bristol und Levine nachgewiesen.' Wenn neben deutlichen Unterschieden andererseits aber auch weitreichende Kontinuitäten bestehen, dann zeigt sich dies nicht zuletzt auch an der Diskussion um die Theaterbesucher der Renaissance. Im 19. Jahrhundert ist der amerikanische Diskurs über Shakespeares elisabethanisches Publikum der englischen Diskussion zunächst in vielerlei Hinsicht erstaunlich ähnlich. Ebenso wie die englische geht auch die amerikanische Shakespearekritik mehrheitlich von einer popular audience aus, und auch ihre Argumentationsmuster sind oft alles andere als neu. So schreibt Brander Matthews 1913 über All's Well that Ends Well: Henry James once asserted that George Sand had no taste morally; only very rarely could a similar accusation be brought against Shakespeare; but here, in these two scenes [when Helena challenges one lord after another to marry her, and when she jests about her virginity

Michael D. Bristol: Shakespeare's America, America's Shakespeare. London / New York 1990; Lawrence L. Levine: Highbrow / Lowbrow. The Emergence of Cultural Hierarchy in America. Cambridge (Mass.) / London 1988. Die Anfänge einer spezifisch amerikanischen Shakespearerezeption sind naturgemäß eher festzulegen als ihr Ende; Bristols Studie etwa schließt mit dem New Historicism auch die mehr oder minder unmittelbare Gegenwart mit ein. Wenn im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur die amerikanische Shakespearerezeption des 19. bzw. frühen 20. Jahrhunderts gesondert behandelt wird (und auch das nur exkursartig), dann aus zwei Gründen. Zum einen unterscheiden sich amerikanische Kritiker in ihren Auffassungen von einem »naiven« elisabethanischen Publikum (vgl. Kapitel 6) bzw. einem gespaltenen oder ausschließlich elitären Publikum (vgl. Kapitel 7) nur unerheblich von ihren englischen Kollegen. Zum anderen erhält die Diskussion um Shakespeares ursprüngliche Zuschauer mit dem Neo-Elizabethanism (vgl. Kapitel 8), spätestens aber mit Alfred Harbages Shakespeare's Audience von 1941 aus den USA ganz entscheidende Impulse. Von einer amerikanischen »Sonderentwicklung« auszugehen, erscheint vor diesem Hintergrund nicht sinnvoll. Entsprechend wird die Diskussion um Shakespeares elisabethanisches Publikum ab der Wende zum 20. Jahrhundert als weitgehend einheitliches Diskursfeld behandelt. 129

with Parolles], is evidence that he was not unwilling to descend to tickle the groundlings of the Globe with the quibbling indecency they avidly relished. Shakespeare's great plays are for all time; but All's Well and its fellows [Measure for Measure, Troilus and Cressida] are only for Tudor days.2 Auch Titus Andronicus ist nach Matthews »adroitly devised to capture the favour of the groundlings«; 3 Szenen wie die Blendung Glosters stellt er als »adjusted to the baser likings of the Elizabethan rabble« 4 dar. Im übrigen beschreibt Matthews das elisabethanische Publikum als »unsophisticated and easily pleased«. 5 Ähnlich konventionelle (Negativ-) Auffassungen vom elisabethanischen Publikum vertreten etwa auch Hudson (1848) 6 und Lounsbury (1901) 7 . Die Gemeinsamkeiten mit der englischen Shakespearekritik desselben Zeitraums sind umso bemerkenswerter, weil der Anlass für die Entstehung der historischen Apologie, die Anfechtung Shakespeares durch den Neoklassizismus, in den Vereinigten Staaten kaum eine Rolle spielt: Die amerikanische Shakespearerezeption setzt zu einem Zeitpunkt ein, zu dem die pauschale Aburteilung der Renaissance als unkultiviert und rückständig bereits überholt ist. 8 Dennoch übernimmt sie - zumindest partiell - den »Wurmfortsatz« dieser historischen Apologie, den Topos vom grobschlächtigen (und auch von amerikanischen Kritikern sozial meist der Unterschicht zugeordneten) elisabethanischen Publikum. Ebenso wie in Großbritannien provoziert der Umstand, dass es sich beim Theater der Shakespearezeit um eine kommerzielle Institution handelt, emotional aufgeladene Äußerungen über Shakespeares ursprüngliche Zuschauer - und zwar auch von mittlerweile berüchtigter Seite: Compelled to refer the origin of [»Shakespeare's«] works to the sordid play-house, who could teach us to distinguish between the ranting, unnatural stuff and bombast which its genuine competitions elicited, in their mercenary appeals to the passions of their audience,

2 3 4 5 6

7

8

Matthews, Shakspere as a Playwright, S. 226. Matthews, Shakspere as a Playwright, S. 49. Matthews, Shakspere as a Playwright, S. 283. Matthews, Shakspere as a Playwright, S. 239. »Genius, unwilling to be instructed by classical models, yet unable to attain excellence without such instruction; genius struggling through manifold and manifest obstructions of ignorance and depravity, genius huddling together a few scenes, peopled with strong but crude conceptions, and filled with low, grovelling humour, and truculent, stormful bombast, mixed with occasional bursts of the noblest poetry, and winding up in pell-mell confusion, gave to a clapping and shouting mob-audience a chaos utterly incapable of a catastrophe.« (Η. N. Hudson: Lectures on Shakspeare. Vol. 1. New York 1848, S. 18f.) »It was productions of the [brutal and bloody] kind [...] that would present themselves to the young and aspiring dramatist [Shakespeare] as stamped with the seal of popular approbation. There would be nothing strange, therefore, in the fact that at the outset of his career Shakespeare should have been influenced by the practices of his predecessors, and would be disposed to give his audience the precise sort of food which he knew from both observation and experience would please its palate. Nor would it be remarkable if traces of this truculent style of representation should cling to him through the whole of his career. That such was, to some extent, the case there can be no question.« (Thomas R. Lounsbury: Shakespeare as a Dramatic Artist. With an Account of His Reputation at Various Periods [1901], New York 1965, S. 183) Alfred Van Rensselaer Westfall: American Shakespearean Criticism 1607-1865. New York 1931, S. 186f.

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ministering to the most vicious tastes, depraving the public conscience, and lowering the common standard of decency [...], who could teach us to distinguish between the tone of this original, genuine, play-house fustian, and that of the »dozen or sixteen lines« which Hamlet will at first, for some earnest purpose of his own, with the consent and privity of one of the players, cause to be inserted in it?9

Ähnlich wie Delia Bacon nimmt auch Joseph C. Hart, der Urvater der Verfasserschaftskontroverse, eine durch die Prinzipien der Marktwirtschaft geradezu depravierte Bühne zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen über echte und falsche Autorschaft der »Shakespeareschen« Stücke: [...] Shakespeare's obscenity exceeds that of all the dramatists that existed before him, and contemporaneously with him [...]. This was the secret of his success with the play-goers. The plays he purchased or obtained surreptitiously, which became his »property«, and which are now called his, were never set upon the stage in their original state. They were first spiced with obscenity, blackguardism and improprieties, before they were produced; and this business he voluntarily assumed, and faithfully did he perform his share of the management in that respect. It brought money to the house.10

»[To] revise, to strike out, to refit, to revamp, interpolate, disfigure, to do anything to please the vulgar and vicious taste of the multitude«" - darin besteht die Aufgabe des »Faktotums« Shakespeare. Der »Mann aus Stratford« wird damit auf eine Stufe mit dem verderbten Theaterpublikum gestellt, während der »wahre« Verfasser des intellektuell wie moralisch erhabenen Teils der Stücke nicht die Verantwortung für deren »anstößige« Passagen tragen muss. Diese werden auf Verlangen des zahlenden Mobs von dritter Hand eingefügt. Das Entstehen der Verfasserschaftskontroverse wird (wohlgemerkt von denen, die sich nicht zu den Anti-Stratfordians zählen) häufig unter soziologischem Aspekt erklärt, d.h. mit dem Bestreben, den Dramen als höherwertigen literarischen Erzeugnissen einen gesellschaftlich ebenso höherwertigen Autor - meist in Gestalt eines Angehörigen des britischen Hochadels - zukommen zu lassen.12 In extremer Form verfolgt die Verfasserschaftskontroverse damit eine Zielsetzung, wie sie genauso auch dem Topos vom groundling als dem Verantwortlichen für die »Fehler und Mängel« der Shakespeareschen Stücke zugrunde liegt: die Dissoziation der Dramen von den unteren gesellschaftlichen Schichten. Hart und Bacon lassen nicht nur in ihren exotischen Theorien zur »wahren« Verfasserschaft, sondern auch in ihren weit konventionelleren Ausführungen zum fatalen Einfluss des zahlenden Theaterpöbels ein grundlegendes Unbehagen gegenüber dem »Volk« erkennen - ebenso wie ihre seriösen Kollegen Matthews, Hudson, und Lounsbury. Vor dem Hintergrund des demokratisch-egalitären Selbstverständnisses der amerikanischen Republik ist es beinahe paradox, dass die Theaterbesucher der frühen

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" 12

Delia Bacon: William Shakespeare and his Plays; an Enquiry Concerning Them. In: Putnam Monthly 7 (1856). Zitiert nach Peter Rawlings (Hg.): Americans on Shakespeare 1776-1914. Aldershot 1999, S. 169-199. Hier: S. 191. Joseph C. Hart: The Romance of Yachting. Voyage the First [ 1848]. Zitiert nach Rawlings, Americans on Shakespeare 1776-1914, S. 140-150. Hier: S. 149. Hart, Romance of Yachting, S. 141. Taylor, Reinventing Shakespeare, S. 219.

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Neuzeit über weite Strecken ihre konventionelle Rolle beibehalten. Dies gilt umso mehr angesichts der vielfach dezidierten Ablehnung der mit Shakespeare assoziierten elitären Tendenzen. So schreibt etwa Walt Whitman: The low characters, mechanics, even the loyal henchmen [in Shakespeare] - all in themselves nothing - serve as capital foils to aristocracy. The comedies (exquisite as they certainly are) bringing in admirably portray'd common characters, have the unmistakable hue of plays, portraits, made for the divertisement only of the elite of the castle, and from its point of view. The comedies are altogether non-acceptable to America and Democracy. 13

Whitman konstruiert ein historisches Zielpublikum, das seine Ablehnung des »Barden« als kultureller Identifikationsfigur begründen hilft - eine adelige Elite, die sich über das Volk bestenfalls amüsiert. Augenfällig ist dabei, dass er auf ein solches Publikum gerade aufgrund jener »low characters« schließt, die die britische Shakespearekritik des 19. Jahrhunderts immer wieder als Zugeständnisse an die groundlings deutet: Dieselben Widerständigkeiten des Shakespeareschen Dramas fuhren zu weit divergierenden Konstruktionen des für sie verantwortlichen Zielpublikums. Die Ursachen dafür sind in den unterschiedlichen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen zu suchen. Whitman lehnt Shakespeare mit der Begründung ab, dass dessen Dramen dem demokratischen Credo der USA in wesentlichen Punkten nicht entsprächen: »The great poems, Shakspere included, are poisonous to the idea of the pride and dignity of the common people, the life-blood of democracy.« 14 In einem weiteren Schritt konstruiert er dann eine historische Rezeptionssituation, die den seiner Meinung nach anti-egalitären Charakter der Komödien wo nicht entschuldigt, so doch zumindest erklärt. Nun fällt im Zusammenhang mit einer spezifisch amerikanischen Shakespearerezeption zwar der Name Whitmans besonders häufig; bekanntermaßen ist seine Ablehnung Shakespeares im Namen der amerikanischen Demokratie aber, wenn nicht ohne Echo, so doch weitgehend folgenlos geblieben. Dies steht durchaus im Zusammenhang damit, dass auch seine Vorstellung von Shakespeares ursprünglichen Adressaten (zunächst) nicht auf Akzeptanz stößt: Wenn Kunst, die sich an eine Elite richtet, für das demokratische Amerika inakzeptabel ist, dann sind Dramen, die sich an die breiten Volksmassen wenden, als kulturelle Identifikationsobjekte eines auf dem Konzept der Volkssouveränität basierenden Staates dafür umso geeigneter. Dieser Umstand macht die amerikanische Shakespearerezeption des 19. und frühen 20. Jahrhunderts im Zusammenhang der hier untersuchten Fragestellung so interessant: »Demokratie« ist in diesem Zeitraum für das Selbstverständnis der Vereinigten Staaten der konstitutive Faktor schlechthin, und zwar wesentlich früher und wesentlich ausgeprägter als dies etwa in England der Fall war (dort fand zwar im selben Zeitraum ebenfalls eine schrittweise Einführung des allgemeinen Wahlrechts statt; die Konzepte »Demokratie« und »Egalität« erreichten aber - anders als die vielbeschworene English liberty - schon aufgrund der bis heute bestehenden konstitutio-

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14

Walt Whitman: A Thought on Shakspere [1886]. In: Ders.: Prose Works 1892. Vol. Π: Collect and Other Prose. Edited by Floyd Stovall. New York 1964, S. 556-558. Hier: S. 558. Walt Whitman: Democratic Vistas [1871]. In: Ders.: Prose Works 1892. Vol. Π: Collect and Other Prose. Edited by Floyd Stovall. New York 1964, S. 361-426. Hier: S. 388.

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nellen Monarchie bezüglich des nationalen Selbstverständnisses nicht dieselbe ideologische Schlagkraft wie jenseits des Atlantiks). Was das Verhältnis des »einen« Ausnahmegenies zu den »vielen«, der Volksmasse, angeht, stehen die amerikanischen Kritiker vor anderen argumentativen Schwierigkeiten als ihre Kollegen jenseits des Atlantiks. Die Angleichung Shakespeares und seines ursprünglichen Publikums an das demokratische Selbstverständnis der USA erfolgt nicht nur auf eine einzige und nicht immer in plakativer Art und Weise. Festzustellen ist zunächst, dass das Unbehagen gegenüber der wirtschaftlichen Abhängigkeit des Dramatikers von seinen elisabethanischen Zuschauem im Verlauf des 19. Jahrhunderts deutlich abnimmt. 1885 erklärt White: »[The fact] that Shakespeare did his work with no other purpose whatever; moral, philosophical, artistic, literary, than to make an attractive play which would bring him money, should be constantly borne in mind by the critical and reflective reader of his plays« 15 - eine Aussage, die in dieser Deutlichkeit im viktorianischen England undenkbar gewesen wäre, auch wenn sie unausgesprochen immer hinter der apologetischen Funktionalisierung des elisabethanischen Publikums steht. Das Verhältnis zwischen Marktwirtschaft und individuellem Schöpfertum bleibt allerdings auch bei White vage: [...] [AJfter his first three or four years' experience as a poet and a dramatist, [Shakespeare] was entirely without any art-purpose or aim whatever, and used his materials just as they came to his hand, taking no more pains with them than he thought necessary to work them into a play that would please his audience and suit his company; while at the same time, from the necessities of his nature and the impulse that was within him, he wrought out the characters of his personages with the knowledge of a creator of human souls, and in his poetry showed himself the supremest master of human utterance. 16

Gottgleiches Schöpfertum (»a creator of human souls«) geht hier praktisch unabsichtlich vonstatten; der Gedanke des Naturgenies ist in seltener Konsequenz zu Ende geführt: Der kreative Prozess vollzieht sich naturhaft, ungesteuert, absichtslos, letztendlich auch unabhängig von äußeren Gegebenheiten. Während die englische Shakespearekritik des entsprechenden Zeitraums die Bühne und insbesondere die Theaterbesucher immer wieder zum Hindernis bei der freien Entfaltung des schöpferischen Genies Shakespeare stilisiert, stehen Genie und Markt hier gewissermaßen beziehungslos nebeneinander. Shakespeare macht zwar Zugeständnisses an sein Publikum; White wertet diese jedoch nicht als Beeinträchtigung einer künstlerischen Gesamtkonzeption - von der aufgrund der Absenz eines »Kunstwollens« ja auch nicht ausgegangen werden kann. Mit dieser extrem nüchternen Sicht der Dinge steht White in der amerikanischen Shakespearekritik des 19. Jahrhunderts allerdings weitgehend alleine. Wenn Matthews ebenfalls von einer grundsätzlichen Bereitschaft Shakespeares ausgeht, den Wünschen seines Publikums zu entsprechen - »[w]hatever [the] playgoers relished, that Shakespeare was ready always to provide, even if he ventured in time to give them also and in addition what they could not so easily apprehend and appreciate« 17

15 16 17

Richard Grant White: Studies in Shakespeare [1885]. 6th Edition New York 1893, S. 20. White, Studies in Shakespeare, S. 28. Matthews, Shakspere as a Playwright, S. 31.

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- so ist er doch bemüht, das Verhältnis zwischen Dramatiker und Zuschauern nicht nur als ein rein geschäftliches darzustellen: That Shakspere believed in the good feeling and in the intelligent receptivity of the average man is shown by his freely putting the best of himself into his plays, meant for the plain people. All his poetry and all his philosophy are lavished on that splendid succession of dramas designed to delight the Londoners, well-bred and ill-bred, who crowded the Globe Theatre. When we consider these dramas we are compelled to credit Shakspere with intense human sympathy, the noblest quality of our modern democratic movement.18 Die intellektuelle Überlegenheit des Dramatikers ändert nichts an seinem grundlegenden Entgegenkommen gegenüber den Wünschen der Zuschauer. Diese Bereitschaft wird als ihrem Wesen nach demokratisch gedeutet, da sie eine gleichermaßen hohe Wertschätzung von »well-bred« und »ill-bred« impliziert. Während Matthews noch von einer gewissen Dissoziation Shakespeares von seinen Zuschauern ausgeht, greifen andere Kritiker das romantische Konzept der »Volkspoesie« auf, um die Vorstellung vom ursprünglichen Shakespearepublikum und damit vom »Barden« selbst - in Einklang mit konstitutiven Elementen des amerikanischen Selbstverständnisses zu bringen. Dies geschieht zum einen durch einen deutlich gleichberechtigteren Entwurf der Beziehung zwischen Autor und Publikum, andererseits durch eine Aufwertung des »Volkes« nicht nur zum Ursprung poetischer Tradition, sondern auch zum Träger demokratischer Souveränität. George Bancroft formuliert paradigmatisch: For who are the best judges in matters of taste? Do you think the cultivated individual? Undoubtedly not, but the collective mind. The public is wiser than the wisest critic. In Athens, where the arts were carried to perfection, it was done when »the fierce democracie« was in the ascendant; the temple of Minerva and the works of Phidias were invented and perfected to please the common people. [...] If with us the arts are destined tobe awakened into a brilliant career, the inspiration must spring from the triumphs of democracy. Genius will not create, to flatter individuals or to decorate saloons. It yearns for larger influences; it feeds on wider sympathies; and its perfect display can never exist, except in an appeal to the general sentiment for the beautiful. [...] Who are by way of eminence the poets of all mankind? Surely Homer and Shakespeare. Now Homer formed his taste, as he wandered from door to door, a vagrant minstrel, paying hospitality by a song; and Shakespeare wrote for an audience, wholly composed of the common people.19 Ganz anders als in der englischen Shakespearerezeption bürgt die sozial niedrige oder zumindest nicht besonders gehobene (»common«) Herkunft der ursprünglichen Adressaten hier für die herausragende Qualität der für sie produzierten Kunstwerke. Der Dichter, der keine Klassenunterschiede kennt, sondern sich an alle gleichermaßen wendet, wird zum Sprachrohr eines collective mind, dessen Urteil Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen kann. Nur ein Autor, der ein breites Publikum anspricht, ist überhaupt zu literarischen Ausnahmeleistungen im Stande. Shakespeares

18 19

Matthews, Shakspere as a Playwright, S. 274. George Bancroft: On the Progress of Civilization, or Reasons Why the Natural Association of Men of Letters is with the Democracy [1838]. Zitiert nach Rawlings, Americans on Shakespeare 1776-1914, S. 70f. Hier: S. 71.

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ursprüngliche Zuschauer haben damit einen wesentlichen Anteil an der herausragenden Qualität seiner Dramen. Ähnlich sieht es auch Emerson, wenn er den Dichter als »a heart in unison with his time and country«20 definiert und postuliert, »[...] what is best written or done by genius [...] came by wide social labour, when a thousand wrought like one, sharing the same impulse.«21 Gerade bezüglich der Bühne hebt Emerson die Wichtigkeit der volkstümlichen, kollektiven Tradition besonders hervor.22 Angesichts der hohen Bedeutung, die Emerson Individualismus und self-reliance allgemein zumisst, ist eine gewisse Ambivalenz gegenüber dem Einfluss des Kollektivs auf den Dichter allerdings wenig überraschend - sie deutet sich bereits dann an, wenn Emerson das Theaterpublikum als »uncritical«23 bezeichnet. Noch viel deutlicher zeigt sich diese Gespaltenheit, wenn er schreibt: Shakespeare, Homer, Dante, Chaucer, saw the splendour of meaning that plays over the visible world; knew that a tree had another use than for apples, and corn another than for meal [...]: that these things bore a second and finer harvest to the mind, being emblems of its thoughts, and conveying in all their natural history a certain mute commentary on human life. Shakespeare employed them as colours to compose his picture. He rested in their beauty; and never took the step which seemed inevitable to such genius, namely, to explore the virtue which resides in these symbols, and imparts this power - what is that which they themselves say? He converted the elements, which waited on his command, into entertainments. He was the master of the revels to mankind. [...] [T]his man of men, he who gave to the science of mind a new and larger subject than had ever existed, and planted the standard of humanity some furlongs into Chaos - that he should not be wise for himself - it must even go into the world's history, that the best poet led an obscure and profane life, using his genius for the public amusement. 24

Wenn Shakespeare als »master of the revels to mankind« bezeichnet wird, dann verweist dies auf ein Abhängigkeitsverhältnis: Shakespeares Versagen besteht darin, dass er sich zu sehr auf die Wünsche der Masse einlässt. Damit wird er seiner eigentlichen Verantwortung gegenüber dem Publikum - und dem Volk als ganzem gerade nicht gerecht. Der Dichter ist dem Volk im doppelten Wortsinn verpflichtet: Zum einen dahingehend, dass der schöpferische Akt niemals eine Kreation ex nihilo darstellen kann, sondern in letzter Konsequenz auf einer kollektiven Anstrengung basiert; zum anderen aber auch dahingehend, dass seine spezielle Befähigung es ihm zur Aufgabe macht, als Erzieher und Wegweiser seines Publikums zu fungieren.25 In dieser Tradition werden eventuelle Widerständigkeiten in den Dramen, traditionell Ansatzpunkte für die Apologie Shakespeares mithilfe seines elisabethanischen Publikums, gerade nicht zu Indikatoren für die Verderbtheit der Theaterbesucher:

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21 22 23 24 25

Ralph Waldo Emerson: The Collected Works of Ralph Waldo Emerson. Volume IV: Representative Men: Seven Lectures. Cambridge (Mass.) / London 1987, S. 109. Emerson, Representative Men, S. 114f. Emerson, Representative Men, S. 1 lOf. Emerson, Representative Men, S. 113. Emerson, Representative Men, S. 124f. »[Emerson claims that] without education, individualism can only produce weak and oppressive forms of social and political life. Great men educate, they lead the individual out of privatism, out of inauthentic and uncritical affiliation with tradition or with mass culture.« (Bristol, Shakespeare's America, America's Shakespeare, S. 129.)

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Wenn Lavinia in Titus Andronicus mit blutenden Armstümpfen die Namen ihrer Folterer in den Sand schreibt - eine Szene, die traditionell mit dem Hinweis auf die Hartgesottenheit des elisabethanischen Publikums entschuldigt worden war - , kann dies umgekehrt als Versagen des Dramatikers gegenüber seinen Zuschauern ausgelegt werden: I think that Shakespeare may be aquitted of the barbarity of this device, but he cannot be excused the error of adopting it; and, to my mind, an author who takes advantage of the trust reposed in him by his audience, to wound their best feelings with unnecessary horrors, is nearly as bad as the characters who perpetrate them.26

Deutlich zeigt sich hier, in welch engem Zusammenhang die Reputation Shakespeares und die Reputation seines Publikums stehen: Sobald die Besucher des frühneuzeitlichen Theaters als Vertreter des »Volkes« idealisiert werden, wie dies im Zuge des demokratischen Selbstverständnisses amerikanischer Kritiker vielfach geschieht, hat Shakespeare selbst die Last etwaiger anstößiger Passagen in seinen Dramen zu tragen. Der in Wilkes' Augen amoralische Dramatiker wird der »instinctive goodness of the big-hearted multitude« 27 , der »tender and generous nature of the people« 28 nur insofern gerecht, als er diesem bereitwillig die gewünschten happy endings liefert. Aufgrund seiner generell anti-egalitären Grundeinstellung wird das bisherige Prestige Shakespeares, so prognostiziert Wilkes, in demokratischen Gesellschaften allerdings zwangsläufig abnehmen: The charm which attends our poet's genius still prevails, but the spell has lost a great deal of its force, and can no longer prevent the condemnation of the poet's principles by the English-speaking and liberty-loving people of America. And, as much may be said for the rugged intelligence and resolute progress of the present liberty-loving English masses. 29

Historischer Fortschritt drückt sich in einem zunehmenden Maß an Demokratie aus und geht mit einer Minderung der Bedeutung des »undemokratischen« Dichters Shakespeare einher: Ähnlich wie diverse andere amerikanische Kritiker 30 macht auch Wilkes dem »Barden« die seiner Meinung nach respekt- und mitleidslose Darstellung der Armen und der einfachen Arbeiter zum Vorwurf, ebenso wie das, was er als »servility to royalty and rank« bezeichnet. 31 Dieser Vorgang fügt sich scheinbar nahtlos in das offizielle Selbstverständnis der amerikanischen Nation als »land of the free«, »cradle of democracy« usw. ein. Eines ist dabei jedoch stets mitzubedenken: Der Strang der amerikanischen Shakespearekritik, der Shakespeare als Anti-Demokraten verurteilt, setzt sich letztendlich eben gerade nicht durch. Die Verhältnisse sind komplizierter, als es zunächst den Anschein hat. Die Ursachen dafür sind im generell ambivalenten Verhältnis der USA zur Alten Welt zu suchen:

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27 28 29 30 31

George Wilkes: Shakespeare, From an American Point of View; including an Inquiry as to his Religious Faith, and his Knowledge of Law: With the Baconian Theory Considered. London 1877, S. 315. Wilkes, Shakespeare, S. 120. Wilkes, Shakespeare, S. 101. Wilkes, Shakespeare, S. 254. Taylor, Reinventing Shakespeare, S. 202. Wilkes, Shakespeare, S. 2.

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Although America is a new society, it is also a successor culture to Western Europe. Shakespeare certainly has the important and necessary function of providing an otherwise lacking depth of cultural tradition and at least some sense of durable continuity for American culture in relation to European longue duree. At times it may seem that the study of Shakespeare permits American culture to take itself more seriously by virtue of its appropriation of this unquestioned cultural treasure. In general the hypothesis here adopted is that Shakespeare has been recruited not only as a compact and convenient functional equivalent for tradition in the broad sense, but also as a screen memory used to rationalize a chronic ambivalence towards both the practice of democracy and archaic forms of authority and the absolutist state. 32

Eben jenes nicht ganz widerspruchsfreie Verhältnis zur Demokratie findet auch im Diskurs über Shakespeares elisabethanisches Publikum seinen Niederschlag. Dies gilt nicht nur dort, wo Kritiker den Topos vom groundling als dem Verantwortlichen für Shakespeares »Fehltritte« übernehmen. Selbst bei einem dezidierten Demokraten wie Wilkes finden sich Passagen, die das Volk in durchaus zweifelhaftem Licht erscheinen lassen. Angesichts der extrem unausgewogenen Schlachtbilanz in Henry V (IV, viii) - 10 000 Franzosen gegenüber nur 29 Engländern - bemängelt er: A result manufactured for the play-house by a playwright who was catering to audiences, as the playwrights of to-day cater for the uproarious swarms of the Surrey Theatre in London, the Porte St. Martin in Paris, or the Bowery Theatre in New York; catering, however, only for their shouts and shillings - which Shakespeare knew how to do - and not for their sensible and historical appreciation, as would have been the aim of a rigid philosopher like Bacon. 33

Die Janusgesichtigkeit des Volkes zeigt sich hier insbesondere im Wort »uproarious)«, das mehr als nur eine ferne Erinnerung an das Schreckgespenst der Anarchie, der mob rule, hervorruft. Bezeichnenderweise wird die dunkle Seite des Volkes auch hier wieder mit dem kommerziellen Aspekt der Shakespeare-Bühne in Verbindung gebracht, und zwar besonders eng durch die alliterative Verknüpfung von »shouts and shillings«. Auch dort, wo das elisabethanische Publikum uneingeschränkt als Miniaturmodell des Volkes idealisiert wird, gilt diese Verklärung vielfach eher einem abstrakten Gedanken als einem konkret fassbaren Volkskörper. Solche Ambivalenzen werden schon in der zur Benennung der Menge verwendeten Terminologie offensichtlich: Fletcher seems to have wanted to appeal more particularly to the lewd fellows of the baser sort, whereas Shakespeare does not so much write down to the mob as write broad for the crowd, high and low, desiring to make his plays attractive to all classes. He may pander on occasion to the grosser element, whether this was standing in the yard or sitting on the stage; but he is less contaminated by this tendency than any other dramatist of his day

Die Unterscheidung zwischen mob und crowd mit den jeweils assoziierten Adjektiven low bzw. broad erinnert in gewisser Weise an die in den spätviktorianischen Literaturgeschichten vorgenommenen Differenzierungen zwischen der Volksnation

32 33 34

Bristol, Shakespeare's America, America's Shakespeare, S. 123. Wilkes, Shakespeare, S. 218. Matthews, Shakspere as a Playwright, S. 308.

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einerseits und den groundlings andererseits: Das »Volk« ist klar positiv konnotiert und hat entscheidenden Einfluss auf das Shakespearesche Drama, die groundlings hingegen sind für eventuelle Mängel verantwortlich. Der Diskurs Uber Shakespeares elisabethanisches Publikum in den USA des 19. und frühen 20. Jahrhunderts reflektiert über weite Strecken ebenso wie sein transatlantisches Pendant eine deutlich negative Einstellung gegenüber den unteren Bevölkerungsschichten. Diese Haltung mag einerseits aus der longue duree der älteren britischen Shakespearekritik übernommen worden sein; sie erfüllt aber darüber hinaus auch im neuen politischen Selbstverständnis der amerikanischen Republik eine ganz bestimmte Funktion: Die Diskussion über die Theaterbesucher der frühen Neuzeit und ihr Verhältnis zu den literarischen Ausnahmeleistungen Shakespeares bietet ein Forum, auf dem Unsicherheiten und Vorbehalte gegenüber dem demokratischen Experiment formuliert werden können, ohne dass dies sofort den Vorwurf »falschen Bewusstseins« nach sich zöge. In der amerikanischen Auseinandersetzung mit Shakespeare ist die implizite wie explizite Identifikation des elisabethanischen Theaterpublikums mit dem Konzept »Volk« im hier untersuchten Zeitraum vielleicht noch deutlicher zu erkennen als in der englischen Kritik: Wenn Emerson sein Postulat der Unvereinbarkeit der Shakespeareschen Dramen mit demokratischen Idealen mit dem Verweis auf ein aristokratisches Zielpublikum untermauert, wenn Bancroft Shakespeare aufgrund eines Publikums von common people für die Demokratie in Anspruch nimmt, dann wird offensichtlich, dass die politische Besetzung des »Barden« auch dadurch erfolgt, dass die Vorstellung von seinen ursprünglichen Zuschauern den jeweiligen Notwendigkeiten angepasst wird. Dass die amerikanische Shakespearekritik vielfach eine bestenfalls ambivalente, oft aber auch klar negative Einstellung gegenüber den unteren Bevölkerungsschichten erkennen lässt - und das keineswegs nur in ihrer Frühzeit - , spricht dabei gerade nicht dafür, dass die Topoi des englischen Diskurses über das elisabethanische Publikum »objektiv« aus den Dramen hergeleitet werden könnten, dass dieser Diskurs also letztlich doch ein apolitischer wäre. Vielmehr spiegelt sich in diesem Umstand die Tatsache wieder, dass auch die amerikanische Republik keine Schöpfung ex nihilo darstellte: Ebenso wie demokratisches Gedankengut waren durchaus auch die alten Vorbehalte gegen die sozial niedrigen Schichten in die Neue Welt importiert worden.

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6.

Na(t)ive Informants: Der groundling und das innere Kind

6.1 Vom »verderbten« zum »naiven« Publikum In der Zeit zwischen 1890 und 1940 sind die Auswirkungen einer Um- und Neubesetzung des kulturellen Bedeutungskomplexes Shakespeares auf die Vorstellung von seinem elisabethanischen Publikums besonders deutlich zu fassen. Augenfällig ist dabei insbesondere eine zunehmende Ausdifferenzierung sowohl verschiedener Formen als auch verschiedener Funktionen des Konstrukts »Theaterbesucher der Shakespearezeit«. Der Diskurs Uber das elisabethanische Publikum ist durch ein nicht immer widerspruchsfreies Nebeneinander von alten und neuen Auffassungen gekennzeichnet, weniger jedoch durch klare Brüche, die bestehenden Traditionen abrupt ein Ende setzen und sie durch neue Sichtweisen ersetzen. Dies gilt auch und vor allem für das im Zusammenhang mit der moralisierenden Shakespearerezeption des Viktorianismus entstandene Bild des Renaissance-Publikums im Allgemeinen und der groundlings im Speziellen, das bis heute weit über den englischen Sprachraum hinaus aktuell ist. Vielmehr ergeben sich Veränderungen in der Vorstellung von den Theaterbesuchern der Shakespearezeit meist aufgrund des Hinzutretens neuer Komponenten zu einem bestimmten Strang des Diskurses über das Publikum, die diesen dann modifizieren, ohne jedoch bereits vorhandene Elemente völlig zu verdrängen, und ohne andere Traditionen obsolet zu machen. Neben die Vorstellung von den »naiven« Elisabethanern, die in diesem Kapitel im Mittelpunkt stehen soll, tritt etwas später die bereits von Coleridge formulierte Konzeption eines in ein hochgebildetes, elitäres Segment und einen anspruchslosen, unkritischen Teil gespaltenen Theaterpublikums. Dabei ist über weite Strecken ein Nebeneinander der beiden Konzeptionen zu beobachten. Vor dem Hintergrund der allmählichen Etablierung einer professionellen Shakespeareforschung werden sowohl das »naive« als auch das »elitäre« Publikum zunehmend dort ins Feld geführt, wo es gilt, den eigenen wissenschaftlichen Standpunkt gegenüber anderen Positionen zu rechtfertigen bzw. als überlegen darzustellen. Wenn die »korrekte« Interpretation der Dramen (d.h. in praktisch allen Fällen die jeweils eigene) als die des elisabethanischen Publikums präsentiert wird, so ergibt sich damit für die Theaterbesucher der Renaissance eine im Vergleich zu bisherigen semantischen Besetzungen ganz neue Wertigkeit: Der in Kapitel 8 behandelte »Neo-Elizabethanism« macht das Publikum zur entscheidenden Instanz für die (eindeutig feststehende, »wahre«) Bedeutung des Textes. Allerdings steht die Funktionalisierung des Publikums als Legitimationsinstanz der »richtigen« Deutung Shakespeares in ausgeprägtem Gegensatz zur zunehmenden Auffächerung der Vorstellungen von seiner Zusammensetzung und Eigenart.

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Im Zuge dieser Diversifizierung verschmelzen der englische und der amerikanische Strang der Diskussion über die Theaterbesucher der Renaissance endgültig zu einem weitgehend einheitlichen Diskursfeld. Ε. E. Stoll beispielsweise übt innerhalb, vor allem aber auch außerhalb der USA erheblichen Einfluss auf die Vorstellung von Shakespeares ursprünglichem Publikum aus; seine Position ist wiederum allein innerhalb des amerikanischen Kontexte nicht verständlich, sondern entsteht mehr noch als bei seinen Vorgängern aus der Bezogenheit auf die englische und kontinentaleuropäische Auseinandersetzung mit Shakespeare. Das Postulat der Objektivität, mit dem sich der Begriff der »Forschung« gegen den Begriff der »Kritik« absetzt, zieht den Anspruch einer nationale Beschränkungen hinter sich lassenden, allein den »Fakten« verpflichteten Wissenschaft nach sich. Mangelnde Faktentreue ist gerade auch im Diskurs über Shakespeares ursprüngliche Zuschauer trotz oder gerade wegen der an sich spärlichen Quellen ein häufig erhobener Vorwurf: Immer wieder geraten die »Tatsachen« der jeweils älteren Kritik bzw. Forschung unter Beschuss. Dies gilt auch für den Gemeinplatz vom moralisch verderbten groundling. Die etwa von Bradley und Bridges vertretene Sicht des elisabethanischen Publikums erscheint der Nachwelt vielfach - wenn auch beileibe nicht immer - ebenso typisch viktorianisch wie überholt. In der Shakespeare Lecture der British Academy vom 1. Mai 1929 formuliert John Dover Wilson das so: The Victorian Shakespeare [...] condescends to lay aside the philosopher, but not for the purpose of devotion and instruction. No: he stoops from the heights of his serene omniscience to tickle the palate of a degraded audience, to pander to the taste of Caliban himself with dish after dish made savoury with the spice of »the foolish, the filthy and the brutal«. And if we ask why, the answer must be, to get his living, to make money, to purchase New Place, a coat of arms and other trappings of gentility, since if we are to believe Sidney Lee - his literary attainments and successes were chiefly valued as serving the prosaic end of making a permanent provision for himself and his daughters.1

1849 hatte G. H. Lewes die spezifisch neoklassizistische Funktionalisierung des elisabethanischen Publikums als argumentative Hilfskonstruktion bezeichnet - und dadurch eine neue Phase im Diskurs über die frühneuzeitlichen Theaterbesucher eingeleitet. Ein ganz ähnlicher Vorgang spielt sich auch bei Wilson ab, der fortfährt: [This idea] represents a hybrid monster begotten of an honest though ill-considered attempt to reconcile the Victorian conception of Shakespeare with certain facts which the Victorians overlooked or found it convenient to ignore. [...] To attack the »wretched« Elizabethans for degrading Shakespeare is to attack the Elizabethan Shakespeare for not living up to Victorian standards.2

In dieselbe Richtung argumentiert auch Muriel St. Clare Byrne in einem 1927 erschienen Artikel über Shakespeares ursprüngliche Zuschauer. Anders als Wilson bewegt sie sich zunächst aber insofern durchaus in der Tradition der älteren Kritik, als sie die ihrer Ansicht nach exzessive Gewaltdarstellung in Shakespeares Dramen zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchung über den Einfluss des elisabethanischen

1 2

Wilson, The Elizabethan Shakespeare, S. 20. Wilson, The Elizabethan Shakespeare, S. 20f.

