Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord in der Frühen Neuzeit: Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft 9783486829143, 9783486560992

Nach einer Einführung in die allgemeinen Grundzüge von Herrschaft und sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung im Unter

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German Pages 456 Year 1994

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Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord in der Frühen Neuzeit: Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft
 9783486829143, 9783486560992

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Markus Meumann Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord

Ancien Régime Aufklärung und Revolution Herausgegeben von Rolf Reichardt und Hans-Ulrich Thamer Band 29

R. Oldenbourg Verlag München 1995

Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft

Von Markus Meumann

R. Oldenbourg Verlag München 1995

Gedruckt mit Unterstützung der Calenberg-Grubenhagenschen Landschaft zu Hannover

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Meumann, Markus: Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord : unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft / von Markus Meumann. - München : Oldenbourg, 1995 (Ancien régime, Aufklärung und Revolution ; Bd. 29) Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-486-56099-9 NE: GT

© R. Oldenbourg Verlag München 1995 Das Werk einschließlich der Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf, München Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, Krichheim ISBN 3-486-56099-9 (R. Oldenbourg Verlag München)

Inhalt

I.

Inhalt

s

Vorwort

9

Unversorgte Kinder als soziales und politisches Problem der frühen Neuzeit

11

Territoriale Gliederung, Obrigkeit und Bevölkerung im Untersuchungsgebiet: eine Einführung

31

1. Territoriale Gliederung und politische Ereignisse 2. Herrschaft und Verwaltung

31 36

2.1. 2.2. 2.3. 2.4.

n.

III.

Kurfürstentum Hannover und Vorläufer Hochstift Hildesheim Die Gerichtsverfassung des Ancien Régime Die napoleonische Zeit

36 41 42 45

3. Bevölkerungsentwicklung und materielle Lebensgrundlagen

48

Sicherung familialer Kinderversorgung oder Verschlechterung der Versorgungsbedingungen? Ziele und Auswirkungen der frühneuzeitlichen Ehe- und Sexualgesetzgebung

57

1. Ehegebot und obrigkeitliche Sittenzucht 2. Die Beaufsichtigung von Eheschließung und Eheleben 3. Die Unterdrückung und Kriminalisierung vor- und nichtehelicher Sexualität 4. Rechtliche Auswirkungen auf die Kinderversorgung 5. Zusammenfassung

72 91 93

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht: Kindsmord und Kindesaussetzung

96

1. Geburtenkontrolle oder individuelle Konfliktsituation? Einige Vorüberlegungen 2. Kindsmord

96 99

2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.

Entdeckung und Gerichtsverfahren Die Strafen Die Angeklagten Der Weg zur Tat Die Häufigkeit von Kindsmorden

3. Aussetzung und Verlassen von Kindern 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.

Häufigkeit Äußere Tatumstände Persönliche Lage und Beweggründe aussetzender Personen Obrigkeitliche Gegenmaßnahmen

4. Exkurs: Abtreibung 5. Zusammenfassung

57 63

100 110 117 126 134

141 142 145 152 160

170 173

6 IV.

Inhalt

Armenpflege und öffentliche Ordnung: unversorgte Kinder als alltägliches Problem von Gesellschaft und Obrigkeit 1. Kinderversorgung und allgemeines A r m e n w e s e n 1.1. Heimatrecht und landesherrliche Aufeicht: die Organisation öffentlicher Almenpflege 1.2. Inbegriff der Hilflosigkeit: Waisen und Findelkinder 1.3. Kinderarmut und Armut durch Kinder 2 . Unversorgte Kinder als unerwünschte Last: Organisationsp r o b l e m e dezentraler V e r s o r g u n g 2.1. Ausweichstrategien von Obrigkeit und Bevölkerung 2.2. Ein undankbares und riskantes Gewerbe: Pflegefamilien 2.3. Die Belastung der Gemeinden 3. Kinderbettel und Randgruppenkinder: Kinder im Z u g r i f f obrigkeitlicher Ordnungspolitik 3.1. Zur Abgrenzung von Bettlern, Vaganten und Hausarmen 3.2. Kinderbettel und Kinderkriminalität in den Städten 3.3. Vagantenfamilien und jugendliche Bettler: Kinder am Rand der Gesellschaft 3.4. Die Schaffung unversorgter Kinder durch repressive Ordnungspolitik und Pönalisierung

V.

175 176 176 180 186 188 188 192 195 201 201 202 207 215

4 . Armutsverhütung und Erziehung zum gottgefälligen Leben 4.1. Erziehung und Arbeit in den Armenordnungen 4.2. Kinder in Arbeits-und Werkhäusern 4.3. Die Industrieschulbewegung

225 225 231 235

5 . Die H i n w e n d u n g zu vorbeugenden und gruppenspezifischen M a ß n a h m e n nach dem Siebenjährigen Krieg 5.1. Unterstützungen für Militärangehörige 5.2. Entbindungsanstalten: Zufluchtsorte für ledige Mütter 5.3. Exkurs: Hinterbliebenenversicherungen

240 240 249 254

6. Z u s a m m e n f a s s u n g

256

Waisenhäuser: Symbol frühneuzeitlicher Kinderfiirsorge und Streitfrage der Aufklärung

259

1. D a s Waisenhaus als Patentlösung: N e u g r ü n d u n g e n v o m E n d e des 17. Jahrhunderts bis zum Siebenjährigen Krieg 1.1. Die kurhannoversehen Waisenhäuser 1.2. Die Hildesheimer Gründungen 2 . D i e Anstalt als ökonomischer und sozialer K o s m o s 2.1. Ausstattung und Prinzipien 2.2. Disziplin und Frömmigkeit als Lebenswelt

259 261 270 273 273 284

3. Anstalts- oder Familienerziehung? D e r Waisenhausstreit und die allmähliche A b k e h r von der Waisenhausidee nach d e m Siebenjährigen Krieg 3.1. Erste Schwierigkeiten: die Entwicklung der Waisenhäuser bis 1770 3.2. Die geschlossene Anstalt im Zwielicht: Probleme des Anstaltslebens und Waisenhausstreit 3.3. Umwandlung in Verpflegungsinstitute und Krise der institutionellen Waisenversorgung 4. Zusammenfassung

292 292 297 301 310

Inhalt

VI.

Soziale Probleme und institutionelles Handeln: Reichweite und Wirkung öffentlich-obrigkeitlicher Hilfsmaßnahmen am Beispiel der Kinderversorgung 1. Die Entstehung elterlicher Versorgungsunfähigkeit 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5.

Die Herkunft öffentlich versorgter Kinder: Versuch einer quantifizierenden Annäherung Plötzlicher Versorgungsausfell und langsamer ökonomischer Niedergang: die Folgen von Todesfällen in der Familie Armut und Not: Zerreißprobe für die Familie Kinderversorgung unter erschwerten Bedingungen: Soldatenfamilien und ledige Mütter Zusammenfassung: Unsicherheit des Lebens, materielle Not und Instabilität familialer Bindungen - die Gefährdungen elterlicher Kinderversorgung

2. Die Reichweite öffentlicher Kinderversorgung 2.1. 2.2.

Selbsthilfe und öffentliche Versorgung Zunahme unterstützungsbedürftiger Kinder

3. Gradmesser des Erfolgs: die Zukunft der Kinder 3.1. 3.2.

vn.

Mortalität und Entlassung Integrationschancen

7

313 313 314 322 327 331

338

340 340 345

347 348 353

4. Sozialdisziplinierung oder Subsidiarität? Der Charakter obrigkeitlicher Ordnungs- und Versorgungsmaßnahmen

359

Möglichkeiten frühneuzeitlicher Sozialpolitik: Obrigkeit und Gesellschaft vor der Aufgabe der Kinderversorgung 1. Obrigkeitliche Durchsetzungsmöglichkeiten

363 363

1.1. 1.2.

Die Umsetzung landesherrlicher Vorgaben durch die Verwaltung Die Finanzierung

2. Der Einfluß der Gesellschaft 2.1. 2.2.

Private Stiftungen Die Bedeutung von 'Öffentlichkeit'

364 372

379 380 384

3. Gestalt und Spielraum obrigkeitlicher Sozialpolitik: eine Bilanz

390

Resümee: Kinderversorgung und gesellschaftliche Organisation

393

Anhang 1. Hinweise zur Zitierform und Abkürzungsverzeichnis 2. Verzeichnis der Tabellen 3. Kindsmordfälle und tot gefundene Kinder 1600-1809 (ohne Celler Zuchthauslisten) 4. Umherziehende Kinder und Bettler mit Kindern im Amt Gifhorn 1754-1773

404 406 407 411

5. Findelkindernamen 6. Quellen- und Literaturverzeichnis

412 413

Register der Orte und geographischen Bezeichnungen

453

Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 1993 vom Fachbereich Historisch-Philologische Wissenschaften der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde diese Fassung leicht überarbeitet; die seit Anfang 1993 erschienene Literatur konnte dabei allerdings nur in Einzelfällen berücksichtigt werden. Bei der Fertigstellung der Arbeit wurde mir vielfältige Unterstützung zuteil, für die ich an dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank aussprechen möchte. Dieser gilt an erster Stelle den Mitarbeitern der von mir benutzten Bibliotheken und Archive, vor allem den Angestellten im Außenmagazin Pattensen des niedersächsischen Hauptstaatsarchivs, die mir ein beinahe sechsmonatiges Aktenstudium in ihrem Hause durch stete Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft wesentlich erleichterten.

Die Studienstiftung des deutschen Volkes schuf durch

die

Bereitstellung eines Promotionsstipendiums die notwendige finanzielle Freiheit für längere Archivaufenthalte und die anschließende Zeit der Niederschrift. Das Land Niedersachsen gewährte darüber hinaus im Rahmen eines Projektes zum Verhältnis von Obrigkeit und Untertanen im 17. und 18. Jahrhundert einen Reisekostenzuschuß. Erste Anregungen zur Beschäftigung mit der Geschichte unversorgter Kinder erhielt ich durch Professor Jean-Pierre Bardet während eines Studienjahres an der Universität Caen. Für die Ermutigung, das Thema unter einer erweiterten Fragestellung weiterzuverfolgen, danke ich dem Betreuer der Arbeit, Prof. Dr. Hermann Wellenreuther, der meine Forschungen mit nie nachlassendem Interesse und wohlwollender Kritik begleitet hat und stets in einem weit über das Übliche hinausgehenden Maß ansprechbar war. Auch Priv.-Doz. Dr. Jürgen Schlumbohm fand sich mehrfach zur Diskussion auftretender Probleme bereit. Das Korreferat übernahm freundlicherweise Prof. Dr. Ernst Schubert. Den Herausgebern der Reihe "Ancien Régime, Aufklärung und Revolution" danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit; die Drucklegung wäre freilich nicht möglich gewesen ohne die großzügige und unbürokratisch gewährte finanzielle Unterstützung der Calenberg-Grubenhagenschen Landschaft zu Hannover. Vielerlei Anregungen und Unterstützung verdanke ich darüber hinaus Freunden und Kommilitonen. Ralf Pröve und Norbert Winnige ließen mich wiederholt von den Ergebnissen ihrer eigenen Forschungen profitieren, Meike Homann, Matthias Lehmann und Martin Weiner nahmen die Mühe des Korrekturlesens auf sich. Gerade letzteren möchte ich hier nochmals für ihre Hilfe und ihr Interesse an den sozialen Problemen der frühen Neuzeit danken.