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Publikums macht. Das auch bei Bridges zur Instanz erhobene subjektive Moralempfinden erweist sich auch für Byrne als ausschlaggebendes Kriterium: For a point of attack [...] it will probably be simplest to regard first that aspect of Shakespeare's plays and those of his contemporaries with which the modern reader is least in sympathy. I mean, of course, those horrors and sensationalism designed to curdle the blood, which represented on the stage to-day, disgust in Shakespeare, and are usually absurd in others.3 »Sensationslust« stand für die Viktorianer vor allem im Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Melodrama. Dieser Referenzrahmen ist auch für Byrne noch aktuell; anders als im Viktorianismus interessiert das Genre nun aber, und das ist entscheidend, insbesondere unter dem Aspekt der imaginativen Fähigkeiten, die es bei seinen Zuschauern voraussetzt - oder eben gerade nicht: Rightly or wrongly, we are accustomed to judge the imaginative development of any particular section of the modern audience by the quantity and quality of the sensationalism which it likes in its plays; and we are accustomed to think that the whole-hearted and enthusiastic patrons of what has been suggestively christened the »thick-ear« drama are, imaginatively, somewhat undeveloped and hard of hearing.4 Für Byrne verschieben sich also die Gewichte: Die Sensationslust, die sowohl dem zeitgenössischen Publikum des Melodramas als auch den Theaterbesuchern der Shakespearezeit zugeschrieben wird, dient nicht mehr primär als Indikator mangelnden moralischen Empfindens. Mit der Vorstellungskraft rückt vielmehr ein Themenkomplex in den Mittelpunkt, der bereits in der viktorianischen Auseinandersetzung mit dem Shakespearepublikum eine - wenn auch nicht zentrale - Rolle gespielt hatte. Schon Bradley hatte in seiner Abhandlung Shakespeare's Theatre and Audience den Elisabethanern eine beträchtliche Empfänglichkeit für das Lyrische, Poetische zuerkannt, im Zusammenhang damit aber auch ausgeprägte imaginative Fähigkeiten: [Shakespeare's audience] possessed [...Ja vivid imagination. Shakespeare could address to it not in vain the injunction »Work, work your thoughts!« Probably in three scenes out of five the place and surroundings of the action were absolutely invisible to its eyes. In a fourth it took the barest symbol for reality. A couple of wretched trees made the Forest of Arden for it, five men with ragged foils the army that conquered at Agincourt: are we stronger than it, or weaker? It heard Romeo say »Look, love, what envious streaks / Do lace the severing clouds in yonder east«, and to its mind's eye, they were there. It looked at a shabby old balcony, but as it listened it saw the swallows flitting round the sun-lit battlements of Macbeth's castle, and our pitiful sense of grotesque incongruity never troubled it.5 Die Passage leitet Bradleys abschließende Bemerkungen über das elisabethanische Publikum ein. Gerade, was dessen Vorstellungskraft angeht, äußert er sich derart

3

4 5

Muriel St. Clare Byrne: Shakespeare's Audience. In: A Series of Papers on Shakespeare and the Theatre. Together with Papers on Edward Alleyn and Early Records illustrating the Personal Life of Shakespeare, by Members of the Shakespeare Association. London 1927, S. 186-216. Hier: S. 199. Byrne, Shakespeare's Audience, S. 199. A. C. Bradley: Shakespeare's Theatre and Audience [1902]. In: Ders.: Oxford Lectures on Poetry. London 1934, S. 361-393. Hier: S. 391. 141

schwärmerisch, dass die vorhergehenden dreißig Seiten, auf denen er sich hauptsächlich mit den negativen Seiten der Theaterbesucher der Shakespearezeit auseinandersetzt, beinahe in Vergessenheit geraten. An dieser abschließenden Eulogie und nicht an der von J. Dover Wilson kritisierten Vorstellung von den rüden, amoralischen elisabethanischen Rabauken - setzt nun Byrnes Kritik an. Besonders ausgeprägte imaginative Fähigkeiten sind mit den »Grausamkeiten« des Shakespeareschen Dramas nicht in Einklang zu bringen: What these horrors enable us to do is accurately to measure the sensibility of the audience and to gauge their imaginative reaction. On that evidence, we have no choice but to rate both low. [...] Accustomed to a very considerable degree of cruelty in real life they needed something as violent as the blinding of Gloster if their sensibilities were to be penetrated at all, and an emotional reaction aroused. [...] They had the same interest in blood and slaughter that a robust-minded undeveloped child has, and what is more they were familiar with both.6 Während in Bradleys Darstellung der elisabethanischen Psyche eine Vorliebe für Gewaltdarstellungen auf der Bühne und eine ausgeprägte lyrisch-imaginative Empfänglichkeit beinahe gleichberechtigt nebeneinander stehen, schließen sich diese beiden Eigenschaften für Byrne gegenseitig aus: 7 Die »lyrische Ader« wird Shakespeares ursprünglichem Publikum abgesprochen. Dessen Empfinden für sprachliche Schönheit, so Byrne, beschränkt sich auf Freude an der markigen Prägnanz (pith) und dem lautlichen Wohlklang. Dies sei kein Hinweis auf »developed or imaginative apprehension« 8 : »The presence of poetry in the work of a poet is no evidence of apprehension upon the part of his audience.« 9 Dass derselbe Satz in bejahter Form und unter Verwendung des Wortes »brutality« statt »poetry« (»The presence of brutality in the work of a poet is evidence of apprehension upon the part of his audience.«) die argumentative Grundlage ihres eigenen Vorgehens darstellt, berücksichtigt sie nicht. Wenn Byrne ihre Negierung der imaginativen Fähigkeiten des elisabethanischen Publikums als »[a] challenge [to] the most venerable and acceptable of myths« 10 beschreibt, dann muss dies aus heutiger Perspektive in mehrfacher Hinsicht relativiert werden. Zunächst einmal ist Bradleys Vorstellung eines sich durch besonders viel Fantasie auszeichnenden Publikums im Diskurs über die Theaterbesucher der Renaissance nicht so weitverbreitet, wie Byrne behauptet. Entsprechend ist auch ihre Negierung dieser imaginativen Fähigkeiten kaum ein Fall von Bilderstürmerei: Repräsentativ für den »Mythos« vom elisabethanischen Publikum ist Bradleys Abhandlung in dem - bezüglich des Umfangs weit überwiegenden - Teil des Essays, in dem die negativen Seiten des Publikums diskutiert werden. Zu diesen negativen Seiten gehört ganz klar eine Vorliebe für exzessive Gewaltdarstellung, wobei Byrne sich bezüglich dieses Punktes »viktorianischer« als Bradley selbst zeigt: Die Brutali-

6 7

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Byrne, Shakespeare's Audience, S. 200. »Brutality is [...] the concomitant of a crude and undeveloped imagination.« (Byme, Shakespeare's Audience, S. 201.) Byrne, Shakespeare's Audience, S. 202. Byrne, Shakespeare's Audience, S. 202. Byrne, Shakespeare's Audience, S. 200.

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tät der Dramen erscheint ihr derart verwerflich, dass eine Koexistenz eines (ja auch nur angenommenen) Gefallens an solchen Grausamkeiten mit einer positiv konnotierten Einbildungskraft in der elisabethanischen Psyche nicht vorstellbar ist. Damit wiegen moralische Erwägungen letztendlich schwerer als bei Bradley. Dennoch ist Byrnes Ablehnung der These vom besonders fantasiebegabten elisabethanischen Publikum nicht total. Vielmehr nimmt sie eine Differenzierung vor, die an Coleridges Unterscheidung zwischen fancy und imagination erinnert: [...] [I]t would be wiser, I think, to credit the Elizabethan audience not with an imaginative capacity distinctly superior to that possessed by the modern audience, but with an immense capacity for make-believe. By make-believe I mean the childish faculty of over-looking without effort any discrepancies which shatter the illusion of reality. [...] Pretence and make-believe are not the same thing as imagination."

Eine negative Form von Einbildungskraft stellt implizit oder explizit die Grundlage für eine ab der Wende zum 20. Jahrhundert zu beobachtende Neuerung in der Konzeption des elisabethanischen Publikums dar: Dieses wird vermehrt als »kindlich« und »naiv« beschrieben, eine Charakterisierung, die die angenommene »Unmoral« der Elisabethaner zwar nie obsolet werden, aber teilweise doch in den Hintergrund treten lässt. So schreibt etwa Georg Brandes: Audiences felt no need for [...] aids to illusion; their imagination instantly supplied the want. They saw whatever the poet required them to see - as a child sees whatever is suggested to its fancy, as little girls see real-life dramas in their games with their dolls. For the spectators were children alike in the freshness and in the force of their imagination.12

G. P. Baker bezeichnet 1907 das elisabethanische Publikum als »delightfully childlike«.13 In der französischen Shakespearerezeption zieht man ähnliche Parallelen: J'ai vu, l'autre jour, une petite fille qui se cachait derriere un paravent et qui s'assit Sur le plancher. »Que fais-tu?« lui dit sa mere. »Viens done frapper ä la porte«, repondit-elle, »je suis chez moi, voici ma maison, je refois aujourd'hui«. Or, cette imagination enfantine et naive nous donne la clef de l'imagination populaire elisabethaine.14

Auch im deutschen Sprachraum ist die Vorstellung eines kindlich-unbedarften Publikums gängig. Wolff beschreibt die elisabethanischen Theaterbesucher schon 1903 als »naiv« und »begeisterungsfähig«;15 sehr einflussreich gerade auch im angloamerikanischen Sprachraum ist darüber hinaus Levin Schückings Die Charakterprobleme bei Shakespeare von 1919. Ähnlich wie bei Sisson (»l'imagination populaire«) sieht auch Schücking einen Zusammenhang zwischen Naivität und Kindlichkeit des elisabethanischen Dramas und dem Umstand, dass es sich bei der englischen Renaissance-Bühne um ein »Volkstheater« handelt:

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Byrne, Shakespeare's Audience, S. 202f. Georg William Brandes: Shakespeare. A Critical Study [Dänische Originalausgabe: 1898]. London 1905, S. 102. George Pierce Baker: The Development of Shakespeare as a Dramatist [1907]. New York 1965, S. 13. Charles J. Sisson: Le Goüt Public et le thiatre elisabethain jusqu'ä la mort de Shakespeare. Dijono. J. [ca. 1914], S. 94. Max J. Wolff: William Shakespeare. Studien und Aufsätze. Leipzig 1903, S. 357.

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Wer Shakespeare richtig begreifen will, muss sich j a vor allem darüber klar sein, dass seine Kunst nicht wie die Goethes oder Ibsens in ihren eigenen Grenzen dahinfließt, sondern dass sie nur eine mächtige Welle in einem großen Strom ist. Das Volkstheater, für das er arbeitet, taucht ursprünglich aus dem Dunkel des Namenlosen auf, wie in der Neuzeit das Kino. Es ist ein Kind des Volks, und die Unbekümmertheit des Ungebildeten und der Kinder [...] bleibt an ihm haften. 1 6

Der Begriff »Unbekümmertheit« erinnert an Coleridge, in dessen Vorstellung von einem zweigeteilten Publikum der »niedere« Teil Shakespeares Dramen »innocent enjoyment« abgewinnt, während der gehobene Teil aus den philosophischen Höhenflügen neue Einsichten gewinnt. Grundannahme Schückings ist allerdings, anders als bei Coleridge, ein homogenes Publikum, das obwohl »im Verständnis beschränkt[...]«, den »bestimmenden Einfluss« auf Shakespeares Dramen ausübt. 17 Die Etikettierung des Publikums und die Etikettierung der Bühnestücke bedingen sich nicht nur gegenseitig, sondern sind fast austauschbar: Beide erscheinen ihm als von »heute [...] unmögliche[r] Primitivität« 18 . Wenn Schücking schreibt, Es ist nicht so, als ob das Shakespearesche Drama nur in dieser einen Hinsicht [bezüglich der »Selbsterklärung« in Monologen] die Eierschalen einer primitiveren Zeit trüge, in allen anderen dagegen dem modernen Drama auf das Haar gliche. Die Urtümlichkeit und gewisse Kindlichkeit, die in den uns bisher bekannt gewordenen Zügen hervortritt, liegt, minder deutlich, aber doch bei schärferem Zusehen auch klar erkennbar über dem ganzen Gehabe des Shakespeareschen Dramas. Das alles ist in der Technik harmloser, einfacher, treuherziger, als wir uns vorzustellen geneigt sind 19 ,

dann ist in der stark anthropomorphisierenden Beschreibung des Dramas auch eine Aussage über die elisabethanischen Zuschauer getroffen. Ganz ähnlich gilt dies auch für die Art und Weise, in der Schücking die fremdgewordene Konvention des selbsterklärenden Monologs zu erklären versucht - nämlich als »naive [Form der] Aufklärung des Publikums« 20 . Naiv ist allerdings nicht primär das Mittel der Aufklärung, sondern das Publikum, das derartiger Aufklärung bedarf. Begriffe wie »kindlich«, »harmlos« und »treuherzig« scheinen Shakespeares ursprüngliches Publikum zunächst in ein positives Licht zu rücken. Demgegenüber bezeichnet Schücking die frühneuzeitlichen Theaterbesucher allerdings auch als »blöde Menge«21 - ihre Unbedarftheit hat also offensichtlich durchaus etwas Dümmliches. J. J. Jusserand etwa ist in der Beurteilung der Elisabethaner zunächst weit milder: »Such people are the best public, the most sincere, the one that does not look for occasions to blame and sneer, but occasions to admire, and few things are more beneficial than disinterested admiration for great deeds and noble sights.« 22

16

17 18 19 20 21 22

Levin L. Schücking: Die Charakterprobleme bei Shakespeare. Eine Einführung in das Verständnis des Dramatikers. Leipzig 1919, S. 6. Schücking, Charakterprobleme, S. 33. Schücking, Charakterprobleme, S. 33. Schücking, Charakterprobleme, S. 26. Schücking, Charakterprobleme, S. 26. Schücking, Charakterprobleme, S. 18. J. J. Jusserand: What to expect of Shakespeare (The British Academy: First Annual Shakespeare Lecture). London 1911, S. 23.

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Die uneindeutige Haltung gegenüber den »kindlichen« elisabethanischen Zuschauer verweist auf eine grundlegende Ambivalenz des Konzepts Kindheit, die ihren Ursprung in einer unterschiedlichen Sicht der menschlichen Entwicklung bzw. des menschlichen Fortschritts hat. Paradigmatisch formuliert werden diese unterschiedlichen Positionen von Rousseau und Locke: Whereas Locke sees the child as a tablet, Rousseau sees it as a wild plant. Locke's metaphor [tabula rasa] makes the connection that civilization and maturity are printed on the tablet of the child's mind. For him the child is an unformed person who through literacy, education, reason, and shame may become a civilized adult. For Rousseau the child possesses capacities for candour, understanding, curiosity and spontaneity which must be preserved or rediscovered. 23

Rousseaus Vorstellung eines idealen Naturzustands bildet die Folie für die Verklärung des Einfachen, Ursprünglichen durch die Romantiker. Sie setzt sich im fortschrittsgläubigen 19. Jahrhundert aber nur in beschränktem Umfang durch: Zwar steht die viktorianische Verklärung der Kindheit zweifelsohne in dieser Tradition, sie ist jedoch gleichzeitig das Produkt einer Gesellschaft, die in der Interpretation ihrer eigenen Geschichte und der Projektion ihrer Zukunft nicht so sehr die Sehnsucht nach einer Rückkehr zum Ursprünglichen, sondern eher die Verklärung eines Fortschritts zum (vermeintlich) Besseren erkennen lässt. Diesem Fortschrittsdenken entsprach Lockes Konzeption des Menschen als tabula rasa, der durch Erfahrungsgewinn zum zivilisierten Wesen heranreift, viel eher. Während der Rousseausche Gedanke der unverdorbenen Ursprünglichkeit in Konzeptionen des elisabethanischen Publikums durchaus auch seinen Niederschlag findet (und das nicht nur außerhalb Englands; erinnert sei hier zum Beispiel an die von Stubbes diagnostizierte »virtuous plainness« der Elisabethaner), steht die Vorstellung von den kindlich-naiven Theaterbesuchern der Renaissance im ersten Drittel des 20. Jahrhundert weit überwiegend in der Tradition Lockes: Die »Unfertigkeit« der »primitiven« Elisabethaner erklärt die Unzulänglichkeiten des Shakespeareschen Dramas. In der Lockeschen Tradition des Kindlichen als Ausdruck des weniger Entwickelten und damit Unterlegenen bewegt sich über weite Strecken auch der Diskurs des Kolonialismus. Das Konzept des Kindlichen wird dabei unter dem Einfluss Darwins in enge Verbindung mit dem des Wilden, Primitiven gebracht: 24 1872 schreibt beispielsweise Richard Burton: »[The tribesman of Eastern Africa] seems to belong to one of those childish races which, never rising to man's estate, fall like worn-out links from the great chain of animated nature.« 25 Auch für die Rechtfertigung des Imperialismus war die »kindliche Rückständigkeit« der Bevölkerung der kolonialisierten Gebiete von strategischer Bedeutung: As to the question of voting, we say that the natives are in a sense citizens, but not altogether citizens - they are still children [...]. Now, I say the natives are children. They are

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24

25

Bill Ashcroft: Primitive and Wingless: the Colonial Subject as Child. In: Wendy S. Jackson: Dickens and the Children of Empire. Basingstoke 2000, S. 184-202. Hier: S. 189. Ashcroft, Primitive and Wingless, S. 185: »The connection between the child and the savage is focussed in the common and growing assumption - cemented in nineteenthcentury thinking by Darwin - that the races existed on a hierarchy of evolutionary stages.« Richard Burton: Zanzibar, City, Island and Coast. London 1872, S. 280.

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just emerging from barbarism. [...]. To us annexation was an obligation, whereas to the natives it will be a positive relief, for they will be freed from a seething cauldron of barbarian atrocities. 26

Eine den natives unterstellte Un- oder Amoral wurde ebenfalls häufig als Ausdruck einer kindlichen, praktisch prä-ethischen Gemütsverfassung gewertet.27 Vor diesem Hintergrund ergeben sich durchaus Verbindungslinien zwischen dem kindlichnaiven, primitiven Publikum, wie es Byrne, Schücking und andere konzipieren, und den »verderbten« groundlings.28 Wenn die sonst zur Charakterisierung der kolonialisierten Bevölkerung verwendete Begrifflichkeit Anwendung auf die aus der Alterität der Shakespearedramen extrapolierte Fremdartigkeit des Renaissance-Publikums findet, dann verweist dies außerdem auf eine Zusammenschau der Exotik des historisch Fremdgewordenen mit der Exotik des räumlich Entfernten. Gewissermaßen als ortskundige Eingeborene, als native informants, erklären die elisabethanischen Theaterbesucher und ihre Mentalität die Fremdheit des »primitiven« RenaissanceDramas.

6.2 Making

pictures

Worin diese »Primitivität« besteht, was die zum gegebenen Zeitpunkt gerade aktuellen Fehler und Mängel Shakespeares sind, das beschreibt Wilson folgendermaßen: »[...] [T]he faults now complained of are [...] faults of dramatic inconsistency, inadequate motivation, careless contradiction, faults of which Jonson seems to have been completely unconscious.« 29 Die angesprochenen »Mängel« lassen sich dabei allerdings auf ein Grundpostulat zurückfuhren, das auch Jonson nicht allzu fremd

26

27 28

29

>Vindex< (Hg.): Cecil Rhodes: his Political Life and Speeches 1881-1900. London 1900, S. 380, 383, 396. (Die Hinweise auf Burton und Rhodes stammen aus Ashcroft, op. cit.) Das Bild ist ein metonymisches: Der »seething cauldron of barbarian atrocities« ist auch der »cauldron«, in dem Missionare gekocht, um dann kannibalistisch verspeist zu werden. Die Eingeborenen werden letztlich von dem »befreit«, was sie fur die Eroberer bedrohlich macht. Ashcroft, Primitive and Wingless, S. 191. Generell hat die Diskussion Shakespeares und seines Theaters unter dem Aspekt der »Primitivität« ihre Wurzeln schon in der viktorianischen Shakespearekritik. Eine herausragende Rolle spielt dieses Konzept aber erst später - in der Shakespearerezeption des englischen Modernismus, die sich durch ein starkes Interesses an aus der Ethnologie entlehnten Fragestellungen auszeichnet. Im Zuge der Konstruktion eines »primitiven« Shakespeare ergab sich dabei auch ein entsprechend »primitives« Bild der englischen Renaissance. Die Funktion dieses Konstrukts beschreibt Halpern wie folgt: »To put it bluntly, modernism constructed the English Renaissance as an allegory for the colonial encounter itself; the period's catastrophic experience of modernity and the disintegration of its organic and ritualised culture offered an historically displaced and geographically internalised image of the effects of contemporary imperialist penetration into indigenous third-world societies. If modernism tended to place Shakespeare in the contexts of »primitive« and non-Western cultures, it did so largely because the English Renaissance already, in some sense, refracted the West's encounter with its imperial subjects.« (Richard Halpem: Shakespeare Among the Moderns. Ithaca / London 1997, S. 27). Wilson, Elizabethan Shakespeare, S. 3f.

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gewesen sein dürfte: Das der möglichst ungehinderten Illusionsentfaltung auf der Bühne, wie es ursprünglich auch hinter der Forderung nach der Beachtung der Einheit von Ort, Zeit und Handlung stand. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Regelpoetik zwar seit über hundert Jahren obsolet, die Forderung nach größtmöglicher Bühnenillusion aber immer noch fester Bestandteil des Credos der konservativeren Theaterschaffenden. Herbert Beerbohm Tree beispielsweise schreibt 1913: I take it that the entire business of the stage is - illusion. As the entire aim of all art is illusion, to gain this end all means are fair. [...] Illusion, then, is the first and last word of the stage; all that aids illusion is good, all that destroys illusion is bad.30

Diese Auffassung führte insbesondere zur Forderung nach weitgehender »Vollständigkeit« der Illusion, d.h. nach einer Form der Illusionsbildung, die ohne die explizite Partizipation der Zuschauer auskommt. Der Verzicht auf Mitwirkung des Publikums wird durch klare »Regeln«, denen die Bühnenaufführung zu folgen hat, in gewisser Weise kompensiert, wobei die beiden Faktoren sich gegenseitig bedingen: The underlying premise of the traditionalist Edwardian definition of the nature of the theatre event was twofold. First, it was assumed that the world depicted on the stage was something crucially separate and apart from the world of the spectators in the auditorium of the theatre; secondly, the separate world thus created on the stage was a complete, internally consistent and conventionally »real« space, obeying historical, environmental, behavioral and dramatic laws bound together according to the principles of »unity«. These two aspects are interrelated, for the sense of separation between spectacle and spectator is necessary for the establishment of the reality and the unity of the stage world.31

Insbesondere bezüglich des Punktes unity sind Jonson und die Vertreter der Vorstellung vom »naiven« elisabethanischen Publikum - entgegen der Behauptung Wilsons - also nicht allzu weit voneinander entfernt: Die Regel der Einheit von Ort und Zeit, deren weitgehende Nichtbeachtung durch Shakespeare schon unter dem Einfluss des Neoklassizismus heftig kritisiert worden war, fällt durchaus unter den Begriff dramatic (in-Consistency, der auch zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch zur Debatte steht. Hier erweist sich das Konzept einer »kindlichen« Vorstellungskraft als besonders nützlich - gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass Änderungen in der Vorstellung vom elisabethanischen Publikum oft gewissermaßen nur eine neue Sprache zur Erklärung ein- und desselben Sachverhalts darstellen. Der Stein des Anstoßes ist seit der Restauration zum Teil derselbe; geändert hat sich jedoch die Art und Weise, wie er aus dem Weg geräumt wird. Beispielhaft zeigt sich dies an Byrnes Äußerungen zur Problematik von Ort und Zeit bei Shakespeare: To an Elizabethan audience time and place meant almost as little as they do to a child: one place was as good as another, and Verona conveyed, like the sea-coast of Bohemia, at most a vague atmosphere of strangeness but certainly nothing pictorial in the way of background. [...] For a child who possesses the [...] capacity [of make-believe and pretence] a simple statement suffices. The scene is Rome because I say it is, not because the child can

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Herbert Beerbohm Tree: Thoughts and Afterthoughts. London 1913, S. 57. Mazer weist darauf hin, wie verbreitet diese Ansicht in der Edwardian period ist und zitiert unter anderem Archer, Ε. K. Chambers und Η. A. Jones (Cary M. Mazer: Shakespeare Refashioned: Elizabethan Plays on Edwardian Stages. Ann Arbor 1980, S. 51). Mazer, Shakespeare Refashioned, S. 8.

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imagine the appearance of Rome or does imagine an appearance for Rome. The nursery cupboard is a bear's den because architecturally it is a suitable structure, and because the child says it is a den, not because he has either seen a bear's den or imagines what it would look like. The bear is the thing, the den is so secondary as to be almost negligible. In just the same way I think the Elizabethans accept willingly the constant changes of scene upon their stage simply because there is no scene at all either in their imagination or before their 12 eyes.

»Echte« Imagination, das ist diesen Ausführungen klar zu entnehmen, ist wesentlich visuell, d.h. sie besteht in der Evokation eines inneren Bildes. Fehlt dieser Aspekt des »Sich-vor-Augen-Führens«, oder ist er nicht eindeutig nachzuweisen, dann ist nicht von genuiner Vorstellungskraft die Rede. Dass visuelle Aspekte hier so stark im Vordergrund stehen, erklärt sich nicht zuletzt aus einer offensichtlichen Diskrepanz zwischen »historischem« und zeitgenössischem Shakespeare und der daraus resultierenden Frage, welcher von beiden denn nun der »echte« sei. Während die (konventionelle) Mehrheit der Shakespeare-Inszenierungen des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine starke Tendenz zum (visuellen) Spektakel an den Tag legte, lieferte die historische Theaterforschung nur wenige Hinweise auf eine dem mainstream der zeitgenössischen Bühnenpraxis auch nur ansatzweise vergleichbare Bedeutung des Bühnenbildes. Dessen weitgehende Abwesenheit mochte zwar Bradley als Hinweis auf die besonders starke Vorstellungskraft der Elisabethaner gelten, konnte aber genauso gut auch als Zeichen für deren Fehlen interpretiert werden. Bradleys These war damit leicht anzufechten: There is no evidence that [the Elizabethans] visualised the swallows flitting around the sunlit battlements of Dunsinane as Bradley suggests. Shakespeare's injunction 'Work, work your thoughts' implies that they could work them but it does not imply that they did. If human nature is any guide to the nature of the Elizabethan audience we may be fairly sure that it did not exercise its imagination unless it was forced to.33

Dieser (unterstellte) Mangel an Visualisierung erscheint vor dem Hintergrund der auf ein Höchstmaß an Illusion abzielenden Bühnenpraxis des ausgehenden 19. Jahrhunderts als eindeutiger Nachteil, da ein Element, das zur Steigerung der Illusion dienen könnte, einfach wegfällt. Nicht nur in der Shakespearekritik, sondern vor allem auch unter konservativeren Bühnenpraktikern führt diese Bewertung häufig zu der Auffassung, dass Shakespeare eine derartig negative Beurteilung der bühnentechnischen Möglichkeiten seines Theaters geteilt habe. 34 Die Apologie des Chors in Henry V. beispielsweise bietet Tree Grund genug für die Auffassung: »[Shakespeare himself] not only foresaw, but desired, the system of production that is now most in the public favour.« 35 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, woher das elisabethanische Publikum in der Zeit nach dem Tode Viktorias und vor dem Ende des Zweiten

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Byrne, Shakespeare's Audience, S. 203. Byrne, Shakespeare's Audience, S. 203. »The Edwardian traditionalists believed that the fictive reality on the stage was an intrinsic feature of their dramatic text. If Shakespeare was not able to create such a verisimilar world on the stage, this was, according to the traditionalist, the fault of his theatre, not of his dramatic vision.« (Mazer, Shakespeare Refashioned, S. 10.) Tree, Thoughts, S. 60.

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Weltkriegs seine Leichtgläubigkeit - unter anderem - bezieht: aus dem Wunsch danach, den »echten« Shakespeare mit bestimmten zeitgenössischen Aufführungskonventionen vereinbaren zu können. Eine gewisse Brisanz liegt dabei darin, dass die zum visuellen »Spektakel« tendierenden Shakespeare-Inszenierungen offensichtlich vor allem dem Geschmack der Mittelschichten entsprachen. 36 Damit ergibt sich zunächst eine relativ einfache Formel: Die Alterität der elisabethanischen Bühne bezüglich des visuellen Aspekts wird, ebenso wie die Alterität des elisabethanischen Dramas bezüglich der Moral, durch die Zuweisung an Shakespeares ursprüngliches Publikum in Schach gehalten. Wo Shakespeare mit Hilfe der groundlings zum Vertreter der viktorianischen Mittelschichtmoral zurechtkonstruiert wird, wird er mit Hilfe der »naiven« Elisabethaner und ihrer kindlichen Vorstellungskraft zum Befürworter der visuellen Theatergewohnheiten des Mittelschicht-Publikums des Edwardian Age. Im Zuge innovatorischer Bestrebungen in der Shakespeare-Inszenierung der Jahrhundertwende und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts beginnt diese scheinbar so einfach zu fassende Funktionalisierung des Publikums jedoch, sich zu verkomplizieren. Entscheidende Voraussetzung für diesen Prozess ist die zunehmende Verbreitung der Einsicht, dass das Theaterereignis wesentlich auf Konventionen beruht, und dass diese wiederum historischem Wandel unterliegen. Damit stellt sich aber umso mehr die Frage, wie mit der Fremdartigkeit des Dramas einer vergangenen Zeit umzugehen ist. Die Schwierigkeiten, die sich aus dem Aufeinanderprallen der visuellen Konventionen des elisabethanischen Theaters mit denen der »realistischen« Bühne des 19. Jahrhunderts ergeben, skizziert Granville-Barker folgendermaßen: Convention in art is hard to discount, and we accept the accustomed conventions of the theater more unquestioningly than most. The visual side of our modem »realistic« drama is itself conventional; but it has come, by slow degrees, so fully to its own that we are apt to apply the laws of it, quite unconsciously, to every sort of theatre and play, as if they were natural laws. The »visual law« of drama was, to the Elizabethans, a very different, and an arbitrary and inconstant thing besides. [...] We are now so used to seeing [the background] pictured, be it as A drawing room in Mayfair, or as Piccadilly Circus, or The Forest of Arden, or A street in Venice, or Verona, or Rome, that it if it is not set before us we set ourselves to imagine it there; and we assume that the Elizabethans did the same - for, after all, the characters in a play must be somewhere. Yes, they must be, if we push the enquiry. But the Elizabethan dramatist seldom encourages us to push it; and his first audiences assuredly, as a rule, did not do so in despite of him. 37

Was das elisabethanische Publikum angeht, präsentiert Granville-Barker den Sachverhalt im Grunde genauso wie auch Byrne: Die häufigen Ortswechsel in den Shakespeareschen Dramen sind kein Hinweis auf eine ebenso rasche Folge »innerer Bilder« in der Vorstellung der elisabethanischen Zuschauer. Vielmehr tritt seiner Auffassung nach die nackte Bühne der Renaissance ebenso wie die elaborierte Ku-

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Roberta Ε. Pearson / William Uricchio: How Many Times Shall Caesar Bleed in Sport: Shakespeare and the Cultural Debate about Moving Pictures. In: Screen 31, No. 3 (Autumn 1990), S. 243-261. Hier: S. 258. Harley Granville-Barker: Prefaces to Shakespeare Vol. I. Hamlet, King Lear, The Merchant of Venice, Antony and Cleopatra, Cymbeline. London 1958, S. 384f.

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lisse des zeitgenössischen Theaters bei entsprechender Leistung des Schauspielers derart in den Hintergrund, dass jegliche Form der Visualisierung zur Nebensache wird.38 Das »authentische« Shakespeare-Erlebnis beruht auf der Performanz, dem Spielen. Paradoxerweise ist es gerade der Gedanke des kindlichen Spielens, der immer wieder zur Illustration der Naivität des elisabethanischen Publikums herangezogen wird. Während das »Spiel« für den Theaterpraktiker Granville-Barker die sich aus Unterschieden in der Visualisierung ergebende Kluft zwischen elisabethanischem und zeitgenössischem Theaterbesucher überbrückt, konstituiert sich für diejenigen Kritiker, die von einem »naiven« Shakespearepublikums ausgehen, gerade im Umgang mit der Performanz, dem Spielen, der Unterschied zwischen eigener Gegenwart und »primitiver« Vergangenheit. Implizit teilen Autoren wie Byrne, Schücking und Sisson also Beerbohm Trees Annahme eines Shakespeare, der sich die Bühnentechnik des 19. und 20. Jahrhunderts herbeisehnt. Dieser Standpunkt war jedoch keinesfalls allgemeiner Konsens. Zahlreiche Shakespearekritiker wandten sich schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vehement gegen die Ausstattungsexzesse der zeitgenössischen Inszenierungen, da diese für sie die »echte« Imaginationskraft eher behinderten als unterstützten: The unintellectual playgoer, to whom Shakespeare will never really prove attractive, has little or no imagination to exercise, and he only tolerates a performance in the theatre when little or no demand is made on the exercise of the imaginative faculty. »The groundlings«, said Shakespeare for all time, »are capable of [appreciating - SL] nothing but inexplicable dumb shows and noise.« They would be hugely delighted nowadays with a scene in which two real motor cars, with genuine chauffeurs and passengers, race uproariously across the stage. That is realism in its nakedness. That is realism reduced to its first principles. Realistic »effects«, however speciously beautiful they may be, invariably tend to realism of that primitive type, which satisfies the predilections of the groundling, and reduces drama to the level of the cinematograph. 39

Mit Halpern kann die Passage durchaus als Manifestation eines »anti-philistine strain« in der Shakespearekritik interpretiert werden: »But who are the >groundlings< denounced by Sidney Lee? Precisely the patrons who could afford the high ticket prices for such a performance.«40 Die soziale Umbesetzung der groundlings zu »Philistern« zeigt die enorme Dehnbarkeit des Konzepts: Es bleibt zwar konventionell negativ, beinhaltet bei Lee aber eine Komponente (»Mittelschicht«), die im traditionellen Bild von den groundlings völlig fehlt. Nach wie vor dienen die groundlings aber als Gegenentwurf zu dem Publikum, das dem »Nationalbarden« eigentlich angemessen ist. Für Lee ist dieses Publikum eine intellektuelle Elite:

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Granville-Barker, Prefaces to Shakespeare Vol. I, S. 9: »As we, when a play has no hold on us, may fall to thinking about the scenery, the [Elizabethan] stage might be an obvious bare stage. But are we conscious of the scenery when a play really moves us? If we are, there is something very wrong with the scenery, which should know its place as a background. The audience was not conscious of curtain and balcony when Burbage played Hamlet. That conventional background faded as does our painted illusion, and they certainly did not deliberately conjure up in its place mental pictures of Elsinore.« Sidney Lee: Shakespeare and the Modern Stage. With other Essays. London 1906, S. 23. Halpern, Shakespeare among the Modems, S. 64.

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[...] [T]he sagacious manager, who, by virtue of comparatively inexpensive settings and in alliance with a well-chosen company of efficient actors and actresses, is able at short intervals to produce a succession of Shakespeare's plays, may reasonably expect to attract a small but steady and sufficient support from the intelligent section of London playgoers, and from the home-reading students of Shakespeare, who are not at present playgoers at all.41 Für die hier untersuchten Zusammenhänge von größerer Bedeutung ist zunächst allerdings die Vorstellung eines »primitiven« Realismus. Die Unterscheidung zwischen »gutem« und »schlechtem« Realismus bildet die Grundlage eines bewussten Gegenentwurfs zu den Shakespeare-Inszenierungen Trees oder Irvings - der Arbeit William Poels und der Elizabethan Stage Society. Die möglichst enge Anlehnung an elisabethanische Bühnenkonventionen erschien Poel ähnlich wie Lee als Mittel zur Schaffung eines »realistischen« Bühnenerlebnisses. Den aus der Befolgung elisabethanischer Bühnenkonventionen resultierenden Realismus beschreibt er 1893 als »the realism of an actual event at which the audience assisted, not the realism of a scene, to which the audience is transported by the painter's skill, and in which the actor plays a somewhat subordinate part.«42 »Realismus« in der Inszenierung Shakespeares bedeutet also für Poel wie für Lee die Beteiligung des Publikums, für die traditionelleren Regisseure dagegen aber weiterhin die strikte Trennung der Bühnenhandlung von den Zuschauern. Da aber Poels Zeitgenossen mit dieser klaren Scheidelinie im Theater sozialisiert worden waren, war der Anspruch der Elizabethan Stage Society und anderer Gruppen mit ähnlich »elisabethanisierenden« Zielsetzungen von vornherein nur sehr schwer einzulösen, eine Schwierigkeit, der sich Poel aber wenn, dann nur sehr indirekt stellt. Bei diesen Ausweichmanövern spielt das »elisabethanische Publikum« allerdings eine wichtige Rolle: Most experiments in Elizabethan Staging tried either to bridge the gap in audience perception or to obscure the issue. The latter was achieved, not by reproducing a truly Elizabethan rapport between audience and performance, but by creating a picture of that rapport for the appreciation of a largely disengaged modern audience. Poel's 1893 Measure for Measure employed a number of costumed extras as a stage audience: Elizabethan gallants sitting on the stage and in the stage boxes to the side; George Pierce Baker [at Harvard] filled his stage boxes (with inadequate sight-lines to the stage) and his pit with Harvard undergraduates dressed in Elizabethan costume, reproducing Elizabethan daily life for the benefit of the paying audience during the half-hour before the Hamlet performance began; Elizabethan extras were the most prominent feature of the Globe replica at the Earl's Court exhibition; and B. Iden Payne attempted to archaeologize the audience of his 1908 Manchester Knight of the Burning Pestle [...] by planting actors in Elizabethan costume in the audience, preparing the way for the required involvement of Ralph, the Citizen and his Wife.43

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Lee, Shakespeare and the Modern Stage, S. 8. Bei der Textstelle handelt es sich um ein von Poel in der Druckversion des Vortrages nicht markiertes Zitat von John Addingon Symonds. Mazer schließt aus dieser Unterlassung: »[...][S]o well did it [the passage from Symonds] represent Poel's views that he represented it as his own [...]«. (Mazer, Shakespeare Refashioned, S. 56). Poel zitiert Symonds in Shakespeare in the Theatre, London 1913, S. 9; sowie in Some Notes on Shakespeare's Stage and Plays, Manchester 1916, S. 11. Mazer, Shakespeare Refashioned, S. 80f. 151

In den »falschen« Elisabethanern inszenieren die »authentisch-elisabethanischen« Aufführungen das ihnen angemessene Publikum - gezwungenermaßen - gleich mit. Die Absenz konventioneller Kulissen wird dabei durch die Präsenz der mock Elizabethans visuell kompensiert: Ein »Bild« der elisabethanischen Zuschauer ersetzt das Bühnenbild. Durch ihre Anwesenheit erklären die groundlings und gallants eine Abwesenheit, markieren die dargebotene Inszenierung als »authentisch«. Da Authentizität und Alterität in diesem Fall deckungsgleich sind, stellt die Präsenz der Ersatzelisabethaner eine Aufforderung an das Publikum dar, die gewohnten zeitgenössischen Bühnenkonventionen zugunsten der fremden, dafür aber historisch »echten«, in den Hintergrund treten zu lassen. Der von Poel angestrebte »höhere« Realismus der »elisabethanisierenden« Produktionen muss die ihm angemessenen Rezipienten selbst mitliefern. Da eine echte theatralische Kollusion offensichtlich scheitert - man könnte sogar davon sprechen, dass dieses Scheitern in Form der falschen Elisabethaner mitinszeniert wird - , beziehen seine Inszenierungen ihre Legitimation primär aus der immer wieder beschworenen Authentizität ihrer Bühnenpraxis. Diese kann als solche aber nur von einem Publikum gewürdigt werden, das aufgrund des eigenen Vorwissens diese Authentizität als solche erkennt und zu schätzen weiß, also einer (akademisch) gebildeten, intellektuellen Elite. Mazer ist deshalb uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er schreibt: »Elizabethanism, in its purest form, became a club of cognoscenti congratulating themselves on their historical insight; or it became, not a theatre form, but a picture of a theatre form, with the picture of an audience responding in ways the modern audience could not.« 44 Der elitäre Charakter dieser sich so explizit gegen den Spektakel-Shakespeare der Mittelschicht wendenden Inszenierungen entspringt keinesfalls einem Vakuum: Auch Lee, der sich so vehement gegen »moderne« (Mittelschicht-) groundlings wendet, fantasiert an anderer Stelle: »As the Ghost [in Hamlet] vanished and the air rang mysteriously with his piercing words »Remember me«, we would like to imagine the whole intelligence of Elizabethan England [meine Hervorhebung] responding to that cry as it sprang on its first utterance in the theatre from the great dramatist's own lips.« 45 Wenn Lee darüber hinaus noch »[a]bsorption in the material needs of life, the concentration of energy on the increase of worldly goods« 4 6 als Störfaktor bei der Ausbildung der imaginative faculty nennt, dann bleibt als angemessenes Publikum des »echten« Shakespeare nur der sehr kleine Teil des sozialen Spektrums, der derartig materiellem Streben enthoben ist (und dazu zählen die Mittelschichten ganz ausdrücklich nicht). In diesem Zusammenhang ist es durchaus bezeichnend, wenn bei »elisabethanisierenden« Inszenierungen verschiedene Untergruppen des (pseudo-) elisabethanischen Publikums zum Einsatz kommen: Die gallants auf der Bühne Poels sind die Renaissance-Version der cognoscenti, aus denen sich das intendierte zeitgenössische Publikum der Inszenierung zusammensetzt. Damit laden sie einerseits zur Identifikation ein - andererseits personifizieren sie aber auch die schon exotisch zu nennende Andersartigkeit der Renaissance und ihres Theaters. Eine sehr ähnliche Form der

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Mazer, Shakespeare Refashioned, S. 83f. Lee, Shakespeare and the Modern Stage, S. 28. Lee, Shakespeare and the Modern Stage, S. 48.

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Mehrdeutigkeit lassen die von O'Connor ausfuhrlich diskutierten groundlings der Shakespeare's England exhibition von 1912 erkennen. Das heute wohl als Tudor theme park zu bezeichnende Ensemble verfügte (unter anderem) über eine Rekonstruktion des Globe, in der halbstündige Auszüge aus verschiedenen RenaissanceDramen zur Aufführung kamen. Nach O'Connor richteten sich diese Mini-Dramen vorwiegend an ein als popular zu etikettierendes Publikum, das aus music hall und Variete derartige Auszüge aus den Werken Shakespeares kannte und schätzte. 47 Entsprechend der Zielgruppe der Darbietungen gab sich das »elisabethanische« Publikum des Earl's Court-Globe deutlich weniger gesetzt als die Edelmänner Poels. Die Pall Mall Gazette schrieb: In the unroofed pit of the Globe Theatre, 'prentices in quaint flat 'prentice caps and varicoloured fustian suits settle themselves on three-legged stools, or lounge on the ground smoking old white pipes, which somewhat resemble modern cigarette holders. They [...] while away the waiting time by playing leap-frog, etc., and listening to the thin sweet strains of the viola da gamba, the viola d'amore, the oboe, and the lute, etc. 48

In der Darstellung des elisabethanischen Publikums wird hier an die Vorstellung vom Merry England angeknüpft: Spielerische und sportliche Freizeitaktivität, Festefeiern und Frohsinn sind konstitutive Elemente dieses Autostereotyps. 49 In dieselbe Richtung weist auch die Berichterstattung der Times: »When the great bell struck six, the merry Elizabethan populace, morris-dancing, footballing, and singing, poured into the tilt-yard and made it their playground until the scarlet halberdiers came and drove them away.« 50 Vor dem Hintergrund der viktorianischen Vorstellung von den groundlings, die über weite Strecken eine äußerst negative ist, überrascht an der Inszenierung des »elisabethanischen« Publikums im Earl's Court von 1912 zunächst die starke Tendenz zum Pittoresken. Sie steht in der Tradition der positiven Sicht des elisabethanischen Publikums, wie sie insbesondere die Literaturgeschichten des ausgehenden 19. Jahrhunderts an den Tag legen. Die Parallele zu Merry England ist dabei kein Zufall, diente dieser doch insbesondere im 19. Jahrhundert, ähnlich wie die Literaturgeschichte, als »Kristallisationspunkt für einen konservativen, auf eine glorreiche Vergangenheit zurückblickenden, diese Vergangenheit aber als Ausdruck zeitlosen englischen Wesens auch in der Gegenwart erkennenden Patriotismus«. 51 Auch das tatsächliche Publikum im Globe von 1912 war aufgefordert, sich mit den replizierten Elisabethanern zu identifizieren: What was being offered for popular audience consumption in the replica Globe of 1912 was an enactment of something more than extended passages from Elizabethan and Jacobean dramatic texts. The visitor to the replica Globe received both a spectacular, »envi-

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Marion F. O'Connor: Theatre of the Empire: »Shakespeare's England« at Earl's Court, 1912. In: Marion F. O'Connor/ Jean E. Howard: Shakespeare Reproduced. The Text in History and Ideology. New York / London 1987, S. 68-98. Hier: S. 87. Pall Mall Gazette, 17. Mai 1912, S. 3 (zitiert nach O'Connor). Vgl. Günther Blaicher: Merry England. Zur Bedeutung und Funktion eines englischen Autostereotyps. Tübingen 2000, S. 20. The Times, 12. Juli 1912, S. 8 (zitiert nach O'Connor). Blaicher, Merry England, S. 78.

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ronmental« entertainment such as earlier exhibitions had offered - and at the same time, a [sic] image of himself as virile, patriotic Englishman. 52

Die derart in Szene gesetzte Vergangenheit musste im London des frühen 20. Jahrhunderts allerdings mehr als nur fremd erscheinen: »The Earl's Court Elizabethans were exhibited as exotic beings from a mythically distant past.« 53 Die hier angesprochene Exotik ist eine gewissermaßen »innere«, diachrone: Das bestaunte Fremde ist nicht eine synchron existierende, aber räumlich entfernte Kultur oder Gesellschaft, sondern die eigene Vergangenheit. In den Worten Halperns: Die dargebotene Exotik ist »historically displaced and geographically internalized« 54 . Das Nebeneinander von Exotik und Identifikationsangebot ist ein spannungsreiches. Auf einem kulturell sicher weniger ambitionierten Niveau als bei Poel ergibt sich für Shakespeare's England von 1912 in der Inszenierung des »authentischen« Publikums dieselbe Problematik wie für die so viel intellektuellere Elizabethan Stage Society: Einerseits ist es gerade die wie auch immer geartete »Exotik« und Fremdartigkeit der Elisabethaner, die ihre In-Szene-Setzung überhaupt attraktiv macht, andererseits würde eine zu ausgeprägte Andersartigkeit Zuschauer und Darbietung in unerwünschter Weise voneinander entfremden. Es handelt sich dabei nicht nur um ein ästhetisches, sondern durchaus auch um ein kommerzielles Problem. Unterschiede im intellektuellen Anspruch ziehen dabei auch Unterschiede in der Art der jeweils präsentierten Authentizität nach sich: Während die Earl's Courtgroundlings von 1912 eher eine emotional »echte« Englishness vermitteln, verweisen Poels gallants auf eine wissenschaftlich-rational verifizierbare »Authentizität« der Bühnenpraxis. Verschiedenheiten bestehen auch bezüglich der von den mock Elizabethans jeweils gebotenen Identifikationsmöglichkeit. Poels Bühnenedelmänner stellen ein Angebot von Gleichen an Gleiche dar, d.h. ein Angebot der intellektuellen Elizabethan Stage Society an ihre elitäre Klientel. Das den Besuchern der Shakespeare's England-Ausstellung angetragene, elisabethanisch verbrämte Autostereotyp war im engeren Sinne keine Selbstinszenierung - als Architekt gehörte der Organisator der Ausstellung, Edwin Lutyens, zur gehobenen Mittelschicht. Diese sah ihr elisabethanisches Pendant sicherlich nicht gerade bockspringend. Poel etwa zeigte sich indigniert: [...] [Exception might be taken to the movement of the costumed figures who are supposed to impersonate the »groundlings«. [...] Apparently it is forgotten that between 1590 and 1610 the finest dramatic literature which the world perhaps ever has known was being written in London, a coincidence which is inconceivable were the staging so crude and unintelligent as that which is shown us at Earl's Court. Everything there appears to have been done on the assumption that 300 years ago there was less amount of brain power existing among dramatists, actors, and audience than there is found among them today, while the reverse argument is nearer to the truth, for a Shakespearian performance at the Globe on Bankside was then a far more stimulating and intellectual achievement than it is on the modern stage today.55

52 53 54 55

O'Connor, Theatre of the Empire, S. 87. O'Connor, Theatre of the Empire, S. 90. Halpern, Shakespeare Among the Modems, S. 27. Poel, Shakespeare in the Theater, S. 208f.

154

Deutlich zeigt sich, dass für Poel die Frage der Bühnenkonventionen auch eine Frage des intellektuellen Anspruchs ist. Dabei präsentiert sich der Sachverhalt für ihn, wie im übrigen auch für Lee, umgekehrt wie für Byrne, Schücking und andere: Während diesen die »Nacktheit« der elisabethanischen Bühne im Vergleich zur zeitgenössischen als Beleg für die Naivität und Kindlichkeit des elisabethanischen Publikums gilt, weist genau derselbe Umstand für Poel auf ein höheres geistiges Niveau hin. Nicht außer Acht gelassen werden darf dabei jedoch die zeitliche Abfolge dieser Positionen. Byrne schreibt zu einem Zeitpunkt, zu dem Poels Innovationen bereits erheblichen Einfluss nicht nur auf Rezeption Shakespeares auf der englischen Bühne ausgeübt hatten: Die Arbeit der Elizabethan Stage Society trug nicht unwesentlich dazu bei, dass Shakespeare das 20. Jahrhundert als Kulturgut einer intellektuellen Elite erreichte56, und das auch außerhalb des Theaters. Diese Aneignung ist aber wiederum eine Voraussetzung dafür, dass »naive«, »kindliche« Elemente der Shakespeareschen Dramen mit Hilfe eines ebensolchen Publikums erklärt werden müssen. Das Konzept des Kindlichen erweist sich dabei als besonders geeignet, um den Konflikt zwischen einem als »primitiv« etikettierten Drama und der Selbstdefinition einer Elite zu vermitteln, die sich nicht zuletzt auf eine (überlegene) Handhabung der »primitiven« Andersartigkeit dieses Dramas stützt. Die Gestalt des Kindes markiert einerseits die Grenze zwischen Eigenem und Fremden, andererseits entschärft sie aufgrund ihres besonderen Status die Gefahr eines Zusammenbruchs identitätskonstituierender Unterschiede, wie sie eine derartige Liminalposition in sich birgt.57

6.3 Telling

stories

Die Funktion des als kindlich und naiv konstruierten elisabethanischen Publikums beschränkt sich keineswegs auf die Erklärung der visuellen Konventionen der elisabethanischen Bühne. Immer wieder werden die Theaterbesucher der Renaissance auch herangezogen, um die Eigenheiten der Shakespeareschen plots verständlich zu machen. Byrne beispielsweise stellt den folgenden Zusammenhang zwischen »kindlichem« Publikum und »unrealistischer« zeitlicher Struktur her: In practice time was expansive or contractile as they pleased on the Elizabethan stage. Again, like children, the audience did not imagine such a thing as a time lapse: having embarked upon pretence it was prepared to pretend right through: time simply did not exist. [...] Given a really imaginative audience, that realized as he did himself the suggestive value of place and time, I do not think Shakespeare would have allowed himself to treat time in the cavalier fashion that he does, for example, in Othello and Richard //.5δ

56 57

58

Shepherd / Womack, English Drama, S. 118. »The child is the image which normalizes [a] threatening identification with the Other because its ambivalent and >naturally< subordinate status [...] is [...] that which continually mediates the tension between identity and difference: the child is both pre-formed self and repudiated Other.« (Ashcroft, Primitive and Wingless«, S. 191.) Byme, Shakespeare's Audience, S. 204.

155

Die schon im Zusammenhang mit der Fremdheit der elisabethanischen Bühnenkonventionen angeführte negative Form der Einbildungskraft erweist sich auch als Schlüssel zu den strukturellen »Unzulänglichkeiten« des plot. Das abstrakte Kunstideal des »Barden« selbst ist dabei - schon beinahe selbstverständlich - weitgehend deckungsgleich mit dem Byrnes, muss aber hinter die Anforderungen eines kommerzialisierten Theaters und seines kindlich-naiven Publikums zurücktreten - auch bezüglich der zeitlichen Struktur: That Shakespeare was fully aware of the dramatic value of time there is no manner of doubt: that he was even more aware of the dramatic value of speed is perhaps even more certain. Hence, I believe that, knowing the nature of his audience he was prepared to sacrifice the first to the second. 59

Nun ist gegen speed an sich auch aus der Perspektive eines an die Konventionen der Shakespeare-Inszenierungen des 19. Jahrhunderts gewöhnten Rezipienten zunächst einmal nichts einzuwenden. Ein Problem ergibt sich erst dann, wenn eine Straffung des Handlung zu offensichtlichen Brüchen im plot führt, und damit zu einer potentiellen Störung der Illusion für die durch das klar strukturierte well-made play »verwöhnten« Zuschauer. Beispielhaft lässt sich dies an den bis heute vieldiskutierten widersprüchlichen Zeitangaben in Othello darlegen, die Bridges schon 1907 in Zusammenhang mit dem elisabethanischen Publikum stellt.60 Bridges' Annahme eines wesentlich durch seine Sensationswut charakterisierten elisabethanischen Publikums teilt auch Byrne, allerdings ist diese Eigenschaft für sie nur Begleiterscheinung der zum entscheidenden Kennzeichen dieses Publikums erhobenen Naivität und Kindlichkeit. Diese dient nun ihrerseits wiederum zur Erklärung eines Phänomens, das durch die gesamte Geschichte der Shakespearekritik hindurch zu langen Debatten geführt hat: Der aus der Perspektive des psychologischen Realismus heraus diagnostizierten »Unmotiviertheit« der Eifersucht Othellos, der den Aussagen des Iago eher glaubt als denen

59 60

Byrne, Shakespeare's Audience, S. 204. »[...] [H]ow easy it would have been to have provided a more reasonable ground for Othello's jealousy. If in the break of the second act his vessel had been delayed a week by the storm, those days of anxiety and officious consolation would have given the needed opportunity, and the time-contradictions might also have been avoided. The tragedy of OTHELLO is intolerably painful; and that not merely because we see Othello being grossly deceived, but because we are ourselves constrained to submit to palpable deception. The whole thing is impossible: it is just as M r Bradley [Shakespearean Tragedy, S. 423ff.] points out: Iago's calumnies postulate certain events; but if the time indispensable for those events had been allowed, then his incredible lies must have been exposed. [...] Exasperation is the word that I should choose to express the state of feeling which the reading of the OTHELLO induces in me: and seeing how cleverly everything is calculated to this effect, I conclude that it was Shakespeare's intention, and that what so hurts me was only a pleasurable excitement to his audience, whose gratification was relied on to lull their criticism.« (Bridges, Influence, S. 24.) Generell stellt Bridges bezüglich der Zeitstruktur der Dramen fest: »As to the confusion of time in the plays, my limits forbid consideration of the liberties which Shakespeare takes with time, especially as these involve a question of stage construction. Since they must be of the nature of contradictions used for dramatic effect, they can be generally alleged in favour of my main contention.« (S. 25)

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der eigenen Frau - und das obwohl diese innerhalb des gesetzten zeitlichen Rahmens noch nicht einmal theoretisch die Möglichkeit zum Ehebruch gehabt hätte. Ähnlich wie Bridges geht auch Byrne zunächst davon aus, dass die krisenhafte Zuspitzung der Handlung die Details des zeitlichen Ablaufs in den Hintergrund drängt: »Theatrically the emotion aroused was and generally is strong enough to carry us over any such discrepancy. If it can carry over the modern audience with its heightened regard for verisimilitude, naturally it could carry the Elizabethan theatre with it.«61 Die Bühne allein reicht jedoch zur Rehabilitation Shakespeares nicht aus. »Dramatisch« gesehen ist die Widersprüchlichkeit der Zeitangaben in Othello zwar vielleicht nebensächlich, »künstlerisch« jedoch stellt sie einen eindeutigen Fehltritt dar: »[...] [A]rtistically this treatment of time cuts across the integrity of the play, by interfering with our conception of Othello's character.« 62 Da Byrne einige Seiten vorher eben jene kompromittierte künstlerische Integrität zum Ausgangspunkt für Rückschlüsse auf den Einfluss und die Eigenart des Shakespearepublikums erklärt hat 63 , steht Othellos »unerklärliche« Eifersucht der Auffassung eines auch nach psychologisch »realistischen« Maßstäben künstlerisch unantastbaren Shakespeare nicht mehr im Wege: »[The treatment of time] is [...] one of the few cases in which I am prepared to allow that Shakespeare may quite deliberately have traded upon the childish imaginations of his audiences, and have allowed himself to be influenced thereby.« 64 Die Zirkularität der Argumentation mit dem Geschmack der Theaterbesucher der Renaissance zeigt sich hier auf das Deutlichste: Deren Verlangen nach speed drängt andere, aus der Perspektive der Nachwelt künstlerisch gewichtigere Aspekte in den Hintergrund. Komplizierte Lösungsversuche wie etwa die Annahme eines »doppelten« Zeitschemas sind unnötig; das Problem lässt sich aus dem elisabethanischen Theaterkontext - nach Byrne - viel einfacher erklären: [...] [S]peed is essential in a good story, and speed is one of the demands that a popular [!] audience makes, and speed is effective dramatically: hence it is possible to understand, I think, how, given the Elizabethan audience, it would be possible for Shakespeare the artist to decide deliberately to exploit that audience's lack of appreciation of a lesser merit in favour of a greater. It is not a question of a lack of dramatic skill, but of acquiescence in the attitude of make-believe. The audience, as yet, had no desire to make dramatic conditions approximate to those of real life, because its eyes were not yet opened to the imaginative value of either place or time. 65

Neben seiner Bedeutung für einen als »realistisch« empfundenen, visuell evozierbaren Handlungshintergrund ist das Fehlen eines kontinuierlichen Raum-Zeit-Gefüges auch für einen »Mangel« des Shakespeareschen Dramas entscheidend, der ebenfalls häufig mit einem naiv-unbedarften Publikum in Verbindung gebracht wird: Brüche in der Charakterdarstellung. Gerade ein kindliches Publikum zieht aber nicht nur nach Meinung Byrnes eine packende Geschichte, wie unrealistisch sie auch sei, der differenzierten Charakterzeichnung vor:

61 62 63 64 65

Byrne, Byrne, Byrne, Byrne, Byrne,

Shakespeare's Shakespeare's Shakespeare's Shakespeare's Shakespeare's

Audience, Audience, Audience, Audience, Audience,

S. S. S. S. S.

205. 205. 198. 205. 206.

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[The Elizabethan theatre-goer] came, as a child comes, saying practically, »Tell me a story«, and he cared not at all, provided the story was interestingly told, if he had heard another tell it before. It is doubtful if, even when trained by the best work of Shakespeare himself, Elizabethan playgoers rose as a group to the interest of our audiences in characterization.66 Das als widersprüchlich wahrgenommene Verhältnis von Handlungsführung und Charakterzeichnung bei Shakespeare beschäftigt die Kritik immer wieder. Schon Brandes bemängelt: The opening scenes [in Lear] are of course incredible. It is only in fairy-tales that a king divides the provinces of his kingdom among his daughters, on the principle that she gets the largest share who assures him that she loves him most; and only a childish audience could find it conceivable that old Gloucester should instantly believe the most improbable calumnies against a son whose fine character he knew.67 Noch 1933 fällt das Urteil über die psychologische Glaubwürdigkeit der Bühnenpersonen teilweise sehr ungnädig aus: [...] Shakespeare's carelessness shows itself, not only in the inconsistency of his characters with the plots in which they figure - there are inconsistencies, and plenty of them, to be observed in the characters themselves. Thus, for instance, his villains, like Iago and Edmund, confess their villainy with the utmost frankness, and (what no villains would ever do) they pay the most generous tributes to the noble qualities of their victims. His virtuous characters are equally frank about their own virtues, boasting of them, like Cordelia, with a complacency that is completely out of character [...]. Our romantic critics have woven tangles of elaborate theory to justify these inconsistencies; but more recent commentators have shown that they are trying to explain what stands in no need of explanation. For, as they point out, Shakespeare's art-form retained many of the primitive elements of archaic drama; and to fix clearly in the minds of the audience the parts his personages were meant to play, he made them define at once their virtues or their vices in speeches which are not pieces of psychological realism, but resemble these scrolls which in primitive pictures proceed out of the mouths of the figures and proclaim »I am«, etc.68 Obwohl Smith durchaus Vertrautheit mit neuen Ansätzen zur geschichtlichen Einordnung und Würdigung der Shakespeareschen Bühne erkennen lässt (»recent commentators have shown that [our romantic critics] are trying to explain what stands in no need of explanation« spielt auf Stoll und andere »Neo-Elisabethaner« an), ist dieses ältere Theater für ihn deutlich nicht so sehr Gegenstand einer sich objektiv gebenden historischen Forschung, sondern immer noch Objekt der Bewertung, der Shakespearekritik im älteren Sinne. Dies zeigt sich nicht nur an der Shakespeare unterstellten »carelessness«, sondern noch viel deutlicher in der Darstellung des Verhältnisses des Dramatikers zum Theater im Allgemeinen und zu seinen Zuschauern im Speziellen: Froude once described oratory as the harlot of the arts; and it often seems as if Shakespeare regarded drama as equally deserving of this appellation. With what contempt he treats his plots; any hackneyed theatrical device or stage trick he considers good enough for his audience, he repeats them over and over again without scruple; and the plays of the last period

66 67 68

Baker, Development of Shakespeare, S. 13. Brandes, William Shakespeare, S. 456. Logan Pearsall Smith: On Reading Shakespeare. London 1933, S. 85f.

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are so absurd in plots and action that he seems to be floating his audience with a kind of cynical contempt. 69

Dieser Einschätzung liegt einmal mehr die Annahme eines weitgehenden Auseinanderfallens der Anforderungen des Publikums und der Interessen des Autors zugrunde. Ihrerseits beruht diese wiederum auf einem als im Grunde unauflösbar wahrgenommenen Gegensatz zwischen »billigen Tricks« in der Handlungsführung einerseits und Tiefenschärfe der Charakterzeichnung andererseits. Shakespeares eigener Anspruch an seine Dramen deckt sich dabei auch nach Ansicht Bakers nicht mit den Erwartungen derjenigen, die die Stücke zu Lebzeiten des »Barden« zu sehen bekommen, sondern mit den Maßstäben, die das beginnende 20. Jahrhundert anlegt: »[...] Had Shakespeare written for the more critical of our public today he would have had a much easier task than the Elizabethans allowed him in working out the characterization which primarily interested him.« 70 Die Dissoziation Shakespeares von den historischen Bedingungen seines Schaffens, wie sie auch Baker hier vornimmt, ist eine der elementaren Operationen der apologetischen Argumentation mit dem elisabethanischen Publikum. Allerdings ergibt sich aus der angenommenen Einsicht Shakespeares in die Inferiorität bestimmter Elemente seiner Dramen auch hier notwendig die Konsequenz einer durchaus bewussten Kompromittierung seiner künstlerischen Ideale. Diese Vorstellung hatte schon Coleridge emphatisch abgelehnt. Angesichts Bridges' Annahme, dass Shakespeare bewusst für »the foolish, the filthy, and the brutal« geschrieben habe, verkündet auch J. Dover Wilson: »Now if this be a true account of the author of the plays, then I for one am frankly a Baconian.« 71 The anti-Stratfordian option, die »Aufspaltung« Shakespeares in einen »wahren« Autor und einen bloßen »Namensgeber" ist nicht zuletzt auch eine Möglichkeit, mit solcherlei Schwierigkeiten umzugehen (wobei die Lösung eine Scheinlösung ist, denn wer wollte Bacon letztendlich derart kompromittieren?). Eine andere besteht darin, eine »Spaltung« im (mit dem Namensgeber identischen) Autor selbst anzunehmen. Diese von Ben Jonson begründete Tradition (»of an age« - »for all time«) präsentiert Granville-Barker in einer besonders prägnanten Variante: [...] [TJhere were two sides to Shakespeare the playwright, as there are to most artists, and to most men brought into relations with the public and its appetite (which flatterers call its taste). There was the complaisant side and the daemonic side. His audience demanded exciting stories. He was no great hand at inventing a story, but he borrowed the best. They asked for heroic verse. He could do this with any one, and he did. [...] Euphuism had its vogue still. He could play upon that pipe too very prettily; and Love's Labour's Lost is as much homage as satire. But from the very beginning, signs of the daemonic Shakespeare can be seen, the genius bent on having his own way; of the Shakespeare to whom the idea is more than the thing, who cares much for character and little for plot, who cannot indeed touch the stagiest figure of fun without treating it as a human being and giving it life,

69 70 71

Smith, On Reading Shakespeare, S. 82. Baker, Development of Shakespeare, S. 280. Wilson, Elizabethan Shakespeare, S. 20.

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whether it suits Shakespeare the popular play-provider to do so or not. And sometimes it doesn't. Life in the theatre will play the devil with artifice.72

Trotz äußerer Konformität - der »Dramenlieferant« ringt dem Genie etwa das Ende der Shrew und den letzten Akt der Two Gentlemen of Verona ab 73 - siegt Shakespeares dämonische Seite mit Hamlet schließlich über die kompromissbereite, gefügige Seite seines Ichs. Die »Widersprüchlichkeit« in den Dramen wird auf die Person Shakespeares projiziert, dessen »besseres Ich« - erstaunlicherweise gleichzeitig auch seine »dämonische« Seite - für die ästhetisch und intellektuell anspruchsvollere Nachwelt schreibt, nicht für seine unverständigen Zeitgenossen.

6.4 Asking questions Wenn die zeitgenössische englische Theaterlandschaft einen wesentlichen Bezugspunkt für die Vorstellung eines »naiven« elisabethanischen Publikums darstellt, dann betrifft dies nicht nur die Konventionen des Bühnenbildes, sondern auch die zur Darstellung gebrachten Stoffe. Gerade was die Inhalte angeht, werden immer wieder Parallelen zwischen den (vermeintlichen) Vorlieben der »kindlichen« Elisabethaner und der populären Bühnenunterhaltung der eigenen Gegenwart gezogen: To judge from the whole mass of the dramatic fare submitted to it, the exciting stories, the medley of incidents, the abundance of displays of physical skill, the general atmosphere of alarums and excursions, the [Elizabethan] audience went to the theatre primarily to please and amuse itself. If a modern parallel is illuminating the audience was, psychologically speaking, an amalgam of the Bulldog Drummond and the musical comedy or the variety audiences of to-day. It received its pleasure from a good story; from having its emotions thoroughly aroused; from having its senses appealed to by music, dancing, noise and spectacle; from being deliciously thrilled by exciting events and crises; and finally from observing - as the Bulldog Drummond audience does to-day - the spectacle of behaviour on the part of the characters which would arouse in it not any »obstinate questionings« but continuous and sympathetic moral assent.74

Wie bereits bei Bradley und Bridges steht die Konstruktion eines elisabethanischen Publikums, das die Erklärung der »minderwertigen« Elemente im ansonsten »hochwertigen« Shakespeareschen Drama ermöglicht, in engem Zusammenhang mit dem Versuch, Shakespeare für das »ernsthafte« Theater in Anspruch zu nehmen und gegen »Anspruchslosigkeit« und »Oberflächlichkeit« anderer Formen der Bühnendarbietung abzugrenzen. Die Position, die Byrne Shakespeare vermittels des als kindlich und naiv konstruierten historischen Publikums innerhalb des Theaterkontexts ihrer eigenen Gegenwart zuweist, ergibt sich anders als für Bradley und

72

73 74

Harley Granville-Barker: From Henry V. to Hamlet (Revised edition of the British Academy Annual Shakespeare Lecture on May 13, 1925). In: Ders.: Prefaces to Shakespeare. Vol. VI, London 1974, S. 135-167. Hier: S. 138f. Granville-Barker, Henry V. to Hamlet, S.141. Byrne, Shakespeare's Audience, S. 206f. Hugh »Bulldog« Drummond, ehemaliger Infanterieoffizier, ist der Titelheld einer Reihe populärer, literarisch allerdings wenig anspruchsvoller Kriminalromane, die in der Zwischenkriegszeit erschienen und sowohl für die Bühne bearbeitet als auch verfilmt wurden.

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Bridges jedoch nicht mehr primär aus der Kontrastierung mit dem Melodrama. Wenn Byrne schreibt, »[The Elizabethan audience was] a popular mixed audience that went to the theatre for entertainment and not for education or tragic kathartic experience or indeed anything save pleasure in the simplest meaning of the word«75, dann erinnert diese Charakterisierung daran, wie, die Theaterreformer der Jahrhundertwende das zeitgenössische Publikum auch der »besseren« Theater sahen. Schon 1882 formuliert William Archer: »Pleasure, and that of the least elevating sort, is all the public expects or will accept at even our best theatres. [...] The British public wants sedatives and not stimulants in a theatre, and it is the essence of great and serious modern drama to be stimulant and not sedative.«76 Archers (wertende) Kontrastierung von »stimulants« und »sedatives« bildet den Hintergrund, vor dem Byrnes (ebenso wertende) Gegenüberstellung von »obstinate questionings« und »continuous and sympathetic moral assent« zu lesen ist. Beide Autoren beschreiben dasselbe Problem: Es werden intrinsisch wertvolle Stücke produziert, die nicht auf die ihnen entsprechenden Rezipienten treffen, da Intention des Dramatikers und Erwartung des Publikums auseinander klaffen. Bernard Shaw beschreibt die Situation folgendermaßen: Now an interesting play cannot in the nature of things mean anything but a play in which problems of conduct or character of personal importance to the audience are raised and suggestively discussed. People have a thrifty sense of taking away something from such plays: they not only have had something for their money, but they retain something as a permanent possession. Consequently none of the commonplaces of the box office hold good of such plays. In vain does the experienced acting manager declare that people want to be amused and not preached at in the theatre; that they will not stand long speeches; [...] that there must be no politics and no religion in it; that breach of these golden rules will drive people to the variety theatres; [...] and so on and so forth. All these counsels are valid for plays in which there is nothing to discuss. They may be disregarded by the playwright who is a moralist and a debater as well as a dramatist. From him, within the inevitable limits set by the clock and the human frame, people will stand anything as soon as they are matured enough and cultivated enough to be susceptible to the appeal of his particular form of art.

Doch selbst wenn für den Dramatiker neuen Typs die alten Regeln nicht mehr gelten, steht er doch vor der Schwierigkeit, dass sich die Öffentlichkeit sehr wohl noch nach diesen Regeln verhält: The difficulty at present is that mature and cultivated people do not go to the theatre, just as they do not read penny novelets; and when an attempt is made to cater for them they do not respond to it in time, partly because they have not the habit of playgoing, and partly because it takes too long for them to find out that the new theatre is not like all the other theatres. But when they do at last find their way there, the attraction is not the firing of blank cartridges by actors, nor the pretence of falling down dead that ends the stage combat, nor the simulation of erotic thrills by a pair of stage lovers, nor any of the other tomfooleries

75 76

Byrne, Shakespeare's Audience, S. 208. William Archer: English Dramatists of To-Day. London 1882, S. 9, S. 11.

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called action, but the exhibition and discussion of the character and conduct of stage figures who are made to appear real by the art of the playwright and the performer.77 Shaws Beschreibung des Zielpublikums des neuen Dramas als »mature« und »cultivated« gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass die Kindlichkeit, Naivität und Primitivität der elisabethanischen Theaterbesucher, die Brandes, Schücking, Byrne und andere für die von ihnen als kritikwürdig empfundenen Elemente des Shakespeareschen Dramas verantwortlich machen, auch in engem Zusammenhang mit den »inhaltlichen« Neuerungen im englischen Theater der Jahrhundertwende zu sehen sind, insbesondere mit der Selbstverortung eines Reformers wie Shaw innerhalb der literarisch-dramatischen Öffentlichkeit. Die geistige Reife und Kultiviertheit des von Shaw anvisierten Publikums steht nicht nur im Kontrast zu der intellektuellen Anspruchslosigkeit, die er den tatsächlichen zeitgenössischen Theaterbesuchern diagnostiziert, sondern erweist sich im darüber hinaus als die Kontrastfolie, vor deren Hintergrund der Negativentwurf eines kindisch-naiven Renaissancepublikums erst wirklich verständlich wird. Byrnes »exciting stories, medley of incidents, abundance of displays of physical skill, general atmosphere of alarums and excursions, [...] music, dancing, noise and spectacle«, die Hauptattraktionen für das kindliche Gemüt der Elisabethaner, entsprechen dem »firing of blank cartridges by actors, pretence of falling down dead that ends the stage combat, simulation of erotic thrills by a pair of stage lovers«, den »tomfooleries«, die Shaw zur bevorzugten Kost seiner Zeitgenossen erklärt. In dieselbe Richtung tendiert auch Schücking, wenn er in Bezugnahme auf Brandes 7 8 , der Troilus and Cressida als Parodie deutet, anmerkt: Aber spielte denn Shakespeares Truppe vor einem Publikum von Gymnasialabiturienten? Welch ein Gedanke, dass Shakespeare die Zuschauer im Globetheater für eine kritische Auseinandersetzung mit der (angeblich!) herkömmlichen Auffassung von dem ethischen Wert der Heroen des klassischen Altertums hätte in Anspruch nehmen wollen oder können! Es ist ganz deutlich zu erkennen, dass, ehe man nicht einen derart anachronistischen Gesichtspunkt als ganz unhaltbar verlassen hat, an eine geschichtlich richtige Erklärung der Shakespeareschen Kunst nicht zu denken ist. So wenig wie Shakespeares Publikum etwa stillschweigend mit dem Ibsenschen gleichzusetzen ist, kann sein Drama wie das Ibsensche gelesen und erklärt werden.79 Dass hier ausgerechnet Ibsen und sein Publikum als Kontrastfolie bemüht werden, spricht eine eindeutige Sprache. Die »Primitivität« des Shakespeareschen Dramas, die nicht nur für Schücking in engem Zusammenhang mit dessen »Volkstümlichkeit« steht, ist zwar nur eine partielle - eine »unsagbare [...] Feinheit der Seelenschilderung« steht neben den »ganz altväterliche[n] Hülfsmittel[n] und Krücken« der Handlungsführung 8 0 - , wird durch das moderne Drama aber vollständig überwunden. Diese Entwicklung stellt Schücking durchaus wertend dar: Die dramatische Kunst eines Ibsen steht eine bis mehrere Stufen über der Shakespeares. Wie Shaw es ausdrückt: »[...] Shakespear [sic] survives by what he has in common

77

78 79 80

Bernard Shaw: The Quintessence of Ibsenism [1913]. In: Ders.: Major Critical Essays. 3. Ausgabe London 1922, S. 3-150. Hier: S. 137f. Brandes, William Shakespeare, S. 502ff. Schücking, Charakterprobleme, S.22. Schücking, Charakterprobleme, S.22.

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ausdrückt: »[...] Shakespear [sic] survives by what he has in common with Ibsen, and not by what he has in common with Webster and the rest.«81 Diese Einschätzung führt bei Shaw zu einer ausgesprochen ikonoklastischen Haltung gegenüber Shakespeare, der jedoch keine so große Akzeptanz beschieden ist wie seinen Ansichten zu Form und vor allem Inhalt des Dramas im Allgemeinen. Das New Drama und seine theoretischen Grundlagen führen zwar auch gegenüber dem Shakespearekanon zu einer veränderten Erwartungshaltung; wo dieser den neuen Anforderungen nicht entspricht, wird aber meist lieber mit der Naivität des elisabethanischen Publikums argumentiert als mit eventuellen Unzulänglichkeiten des »Nationalbarden« selbst. Beinahe verwundert klingt es, wenn Byrne bezüglich der Theaterbesucher der englischen Renaissance zu dem Schluss kommt: They were apparently not in the least interested in thinking things out with the aid of a play, as one section of the modem audience is. Neither audience nor playwrights were in the least social, reformative or propagandist: they could no more have endured to listen to Getting Married than Bernard Shaw could bring himself to write a Spanish Tragedy. The age was not destitute of speculation, but social ethics had simply not occurred to them as a subject hereof, still less as a subject for stage-plays. The play of Hamlet is not Shakespeare's speculation as to whether the accepted social convention of murdering your uncle when he has murdered your father is ethically defensible for a thinking man. It is Shakespeare's presentation of a fine spirit caught up in a coil of circumstances. To say that the situation was already out of date when Shakespeare used it would be quite unsound: family feuds are never out of date. Even now, as then, it is the situation and its attendant emotions that rivet our attention: the play does not set many of its auditors debating upon the ethics of a revenge for a father. It is almost impossible, however, for even the most purely academic mind to-day to contemplate Strife or Loyalties or The Rumour, or even The Admirable Crichton or St. Joan without being driven to fierce speculation upon the social fabric, until an ethical interest comes almost to outweigh our appreciation of their dramatic values. 82

Auch wenn Byrnes Interpretation des Hamlet die Problematik des Stückes etwas verkürzt darstellt - eine der (zahlreichen) Schwierigkeiten, die sich Hamlet stellen, ist sicher die, dass der Gedanke der Rache so problematisch geworden ist - so wird doch deutlich, wie sehr die Thesen Shaws und anderer sozialkritischer Dramatiker des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts das Zustandekommen der Vorstellung vom »naiven« elisabethanischen Publikum beeinflussen. Shaw hatte das »neue« Drama als »exhibition and discussion of character and conduct« beschrieben, und dies in nachdrücklicher Abwendung vom Primat der Handlungsfuhrung (»the [...] tomfooleries called action«), wie ihn seine Vorgänger noch vertreten hatten. Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, dass Byrne Hamlet, ausgerechnet das Stück, das Granville-Barker zum Schauplatz des endgültigen Sieges des dämonischen Genies Shakespeare über den »Dramenlieferanten« erklärt hatte, hier eher als »Drama der Tat« denn als philosophisches Drama darstellt: Würde sie das nicht tun, könnte das Stück nicht zur Untermauerung der These herangezogen werden, dass das Interesse des primitiven Publikums der Shakespearezeit sich allein auf Unterhaltung gerichtet habe, und dass wie bei Kindern dazu nur eines vonnöten gewesen sei:

81 82

Shaw, Quintessence of Ibsenism, S. 142. Byrne, Shakespeare's Audience, S. 207.

163

a good

story.

D i e s e s Verlangen nach einer Geschichte ist für Byrne primär eine

F o r m des Eskapismus, den sie den Theaterbesuchern der Renaissance e b e n s o unterstellt w i e d e m Großteil des z e i t g e n ö s s i s c h e n Publikums: A story casts over an audience the glamour of »once upon a time«: it allows it to leave its social conscience at home. It constitutes an insulating agent: it removes us from reality just sufficiently for our participation in the emotions aroused to be pleasurable and not painful. It is, as it were, a guarantee of the author's good faith: we are reassured that it is not ourselves but perhaps our neighbours, with their frailties, that we are about to overlook. [...] The ordinary mixed modem audience did not take to Bernard Shaw until he gave it St. Joan: it wants - and gets - a story, old, borrowed, patched: and it is very apt to leave the theatre when the epilogue begins. 83 A u s der Forderung nach einer guten Geschichte, s o Byrne, ergeben sich alle anderen Ansprüche, denen Shakespeare sich zu b e u g e n hatte: »To state that the first demand made by a popular audience is the demand for a story is practically to summarize under o n e heading all its demands.« 8 4 D i e Plot-Fixiertheit der frühneuzeitlichen Theaterbesucher bewirkt dabei vor allem eines: die V e r m i s c h u n g v o n »Realismus« mit dem, w a s Byrne als »romantic elements« bezeichnet, also weniger realistische Ereignisse und Verhaltensweisen. W e n n die Zuschauer sich einmal auf die Welt des make-believe

eingelassen haben, ist ein p r o b l e m l o s e s Hin- und H e r w e c h s e l n z w i -

schen »realistischen« und »unrealistischen« E b e n e n der Fiktion möglich. In d i e s e m Z u s a m m e n h a n g gerät eine Untergruppe des Shakespeareschen Werkes besonders unter Beschuss: die romantic potboilers85

comedies.

A n g e s i c h t s der von S h a w als

etikettierten K o m ö d i e n As You Like It, Much Ado

und Twelfth

Night

indigniert sich etwa Granville-Barker: As usual, [Shakespeare] borrows his stories, but his treatment of them is now really outrageous. In As You Like It it is a mere excuse for him to amuse himself and us in the Forest of Arden; and, when he must wind it up somehow, he does so with a perfunctoriness which makes the part of Jaques de Bois, introduced to that end, one of the laughing-stocks of the theatre. In Much Ado he lets it turn to ridicule; the end of the Claudio-Hero theme is cynically silly. In Twelfth Night he is a little more conscientious. Malvolio and his tormentors carry it away to the utter despite of Orsino and his high romance; but Viola holds her own. The value of Much Ado lies in the characters of Benedick and Beatrice and Dogberry, which are Shakespeare's arbitrary addition to the story. And in As You Like It, if Orlando and Rosalind are the story's protagonists (which Jaques and Touchstone certainly are not) yet the story itself may stand still while he develops them; and thankful we are that it should. We need not insist upon the peculiarity of the three titles, though one is tempted to. As you Like it [sic], Much Ado About Nothing, What You Will·. As if they and the things they ostensibly stood for were bones thrown to the dogs of the audience, that wanted their plot and their ear-tickling jokes. 8 6 V e r w i c k e l t e Liebeshandlung und Wortwitz erscheinen vor d e m Hintergrund der sozialkritischen Problemstücke Ibsens, S h a w s oder Galsworthys als eskapistische

83 84 85

86

Byrne, Shakespeare's Audience, S. 208f. Byrne, Shakespeare's Audience, S. 210. Bernard Shaw: Shaw on Shakespeare. An Anthology of Bernard Shaw's Writings on the Plays and Production of Shakespeare. Edited and with an Introduction by Edwin Wilson. London 1962, S. 75. Granville-Barker, Henry V. to Hamlet, S. 146f.

164

Tändeleien. Auch die gerade von der viktorianischen Kritik so hochgelobten Frauengestalten der romantischen Komödien büßen für den hier dargestellten Strang der Shakespearerezeption einiges an Reiz ein: Rosalind beispielsweise bezeichnet Shaw als »fantastic sugar doll« 87 , die nicht das Format einer Isabella oder Helena erreiche. Kritikwürdig erscheint insbesondere auch die Heiratslotterie, im Zuge derer die Damen am Ende einen Ehemann zugeteilt bekommen, auch wenn das Resultat ein (vermeintlich) offensichtliches »mismatch« ist: Portia gerät an Bassanio, Viola an Orsino, Rosalind an Orlando. Dass solche »patched-up weddings« als befriedigender Abschluss eines Stückes gewertet werden können, ist dann einmal mehr nur mit der Mentalität des elisabethanischen Englands zu erklären: The Elizabethan mind, like the grocer's, was essentially practical. Society accepted the idea, which it inherited from the middle ages, that it was a woman's only business in life to get married as soon as possible. Until she was safely disposed of to a husband a woman was an anxiety and a nuisance to her friends and relatives. [...] It was not, therefore, I believe, due either to carelessness or to a false romanticism that these spirited women were married off so unequally or on such absurd bases. Shakespeare saw how his audience regarded matrimony: he saw what happened on all sides of him. 88

Dieser Abwertung der romantischen Komödien entspricht auf der anderen Seite eine Aufwertung der problem plays, die dem »dämonischen Genie« Shakespeare natürlich auch viel eher entsprechen als die Komödien mit ihren mehr oder minder harmlosen Liebeswirren in landschaftlich reizvoller Umgebung. Gerade das Problematische an den Problemstücken lässt sie im Gegensatz zu den »potboilers« Αί You Like It, Twelfth Night und Much Ado About Nothing als »real studies of life and character« erscheinen. 89 Eine angemessene Wertschätzung dieses Realitätsbezugs wird aber sowohl dem elisabethanischen als auch einem Großteil des zeitgenössischen Publikums abgesprochen: Set your scene in medieval France, or Dlyria, or ancient Rome, or Verona, or the Forest of Arden: call your characters Joan, the Dauphin, Duke Orsino, Julius Ca:sar, Romeo, the Banished Duke, and the story-element, the insulating agent, allows you full scope to criticise our common human nature and behaviour. Set your scene in seventeenth-century London and call your characters Master Stephen and Master Matthew: set it in twentieth century London, calling your characters, Mrs. Warren and Sartorius, and your mixed audience relegates your work to the category of Plays Unpleasant. They are too »near and familiarly allied to the time«: it is almost impossible for the mixed audience to escape their implications. [...] The Bulldog Drummond audience which demands of its writers what it terms »a rattling good yarn«, demands, as we may see for ourselves, the excision of such social problems as stir the genius of a Galsworthy. I have hazarded the deduction that the storyloving Elizabethan audience made the same demand [...]. 9 0

Die viktorianische Shakespearekritik charakterisiert denjenigen Teil des elisabethanischen Publikums, den sie für Shakespeares »Fehler und Mängel« verantwortlich macht, implizit und explizit als der Unterschicht zugehörig. Eine derart deutliche Festlegung fehlt bei Byrne; stattdessen wird das Publikum mehr oder minder vage

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Shaw, Shaw on Shakespeare, S. 2. Byrne, Shakespeare's Audience, S. 212ff. Shaw, Shaw on Shakespeare, S. 2. Byrne, Shakespeare's Audience, S. 209f.