"Der wichtigste Gegenstand der Aufmerksamkeit für die, welche sich mit der Armenpflege beschäftigen, ist und bleibt die Erziehung verlassener Kinder..." Arnold Wagemann, Pfarrer und Armenpfleger in Göttingen, 17911

Unversorgte Kinder als soziales und politisches Problem der frühen Neuzeit

Einer der folgenreichsten Impulse der letzten Jahrzehnte des Ancien Régime für die moderne Gesellschaft waren die 'Entdeckung der Kindheit' und die darauffolgende "Pädagogisierung des Kinder- und Jugendlebens (...) seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert" 2 , das daher von Historikern auch als "Jahrhundert des Kindes" 3 bezeichnet wird. Früher und vielleicht nachhaltiger noch als der Kindheit im allgemeinen galt das Interesse der Zeitgenossen aber unversorgten Kindern und den materiellen Problemen der Kinderversorgung. Überdies hatten diese Fragen großen Anteil an der Entwicklung pädagogischer Konzepte: Kindererziehung hieß häufig zuerst einmal Erziehung armer und unversorgter Kinder 4 . Alleinstehende und verwahrloste Kinder gehörten zu den auffalligsten Erscheinungen des Ancien Régime. Nicht nur beim Tod ihrer Eltern blieben viele Kinder hilfsbedürftig zurück; oft wurden sie von ihren Eltern verlassen oder in den Findelhäusern der großen Städte abgegeben. Namentlich Frankreich erlebte seit dem Ende des 17. Jahrhunderts einen viele Zeitgenossen erschreckenden Anstieg der Findelkinderzahlen, andere Länder wie Italien, Spanien, Rußland und Österreich folgten 5 . Auch in Deutschland gehörten bettelnde und verwahrloste Kinder zum alltäglichen Erscheinungsbild der eineinhalb Jahrhunderte nach dem

1

2

3

4

5

Arnold WAGEMANN, lieber Waisenhauser, in: Göttingisches Magazin für Industrie und Armenpflege 2 (1791), 2. Abt., 68-88, hier 68. Ulrich HERRMANN, Die Pädagogisierung des Kinder- und Jugendlebens in Deutschland seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Jochen MARTIN und August NITSCHKE (Hgg.), Zur Sozialgeschichte der Kindheit, Freiburg und München 1986, 661-683. Mary LINDEMANN, Materaal Politics: The Principles and Practice of Maternity Care in Eighteenth Century Hamburg, in: Journal of Family History 9 (1984), 44-63, hier 44. Zur Armenpädagogik vgl. den Sammelband von Ulrich HERRMANN (Hg.), "Das pädagogische Jahrhundert". Volksaufklärung und Erziehung zur Armut im 18. Jahrhundert in Deutschland, ( = Geschichte des Erziehungs- und Bildungswesens in Deutschland; 1), Weinheim und Basel 1981. Volker HUNECKE, Die Findelkinder von Mailand: Kindesaussetzung und aussetzende Eltern vom 17. bis zum 19. Jahrhundert ( = Industrielle Welt; 44), Stuttgart 1987, 12f.

12

Unversorgte Kinder als soziales und politisches Problem

D r e i ß i g j ä h r i g e n K r i e g 6 . In den Städten w u c h s e n die K i n d e r ä r m e r e r L e u t e meist a u f d e r S t r a ß e a u f 7 , und auch unter den über L a n d ziehenden B e t t l e r s c h a r e n w a r e n K i n d e r allein o d e r in Begleitung ihrer E l t e r n d u r c h a u s keine Seltenheit 8 . D i e ses K i n d e r e l e n d b e w i r k t e seit d e m E n d e des 1 7 . Jahrhunderts die Gründung zahlr e i c h e r W a i s e n h ä u s e r 9 und führte b e s o n d e r s im letzten Drittel des 1 8 .

Jahrhun-

derts z u e i n e r r e g e n öffentlichen Auseinandersetzung mit d e r K i n d e r v e r s o r g u n g und ihren sozialen und materiellen B e d i n g u n g e n . In Zeitschriften und A k a d e m i e p r e i s f r a g e n w u r d e über die V e r a n t w o r t u n g des Staates für u n v e r s o r g t e

Kinder

und den N u t z e n v o n W a i s e n - und Findelhäusern diskutiert; gleichzeitig richtete sich d a s Interesse a u f die U r s a c h e n kindlicher V e r s o r g u n g s l o s i g k e i t und die P r o bleme

elterlicher

Kinderversorgung10.

Besondere

Aufmerksamkeit

wurde

der

L a g e unehelicher M ü t t e r , ihrer materiellen Lebenssituation e b e n s o w i e ihrer sozialen Diskriminierung durch die weltliche und kirchliche Sittengesetzgebung g e s c h e n k t . W ä h r e n d sich in a n d e r e n L ä n d e r n die sozialen R e f o r m v o r s c h l ä g e in erster L i n i e d e r Kindesaussetzung w i d m e t e n 1 1 , P r o b l e m d e r Kindestötung b e s o n d e r e

beanspruchte in Deutschland

Aufmerksamkeit12.

das

Dies spiegelt sich a u c h

in d e r L i t e r a t u r : standen im Mittelpunkt v o n Fieldings " T o m J o n e s " ( 1 7 4 9 ) o d e r B e a u m a r c h a i s ' D r a m e n K i n d e r ungewisser Herkunft, w a r e s in Deutschland v o r

6

7

8 9

10

11

12

Dies zeigt auch die bildende Kunst: "Barfüßige, zerlumpte Kinder, die in ungeordneten Verhältnissen von der Hand in den Mund lebten, wurden zu einem Topos der Malerei. " Ingeborg WEBER-KELLERMANN, Die Kindheit, Frankfurt a.M. 1979, 87. Vgl. ebd., 14 und 22, die Abbildungen von Rembrandts "Die Bettler an der Haustür* (1648) und Seekatz' "Bettelknaben beim Kartenspiel" aus dem 18. Jahrhundert. Vor allem aber Chodowiecki wählte wiederholt Betteljungen und bettelnde Frauen mit Kindern als Motive. Jens-Heiner BAUER, Daniel Nikolaus Chodowiecki. Das druckgraphische Werk, Hannover 1982, Nr. 9, 10, 29, 30, 34, 1004, 1825 und 2016-2018. Jürgen SCHLUMBOHM (Hg.), Kinderstuben. Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden. 1700-1850, München 1983, 217ff. Siehe dazu Kap. IV, Abschnitt 3.3. Die wohl bekannteste Waisenhausstiftung dieser Zeit, die gelegentlich sogar in Handbuchdarstellungen erwähnt wird, ist die von August Hermann Francke in Glaucha bei Halle begründete Anstalt. Vgl. Heinz SCHILLING, Höfe und Allianzen. Deutschland 1648-1763, Berlin 1989, 395. Zur Vielzahl von Waisenhausgründungen vgl. im einzelnen Kap. V, Anm. 3. Eine zusammenfassende Analyse dieser öffentlichen Debatte unternimmt Otto ULBRICHT, The Debate about Foundling Hospitals in Enlightenment Germany: Infanticide, Illegitimacy, and Infant Mortality Rates, in: Central European History 18 (1985), 211-256. Vgl. auch Klaus GERTEIS, Einleitung, in: ders. (Hg.), Alltag in der Zeit der Aufklärung ( = Aufklärung; 5), Hamburg 1991, 3-8, hier 5, und Wolfram Malte FUES, Amme oder Muttermilch? Der Disput um das Stillen in der frühen deutschen Aufklärung, in: ebd., 79126. Zu Frankreich und Italien HUNECKE, Findelkinder, 9; dort auch weitere Literaturhinweise. Zur Debatte in England vgl. das Literaturverzeichnis bei Ruth MCCLURE, Coram's Children. The London Foundling Hospital in the Eighteenth Century, New Haven und London 1981, 300-306. Ausfuhrlich dazu Otto ULBRICHT, Kindsmord und Aufklärung in Deutschland ( = Ancien Régime, Aufklärung und Revolution; 18), München 1990, 217-318.

13

Unversorgte Kinder als soziales und politisches Problem

allem die Kindsmörderin,

die

in Goethes

Gretchentragödie

oder

Wagners

"Kindermörderinn" (1776) zur literarischen Figur wurde 13 . Die Ursachen für unzureichende Versorgung und Armut von Kindern waren Ausdruck der unsicheren sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen der vorindustriellen Zeit: Für Menschen in einer ohnehin bedrängten sozialen oder wirtschaftlichen Lage stellte sich die Versorgung von Kindern als zusätzliche Belastung dar, andere gerieten erst durch diese Verpflichtung in existentielle Schwierigkeiten. Die Lösung dieser Probleme und die Sicherung der Kinderversorgung gehörten zu den dringendsten Herausforderungen für Obrigkeit und Gesellschaft. Die sozialen und politischen Aspekte der Kinderversorgung berührten also zentrale Probleme der zweiten Hälfte der frühen Neuzeit: die Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen großer Bevölkerungsteile bei gleichzeitigem Bevölkerungswachstum, die fortschreitende Vergesellschaftung und die Entstehung des Sozial- oder Wohlfahrtsstaates sowie die zunehmende öffentliche Diskussion sozialer Themen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts 14 .

Anders als in England 13 und den romanischen Ländern 16 ist die soziale und politische Bedeutung der Kinderversorgung für die frühneuzeitliche Gesellschaft von der deutschsprachigen Forschung bislang nicht erkannt und daher allenfalls am Rande gestreift worden 17 . Zwar kam die Geschichte der Kindheit in der Folge 13

14

15

16

17

Weitere Bearbeitungen des Motivs erfolgten durch Schiller, Bürger und andere. Vgl. dazu Jan Matthias RAMECKERS, Der Kindsmord in der Literatur der Sturm- und Drang-Periode. Ein Beitrag zur Kultur- und Literatur-Geschichte des 18. Jahrhunderts, Rotterdam 1927; Beat WEBER, Die Kindsmörderin im deutschen Schrifttum von 1770-1795 ( = Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft; 162), Bonn 1974. Zu den Grundzügen der sozioökonomischen Entwicklungen vgl. Wilhelm ABEL, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis, Hamburg und Berlin 1974; zur Bevölkerung SCHILLING, Höfe und Allianzen, 80f.; Horst MÖLLER, Fürstenstaat oder Bürgernation. Deutschland 1763-1815, Berlin 1989, 78ff. Die Grundzüge der Entwicklung von Staat und Gesellschaft skizziert knapp Winfried SCHULZE, Einfuhrung in die neuere Geschichte, Stuttgart 1987, bes. 61-65 und 142-166; unter dem Paradigma der Sozialdisziplinierung: ders., Gerhard Oestreichs Begriff "Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit", in: Zeitschrift für historische Forschung 14 (1987), 265-302. Vgl. auch Johannes KUNISCH, Absolutismus. Europäische Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zur Krise des Ancien Régime, Göttingen 1986, bes. 37-54, und Rudolf VIERHAUS, Deutschland im 18. Jahrhundert. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1987. Zur Bedeutung sozialer und pädagogischer Fragen in der Aufklärung vgl. MÖLLER, Fürstenstaat, 336ff. Trotz einiger inzwischen revisionsbedürftiger Auffassungen immer noch interessant: Ivy PINCHBECK und Margaret HEWITT, Children in English Society, Bd. 1: From Tudor Times to the Eighteenth Century, London und Toronto 1969. Zu Findelkindern in London MCCLURE, Coiam's Children. Einige der zahlreichen Arbeiten über das Findelkinderproblem in Frankreich und Italien werden im weiteren Verlauf der Arbeit noch eingehender herangezogen. Hier sei vorerst nur auf das Literaturverzeichnis bei HUNECKE, Findelkinder, 278-287, hingewiesen. Ein bezeichnendes Beispiel gibt MÖLLER, Fürstenstaat, 108-111. Obwohl der Abschnitt über Unterschichten und Armut mit dem Bild einer bettelnden Soldatenfrau mit Kind illustriert ist, werden Kinder nur einmal unter dem Begriff 'Waisen' erwähnt.

14

Unversorgte Kinder als soziales und politisches Problem

von Ariès' "L'enfant et la vie familiale sous l'ancien régime", dessen deutsche Übersetzung 1975 erschien 18 , auch hierzulande kurzfristig in Mode; das ohnehin rasch wieder abflauende Interesse galt aber vornehmlich

autobiographischen

Kindheitserfahrungen und einem vermuteten 'Einstellungswandel' gegenüber der Kindheit 19 . In überblicksartigen Darstellungen und Handbüchern zur frühneuzeitlichen Geschichte wird das Thema 'Kindheit' meist überhaupt nicht angesprochen 2 0 . In den seltenen Ausnahmen steht wiederum die affektive Einstellung zum Kind im Vordergrund 21 . Auch in gezielten Untersuchungen zur frühneuzeitlichen Sozialgeschichte werden unversorgte Kinder allenfalls beiläufig in einer Gemeinschaft mit Armen, Bettlern, Vaganten, Räubern und Kriminellen erwähnt 22 . Die sozialen und materiellen Dimensionen der Kinderversorgung finden - im Gegensatz etwa zu Alter, 18

19

20

21

22

Philippe ARIES, Geschichte der Kindheit, 8. Aufl. München 1988 (Orig.: L'enfant et la vie familiale sous l'ancien rÉgime, Paris 1960). Zur Kritik an Ariès vgl. Jürgen SCHLUMBOHM, Geschichte der Kindheit - Fragen und Kontroversen, in: Geschichtsdidaktik 8 (1983), 305-315, hier 305-307, und Otto ULBRICHT, Der Einstellungswandel zur Kindheit in Deutschland am Ende des Spätmittelalters (ca. 1470 bis ca. 1520), in: Zeitschrift für historische Forschung 19 (1992), 159-187, bes. 159f. Binnen weniger Jahre erschienen zahlreiche Arbeiten zur Geschichte der Kindheit, von denen hier nur einige angeführt werden, insofern sie den Untersuchungszeitraum betreffen: Donata ELSCHENBROICH, Kinder werden nicht geboren. Studien zur Entstehung der Kindheit, Frankfurt 1977; Irene HARDACH-PINKE und Gerd HARDACH, Deutsche Kindheiten. Autobiographische Zeugnisse 1700-1900, Kronberg 1978; Irene HARDACH-PINKE, Kinderalltag - Aspekte von Kontinuität und Wandel der Kindheit in autobiographischen Zeugnissen 1700-1900, Frankfurt a.M. 1981. Zu den Nachzüglern gehört Anita MESCHENDÖRFER, Bürgerliche Kindheit im Deutschland des 18. Jahrhunderts anhand autobiographischer Zeugnisse (= Europäische Hochschulschriften, Reihe XI: Pädagogik; 465), Frankfurt a.M. 1991. Vgl. auch die Forschungsüberblicke bei SCHLUMBOHM, Geschichte der Kindheit, und ULBRICHT, Einstellungswandel, sowie Ulrich HERRMANN, Susanne RENFTLE und Lutz ROTH, Bibliographie zur Geschichte der Kindheit, Jugend und Familie, München 1980. Einer der wenigen deutschen Historiker, die sich eingehend mit den sozialen und politischen Aspekten der Kindheit beschäftigt haben, resümiert: "Das Kind ist ein Stiefkind der historischen Forschung. " Bernd WEISBROD, Kinder der Armut, Kinder des Staates. Sozialreform und Sozialkontrolle im frühviktorianischen England, unveröff. Habilitationsschrift Bochum 1986, 1. Richard van DÜLMEN, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 1: Das Haus und seine Menschen, München 1990, 80-121. Obgleich Kinder in den Arbeiten z.B. von François und Küther ständig in den zitierten Fallbeispielen vertreten sind, wird ihrer Rolle innerhalb der Unterschichten und den sozialen Bedingungen der Kinderversorgung keine Aufmerksamkeit geschenkt. Etienne FRANÇOIS, Unterschichten und Armut in rheinischen Residenzstädten des 18. Jahrhunderts, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 62 (1975), 433-464; Carsten KÜTHER, Menschen auf der Straße: Vagierende Unterschichten in Bayern, Franken und Schwaben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 56), Göttingen 1983. Hans-Ulrich WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära, München 1987, 175, rechnet "verwahrloste Kinder" pauschal zu Vaganten und Kriminellen, mit denen sie gemeinsam "in die Arbeits-, Zucht- und Waisenhäuser gesperrt" worden seien. Rudolf ENDRES, Das Armenproblem im Zeitalter des Absolutismus, in: Franklin KOPITZSCH (Hg.), Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland ( = Nymphenburger Texte zur Wissenschaft. Modelluniversität; 24), München 1976, 220-241, hier 228, erwähnt immerhin beiläufig Vagabunden- und Soldatenkinder.

Unversorgte Kinder als soziales und politisches Problem

15

Armut oder Krankheit 23 - ebenso wie die entsprechenden Reaktionen von Obrigkeit und Gesellschaft nur in Ausnahmefällen Beachtung 24 .

Allein die Re-

formbemühungen der letzten Jahre des 18. Jahrhunderts und insbesondere das aufklärerische Schrifttum sind auf ein lebhafteres Forschungsinteresse gestoßen, ohne daß jedoch Entstehung und Realitätsbezug der Debatten und Reformvorschläge eingehender verfolgt wurden 25 . Verantwortlich für die Ignorierung der sozialgeschichtlichen Realität der Kinderversorgung bei gleichzeitiger Konzentration auf die Spätaufklärung sind neben Arbeiten mit rein literaturgeschichtlichen Ansätzen 26 vor allem spezifisch medizin-, rechts- und pädagogikgeschichtliche Fragestellungen 27 . Eine weitere Ursache mag darin liegen, daß in der historischen Forschung vor allem das 19. Jahrhundert als die Zeit des Kinder- und Mutterschutzes und damit der sozialpolitischen Entdeckung der Kinderversorgung gilt 28 . Das Interesse an der vorangegangenen Zeit beschränkt sich dann leicht auf den 23

24

25 26 27

28

FRANÇOIS, Unterschichten, 437; Ute FREVERT, Krankheit als politisches Problem 17701880 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 62), Göttingen 1984. Eine Annäherung an die Problematik, ohne dieser aber in ihrem ganzen Ausmaß gerecht zu werden, unternimmt Peter FELDBAUER, Kinderelend in Wien. Von der Armenpflege zur Jugendfürsorge (17.-19. Jahrhundert) (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik; 1), Wien 1980. Einen Querschnitt verschiedener Aspekte des Themas bietet Claus KAPPL, Die Not der kleinen Leute. Der Alltag der Armen im Spiegel der Bamberger Malefizamtsakten ( = Historischer Verein für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg, Beihefte; 17), Bamberg 1984, 171-228; ebenso Ernst SCHUBERT, Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts ( = Darstellungen aus der fränkischen Geschichte; 26), 2. Aufl., Neustadt a.d. Aisch 1990, 120-137: "Menschen in Not: Das gefallene Mädchen und das unversorgte Kind"; allerdings liegt der Schwerpunkt hier weniger auf der sozialen Bedeutung der Kinderversorgung insgesamt als auf den Lebensbedingungen nichtehelicher Kinder. Eine stärkere sozialgeschichtliche Einordnung autobiographischer Zeugnisse schließlich versucht unter Heranziehung demographischer und wirtschaftlicher Faktoren SCHLUMBOHM, Kinderstuben. Eine Ausnahme ist ULBRICHT, Kindsmord, 229ff. WEBER, Kindsmörderin; RAMECKERS, Kindsmord. Johannes OEHME (Hg.), Das Kind im 18. Jahrhundert (= Documenta Paediatrica; 16), Lübeck 1988; Ute BERGENTHAL, Der Waisenhausstreit im 18. Jahrhundert. Ein Versuch zur Ausarbeitung der medizinischen Seite der Auseinandersetzungen, Diss. med. Freiburg 1979; Wilhelm WÄCHTERSHÄUSER, Das Verbrechen des Kindesmordes im Zeitalter der Aufklärung ( = Quellen und Forschungen zur Strafrechtsgeschichte; 3), Berlin 1973. Vgl. WEHLER, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen "Deutschen Doppelrevolution", München 1987, 198 und 254-258, besonders 257. Die Auseinandersetzung um Kinderversorgung und öffentliche Kinderfürsorge im 19. Jahrhundert ist demzufolge von der historischen Forschung deutlich stärker beachtet worden. Vgl. Robert HARTLEIB, Zur Geschichte der deutschen Säuglingsfursorge, Diss. med. Berlin 1925; Elfriede SCHÜTTPELZ, Staat und Kinderfürsorge in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (= Widmungen des Fürsorgeseminars, Universität Frankfurt am Main; 29), Berlin 1936; Angelika SCHWALL-DÜREN, Kinder- und Jugendfürsorge im Großherzogtum Baden in der Epoche der Industrialisierung. Entstehung und Zielsetzung der staatlichen, kommunalen und verbandlichen Fürsorge 1850-1914 ( = Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte; 30), Freiburg und München 1980. Auch bezüglich der Verhältnisse in den Nachbarländern gilt das Interesse der deutschen Geschichtswissenschaft eher dem neunzehnten Jahrhundert, vgl. HUNECKE, Findelkinder; Angela TAEGER, Der Staat und die Findelkinder - Findelfürsorge und Familienpolitik im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Diss. phil. Berlin 1986; dies., Kindesaussetzung und Frauenpolitik. Fürsorge für Mutter und Kind im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Hamburg 1991; WEISBROD, Kinder der Armut.

16

Unversorgte Kinder als soziales und politisches Problem

Nachweis

einer

-

oft

mit

der

Aufklärung

in

Verbindung

gebrachten

-

'Vorgeschichte' 2 9 . Tatsächlich aber ist die vermehrte zeitgenössische Beschäftigung mit der Kinderversorgung nur im Zusammenhang der frühneuzeitlichen Staatsbildung zu verstehen. Im Zuge der seit dem 16. Jahrhundert fortschreitenden Territorialisierung und der damit verbundenen Ausweitung der inneren Herrschaft, die sich nach dem

Ende

des

Dreißigjährigen

Krieges

noch

erheblich

in der

Errichtung

'absolutistischer' Herrschaftsformen verstärkte und immer weitere Lebensbereiche erfaßte 3 0 , geriet auch die Kinderversorgung vermehrt unter obrigkeitlichen Einfluß. Die landesherrlichen Obrigkeiten bemühten sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts nicht nur um eine einheitliche und effektivere Organisation des Armenwesens 3 1 , zu dessen Aufgaben auch die Versorgung bedürftiger Kinder gehörte, sondern sie bekräftigten zugleich ihren Anspruch, das sittliche Verhalten der Untertanen und damit die Bedingungen der Kinderzeugung zu kontrollieren. Verstöße gegen die christliche Sexualmoral wie vorehelicher Beischlaf, Ehebruch oder Prostitution, die in früherer Zeit in die Zuständigkeit geistlicher und städtischer Gerichtsbarkeit gehört hatten, wurden nun zunehmend auch von den landesherrlichen Behörden unnachgiebig geahndet 32 . Etwa zur gleichen Zeit er-