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als »mixed« beschrieben. Trotz dieser zunächst wenig aussagekräftigen Beschreibung ist die Tatsache, dass es sich bei denjenigen, die bestimmte Stücke der Kategorie »unpleasant« zuweisen, um ein sozial heterogenes Publikum handelt, für Byrne offensichtlich erwähnenswert. Der Schluss, dass ein Zusammenhang zwischen einer mixed audience und der Aburteilung des sozialkritischen Problemstücks gesehen wird, liegt damit nahe. Weiter drängt sich dann aber auch die Vermutung auf, dass ein in seiner Zusammensetzung homogeneres Publikum die Dramen Shaws, Pineros, Galsworthys und anderer nicht einfach mit dem Begriff »unpleasant« etikettieren und dann möglichst schnell vergessen würde, sondern in ihrem intellektuellen Anspruch zu würdigen wüsste. In einem derartigen Publikum wäre dann aber auch der positive Gegenentwurf zu den kindlich-naiven Elisabethanem zu sehen. Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass die Reformer und Innovatoren des englischen Theaters der Jahrhundertwende eine konventionell negative Sicht der Theaterbesucher der Renaissance an den Tag legen. Obwohl beispielsweise Poel die Darstellung der Earl's Court-groundlings 1912 geradezu als Rufmord am Renaissance-Drama ablehnt, verwendet er dasselbe Publikumssegment an anderer Stelle in den althergebrachten apologetischen Zusammenhängen. Über Romeo and Juliet schreibt er: Romeo's banishment brings us to the middle and »busy« part of the play, where the Elizabethan actors were expected to thunder their loudest to split the ears of the groundlings; and Shakespeare, not yet sufficiently independent as a dramatist to dispense with the conventions of his stage, follows suit on the same fiddle to the same tune; and after all the ranting eloquence on the part of Romeo and Juliet, we are just where we were before with regard to any advance made with the story.91

Dass ausgerechnet Poel Shakespeare dafür tadelt, sich nicht genug von den Bühnenkonventionen seiner eigenen Zeit gelöst zu haben, ist eine der erstaunlicheren Ironien in der Geschichte der Shakespearerezeption. Archer, anders als Poel kein ausgewiesener Shakespeare-Spezialist, aber genau wie dieser ein entschiedener Befürworter einer Reform des zeitgenössischen Theaters, vertritt bezüglich des elisabethanischen Publikums eine sehr ähnliche Ansicht: [...] [TJhere cannot be the smallest doubt that the average Elizabethan audience was avid of »the violent delights of horror, and the nervous or sensational excitements of criminal detail«. It is futile to pretend that either the gallants and masked fair ones in the »rooms«, or the citizens and 'prentices in the »yard« did not love bloodshed and physical horror in action, reckless crudity, and even deliberate lewdness, in speech. No playwright of the period failed to minister to these tastes, for in Elizabeth's time, no less than in our own, the drama's laws the drama's patrons gave. The stage was not only the vehicle for the highest poetry and philosophy of the time; it was also its Punch and its Pick-Me-Up, its London Journal, its Police News and its Penny Dreadful. 92

Die Zuschauer im Globe sind für Archer hinsichtlich ihres Geschmacks den Lesern der abschließend genannten Publikationen offensichtlich äußerst ähnlich. Dass Archer weder von den Penny Dreadfuls oder Punch noch von deren Klientel eine

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Poel, Shakespeare in the Theatre, S. 146. William Archer: Webster, Lamb and Swinburne. In: New Review Vol. 8, No. 44 (1893). Zitiert nach: G. K. Hunter / S. K. Hunter (Hgg.): John Webster. A critical anthology. Harmondsworth 1969, S. 74-85. Hier: S. 81.

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besonders hohe Meinung hat, liegt auf der Hand. Seine Haltung ist dabei allerdings noch vergleichsweise gemäßigt, da sie den gehobenen Teil der Gesellschaft explizit in die genannten »Geschmacksverirrungen« mit einschließt. Anderenorts wird die schon bei Archer angedeutete anti-populäre Tendenz deutlich radikaler formuliert (wobei diese Radikalität gleichzeitig zutiefst konventionell ist, da sie dem Tenor (spätestens) des viktorianischen Diskurses über das Publikum entspricht). GranvilleBarker macht Shakespeare selbst zum Advokaten einer Wendung gegen das Volkstheater: »Shakespeare has been accused [...] of a bias against the populace. But is it so? He had no illusions about them. As a popular dramatist he faced their inconstant verdict day by day, and came to write for a much better audience than he actually had.«93 Die dem »Barden« attestierte Volksfeindlichkeit ist hier kein Makel Shakespeare hat im Grunde recht., Ähnlich wie Schücking etikettiert GranvilleBarker das Globe als »Volkstheater« im Sinne eines Theaters für die Unterschichten, das »niedere Volk«. Auch bei Archer ist das Renaissance-Theater ein »Volkstheater«, dann aber im Sinne einer metonymischen Vorstellung vom »Volk« als einer soziale Unterschiede im Gemeinschaftserlebnis zumindest vorübergehend nivellierenden Gemeinschaft. Diese Vorstellung ist auch hinter Byrnes »gemischtem« Publikum zu erkennen, dem die Etikettierung bestimmter Stücke als »unpleasant« angelastet wird. Anders als im Zusammenhang der national orientierten Literaturgeschichten ist diese metonymische Vorstellung vom Volk dabei aber nicht mehr positiv konnotiert, sondern nähert sich zunehmend der Negativvorstellung von der »Masse« an. Das New Drama wendet sich nachdrücklich gegen die Mittelschicht und ihre Theatergewohnheiten, greift in der Verurteilung des Melodramas implizit aber auch die Unterschichten und deren Bühnengeschmack an.94 Als Zielpublikum bleibt ihm so nur eine kleine intellektuelle Elite, die fast durch ihre bloße Existenz alle anderen Formen der Öffentlichkeit als Foren der »Masse« erscheinen lässt. Wo das New Drama sich als »fortschrittlich« versteht, ergibt sich fur das »alte« Drama die Rolle des reaktionären Gegenspielers. Entsprechend gilt dies auch für dessen Publikum, die »Masse«. Da Innovation und Reform nicht vom etablierten Zentrum der Bühnenwelt kamen, sondern von einer »alternativen« Minderheit getragen wurden, erschien aus der Perspektive dieser Minderheit alles, was popular war - also bei der »Masse« beliebt und deshalb kommerziell erfolgreich - gleichzeitig als reaktionär. Shaw beschreibt das ideale - aber größtenteils abwesende - Publikum des »neuen Dramas« als »mature« und »cultivated«. Dass das Publikum im elisabethanischen Globe genau das für zahlreiche Kritiker des frühen 20. Jahrhunderts emphatisch nicht ist, haben die obigen Ausführungen gezeigt. Damit gleicht Shakespeares historische Situation der der »neuen« Dramatiker des Edwardian Age: Ein angemessenes Publikum muss erst noch herangezogen werden. Auch Shakespeare erweist sich also als Avantgardist, wenn auch in mancherlei Hinsicht als gefallener - nämlich dort,

93

94

Harley Granville-Barker: Prefaces to Shakespeare - Vol. Π. Othello, Coriolanus, Romeo and Juliet, Julius Caesar, Love's Labour's Lost. London 1958, S. 392. The Revels History of Drama in English. Volume VE: 1880 to the Present Day. London 1978, S. 109f.

167

wo er seine fortschrittlichen künstlerischen Ideale einem in seinem Geschmack bestenfalls konventionellen (Massen-) Publikum opfert.

168

7.

Gallants versus

Groundlings

7.1 Die Wiederentdeckung der judicious few Zu Anfang des vorherigen Kapitels wurde darauf hingewiesen, dass in der Zeit von etwa 1900 bis 1945 in noch ausgeprägterem Maße als im 19. Jahrhundert verschiedene konkurrierende Entwürfe des elisabethanischen Theaterpublikums nebeneinander bestehen. Zwischen diesen unterschiedlichen Sichtweisen ist allerdings ein zum Teil recht enger Zusammenhang zu beobachten. Beispielhaft verdeutlicht dies ein bereits im Zusammenhang mit der Vorstellung eines naiv-kindlichen Renaissancepublikums mehrfach zitierter Aufsatz J. Dover Wilsons. Wilson stellt die unkultivierten groundlings - in Vorwegnahme einer der Hauptthesen dieser Untersuchung - als Hilfskonstruktion dar, die es der Shakespearekritik des 19. Jahrhunderts ermöglicht habe, die mit viktorianischen Nonnen nicht zu vereinbarenden Elemente des Shakespeareschen Werkes wegzuerklären. Er geht jedoch nicht soweit, in diesem Zusammenhang die konventionell negative Bewertung der breiten Masse der Zuschauer durch eine positivere Sichtweise zu ersetzen. Vielmehr nimmt er an Stelle einer grundlegenden Neueinschätzung der Gesamtheit des Publikums folgende Differenzierung vor: »We have not, I think, allowed sufficiently for the presence of [cultured men of high rank] in Shakespeare's audience.« 1 Indem er die kultivierte Elite der Theaterbesucher ins Blickfeld rückt, löst Wilson ein Problem, das sich im Zusammenhang mit einem zu einer Ansammlung unkultivierter Banausen erklärten Publikum immer wieder stellt: Bei solchen Zuschauern muss die dramatische Kommunikation weitgehend scheitern, da Dramatiker und Publikum sich - abgesehen von den widerwilligen Zugeständnissen des »Barden« an ein seiner unwürdiges Publikum - in völlig verschiedenen Sphären bewegen. Darüber hinaus wirft die Bereitschaft zu solchen Konzessionen ein denkbar ungünstiges Licht auf den Nationaldramatiker Shakespeare. Diese Schwierigkeiten stellen sich in wesentlich vermindertem Umfang, wenn einem ästhetisch und intellektuell anspruchsvollen Zuschauersegment der entscheidende Einfluss auf Shakespeare zuerkannt wird, oder zumindest auf Teile seines Schaffens - und genau das tut Wilson. Ausführlicher legt er seine Position folgendermaßen dar: The Elizabethan Shakespeare was not [...] an Olympian pandering to a barbarous audience; he was a light-hearted dramatic poet in his early thirties who succeeded in securing what all poets of that age strove to secure, namely the admiring patronage of a powerful circle of cultivated noblemen at Court. For them he wrote his poems, and chiefly for them, too, as I

Wilson, The Elizabethan Shakespeare, S. 22.

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believe, he wrote his comedies and histories. And though he wrote to please, he did so to please himself quite as much as his patrons, for he admired them as much as they admired him. Their tastes were his own, and the mutual admiration sprang from »the marriage of true minds«. 2

Anders als dort, wo mit den groundlings argumentiert wird, helfen Shakespeares kultivierte, gebildete - und hier auch adlige - Adressaten dabei, die herausragende literarische Leistung des »Barden« zu erklären, nicht seine gelegentlichen »Schwächen«. Dabei sind insbesondere Wilsons letzte Sätze aufschlussreich: Nicht nur wird Shakespeare mithilfe der Konstruktion eines elitären »eigentlichen« Zielpublikums gewissermaßen zum Hausdramatiker einer ganz bestimmten gesellschaftlichen Schicht stilisiert, darüber hinaus wird er dieser Schicht aufgrund der gegenseitigen Bewunderung und der Deckungsgleichheit des literarischen Geschmacks auch gleich eingegliedert. »The marriage of true minds« - Shakespeare heiratet quasi ein. Mit dieser Fokussierung auf ein bislang nur sporadisch beachtetes Segment des elisabethanischen Publikums steht Wilson repräsentativ für eine Strömung, die etwa zwischen 1910 und 1950 großen Einfluss auf den Diskurs über die Theaterbesucher der Renaissance ausübt. Die bislang vorherrschende apologetische Funktionalisierung der frühneuzeitlichen Theaterbesucher besteht zwar weiter, hinzu tritt aber ein neuer Schwerpunkt: Wo die Theaterbesucher der Renaissance bislang, außer im Kontext der nationalistisch orientierten Literaturgeschichten, hauptsächlich Shakespeares »Mängel« erklärten, werden sie nun vermehrt in einen ursächlichen Zusammenhang mit den besonderen Qualitäten seiner Dramen gebracht. Dies zieht zunächst eine deutlich differenziertere Sicht des Publikums in den öffentlichen Theatern nach sich. So postuliert beispielsweise H. S. Bennett in der Annual Shakespeare Lecture der British Academy von 1944: [...] [Critics] have rapidly proceeded to speak of the audience as though it were an entity, experiencing much the same emotions and interested in much the same intellectual excitements, no matter in what part of the house it sat. As a result of such an attitude, the groundlings have been credited with an appreciation of the subtleties of Elizabethan dialogue and rhetoric far beyond their reach, while the elite of the audience has been depicted as taking an interest in matters which they probably looked on as part of the price to be paid for the undoubted merits of the play as a whole. 3

Die verschiedenen Untergruppen des Publikums konstituieren sich nach Bennett in ihrer jeweils unterschiedlichen Reaktion auf bestimmte Elemente der Dramen: At moments, doubtless, [the audience] was stirred as one man by some passionate or dramatic situation. At other moments, however, its response was much more patchy and limited; a soliloquy absorbed some, mildly interested but perplexed others, and frankly bored another section of the audience, just as a bout of horse-play or of bawdy put part of the house in a roar, but may have left others grieving, since such behaviour was liable to disturb the balance of the play and to mar the effect which the dramatist had hoped to obtain. [...] It may be that one part of a play appealed to one section of the audience and another to

2 3

Wilson, The Elizabethan Shakespeare, S. 24. H. S. Bennett: Shakespeare's Audience. Annual Shakespeare Lecture of the British Academy. London 1944, S. 3.

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another section. It is also true that one and the same part of a play appealed to all sections at different levels.4 In der Beschreibung des Einflusses der groundlings auf Shakespeare bewegt sich Bennett zunächst deutlich innerhalb des traditionellen Rahmens: Auf deren Geschmack am Rohen, Brutalen, Plakativen und Sensationellen führt er Szenen wie die Blendung Gloucesters, Macbeths Auftritt mit Macduffs Kopf in der Hand, die exzessive Emotionalität Hamlets oder Othellos, Leontes' oder Lears zurück. 5 Aber auch »wild horse-play and >slap-stick< farce [...], the noise of trumpets, the catches, rounds, and songs which form a setting to the struggles of the crowds, the wrestlings, broad-sword fights, challenges, dances, and battles« 6 werden nach wie vor mit den Erwartungen dieses Publikumssegments erklärt. Beifällig zitiert Bennett Bradleys Aussage, Hamlet sei nicht zuletzt auch eines der besten Melodramen überhaupt. Er fügt hinzu: It was that [a melodrama] to every member of Shakespeare's original audience, and to the 'stinkards' it was little more, perhaps, though even they had sufficient training to listen with pleasure to such things as the Players' speeches and moments of Hamlet's passionate ravings. Bombast and rant - the high astounding terms - they always loved.7 Auch andere Kritiker sehen im rhetorischen Überschwang bestimmter Passagen der Shakespeareschen Dramen nach wie vor das einzige, was die Zuschauer auf den Stehplätzen an den Stücken zu schätzen wussten: »There are in many Elizabethan plays which we have every reason to believe popular successes, innumerable stretches where a large part of the audience in the yard must have been pretty much at sea as to what was meant [,..].« 8 Damit aber wird genau die Frage virulent, die sich im Zusammenhang mit einem »unverständigen«, »grobschlächtigen« elisabethanischen Publikum immer wieder aufs neue stellt: Für wen schreibt Shakespeare dann eigentlich? Hierauf geben J. Dover Wilson und Bennett eine sehr ähnliche Antwort. Genau der Personenkreis, der nach Wilsons Auffassung bisher nicht genügend beachtet worden ist, rückt nun zunehmend in den Mittelpunkt literatursoziologischer Betrachtungen der englischen Renaissancebühne: hochgebildete Adlige. Auch bei H. S. Bennett spielt der exklusivere Teil des elisabethanischen Theaterpublikums eine wichtige Rolle: For the cultured minority the dramatist displayed his tricks of style, his figures, his elaborate imagery, his verbal inventiveness and dexterity. Their grammar-school training had given them a familiarity with such matters: the nice use of the various figures and tropes was one of the things in which they were most practised. They read »good authors«, observing the »fineness of speech in the Rhetoricall ornaments, as comely tropes, pleasant figures«, and wrote in imitation of the ancients »phrase for phrase, trope for trope, figure

4 5 6 7 8

Bennett, Shakespeare's Audience, S. 6. Bennett, Shakespeare's Audience, S. 9. Bennett, Shakespeare's Audience, S. 9. Bennett, Shakespeare's Audience, S. 13. George F. Reynolds: Aims of a Popular Elizabethan Dramatist. In: Philological Quarterly 20 (1941), S. 340-344. Hier: S. 342. 171

for figure, argument for argument«. Subtlety of language was a delight to them, and they listened eagerly to the dramatists' inventions, their tables in their hands, ready to take down any phrase, or image or allusion which pleased them. They were »the judicious«, whose censure Shakespeare tells us »must [... ] overweigh a whole theatre of others«.9

In der neuen Betonung der Bedeutung der kultivierten Elite wird eine Tendenz offenbar, die über weite Strecken der Shakespearekritik des 18. und 19. Jahrhunderts zumindest latent vorhanden ist: Wenn vielfach dahingehend argumentiert wird, dass »schwache« Stellen in den Dramen bzw. Shakespeares Verstöße gegen gerade aktuelle Nonnen und Werte auf den Einfluss eines implizit wie explizit als »Unterschicht« charakterisierten Publikums zurückzuführen seien, dann ist darin immer schon enthalten, dass der derart expurgierte »eigentliche« Shakespeare sich an sozial höher positionierte Schichten wendet. Anders als in früheren Phasen der Shakespearerezeption werden diese »wahren« Adressaten des »Barden« nun allerdings benannt und auf einen oftmals sehr exklusiven Zirkel eingegrenzt. Zunächst ist dies vor allem im Fall der romantischen Komödien zu beobachten. In ihrer Einleitung zu Love's Labour's Lost geben Quiller-Couch und J. Dover Wilson 1923 ihrem Glauben (»belief«) Ausdruck, dass das Stück 1593 für eine Privatvorführung im Hause eines Adligen geschrieben wurde. 10 1925 macht Campbell im selben Stück deutliche Hinweise auf das (Bühnen-) Umfeld des englischen Hofes aus." Im deutschen Sprachraum wird dieser Ansatz 1925 bzw. 1929 durch Eichler aufgenommen, der neben Love's Labour's Lost auch A Midsummer Night's Dream und As You Like It zu Auftragsarbeiten für den Hof erklärt. 12 Quiller-Couch vermutet in der Einleitung zu seiner 1930 erschienenen Ausgabe von Twelfth Night, dass das Stück für »a polite audience« geschrieben worden sei 13 , eine Annahme, die Hotson 1954 auf einen sehr spezifischen Anlass am Hof Elisabeths I. konkretisiert. 14 Die ältere Tradition, der zufolge The Merry Wives of Windsor auf einen speziellen Wunsch Elisabeths I. zurückgeht, behält beispielsweise für Alexander (1929) ihre Gültigkeit. Darüber hinaus erklärt er Troilus and Cressida zu einer Auftragsarbeit für die Inns of Court. 15 Dieser Auffassung folgen Lawrence (1931) 16 und Campbell (1938). 17

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Bennett, Shakespeare's Audience, S. 7. Sir Arthur Quiller-Couch / John Dover Wilson: Introduction. In: William Shakespeare: Love's Labour's Lost. Cambridge 1923, S. VH-XXXIX. Hier S. XXXIV. Oscar James Campbell: Love's Labour's Lost Re-Studied. In: Studies in Shakespeare, Milton and Donne. By Members of the English Department of the University of Michigan. New York 1925, S. 3^15. Albert Eichler: Das Hofbühnenmäßige in Shakespeare's Midsummer Night's Dream. In: Shakespeare-Jahrbuch 61 (1925), S. 35-51. Ders.: Love's Labour's Lost und As You Like It als Hofaufführungen. In: Englische Studien 64 (1929), S. 352-361. Sir Arthur Quiller-Couch: Introduction. In: William Shakespeare: Twelfth Night or What You Will. Cambridge 1930, S. V n - X X V m . Leslie Hotson: The First Night of Twelfth Night. London 1954 Peter Alexander: Troilus and Cressida, 1609. In: The Library 9 (1929), S. 267-286. William Witherle Lawrence: Shakespeare's Problem Comedies. New York 1931 Oscar James Campbell: Comicall Satyre and Shakespeare's Troilus and Cressida. San Marino (Cal.) 1938

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Neben diesem problem play erhalten aber auch einzelne Tragödien ein neues, illustres Publikum, so Macbeth, ein Stück, von dem Paul 1950 annimmt, dass es speziell für eine Aufführung vor König James I. selbst geschrieben worden sei. 18 Bentley postuliert 1948, dass Shakespeare ab 1608 nicht mehr primär für die Besucher des Globe, sondern für das exklusivere Publikum des Blackfriars geschrieben habe. Das Resultat des Bemühens um diese neue Zielgruppe, »the sophisticated and courtly audience in the private theatre at Blackfriars«, so Bentley, seien die Romanzen. 19 Eine ganz eigene Variante schließlich präsentiert Schücking in einem an das Times Literary Supplement gerichteten Leserbrief von 1936. Anlass seines Schreibens ist die Frage, ob Shakespeares Dramen tatsächlich für die Bühne geschrieben worden seien - aufgrund ihrer Länge hatten diverse Kritiker im TLS die Ansicht geäußert, dass sie kaum in einer auf zwei Stunden beschränkten Aufführungszeit zu bewältigen gewesen seien. Für Schücking löst sich dieses Problem folgendermaßen: [...] [I]t needs not much imagination to picture the Elizabethan dramatist to oneself reading - like Moliere - to an illustrious gathering of his distinguished protectors those »tragical speeches« in full which had to be cut together so miserably at the performance in the theatre. Prince Hamlet, at any rate, [...] seems to have in mind a similar custom in addressing the player with the words »I heard thee speak me a speech once, but it was never acted.« Does not this utterance point unmistakably to the possibility of private readings of dramatic literature in aristocratic society? However, the author's principal intention, irrespectively of the theatre audience, must have been to create for the future reader. The reason why it was so imperfectly realized in Shakespeare's case is to be looked for in his psychology. 20

Die unverfälschte Version der besonders langen Dramen, also meist der Tragödien, kommt hier wieder einem ausschließlich adligen Publikum zugute. Angesichts von Schückings im letzten Kapitel ausführlicher behandelten Charakterisierung der breiten Masse des Publikums (unter anderem als »blöde Menge«) erscheint diese Annahme auch nur schlüssig, denn wenn die Mehrheit der Theaterbesucher nur über beschränkte geistige Fähigkeiten verfügt, bleiben ihr bestimmte Inhalte der Shakespeareschen Dramen notwendig verschlossen. Eine ähnliche Position bezüglich der von Shakespeare eigentlich angesprochenen Adressaten vertritt im übrigen weit vor Schücking und den oben aufgezählten Autoren ein weiterer bedeutender deutscher Shakespearekritiker - Gustav Rümelin: Die Frage: für wen schrieb Shakespeare? lässt [...] noch eine genauere Beantwortung zu als [eine] allgemeine. Es lässt sich ein ganz bestimmter Zuhörerkreis nachweisen, den der Dichter im Auge hatte, dessen Geschmack und Beifall für ihn maßgebend war. Wir haben [...] gesehen, wie sich neben den vielen niedrigen Volksbühnen, die nur dem Geschmack der untersten Stände zu huldigen hatte, eine kleine Anzahl vornehmerer, durch die Beigabe eines höheren Zuschauerkreises ausgezeichneter hervorhob, [...] wie sie sich [...] durch die Gunst des Hofes und des Adels gegen die unablässigen Verfolgungen der bürgerlichen und

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Henry N. Paul: The Royal Play of Macbeth. When, why and how it was written by Shakespeare. New York 1950. Gerald Eades Bentley: Shakespeare and the Blackfriars Theatre. In: Shakespeare Survey 1 (1948), S. 38-50. Hier: S. 46-48. Levin L. Schücking: Stage or Study. In: The Times Literary Supplement, 16. Mai 1936, S. 420.

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kirchlichen Gemeinde behaupteten. Wir wissen, [...] wie [...] die männliche Jugend, die jeunesse doree der Hauptstadt, die den kirchlichen und politischen Reformideen der Mittelklassen fernstand und sich um deren Vorurtheile nicht zu kümmern hatte, das Interesse für dramatische Darstellungen, den Besuch der Volksbühnen unter die noblen Passionen eines jungen Gentleman aufgenommen hatte. Es liegt schon zum Voraus ganz in der Natur, dass eben dieses Element, wie es jene Bühnen von Blackfriars, des Globus, der Truppe des Admirals allein im Aeußeren [sie] von den anderen unterschied, so auch auf deren Kunstleistungen und innere Entwicklung einen entscheidenden Einfluß ausüben musste. Und wenn wir nun bedenken, dass unser Dichter gerade in diesen Kreisen seine ersten Gönner und Verehrer, ja seine nächsten Freunde und Wohlthäter gefunden hatte, die ihn allein und zuerst aus dem Dunkel eines verachteten Standes zu einem höheren Geistesflug und Selbstgefühl emporhoben, denen er und damit die Welt die volle Entfaltung seines Genius verdanken, [...] hat es dann nicht die höchste innere Wahrscheinlichkeit, dass Shakespeare auch in seinen dramatischen Dichtungen eben diesen Kreis junger und enthusiastischer Freunde seiner Kunst als das Publikum ansehen musste, auf das er zu wirken, dessen Vorstellungskreise er zu beachten hatte, dessen Beifall für den äußeren Erfolg und die innere Befriedigung, die ihm sein Beruf zu geben hatte, entscheidend war? Es war somit nach unserer Meinung nicht das Theaterpublikum im Allgemeinen, es war speziell die männliche Jugend des englischen Adels, für die Shakespeare seine Dramen dichtete.21 Wenn die Shakespearekritik und -forschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts also in so großer Zahl adlige Auftragsgeber Shakespeares »entdeckt« und eine bislang so nicht zu beobachtende Fokussierung auf die »kultivierte Minderheit« des elisabethanischen Publikums an den Tag legt, dann kann sie dabei durchaus auf Vorläufer zurückblicken. Umso mehr stellt sich die Frage, warum dieser spezielle Blickwinkel auf das elisabethanische Publikum gerade zu diesem Zeitpunkt so viele Anhänger findet. Zunächst stellt die Fokussierung auf die frühneuzeitlichen Eliten, wie bereits mehrfach angedeutet, eine verhältnismäßig einfache Lösung für ein nicht unbedeutendes Problem dar: Das kindlich-naive (Massen-) Publikum lässt sich - ebenso wie die rüpelhaften groundlings - nur sehr bedingt mit einem Shakespeare in Einklang bringen, der gerade in dieser Phase der Rezeptionsgeschichte zunehmend unter dem Aspekt seiner »Komplexität« behandelt wird. An der neuen »Schwierigkeit« Shakespeares haben nicht nur die im letzten Kapitel behandelten, um größtmögliche »Authentizität« in der Aufführungspraxis bemühten Inszenierungen etwa der Elizabethan Stage Society, die sich an ein Publikum mit mehr oder minder umfassender einschlägiger Vorbildung wenden, einen Anteil. Entscheidend ist darüber hinaus auch die zunehmende Professionalisierung der Auseinandersetzung mit dem Nationaldramatiker, nicht nur, aber vor allem in Form der Etablierung des Universitätsfaches Englisch. Aufgrund des mit seinem Namen verbundenen enormen kulturellen Kapitals lassen sich am Beispiel Shakespeares die mit dieser Professionalisierung einhergehenden Bemühungen um Absicherung und Legitimation der neuen Kaste hauptberuflicher Literaturexperten besonders deutlich beobachten. Wenn Shakespeares Dramen zusehends unter dem Aspekt ihrer Komplexität behandelt werden, wenn die differenzierte und diffizile Vielfalt ihrer Bedeutungen immer mehr in den Mittelpunkt

21

Gustav Rümelin: Für wen dichtete Shakespeare? In: Ders.: Shakespearestudien. Stuttgart 1866, S. 32^19. Hier: S. 39^11.

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des Interesses rückt - dem »Barden« werden oft mehr als nur seven types of ambiguity attestiert - , dann bietet dies in der kulturellen Landschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts insofern einen Vorteil, als ein »schwieriger« Dramatiker offensichtlich des Spezialisten bedarf, der die Komplexität seines Werks zu erfassen und zu vermitteln versteht. Genau solche Spezialisten aber bilden die Universitäten aus (und genau solche Spezialisten stellen sie auch ein). Ein »schwieriger« Nationaldramatiker stellt also bezüglich der Existenzberechtigung des Universitätsfaches Englisch ein Argument von nicht zu unterschätzender Schlagkraft dar. Mit dieser Feststellung soll keine Aussage über den tatsächlichen Grad an »Schwierigkeit« getroffen werden, mit dem ein Shakespeare-Stück den (akademischen oder auch nicht-akademischen) Leser konfrontiert; die Opportunität genau dieser Erkenntnis zu genau diesem Zeitpunkt liegt jedoch auf der Hand. Auch bezüglich der Frage, warum eine kulturelle und / oder soziale Elite relativ unvermittelt derart interessant wird, sei es als Shakespeares Auftraggeber oder als sein »eigentliches« Zielpublikum, spielt die so zentral gewordene Schwierigkeit Shakespeares eine keineswegs unbedeutende Rolle. Dies lässt folgende Einschätzung beispielhaft erkennen: [...] [T]o understand Shakespeare, to follow the swiftness of his thought, the delicacy of his poetic workmanship, the cunning of his dramatic effects, the intricacy of his quibbles, to appraise in short the infinite riches of his art, we must think ourselves back into the little room at the Globe or its predecessors, in which his dramas were first given by a team of players, moving and speaking on a bare platform surrounded by a ring of faces only a few yards away, faces in front, to right, to left, above, faces tense with interest at the new miracle that awaited them, the faces of the brightest spirits and keenest intelligences of his time.22

»Swiftness of thought«, »delicacy«, »cunning«, »intricacy« - der Shakespeare, den Wilson hier entwirft, ist eines nicht: simpel. Diese Komplexität bringt Wilson hier deutlich mit einem ganz bestimmten und äußerst exklusiven Segment der Zuschauer in Verbindung, eben den auf der Bühne sitzenden gallants. Auf ein ähnliches Zielpublikum hebt auch Figgis ab, wenn er schreibt: »[Under James I.], [d]ramatists were encouraged [...] to touch loftier and supremer heights, irrespective of puzzled and unappreciative audiences.«23 Patronage durch den (Hoch-) Adel ermöglicht die literarischen Ausnahmeleistungen Shakespeares und seiner Zeitgenossen. Der Gedanke, dass Shakespeares sprachliche Komplexität und seine geistigen Höhenflüge der überwiegenden Mehrheit des Publikums unverständlich gewesen seien, ist in so gut wie allen Veröffentlichungen zu adligen Auftragsgebern oder elitärem Zielpublikum nachzuweisen. Die von der Shakespearekritik seit Jahrhunderten als historisches Faktum präsentierte Anspruchslosigkeit und Unkultiviertheit der breiten Masse der elisabethanischen Theaterbesucher bildet dabei den Ausgangspunkt für die Annahme einer kleinen Segments hochkultivierter Zuschauer als der eigentlichen Zielgruppe Shakespeares: Da man von einem gänzlichen Scheitern der dramatischen Kollusion nicht ausgehen kann oder will, die so entscheidend gewordene Komplexität der Dramen aber mit dem überlieferten Bild des rüden

22 23

John Dover Wilson: The Essential Shakespeare [1932]. Repr. Cambridge 1962, S. 30f. Darrell Figgis: Shakespeare. Α Study. London 1911, S. 81.

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Mobs im Globe kaum zu vereinbaren ist, schafft man sich gewissermaßen ein Gegenpublikum zu den rüden Rabauken auf den Stehplätzen. Ebenso wie die notorischen groundlings erklären auch die als Kausalfaktor gewissermaßen neuentdeckten gallants, warum der »echte« Shakespeare genau so ist, wie man ihn gerade haben will, auch wenn dabei ganz andere rhetorisch-argumentative Strategien zum Einsatz kommen. Ähnlich wie die Zuschauer auf den billigen Plätzen wird allerdings auch die neuentdeckte adlige Zielgruppe vielfach dort herangezogen, wo es gilt, die »Fehler und Mängel« Shakespeares zu erklären und zu entschuldigen. Dabei handelt es sich oft um genau dieselben Schwächen, die andernorts mit dem Geschmack oder der beschränkten Auffassungsgabe der groundlings in Verbindung gebracht werden. Beispielhaft zeigt dies Pauls The Royal Play of Macbeth. Nach Paul handelt es sich bei dem Stück um eine Auftragsarbeit speziell für eine Aufführung vor James I. Ungereimtheiten im plot des Stücks sind seiner Auffassung nach darauf zurückzuführen, dass der König kein Freund langer Theateraufführungen gewesen sei. Shakespeare habe sich deshalb zu einer Komprimierung seines Stoffes veranlasst gesehen, die angesichts des hohen geistigen Niveaus des ursprünglichen Publikums auch durchaus vertretbar gewesen sei: »[Macbeth] contains as much dramatic material as the average play, but a much shorter time of performance is achieved by studied compression of speech. [Shakespeare] relied upon the superior perspicacity of the king and his court to catch his meaning.« 24 Würde hier mit den groundlings argumentiert, hätte man deren mangelnde Auffassungsgabe für eventuelle Brüche und Ungenauigkeiten verantwortlich gemacht. »Compression of speech« bezieht sich hier durchaus auch auf die tatsächliche Darbietung des Stücks durch die Schauspieler. Bilden diese nämlich insbesondere in der Shakespearekritik des 18. Jahrhunderts mit den Zuschauern zusammen ein Kollektiv, das für so gut wie alle Normverstöße der Shakespeareschen Dramen verantwortlich gemacht wird, so ist ihre Rolle bei Paul eine ganz andere: [The setting in the great hall at Hampton Court, where Paul supposes Macbeth was originally performed,] was accompanied by the presence of a discriminating and quick-witted audience and of a sympathetic relation between the court and the king's players. [...] The royal presence gave the performance a due decorum often lacking in the public theatres, and this in turn was a stimulus to the actors. They could resort to refinements of delivery and of stage business which in the Globe Theater would have passed unnoticed [...]. 2 5

Anders als in den öffentlichen Theatern ergibt sich also eine ideale Form der theatralen Kollusion, an der Dramatiker, Publikum und Schauspieler gleichermaßen beteiligt sind. Gerade letztere profitieren von der kultivierten Atmosphäre bei Hof, da diese ihnen ermöglicht, die Intention des Dramatikers umfassender und klarer als in den öffentlichen Theatern zu vermitteln. Zusammenfassend kann Paul befriedigt feststellen - und zwar schon auf Seite 2: [...] [M]any difficult problems concerning [Macbeth] are solved when it is restored to its rightful position as one of the three or four plays which Shakespeare wrote, not for an au-

24 25

Paul, Royal Play of Macbeth, S. 3. Paul, Royal Play of Macbeth, S. 3.

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dience such as that of the Globe Theater, but for the more highly intelligent audience of the English court. 26

Bislang wurde insbesondere die neue Fokussierung auf eine kultivierte Minderheit innerhalb des elisabethanischen Publikums bzw. innerhalb der englischen Gesellschaft unter Elisabeth I. und James I. behandelt. Wenn auch sehr verbreitet, so ist diese neue Sicht des Renaissance-Publikums doch nicht universell: In einem Beitrag zu Eliots Criterion aus dem Jahre 1932 formuliert L. C. Knights eine Position, die gerade durch die Art und Weise, in der sie sich von der bislang skizzierten abhebt, in besonderem Maße Erkenntnisse über den kulturellen Hintergrund ermöglicht, vor dem sich die Neukonfigurierung des Bilds von Shakespeares ursprunglichem Publikum abspielt. Ähnlich wie Wilson und Bennett wendet sich auch Knights zunächst explizit gegen den zuletzt von Bridges besonders nachdrücklich formulierten Mythos von den »wretched beings«, die das Globe bevölkert und Shakespeare zu seinen Normverstößen verleitet hätten. Das elisabethanische Publikum, so Knights, sei zwar durchaus heterogen gewesen, dabei jedoch von größerer Auffassungsgabe als bisher angenommen: »[T]he general level of education and intelligence of an >average< audience was higher than has been supposed.« 27 Der Grund für diese Unterschätzung des Niveaus des Publikums liegt nach Meinung Knights' in einer Verkennung des allgemeinen Bildungsstandards der Shakespearezeit. Da die Schulbildung aller Schichten - außer der untersten - sich für Knights aufgrund der von ihm konsultierten Quellen als wesentlich höher darstellt, als dies bislang eingeräumt wurde, kommt er zu einer gänzlich anderen Einschätzung des elisabethanischen Publikums als die Mehrheit seiner Vorgänger: The point which I wish to establish is that of any typical audience at, say, the Globe, the majority were likely to have received an education of the grammar school type. Some may have attended a country grammar school for but a few years, others would have received the full benefit of a good grammar school or private school education, and some would have proceeded to the university or the Inns of Court. [...] It is as false to regard the great majority of Shakespeare's audience as crude and unlettered, gifted by a happy providence with the capacity to endure as much poetry as the dramatist could give them, as to see Shakespeare himself as an unlettered genius who »warbled his native wood notes wild« unconscious of the bonds of art. Behind the national drama of the age of Elizabeth and James I, stands the school curriculum and that method of approaching literature which was inculcated by masters in private and grammar schools and by private tutors. With that curriculum and that method the playwrights almost without exception, and the greater part of their audience, were familiar. 28

Zwischen den Dramatikern und ihren Zuschauern klafft hier also nicht das enorme Bildungsgefälle, von dem die ältere Kritik vielfach ausgeht. Vielmehr ist das englische Drama der Renaissance, ähnlich wie in den nationalistisch orientierten Literaturgeschichten der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, auch hier das Produkt einer Gemeinschaft. Diese definiert sich bei Knights jedoch nicht über die Nation, son-

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28

Paul, Royal Play of Macbeth, S. 2. L. C. Knights: Education and the Drama in the Age of Shakespeare. In: The Criterion 1922-1939. In eighteen volumes edited by T. S. Eliot. Vol. XI: October 1931 - July 1932. London 1967, S. 599-625. Hier: S. 601. Knights, Education and the Drama, S. 607f.

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dem über gemeinsame Bildungsstandards, die ihrerseits wiederum entscheidenden Einfluss nicht nur auf die elisabethanischen Dramatiker, sondern auch auf das Rezeptionsverhalten ihrer ursprünglichen Zuschauer ausüben. Über diese schreibt Knights weiter: [...] [T]he standards applied to Latin literature were in some measure applied also to the words spoken on the contemporary stage, and [...] the attitude of the late Elizabethan audience to the words used by the dramatists was not so different from the critical attitude adopted towards Latin literature. 29

Angesichts der Wendung »critical attitude« bestätigt sich ein Verdacht, der sich schon aufgrund der Rede vom »curriculum« und von einer »method [meine Hervorhebung] of approaching literature« aufdrängt: Das elisabethanische Drama erscheint keineswegs als Unterhaltung, auch nicht als Kunst um der Kunst willen, sondern als stark intellektuell geprägte, um nicht zu sagen akademische Angelegenheit. In diesem Zusammenhang ist es nur folgerichtig, wenn Knights postuliert, dass die Lehrpläne englischer Schulen im späten 16. Jahrhundert einen direkten Einfluss auf die Entwicklung des englischen Dramas hatten.30 Deutlich wird allerdings, dass Knights seine Version des elisabethanischen Publikums daneben auch aus einer ganz bestimmten Version des elisabethanischen Dramas ableitet, um nicht zu sagen aus einer ganz bestimmten Version dessen, was unter »Literatur« zu verstehen sei: If one [considers] the abundant use made of figures of speech by the Elizabethan dramatists, their brilliant and daring metaphors, their allusions, juxtapositions, and comparisons, together with the kind of intellectual athleticism which is involved in following not only admittedly learned writers such as Jonson and Chapman, but also Webster, Toumeur, Shakespeare and their fellows, if one considers these things, it becomes clear that the greater part of the audience at the public theatres was composed not of men who delighted only in fights, clowning and bombast, not even of those who, like a modern cinema audience, could merely appreciate a romantic story in which each spectator lives, by fantasy, the life of the hero, but of men who were capable of a detached and at the same time vivid interest in words and the kind of pattern into which the dramatist might arrange them. 31

»A detached interest in words« ist genau das, was den professionellen Kritiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bzw. den Literaturwissenschaftler, von seinen Vorgängern unterscheidet, die sich oft unverhohlen zu ihrer Subjektivität bekennen. T. S. Eliots Eintreten für eine »unpersönliche« Literatur - und eine entsprechend »unpersönliche« Literaturkritik - ist hier zwischen den Zeilen mitzulesen. Einen solchen Bezug zwischen aktuellen Strömungen in der Shakespearekritik und seiner Version des elisabethanischen Publikums stellt Knights auch ganz explizit her: If Mr. T. S. Eliot and Mr. Wilson Knight are correct in assuming the existence of a certain dramatic »pattern« in the work of Shakespeare and his contemporaries - a pattern which has been unduly neglected by critics in their insistence on »plot« and »character« - it becomes important to know whether Shakespeare's audience were also aware of it or not. I believe that they were. The pattern is, of course, ultimately intellectual and emotional, but the approach to it is through the written or spoken word. That is to say an Elizabethan play

29 30 31

Knights, Education and the Drama, S. 612. Knights, Education and the Drama, S. 621. Knights, Education and the Drama, S. 619.