29

30

31

32

So erwähnen SachBe und Tennstedt im Zusammenhang der vorindustriellen Kinderfiirsorge ausschließlich die als typisches Werk der Aufklärung geltende Hamburger Annenreform von 1788. Christoph SACHSSE und Florian TENNSTEDT, Geschichte der Armenflirsorge in Deutschland, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1980, 125ff. Vgl. auch Jürgen KUCZYNSKI, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 19: Studien zur Geschichte der Lage des arbeitenden Kindes in Deutschland von 1700 bis zur Gegenwart, Berlin 1968: trotz der anderslautenden Zeitangabe eilt Kuczynski über die Zeit vor 1830 mit einigen Platitüden hinweg. Ein Mißverhältnis in der Darstellung des Problems ergibt sich auch zwischen den beiden Bänden von WEHLER, Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 22 und 28). Zur Verbreitung dieser Orientierung an späteren Entwicklungen, denen meist eine teleologische Geschichtsauffassung zugrundezuliegen scheint, vgl. auch die Kritik von Martin DINGES, Frühneuzeitliche Armenfürsorge als Sozialdisziplinierung? Probleme mit einem Konzept, in: Geschichte und Gesellschaft 17 (1991), 5-29, bes. 8. Dazu zählten alle im heutigen Sinne öffentlichen Angelegenheiten wie Wirtschaft, Steuern, Münzwesen, Verkehr, aber auch Kleiderordnungen, die Reglementierung von Festlichkeiten und die Verpflichtung zum Kirchgang. Vgl. SCHULZE, "Sozialdisziplinierung", 269 und passim; Richard van DÜLMEN, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 2: Dorf und Stadt 16.- 18. Jahrhundert, München 1992, 222-246. Karl Heinz METZ, Staatsräson und Menschenfireundlichkeit. Formen und Wandlungen der Armenpflege im Ancien Régime, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 72 (1985), 1-26, bes. llff.; FELDBAUER, Kinderelend, 21; Wolfram FISCHER, Armut in der Geschichte. Erscheinungsformen und Lösungsversuche der "sozialen Frage" in Europa seit dem Mittelalter, Göttingen 1982, 35. Zu dieser Ausdehnung der landesherrlichen Gerichtsbarkeit auf das Gebiet der Sexualmoral vgl. Stefan BREIT, "Leichtfertigkeit" und ländliche Gesellschaft. Voreheliche Sexualität in der frühen Neuzeit ( = Ancien Régime, Aufklärung und Revolution; 23), München 1991, bes. 14; Rainer BECK, Illegitimität und voreheliche Sexualität auf dem Land. Unterfinning, 16711770, in: Richard van DÜLMEN (Hg.), Kultur der einfachen Leute, München 1983, 112150, hier 126ff.

Unversorgte Kinder als soziales und politisches Problem

17

reichte auch die strafrechtliche Verfolgung von Kindesaussetzungen, Abtreibungen und vor allem Kindestötungen eine bis dahin nicht gekannte Intensität33. Eine Untersuchung der sozialen Probleme der Kinderversorgung kann nur unter Berücksichtigung dieser obrigkeitlichen Regulierungsbemühungen erfolgen. Zum einen wirkten die Obrigkeiten mit Gesetzen und Strafen, aber auch mit der Entscheidung über Hilfsangebote und Fürsorgemaßnahmen wesentlich auf die Bedingungen der Kinderversorgung ein 34 . Zum anderen ist der Zugang zu den sozialgeschichtlichen Realitäten stark von der obrigkeitlichen Perspektive der Quellenüberlieferung geprägt. Nähere Angaben über unversorgte Kinder und ihre Eltern liegen in der Regel nur vor, wenn diese von einer Unterstützungsmaßnahme profitierten oder aber mit den Ordnungsvorstellungen der Obrigkeiten in Konflikt gerieten. Daher besteht für den Historiker bei der Auswertung dieser Quellen prinzipiell die Gefahr, einseitig deren obrigkeitliche Perspektive zu übernehmen. Andererseits aber wäre eine Erforschung weiter Bereiche der frühneuzeitlichen Sozialgeschichte ohne diese amtlichen Quellen schlechterdings unmöglich 35 . Zudem hieße der Versuch, auf obrigkeitlich geprägte Quellen zu verzichten, den Einfluß von Normen und obrigkeitlichen Vorstellungen leichtfertig zu unterschätzen. Dies gilt ganz besonders für die Beschäftigung mit strafrechtlich verfolgten Verhaltensweisen, die überhaupt erst durch die rechtlichen Normen definiert wurden 36 . Nur indem stets der jeweilige Entstehungszusammenhang einer Quelle reflektiert wird, können pauschale Fehlurteile vermieden werden, z.B. derart, daß stereotype Klagen der Obrigkeiten über den zunehmenden Sittenverfall 37 und die weite Verbreitung der Kindestötung übernommen werden 38 , woraus dann auf eine ge-

33

34

35

36

37 38

ULBRICHT, Kindsmord, 97 und passim; Richard van DÜLMEN, Frauen vor Gericht. Kindsmord in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1991, 65ff. Vgl. dazu allgemein GERTEIS, Einleitung, 6; zur Bedeutung von Herrschaft als gesellschaftsbildendem Faktor auch Norbert FINZSCH, Obrigkeit und Unterschichten. Zur Geschichte der rheinischen Unterschichten gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. lahrhunderts, Stuttgart 1990, 13ff. Vgl. zur Quellenproblematik SCHUBERT, Arme Leute, 8f.; FINZSCH, Obrigkeit und Unterschichten, 26; FRANÇOIS, Unterschichten, 433; Robert JÜTTE, "Disziplin zu predigen ist eine Sache, sich ihr zu unterwerfen eine andere" (Cervantes). Prolegomena zu einer Sozialgeschichte der Armenfursorge diesseits und jenseits des Fortschritts, in: Geschichte und Gesellschaft 17 (1991), 92-101, hier 95. Ein extremes Beispiel dafür sind die Hexenprozesse. Vgl. auch van DÜLMEN, Kultur und Alltag, Bd. 2, 265. Ausschließlich obrigkeitlichen Äußerungen folgt z.B. BERGENTHAL, Waisenhausstreit. Ursula R. GROSSPIETSCH-SIMON, Kindheiten. Sozialgeschichtliche und sozialpsychologische Aspekte, Diss. rer. soc. Gießen 1981, 208: "Die Tötung eines neugeborenen Kindes, eine Tat, die für unser Weltbild kaum vorstellbar ist, war offenbar nichts außergewöhnliches". Eine weitere Verzerrung ergibt sich in dieser Arbeit dadurch, daß die Autorin Angaben über Kindesaussetzungen oder Ammenerziehung in Paris ohne weitere Überprüfung auf deutsche Verhältnisse überträgt und verallgemeinert. Ebd., 210.

18

Unversorgte Kinder als soziales und politisches Problem

n e r e l l g e r i n g e W e r t s c h ä t z u n g k i n d l i c h e n L e b e n s in d e r f r ü h n e u z e i t l i c h e n

Gesell-

schaft geschlossen wird39. Umgekehrt

waren

f r e i l i c h auch d i e o b r i g k e i t l i c h e n

Aktivitäten

nicht

unab-

h ä n g i g v o n d e r s o z i a l e n W i r k l i c h k e i t , so d a ß sich d i e F r a g e nach d e r B e z i e h u n g z w i s c h e n d e n s o z i a l e n und m a t e r i e l l e n P r o b l e m e n d e r K i n d e r v e r s o r g u n g und d e n o b r i g k e i t l i c h e n R e g u l i e r u n g s b e m ü h u n g e n stellt. G e r a d e d i e o b r i g k e i t l i c h e v e n t i o n in g e s e l l s c h a f t l i c h e n P r o b l e m b e r e i c h e n

ist g e e i g n e t , das

Inter-

Zusammenwir-

k e n v o n s o z i a l e r E n t w i c k l u n g und o b r i g k e i t l i c h e r N o r m i e r u n g z u b e l e u c h t e n . D i e s e r A n s a t z ist b e i d e r E r f o r s c h u n g e i n z e l n e r B e r e i c h e d e r Sitten- und

Armengesetzgebung

Vordergrund mierung

der

bzw.

meisten

bislang

Arbeiten

allerdings

kaum

stehen v i e l m e h r

die obrigkeitliche Tätigkeit40.

frühneuzeitlichen

verfolgt worden.

Im

allein die rechtliche

Nor-

die frühneuzeitliche

Ehe-

Sowohl

und S e x u a l g e s e t z g e b u n g als auch d i e D e l i k t e d e r A b t r e i b u n g , K i n d e s t ö t u n g und A u s s e t z u n g w u r d e n z u m e i s t unter r e i n r e c h t s h i s t o r i s c h e n F r a g e s t e l l u n g e n

unter-

sucht. I m V o r d e r g r u n d d e s Interesses standen v o r a l l e m d i e r e l i g i ö s e n und m o r a lischen

Grundlagen

Entwicklung41.

der

obrigkeitlichen

Gesetzgebung

und

ihre

geschichtliche

I m R a h m e n d e r S t r a f r e c h t s p f l e g e w u r d e n hauptsächlich d i e B e -

s t r a f u n g d e s K i n d s m o r d e s und ihr W a n d e l i m Z e i t a l t e r d e r A u f k l ä r u n g b e a c h t e t 4 2 .

39

Ebd., 214f. Diese Annahme geht vor allem auf die ebenfalls auf obrigkeitlichen Quellen basierenden Behauptungen von Shorter und de Mause zurück. Edward SHORTER, Die Geburt der modernen Familie, Reinbek 1977 (Orig.: The Making of the Modern Family, New York 1975), und Lloyd de M A U S E , Evolution der Kindheit, in: ders. ( H g . ) , Hört ihr die Kinder weinen? Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, Frankfurt a.M. 1978 (Orig.: The History of Childhood. The Evolution of Parent-Child Relationships as a Factor in History, London 1976). Zur Kritik an diesen Thesen vgl. S C H L U M B O H M , Geschichte der Kindheit, 306f.

40

Vgl. dazu den Überblick bei van D Ü L M E N , Kultur und Alltag, Bd. 2, 264-269.

41

Sigurd Graf von PFEIL, Das Kind als Objekt der Planung. Eine kulturhistorische Untersuchung über Abtreibung, ROUSCHEK,

Kindestötung

und Aussetzung,

Göttingen

1979; Günther JE-

Lebensschutz und Lebensbeginn. Kulturgeschichte des Abtreibungsverbots

( = Medizin in Recht und Ethik; 17), Stuttgart 1988; Boris L I F S C H I T Z , Das Aussetzungsdelikt in geschichtlicher Darstellung, Diss. iur. Bern 1909/10. Vgl. auch Jean-Louis F L A N D R I N , L'attitude à l'égard du petit enfant et les conduites sexuelles dans la civilisation occidentale. Structures anciennes et évolution, in: Annales de Démographie historique 1973, 143205. Hartwig DIETERICH, Das protestantische Eherecht in Deutschland bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts ( = Jus Ecclesiasticum; 10), München 1970; Dieter S C H W A B , Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung in der Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts ( = Schriften zum deutschen und europäischen Zivil-, Handels- und Prozeßrecht; 45), Bielefeld 1967; Stephan B U C H H O L Z , Recht, Religion und Ehe. Orientierungswandel und gelehrte Kontroversen im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert ( = Studien zur europäischen Rechtsgeschichte; 36), Frankfürt a. M . 1988; Beate H A R M S - Z I E G L E R , Illegitimität und Ehe. Illegitimität als Reflex des Ehediskurses in Preußen im 18. und 19. Jahrhundert ( = Schrifen zur Rechtsgeschichte; 51), Berlin 1991. Dieter K L U G E , Eyn noch nit lebendig Kindt. Rechtshistorische Untersuchungen zum Abbruch der Schwangerschaft in den ersten drei Monaten der Entwicklung der Frucht auf der Grundlage der Carolina von 1532, Frankfurt a.M. 1986. 42

Karl C L O S S M A N N , Die Kindestötung historisch-dogmatisch dargestellt, Diss. iur. Erlangen 1889; Manfred S C H W A R Z , Wechselnde Beurteilung von Straftaten in Kultur und Recht, Bd. 1: Die Kindestötung, Berlin 1935; W Ä C H T E R S H Ä U S E R , Verbrechen. Weitere Arbeiten

19

Unversorgte Kinder als soziales und politisches Problem

A r b e i t e n z u r konkreten V e r f o l g u n g v o n A u s s e t z u n g , Abtreibung und Sittendelikten sind h i n g e g e n e b e n s o rar w i e v e r g l e i c h e n d e U n t e r s u c h u n g e n m e h r e r e r T a t b e stände43. H e r k u n f t und M o t i v l a g e der T ä t e r i n n e n o d e r T ä t e r 4 4 w u r d e n in diesen Studien meist e b e n s o w e n i g thematisiert w i e die gesellschaftlichen H i n t e r g r ü n d e der frühneuzeitlichen S t r a f v e r f o l g u n g .

E r s t neuerdings haben sich v e r e i n z e l t e

Studien

e i n g e h e n d e r den b e t r o f f e n e n P e r s o n e n , ihrer Stellung in der G e s e l l s c h a f t und den F u n k t i o n e n der Sittengesetzgebung z u g e w a n d t 4 5 . D e r B l i c k w i n k e l d e r einzelnen Studien bleibt j e d o c h nur a u f einen Teil der G e s e t z g e b u n g b z w . d e r Strafverfolgung b e g r e n z t .

S o hat Stefan B r e i t a m Beispiel O b e r b a y e r n s deutlich

machen

k ö n n e n , daß die Bestrafung des v o r e h e l i c h e n B e i s c h l a f s v o r n e h m l i c h zur F e s t s c h r e i b u n g der ländlichen Sozialordnung beitrug und v o r allem e i n e g e r e g e l t e B e s i t z w e i t e r g a b e g a r a n t i e r e n sollte. D a ß d a m i t nicht zuletzt a u c h e i n e S i c h e r u n g der familialen K i n d e r v e r s o r g u n g

beabsichtigt w a r ,

wird v o n B r e i t j e d o c h nur

am

R a n d e e r w ä h n t 4 6 . S o bestehen trotz dieser verdienstvollen U n t e r s u c h u n g weiterhin U n k l a r h e i t e n hinsichtlich des A u s m a ß e s der obrigkeitlichen

Sittenkontrolle,

ihrer V e r b i n d u n g mit den in späterer Z e i t z u n e h m e n d e n E h e h i n d e r n i s s e n 4 7 s o w i e

43

nennt ULBRICHT, Kindsmord, 13f., Anm. 10 und 11; vgl. ebenfalls van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 9. Paula URBAN, Die Kindesaussetzung: Rechtsgeschichtliche Entwicklung, Dogmatik und Bekämpfung (unter besonderer Berücksichtigung der Stadt Köln), Diss. iur. Düsseldorf 1936. Ansätze für vergleichende Untersuchungen finden sich bei Alfons F E L B E R , Unzucht und Kindsmord in der Rechtsprechung der Freien Reichsstadt Nördlingen vom 15. bis 19. Jahrhundert, Diss. iur. Bonn 1961, und Karl ROETZER, Die Delikte der Abtreibung, Kindstötung sowie Kindesaussetzung und ihre Bestrafung in der Reichsstadt Nürnberg, Diss. iur. Erlangen 1957.

44

Lediglich im Zusammenhang mit der Kindestötung finden sich einige verstreute Angaben zu den Hintergründen der Tat in strafrechtshistorischen Arbeiten, v.a. WÄCHTERSHÄUSER, Verbrechen des Kindesmordes; vgl. auch Gustav RADBRUCH und Heinrich GWINNER, Geschichte des Verbrechens. Versuch einer historischen Kriminologie, Stuttgart 1951. Neuausgabe Frankfurt a.M. 1990. Ebenfalls auf die Kindestötung beziehen sich zwei Arbeiten, die über die strafrechtshistorische Fragestellung hinausgehen: Heinrich RODEGRA, Mary LINDEMANN und Martin EWALD, Kindermord und verheimlichte Schwangerschaft in Hamburg im 18. Jahrhundert. Versuch einer soziologischen und sozialmedizinischen Analyse, in: Gesnerus 35 (1978), 276-296; Dieter HOOF, Pestalozzi und die Sexualität seines Zeitalters. Quellen, Texte und Untersuchungen ( = Sexualpädagogische Beiträge; 3), Sankt Augustin 1986. Die Forschung zur Geschichte des Kindsmordes im 19. Jahrhundert ist dagegen weit stärker sozialgeschichtlich orientiert. Vgl. ULBRICHT, Kindsmord, 13, Anm. 9, und Regina SCHULTE, Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts, Reinbek 1989.

45

Peter BECKER, Leben und Lieben in einem kalten Land. Sexualität im Spannungsfeld von Ökonomie und Demographie. Das Beispiel St. Lambrecht 1600-1850 ( = Studien zur historischen Sozialwissenschaft; 15), Frankfurt a.M. und New York 1990. B R E I T , "Leichtfertigkeit", 5, 10. Vgl. dazu Josef EHMER, Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel. England und Mitteleuropa in der Formationsperiode des Kapitalismus ( = Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 92), Göttingen 1991, 47-61; Klaus-Jürgen MATZ, Pauperismus und Bevölkerung. Die gesetzlichen Ehebeschränkungen in den süddeutschen Staaten während des 19. Jahrhunderts ( = Industrielle Welt; 31), Stuttgart 1980.

46 47

20

Unversorgte Kinder als soziales und politisches Problem

ihrer Folgen für die Versorgung von Kindern aus nicht legalisierten Verbindungen 4 8 . Zwar ist bekannt, daß ledige Mütter häufig diskriminiert wurden und nichteheliche Kinder durch ihre rechtliche Position in Bezug auf Erbe, Eigentumserwerb und beruflicher Zukunft deutlich benachteiligt waren 49 , die Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Mütter zur Versorgung der Kinder und auf die Entscheidung z.B. zur Aussetzung des Kindes wurden aber in der Forschung in diesem Zusammenhang nicht angesprochen 50 . Dagegen wird in vielen Arbeiten zur Kindestötung die aus der aufklärerischen Debatte stammende Vermutung wiederholt, die Furcht vor den drohenden Unzuchtsstrafen sei ein Hauptmotiv der Täterinnen gewesen 5 1 . Erst Otto Ulbricht hat diese Vermutung anhand von Verhörprotokollen aus den Herzogtümern Schleswig und Holstein revidiert und sich gleichzeitig bemüht, ein soziales Profil von Kindsmörderinnen herauszuarbeiten 52 . In Ergänzung dazu hat Richard van Dülmen vor allem die gesellschaftlichen Hintergründe der Kindsmordverfolgung untersucht 53 . Da sich aber beide Arbeiten auf die Kindestötung beschränken, sind Vergleiche mit Abtreibung und Kindesaussetzung, auf deren Bedeutung hinsichtlich der strafrechtlichen Bewertung wie auch der Lebensbedingungen der Betroffenen sowohl Ulbricht als van Dülmen selbst hinweisen 54 , bislang unterblieben. Auch bei der Erforschung der frühneuzeitlichen Armenpflege stand oft die rechtliche und institutionelle Entwicklung im Vordergrund 55 . Über die Entstehung spezieller Maßnahmen zur Kinderversorgung sind obendrein nur mangelhafte Kenntnisse vorhanden. Allein zur Geschichte einzelner Waisenhäuser liegen 48

49

50

51

52 53 54 55

Mitterauer und Sieder kritisieren in einem Forschungsüberblick, die historische Familienforschung habe "mindestens in ihrer historisch-demographischen Hauptrichtung Fragen der rechtlichen Normierung des Familienlebens im historischen Wandel weitgehend unberücksichtigt gelassen". Michael MITTHRAUER und Reinhard SIEDER, Einleitung, in: dies. (Hgg.), Historische Familienforschung, Frankfurt a.M. 1982, 10-39, hier 28. Das normative Recht wird ausführlich dargestellt von Gertrud SCHUBART-FIKENTSCHER, Die Unehelichen-Frage in der Frühzeit der Aufklärung (= Sitzungsberichte der sächsischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Bd. 112, Heft 3), Berlin 1967; vgl. auch Egon Conrad ELLRICHSHAUSEN, Die uneheliche Mutterschaft im altösterreichischen Polizeirecht des 16. bis 18. Jahrhunderts, dargestellt am Tatbestand der Fornication (= Schriften zur Rechtsgeschichte; 42), Berlin 1988. Vgl. BREIT, "Leichtfertigkeit". Ein Vergleich der von Breit ausgewerteten Gerichtsverfahren gegen unverheiratete Paare mit Kriminaluntersuchungen wegen Abtreibung, Kindestötung oder Aussetzung hätte möglicherweise Aufschlüsse über einen solchen Zusammenhang und Übereinstimmungen des sozialen Profils der Verurteilten ergeben. Vgl. auch Heide WUNDER, "Er ist die Sonn', sie ist der Mond". Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, 166. ULBRICHT, Kindsmord, bes. 25-174. Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, bes. 11-27. Ebd., 71f.; ULBRICHT, Kindsmord, 183-186. Susanne HAUSER, Geschichte der Fürsorgegesetzgebung in Bayern, Diss. iur. München 1986. Ausschließlich auf publizistischen Quellen beruhen die Arbeiten von Rudolf WEBER, Deutsches Armen- und Bettelwesen im 18. Jahrhundert - Sozialpädagogisches Quellenstudium und Begriffsklärung, Diss. paed. Köln 1986, und Peter MAUL, Formen der sozialen Intervention im 18. Jahrhundert, Diss. paed. Köln 1981.

21

Unversorgte Kinder als soziales und politisches Problem

zahlreiche Untersuchungen vor. Diese zumeist älteren Arbeiten verfolgen im allgemeinen einen institutionsgeschichtlichen Ansatz, da die meisten Waisenhäuser nicht nur umfangreiche Aktennachlässe, sondern oft auch institutionelle Nachfolger oder zumindest bauliche Zeugnisse hinterlassen haben. Mitunter wird in diesen Arbeiten auch die Findelkinderversorgung angesprochen, jedoch nur insoweit diese in die Zuständigkeit der untersuchten Institutionen fiel 56 . Über die Herkunft der Kinder geben diese Arbeiten ebensowenig Auskunft wie über den Stellenwert der Waisenhäuser innerhalb der Kinderfürsorge insgesamt. Vollends unklar sind Ausmaß und Organisation der öffentlichen Versorgung von Kindern außerhalb solcher Institutionen 57 . Zwar werden Kinder gelegentlich als Teil der Almosenempfanger erwähnt oder im Zusammenhang mit einer bestimmten Einrichtung wie Arbeits- oder Zuchthäusern genannt 58 - an einer Untersuchung, die systematisch der Frage nachgeht, in welchem Ausmaß Leistungen der

Armenpflege

Kindern

zugutekamen,

fehlt es jedoch 5 9 .