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must be regarded as a »poem« rather than a »slice of life« of the kind to which we have been accustomed since Ibsen, and only by bringing to it a keen susceptibility to language in its most complex forms can we gain from it all that its author intended to be gained, and that was manifest to large numbers of its first audience. 32

Der Gedanke der Authentizität spielt hier für Knights offensichtlich eine große Rolle. Gleichzeitig wird die Intention des Dramatikers implizit weitgehend mit seiner Aufnahme durch das zeitgenössisches Publikum gleichgesetzt - eine Vorgehensweise, die auch für die im folgenden Kapitel gesondert zu behandelnde Strömung des Neo-Elizabethanism von ausschlaggebender Bedeutung ist. Ebenfalls in engem Zusammenhang mit dem Konzept der Authentizität steht auch ein Problem, für das Knights hier eine durchaus innovative Lösung anbietet. Stage or study?, das hatte sich die Shakespearekritik insbesondere im 19. Jahrhundert immer wieder gefragt, wenn es um das künstlerische Selbstverständnis Shakespeares ging. Der Nationaldramatiker habe ausschließlich den Bühnenerfolg seiner Stücke im Auge gehabt, so vermuteten die einen, während insbesondere die Romantiker ihn als bewusst für eine zukünftige Leserschaft schreibenden Autor darstellten. Die Frage, ob Shakespeare für die Bühne oder das Arbeitszimmer geschrieben habe, macht Knights hier dadurch hinfällig, dass er das Arbeitszimmer - oder den Hörsaal - im Grunde ins Theater hineinverlegt. Dazu merkt er an: Whatever the ultimate results may be, it will at least be a healthy discipline to put ourselves in the place of an educated member of Shakespeare's audience, and to allow our expectations to be influenced by his attitude to rhetoric and the possibilities of language. We shall be saved many errors and may gain a keener appreciation of Shakespeare thereby.33

Tatsächlich jedoch ist es vielleicht nicht so sehr die Rolle des kultivierten Elisabethaners, in die Knights Leserschaft sich hineinversetzen soll. Umgekehrt erscheint es eher so, als ob das Bild des Shakespearepublikums, das Knights hier entwirft, seine Züge in wesentlichen Teilen aus dem Selbstbild dieser Leserschaft bezöge. Je mehr die Beschäftigung mit Shakespeare zur Angelegenheit einer Gruppe spezialisierter, dabei hochkultivierter und gebildeter Experten gerät, desto mehr nimmt das »eigentliche« elisabethanische Zielpublikum des »Barden« Züge dieser Gruppe an.

7.2 Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung Diejenigen Forscher und Kritiker, die in bestimmten Werken Shakespeares Auftragsarbeiten für Aufführungen bei Hofe oder auf Adelssitzen vor einem entsprechenden Publikum sehen, gehen für die Uraufführungen meist von einer idealen Form der theatralen Kollusion aus: Dramatiker, Schauspieler und Publikum ergänzen sich so gut, dass die Bedeutung (aus der Perspektive der Nachgeborenen) »schwieriger« oder mehrdeutiger Passagen für die Zuschauer eindeutig zu erkennen ist. Ähnlich stellt sich die Situation auch im Modell Knights' dar: Aufgrund des hohen Bildungsstandards des Publikums in seiner Gesamtheit gehen auch die esote-

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Knights, Education and the Drama, S. 623f. Knights, Education and the Drama, S. 624f.

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rischeren Bedeutungsebenen der Shakespeareschen Dramen bei der Bühnenaufführung nicht verloren, sieht man einmal davon ab, dass auch Knights die untersten sozialen Schichten, also die unkultivierte Minderheit, von der vollen Teilhabe an der Bedeutungsfülle des Shakespeareschen Werks ausschließt: At the two extremes of the social scale were the courtiers and the illiterate. The illiterate stood and enjoyed the blank verse as best as they might, and relished the horrors and the farce. The courtiers, on the other hand, need not be distinguished from the majority of the audience. They may not have attended school, but under the stimulus of the courtly ideal [...] they had almost certainly been educated in the way which was considered proper to their rank.34

In Knights' Version der Situation in den elisabethanischen Theatern stellt das beschränkte Auffassungsvermögen der groundlings ein eher zu vernachlässigendes Problem dar, da diese gegenüber den gebildeteren Zuschauern in der Minderheit sind. Wenn das proportionale Verhältnis von »Gebildeten« zu »Ungebildeten« sich umgekehrt darstellt, also nicht die unkultivierten, sondern die kultivierten Zuschauer sich im Publikum in der Minderheit befinden, stellt sich indes eine nicht zu unterschätzende Schwierigkeit: Wie ist die für das Shakespearebild insgesamt nun so zentrale Komplexität der Dramen sowohl auf sprachlicher wie auch auf gedanklicher Ebene mit einem Publikum, das zum großen bzw. überwiegenden Teil aus unkultivierten Banausen oder gar Analphabeten besteht, in Einklang zu bringen? Einen Ausweg bot hier lange Zeit die Annahme, dass Shakespeare zu Lebzeiten unpopulär gewesen sei. Eine andere Lösung hatte mit der split audience allerdings schon Coleridge angeboten. Dessen Vorstellung, dass die »Vollbedeutung« der Shakespeareschen Dramen nur einem bestimmten Publikumssegment zugänglich gewesen sei, wird Anfang des 20. Jahrhunderts immer wieder aufgenommen, und zwar insbesondere dort, wo Shakespeares Dramen unter dem Aspekt der Ironie betrachtetet werden. Grundlegend ist in diesem Zusammenhang ein Aufsatz Gerald Goulds aus dem Jahre 1919, in dem dieser eine zu diesem Zeitpunkt völlig neue Interpretation von Henry V. vertritt - das Stück sei ironisch gemeint: None of Shakespeare's plays is so persistently and thoroughly misunderstood as Henry V., and one is tempted to think that there is no play which it is more important to understand. Irony is an awkward weapon. No doubt the irony of Henry V. was meant to »take in« the groundlings when it was first produced: had it failed to take them in, it would have invited bitter and immediate unpopularity. But Shakespeare can scarcely have intended that the force of preconception should, hundreds of years after his death, still be preventing the careful, the learned, and the sympathetic from seeing what he so definitely put down. The play is ironic: that is, I venture to think, a fact susceptible of detailed proof. Yet we still find [...] [it being taken] at its face value as an example of »patriotism«, while the critics who counter this error by a reminder of the more hideous »Prussianisms« with which Shakespeare has endowed his Henry fail to press the argument home, and are content with a sort of compromise reading. That Shakespeare was a patriot there is neither reason nor excuse for denying. What must be denied is that Henry V. is patriotic. Precisely because

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Knights, Education and the Drama, S. 607f.

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Shakespeare was patriotic he must have felt revolted by Henry's brutal and degrading »militarism«.35

Mehrere Aspekte sind hier hervorzuheben. Zunächst fällt ins Auge, dass es sich bei der Zielgruppe der »Oberflächenbedeutung«, d.h. derjenigen Interpretation, die nicht von der Annahme einer ironischen Haltung Shakespeares zu seinem Stoff ausgeht, einmal mehr um die groundlings handelt. Diesen werden damit genau die Widerständigkeiten zugeschrieben, die Gould überhaupt erst zu seiner »ironischen Interpretation« veranlassen: Henrys »brutal and degrading >militarismpatriotismservant-monster< which made the groundlings goggle«, eine Verbindung, die auch andernorts vielfach hergestellt wird, (so etwa bei Wyndham Lewis: The Lion and the Fox. The role of the hero in the plays of Shakespeare [1927], London 1951, S. 137). Murry, Shakespeare, S. 190.

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addressed to the mere »rotten-breathed« of his audience, the many-headed multitude, only. The crowd of his more elegant clients were »many-headed«, too. Their breath probably did not smell especially sweet to the author of Timon. What is Shakespeare supposed to have thought of Lord Leicester's guests? He saw a good deal of them. He must have thought a good deal in consequence. 56 Dort, w o die These von der kultivierten Minderheit als Shakespeares eigentlichem Adressatenkreis jedoch akzeptiert wird, verweist die Diskussion um die Implikationen eines derart »gespaltenen« Publikums und einer in mehrere, qualitativ unterschiedliche Ebenen ausdifferenzierten Bedeutung auf die Frage nach Einheit oder Fragmentierung der kulturellen Öffentlichkeit. D i e s e Problemstellung steht in eng e m Zusammenhang mit der Frage nach Bedeutung und Legitimation einer kulturellen Elite und nach der Notwendigkeit des Spezialistentums. Der bereits mehrfach zitierte Frye hebt die besondere Rolle der kleinen, elitären Gruppe in einer »ironischen« Epoche hervor. Als eine solche Epoche fasst er, wie bereits erwähnt, unter anderem die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts auf, durchaus zurecht, wie ein Blick auf die Einstellung zeitgenössischer Schriftsteller und Kritiker zum Konzept der Elite zeigt. S o schreibt beispielsweise Ezra Pound in einem Brief v o m 10. Januar 1917 über die Zeitschrift Seven

Arts:

Seven Arts looks to me as if it were riding for a fall. A fall between two stools or two haystacks, or whatever it is things fall between. All this desire for a compromise. Great Art is NEVER popular to start with. They (Seven Arts) want to be popular and good all at once?????!!!!! The stuff they complain of is precisely the stuff (American or otherwise) that tries to please the »better« public. Their facts are flimsy. [...] Nothing but ignorance can refer to the »troubadours« as having produced popular art. If ever art was made for a few highly cultivated people it was the troubadour poetry of Provence. The Greek populace was PAID to attend the Greek tragedies, and it damn well wouldn't have gone otherwise, or if there had been a cinema. Shakespeare was »Lord Somebody's players«, and the Elizabethan drama, as distinct from the long defunct religious plays, was a court affair. 57 Einen ähnlichen Standpunkt wie Pound vertritt auch F. R. Leavis: [...] [C]ulture has always been in minority keeping [...]. [...] In any period it is upon a very small minority that the discerning appreciation of art and literature depends: it is (apart from cases of the simple and familiar) only a few who are capable of unprompted, firsthand judgment. They are still a small minority, though a larger one, who are capable of endorsing such first-hand judgment by genuine personal response. The accepted valuations are a kind of paper currency based upon a very small proportion of gold. To the state of such a currency the possibilities of fine living at any time bear a close relation. 58 Eine solche Minderheit hat nach Ansicht Leavis' in jeder geschichtlichen Epoche existiert. Ihre Bedeutung für den gesamtkulturellen Zusammenhang stellt er folgendermaßen dar: The minority capable not only of appreciating Dante, Shakespeare, Donne, Baudelaire, Hardy (to take major instances) but of recognising their latest successors constitute the

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58

Lewis, The Lion and the Fox, S. 172. Ezra Pound: The Selected Letters of Ezra Pound 1907-1941. Edited by D. D. Paige. New York 1974, S. lOlf. F. R. Leavis: Mass Civilisation and Minority Culture. Cambridge 1930, S. 3f.

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consciousness of the race (or a branch of it) at a given time. For such capacity does not belong merely to an isolated aesthetic realm: it implies responsiveness to theory as well as to art, to science and philosophy in so far as these may affect the sense of the human situation and of the nature of life. Upon this minority depends our power of profiting by the finest human experience of the past; they keep alive the subtlest and most perishable parts of tradition. 59

Wenn auch die historische Rolle dieser kritischen Minderheit unveränderlich ist, so diagnostiziert Leavis doch eine Veränderung in der gesellschaftlichen Akzeptanz der Hüter von Standards und Traditionen. Diesen Wandel macht er an einer lexikalischen Neuerung fest - dem Wort high-brow: »High-brow« is an ominous addition to the English language. I have said earlier that culture has always been in minority keeping. But the minority now is made conscious, not merely of an uncongenial, but of a hostile environment. »Shakespeare«, I once heard Mr. Dover Wilson say, »was not a high-brow«. True: there were no »high-brows« in Shakespeare's time. It was possible for Shakespeare to write plays that were at once popular drama and poetry that could be appreciated only by an educated minority. Hamlet appealed at a number of levels of response, from the highest downwards. The same is true of Paradise Lost, Clarissa, Tom Jones, Don Juan, The Return of the Native. The same is not true, Mr. George A. Birmingham [a 'Book Guild' official] might point out, of The Waste Land, Hugh Selwyn Mauberley, Ulysses or To the Lighthouse. These works are read only by a very small specialised public and are beyond the reach of the vast majority of those who consider themselves educated. The age in which the finest creative talent tends to be employed in works of this kind is the age that has given currency to the term »high-brow«. But it would be as true to say that the attitude implicit in »high-brow« causes this use of talent as the converse. 60

Leavis' Beschreibung der Situation der kultivierten Minderheit in seiner eigenen Gegenwart lässt die Fokussierung der Shakespearekritik auf die Elite unter den Theaterbesuchern der Renaissance nochmals in neuem Licht erscheinen. Laut Leavis befand sich Shakespeare in einer literatursoziologischen Situation, die der der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts insofern überlegen war, als ein- und dasselbe Werk von allen Segmenten der literarischen Öffentlichkeit hochgeschätzt und vor allem überhaupt rezipiert wurde. Es bestand Konsens darüber, was ein »gutes« Theaterstück sei, so dass von Shakespeare bis Hardy Qualität und Popularität eines literarischen Werkes in direkt proportionalem Zusammenhang stehen. Genau diese Relation sieht Leavis in seiner eigenen Gegenwart als im Verschwinden begriffen, wenn nicht schon ganz aufgelöst. Verantwortlich dafür sind seiner Ansicht nach weniger die Autoren selbst, die zu ähnlichen Integrationsleistungen wie Shakespeare, Milton oder Fielding nicht mehr in der Lage sind, sondern vielmehr eine Öffentlichkeit, deren Abneigung gegen alles über das Mittelmaß Herausragende sich im Wort highbrow ausdrückt - und anspruchsvolle Schriftsteller dazu zwingt, sich ausschließlich an einen exklusiven Zirkel hochgebildeter Leser zu wenden. Die nivellierenden Macht der Masse, die ihre eigene Durchschnittlichkeit zum Maß aller Dinge erhebt, beschreibt ähnlich auch Jose Ortega y Gasset: [...] [D]er Schriftsteller, wenn er die Feder zur Hand nimmt, um über einen Gegenstand zu schreiben, den er lange erwogen hat, kann nicht umhin, zu denken, dass mittelmäßige Le-

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Leavis, Mass Civilisation, S. 4f. Leavis, Mass Civilisation, S. 25.

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ser, die sich nie mit diesen Fragen beschäftigten, wenn sie ihn lesen, es nicht tun, um etwas von ihm zu lernen, sondern im Gegenteil, um über ihn abzuurteilen, sobald er nicht mit den Plattheiten übereinstimmt, die sie im Kopf haben. Wenn die einzelnen, aus denen die Masse besteht, sich für besonders begabt hielten, hätten wie es nur mit einem Fall persönlicher Täuschung, aber nicht mit einer soziologischen Umwälzung zu tun. Charakteristisch für den gegenwärtigen Augenblick ist es jedoch, dass die gewöhnliche Seele sich über ihre Gewöhnlichkeit klar ist, aber die Unverfrorenheit besitzt, für das Recht der Gewöhnlichkeit einzutreten und es überall durchzusetzen. [...] Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist.61 Für Leavis ebenso w i e für Ortega y Gasset ergibt sich aus der Vermassung des kulturellen Raums der Niedergang des Exzellenten zugunsten des Aufstiegs des Durchschnittlichen. Dies gilt nicht nur auf der Ebene der künstlerischen Produktion, sondern ebenso sehr auf der Ebene der gesellschaftlich-kulturellen (Definitions-) Macht: D i e Elite, zu der sowohl Leavis als auch Ortega sich zählen, fühlt sich in ihrer eigenen Existenz bedroht. [...] [U]nsere Augen sehen überall nur Mengen. Überall? Nein, gerade an den vornehmsten Stellen, die, als verhältnismäßig verfeinerte Schöpfungen der menschlichen Kultur, vorher ausgewählten Gruppen, mit einem Wort den Eliten vorbehalten waren. [...] Die Menge ist auf einmal sichtbar geworden und nimmt die besten Plätze der Gesellschaft ein. Früher blieb sie, wenn sie vorhanden war, unbemerkt, sie stand im Hintergrund der sozialen Szene. Jetzt hat sie sich an die Rampe vorgeschoben; sie ist Hauptperson geworden. Es gibt keine Helden mehr, es gibt nur noch den Chor. 62 Zu dieser Situation stellt die kulturelle Öffentlichkeit der Shakespearezeit, wie sie Leavis beschreibt, nun in mehrerlei Hinsicht einen Gegenentwurf dar. Hervorzuheben ist zunächst insbesondere die Einheitlichkeit des elisabethanischen Publikums. Diese steht in ausgeprägtem Gegensatz zur Zersplitterung des kulturellen Lebens, wie sie von Leavis und anderen Zeitgenossen immer wieder beklagt wird. Aufgrund dieser Fragmentarisierung und der aus ihr resultierenden mangelnden Anerkennung der kultivierten Minderheit ist ein Verlust an allgemeinverbindlichen

Standards

festzustellen. S o sieht es beispielsweise auch T. S. Eliot: I myself should like an audience which could neither read nor write. The most useful poetry, socially, would be one which could cut across all the present stratifications of public taste - stratifications which are perhaps a sign of social disintegration. The ideal medium for poetry, to my mind, and the most direct means of social »usefulness« for poetry, is the theatre. In a play of Shakespeare you get several levels of significance. For the simplest auditors there is the plot, for the more thoughtful the character and conflict of character, for the more literary the words and phrasing, for the more musically sensitive the rhythm, and for auditors of greater sensitiveness and understanding a meaning which reveals itself gradually. And I do not believe that the classification is so clear-cut as this; but rather that the sensitiveness of every auditor is acted upon by all these elements at once, though in different degrees of consciousness. At none of these levels is the auditor bothered by the presence of that in which he is not interested. 63

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Jose Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen [1930]. Stuttgart 1949, S. 15. Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, S. 9f. T. S. Eliot: The Use of Poetry and the Use of Criticism. Studies in the Relation of Criticism to Poetry in England. London 1933, S. 153. 191

Der Eliot, der hier behauptet, ein Publikum von Analphabeten wäre ihm das liebste, ist gleichzeitig allerdings auch der Verfasser des hochkomplexen Waste Land mit seinen »poker-faced endnotes«. Wie immer im Falle »modernistischer« Literatur bzw. »modernistisch beeinflusster« Literaturkritik ist zu beachten, dass »der Modernismus« als Phänomen alles andere als homogen ist: Zu unterscheiden sind zum einen eine Vielfalt von unterschiedlichen Strömungen, zum anderen aber vor allem auch Veränderungen in der Haltung einzelner Personen, wie im Falle Eliots besonders deutlich wird. Bezeichnend ist allerdings in jedem Fall, dass Eliot hier implizit einen Zusammenhang zwischen Analphabetentum und sozialer Geschlossenheit herstellt. In der Tatsache, dass von diesem Analphabetentum zumindest einer ausgeschlossen sein muss, nämlich der Dramatiker selbst, deutet sich an, wie problembehaftet und in sich widersprüchlich das Ideal der unified cultural sphere ist. Obwohl Eliot keinesfalls zur blinden bardolatry tendiert, sieht er die gesellschaftlichen Implikationen des Shakespeareschen Dramas in einem eindeutig positiven Licht. Das Theatererlebnis wirkt sozial integrierend: 64 In the drama, we seem to have on the one hand almost the whole body of men of letters, a crowd of scholars coming down from Oxford and Cambridge to pick a poor living in London, needy and often almost desperate men of talent; and on the other an alert, curious, semi-barbarous public, fond of beer and bawdry, including much the same sort of people whom one encounters in the local outlying theatres to-day, craving cheap amusement to thrill their emotions, arouse their mirth and satisfy their curiosity; and between the entertainers and the entertained a fundamental homogeneity of race, of sense of humour and sense of right and wrong. The worst fault that poetry can commit is to be dull; and the Elizabethan dramatists were more or less saved from dulness [sic] or galvanised into animation by the necessity to amuse. Their livelihood depended upon it: they had to amuse or starve.65

Die Darstellung der groundlings ist sehr konventionell: »Beer and bawdy« erinnert stark an Taine; die den groundlings zugeschriebene Vorliebe für »schlechte« Rhetorik sowie die klare Parallelsetzung mit der Unterschicht der eigenen Gegenwart an den viktorianischen Diskurs über Shakespeares ursprüngliche Zuschauer; die Apostrophierung »semi-barbarous« schließlich an Primitivität, Naivität und Kindlichkeit der breiten Masse der elisabethanischen Theaterbesucher, wie sie zu Eliots eigener Zeit im Vordergrund stehen. Das frühneuzeitliche Theater zeichnet sich für Eliot allerdings nun gerade dadurch aus, dass es neben den »Gelehrten« auch die Zuschauer auf den Stehplätzen anzusprechen vermag. In der Integration dieser unterschiedlichen Einflüsse besteht die besondere historische Leistung der englischen

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Dieser These schließt sich W. S. Knickerbocker 1936 nicht nur bezüglich des elisabethanischen Publikums, sondern auch bezüglich seiner eigenen Gegenwart an: »If any one truth emerges from Shakespeare's plays, it seems to be that life is relative, contingent, full of surprises; that its unity is discerned through the constancy of emotion evoked through imagination [...]. The diversity of life is solved in the demonstrable unity of response in the audience, the constancy of the emotions in their pliancy to the senses, assisted by the obligato of the imagination, and the consequent social oneness which his plays produce.« (William S. Knickerbocker: The Pragmatic Shakespeare. In: The Sewanee Review 44 (1936), S. 482-500. Hier: S. 484.) Eliot, The Use of Poetry, S. 5 If.

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Renaissancebühne. An dieser haben also auch die groundlings nicht unerheblichen Anteil. Bei aller theoretischen Betonung der Integrationsleistung des englischen Renaissance-Dramas positionieren sich Leavis und Eliot zur konkreten Rezeption Shakespeares durch seine Zeitgenossen weitaus weniger eindeutig. Beide gehen von einer in den Dramen selbst angelegten Pluralität von Bedeutungsebenen aus, die sich qualitativ unterscheiden. Leavis ordnet diese Ebenen hierarchisch (»from the highest downward«) und postuliert, dass die »höchste« Bedeutungsebene nur der kultivierten Minderheit zugänglich gewesen sei. Zumindest oberflächlich betrachtet setzt Eliot einen anderen Schwerpunkt, da er sich gegen eine allzu strikte Hierarchisierung von Bedeutungen oder Rezeptionsebenen ausspricht und stattdessen davon ausgeht, dass jeder Zuschauer alle diese Ebenen wahrnimmt, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Allerdings ist doch relativ offensichtlich, dass die sich allmählich enthüllende Bedeutung die von Eliot am höchsten bewertete ist, und dass auch diese sich nur einem auserwählten Kreis von Zuschauern erschließt. Es stellt sich damit spätestens jetzt das Problem, inwieweit das Ideal einer unified cultural sphere, der Glaube an die kulturstiftende und -tragende Funktion einer kleinen Minderheit und die Vorstellung eines auf mehrere Bedeutungsebenen verteilten Inhalts der Shakespeareschen Dramen - wobei sich im Falle der Ironie die verschiedenen Bedeutungen widersprechen - miteinander vereinbart werden können. Je nach Gewichtung der einzelnen Faktoren wird diese Frage unterschiedlich beantwortet. Lawrence beispielsweise wendet sich vehement gegen Interpretationen, die Shakespeares Dramen als ironisch deuten: In our admiration for the subtler and profounder aspects of Shakespeare's work, which set it apart so strikingly from that of his contemporaries, we must not forget that it had a strong direct appeal for simple men (which it still retains today), that it was designed to provide entertainment for the ignorant as well as the educated, and that this appeal has first to be reckoned with in any attempt to fathom his deeper meanings. His work is not like a coin, with two separate and distinct faces, but rather like a bas-relief of intricate design, the main outlines of which are striking at a distance, but which, on closer examination, reveals new beauties of detail to the connoisseur. His plays did not have two meanings, one for the pit and the other for the gallery. He provided for the more intellectual spectators something which the groundlings, with their limited education and experience of life, could not perceive, but this was an extension of the simpler meaning of his play, and not at variance with it. 66

Wertet man Ironie gegenüber einer gewissermaßen »konzentrischen« Bedeutung, wie sie Lawrence hier beschreibt, als das komplexere sprachliche Phänomen, dann ergibt sich eine Reduktion des Shakespeare zuerkannten intellektuellen Anspruchs zugunsten der Annahme eines in seinem Theatererlebnis bis zu einem gewissen Grade homogenen Publikums (»entertainment for the ignorant as well as the educated«). Ähnlich stellt den Sachverhalt auch der bereits mehrfach zitierte Bennett dar: [...] [T]he »judicious« no doubt got something of the subtlety and highly organized series of ideas and images which are so commonly placed in the forefront of the modern critic's discussions. It may well be that some of the plays were written with an eye on performance

66

Lawrence, Shakespeare's Problem Comedies, S. 14f.

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at Court, or in private houses such as Sir Edward Hoby's, where Cecil saw Richard 11 performed in 1595, and this may account for a certain intellectual »toughness«, such as is found in Troilus and Cressida; but even so, the mixed audience at the Globe was the ultimate tribunal whose verdict was of supreme importance to Shakespeare, both as dramatist and part proprietor. Hence the peculiar quality and nature of his drama, and of all Elizabethan drama. Shakespeare, with his amazing vitality, gives prodigally, whether of incident, of character, of diction, of organized imagery. [...] He is like a broadcasting station transmitting a programme which is received well by some instruments, imperfectly by others, and scarcely at all by a few. The rich orchestration of the Shakespearian dramatic poetry was fully available, perhaps, to no one: the »judicious« were able to get something of it, but the speed of ordinary dramatic utterance made it impossible for more than a part of what Shakespeare had to say in his more packed utterances to become available. We regret this, and we strive to put things right by a slow reading of the text in our studies. 67

Lawrences Bild des Basreliefs und Bennetts Bild des Radiosenders liegt eine ähnliche Einschätzung zugrunde: Shakespeare »sendet« an alle Zuschauer die gleiche Botschaft, Unterschiede bestehen nur in der Qualität des »Empfangs«. Wenn die »judicious few« eingangs als die Zielgruppe für Shakespeares »highly organized series of ideas and images« dargestellt werden, dann bestätigt das einmal mehr die These, dass dieses Publikumssegment deshalb in den Blickpunkt der Shakespearekritik rückt, weil eine bestimmte Art der Annäherung an Shakespeare gewissermaßen eines historischen Echtheitszertifikats bedarf. Wenn Bennett dann aber doch das Publikum im Globe in seiner Gesamtheit als das für Shakespeare ausschlaggebende darstellt, so scheint er der Elite unter den Zuschauern zunächst keine besonders herausgehobene Stellung zuzubilligen. Bei genauerem Hinsehen muss diese Einschätzung allerdings teilweise korrigiert werden, und zwar aufgrund der letzten beiden Sätze der zitierten Passage: Den judicious - und nur diesen - erschließt sich ein Teil der inhaltlichen Fülle der Dramen, ganz wird diese jedoch nur dem Forscher zuteil, der den Text aufgrund seiner Ausbildung besonders sorgfältig und kompetent liest - ein Vorgang, den Bennett als »putting things right« bezeichnet: »Gerechtigkeit« widerfährt dem »Barden« also erst durch die Nachgeborenen, nicht durch seine eigenen Zeitgenossen. Gemeint sind dabei auch nicht irgendwelche Nachgeborenen, sondern die in-group (»we«) die Bennett anspricht: die Gruppe der Kritiker und Forscher. Als historische Vorform dieser besonders qualifizierten Rezipienten nimmt die kultivierte Minderheit des elisabethanischen Zeitalters dann aber eben doch eine besondere Stellung ein. Das Bekenntnis zur breiten Masse des Publikums und zur unified cultural sphere erweist sich als ein eher rhetorisches. Während bei Bennett die besondere Position der judicious few vor allem in ihrem besseren Textverständnis begründet liegt, stellt sich der Sachverhalt etwa bei Q. D. Leavis deutlich anders dar. Die kultivierte Minderheit spielt hier nicht nur für die Auslegung des Textes eine zentrale Rolle, sondern ebenso für das kulturelle Leben, in das Produktion und Rezeption dieses Textes eingebettet sind: [...] [T]o object that most of the [Elizabethan] audience could not possibly understand the play and only went to the theatre because the alternative to Hamlet was the bear-pit is beside the point for the purposes of the student of cultural history; the importance of this for him is that the masses were receiving their amusement from above (instead of being spe-

67

Bennett, Shakespeare's Audience, S. 14f.

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cially catered for by journalists, film-directors and popular novelists, as they are now). They had to take the same amusements as their betters, and if Hamlet was only a glorious melodrama to the groundlings, they were none the less living for the time being in Shakespeare's blank verse [...]; to argue that they would have preferred Tom Mix or Tarzan of the Apes is idle. Happily they had no choice, and education of ear and mind is none the less valuable for being acquired unconsciously. 68

Wenn Q. D. Leavis hier von »their betters« spricht, dann ist zunächst unklar, ob dies sich auf sozialen Stand, Bildungsniveau oder beides bezieht. Diese Unklarheit bleibt bestehen, wenn sie an anderer Stelle schreibt: »[...] [T]he spectator of Elizabethan drama, though he might not be able to follow the >thought< minutely in the great tragedies, was getting his amusement from the mind and sensibility that produced those passages, from an artist and not from one of his own class.« 69 Vor dem Hintergrund, dass die Theaterbesucher der Renaissance bis weit ins 20. Jahrhundert hinein traditionell als Angehörige der Unterschicht dargestellt werden (nicht umsonst nennt Leavis in der ersten der zitierten Passagen die groundlings), ist der Begriff class hier wohl kaum als frei von politisch-sozialen Konnotationen aufzufassen. Wenn »[the spectators' own] class« und »the artist« aber fast als Gegenbegriffe zueinander fungieren, dann ist dies ein Hinweis darauf, was ein Künstler in den Augen Leavis' ganz bestimmt nicht ist - ein Angehöriger der Unterschicht. Die Einheitlichkeit bzw. Geschlossenheit der literarischen Öffentlichkeit, die sie für die englische Renaissance annimmt, beruht darauf, dass diejenigen, die als »[the groundlings'] betters« dargestellt werden, diesen erfolgreich ihre ästhetischen und inhaltlichen Maßstäbe als die gültigen vermitteln - auch dann, wenn die Zuschauer auf den Stehplätzen sie gar nicht nachvollziehen können und in Hamlet eventuell nur ein Melodrama sehen. »Happily they had no choice« - dass hinter der Darstellung Q. D. Leavis' auch eine politische Agenda auszumachen ist, braucht wohl kaum noch eigens hervorgehoben werden. Beifällig zitiert sie Sir Edmund Gosse, der 1889 warnt: One danger which I have long foreseen from the spread of the democratic sentiment, is that of the traditions of literary taste, the canons of literature, being reversed with success by a popular vote. Up to the present time, in all parts of the world, the masses of educated or semi-educated persons, who form the vast majority of readers, though they cannot and do not appreciate the classics of their race, have been content to acknowledge their traditional supremacy. Of late, there have seemed to me to be certain signs, especially in America, of a revolt of the mob against our literary masters. [...] If literature is to be judged by a plebiscite and if the plebs recognizes its power, it will certainly by degrees cease to support reputations which give it no pleasure and which it cannot comprehend. The revolution against taste, once begun, will land us in irreparable chaos. 70

Q. D. Leavis bemerkt dazu lakonisch: »[T]he possibility has now become a fact.« Bei Gosse scheinen die dem Kanon zuzurechnenden Werke in einem weitgehend autonomen Raum zustande zu kommen, der mit der breiten Masse der Bevölkerung nichts zu tun hat, ja dem sie bestenfalls Unverständnis entgegenbringt. Dass diese

68 69 70

Q. D. Leavis: Fiction and the Reading Public [1932], London 1965, S. 85. Leavis, Fiction and the Reading Public, S. 264. Sir Edmund Gosse: Questions at Issue (1889), zitiert nach Leavis, Fiction and the Reading Public, S. 190.

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Höchstleistungen dennoch über einen gewissen Zeitraum hinweg einen allgemein anerkannten Standard darstellten, ist der Vermittlungsleistung einer kleinen Elite (auch hier wieder: »us«) zu verdanken, die als der Gegenspieler der plebs zu deuten ist. Gosse selbst stellt die Aufrechterhaltung dieser »traditional supremacy« als politische Angelegenheit dar - als eine Frage der Macht: Nicht umsonst spricht er von »popular vote«, »revolt of the mob« und »plebiscite«. In diesem Zusammenhang ist die Vermutung, dass die Aufrechterhaltung traditioneller literarischer Standards auch ein Mittel dazu ist, diesen »Mob« davon abzuhalten, seine eigene Macht zu erkennen und auszuüben, nicht leicht von der Hand zu weisen. Die Tatsache, dass Q. D. Leavis als eine stark vom Modernismus beeinflusste Kulturkritikerin einen durchaus als »viktorianisch« zu klassifizierenden Autor zitieren kann, um ihre eigene Position zu definieren, verweist darauf, dass trotz der so unterschiedlichen Schwerpunktsetzung in der Diskussion des elisabethanischen Publikums auch weitreichende Kontinuitäten zwischen »Viktorianern« und »Modernisten« festzustellen sind. Diese Gemeinsamkeiten bestehen insbesondere hinsichtlich des Bestrebens, in Shakespeare nicht einen »Volksdramatiker« sehen zu müssen, ob »Volk« nun wie für die viktorianische Shakespearekritik weitgehend mit den Unterschichten gleichzusetzen ist oder wie für die modernistisch beeinflusste Shakespearekritik mit eher noch größeren Bevölkerungskreisen, den »Massen«: Virginia Woolf would no doubt have regarded Lady Monkswell [a Victorian socialite] as a moron; Q. D. Leavis and Robert Bridges would have been as contemptuous of one another as they both were of the bulk of Shakespeare's audience. Two different cultural elites were colliding. Monkswell represented a relatively closed old elite defined by social status and based largely on inherited wealth, the Leavises represented a more open-ended elitism, a new cultural meritocracy accessible to anyone with intelligence who could secure the right kind of education. Each elite excluded, by definition, most members of the other. But the hostility between them should not obscure the fact that in the early twentieth century both groups cooperated in reshaping Shakespeare. For their different reasons, they both insisted that Shakespeare the old popular playwright did not belong to the populace.71

Ein derart elitärer Shakespeare wird in der neuen Fokussierung auf ein exklusives Adelspublikum und die kultivierte Minderheit in den Volkstheatern auch auf die Renaissance projiziert, allerdings nicht, ohne dass sich dabei gewisse Widersprüchlichkeiten offenbaren würden. Die Uneinheitlichkeit der Auffassungen von der Position der Elite innerhalb der kulturellen Öffentlichkeit wird vor allem im Zusammenhang mit der Shakespeare (ob zu recht oder nicht) attestierten Ironie manifest: Werden Dramen als ironisch interpretiert, so ergeben sich dabei zwei klar voneinander geschiedene Zuschauergruppen, deren jeweiliges Theatererlebnis relativ wenig miteinander zu tun hat, da die beiden im Grunde zwei unterschiedliche Stücke sehen. Beispielhaft verdeutlicht dies folgende Interpretation der Blendung Glosters, die von einer totalen Dissoziation zwischen groundlings und judicious ausgeht: The blinding of Gloster [...] is, in fact, an eye-opener [...]. The quality of the poet's contemplation, the height of his argument: these enable him to reach far out into the territory of the hateful and raise what he finds there to the level of the terrible and of his trag-

71

Taylor, Reinventing Shakespeare, S. 249.

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edy.[...] [W]e must feel that [Shakespeare] has confidence not only in what the intensity of his own contemplation can achieve, but in a certain quality of response in the spectator as well. In Shakespeare's playhouse the [...] confidence perhaps approached audacity: audacity such as he displays in many of his great strokes - in words, for example, put in the mouth of the boy who played Cleopatra or Lady Macbeth. But it is reasonable to suppose that he understood his audience and believed that at this juncture not too many of them would respond with malevolent glee. And what if some did so? Here there is a final point, to which we are led by considering the physical conditions of the Elizabethan public playhouse, in which the ruder part of the audience closely surrounded a stage the spectacle upon which evoked far stronger suggestions of participation on the part of the spectators than a modem theatre allows. In these circumstances, and at so Satanic a moment, might not the very laughter and gestures of the hopelessly unskilful or brutal reinforce rather than mar the dramatic effect intended for the judicious? 72

Der partizipative Charakter des alten Volkstheaters erlaubt es hier, die Partizipierenden - unwissentlich - an den Pranger zu stellen. Von den »wahren« Intentionen des Dramatikers und den Wertmaßstäben, die er mit der kultivierten Minderheit teilt, ahnt der Mob nichts. Er darf es auch gar nicht, denn sonst könnte er seine Funktion als konkret fassbares, lebendes, zur Schau gestelltes Heterostereotyp nicht mehr erfüllen. Stewarts Modell funktioniert nur dann, wenn Elite und Masse in völliger Beziehungslosigkeit zueinander existieren. Bei unverminderter gesellschaftlicher Akzeptanz der Elite ist diese Isolation nur so lange aufrechtzuerhalten, wie die »Masse« im kulturellen Gesamtzusammenhang nicht die Oberhand gewinnt. Sobald die kultivierte Minderheit aber an gesellschaftlicher Macht einbüßt, droht sie aufgrund des völligen Mangels an Kommunikation mit der breiten Masse von dieser in die Bedeutungslosigkeit gedrängt zu werden. Ganz anders im Falle der »konzentrischen« Bedeutung: Hier hat die kultivierte Minderheit den Massen durchaus etwas zu sagen, und sie muss dazu vor allem nicht den eigenen Status aufs Spiel setzen anders als Ironie ist diese Form von Komplexität gradierbar, d.h. die Elite muss ihr »Herrschaftswissen« nicht entweder ganz oder gar nicht teilen, sondern kann einen Mittelweg wählen. Auseinandersetzungen über die Rezeption Shakespeares zu seinen eigenen Lebzeiten und über die Rolle der kultivierten Minderheit innerhalb des literatursoziologischen Gesamtzusammenhanges der englischen Renaissance reflektieren nicht nur das Bedürfnis einer kultivierten Elite, bzw. einer Kaste von professionellen Shakespearekritikern und -forschem, die eigene Existenz zu legitimieren. Darüber hinaus verweist diese Diskussion auch auf ein Bewusstsein eben dieser Personenkreise, einer Minderheit anzugehören, deren Relevanz die »Masse« immer weniger anerkennt. Halpern beschreibt dieses Dilemma als spezifisch »modernistisch«: [...] [I]f Shakespeare's plays offered high modernists a language for articulating their anxieties about mass culture, they also registered an historical diminution of the literary space in which modernist protest could be heard. The reduction of modernism's literary public was itself seen as the splitting of what had been a relatively unified literary sphere into mass culture on the one hand and high-modernist and avantgardist cultures on the other. Within this context, Shakespeare's status as a broadly popular playwright allowed

72

J. I. M. Stewart: The Blinding of Gloster. In: The Review of English Studies 21 (1945), S. 264-270. Hier: S. 268f.

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modernism to chart its own relative cultural isolation. [...] Of course, not all modernists regarded Shakespearean popularity as the sign of their own marginalization. [...] But for the more conservative, elitist, or esoteric strains of modernism, Shakespeare embodied a now-unattainable cultural reach. Thus his specter occupied both ends of high modernism's paralysing engagement with mass culture. The Roman plays embodied fears of mob rule and mass politics, while the example of Shakespeare's popularity only highlighted the apparent disappearance of a cultural public forum within which modernist protest might have some effect. 73

In diesem Zusammenhang, so Halpern, entwickelt der Modernismus ein spezifische Vorstellung von der Natur der Shakespeareschen Popularität. Unter Rekurs auf Leavis und Eliot beschreibt er dieses Konzept folgendermaßen: It is in response to the perceived threat of mass culture as a specifically undifferentiating force that the modernist's conception of Shakespeare takes shape. [...] For Eliot, as for Leavis, Shakespeare's broad popularity overcomes the »stratifications of public taste« which now results in the cultural isolation of high modernism. Yet - and this is the point Shakespeare unifies a public sphere without simply erasing boundaries of discrimination, as mass culture is held to do. Shakespearean popularity thus locates a dilemma in modernist thought: the very unification of the public sphere which the modernists desired also held the perceived threat of a chaotic blurring of difference. Shakespeare's overcoming of stratification and his appeal to a unified public has as its terrifying double mass culture's collapse of stratification and its creation of an undifferentiated public. Shakespeare's cultural »work« in this context is to embody a cultural public space in which distinctions are not so impermeable as to lead to social disintegration - yet not so fragile as to give way altogether.74

Da der öffentliche Raum (»cultural public space«) von Shakespeares elisabethanischem Publikum eher noch mehr verkörpert wird als von ihm selbst, ist die Idealvorstellung einer von Einigkeit, jedoch nicht von Einheitlichkeit geprägten Öffentlichkeit hinter zahlreichen Auseinandersetzungen mit der Theaterpublikum der Renaissance auszumachen. Daneben ist allerdings an der neuen Fokussierung auf die »kultivierte Minderheit« unter den Theaterbesuchern der Shakespearezeit und der Art und Weise, wie deren Verhältnis zum »Barden« konzipiert wird, mindestens ebenso deutlich zu erkennen, dass diese vermeintliche Idealvorstellung mit zahlreichen Ambivalenzen und Widersprüchen befrachtet ist. Die Elite ist auf die breite Masse der Unkultivierten oder weniger Kultivierten existenziell angewiesen, da sie sich erst in der Abgrenzung von dieser konstituieren kann. Gleichzeitig möchte sie aber einen möglichst großen Einfluss auf den kulturellen Gesamtzusammenhang ausüben, wozu sie innerhalb einer zunehmend demokratisch organisierten Gesellschaft auf die Akzeptanz durch diese Massen angewiesen ist. Das Ideal einer unified cultural sphere beruht letztendlich darauf, dass die unterlegene Mehrheit die überlegene Minderheit mehr oder minder freiwillig anerkennt. Gerade dies, so bemängeln beispielsweise F. R. und Q. D. Leavis, ist zunehmend nicht mehr der Fall, und nicht umsonst stellen sie diese Entwicklung in den Kontext einer zunehmenden Demokratisierung der Gesellschaft: Das Prinzip der Mehrheitsentscheidung ist mit diesem Modell kaum vereinbar.

73 74

Halpem, Shakespeare among the Modems, S. 53f. Halpern, Shakespeare among the Modems, S. 62f.

198

Die prominente Rolle der kultivierten Minderheit im Diskurs über Shakespeares ursprüngliches Publikum, wie sie sich im Zeitraum bis etwa 1945 beobachten lässt, stellt eine Verschärfung von Tendenzen dar, die bereits im viktorianischen Diskurs über dieses Publikum ausgemacht werden können. Die Shakespearekritik des 19. Jahrhunderts hatte die groundlings am unteren Ende des sozialen Spektrums verortet. Wenn diesem Segment der Zuschauer Shakespeares »Fehler und Mängel« zugeschrieben werden, dann bedeutet das, dass der derart expurgierte »wahre« Shakespeare als kultureller Besitz der Nicht-groundlings anzusehen ist. Während die Viktorianer also eine Gruppe herausgreifen, die keinen Anteil am Kulturgut Shakespeare hat, konstruiert die modernistisch beeinflusste Shakespearekritik eine Minderheit, die allein im Vollbesitz dieses Kulturguts ist. Shakespeare und die von ihm verkörperte high culture werden also deutlich exklusiver. Diese Exklusivität allerdings ist durchaus zweischneidig: Wenn die Komplexität der Shakespeareschen Dramen in der Renaissance wie in der ersten Hälfte 20. Jahrhunderts nur einer kleinen kultivierten Minderheit zugänglich ist, dann kommt ihr für Legitimation und Konstitution dieser Gruppen eine entscheidende Bedeutung zu. Gerade unter dem Aspekt der Legitimation ist sie aber nur solange von Nutzen, wie ein Konsens über die gesellschaftliche Relevanz von high culture überhaupt und damit auch über die Relevanz Shakespeares besteht. Wird dieser Konsens instabil, dann droht die kultivierte Elite durch ihre Exklusivität in die Bedeutungslosigkeit gedrängt zu werden.

199

8.

»Neo-Elizabethanism«: Das Konzept der Authentizität und die funktionale Umbesetzung des elisabethanischen Publikums in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

8.1 Das elisabethanische Publikum als Authentizitätsträger und Legitimationsinstanz Bis an die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wird das elisabethanische Publikum generell dort angeführt, wo es gilt, Normverstöße und Widerständigkeiten der Shakespeareschen Dramen mit Verweis auf den Geschmack dieser als grobschlächtig und unkultiviert dargestellten ursprünglichen Zuschauer wegzuerklären. Diese Tradition setzt sich im Zusammenhang mit der Vorstellung eines kindlich-naiven, primitiven Theaterpublikums bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein fort, wobei lediglich die Literaturgeschichten eine Ausnahme bilden. Diese sehen in Shakespeares ursprünglichem Publikum ein Miniaturmodell der englischen Volksnation und bewerten den Einfluss der Zuschauer auf das Zustandekommen der Werke des »Nationalbarden« dementsprechend positiv. Der modernistische Shakespearediskurs elisabethanische Zuschauer, der die kultivierte Minderheit unter den Theaterbesuchern der Renaissance zum Stellvertreter seiner eigenen Interessenslage macht, steht auf den ersten Blick in ausgeprägtem Gegensatz zu der Vorstellung einer »Volksdramatik«, wie sie in den Literaturgeschichten vertreten wird. Dennoch gleichen sich die beiden Ansätze insofern, als sie eine direkte Beziehung zwischen der speziellen Eigenart und Qualität der Stücke und ihren ursprünglichen Adressaten annehmen, und zwar, anders als bei der apologetischen Funktionalisierung des elisabethanischen Publikums, im positiven Sinne: Dass die kultivierte Minderheit unter den Theaterbesuchern den intellektuellen Anspruch der Stücke zu schätzen weiß, ist eine notwendige Bedingung dafür, dass Shakespeares Dramen sich überhaupt so komplex und anspruchsvoll präsentieren können. Die Relation zwischen dem »Barden« und der exklusiven Elite, die Anfang des 20. Jahrhunderts verstärkt ins Blickfeld von Kritik und Forschung gerät, ist damit sehr ähnlich wie die, die die Literaturgeschichten des späten 19. Jahrhunderts beschreiben: Shakespeares Zielpublikum, egal ob dieses die Gesamtheit der Zuschauer umfasst oder nur einen kleinen Teil, ist eine der Ursachen für die herausragende Qualität seiner Dramen. Einen fast noch engeren Zusammenhang zwischen der Eigenart der Dramen und der Eigenart ihres ursprünglichen Publikums sieht ein Strang der Shakespearekritik und -forschung, der im vorliegenden Kapitel unter dem Begriff »Neo-Elizabethanism«'

Die Nomenklatur »Neo-Elizabethanism« stammt aus einem gegenüber seinem Gegenstand äußerst kritischen Artikel von Benjamin T. Spencer aus dem Jahr 1941. Dort wird der Begriff folgendermaßen definiert: »[Neo-Elizabethanism] has contended that there is but one Shakespeare, that of the Elizabethan [sic]; that not only does the proper understanding of Shakespeare depend upon the

201

gefasst wird. Obwohl es sich bei diesem nicht um eine breite Strömung, sondern um eine verhältnismäßig klar abgrenzbare »Schule« handelt, ist die »neoelisabethanische« Funktionalisierung der englischen Theaterbesucher der frühen Neuzeit für die Weiterentwicklung des Diskurses über Shakespeares ursprüngliches Publikum von entscheidender Bedeutung. Erstmals in der Geschichte der Shakespearerezeption werden die frühneuzeitlichen Theaterbesucher zum »Verbündeten« des Forschers, die seine Interpretation des Textes als die historisch »authentische« legitimieren helfen: Is the modern critic so much keener of discernment that he can see deeper into [a] play than the contemporaries to whose conceptions it was calculated, and deeper into life than the master-dramatist whom he professes to explain? The present writer dares offer no such ambitious program; and, if after a prolonged study of the tragedy [Hamlet] in its multiform details and backgrounds, he can but grasp and explain such insight as the dramatist's own lines, seen in the light of their Elizabethan meaning [meine Hervorhebung], can supply, then he will be well content. 2

Der Bescheidenheitstopos kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das derart umrissene Erkenntnisinteresse ein sehr umfassendes und in seiner Zielsetzung auch durchaus neuartiges ist. Ziel der wissenschaftlichen Bemühungen ist die Rekonstruktion der (der bestimmte Artikel im Singular ist entscheidend) ursprünglichen, »elisabethanischen« Bedeutung der Shakespeareschen Dramen, wobei - das machen bereits die parallelen Strukturen in der zweiten Hälfte des ersten Satzes deutlich - nicht nur der Autor Shakespeare, sondern gleichberechtigt auch dessen zeitgenössische Zuschauer ebenso Urheber wie letztlich auch Legitimationsinstanz dieser Bedeutung sind. Für die »Neo-Elizabethanists« ist eine oder vielmehr: die korrekte Interpretation Shakespeares diejenige, die alle Aspekte seines historischen Umfelds möglichst vollständig mit einbezieht, wobei, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, von einer kollektiven Befindlichkeit ausgegangen wird, die den Schlüssel zur Bedeutung der Dramen darstellt. 3 Augenfällig wird dies insbesondere am Beispiel des bereits angeführten John W. Draper, der den »Neo-Elizabethanism« in ganz besonderem Maße prägt. Das elisabethanische Publikum verkörpert sowohl im Titel seiner Publikationen 4 als auch in deren Argumentation das, was als »the Elizabethan mind« bezeichnet werden kann: die Summe der intellektuellen, sozialen, aber auch politischen Gegebenheiten der englischen Renaissance. Die Kenntnis dieses historischen Hintergrunds ist nach Draper für jede Auseinandersetzung mit den Dramen zwingend vonnöten. Am klarsten formuliert er diese Position, vermutlich nicht zuletzt aufgrund des enormen akademisch-intellektuellen »Kapitals« des Untersuchungsgegenstands, in der Einleitung zu seiner Hamlet-Studie:

2 3 4

corrective awareness of Elizabethan dramatic conventions, symbols, and cultural milieu, but indeed Shakespeare is, and can only be, the sum of what is therein discoverable.« (Benjamin T. Spencer: This Elizabethan Shakespeare. In: The Sewanee Review 49 (1941), S. 536-553. Hier: S. 537.) Der Begriff »neo-Elizabethanist« fällt erstmals auf S. 541. John W. Draper: The Hamlet of Shakespeare's Audience [1939]. New York 1966, S. VII. So charakterisiert diese Schule auch Spencer, Elizabethan Shakespeare, S. 539. John W. Draper: The Twelfth Night of Shakespeare's Audience. Stanford 1952. Ders.: The Othello of Shakespeare's Audience. Paris 1952.

202

There is but one Hamlet, and Shakespeare is its prophet, and all others are false. The object of the present study is to set forth, not your Hamlet, or mine - what right have we to Shakespeare's own creation? - but Shakespeare's play, if only our diligence can explain it: the Hamlet that he set forth to his own audience, and that we, because of subtle changes in the times and in the language, can discover only by reading the text with a knowledge of these changes. Shakespeare wrote in a literary and social idiom that his audience could understand; and he who would learn the meaning of the dramatist, things obvious as daylight to his contemporaries but so timely then that they are strange and abstruse to us, must be willing to follow the clues both in the play and in the pertinent writings of the age, no matter where they lead [...]. [...] Unfortunately, the commonest commonplace of one age just because they were so common that people rarely troubled to write them down - are the hardest things for another age to realize and understand; the veriest fool in any generation knows the hour for dinner and the dishes that are likely to be served; but one might read widely in the literature of that generation, and still be ignorant of such obvious daily matters. In the realm of mores and ideas, this is even more elusive: how much Elizabethan literature might one read before one realizes that the age treated cowardice as a more serious social offence than either murder or adultery? To collect all the Elizabethan writings pertinent to a long and complex play like Hamlet is truly counsel of perfection; to take to oneself completely the Elizabethan attitude, or varying class attitudes, toward life is sometimes more than one can hope of the imagination; and to see all the minutiae of the text in the light of all these pertinent ideas and facts and also all the rest of the play, puts no moderate strain on the most inclusive mind, but the effort is a challenge and an adventure; and, in this challenge and this adventure, the present writer asks the reader to participate in a spirit of co-operation, and where necessary, of indulgence. 5 Zielsetzung und Anspruch des »Neo-Elizabethanism« sind hier paradigmatisch zu erkennen: Angestrebt wird die Offenlegung der »authentischen« als der einzig »wahren« Textbedeutung, und zwar unter Rückgriff auf eine - sich allerdings zugegebenermaßen immer wieder aufs neue entziehende - historische Mentalität, die aus der Gesamtheit der überlieferten Texte aus dem entsprechenden Zeitraum zu rekonstruieren ist. Aus diesem Unterfangen ergeben sich zahlreiche Schwierigkeiten und innere Widersprüchlichkeiten, die in besonderem Maße Einsichten in die kulturellen Rahmenbedingungen

ermöglichen,

unter

denen

das

Phänomen

»Neo-

Elizabethanism« entsteht. D a sie unmittelbare Auswirkungen auf die Art und W e i s e der Funktionalisierung des elisabethanischen Publikums hat, soll zunächst eine auf den ersten Blick eher unspektakuläre Differenzierung im Mittelpunkt stehen, die Draper bezüglich des geschichtlichen Kontexts der Shakespearedramen vornimmt: Er spricht v o m »literary and social idiom«, das der »Barde« verwendet und mit seinen zeitgenössischen Zuschauern geteilt habe. Obwohl er »the realm of mores and ideas« im Vergleich zum Bereich des Literarischen als »even more elusive« bezeichnet, ist es doch genau das social

5 6

idiom,

und gerade nicht das literarische, auf das Draper 6 sich in seinen

Draper, Hamlet, S. VII-IX. Ähnlich tun dies auch Lilian Winstanley, Paul N. Siegel und Hardin Craig. Ε. Ε. Stoll ist insofern ein Sonderfall, als er sich mehr auf literarische Traditionen bezieht. Alle genannten Autoren stellen explizit einen direkten Zusammenhang zwischen dem elisabethanischen Publikum und der jeweils »korrekten« Interpretation der Dramen dar. Gerade durch diese Explizitheit werden sie zu exemplarischen »Neo-Elisabethanem«. Implizit fungieren die Theaterbesucher der frühen Neuzeit bis heute derart häufig und in so unterschiedlichen

203

Interpretationen hauptsächlich stützt. D i e historisch konditionierte Reaktion der frühneuzeitlichen Theaterbesucher,

so Draper, ist deckungsgleich mit der von

Shakespeare intendierten; Dramatiker und Publikum befinden sich aufgrund der beiden Parteien gemeinsamen geschichtlichen Situation in absoluter Übereinstimmung. Entsprechend groß ist das Gewicht, das auf die Bedeutung der theatralen Kollusion gelegt wird: »A successful play is a collaboration of dramatist and audience; and in judging a piece critics must not ignore the audience's part in the performance, its likes and dislikes, its pent-up feelings that the plot may express and so release.« 7 Auf Grundlage bestimmter dem elisabethanischen Publikum ebenso w i e dem »Barden« kollektiv zugeschriebener Wertmaßstäbe gelangt Draper so nicht nur zu einer Deutung, sondern auch zu einer Wertung einzelner Dramenfiguren, die dann als die historisch authentische präsentiert wird. Beispielhaft zeigt sich dies an seiner Analyse des Falstaff: Since the sources of Henry IV give only the slightest suggestion of Falstaff s character, the present writer proposes to seek his prototype in contemporary society; and to this end, he presents two hypotheses; that actual Elizabethan conditions furnish ample analogies for the actions, and so for the character, of Falstaff; and that the audience, knowing such actions and such types of character in daily life, would see them, not as dramatic conventions, but as a holding of the mirror up to nature, and so judge them, not with nice ethical reasonings, as Bradley supposes, but in such a rough-and-ready fashion, very much as they judged such people and such actions in the world around them. 8 Draper geht hier nicht nur von der Existenz realer Personen v o m Typus »Falstaff« als einem gewissermaßen Renaissance-spezifischem Phänomen aus, sondern darüber hinaus auch davon, dass diese von »den Elisabethanern« - einer Art Kollektivperson, an early modern

John Bull - in einer ganz bestimmten Art und W e i s e beurteilt

wurden. In der Beschreibung dieses Urteilsvorgangs als »rough-and-ready« steht Draper dabei durchaus in der Tradition Taines, der die Renaissance-Engländer unter starker Bezugnahme auf das Konzept des Karnevalesken als ähnlich impulsiv und undifferenziert beschrieben hatte. Das Urteil über Falstaff fällt nach Draper folgendermaßen aus: Just how the Elizabethans regarded Falstaff is not easy to determine; but, recognising him as a common type in the London of the day, they surely could not quite suspend the feelings and judgments that they associated with the living examples. [...] [OJne thing the Elizabethan could not pass over or condone: Falstaff was an arrant coward; he ran away at Gadshill, and at Shrewsbury tried to filch the reward of another's valour. In a brawling age, when one's daily safety on the street depended on being ready with one's weapons, cowardice was universally despised and its outward signs well recognised. Indeed, cowardice is the very crux of Falstaff s character, as an army officer, to which his other traits but appertain; and his cowardice above all must have made the runaway hero of Gadshill and the suppositious slayer of Hotspur a rather despicable figure of fun. Quite contrary, therefore, to the views of Tolman and Bradley, Falstaff s character to an Elizabethan would seem

7 8

Kontexten als Authentizitätsgaranten, dass aufgrund der schieren Fülle der einschlägigen Belege kaum mehr von einer klar abgrenzbaren Strömung gesprochen werden kann. Draper, Twelfth Night, S. 96. John W. Draper: Sir John Falstaff. In: Review of English Studies 8 (1932), S. 414^124. Hier: S. 415.

204

somewhat to improve in Part Π and in Merry Wives', for the license of the latter plays might be more easily condoned than the poltroonery of Part I.9 Es wird als gegeben angenommen, dass das Publikum der Shakespearezeit nicht zwischen realen Gegebenheiten und der Welt der Bühne unterscheidet. Dies wird nicht nur am Beispiel Falstaffs deutlich, sondern auch dann, wenn Draper schreibt: Malvolio, like Shylock, was detested because the audience saw in him a social type that it despised and an unsolved social problem that it feared. This antipathy of the Elizabethans toward Malvolio, an antipathy both of the auditors in the pit and the characters on the stage, clearly arose, not from his Puritanism - if, indeed, he be a Puritan - but from his social effrontery: it sinned against God's ordinance; and it endangered a society already rocked to its foundations by the fall of age-old feudalism. 10 Schließlich kommt Draper auch bezüglich des wohl meistdebattierten Shakespearedramas, Hamlet,

zu sehr eindeutigen Ergebnissen:

The Elizabethans must indeed have hated Osric: they despised social upstarts, especially those that used flattery and outlandish affectations and who would not even fight you with a good old sword and buckler but stood on nice punctilio as set forth in Italian books, and used foreign weapons and a foreign swordsmanship. 11 Enträtselt ist durch die Mentaliät »der Elisabethaner« auch der Titelheld, der nicht mehr als verkopfter Zögerer, sondern als man of action

erscheint:

If a truculent Elizabethan audience [...] had seen in Hamlet only an incompetent dreamer, could he possibly be the hero of a play that ran through so many quartos? Could this popular hero be depicted in such a fashion as to risk the amused contempt of the Elizabethan public? As a matter of fact, there is very little of either the philosopher or even the student about Shakespeare's Prince of Denmark. 12 Auch hier steht Draper deutlich in der Tradition Taines (»truculent«). An den Äußerungen zu Osric zeigt sich, wie sehr die Konstruktion eines elisabethanischen Zeitgeistes auf einem Selektionsprozess beruht: Auch die affektierten Emporkömmlinge waren ja Elisabethaner, wenn auch in der Sicht Drapers wohl keine »echten«. Ähnlich - wenn auch meist etwas zurückhaltender formuliert - legitimieren diverse andere Forscher und Kritiker ihre Interpretationen mithilfe des elisabethanischen Publikums. S o schreibt beispielsweise Ε. E. Stoll: Of what would the figure of Shylock remind the audience? Of Jews at first hand they may have known little. There were Jews in England, but illegal and by connivance [...]. He would rather remind them of the precisians and Pharisees in their midst, who »put on gravity«, were keen on money and, more than other Christians, addicted to usury. They, too, were given to biblical phrasing and scriptural allusions, preferably of the Old Dispensation. They Hebraized, in short. Shylock would not be taken for a Puritan with a capital letter, and was not meant to be. Yet the Elizabethans could hardly help thinking of the Rabbi Zeal-of-the Lands, the Ananiases and Tribulations round about them, if not as yet about the

9 10

" 12

Draper, Draper, Draper, Draper,

Sir John Falstaff, S. 422f. Twelfth Night, S. 96. Hamlet, S. 80. Hamlet, S. 7If.

205

stage; and it is not unlikely that such picturesque customers as these offered suggestions to Shakespeare's imagination. 13

Diese Interpretation führt Paul N. Siegel in einem 1953 erschienenen Artikel weiter aus, wobei eine kleine einleitende Bemerkung die Rolle des elisabethanischen Publikums für Interpretationen wie die oben zitierten nochmals besonders eingehend verdeutlicht: The connection between the villainous Jewish money-lender of folk tradition whom Shakespeare made a richly colourful figure, the member of an alien, exotic race, and the Elizabethan Puritan usurer is not pointed up by any allusion in the play. However, a contemporary audience, alive to the issues of its own time, does not need the pointers that posterity does. 14

Die Aufwertung des elisabethanischen Publikums geht deutlich einher mit einer Herabstufung des Textes als des einzig legitimen Bedeutungsträgers: Siegel vertritt eine Interpretation, von der er ganz offen zugibt, dass sie nicht durch den Text hervorgerufen wurde - eine Äußerung, mit der sich der Kritiker in anderen Phasen der Shakespearerezeption wohl weitgehend diskreditiert hätte. Diese »Öffnung« des Textes resultiert vor allem daraus, dass das Shakespearesche Drama hier mindestens ebenso sehr als historisches Dokument wie als spezifisch literarisches Artefakt betrachtet wird - eine Nivellierung von Gattungsgrenzen, die durchaus an den New Historicism erinnert, der Shakespeares ursprüngliches Publikum in strategisch durchaus ähnlicher Weise einsetzt. Eines sollte dabei jedoch nicht übersehen werden: Die Verbindung zwischen Figuren wie Shylock oder Malvolio und bestimmten historischen Phänomenen, wie hier dem Puritanismus, besteht zunächst primär in der Wahrnehmung des Forschers bzw. Kritikers - weder groundlings noch gallants haben Aussagen über ihre Interpretationen Shakespeares hinterlassen. Die - nach Siegel so offensichtliche - Verbindung wird erst in einem zweiten Schritt in die Mentalität des elisabethanischen Publikums »hineinverlegt«. Spätestens damit aber ist die Rolle der Theaterbesucher im London der Shakespearezeit eine ganz andere, als dies im Diskurs über das Renaissancepublikum bislang zu beobachten war. Shakespeares ursprüngliche Zuschauer werden zu Garanten für die Richtigkeit einer Interpretation, zur Instanz eines authentischen Shakespeareverständnisses. Eine Interpretation kann sich dann als korrekt bezeichnen, wenn sie in Einklang mit den »tatsächlichen« Rezeptionsbedingungen eines gegebenen Stückes steht, bzw. mit dem als gültig anerkannten Konstrukt dieser historischen Rezeptionssituation. Dabei liegt es auf der Hand, dass sich die Interpretation eines Stückes und die Interpretation der Rezeptionssituation gegenseitig beeinflussen, um nicht zu sagen gegenseitig bedingen, d.h. dass die Konzeption der kollektiven Mentalität der elisabethanischen Zuschauer nicht zuletzt auch von der Interpretation abhängt, die sie als historisch authentisch bestätigen soll. Diese Funktionalisierung des Publikums ist in gewisser Weise revolutionär. Die elisabethanischen Theaterbesucher wechseln die Fronten, und dies in einer Deut-

13 14

Ε. E. Stoll: From Shakespeare to Joyce. New York 1944, S. 134. Paul N. Siegel: Shylock and the Puritan Usurers. In: Arthur D. Matthews / Clark M. Emery (Hgg.): Studies in Shakespeare. Coral Gables 1953, S.129-138. Hier: S. 129.

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lichkeit, wie sie auch in der Fokussierung auf die »kultivierte Minderheit« im Publikum so nicht zu beobachten ist. Bislang stellten insbesondere die groundlings meist den Gegenpol zum Autorgenie Shakespeare dar, der dieses zu einer Verwässerung seiner »eigentlichen« künstlerischen Absicht zwang. Shakespeare bedurfte zur Rettung seiner Reputation und ursprünglichen Intention des nachgeborenen Kritikers, der in widerständigen Passagen den Einfluss der unkultivierten Zuschauer erkannte und dadurch, dass er diese Textstellen dem Geschmack des Publikums zur Last legte, die Integrität des Dramatikers wie auch die des Textes wiederherstellte. Die hinter diesen logischen und rhetorischen Operationen stehenden Zusammenhänge werden von den »neo-elisabethanischen« Forschern und Kritikern nun gänzlich anders konzipiert. Autor und Publikum erscheinen nicht mehr als Antagonisten, sondern als gleichberechtigte Mitglieder ein- und derselben Kommunikationsgemeinschaft. Wo die ältere Kritik die elisabethanischen Theaterbesucher als Störfaktor auf dem Weg zum »echten« Shakespeareverständnis dargestellt hatte - der eigentliche Shakespeare enthüllt sich erst dann, wenn er vom Ballast der Zugeständnisse an sein historisches Publikum befreit wird - , werden die ursprünglichen Zuschauer nun zu Vermittlern eines privilegierten Zugangs zu Text und Autor: »[T]o consider the Elizabethan audience is our least indirect method of approach to Shakespeare himself.« 15 Diese deutliche Aufwertung des Publikums zieht zwar durchaus keine Abwertung Shakespeares selbst nach sich, aber doch bestimmte Veränderungen in der Autorkonzeption ganz generell. In einer 1936 erschienen Studie mit dem Titel The Enchanted Glass. The Elizabethan Mind in Literature schreibt Hardin Craig: We must abandon to the solace of its advocates the mystical view of creative literature. Those who believe that the poet and the literary genius are independent of time, place and social circumstance and that a God to whom present, past, and future are as one, does actually and directly speak to and through poets and reveal to them ultimate truth and beauty those holding such doctrines will see no occasion for these remarks. They must perforce be addressed to those who, holding a different opinion as to the nature of genius, believe it to be the possession of ordinary powers to an extraordinary degree and admit that not even Shakespeare and Dante could know and reveal the future as fact or opinion or present those aspects of the past about which they had no information.16

Die Hinwendung zur kollektiven Mentalität des elisabethanischen Publikums vollzieht sich hier klar im Zuge einer Abwendung von der romantischen Konzeption des Autorgenies. Dass sich diese beiden Tendenzen gegenseitig bedingen, konstatiert Ε. E. Stoll bereits 1927, und zwar im Zusammenhang mit dem Übernatürlichen in Shakespeares Dramen. Die Kritik, so referiert Stoll, habe in Hexen und Geistern immer wieder ein Zugeständnis an den Aberglauben des elisabethanischen Publikums gesehen - von dem der »Barde« selbst jedoch beständig ausgenommen werde. Diese Konstruktion hält Stoll für ebenso unzulässig und unzutreffend wie die Vorannahmen, aufgrund derer sie überhaupt erst notwendig wird:

15 16

Lilian Winstanley: Hamlet and the Scottish Succession. Cambridge 1921, S. 1. Hardin Craig: The Enchanted Glass. The Elizabethan Mind in Literature [1936], Oxford 1950, S. 62f.

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[T]he notion of truckling and complimenting, constantly at hand to save Shakespeare's fame, must in all conscience be used with greater restraint. The favour of the groundlings or of the Queen or King the critic has ever at his elbow to explain away Shakespeare's every divagation in sentiment or art. [... ] Shakespeare was a man, an Elizabethan. Omniscience and omnipotence are preserved to him at the expense of principle. Creizenach, the scholar who has written upon Shakespeare with widest knowledge, faces this alternative; and insisting that he could not have believed in witchcraft, admits [...] that according to our ideas he should have shrunk from flattering the vain pedant on the throne even though he thereby secured a good stage effect. But it was ever the case that if the omniscience and impotence of the divinity could be preserved to him, a way would be found to keep the morals. Creizenach excuses Shakespeare by pleading the Renaissance custom of compliment and flattery for kings [...]. Everything by this legerdemain is saved. Shakespeare both basks in the enlightenment of today and keeps the manners and morals of 1600. His thoughts are our thoughts, but his ways are not our ways. [...] And why all this manoeuvring and mystery-mongering, this creating of a need for explanation and then producing the explanation to fit? Simply because of the inability of a scholar or critic to conceive of an art as immortal in which the ideas involved are local and temporary, or to conceive of an immortal artist who is not also a prophet and seer. 17 D i e hier formulierte Position ist mit dem Begriff Counter-Romanticism adäquat zu fassen: »Prophet«, »seer«, »divinity«, dies sind Prädikate, mit denen die Romantiker den »Barden« belegt hatten - die aber auch ihr eigenes Selbstverständnis als »Autoren« (im Wortsinn) beschreiben. Stolls Zurückweisung dieser Konzeption zeigt unübersehbare Affinitäten zum Anti-Romantizismus der literarischen Moderne; ihr liegen ähnliche Grundannahmen wie etwa der von T. S. Eliot einige Jahre zuvor 1 8 formulierten »impersonal theory of literature« zugrunde. Modernistische Auffassungen von Literatur werden im Diskurs über Shakespeares elisabethanisches Publikum also in zweifacher W e i s e wirkungsmächtig: Einmal in der Fokussierung auf eine elitäre Minderheit der Theaterbesucher als dem Adressaten der Shakespeareschen Komplexität, zum anderen aber auch in der »neoelisabethanischen« Funktionalisierung des frühneuzeitlichen Theaterbesuchers als bedeutungsentscheidender Legitimationsinstanz. Bereits im Zusammenhang mit den judicious

few

wurde darauf

hingewiesen, dass der »esoterische« Shakespeare (und sein intellektuell anspruchsvolles Zielpublikum) nicht zuletzt auch die Notwendigkeit des universitär ausgebildeten Literaturspezialisten zu untermauern helfen. Professionalisierung und »Verwissenschaftlichung« der Shakespeare Universitätsfaches

Englisch

Studies

zeigen bei

im Zuge der Institutionalisierung des

»neo-elisabethanischen«

Forschern

und

Kritikern nun insofern noch weit deutlicheren Niederschlag, als eine nicht nur implizite, sondern sehr explizite Abgrenzung gegenüber der älteren, oft als »subjektiv« oder »romantisch« etikettierten Shakespearekritik zu beobachten ist. Augenfällig wird dies an Stolls kritischer Haltung gegenüber Creizenach, aber auch dann, wenn Draper schreibt: [...] [T]he present writer cannot accept the subjective interpretations of Shakespeare's Hamlet - cannot accept them, not merely because Professor Bradley and Sir Ε. K. Chambers, perhaps inadvertently, give their case away by admitting that their theories are not

17

18

Elmer Edgar Stoll: Shakespeare Studies. Historical and Comparative in Method. New York 1927, S. 249-251. 1919 in Tradition and the Individual Talent.

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Elizabethan, not merely because these interpretations were late in developing and suspiciously Romantic [meine Hervorhebung] in their point of view, but also because they are not self-consistent, because they do not accord with the Elizabethan concept of melancholy, because they do not accord with a reasonable interpretation of the minor characters and with the obvious prejudices of Shakespeare's courtly audience [...]. 19

Im Grunde vollendet der »Neo-Elizabethanism« eine Entwicklung, deren Wurzeln in der Entstehung der historischen Shakespeareforschung im 19. Jahrhundert liegen. Betrachtet man Shakespeare nicht nur als überzeitliches Phänomen, nicht mehr ausschließlich als Künder allgemeingültiger Weisheiten, sondern zunehmend auch als geschichtliche Erscheinung, kommt man auf Dauer nicht umhin, sich auch mit der Tradition der historischen Apologie Shakespeares, wie sie sich im Diskurs über das elisabethanische Publikum manifestiert, auseinanderzusetzen. Als Konsequenz einer solchen Auseinandersetzung ist die funktionale Umbesetzung der elisabethanischen Theaterbesucher, durchaus logisch: Shakespeares ursprüngliche Zuschauer garantieren nun die historische Triftigkeit der Interpretation. Dabei tritt der Text als offenbarungsähnlicher Ausdruck der Intentionen des Dichtergenies etwas in den Hintergrund. Wie das Beispiel Siegels zeigt, liegt der Schlüssel zur Bedeutung etwa des Merchant of Venice nicht mehr (nur) in dessen überlieferter schriftlicher Fassung, sondern auch in der historischen Situation, in der das Stück entstanden ist. Dort, wo sich die Interpretation aus einer engen Textbezogenheit löst, wird das elisabethanische Publikum, gewissermaßen als Verkörperung des historischen Kontexte, zum Garanten für die Richtigkeit der vertretenen Lesart.

8.2 Konstruktionen von Eindeutigkeit Gerade im Zusammenhang mit dem Konzept der Authentizität dient der neue Blickwinkel auf das elisabethanische Publikum meist dazu, das semantische Potential der Stücke zu regulieren und zu kanalisieren - kurz: »falsche« von »richtigen« Interpretationen - bzw. der richtigen - zu unterscheiden. Wie Draper es beispielhaft formuliert: »There is but one Hamlet, and Shakespeare is its prophet, and all others are false.« 20 Die hier wohl kaum unbeabsichtigt stark an den Koran angelehnte religiöse Diktion macht deutlich, wie umfassend der Anspruch ist, mit dem Draper seine Interpretation vertritt. Dies wird noch offensichtlicher, wenn er fortfährt: [The critic in search of Shakespeare's true meaning] must be willing to sacrifice his dearest preconceptions, to refashion his attitudes literary, moral and social, that he may follow the evidence with an objective and single-minded fidelity: Humanly speaking, this is a tour de force; but the present writer will risk attempting it in the faith that the object is worthy and the method is just, even though mere human incapacity must make this ideal, like all ideals of scope and value, impossible of complete fulfilment. 21

19 20 21

Draper, Hamlet, S. 186. Draper, Hamlet, S. Vn. Draper, Hamlet, S. Vffl.

209

Die neoelisabethanische Herangehensweise an den Dramentext erinnert hier in ihren Voraussetzungen an ein Bekehrungserlebnis (»sacrifice his dearest preconceptions« »refashion his attitudes«) und in ihrem Verlauf an eine Queste (»follow [...] with [...] single-minded fidelity«), deren in Anlehnung an die Sprache christlicher Liturgie (»worthy«, »just«) beschriebenes Objekt sich in letzter Konsequenz als ins Metaphysische entrückt erweist. Eine derart ostentative Parallelisierung der eigenen Forschertätigkeit mit der Suche nach einer höheren metaphysischen Wahrheit ist zunächst befremdlich. In welchem Zusammenhang Drapers Charakterisierung seines Vorgehens zu sehen ist, zeigt allerdings eine nähere Betrachtung der einleitenden Sätze seiner //öm/ef-Monographie: »Many modern critics have read themselves in, or into, the spirit of Hamlet: Coleridge laying emphasis on mental vacillation due to over-thinking, and Hazlitt on the melancholy that is caused by savage loneliness... And yet we can only begin to understand the rudiments of Hamlet by steadily regarding him as an Elizabethan.« Thus Professor Oliver Elton of Oxford concludes his lecture on »Hamlet the Elizabethan.« Indeed, as in a religion, each critic has made his own interpretation of the sacred text, and then passed it down, as in a hierarchy, from professor to pupil. Unfortunately, many of these religions have no more to do with their major prophet than have some of the sects of Christianity or Islam. Professor Bradley appears to think that the true interpretation of the play was unknown to the Elizabethans who crowded the theatre, and began only a hundred and fifty years ago »when the slowly rising sun of Romance began to flush the sky«; and Sir Ε. K. Chambers likewise declares that his interpretation belongs »not to his [Shakespeare's] age but to our own«. 22

Was zunächst ein Vergleich der Shakespeareexegese mit zwei der großen Schriftreligionen ist, wird schnell zu einem unmerklichen Ineinanderübergehen der beiden zunächst getrennten Bereiche: »The sacred text« wird von Draper nicht weiter qualifiziert, »sacred« erscheint als Attribut für die Textgrundlage der Shakespeareexegeten ebenso passend wie für die heilsgeschichtlichen Überlieferungen des Christentums und des Islams. Der Shakespearekanon wird also unversehens zur Schriftreligion, womit wiederum der Begriff der Authentizität - dadurch, dass er immer näher an den Begriff der Wahrheit und die mit ihm verbundenen wertenden Konnotationen rückt - eine neue Qualität bekommt. Ort und Zeit der Entstehung dieser (Heils-)Wahrheit können in diesem Kontext und unter bestimmten Umständen eminent wichtig werden. Der »NeoElizabethanism« kehrt seiner Selbstdefinition zufolge zurück zum »Ursprung« des Textes, dem historischen Kontext des Shakespeareschen Wirkens. Die bisherige Tradition der Shakespearerezeption wird nicht als bewahrend, sondern als korrumpierend aufgefasst; entsprechend heftig fallen die Bemühungen um Abgrenzung gegenüber den etablierten Autoritäten (wie beispielsweise Chambers und Bradley) aus. In gewisser Weise können die Neo-Elisabethaner als die protestantischen Reformatoren der Shakespeareforschung bezeichnet werden; insbesondere in diesem Zusammenhang erscheint es auch nicht als Zufall, dass diese Schule gerade in den Vereinigten Staaten entsteht, deren Selbstverständnis vor allem in der Phase ihrer Entstehung eine Abwendung von der verderbten Alten Welt ja als wesentliches Element mit einschloss.

22

Draper, Hamlet, S. VH.