Erst

im

Zu-

sammenhang mit den Armenpflegereformen am Ende des 18. Jahrhunderts und der armenpädagogischen Industrieschulbewegung findet die Kinderfürsorge in der einschlägigen Forschung wieder mehr Beachtung 60 , was teilweise zu der Auffas56

57

58

59

60

Lucie BRUST, Geschichte des Findel- und Waisenwesens bis zu Ende des XVIII. Jhrt. mit Rücksicht auf die Verhältnisse in Wien, Diss. phil. Wien 1930; Jutta GERLACH, Das Waisenhaus zu Darmstadt 1697-1831 (= Fortschritte der Jugendfürsorge, Pädagogisches Magazin; 121), Langensalza 1929; Wilfried KUHN, Die Sozialfürsorge im Fürstentum Altenburg 1672-1796. Beitrag zur Sozialgeschichte des Territorialstaates im Zeitalter des Absolutismus, Teil 1: Das Waisenwesen, Diss. phil. Rostock 1935; Ernst MUMMENHOFF, Das Findelund Waisenhaus zu Nürnberg, orts-, kultur- und wirtschaftsgeschichtlich, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 21 (1915), 57-336 (Teil 1), und 22 (1918), 1146 (Teil 2); Karl STEIN, Das Waisenhaus in Kassel ("Das grosse Casselische Armen-, Waysen und Arbeitshaus, auch Accouchir- und Findelhaus") von seiner Entstehung bis zum Ende der kurhessischen Herrschaft, 1690-1866. Ein Beitrag zur Geschichte des Fürsorge-, Erziehungs- und Schulwesens in Kurhessen, Diss. phil. Frankfurt a.M. 1923. Ausschließlich Waisen- und Findelhäuser nennen Peter BLUM, Staatliche Armenfürsorge im Herzogtum Nassau 1806-1866 (= Veröffentlichungen der historischen Kommission für Nassau; 44), Wiesbaden 1987; Irmgard HUBERTI, Das Armenwesen der Stadt Trier vom Ausgang der kurfürstlichen Zeit bis zum Ende der französischen Herrschaft (1768-1814) (= Arbeiten aus dem Forschungsinstitut für das Fürsorgewesen in Frankfurt a.M.; 7), Berlin 1935; Robert JÜTTE, Obrigkeitliche Armenfürsorge in deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit. Städtisches Armenwesen in Frankfurt am Main und Köln (= Kölner Historische Abhandlungen; 31), Köln 1984. Angelika BAUMANN, "Armuth ist hier wahrhaft zu Haus...". Vorindustrieller Pauperismus und Einrichtungen der Armenpflege in Bayern um 1800, Diss. phil. München 1984, 290-296; Dieter WEBER, Zucht- und Arbeitshäuser am Niederrhein im 18. Jahrhundert, in: Düsseldorfer Jahrbuch 60 (1986), 78-96, hier 89. Eine Ausnahme macht die bereits genannte Studie von FELDBAUER, Kinderelend. Ein Ansatz ist auch die Arbeit von Gerhard COMMICHAU, Zur Geschichte der Hamburgischen Jugendfürsorge im 18. Jahrhundert, Diss. iur. Hamburg 1961, die allerdings im wesentlichen auf den institutionellen Rahmen beschränkt bleibt. Das gilt auch für den Überblick von Hans SCHERPNER, Geschichte der Jugendfürsorge, Göttingen 1966. Hans SCHERPNER, Die Kinderfiirsorge in der Hamburgischen Annenreform vom Jahre 1788 (= Arbeiten aus dem Forschungsinstitut für Fürsorgewesen in Frankfurt a.M.; 1), Berlin 1927; Wolfgang MARQUARDT, Geschichte und Strukturanalyse der Industrieschule. Ar-

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sung geführt hat, erst am Ende des 18. Jahrhunderts seien Kinder überhaupt zu einer eigenen Zielgruppe der Armenfürsorge geworden 61 . Ein erstes Ziel der Arbeit ist es daher, dem Ausmaß der obrigkeitlichen Beschäftigung mit der Versorgung von Kindern 62 in allen genannten Bereichen nachzugehen und die Zusammenhänge zwischen diesen zu verdeutlichen. Dabei dürfen jedoch nicht nur die normativen Zielvorgaben der Obrigkeiten im Vordergrund stehen, sondern zugleich muß jeweils nach der Umsetzung einer Verordnung oder Maßnahme und den davon erreichten Gruppen gefragt werden. Dafür bedarf es einer möglichst vollständigen Erfassung der gesamten obrigkeitlichen Regulierungstätigkeit wie auch der bestehenden Versorgungsmöglichkeiten und der von diesen betroffenen Personen, die nur mit Hilfe der landesgeschichtlichen Methode 63 , in der Verdichtung der Quellenerhebung auf ein abgeschlossenes Gebiet, sinnvoll durchführbar ist. Frühere Arbeiten im Bereich der Sittenkontrolle und des Armenwesens haben sich der zugänglicheren Quellenüberlieferung wegen oft auf reichsstädtische Verhältnisse konzentriert 64 und damit sowohl in sozialer als auch in politischer Hinsicht die Lebensverhältnisse des größeren, auf dem Land in Territorialstaaten lebenden Teils der frühneuzeitlichen Bevölkerung vernachlässigt. Daher wurde die vorliegende Untersuchung in einem größeren - Land und Stadt umfassenden Gebiet im nordwestdeutschen Raum angesiedelt und unter den in diesem territorial zersplitterten Gebiet gelegenen Staaten zunächst das größte und politisch bedeutendste Territorium, das Kurfürstentum Hannover, ausgewählt. Da dieser Staat durch territorialen Zuwachs seine Gestalt am Anfang des 18. Jahrhunderts mehrfach veränderte und die hinzugekommenen Gebietsteile sich hinsichtlich ihrer rechtlichen und sozialen Gliederung zum Teil stark voneinander unterschie-

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beitserziehung, Industrieunterricht, Kinderarbeit in niederen Schulen (ca. 1770-1850/70), Diss. phil. Hannover 1975. METZ, Staatsraison, 15; ENDRES, Armenproblem, 227. SACHSSE/TENNSTEDT, Geschichte der Armenfürsorge, Bd. 1, 244, vertreten sogar die unerklärliche Auffassung, auch Waisenhäuser seien erst im 19. Jahrhundert in größerer Zahl entstanden. Die Kindheit reichte in der frühen Neuzeit gewöhnlich bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres. Eine deutliche Grenze markierte in protestantischen Gegenden, also beinahe im gesamten Untersuchungsgebiet, die Konfirmation, die - bei möglichen Abweichungen von ungefähr zwei Jahren - gewöhnlich im Alter von 14 Jahren vollzogen wurde. In diesem Alter wurden die Kinder aus der öffentlichen Versorgung entlassen und in ein Dienst- oder Lehrverhältnis gegeben. Vgl. dazu Kap. IV, Abschnitt 4.1. und Kap. V, Abschnitt 2.1. Den Wandel der Landesgeschichte von einem Gegenstand zur Methode beschreibt Ernst HINRICHS, Zum gegenwärtigen Standort der Landesgeschichte, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 57 (1985), 1-18, bes. 1-3. Zur forschungspraktischen Begründung auch SCHUBERT, Arme Leute, 9. Schwerpunkte liegen u.a. auf Hamburg, Köln, Nördlingen und Nürnberg. Vgl. dazu die Arbeiten von COMMICHAU, FELBER, FINZSCH, JÜTTE, LINDEMANN, MUMMENHOFF, SCHERPNER und URBAN im Literaturverzeichnis. Auch die Ergebnisse von van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, basieren in der Hauptsache auf reichsstädtischen Quellen.

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den, wurde der Schwerpunkt der Untersuchung auf die sogenannten althannoverschen Provinzen, also die Fürstentümer Calenberg-Göttingen, Grubenhagen, Lüneburg und die Grafschaften Hoya und Diepholz eingegrenzt. Zusätzlich wurde das Fürstbistum Hildesheim in die Untersuchung einbezogen, das sich inmitten der weifischen Gebiete im südlichen Teil des Kurfürstentums Hannover erstreckte und dessen Landesteile räumlich voneinander trennte 65 . Die Auswahl dieser beiden Territorien eröffnet Möglichkeiten für einen Vergleich zwischen einem der größten weltlichen Staaten des Reiches und einem kleineren geistlichen Stift 66 . Die Behandlung beider Territorien erscheint um so sinnvoller, als sie sowohl politisch als vor allem auch sozial in engem Kontakt miteinander standen 67 . Nach dem Ende des Alten Reiches schließlich bildeten sie auch staatlich eine Einheit, zuerst innerhalb des napoleonischen Königreiches Westphalen, später dann im Königreich Hannover. Ein weiterer Grund für die Wahl eines relativ großen Untersuchungsgebietes liegt in der fragmentarischen Quellenlage für den ländlichen Bereich. Dem steht eine weit dichtere Überlieferung für die städtischen Verhältnisse gegenüber, die eine weitere Schwerpunktsetzung erforderlich machte: Hauptsächlich stützt sich die Untersuchung auf Materialien aus den Stadtarchiven Celle, Göttingen, Hannover und Hildesheim. Diese Auswahl orientiert sich an der räumlichen Nähe dieser Städte zueinander sowie an ihrer unterschiedlichen sozialen, wirtschaftlichen und administrativen Gestalt, die eine möglichst breitgefächerte Untersuchung des Themas erlaubt. Ergänzend wurden die Bestände weiterer, kleinerer Stadtarchive hinzugezogen, außerdem kirchliche und universitäre Bestände68. Die Untersuchung setzt um das Jahr 1680 ein, da in dieser Zeit eine deutliche Intensivierung der Reaktionen auf das Problem der Kinderversorgung erkennbar ist69. Entgegen einer oft geübten Praxis endet die Untersuchung nicht mit dem Ende des Alten Reiches (1806)70, sondern sie wurde bis zum Ende der napoleoni65 66

67 68 69

70

Zur geographischen Lage siehe Kap. I. Zwar war die hildesheimische Bevölkerung zu ungefähr drei Vierteln protestantisch, der Katholizismus übte jedoch einen starken Einfluß aus. Hubert HÖING, Raumwirksame Kräfte katholisch-kirchlicher Einrichtungen im frühneuzeitlichen Hildesheim, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 52 (1980), 75-106. Vgl. dazu Kap. I. Siehe das Verzeichnis der benutzten Archive in Anhang 6. In den siebziger und achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts begannen die Planungen für die ersten Waisenhausgründungen in Celle und Hildesheim. Vgl. dazu Kap. V, Abschnitt 1. Zugleich nahm nach 1680 die Verfolgung von Unzuchtsfällen, Kindsmorden und Kindesaussetzungen zu. "Die napoleonische Herrschaft (...) kommt angesichts der institutionalisierten Trennung der Geschichtswissenschaft in frühe und späte Neuzeit nicht genügend in den Blick. Besonders in Deutschland besteht die Neigung, frühneuzeitliche Arbeiten mit der Französischen Revolution enden und spätneuzeitliche mit dem Wiener Kongreß beginnen zu lassen." Helmut BERDING, Einleitende Bemerkungen, in: Napoleonische Herrschaft und Modernisierung ( = Geschichte und Gesellschaft; 6), Göttingen 1980, 465-466, hier 465.