210

Auch wenn dies bezüglich des christlichen Protestantismus historisch nicht oder nur sehr eingeschränkt der Fall war, so erklärt sich aus Bristols Ausführungen auch, warum der »Neo-Elizabethanism« in aus heutiger Perspektive geradezu halsbrecherischer Weise so überaus großes Gewicht auf die Richtigkeit der einen, »elisabethanischen« (bzw. jakobäischen) Bedeutung legt. Wer zu einem unverderbten Ursprung zurückkehren will, muss auch die Einheit bzw. Eindeutigkeit dieses Ursprungs postulieren, da der eigenen Argumentation ihre Schlagkraft sonst abhanden kommt warum die eigene Interpretation richtig und die bisherigen falsch sein sollen, wäre anders nicht mehr schlüssig zu erklären. In diesem Zusammenhang wird auch verständlich, dass und warum der sonst so anti-romantische »Neo-Elizabethanism« letztendlich ebenso mit einer Hypostasierung des Autors arbeitet wie die Romantiker selbst (nur, dass diese Hypostasierung nicht zu Lasten, sondern zu Gunsten des ursprünglichen Publikums vonstatten geht): Die aus der romantischen Genieästhetik stammende Vorstellung eines »absoluten Autors« verbindet sich mit dem Anspruch der »objektiven« Geschichtsschreibung, wie sie die positivistische Geschichtswissenschaft hervorbringt, nämlich dem einer eindeutig rekonstruierbaren Vergangenheit. In dieser »Geschichte« können die Werke des Autorgenies dann auf eine einzige Art und Weise aufgefasst werden, so dass dessen absolute Subjektivität in der absoluten Objektivität der Vergangenheit - die in der Argumentation des »NeoElizabethanism« sowohl den Autor Shakespeare als auch sein ursprüngliches Publikum umfasst - auf genau eine Art und Weise, die »authentische«, rezipiert wird. Gerade aufgrund dieser Verbindung von »Subjektivität« und »Objektivität« ist der »Neo-Elizabethanism« als zunächst eher randständiges Phänomen für die Weiterentwicklung des Diskurses über Shakespeare und seine ersten Zuschauer von so großer Bedeutung. Die Bedeutung, die den historischen Rahmenbedingungen von Shakespeares Schaffen für die Eingrenzung der möglichen Aussage(n) der Dramen zuerkannt wird, ist allerdings bereits bei den hier unter einer Kategorie abgehandelten Forschern von durchaus unterschiedlicher Art und auch unterschiedlich groß. Wenn Draper in einer bereits zitierten Passage das »social idiom« der englischen Renaissance gesondert von deren »literary idiom« erwähnt, so ist damit eine Begrifflichkeit vorgegeben, mit deren Hilfe wesentliche Unterschiede zwischen einzelnen »NeoElisabethanern« (von denen sich selbst vermutlich keiner als solcher bezeichnet hätte) erfasst werden können. Wesentlich auf das »literarische« Segment des historischen Kontexts stützt sich beispielsweise Ε. E. Stoll, der über Hamlet schreibt: Titus Andronicus had been a revenger before Hamlet, and he too was »not essentially in madness but mad in craft.« If here Shakespeare saw the unplausibleness [sic] of this he ignored it. Unlike Belieferest or the author of the Fratricide Punished, we have seen, he offers no explanation. And if he ignored it, pray, how was the Elizabethan audience to be led to perceive it, or tum it into something psychological, in view of the fact that feigned madness had, in the old play - in any revenge play - in Belieferest himself, been presented as the proper and regular thing? Famam sequere is the precept, nay, the natural principle; and Shakespeare knows that he is observing it, unless he makes his contrary intention unmistakably clear. 23

23

Elmer Edgar Stoll: Hamlet. An Historical and Comparative Study. Minneapolis 1919, S 46f. 211

Auf ähnliche Art wie die Frage, ob Hamlets geistige Umnachtung real oder nur vorgeschützt ist, löst sich für Stoll auch die Frage nach den Gründen für das Zögern des Dänenprinzen, seinen Vater zu rächen: [Hamlet] gives a reason [for delaying his revenge] that is in keeping with other atrocious sentiments and deeds of his in this very play. Indeed, he gives a reason which must already have been offered by the early Hamlet before him, and which, as I take it, no scholar can successfully maintain to have been given otherwise than in perfect good faith. Could, then, the Elizabethan audience, for whom alone the play was written, have understood that the reason presented in all good faith in the old play was now, when retained in the new version, but a shift or a subterfuge? 24

Stoll betont hier vor allem die Rolle der Konvention bzw. der dramatischen Tradition für die Interpretation eines Stückes. Träger dieser Tradition aber ist das elisabethanische Publikum: Die Theaterbesucher verfügen über ein Vorwissen, das es ihnen ermöglicht, aus der Fülle möglicher Bedeutungen die richtige zu isolieren, oder vielmehr: Aufgrund dieses Vorwissens sind die Shakespeareschen Dramen in der Vielfalt ihrer möglichen Inhalte von vornherein reduziert. Entsprechend führt die Einbeziehung des historischen Hintergrunds Stoll in letzter Konsequenz zurück zum Wortsinn des Textes:25 Der Rekurs auf die Rezeptionsbedingungen der Renaissance ermöglicht es, dessen insbesondere durch die modernistisch beeinflusste Shakespearekritik immer wieder beschworene Vieldeutigkeit zugunsten der Eindeutigkeit der expliziten Textaussage in den Hintergrund treten zu lassen. Hamlet wird dadurch -jedenfalls zunächst - »einfacher«. So sieht es auch Lilian Winstanley: My own suggestion would be that Hamlet was probably a good deal simpler for Shakespeare's audience to understand than it is for us; they carried in all likelihood a commentary in their own minds which enabled them to comprehend it more easily than we can. Tolstoy has, in fact, accused Shakespeare of not being a great artist, precisely because Hamlet is so difficult to understand; now as Shakespeare was not only a great artist, but, also, as we know him to have been, a popular dramatist of intense appeal, the difficulty is probably one which exists mainly for later commentators and did not exist to the same extent for the original audience. 26

Für Stoll stehen Einfachheit und Eindeutigkeit der Shakespeareschen Dramen in engem Zusammenhang mit der von ihm immer wieder betonten - und keineswegs negativ bewerteten - Primitivität des englischen Renaissance-Theaters und seiner Besucher. Sein Eintreten für eine Rückkehr zum Wortsinn des Dramentextes be-

24 25

26

Stoll, Hamlet, S. 56. Auch hierin gleicht der »Neo-Elizabethanism« dem Protestantismus, ging es doch Luther wie Tyndale genau darum, den Literalsinn der Heiligen Schrift aus dem Wust der allegorischen, typologischen und anagogischen Interpretationen herauszuschälen. Lilian Winstanley: Hamlet and the Scottish Succession. Being an Examination of the Relations of the Play of Hamlet to the Scottish Succession and the Essex Conspiracy. Cambridge 1921, S. 73.

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gründet er damit, dass das Publikum im Globe nur die explizite Aussage des Textes wahrgenommen und Shakespeare selbst auch nur diese Form der Rezeption intendiert habe. Der Blickwinkel des elisabethanischen Publikums sei - in seiner Simplizität - deshalb der einzige, den der Kritiker und Forscher legitimerweise einnehmen könne und dürfe. 27 Winstanleys Zielsetzung dagegen ist eine andere. »Einfach« sind Shakespeares Dramen vielleicht für seine zeitgenössischen Zuschauer, nicht aber für den modernen Leser. Um die ursprüngliche Eindeutigkeit und Verständlichkeit der Stücke wiederherzustellen, muss deshalb der »Kommentar«, der dem ursprünglichen Publikum zur Verfügung stand, rekonstruiert werden. Die mit Rekurs auf die elisabethanischen Theaterbesucher begründete »Eindeutigkeit« der Stücke nimmt entsprechend bei Winstanley ganz andere Formen an als bei Stoll. Während dieser von einer durch den Text in seiner literarischen Tradition generierten Unmissverständlichkeit ausgeht, geschieht diese Vereindeutigung bei Winstanley, ähnlich wie bei Draper, erst durch den historischen Kontext, durch den elisabethanischen Zeitgeist, wie er sich im Publikum des Globe manifestiert: »Is it not probable that Shakespeare selected his material and chose his plot largely that his play might appeal to interests then paramount in the minds of his audience? Surely nothing can be more plausible?« 28 Dass die Fragen für Winstanley rein rhetorische sind, zeigen schon die Titel ihrer einschlägigen Publikationen: Titel wie Hamlet and the Scottish Succession. Being an Examination of the Relations of the Play of Hamlet to the Scottish Succession and the Essex Conspiracy oder Macbeth, King Lear and Contemporary History: being a study of the relation of the play of Macbeth to the personal history of James I, the Darnley murder and the St. Bartholomew Massacre, and also of King Lear as symbolic mythology (Cambridge 1922) nehmen nicht nur die Ergebnisse der jeweiligen Untersuchung vorweg, sondern auch deren literaturtheoretische Prämissen: Shakespeares Stücke werden, soviel zeigt schon der Blick auf das jeweilige Titelblatt, erst vor ihrem historischen Hintergrund überhaupt les- und verstehbar. 29 Dieses Vorwissen steht nach Winstanley nicht nur der Gesamtheit des elisabethanischen Publikums selbstverständlich zur Verfügung, die geschilderten Assoziationen drängen sich darüber hinaus derart auf, dass das jeweils diskutierte Stück für seine ursprünglichen Rezipienten über eine klare und eindeutige Bedeutung verfügt haben muss, die Winstanley in ihren Untersuchungen nun als die »authentische« beschreiben kann. Anders als bei Stoll geht es hier klar nicht um die Situierung Shakespeares in einer literarischen Tradition, sondern um das, was Draper als social idiom bezeichnet: Die Bühne erscheint ihr nicht so sehr als moralische, sondern vielmehr als politische Anstalt, und zwar aus folgenden Gründen: 1. The Elizabethans and Jacobeans had no newspapers and were not allowed the right of discussing political affairs on the public platform. Consequently they expected the stage to play the part of both newspaper and platform. The stage of Shakespeare's day was continually and closely associated with politics.

27 28 29

Stoll, Hamlet, S. 42. Winstanley, Hamlet, S. 14. Dies soll wohl nicht zuletzt die historistische Mimikry der »elisabethanisierten« Titel verdeutlichen.

213

2. A rigorous censorship was exercised over the stage. It was forbidden to represent contemporary monarchs upon the stage even if they were represented in a favourable light. Any individual, whatever his rank, who found himself criticised upon the stage, could apply to the Court of Star Chamber for a veto, and such applications were frequent. Thus the dramatists had the strongest possible motives (a) for representing politics and contemporary history upon the stage, (b) for evading the censorship by representing their politics or history in some convenient disguise. 30

Gerade aus heutiger Perspektive ist diese Argumentation ebenso aufschlussreich wie problembehaftet. Selbst wer Winstanley bezüglich des ersten Punktes nicht direkt zustimmen mag (die Annahme, dass die Elisabethaner etwas erwarteten, was sie gar nicht kannten, ist logisch einigermaßen skurril), wird sich unter dem Eindruck von New Historicism und Cultural Materialism doch schwer tun, ihr zu widersprechen. In mancherlei Hinsicht nimmt der heute teilweise so angreifbar erscheinende »NeoElizabethanism« durchaus zentrale Punkte neuerer und neuester Entwicklungen in der Shakespearerezeption vorweg. Als durchweg problembehaftet erweist sich dabei aber das Postulat der Eindeutigkeit der Stücke. Auch Winstanley bewegt sich auf überaus unsicherem Terrain, wenn sie einerseits behauptet, die Dramen hätten ihre politischen Inhalte mithilfe einer »convenient disguise« durch die staatliche Zensur geschmuggelt, andererseits aber davon ausgeht, dass diese Botschaften als die »authentische Bedeutung« des Stückes für die Zuschauer als Kollektiv offensichtlich und eindeutig erkennbar gewesen seien. Wieso waren sie es dann nicht für die Zensur? Die Frage drängt sich auf, was wohl zuerst da war - die »Verschlüsselung« der Dramen durch Shakespeare oder ihre »Entschlüsselung« durch den Forscher.31 Darüber hinaus setzt ein derart doppelbödiges und verklausuliertes Drama auf Seiten der Zuschauer eine nicht unbeträchtliche intellektuelle Leistungsfähigkeit voraus was in einem gewissen Gegensatz dazu steht, dass die Theaterbesucher der Renaissance über weite Strecken auch im »Neo-Elizabethanism« mehrheitlich als die rüden Rabauken dargestellt werden, als die man sie schon im 18. und 19. Jahrhundert gesehen hatte. Auch Draper selbst konzentriert sich auf dieses social idiom, wenn es ihm auch, anders als Winstanley, eher um die Bewertung einzelner Figuren und ihrer Handlun-

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31

Lilian Winstanley: Macbeth, King Lear & Contemporary History. Being a Study of the Relations of the Play of Macbeth to the Personal History of James I, the Darnley Murder and the St Bartholomew Massacre and also of King Lear as Symbolic Mythology. Cambridge 1922, S. 3f. Hier ergeben sich in der Argumentationsweise Analogien zu den von den AntiStratfordians vorgebrachten Verschwörungstheorien. Deren Problematik bringt Ingeborg Boltz im Shakespeare-Handbuch folgendermaßen auf den Punkt: »Da es sich bei der Identitätsverheimlichung [d.h. bei der Verheimlichung der Identität des wahren Autors der >Shakespeareschen< Dramen] [...] um eine Verschwörung beträchtlichen Ausmaßes gehandelt haben muss (Shakespeares Kollegen und die Herausgeber seiner Werke mussten zu einem gewissen Grad eingeweiht sein, wie auch das persönliche Umfeld des Alternativkandidaten), erscheint es zumindest bemerkenswert, dass das Geheimnis dreihundert Jahre gewahrt blieb, bis sich engagierte Amateurforscherinnen und Hobbydetektive (denn vornehmlich aus dieser Spezies rekrutiert sich die antistratfordianische Bewegung) des Falles annahmen.« (Shakespeare-Handbuch. Die Zeit - Der Mensch - Das Werk - Die Nachwelt. Herausgegeben von Ina Schabert. 4. Auflage Stuttgart 2000, S. 186.) Die Frage nach der zeitlichen Abfolge von Verrätselung und Enträtselung stellt sich hier also sehr ähnlich..

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gen durch das elisabethanische Publikum geht als um die Enträtselung eines verschlüsselten Kommentars zu politischen Ereignissen der Shakespearezeit. Wie Draper dabei argumentativ vorgeht, sollte an den bereits zitierten Passagen deutlich geworden sein; doch auch vor diesem Hintergrund sind die von ihm formulierten Positionen immer wieder überraschend. So schreibt er über die Dänenkönigin Gertrude und ihren zweiten Gatten: [...] [T]he marriage of Gertrude and Claudius was a political necessity, obvious to the Elizabethans, and aggravated by the danger of rebellion in Norway. Perhaps Gertrude should have »mourn'd longer«; doubtless strict propriety would have looked on a marriage within a »month« as »o'erhasty«; and perhaps she should have stayed the election until Hamlet could present himself as a candidate; but neither Polonius nor the other nobles and courtiers question either the legality or the expediency of what was done; and one must not forget that sixteenth-century England willingly accepted the matrimonial experiments of Henry VIE, if only he would have a male heir to settle the succession, and so save England from the danger of another War of the Roses. Surely, the Elizabethans would see Gertrude's marriage in a similar light; and the additional dangers of revolt in Norway and in England would make it seem not only expedient but politically unavoidable. 32

Wie auch andernorts ist Draper hier schwer zu widerlegen; seine Beweisführung ist jedoch keineswegs so zwingend, wie sein eigener Anspruch dies eigentlich erfordert: »[...] [I]f one is to seek [...] the meaning, rather than merely a meaning [...] one should set forth with [...] evidence the reason why this interpretation, rather than any other, is indeed the one that Shakespeare meant and that his audience gathered from the performance« 33 - letztlich kann Draper genauso wenig wie irgendjemand sonst letztgründig »beweisen« was »die Elisabethaner« dachten oder nicht dachten. In der Rhetorik des »Neo-Elizabethanism« allerdings werden Shakespeares auktoriale Intention und seine Rezeption durch das elisabethanische Publikum als ebenso deckungsgleich wie empirisch rekonstruierbar (»evidence«) dargestellt. »[Neo-Elizabethanism] claims the sanction of scientific and historical objectivity« 34 - zumindest, was Draper und Winstanley angeht, ist diese Aussage keineswegs übertrieben, und sie gibt einen weiteren Hinweis darauf, worin die Gründe für den Ausschließlichkeitsanspruch dieser Forscher zu suchen sind. Als universitäre Disziplin ist die Literaturwissenschaft in höherem Maße als zuvor der direkten Konkurrenz mit den Naturwissenschaften ausgesetzt. Der Ansatz der »Neo-Elisabethaner« kann auch als Versuch gewertet werden, diese wenn nicht mit den eigenen Mitteln (denen der Empirie) zu schlagen, so ihnen doch wenigstens ebenbürtig zu begegnen. Nicht alle Forscher, die die frühneuzeitlichen Theaterbesucher bei der Festlegung der »korrekten« Interpretation eines Stückes als Instanz anführen, erheben einen so umfassenden Anspruch wie Draper. Die neue Funktionalisierung des elisabethanischen Publikums erfolgt durchaus auch in nuancierterer Form, wobei oft Verbindungen zu älteren Traditionen des Diskurses über Shakespeares ursprüngliche

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Draper, Hamlet, S. 119f. Draper, Twelfth Night, S. IX. Spencer, This Elizabethan Shakespeare, S. 537.

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Zuschauer deutlich werden. So schreibt beispielsweise W. W. Lawrence über All 's Well that Ends Well: [Shakespeare's] artistic methods were not those of a modern dramatist, nor were the reactions of an audience in the Globe Theater those of an audience today. Any criticism which fails to take account of these facts is bound to come to shipwreck sooner or later. Most explanations of the alleged faulty psychology of the play, and its disagreeable tone, completely ignore differences between Elizabethan and modern conditions. [...] Before we can accuse Shakspere, as Barrett Wendell did, of »treating the fact of love with a cynical irony almost worthy of a modern Frenchman«, we must be sure that the seemingly ironical quality in his work is not susceptible of another explanation. We must reckon with a very different attitude towards moral issues, and a different popular psychology, and we must pay particular attention to what was liked on the stage at the time when All's Well was written. [...] I do not seek to prove that the play is a pleasant one, or that it seemed so to the playgoers for whom Shakespeare wrote. But I do believe that it is far more unsavoury to us than it was to them, and that the effect which it was intended to create has been generally misunderstood. In the last analysis, I believe that it reveals quite the reverse of the pessimism with which it has so often been reproached, and justifies the conviction that Shakspere is here, as elsewhere, fundamentally optimistic. 35

Lawrence führt die Shakespeare und seinem elisabethanischen Publikum gemeinsamen historisch-kulturellen Rahmenbedingungen ins Feld, um die gegen moderne Sensibilitäten verstoßenden Elemente des plot von All's Well zu entkräften und das Stück so mit dem vorherrschenden Bild des »Barden« in Übereinstimmung zu bringen. Shakespeares ursprüngliche Zuschauer, so Lawrence, nahmen das Stück weder als pessimistisch noch als zynisch oder ironisch wahr. Mit dieser Feststellung ist das Stück keine Anfechtung mehr für das Konstrukt eines »optimistischen« Shakespeare, sondern bestätigt dieses als historisch authentisch. Kritik und Forschung müssen sich nur die zeitgenössische Sicht auf das Drama zu eigen machen, um zu erkennen, dass sie recht haben. Wieder einmal dient also das elisabethanische Publikum als Hilfskonstruktion bei der Schaffung eines Shakespeares nach Maß - diesmal nicht als Sündenbock, sondern als Instanz, der letztendlich zusammen mit dem Autor die Definitionsmacht über das Stück zuerkannt wird. Obwohl die Neo-Elisabethaner die historischen Elisabethaner als Instanz für die eine »richtige« Bedeutung des Textes bemühen, gehen sie keineswegs immer von einer homogenen Zusammensetzung des Shakespearepublikums aus. Die Problematik dieser Position zeigt sich besonders deutlich bei Draper, für den die Theaterbesucher der Renaissance als Argumentationshilfe eine weit größere Rolle spielen als für Lawrence. Draper sieht die Eindeutigkeit und Klarheit des Textes, wie sie die Annahme einer einzigen »richtigen« Textauslegung ja impliziert, in engem Zusammenhang mit zwei Faktoren: der Eigenart des elisabethanischen Publikums und dem Entwicklungsstand der englischen Sprache zur Zeit Shakespeares. So schreibt er über Twelfth Night: An audience, in part inattentive and of low intelligence, required a clear and careful exposition of the initial situation of the play, and Shakespeare explains Olivia's unusual and anomalous position in three successive scenes. The language problem also made such repe-

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William Witherle Lawrence: The Meaning of All's Well that Ends Well. In: PMLA 37 (1922), S.418—469. Hier: S. 422ff.

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tition necessary. For centuries, Latin had been the vehicle for ideas and exposition, and Elizabethan English, as the language of the crowd rather than of the closet, was too loose in syntax and too inexact in diction to lend itself to the necessities of accurate statement. [...] Thus, both his audience and his language obliged Shakespeare to reiterate and again reiterate the facts of Olivia's bereavement and her consequent independence, and likewise to assure the listener again and yet again that Sir Andrew is a rich fool and a coward. 36 S o w o h l b e z ü g l i c h der Sprache w i e auch b e z ü g l i c h der Zuschauer betont Draper, ähnlich w i e Stoll, den A s p e k t des Unentwickelten, Primitiven. D i e traditionell negative Reputation insbesondere der groundlings

dient dabei nicht zuletzt auch dazu,

Shakespeares Verstöße g e g e n die K o n v e n t i o n e n des p s y c h o l o g i s c h e n Realismus als Resultat seiner historischen Situation zu erklären: Elizabethan audiences were none too high in average intelligence - if one accepts Hamlet's estimate of the groundlings; and certain conventions of the stage were rather clearly calculated to assist their understanding of plot and character. Soliloquies and asides, for example, must always express the sincere belief of the speakers - even if these beliefs be wrong [...]. [...] This device is particularly useful to set forth feelings and motives that the characters would naturally conceal. In Elizabethan plays, moreover, with their several plots and many roles, a valuable convention decreed either that an important figure at his first entrance should show his social caste and relation to the others by dress or word or action as the Duke does in the first scene [of Twelfth Night], or that he be explained by others just before his entrance as Sir Andrew is by Sir Toby and Maria. Thus, the complicated pattern of the piece is carefully unrolled, and the exposition of the initial elements is clearly and quickly managed; if the groundlings did not understand, they would become noisy and spoil the play for the judicious. 3 7 D i e v o n Draper so sehr betonte Eindeutigkeit der Shakespeareschen Dramen steht in g e w i s s e m Widerspruch dazu, dass er sich hier als Anhänger der T h e s e v o m »geteilten« Publikum zu erkennen gibt. W i e i m vorigen Kapitel dargelegt, geht die A n nahme eines derart gespaltenen Publikums meist Hand in Hand mit der Theorie, dass ein- und dasselbe Stück über mehrere B e d e u t u n g s e b e n e n verfügt, o b diese nun im erklärten Gegensatz zueinander stehen w i e im Falle einer »ironischen« Interpretation, oder o b sich dieselbe B e d e u t u n g unterschiedlichen Zuschauergruppen in unterschiedlichem M a ß e erschließt. In j e d e m Fall macht die A n n a h m e eines heterog e n e n Publikums d e s s e n Funktionalisierung als Garant für die Richtigkeit der einen authentischen Interpretation im Grunde w e n n nicht hinfällig, so d o c h schwieriger. Ungeachtet d e s s e n findet sich dieselbe A u f f a s s u n g v o n der Z u s a m m e n s e t z u n g des elisabethanischen Theaterpublikums auch i m bereits zitierten Aufsatz v o n W. W . Lawrence zu All's

Well that Ends

Welt

The important thing is that Shakspere's plays are to be judged, not by the works of Hall or Overbury, who wrote for a small circle, and were in no wise representative of the general thought of their time, but by the literature with which the audiences of Shakspere were familiar, literature which had proved its right to be remembered through generations of men, high and low, rich and poor. An admirable means of getting an idea of this literature is afforded by the list of books in Captain Cox's library, which may be conveniently found in Furaivall's delightful edition of Robert Lanehams Letters, a list which affords, as the editor puts it, »a view of the literature in which the reading members of the English middle class

36 37

Draper, Twelfth Night, S. 240f. Draper, Twelfth Night, S. 5. 217

in Elizabeth's time were brought up.« [...] The plays of Shakspere were written in large measure for the Captain Coxes of his day, and for the even less educated fellows who crowded the pit of his theater and upon whose pleasure the success of any public play largely depended. An appeal to the more cultured in the galleries and on the stage was no less possible; but such subtleties as appealed to them did not bother the vulgar, any more than they disturb people today who like Hamlet or Othello chiefly as melodrama. If the finest things in the plays of Shakspere were not for the groundlings, the bone and sinew of them, the simple broad lines of the story, could be understood by just this class, and were meant to be. Some exception must, of course, be made in the case of plays obviously designed for court circles, but All's Well was not one of these. The piece which we are discussing did not mean one thing to Captain Cox and another to a man like the Earl of Southampton; it merely carried the more cultured man further, into a region of thought and emotion and artistic appreciation which the plainer citizen could not penetrate.38

»The general thought of [the] time« dient Lawrence wie Draper als Argumentationsgrundlage, wobei Lawrence diese elisabethanische Mentalität für seine Zwecke explizit als gesellschaftliche Unterschiede nivellierend und (maximal) »middlebrow«, also als intellektuell nicht elitär oder exklusiv, kennzeichnet. Seine Rekonstruktion dieser kollektiven Verfasstheit stützt sich dabei insbesondere auf volkstümliche literarische Traditionen, aus denen er eine bestimmte ethisch-moralische Bewertung des diskutierten Stücks herleitet. Während Lawrence sich also innerhalb der Grenzen des im engeren Sinne Literarischen bewegt, zielt der Ansatz Drapers und der Winstanleys noch viel klarer - auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge ab, die den Rahmen einer ästhetischen Fragestellung deutlich sprengen. In Bezug auf The Hamlet of Shakespeare's Audience charakterisiert der bereits zitierte Spencer dieses Erkenntnisinteresse - durchaus in polemischer Zuspitzung - folgendermaßen: [Draper's] assumption is that the Elizabethans attended the theatre for clarification of political problems, that they were concerned not with the consequences of political action, but with politics per se, that Shakespeare and his audience assessed the characters in terms of political ends, not means. 39

Akzeptiert man diese Diagnose auch nur teilweise als zutreffend, dann wird deutlich, dass sich bezüglich der These eines in (mindestens) zwei Teile gespaltenen Publikums gerade in dieser Hinsicht Probleme ergeben. Wenn Hamlet tatsächlich das Traktat über politische Tagesthemen ist, als das Draper es darstellt, und wenn diese Interpretation des Stückes die einzig zulässige ist, dann liegt auf der Hand, dass ein im Durchschnitt eher unaufmerksames und wenig intelligentes Publikum und dieser traditionellen Sicht der groundlings schließt Draper sich an - dem Stück kaum gerecht werden kann. »Der Hamlet des elisabethanischen Publikums« wäre dann ein Hamlet, den dieses Publikum mehrheitlich nicht versteht, und der »NeoElizabethanism« hätte seine eigene Legitimationsinstanz demontiert.

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Lawrence, All's Well, S. 447f. Spencer, Elizabethan Shakespeare, S. 539.

8.3 Spezialistentum versus common-sense

approach

Abgesehen von diesem inhärenten Widerspruch stellt sich aber auch die Frage, inwieweit die elisabethanische Bedeutung der Stücke für Rezipienten, die nicht die ursprünglichen sind, von Relevanz sein muss, kann oder sollte. Diese Problematik deutet sich bei Winstanley an, wenn sie schreibt: The moment we attempt to place ourselves at the same angle of vision as an Elizabethan audience we see many things in a different light; many problems solve themselves quite simply; but, on the other hand, many are suggested which do not occur to the modern reader, and which nevertheless surely demand solution if we are to comprehend Shakespeare fully and completely. 40

Die für den frühneuzeitlichen Rezipienten gegebene »Einfachheit« und »Unmissverständlichkeit« der Dramen resultiert hier also keinesfalls in einer ähnlich unmittelbaren Zugänglichkeit für den modernen Leser. Vielmehr bedarf sie der Rekonstruktion - und damit des Spezialwissens des Shakespeareforschers. Denn: »[...] Shakespeare's meaning, in so far as it can be learned, is the only true or important meaning, the only meaning that a teacher has any right to ask his classes to spend their time in learning, or that a critic has any right to present before his readers.« 41 Die Tätigkeiten des Lehrenden bzw. des Forschenden (die die meisten Universitätslehrer ja in sich vereinen) legitimieren sich also aus der Vermittlung historische Authentizität, gewissermaßen der »Wahrheit« des Textes (und des Autors). Damit führt der »Neo-Elizabethanism« paradigmatisch vor Augen, inwiefern eine dezidiert historisch ausgerichtete Interpretation und Analyse der Shakespeareschen Dramen dabei hilft, die Notwendigkeit einer spezialisierten Shakespeareforschung zu begründen. Andererseits ist zu beobachten, dass das Verhältnis der Forscher zu ihrem Spezialistentum alles andere als ein ungebrochenes ist. Dies zeigen insbesondere die Publikationen Ε. E. Stolls. Mehrfach wendet sich dieser gegen ein Shakespeareverständnis, das einem akademisch-intellektuellen Zugang zu dessen Werken Priorität über andere mögliche Arten der Annäherung einräumt: Elizabethan Drama, says a contemporary neo-Baconian, [...] »is not the simple, straightforward thing that Mr. Drinkwater supposes it to be; but it is, on the contrary, complex, difficult, symbolic, topical, and double-minded to the last degree.« In that the neoBaconian finds his satisfaction. The only imaginable way, then, for an audience to find any is themselves to have no inkling of this complexity; and since for them Elizabethan drama was intended, and of Shakespeare's own writing less than half got into print before his death, his complexity was - incredible in an artist - repeatedly thrown away. 42

Nicht nur die neo-Baconians konzentrieren sich auf Doppelbödigkeit, Mehrdeutigkeit und Verklausuliertheit der Dramen, sondern auch bedeutende Teile der seriösen Kritik und Forschung desjenigen Zeitraums, in dem auch Stoll schreibt. Dadurch, dass er sie auf eine Stufe mit den Anti-Stratfordians stellt, lässt Stoll natürlich eine ausgesprochene Geringschätzung für eine Sichtweise erkennen, die aufgrund der

40 41 42

Winstanley, Hamlet, S. 3. Draper, Hamlet, S. 5. Elmer Edgar Stoll: Shakespeare and other Masters [1940]. New York 1962, S. 3.

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»Komplexität« der Stücke - die Stoll als Konstrukt betrachtet - die Notwendigkeit einer Analyse durch den Experten postuliert. Gegen die im vorigen Kapitel diskutierte Privilegierung einer verständigen Minderheit als Shakespeares eigentlichem Zielpublikums beharrt Stoll darauf, dass das Verhältnis zwischen Dramatiker und Zuschauern in ihrer Gesamtheit von einer grundlegenden Übereinstimmung geprägt gewesen sei, die - und darin schließt er sich der Darstellung der spätviktorianischen Literaturgeschichten an - die Basis für die Entwicklung und schließlich auch die herausragende Qualität des elisabethanischen Dramas darstelle: [The spectators'] taste and the dramatist's and the company's were fairly at one; and that [...] is the secret of the enormous, headlong development of Elizabethan drama. It is in large part the secret of the development of Shakespeare's own. Dramatist, company and audience, in such plays as Damon and Phytias and Cambyses, began on the same simple and humble level; and together - because together - they steadily and swiftly climbed the heights. Tragicomic medleys or romantic-clownish farces were rapidly transforming into the tragedies or comedies of mingled web that we now consider immortal. After a single decade popular plays like the old Hamlet and the old Taming of a Shrew had, when revived, to be recast and rewritten. The dramatists, of course, led, but never so fast or far that the company and audience failed to follow. 43

Implizit wird hier auch eine Gegenposition zu Pounds »Great art is never popular to start with« als Ausdruck eines avantgardistischen Kunstverständnisses bezogen: Die künstlerischen Ausnahmeleistungen des englischen Renaissancedramas beruhen für Stoll gerade darauf, dass sie niemals den Bezug zur popular tradition verlieren. Seine positive Sicht des elisabethanischen Volkstheaters und seiner Besucher geht auch bezüglich der eigenen Gegenwart mit einer klaren Parteinahme einher. Schon in seiner Analyse des Hamlet hatte Stoll Parallelen zwischen dem Publikum der Shakespearezeit und einem bestimmten Sektor der amerikanischen Öffentlichkeit gezogen: Since [Hamlet] exhibits no plan, the reflective reader today may, with Professor Bradley, well shake his head at one so ready to die »with a sacred duty still undone«; but the unlettered audience is with him now more than ever, and joins in the judgment of audiences long ago at the Globe. If their point of view be taken (and what other are we entitled to take?) Shakespeare here again at the end has not been portraying the impotence of Hamlet's character but has been handling a situation, hedged about with difficulties, with consummate tact.44

Stolls so scheinbar lückenlos vorgetragene Argumentation lässt beinahe vergessen, dass Shakespeares ursprüngliche Zuschauer eines nicht hinterlassen haben: einen Hamlet-Kommentai. Die Aussage, dass ein einfaches Publikum sich dem Urteil der frühneuzeitlichen Theaterbesucher auch heute noch anschließe, ist eine historische Rückwärtsprojektion: Einigermaßen gesicherte Erkenntnisse hat Stoll nur über die eigene Gegenwart (und auch hier fragt man sich, wie oft der hochspezialisierte Akademiker Stoll tatsächlich mit einer unlettered audience konfrontiert war). Hinsichtlich der Shakespearezeit bewegt er sich im Bereich bloßer Vermutungen. Durch die Konstruktion einer quasi transhistorischen Interpretationsgemeinschaft mir dem

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Stoll, Shakespeare and other Masters, S. 95. Stoll, Hamlet, S. 42.

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englischen Publikum der frühen Neuzeit bewirkt Stoll allerdings eine Aufwertung derjenigen Theaterbesucher, die im Amerika der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als lowbrow etikettiert werden. Entscheidend ist, was er nur in Klammern anmerkt: »What other [point of view than that of an unlettered audience] are we entitled to take?« Die Frage ist rhetorisch. Shakespeare gerecht zu werden, bedeutet fur Stoll, dass der Kritiker sich auf den Standpunkt genau dieses Publikums begeben muss. Die Anerkennung der historischen Alterität des Shakespeareschen Dramas und seiner ursprünglichen Zuschauer beinhaltet dabei auch eine Kritik an den »Intellektuellen«, der »Avantgarde« seiner eigenen Zeit. So schreibt Stoll über Othello: The mere fact that time and occasion for [Desdemona's] infidelity might easily have been provided, as Mr. Archer says, »by a few strokes of the pen«, and that Othello might easily have been ensnared, not in one scene but less precipitately in two or three, proves that in neither matter there is an 'inadvertence' and that the poet and his audience had aesthetic interests and conceptions rather different from those current in highbrow circles today. 45

Stolls Polemik richtet sich dabei nicht zuletzt auch gegen ein spezielles Segment dieser »highbrow circles« - den eigenen Berufsstand: A hero defective or frustrate, »stagy« or »hysterical« - what would Aristotle or Longinus, Aeschylus or Sophocles, have said to that, not to mention the sound and solid Athenian or Elizabethan spectators? Now [Shakespeare's] or any other playwright's plays have, as Mr. Lawrence says, 'not two meanings, one for the pit and the other for the gallery'51, one for the lowbrow, another for the high, still less one for the stage, another for the closet, and least of all, as in sparing the King at prayer, meanings »exactly opposite«. If both are capable spectators, the highbrow enjoys the play as the lowbrow does, only more keenly and deeply. Spengler's notion that classical art is popular, the Gothic esoteric, does not hold for Shakespeare at any rate, who in his own day both was popular and intended to be, above all in [Hamlet], Hamlet (together with the old Hamlet) certainly contains [everything necessary for it to be comprehended and relished]; and scholarship is to little purpose expect to remove the obstacles in the way - chiefly those of scholarship and criticism. 46

»Sound and solid« ist hier zweifelsfrei ein Kompliment, und zwar eines, das Stoll seinen Kollegen wohl kaum aussprechen würde. Dennoch festigt er, ähnlich wie Draper, paradoxerweise gerade durch die vehemente Kritik an den Traditionen der Shakespearerezeption seine eigene Position als Forscher und Kritiker, und zwar nicht nur insofern, als seine Haltung sich gerade durch die entschiedene Wendung gegen frühere Positionen besonders profiliert. Warum der common sense-approach für die Legitimation der professionellen Beschäftigung mit Shakespeare (und anderen Autoren) bestimmte unabweisliche Vorteile birgt, zeigt ein Kommentar Spencers über das insbesondere von Draper, aber auch von anderen propagierte neue »Spezialistentum«: What are the consequences of this insistence that the only way to Shakespeare is through the strait gate of Elizabethanism? What is Shakespeare's future if, as a recent scholar has put it, »it is necessary to read and understand that body of erudition to which the poets and dramatists had access«? The most obvious and deplorable consequence will be the discouraging of an interest in Shakespeare among those sensitive and intelligent readers who, re-

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Stoll, Shakespeare and Other Masters, S. 202. Stoll, Shakespeare and Other Masters, S. 187f.

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sponsive though they be to poetic and dramatic idioms and conventions, cannot and do not wish to be Elizabethan specialists. Shakespeare as a central figure in a liberal and humanistic education must be abandoned. For if a meticulous knowledge of Elizabethan psychology, demonology, cosmology, and statecraft is made the sine qua non of a reasonable comprehension of Shakespeare's tragic and comic art, then the bard can belong only to a few contending cliques of scholars. And perhaps to them he will be an empty treasure if, thus hoarded, he must cease to be currency among the rest of men. 47

Bezüglich des »neoelisabethanischen« Shakespeares stellt sich also im Grunde genau dasselbe Problem wie im Falle eines sich an eine exklusive Minderheit richtenden Verfassers hochkomplexer, um nicht zu sagen esoterischer Stücke: Was einerseits die Notwendigkeit einer spezialisierten Shakespeareforschung beweist, koppelt die Disziplin andererseits von der breiten Allgemeinheit ab. Wenn die durch die Forschung offengelegten Bedeutungen der Dramen zu esoterisch oder, wie im Falle des »Neo-Elizabethanism«, historisch zu spezifisch werden, dann gefährden sie den Status Shakespeares als kultureller Identifikationsfigur, da sie sowohl seine Allgemeinverbindlichkeit als auch seine Überzeitlichkeit in Frage stellen. Dies gilt umso mehr dort, wo Forscher wie Draper Anspruch auf ein Interpretationsmonopol erheben, die die »historisch authentische« Bedeutung als die einzig richtige darstellen, und alle anderen, einschließlich die vom common reader wahrgenommenen, als falsch ablehnen. Gerade in diesem Punkt tendiert Stoll allerdings zu einer deutlich anderen Auffassung: Shakespeares Dramen bedürfen gerade nicht der Deutung durch den Spezialisten; im Gegenteil, je unspezialisierter und »unintellektueller« das Publikum, desto »authentischer« ist sein Shakespeare-Erlebnis. Wenn Stoll nur eingeschränkt als »Neo-Elisabethaner« klassifiziert werden kann, dann auch aufgrund seiner im Vergleich zu Draper und Winstanley eher unpolitischen Sicht der Renaissancebühne, die der Sphäre des Ästhetischen gegenüber dem social idiom den Vorzug gibt. Er präsentiert die Engländer der frühen Neuzeit nicht primär als Teilnehmende am politischen Tagegeschehen, sondern als Erben und Träger einer kulturellen und insbesondere literarischen Tradition: The fundamental difference between [Stoll] and Mr. Draper lies in the fact that he views the Elizabethans not primarily as politically-minded subjects but rather as inheritors of a long cultural tradition - inheritors whose »memory« was responsive to the accumulated variety and richness of that tradition. That is, while Professor Stoll wishes to view the plays as would an Elizabethan, he does not ignore the fact that what is most significant in the dramas appealed to the Elizabethans as men rather than as Elizabethans.48

Genau dadurch aber, dass sie nicht als politische Individuen oder gar ein politisches Kollektiv erscheinen, können Shakespeares ursprüngliche Zuschauer, ganz anders als etwa bei Draper, zu Garanten für die Überzeitlichkeit und Allgemeinverbindlichkeit des »Barden« in seiner Eigenschaft als kultureller Identifikationsfigur werden. Während Stolls Variante also Shakespeares Status als cultural icon konsolidieren hilft, ist das bereits vorhandene kulturelle Prestige des »Barden« eine Grundvoraussetzung dafür, dass etwa Draper und Winstanley der »historisch echten« Bedeutung

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Spencer, Elizabethan Shakespeare, S. 544f. Spencer, This Elizabethan Shakespeare, S. 546f.

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ein derart großes Gewicht zumessen können: Die Authentizität der Textinterpretation ist erst nach erfolgter Kanonisierung des Textes von Interesse. Des weiteren behält Stoll, anders als die beiden Letztgenannten, einen autonomen Kunstbegriff bei. Das Drama als Kunstform wird unter Rückgriff auf die literarische Tradition verständlich, also letztendlich aus sich selbst heraus. Genau dies sehen weniger moderate Vertreter des »Neo-Elizabethanism« anders, und genau dies trifft auf heftige Kritik: Mr. Draper is reading Shakespeare precisely as did Walt Whitman, who felt that the American mind would be chiefly impressed by the feudal element in Shakespeare's plays and not by the private virtues and devotion. In Elizabethan as in Grecian tragedy the utilization of kings implies not necessarily a concern with kingship per se; rather were royal themes and settings employed to enhance the significance of the individuals involved and to heighten the broadly human, as opposed to narrow political, conflicts - as, for instance, in Antony and Cleopatra. To regard Shakespeare's plays otherwise is to make them dominantly propaganda; that is, referable above all to current political practices and designed above all to effect political changes. 49

Wenn die Personen des Dramas nicht mehr als »Individuen« verstanden werden können, d.h. als in sich abgeschlossene und aus sich selbst heraus verständliche Geschöpfe eines autonomen Künstlers, sondern als Reflex auf die gesellschaftlichen Konflikte der Entstehungszeit eines gegebenen Stücks erscheinen, so impliziert dies in literarischer bzw. literaturtheoretischer Hinsicht auch eine Abwendung vom romantischen Konzept des Autorgenies. Einerseits fuhrt diese »Relativierung« des kreativen Akts zu einem Wegfall oder zumindest einer Verminderung der Notwendigkeit, den Autor in jeder Hinsicht als unangreifbar und normkonform zu präsentieren. Andererseits ermöglicht ein Nachlassen der Fokussierung auf die herausragende Einzelperson eine größere Hinwendung zu deren historisch-gesellschaftlicher Eingebundenheit, oder kurz: zu dem Kollektiv bzw. den Kollektiven, denen sie angehört. Das elisabethanische Publikum, das bislang zumeist in apologetische Argumentationszusammenhänge eingebunden war, wird damit frei für andere funktionale Besetzungen. Aus dieser Neuerung ergibt sich die besondere Bedeutung der hier unter dem Begriff »Neo-Elizabethanism« abgehandelten Forscher für den Diskurs über Shakespeares elisabethanisches Publikum, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass es sich um eine kleine und durchaus heterogene Strömung handelt. Ihre funktionale Umbesetzung der englischen Theaterbesucher der frühen Neuzeit, die deren positive Einschätzung durch die Literaturgeschichten des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufnimmt und weiterführt, ist für die Folgezeit entscheidend. Dies gilt nicht nur

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Spencer, This Elizabethan Shakespeare, S. 542. Die vehemente Kritik am »NeoElizabethanism« ist bei Spencer letztendlich nicht nur ein Plädoyer für das autonome und in dieser Autonomie apolitische Kunstwerk, sondern auch ein Plädoyer für die Autonomie des Individuums: »[The individual imagination] cannot, as Mr. Draper would have it, play the lackey to a monstrous and all-devouring illusion such as >the Elizabethan minddemocra-

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Dass Harbages Studie bis heute zumindest eingeschränkt den Status einer communis opinio beanspruchen kann, ist ein weiterer Beleg für das endgültige Verschmelzen des britischen bzw. kontinentaleuropäischen Diskurses Uber das elisabethanische Publikum mit dem amerikanischen. Die amerikanische Kritik entwickelt, was Shakespeares ursprüngliches Publikum angeht, in ihrer vergleichsweise frühen Beschäftigung mit dem Themenkomplex Volk / Demokratie zwar eine gewisse Eigenständigkeit, bezieht aber bezüglich der Theaterbesucher der frühen Neuzeit dennoch wesentliche Impulse aus den englischen Traditionen (was im übrigen, wie bereits dargelegt, durchaus auch für die Identifikation des Shakespearepublikums mit einer negativ besetzten Vorstellung vom »Volk« gilt). Dass die Rolle des Impulsgebers nun an die amerikanische Kritik fällt, und dies ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als die USA sich auch politisch in Europa engagieren, ist durchaus bezeichnend.