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sehen Herrschaft 1813 ausgedehnt, die als "Schwelle zwischen Vormoderne und Moderne" 71 zahlreiche Kontinuitäten mit der zurückliegenden Epoche aufweist. Aber auch die Neuerungen dieser Zeit, die Reformansätze in Recht und Verwaltung sind für die früheren Verhältnisse aufschlußreich: Zum einen wurden zu diesem Anlaß umfangreiche Bestandsaufnahmen gemacht, die vielfach Auskünfte über die bestehenden Zustände vermitteln, zum anderen verdeutlichen die Reformen selbst spezifische Probleme des Ancien Régime. In einzelnen Fällen mußte jedoch vor das Jahr 1680 zurückgegangen werden. Dies gilt vor allem für den Bereich der gesetzlichen Normen, die zum Teil bereits aus früherer Zeit stammten. Um die gesetzgeberische Tätigkeit möglichst komplett zu erfassen, wurden auf der Grundlage von gedruckten Gesetzeswerken sowie der chronologischen Loseblattsammlungen in verschiedenen Archiven alle das Thema betreffenden Verordnungen, Gesetze und Anweisungen an die nachgeordneten Behörden aufgenommen 72 . Ergänzend dazu wurden Entwürfe und Schriftwechsel mit diesen Behörden, Städten, Ämtern und Gerichten, aber auch mit den Landständen und der Universität Göttingen ausgewertet, außerdem die Verwaltungspraxis der nachgeordneten Behörden. Auskünfte über den Vollzug dieser Tätigkeit und zugleich über die betroffenen Personen geben der Schriftverkehr zwischen den Behörden, vor allem aber einzelne Verwaltungs- und Gerichtsakten. Hinzu kamen serielle Quellen wie Armenkassenrechnungen, Waisenhausbücher, Kammerregister und Kirchenbücher, am Ende des Zeitraums auch publizierte Statistiken und Tätigkeitsberichte, mit deren Hilfe sich summarische Angaben über die Insassen eines Waisenhauses oder Zahlen von Findelkindern innerhalb eines bestimmten Ortes machen ließen. Darüber hinaus konnte in einigen Punkten auf regionale oder lokale Vorarbeiten zurückgegriffen oder zumindest daran angeknüpft werden 73 . 71 72

73

Ebd. Die gesetzgeberische Tätigkeit läßt sich in diese drei Kategorien aufteilen, obgleich der Gesetzesbegriff in der zeitgenössischen Terminologie nicht eindeutig definiert war. Vgl. dazu Michael STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1: Reichspublizistik und Polizeywissenschafi 1600-1900, München 1988, 360. Die wichtigsten Arbeiten sind: Siegfried MÜLLER, Die Sittenaufsicht des hannoverschen Rates über Laien im Spätmittelalter und früher Neuzeit. Ein Versuch, in: Hannoversche Geschichtsblätter N.F. 37 (1983), 1-43; Dieter HOOF, "Hier ist keine Gnade weiter, bei Gott ist Gnade" - Kindsmordvorgänge in Hannover im 18. Jahrhundert, in: Hannoversche Geschichtsblätter N.F. 37 (1983), 46-84, und ders., Pestalozzi; Hans-Wolfgang LESCH, Das Waisenhaus in Einbeck, in: Einbecker Jahrbuch 32 (1981), 96-106; Ekkehard REIFF, Das Waisenhaus in Clausthal - Eine sozialpädagogische Bildungs- und Erziehungseinrichtung des 18./19. Jahrhunderts, in: Der Freundeskreis des Großen Waisenhauses 85 (1979), 9-14; Ursula BRÜGMANN, Die öffentliche Armenpflege der Stadt Hannover in den Jahren 17001824, in: Hannoversche Geschichtsblätter N.F. 24 (1970), 89-146; Rainer ROHRBACH, "Allerley unnützes Gesindel..." Armut in Göttingen, in: Göttingen im 18. Jahrhundert. Eine Stadt verändert ihr Gesicht, Göttingen 1987, 183-214; Wieland SACHSE, Über Armenfürsorge und Arme in Göttingen im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Skizze, in: Karl Heinrich KAUFHOLD und Friedrich RIEMANN (Hgg.), Theorie und Empirie in

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In der Darstellung wird versucht, Normen und obrigkeitliche Vorhaben unmittelbar den Angaben über die jeweilige Umsetzung und den individuellen Geschichten der betroffenen Personen gegenüberzustellen. Auf diese Weise können nicht nur die längerfristigen Entwicklungen der obrigkeitlichen Tätigkeit angemessen berücksichtigt werden, sondern es wird auch einer Überschätzung des Normativen vorgebeugt. Umgekehrt werden die angeführten Einzelschicksale der Zufälligkeit enthoben und können erst so über die obrigkeitlichen Reaktionen hinaus ein unmittelbares Bild der sozialen Wirklichkeit vermitteln 74 . Erst auf der Basis einer sorgfaltigen Bestandsaufnahme können dann die sozialen und politischen Hintergründe des Problems Kinderversorgung weiter ausgeleuchtet werden. Wo lagen die Ursachen für die verstärkte Beschäftigung mit der Kinderversorgung gerade seit dem Ende des 17. Jahrhunderts? Welches Ausmaß besaß das Elend von Kindern und wie entwickelten sich Versorgungsunfahigkeit und die Bedingungen elterlicher Kinderversorgung im Laufe des 18. Jahrhunderts? Zwar ist eine Zunahme unversorgter Kinder infolge des allgemeinen Bevölkerungswachstums naheliegend, ob "Kinderarmut und Jugendverwahrlosung" seit dem 17. Jahrhundert aber tatsächlich "unvorstellbare Ausmaße" 75 annahmen, kann nicht mit Gewißheit geklärt werden. Da keine Statistiken über die Zahl unversorgter Kinder vorliegen, sind quantitative Aussagen in der Regel von den vorhandenen Versorgungsmöglichkeiten abhängig oder basieren auf obrigkeitlichen Schätzungen 76 . Eine genauere Untersuchung der Herkunft unversorgter Kinder kann aber zumindest qualitative Aussagen über das Ausmaß kindlicher Versorgungslosigkeit zutage fördern. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die Frage, welche gesellschaftlichen Gruppen davon betroffen waren. Daher ist nochmals genauer nach den Entstehungsursachen der Versorgungslosigkeit zu fragen, nach der Bedeutung von Tod und Krankheit der Eltern ebenso wie nach ihren materiellen und sozialen Lebensbedingungen. Großen Einfluß hatten sicherlich Veränderungen in der Familienstruktur. So hat die historische Familienforschung für das 18. Jahrhundert eine Zunahme unvollständiger oder Restfamilien beobachtet77; damit in Verbindung stand ein Anstieg unehelicher Geburten seit dem Ende

74

75 76

77

Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsgeschichte. Festschrift für Wilhelm Abel zum 80. Geburtstag ( = Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; 11), Göttingen 1984, 217-239. Vgl. Peter BORSCHEID, Plädoyer für eine Geschichte des Alltäglichen, in: ders. und HansJürgen TEUTEBERG (Hgg.), Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechtsund Generationsbeziehungen in der Neuzeit, ( = Studien zur Geschichte des Alltags; 1), Münster 1983, 1-14, bes. 2ff. und 13f. FELDBAUER, Kinderelend, 11. So räumt auch Peter Feldbauer trotz seiner oben zitierten Annahme ein, daß das quantitative Ausmaß des Kinderelends auch für Wien "völlig ungewiß" sei. Ebd., 18. Michael MITTERAUER, Vorindustrielle Familienformen. Zur Funktionsentlastung des "Ganzen Hauses" im 17. und 18. Jahrhundert, in: Friedrich ENGEL-JANOSI, Grete KLIN-

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des 18. Jahrhunderts78. Was aber bedeutete Familie überhaupt für die einzelnen Menschen? Während sich die Familienforschung oft bürgerlichen und adligen Schichten zugewandt 79 , zumindest aber weitgehend auf 'funktionierende' Familien konzentriert hat 80 , führt eine Untersuchung über die Grenzen familialer Kinderversorgung zu den Grenzen der Familie insgesamt 81 . Wie Hans Medick und David Sabean schon 1984 mit Recht feststellten, war "Familie i.S. des kernfamilialen Zusammenhangs" keineswegs ein "für alle Klassen und Schichten gleichermaßen relevantes und vergleichbares, unproblematisches Gegebenes" 82 , sondern diente für arme und besitzlose Gruppen vorrangig der "Sicherung des Überlebens" 83 . Konnte sie diese Funktion nicht erfüllen, etwa bei länger andauernden Notlagen, "zerbrach ihre Widerstandsfähigkeit nur zu bald" 84 . Schließlich stand die vermutete Zunahme unversorgter Kinder in einem möglichen Zusammenhang mit

der

vor

allem

von

Michael

Mitterauer

hervorgehobenen

"Funk-

tionsentlastung" der Familie, in deren Folge "das her-anwachsende Kind die Stellung als notwendige oder er-wünschte Arbeitskraft" verloren habe und "vielmehr zum Kostenfaktor" 85 geworden sei.

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81

82

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GENSTEIN und Heinrich LUTZ (Hgg.), Fürst, Bürger, Mensch. Untersuchungen zu politischen und soziokulturellen Wandlungsprozessen im vorrevolutionären Europa (= Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit; 2), Wien 1975, 123-185, hier 174. Vgl. BECK, Illegitimität, bes. 114; Antje KRAUS, "Antizipierter Ehesegen" im 19. Jh. Zur Beurteilung der Illegitimität unter sozialgeschichtlichen Aspekten, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 66 (1979), 174-217; William Robert LEE, Population Growth, Economic Development and Social Change in Bavaria 1750-1850, New York 1977, bes. 312; Michael MITTERAUER, Ledige Mütter. Zur Geschichte illegitimer Geburten in Europa, München 1983, bes. 23-30. Vgl. z.B. Helmut MÖLLER, Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert. Verhalten und Gmppenkultur (= Schriften zur Volksforschung; 3), Berlin 1969; Heinz REIF, Westfälischer Adel 1770-1860 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 35), Göttingen 1979. William H. HUBBARD, Familiengeschichte: Materialien zur deutschen Familie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, München 1983, bes. 22-27. Zur Bedeutung außerfamilialer Sozialisationsformen vgl. Jürgen SCHLUMBOHM, 'Traditionale' Kollektivität und 'moderne' Individualität. Einige Fragen für eine historische Sozialisationsforschung. Kleines Bürgertum und gehobenes Bürgertum in Deutschland um 1800 als Beispiel, in: Rudolf VIERHAUS (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung; 7), Heidelberg 1981, 265-320; WEISBROD, Kinder der Armut, 4. Hans MEDICK und David SABEAN, Emotionen und materielle Interessen in Familie und Verwandtschaft. Überlegungen zu neuen Wegen und Bereichen einer historischen und sozialanthropologischen Familienforschung, in: dies. (Hgg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 75), Güttingen 1984, 27-54, hier 49 Anm. 58. Ebd. Vgl. auch Peter LASLETT, Familiale Unabhängigkeit im Spannungsfeld zwischen Familie und Einzelinteressen, in: BORSCHEID/TEUTEBERG (Hgg.), Ehe, Liebe, Tod, 150169, hier 161: "die häusliche Einheit [wird] solange bestehen (...), als Mann und Frau sie unbedingt benötigen, um abgesichert zu sein. " Jürgen KOCKA, Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800 (= Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts; 1), Bonn 1990, 137. MITTERAUER, Vorindustrielle Familienformen, 181.