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Alfred Harbage: Shakespeare and the Rival Traditions. New York 1952, S. 25. Richard Wilson: Will Power. Essays on Shakespearean Authority. New York 1993, S. 23. Anthony B. Dawson / Paul Yachnin: The Culture of Playgoing in Shakespeare's England. A Collaborative Debate. Cambridge 2001, S. 89.

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cypopular< playwright appealing to a whole and united nation.« 1 8 Auch Jamieson erwähnt »Harbage's democratic assumptions of the American forties« 19 . Margolies spezifiziert: »Harbage's view might be seen as influenced by democratic sentiments prominent in the war against fascism.« 20 Insbesondere in der Zusammenschau mit Oliviers Henry V. 2 I , dessen Eingangsszene zur Identifikation mit dem elisabethanischen Theaterpublikum einlädt, erscheint der Zusammenhang zwischen Harbages »demokratisch« geprägtem Blickwinkel und dem alliierten Selbstverständnis im Krieg gegen die Achsenmächte durchaus einleuchtend. Überbetont werden sollte dieser Aspekt allerdings nicht: Shakespeare's Audience erschien 1941, im Jahr des amerikanischen Kriegseintritts, spiegelt also, wenn überhaupt, dann wohl doch eher das Klima unmittelbar vor dem amerikanischen Eingreifen in die Kampfhandlungen wider. Dass der »Kampf gegen den Faschismus« Spuren in Harbages Darstellung hinterlassen habe, erscheint vor diesem Hintergrund als unzulässige Vergröberung. Richtig ist jedoch sicherlich, dass Harbages Studie in einer Zeit entsteht, in der der Begriff der Demokratie im öffentlichen Bewusstsein nicht nur besonders präsent, sondern auch in besonderem Maße definitionsbedürftig war: Wenn Gurr Shakespeare's Audience in einem politischen Klima ansiedelt, das Harbages Bild von Shakespeare als »truly >popular< playwright appealing to a whole and united nation« begünstigt habe, so ist dabei nicht nur daran zu denken, dass sich die USA seit 1941 im Kriegszustand befanden, sondern auch daran, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse den Staat schon weit früher in eine tiefe Krise gestürzt hatten. Die Rezession der dreißiger Jahre hatte eine neue Definition der Kompetenzen und Verantwortlichkeiten des Staates nötig gemacht - und damit auch eine Neudefinition des Begriffs der Demokratie. Roosevelts Ausbau sozialer Sicherungssysteme im Zuge des New Deal entstand aus der Einsicht heraus, dass den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen der USA mit den traditionellen Werten Individualismus, Eigenverantwortung und Freiheitlichkeit allein nicht beizukommen war. Die amerikanische Demokratie wurde deshalb zunehmend nicht nur als System definiert, das die größtmögliche Entfaltung des Individuums erlaubte, sondern in einer neuen Schwerpunktsetzung auch als

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John Drakakis: Theatre, ideology and institution: Shakespeare and the roadsweepers. In: Graham Holdemess (Hg.): The Shakespeare Myth. Manchester 1988, S. 26-41. Hier: S. 35. Gurr, Playgoing, S. 3. Michael Jamieson: Shakespeare in Performance. In: Stanley Wells (Hg.): Shakespeare. A Bibliographical Guide. Oxford 1990, S. 37-68. Hier: S. 45. David Margolies: Teaching the handsaw to fly. Shakespeare as a hegemonic instrument. In: Graham Holdemess (Hg.): The Shakespeare Myth. Manchester 1988, S. 42-53. Hier: S. 53. Zu Oliviers Henry V. vgl. Graham Holdemess: Agincourt 1944: Readings in the Shakespeare Myth. Literature & History 10 (1984), S. 2 4 ^ 5 . 229

Zusammenschluss einer sich wesentlich als Gemeinschaft verstehenden Bevölkerung. Auf diesen Sachverhalt spielt Stirlings an, wenn er in der zu Beginn dieses Kapitels zitierten Passage die Beschäftigung mit dem Konzept »social democracy« als ein Hauptanliegen seiner Zeit beschreibt. »Social democracy« ist dabei mit dem traditionellen Individualismus keineswegs unvereinbar: When you have been away from this country for a few weeks and land from the steamer, what is that strange enthusiasm that comes over you? It is the people and the mutual confidence of life in America which warm the heart. It is a society of expression, it is a society of hope, which constantly and simply recognizes the dignity and worth of each individual and acts accordingly, a society which, because of this, knows a kind of corporate life. We sense that no one of us alone can realize the benefits of liberty and democracy, but that we can achieve these things together as a corporate body. This accounts for our early established and now quite natural social action in the interest of all, a reciprocal relation between citizens. As a people we have to a remarkable degree both faith in each other and hope in our common achievement. We have a kind of faith and hope of social salvation that by loving our neighbour as ourselves we can all have a good life. 22

Gerade aus der hohen Wertschätzung, die dem Individuum zuteil wird, ergibt sich die Notwendigkeit einer Gemeinschaft, deren Zusammenhalt dem einzelnen Bürger erst seine volle Entfaltung in Freiheit und Demokratie ermöglicht. Begriffe wie »mutual« und »corporate« weisen in dieselbe Richtung wie Harbages »common humanity« und seine Vorstellung vom elisabethanischen Publikum als »great amalgam«: Betont wird immer wieder das Gemeinschaftsgefühl, auf dem die Demokratie letztendlich beruht, das hervorzurufen sie aber auch zur Aufgabe hat. Das demokratische Modell erlaubt zwar die freie Entfaltung des einzelnen Menschen, es nivelliert aber auch die Unterschiede zwischen den Individuen, so dass diese zu einem sozialen Ganzen zusammenfinden können. Demokratie ist letztendlich das Ergebnis einer gemeinschaftlichen Anstrengung. In ganz ähnlicher Weise gilt dies auch für die Bühne der Shakespearezeit, wie Harbage sie darstellt: Das »great amalgam«, als das er die Zuschauer bezeichnet, macht die Ausnahmeleistungen Shakespeares erst möglich, denn »where all classes are there is no class« - sondern das, was Harbage als »common humanity« bezeichnet. Die Sprache, mit der die Entstehungsvoraussetzungen des Shakespeareschen Dramas beschrieben werden, ist der, mit der Perkins im Erscheinungsjahr von Harbages Studie die Voraussetzungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Vereinigten Staaten umreißt, sehr ähnlich. Wenn Harbages Darstellung des Globes als gemeinschaftsstiftendem melting pot auf das Bestreben zurückgeführt wird, Shakespeare und sein Theater »für die Demokratie« in Anspruch zu nehmen, dann ist dabei zu beachten, dass Harbage den »Barden« nicht auf ein objektiv feststehendes politisches Organisationsmodell festschreibt, sondern auf eine ganz bestimmte Version dessen, was unter Demokratie zu verstehen sei. Das elisabethanische Publikum, wie Harbage es darstellt, definiert letztlich nicht nur Shakespeare als Demokraten, sondern darüber hinaus auch den Charakter der Demokratie selbst.

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Frances Perkins: What is Worth Working for in America? In: Proceedings of the National Conference of Social Work, 1941. New York 1941. Zitiert nach Clarke A. Chambers: The New Deal at Home and Abroad. New York 1965, S. 75-83. Hier: S. 77. Frances Perkins übte insbesondere auf die Sozialpolitik Roosevelts erheblichen Einfluss aus.

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9.2 Wer ist das Volk? Demokratie bedeutet bekanntermaßen »Herrschaft des Volkes«. Dass diese Übersetzung alles andere als unproblematisch ist, geht allerdings bereits daraus hervor, dass schon in der Antike mit dem Begriff der Ochlokratie eine negative Form der Volksherrschaft bezeichnet wurde, die Herrschaft des Mobs. Der Unterschied zwischen den beiden Herrschaftsformen wurzelt in der Definition des »Volkes«: Das die Demokratie tragende Staatsvolk (demos) schließt bestimmte Bevölkerungsschichten ganz explizit nicht mit ein. Hinsichtlich des elisabethanischen Publikums sind ähnlich exklusive Tendenzen insbesondere in den spätviktorianischen Literaturgeschichten festzustellen, wo die Autoren sich schwer tun, den groundlings einen Anteil am elisabethanischen Drama als nationaler (Volks-) Leistung zuzugestehen. Gerade hier nun unterscheidet sich Harbage in entscheidender Weise von seinen Vorgängern. Aufgrund der Tatsache, dass sie den niedrigstmöglichen Eintrittspreis bezahlt hatten, waren die Zuschauer auf den Stehplätzen seit den Anfängen der Shakespearekritik mit den »niederen« Volksschichten assoziiert worden. Diese Verknüpfung gibt Harbage zwar nicht gänzlich auf, er akzentuiert sie jedoch deutlich anders: That a penny was a considerable sum of money and that theatregoing was one of the few commercialised pleasures within the workman's means may readily be seen. In fact, the Elizabethan artisan paid so much more proportionately for necessities - food, clothing, fuel - that a penny for pleasure must have been more thoughtfully laid out than even its thirtyone cent equivalent need be at the present time. It is possible, however, that the high cost of living worked in favour of the theatres in one way: if the penny spent on food meant only an additional cucumber or two, one might as well squander it on a play. [...] A play meant over two hours' entertainment in impressive surroundings - entertainment of a quality not to be found in the beer and ballads. Craftsmen, then, with their families, journeymen, and apprentices, must have composed the vast majority of »groundlings«. Many were skilled, performing functions now allotted to the chemist, architect and engineer. [...] London craftsmen were the best in the country. Those at the Globe had chosen playgoing in preference to boozing and animalbaiting. 23

Aufgrund dieser Umstände kommt Harbage zu dem Schluss: »[...] [G]roundlings must not be thought of as a rabble.« 24 Damit nimmt er eine grundlegende Neubewertung dieses Zuschauersegments vor, ohne die den groundlings traditionell zugeschriebene sozial niedrige Herkunft in Abrede zu stellen. Anders als die überwiegende Mehrheit seiner Vorgänger sieht Harbage die unteren Schichten auch nicht als Störfaktor in der Entstehung des Shakespeareschen Dramas, sondern identifiziert sie aufgrund der Preispolitik des Globe als das eigentliche Zielpublikum der Schauspieler: »Admission prices were calculated, as prices in general were not, to what workmen could afford to pay.« 25 Die »workmen« erweisen sich damit aber auch als diejenige Bevölkerungsgruppe, die die Ausnahmeleistungen der elisabethanischen Bühne und insbesondere Shakespeares trägt.

23 24 25

Harbage, Shakespeare's Audience, S. 60f. Harbage, Shakespeare's Audience, S. 64. Harbage, Shakespeare's Audience, S. 64.

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Noch klarer als in Shakespeare's Audience wird Harbages überaus positive Einschätzung der öffentlichen Theater und ihres Publikums in seiner Studie Shakespeare and the Rival Traditions. Insbesondere das Globe dient hier als Kontrastfolie zur mit aristokratischer Dekadenz und Eigensüchtigkeit assoziierten Kultur der private theatres: In general we may say that the popular drama displays more democratic tendencies than might be expected and more than commonly recognized. It is only the popular drama that shows a consciousness of the claims of the humblest members of the commonwealth, frequently classified as »poor men«. These, of course, are not to be misused. 26

Nicht nur »political democracy«, auch »social democracy« erweist sich hier fast ausschließlich als Anliegen der öffentlichen Theater. Noch deutlicher wird deren besonderer Status bezüglich moralischer Fragen. So sieht Harbage beispielsweise entscheidende Unterschiede im jeweils akzeptablen sexuellen Verhalten: The popular drama endorsed the code of sexual rectitude in a way that the coterie drama did not. The illustrations that follow are not intended to prove that public theatres were against sin and the private theatres for it. Officially, of course, both were against it [...]. [...] Although both bodies of drama endorse chastity, only the popular plays are chaste. The others are »sexy« - in that they serve appetite and curiosity with erotic stimuli, and reveal inadvertently the latitudes of conduct among leisured people for whom a cultivated sensuality has become an escape from boredom. 27

Während also die bessergestellten Zuschauer etwa im Blackfriars dekadentes Laissez-faire sowohl selbst an den Tag legen als auch auf der Bühne geboten bekommen, stehen die Zuschauer in den Freilufttheatern für einen strikteren Moralkodex. Dies gilt insbesondere hinsichtlich des hohen Stellenwerts, der Ehe und Familie eingeräumt wird: The conflicting attitudes toward sex extend into conflicting attitudes toward women, marriage and the family. Of all the imaginative literature of the age, the popular drama dwells most persistently upon the charm of courtship, the dignity of wedded love, and the power of familial affection. When we call it romantic, we should recognize that its romanticism is in accord with the most progressive ethical thinking of the English Renaissance. In comparison, the coterie drama is archaic and reactionary. 28

Die progressive Natur der öffentlichen Theater manifestiert sich darüber hinaus auch in ihrer Sicht der Frau: Every feminine character in Elizabethan drama who conveys an impression of both reality and charm was created for the multitude. It is quite confusing - as if the plebeians knew something of refinement and were unaware that Blackfriars, not the Globe, was the haunt of the cultivated. 29

Harbages Verwirrung ist hier mehr rhetorischer Art: Aus seinen Darlegungen geht klar hervor, dass die öffentlichen Theater und ihr Publikum nicht nur dem coterie

26 27 28 29

Harbage, Harbage, Harbage, Harbage,

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Shakespeare Shakespeare Shakespeare Shakespeare

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Rival Rival Rival Rival

Traditions, Traditions, Traditions, Traditions,

S. S. S. S.

270. 190. 222. 245.

theatre moralisch überlegen sind, sondern in dieser Überlegenheit auch Träger des gesellschaftlichen Fortschritts sowie »wahren« refinements. Wie A. J. Cook es ausdrückt: »[Harbage] redeemed the [Elizabethan] spectators from Victorian contemptibility to working class respectability. His [...] work pitt[ed] the proletarian moral soundness that gave birth to Shakespeare against the decadence of elitist tastes [...].« 30 Die Ausnahmestellung des Globes verbindet Harbage in der Tat klar mit den Begriffen »plebeian« bzw. »working-class«, ein Umstand, der in dieselbe Richtung weist wie der in Shakespeare's Audience wiederholt auftretende Verweis auf Anzahl und Bedeutung der »workmen« im elisabethanischen Publikum. Die in der Shakespearekritik bislang zu beobachtende Gewichtung des jeweiligen Einflusses von bessergestellten und niedrigen Bevölkerungsschichten auf das Zustandekommen des Shakespeareschen Werkes verkehrt sich in ihr Gegenteil: Harbages Vision eines demokratischen Globes gesteht das größte Gewicht der Mehrheit zu - und diese wird von den einfachen Leuten gestellt. [...] [T]he groundling is elevated from barbarity into the working class and is endowed with the universal good taste of all Elizabethans, with either education or much common sense, with an average income, and with the skills of a craftsman. The cruder sort must have gone off to drink and bait bears. [...] The full power of the mystique of the common man is found in As They Liked It, which argues for the soundness of his moral sensibilities, and in Shakespeare and the Rival Traditions, which discusses the pernicious effects of drama aimed at a morally decadent, avant-garde coterie. The logic of this wider thesis rests upon the establishment of a particular kind of ordinary workingman as the typical spectator at the public theatre and the demonstration of his numerical preponderance in the audience. 31

Dass Harbage das Wohlwollen marxistisch orientierter Kritiker auf sich gezogen hat, überrascht vor diesem Hintergrund kaum. Diese betonen ebenfalls den genuin populären Charakter des Shakespearepublikums, zu einem Arbeiterpublikum avant la lettre stilisieren sie die Theaterbesucher der frühen Neuzeit indes meist nicht. Dies gilt zumindest für den englischen Sprachraum bzw. für diejenigen Werke, die dort breit rezipiert wurden, wie etwa Robert Weimanns Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters,32 Weimanns Studie betont eingangs, dass das Theater der Shakespearezeit »ein Publikum aus vielen Klassen und Schichten« 33 angezogen habe - eine Einschätzung, der sich in der Folgezeit etwa Walter Cohen 34 und Jean E.

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Ann Jennalie Cook: Audiences: Investigation, Interpretation, Invention. In: John D. Cox / David Scott Kastan (Hgg.): A New History of Early English Drama. New York 1997, S. 305-320. Hier: S. 316. Ann Jennalie Cook: The Audience of Shakespeare's Plays: A Reconsideration. In: Shakespeare Studies 7 (1974), S. 283-305. Hier: S. 284. Robert Weimann: Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters. Soziologie - Dramaturgie - Gestaltung. Berlin 1975. Die englische Übersetzung (Shakespeare and the Popular Tradition in the Theater) erschien 1978 in Baltimore. Weimann, Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters, S. 17. Walter Cohen: Drama of a Nation. Public Theater in Renaissance England and Spain. Ithaca 1985, S. 168 und passim.

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Howard 35 anschließen. Auch der damals noch als »sowjetisch« zu bezeichnende Shakespearekritiker Alexander Ankist äußert sich 1989 sehr ähnlich: »Shakespeare was a representative of the cross-section of English society that was present in his theatre. You had there all the classes of British society and Shakespeare was a man who adapted his art in such a way that the audience of Shakespeare's theatre felt quite at home.« 36 Bei aller Betonung der sozialen Heterogenität des Publikums sehen marxistische Kritiker allerdings durchaus eine besondere Rolle der unteren Bevölkerungsschichten im englischen Theater der frühen Neuzeit. Weimann, für den sich diese spezielle Bedeutung schon aus den volkstümlichen Wurzeln des Renaissancedramas in Mysterienspiel und Moralität ergibt, hebt innerhalb des sozial zunächst nicht spezifizierten Publikums »die das Theater tragenden Volksschichten« 37 besonders heraus: »Das öffentliche Theater war von einem zahlreichen plebejischen Publikum abhängig, das mit den alten mimischen und festlichen Traditionen noch so innig vertraut sein musste, wie ihm das neue puritanische Denken fernlag.« 38 In etwas abgemilderter Form stimmt dem auch Cohen zu: »[The] popular clientele, concentrated in the pit, was probably the heart of the English public theater audience and the section of it that seems to have determined the financial success or failure of a play.« 39 Wird das »Herz« des frühneuzeitlichen Theaters in den pit verlegt, so bedeutet dies eine besonders wichtige Rolle der groundlings. Ähnliche Akzente setzt auch Weimann: Vor den Toren der berühmten Theater, vor dem Globe und dem Swan, trafen sich Hofmann und Handwerker, Lehrling und Student, Edelmann und Plebejer. Mehr oder weniger folgten sie mit gleichem Interesse einem Schauspiel, dessen Vielseitigkeit die vorhandenen Geschmacksdivergenzen überbrückte, ohne dabei die Konventionen des älteren Volksschauspiels zu verleugnen. Dies war auch kaum möglich oder gar nötig: Das in Menge und Lautstärke dominierende plebejische Publikum im Parterre war künstlerisch durchaus aufgeschlossen! Der Dramatiker der späteren Jahre mochte mit geflissentlicher Geringschätzung auf diese »Gründlinge« herabsehen; aber selbst wenn er sie - wie Beaumont in The Knight of the Burning Pestle - auf die Bühne brachte, nur um sie zu verspotten, musste er ihren erstaunlichen Qualitäten Rechnung tragen. The Spanish Tragedy, Doctor Faustus, Henry TV und Hamlet waren Lieblingsstücke der verachteten Menge! In Wirklichkeit waren Spielweise und Kunstübung des elisabethanischen Theaters undenkbar ohne diese »Gründlinge« - eben die stehende Menge im Parterre, von der die Shakespearesche Plattformbühne dreiseitig umlagert wurde. 40

Obwohl das elisabethanische Publikum das soziale Spektrum in seiner Gesamtheit abbildet, sind die Unterschichten für das Shakespearesche Drama offensichtlich von

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Jean E. Howard: The Stage and Social Struggle in Early Modern England. London 1994, S. 13. Zitiert nach John Elsom (Hg.): Is Shakespeare Still Our Contemporary? London 1989, S.159f. Bei der zitierten Passage handelt sich um einen Diskussionsbeitrag Ankists zur Sektion Is Shakespeare α Feudal Propagandist? Weimann, Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters, S. 292. Weimann, Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters, S. 291. Cohen, Drama of a Nation, S. 168. Weimann, Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters, S. 295f.

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entscheidender Bedeutung. Eine derart revisionistische Darstellung der bislang so häufig verfemten groundlings findet nicht nur in der Shakespearekritik statt, sondern auch in der Literatur: αΐαΐ, ay, ay!...stutterer Demosthenes gob full of pebbles outshouting seas 4 words only of mi 'art aches and...»Mine's broken, you barbarian, T. W.« He was nicely spoken. Can't have our glorious heritage done to death! I played the Drunken Porter in Macbeth. »Poetry's the speech of kings. You're one of those Shakespeare gives the comic bits to: prose! All poetry (even Cockney Keats?) you see 's been dubbed by [ ρ s] into RP, Received Pronunciation, please believe [£>s] Your speech is in the hands of the Receivers. We say [ p s ] not [uz], T. W.!« That shut my trap. I doffed my flat a's (as in »flat cap«) My mouth all stuffed with glottals, great Lumps to hawk up and spit out... E-nun-ci-ate!41 Auffällig ist hier insbesondere die trotz des Paarreims isoliert stehende Zeile »I played the Drunken Porter in Macbeth«: Harrison, der sich dezidiert als Arbeiterpoet begreift, verbindet sein Selbstverständnis als Angehöriger der Unterschicht hier mit einer derjenigen Bühnengestalten, deren Präsenz in den ansonsten so »gehobenen« Tragödien von der Kritik immer wieder auf den Geschmack der sozial niedriggestellten Zuschauer im elisabethanischen Theater zurückgeführt wird. Mit diesem Segment der Theaterbesucher identifiziert sich Harrison in den nächsten beiden Versen noch expliziter: »You're one of those / Shakespeare gives the comic bits to: prose!« Die Verse verdeutlichen, wie sehr die im 19. Jahrhundert etablierte Konzeption der groundlings Teil des kulturellen Gemeinguts geworden ist: Die vermeintliche Tatsache, dass diese der Unterschicht angehörten, muss hier nicht einmal mehr eigens erwähnt werden, sondern wird als bekannt vorausgesetzt - der Begriff groundling fällt erst gar nicht. Harrison vollzieht in noch deutlicherer Weise eine funktionale Umbesetzung der groundlings, als dies bei Weimann und anderen marxistischen Kritikern der Fall ist. Der Titel des Gedichts, »Them & [uz]«, verweist nachdrücklich darauf, dass es dem Sprecher um die Unterscheidung von Eigengruppe und Fremdgruppe zu tun ist, um die Konstitution der eigenen Identität in Abgrenzung zu einer fremden Gegenkultur. Dass Harrison in diesem Zusammenfall ausgerechnet auf den Topos vom groundling zurückgreift, ist kaum Zufall, spielte dieser - wie bereits dargelegt - bei der Stilisierung Shakespeares zur high culture-Ikone doch eine entscheidende Rolle. Die Oppositionen, die die Shakespearekritik in diesem Zusammenhang aufgestellt hatte, setzt Harrison in seiner Umfunktionalisierung der groundlings keineswegs außer Kraft; der Unterschied besteht vielmehr in der genau umgekehrten Verteilung der Loyalitä-

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Tony Harrison: Selected Poems [1984]. Second Edition Harmondsworth 1990, S. 122. 235

ten: Die Theaterbesucher auf den billigsten Plätzen verkörpern nicht mehr das Andere, Fremde, gegenüber dem sich die eigene Identität erst konstituieren kann, sondern werden selbst zu Identifikationsobjekten. Sie definieren Identität damit nicht mehr ex negativo, sondern ex positivo. Harrisons fast trotzige Identifikation mit den groundlings beinhaltet in letzter Konsequenz ein reclaiming Shakespeares für die niedrigen Bevölkerungsschichten. Wenn Weimann immer wieder die Bedeutung dieser Bevölkerungskreise für das Theater der Shakespearezeit unterstreicht, dann nimmt auch er den »Barden« für die unteren Schichten in Anspruch - gerade im Hinblick auf seine eigene Gegenwart. Dies ist durchaus als Anfechtung der vor allem von den mittleren und höheren Schichten markierten kulturellen »Besitzansprüche« zu verstehen, ein Anliegen, das marxistische Kritiker keineswegs bloß implizit vertreten. So schreibt etwa David Margolies über Hamlets kryptische Selbstdiagnose, »I am but mad north-north-west. When the wind is southerly, I know a hawk from a handsaw« (II, ii, 373-74): The small print at the bottom of the page [of an annotated edition] can elucidate the mystery [of this passage], usually to the effect that »hawk« is a hawk and »handsaw« is perhaps a peculiar rendering of »heronshaw«, a heron, so that Hamlet is saying he can distinguish between two birds. This would be entirely consistent with his role of prince and with a princely interest in the aristocratic sport of falconry. Other authors of the time, after all, used hawking images to appeal to an aristocratic audience, and the assumption underlying the interpretation is that Shakespeare writes in an aristocratic frame of reference and draws genteel metaphors. But if we use a »common« frame of reference instead, that of the apprentices, craftsmen and small traders who made up the bulk of Shakespeare's audience, then »handsaw« is a carpenter's saw and »hawk« is a plasterer's hawk, the board on which plasterers carry their plaster. Hamlet says, in the alliterative style of popular sayings, that he can distinguish one tool from another. In short, he is saying that he knows what is obvious, an analytical meaning (even if it requires a footnote) which is consistent with the human experiential understanding of an audience today.42

Die Verwandlung eines Vogels in ein Brett ist nicht weniger taschenspielerhaft als umgekehrt die Verwandlung einer Säge in einen Vogel. Margolies' Präferenz für die erstgenannte Metamorphose wurzelt in seinen Annahmen über das elisabethanische Publikum. Die revisionistische Umdeutung der vielzitierten Krux wird überhaupt erst mit Blick auf die Lehrlinge, Handwerker und Krämer (Margolies folgt Harbage hier fast aufs Wort genau) in den Theatern nötig: Shakespeare kann sich vor derartigen Zuschauern nicht innerhalb eines aristokratischen Bezugsrahmens bewegt haben, so dass die Krux - laut Margolies - gar keine ist, sondern (trotz der in Klammern eingeräumten Notwendigkeit einer Fußnote) auch einem heutigen Publikum aus seiner Alltagserfahrung heraus verständlich sein muss. Damit ist zunächst nicht nur einmal mehr die überzeitliche Gültigkeit Shakespeares postuliert, sondern gleichzeitig auch ihre Grundlage definiert: die mehr oder minder unmittelbare Zugänglichkeit für eine breite Öffentlichkeit von Nicht-Adligen (in der Renaissance) und Nicht-Spezialisten (in Margolies' eigener Gegenwart). Dass das Postulat eines wesentlich »volkstümlichen« Shakespeares bei Margolies eine deutlich politische Dimension hat, deutet sich bereits in der klaren Parteinahme für den »common frame of reference« an. Noch offensichtlicher wird diese

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Margolies, Teaching the handsaw to fly, S. 42.

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Tatsache im Zusammenhang mit seiner Interpretation der Henriad, insbesondere in seiner Wertung der Entwicklung des späteren Königs Heinrichs V. Dessen Bruch mit Falstaff und den anderen Kumpanen seiner wilden Jugendjahre sieht Margolies nicht als Konsequenz einer legitimen und sogar lobenswerten Besinnung auf die eigentlichen Pflichten eines Herrschers, da eine derart positive Sicht des Geschehens unvereinbar mit den Anliegen und Einstellungen des im Theater der Shakespearezeit anwesenden Publikums sei: [The] royal-education approach stresses the values appropriate to national unity under intelligent rule. The plays are interpreted in terms of what is relevant to ruling-class interests - order and authority. At the same time they are assumed to be attractive to a popular audience of tradesmen and apprentices who, though they may be very much interested in order, are unlikely to be gripped by the education even of a king. As with Julius Caesar, the recognition of a popular element transforms the plays from abstract considerations of kingship to matters of concrete (although dramatically generalised) concern for the audience - the opportunism of rulers, let us say, or the undermining of traditional, collective values by the economic individualism of the bourgeoisie. 43

Einen aristokratischen Bezugsrahmen hatte Margolies für Shakespeare aufgrund seines ursprünglichen Publikums auch schon im Zusammenhang mit der HamletPassage ausgeschlossen. Wenn hier nun die erodierenden Auswirkungen der von der Bourgeoisie getragenen neuen Wirtschaftsformen auf eine kollektivistische Ethik als unmittelbares Problem des elisabethanischen Publikums dargestellt werden, so ist dieses in seiner sozialen Herkunft klar als »nicht-bourgeois« charakterisiert. Wenn dann auch noch korrumpierte Herrscher und die zerstörerischen Auswirkungen des (Früh-) Kapitalismus auf gemeinschaftlich ausgerichtete Lebensformen als Hauptinteressensgebiete des Shakespearepublikums genannt werden, dann wird vollends klar, dass dieses hier eine Art Vorform der Arbeiterbewegung darstellt. Margolies konstruiert damit in gewisser Weise einen ebenso exklusiven Shakespeare wie diejenigen, die davon ausgehen, dass nur eine kleine Elite unter den ursprünglichen Zuschauern die volle oder »wahre« Bedeutung der Dramen erkannt habe. Der Impetus ist in beiden Fällen derselbe: Dadurch, dass das elisabethanische Publikum in ganz bestimmten sozialen Schichten verortet wird, soll Shakespeare selbst verortet werden - und zwar nicht nur als historische Persönlichkeit, sondern viel mehr noch als Symbolfigur weit späterer Gesellschaften. Wer zur selben Schicht wie Shakespeares Publikum gehört, hat eine Art ursprüngliches Anrecht auf ihn und das auch noch fast 400 Jahre später. Ähnliche Auffassungen prägen auch das Selbstverständnis mancher Theaterpraktiker. Im Jahr 1993 etwa führte die im britischen Halifax beheimatete Theatertruppe Northern Broadsides die Merry Wives of Windsor außerhalb des traditionell südenglischen Settings und mit deutlich nordenglischen dialektalen Einschlägen auf. Wie bei allen Produktionen der Northern Broadsides sprachen die großteils aus Yorkshire stammenden Schauspieler eine regional geprägte Umgangssprache, um eine »Mundartaufführung« im engeren Sinne handelte es sich jedoch nicht. Die unter dem Titel The Merry Wives firmierende Inszenierung stieß nicht nur auf Zustimmung: Eine Shakespeare-Aufführung in einer eindeutig als Substandard zu klassifi-

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Margolies, Teaching the handsaw to fly, S. 45.

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zierenden Sprachform erschien manchem als Entwürdigung des Textes und des Autors, als »a piece of karaoke theatre in which Shakespeare provides the orchestra, and the actors have fun providing the voices« 44 . In einem Radiointerview verteidigte ein Befürworter der Produktion diese mit dem Argument, dass eine ShakespeareAufführung im sozial stigmatisierten Dialekt absolut legitim sei, und zwar aus folgendem Grund: »[Northern Broadsides are] giving Shakespeare back to the groundlings.« 45 Wenn eine Shakespeare-Inszenierung in einer regional geprägten Sprache dessen Rückgabe an die groundlings bedeutet, dann sprechen diese - zumindest in Teilen ebenfalls Mundart. Damit verfügen sie über all die - in diesem Falle positiven Eigenschaften, die mit Dialektsprechern assoziiert werden: Unaffektiertheit, Bodenständigkeit, menschliche Wärme usw. Gleichzeitig wird damit aber postuliert, dass der »offizielle« Shakespeare etwa der RSC eine Verzerrung der ursprünglichen Gegebenheiten darstellt, ja sogar eine unrechtmäßige Aneignung. Der echte, authentische Shakespeare ist nicht Teil einer Elitenkultur, sondern gehört den breiten Volksmassen: Den groundlings wird ein ursprüngliches Anrecht auf »ihren« Shakespeare zugesprochen, dem gerecht zu werden sich Northern Broadsides zur Aufgabe gemacht haben. Dieses emanzipatorische Selbstverständnis wird auch klar zum Ausdruck gebracht: »[Our performance] has a directness and immediacy which is liberating and invigorating, breaking the southern stranglehold on classical performance and making the audience hear afresh. « 46 Die Identifikation mit den groundlings bzw. ihr Aufstieg zu bedeutungsentscheidenden Instanz ist generell nicht nur mit einem Eintreten für eine neue Sicht auf Shakespeare und sein Publikum verbunden, sondern gleichzeitig mit einer Wendung gegen »hegemoniale Strukturen«. Es geht Margolies, Harrison und der Theatertruppe Northern Broadsides nicht hauptsächlich darum, Shakespeares herausragende Bedeutung mit Verweis auf ein Unterschichtpublikum zu erklären, sondern viel mehr darum, ihn zum kulturellen Besitz dieser Bevölkerungsschichten zu deklarieren. Vor dem Hintergrund dieser politischen Funktionalisierung der frühneuzeitlichen Theaterbesucher ist es fast paradox, dass gerade marxistische Kritiker immer wieder darauf hinweisen, zu welchen ideologischen Zwecken die groundlings in der »hegemonialen« Shakespearekritik herangezogen werden, um ihr eigenes Bild vom elisabethanischen Publikum als das »richtige« darzustellen. Namentlich Weimann setzt sich ausführlich mit der Entstehung des Topos vom elisabethanischen Publikum im 18. Jahrhundert auseinander, wobei er den von der neoklassizistischen Kritik hergestellten Bezug zwischen der sozialen Herkunft der Zuschauer und bestimmten Eigenschaften des Shakespeareschen Werkes als durchaus fruchtbringend bewertet. Allerdings beobachtet er anstatt der zunächst neutralen Beschreibung der

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John Peter: [Rezension]. In: Sunday Times, 13. Dezember 1992. Zitiert nach Peter Holland: English Shakespeares. Shakespeare on the English Stage in the 1990s. Cambridge 1997, S. 151. Zitiert nach Shepherd / Womack, English Drama, S. 110. Zitiert nach http://www.northern-broadsides.co.uk/Pages/about_us.htm, 31. 10. 2003. Auf derselben Seite findet sich ein Zitat von John Prescott, der den Inszenierungsstil von Northern Broadsides als »factory floor Shakespeare« bezeichnet, also ebenfalls einen deutlichen Bezug zur »Arbeiterkultur« herstellt.

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»plebejischen« Natur des Shakespearetheaters zunehmend eine deutlich negative Sicht des Unterschichtpublikums: Schon Dryden beginnt - wie dann so viele spätere Kritiker - die Mimen für einen korrupten und aktlosen Text zu tadeln. Bald besaß Shakespeare nicht länger das »rechte Urteil« eines plebejischen Schauspielers (wie Pope meinte), sondern geriet in einen idealen Gegensatz zu der niedrigen Denkweise seiner vulgären Kollegen. Also waren das plebejische Publikum, die ungebildeten Schauspieler und die »primitive« (rude) Bühne die eigentliche Ursache für das »niedrige Zeug« im Werke des Meisters [.] [...] So war ein Sündenbock gefunden: Man konnte den Dichter retten, aber das (ihm unterschobene oder aufgedrängte) plebejische Element verdammen oder - ignorieren. Zwischen dem Dichter und der Wirklichkeit seines Theaters entspann sich eine neue Korrelation: Shakespeare »writ to the People« sagte Pope. »Shakespeare stooped to accommodate himself to the People« sagte der Romantiker. Der Dichter »verachtete« also die Schauspieler und das Zeitalter, das ihn hervorbrachte; die Mimen waren nicht seine Freunde und literarischen Sachwalter, sondern nach Hanmer - die bösen und gewissenlosen Plebejer, die die Werke einer feineren Seele verfälschten, nur weil ein »vulgäres Publikum« es so wollte. So wurde der elisabethanische Zuschauer für schuldig befunden, dass ein Shakespeare für ihn geschrieben hatte.47 Auch Cohen betrachtet das herkömmliche Bild von den frühneuzeitlichen Theaterbesuchern als ideologisches Konstrukt - und das nicht nur innerhalb des englischen Kontexts: An attack on the popular subversiveness of the public theater is a recurrent feature in latesixteenth- and early seventeenth-century opposition to the stage, whether by Puritan and Catholic clergy, English and Spanish city fathers, or courtly aestheticians in London and Madrid. This conservative ideology has its modern counterpart in the occasionally expressed conviction that Shakespeare's need to appeal to the groundlings damages his plays.48 Im Verweis auf die »konservative Ideologie« umreißt Cohen nicht nur die politischen Loyalitäten derjenigen, die Shakespeare mit Verweis auf die groundlings zu entschuldigen versuchen, sondern auch seine eigenen. Dass diese emphatisch nichtkonservativ sind, wird im übrigen durchaus offengelegt: Die Studie beginnt mit dem Satz, »When the idea of this project first crossed my mind [...], I had hopes of composing a book that would appeal not only to specialists in my field but also to those people who shared my political beliefs.« Cohen verortet sich anschließend in der (nicht weiter definierten) Tradition der in den späten sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts beginnenden Protestbewegungen. 49 Dass das Bild des elisabethanischen Publikums, wie es in Schulen und an Universitäten vermittelt wird, dazu dient, bestimmte politische Loyalitäten herzustellen und zu festigen, postuliert auch David Margolies. Als Ausgangspunkt seiner Argumentation dient ihm dabei wieder die positive Bewertung (»the education-of-theking view«) der Abwendung Heinrichs V. von den Zechgenossen seiner Jugendjahre: The elitist message of the second history cycle that follows from the education-of-the-king view is given more credibility by the customary division of Shakespeare's audience into

47 48 49

Weimann, Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters, S. 433. Cohen, Drama of a Nation, S. 26. Cohen, Drama of a Nation, S. 9. 239

groundlings and gentlemen. The groundlings (so the old argument runs), having left their trades for the afternoon, sweaty, smelling of garlic, uneducated and rude, are supposed to have gone to the theatre for crude entertainment, whereas the educated and refined gentlemen were supposed to share the same philosophical interests as the playwright himself. Thus, while the gross Falstaff may be regarded as suitable for groundlings, the gentlemen were interested in »the specialty of rule«. For students studying Shakespeare this presents an awkward choice: either, consistent with the supposed character of the groundlings, they do not appreciate the subtlety of the plays and suffer from underdeveloped sensibility or, being sensitive to the art of the plays and interested in such things as the education of a king, they must associate themselves with the gentlemen and the elite. Recasting the plays as philosophical discussion produces an elitist view. That is, if people do not comprehend the plays through the philosophical precepts of kingship and the interests of the elite, if they grasp the significance through the gross wit of Falstaff, then they must be as thick as the groundlings. Thus to avoid the scorn for vulgar tastes and for the uncultured refusal to accept time-tested critical notions, or simply to flatter self esteem by holding »better« ideas, personal experience is subordinated to abstract understanding - readers become the victims of the hegemonic power of Shakespeare criticism.5"

Was hier auffällt, ist, dass Margolies die Unterscheidung von groundlings und gentlemen und die in dieser Unterscheidung implizierten Oppositionen zwar als Ausdruck »hegemonialer« Interessen geißelt, andererseits aber auf genau dieselben Oppositionen zurückgreift, um seine eigene, »subversive« Interpretation zu stützen. Sein reclaiming Shakespeares für die Unterschicht geht ganz wesentlich davon aus, dass sich Zuschauer der Kategorie groundling eben gerade nicht für philosophische Fragestellungen interessieren - womit die Demarkationslinien zwischen den einzelnen Zuschauergruppen und Bevölkerungsschichten genau dort verlaufen, wo sie die Kritiker ziehen, gegen die Margolies eigentlich anschreibt. Ebenso wie die sogenannte bürgerliche greift also auch Margolies' Shakespearekritik auf klare gesellschaftliche Oppositionen zurück, und zwar nicht ausschließlich, weil das Marxsche Geschichtsmodell dies so vorsieht, sondern offensichtlich auch deshalb, weil nur mit Hilfe solcher Gegensatzpaare der »Besitzanspruch« auf das kulturelle Gut Shakespeare wirklich schlagkräftig formuliert werden kann.

9.3 The great consensus? Wenn die marxistische Shakespearekritik sich immer wieder auf Harbage beruft, dann tut sie dies in mehrerlei Hinsicht nur bedingt zurecht. Eine genauere Analyse zeigt zunächst, dass Harbages soziale Verortung des Shakespearepublikums nur eingeschränkt eine »proto-proletarische« ist. Zwar verweist er immer wieder auf die »workmen« im Publikum, postuliert aber andererseits: »Craftsmen [...] with their families, journeymen, and apprentices, must have composed the vast majority of >groundlings