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Die Bandbreite dieser Probleme stellt hohe Anforderungen an das Quellenmaterial: Nur wenige Quellen enthalten Informationen in ausreichender Menge und Dichte, um in diesem Bereich zufriedenstellende Antworten zu ermöglichen. Serielle Quellen wie Waisenhausbücher und -rechnungen geben oft nur sehr lückenhafte Antworten auf die Herkunft der Kinder oder gar die Lebensverhältnisse ihrer Eltern. Am ehesten sind dafür gut dokumentierte Einzelfalle und Gerichtsakten geeignet, aus denen sich einzelne Fallgeschichten rekonstruieren lassen. So sehr diese aber auch "die Ausdehnung markieren, die ein soziales Problemfeld hat" 86 , fehlt ihnen doch für allgemeinere Aussagen die wünschenswerte Repräsentativität. Soweit dies möglich ist, müssen diese Fallgeschichten daher mit der Auswertung serieller Quellen verbunden werden, um eine generelle Annäherung an die Ursachen unzureichender elterlicher Versorgung zu erreichen. Erst aufgrund dieser Erkenntnisse kann auch der Charakter der öffentlich-obrigkeitlichen Maßnahmen beurteilt werden. Gefragt werden muß nach den Anlässen der Obrigkeiten zum Handeln, der Reichweite sozialpolitischer Maßnahmen in der frühen Neuzeit, dem Verhältnis zwischen Politik und sozialen Problemen, letztlich nach der Beziehung von "Obrigkeit und Untertan" 87 . In Arbeiten teils essayistischen, teils bewußt ideologiekritischen Zuschnitts sind die christlich fundierte Sexualmoral, die daraus resultierende obrigkeitliche Sittenaufsicht der frühen Neuzeit und die Tabuisierung von Abtreibung, Kindestötung und Aussetzung bis zum heutigen Tag wiederholt im Sinne einer totalen Bevölkerungskontrolle gedeutet worden 88 . Ähnlich wurde die Entstehung einer öffentlichen Kinder- und Jugendfürsorge als staatliche Erziehung zu Konformität und Produktivität gedeutet89. Als Motoren dieser ausschließlich aus normativen Quellen

abgeleiteten

Entwicklung

wurden

ein

nicht

weiter

spezifiziertes

'Patriarchat' oder ein nicht minder undurchdringliches 'Kapital' ausgemacht. Nach den hinter diesen Maßnahmen stehenden Formen von Herrschaft wurde dagegen ebensowenig gefragt wie nach den Chancen für ihre Realisierung und ihrer konkreten Wirkung. 86 87

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SCHUBERT, Arme Leute, 10. Die vorliegende Arbeit ist im Rahmen eines von Prof. Dr. Hermann Wellemeuther betreuten und vom Land Niedersachsen geförderten Forschungsprojektes mit dem Titel "Obrigkeit und Untertan. Kurhannoversche Gesetzgebung und Alltag im 17. und 18. Jahrhundert" entstanden. Eine zweite, Studie beschäftigt sich mit dem Aufbau eines stehenden Heeres und dessen Auswirkungen auf Verwaltung und soziales Leben einer Garnisonsstadt: Ralf PRÖVE, Stehendes Heer und städtische Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Göttingen und seine Militärbevölkerung 1713-1756, unveröff. Diss. phil. Göttingen 1992 (im Druck). So Lisbeth TRALLORI, Vom Lieben und vom Töten, verbesserte Neuaufl. Wien 1990; Gunnar HEINSOHN und Otto STEIGER, Die Vernichtung der weisen Frauen: Beiträge zur Theorie und Geschichte der Bevölkerung und Kindheit; Hexenverfolgung, Menschenproduktion, Kinderwelten, Bevölkerungswissenschaft, Herbstein 1986. Philippe MEYER, Das Kind und die Staatsräson. Ein historisch-soziologischer Essay, Reinbek 1981 (Orig.: L'enfant et la raison d'état, Paris 1977); Rose AHLHEIM, Gefesselte Jugend. Fürsorgeerziehung im Kapitalismus, Frankfurt a.M. 1978.

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Unversorgte Kinder als soziales und politisches Problem

Aber auch in der historischen Forschung bestehen verschiedene Urteile über die Ziele und Mittel obrigkeitlicher Armenpflege. Während vor allem in älteren Arbeiten die Ansicht vertreten wurde, die obrigkeitlich-öffentliche Fürsorge sei besonders im Gegensatz zu dem im 19. Jahrhundert sich ausbreitenden Wohlfahrtsgedanken - ausschließlich reaktiv gewesen, wurde in jüngerer Zeit mehrfach der ordnungspolitische Charakter der frühneuzeitlichen Armenpolitik insgesamt hervorgehoben. Ausgehend von der Vorstellung einer fortschreitenden Disziplinierung der Gesellschaft wurde die Armenfürsorge als obrigkeitliche Strategie zur Anpassung abweichenden Verhaltens beschrieben 90 . Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts sei dann der repressive Charakter entschärft worden und es habe eine Pädagogisierung der Armenpflege stattgefunden 91 , in deren Folge Disziplinierung "verwissenschaftlicht und internalisiert"92 worden sei. Gerade im Zusammenhang mit der Darstellung der obrigkeitlichen Armenfürsorge als einem abgeschlossenen, repressiven System wurde häufig die Wirksamkeit der Maßnahmen nicht ausreichend in Frage gestellt oder gar stillschweigend vorausgesetzt. Im konkreten Fall wurden besonders disziplinintensive Bereiche der Armenfürsorge wie z.B. Arbeits- oder Zuchthäuser, die in zunehmendem Maß der Strafverfolgung dienten, bevorzugt und normative Quellen hinsichtlich ihrer Reichweite überschätzt. Repressive Maßnahmen erschienen dann als vollendete Sozialdisziplinierung, Strategien wurden ihrem eigenen Ergebnis gleichgestellt 93 .

Daher

hat neuerdings

Martin

Dinges an dieser

Auffasung von

"Armenfürsorge als Sozialdisziplinierung" fundamentale Kritik formuliert 94 und einen Perspektivwechsel vorgeschlagen, "der die staatliche Intervention relativiert und (...) Alternativstrategien stärker in den Vordergrund rückt" 95 . Für den Bereich der Kinderversorgung heißt dies, daß neben der elterlichen und der öffentlichen Versorgung auch die Möglichkeit bestand, daß sich Verwandte oder Nachbarn eines unversorgten Kindes annahmen. Gleichzeitig aber trug die Schaffung einer öffentlichen Kinderversorgung womöglich selbst zur 'Funktionsentlastung' der Familie bei, indem öffentliche Versorgungsangebote 90

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94 95

Vgl. dazu vor allem den Sammelband von Christoph SACHSSE und Florian TENNSTEDT (Hgg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung, Frankfurt a.M. 1986; weiter dies., Geschichte der Armenfursorge, passim; JÜTTE, Obrigkeitliche Armenfursorge, 340-345. METZ, Staatsraison, 15-18; zur Pädagogisierung der Armenpflege siehe auch JÜTTE, Obrigkeitliche Armenfürsorge, 364-367. So in Anlehnung an Michel Foucault Christoph SACHSSE und Florian TENNSTEDT, Sicherheit und Disziplin: Eine Skizze zur Einfuhrung, in: dies. (Hgg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung, Frankhirt a.M. 1986, 11-44, hier 14. Robert JÜTTE, Disziplinierungsmechanismen in der städtischen Armenfursorge der Frühneuzeit, in: SACHSSE/TENNSTEDT (Hgg.), Soziale Sicherheit, 101-118, 108; Hannes STEKL, "Labore et fame" - Sozialdiszipinierung in Zucht- und Arbeitshäusern des 17. und 18. Jahrhunderts, in: SACHSSE/TENNSTEDT (Hgg.), Soziale Sicherheit, 119-147; vgl. auch DINGES, Armenfürsorge, 9f. DINGES, Armenfursorge. Ebd., 9.

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Unversorgte Kinder als soziales und politisches Problem

die Probleme, zu deren Lösung sie geschaffen waren, verstärkt ans Licht brachten. Ein Beispiel dafür ist die Einführung des französischen Findelhaussystems mit der garantierten Anonymität bei der Aussetzung durch eine Drehlade 96 - im Rheinland und in Italien unter der napoleonischen Herrschaft, durch die ein Findelkinderproblem bis dahin unbekannten Ausmaßes entstand 97 . Daher müssen die Reichweite der öffentlichen Maßnahmen, ihr Verhältnis zu alternativen Versorgungsformen und ihre Aneignung durch die Bevölkerung sorgfaltig geprüft werden. Schließlich wird versucht, die Absichten und Möglichkeiten einer obrigkeitlichen Sozialpolitik 98 nachzuvollziehen. Woher z.B. kamen die Anstöße für eine Verordnung oder eine bestimmte Maßnahme? Hier gilt es, den Informationsstrukturen der Obrigkeiten nachzugehen, da öffentliches Recht, Strafrechtspflege und Armenpflege nicht "persona mystica" 99 waren, sondern von Menschen gemacht wurden, die nicht allein aus einem abstrakten Disziplinierungswillen handelten, sondern wahrscheinlich auf akute Probleme, Berichte der Verwaltungen und möglicherweise auch auf gesellschaftliche Einflüsse wie die Diskussion in Zeitschriften reagierten. Umgekehrt hing die Umsetzung einer Maßnahme nicht unwesentlich von den existierenden Verwaltungsstrukturen und den finanziellen Ressourcen ab. Die genauere Untersuchung dieser Verwaltungswirklichkeit ist die

notwendige

Voraussetzung

'absolutistischen' Staates

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99 100

100

für

das

Verständnis

des

'frühmodernen',

und damit auch seiner Beziehung zur Gesellschaft.

Bei der Drehlade (franz. tour, ital. torno) handelte es sich um eine Vorrichtung in der Wand des Findelhauses, die die Aussetzung ermöglichte, ohne daß die aussetzenden Personen gesehen wurden. Wenn ein Kind hineingelegt worden war, wurde die normalerweise der Straße zugewandte Öffnung ins Innere des Hauses gedreht. Uber eine solche Vorrichtung verfügten die meisten Findelhäuser in Südwesteuropa, aber auch das Hamburger Findelhaus in den Jahren 1709-1714. Fr. S. HÜGEL, Die Findelhäuser und das Findelwesen Europa's, ihre Geschichte, Gesetzgebung, Verwaltung, Statistik und Reform, Wien 1863 , 408-411; HUNECKE, Findelkinder, 17. Ebd., 18. Zum Begriff der Sozialpolitik, seiner Entstehung und Verwendbarkeit für Mittelalter und frühe Neuzeit jetzt: Hans POHL (Hg.), Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte; 95), Stuttgart 1991; sowie Friedrich-Wilhelm HENNING, Das Raster der sozialpolitischen Maßnahmen in Deutschland in der vorindustriellen Zeit. Zur Entfaltung des sozialpolitischen Gebäudes vor dem 19. Jahrhundert, in: KAUFHOLD/RIEMANN (Hgg.), Theorie und Empirie, 109-126. STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 1, 395. Zur Diskussion um die Bedeutung des Staates in der frühen Neuzeit siehe jetzt die kritische Auseinandersetzung mit den Forschungskonzepten 'Absolutismus' und 'Sozialdisziplinierung' von Reinhard BLÄNKNER, "Absolutismus" und "frühmoderner Staat". Probleme und Perspektiven der Forschung, in: Rudolf VIERHAUS, (Hg.), Frühe Neuzeit - Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen (= Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte; 104), Göttingen 1992, 48-74.

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Unversorgte Kinder als soziales und politisches Problem

Die Arbeit befaßt sich mit den genannten Fragestellungen in sieben Kapiteln. Nach einer Einführung in die allgemeinen Grundzüge von Herrschaft und sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung im Untersuchungsgebiet werden in den beiden darauffolgenden Kapiteln die obrigkeitliche Sittenaufsicht sowie die Bestrafung von Abtreibung, Kindestötung und Kindesaussetzung dargestellt. Im Mittelpunkt der anschließenden zwei Kapitel steht die öffentliche Kinderversorgung im Rahmen des allgemeinen Armenwesens und in den Waisenhäusern. Im sechsten Kapitel werden Tragfähigkeit und Reichweite der obrigkeitlichen Maßnahmen, vor allem der öffentlichen Versorgungseinrichtungen, geprüft, und das letzte Kapitel schließlich ist den administrativen und finanziellen Möglichkeiten öffentlicher Kinderver-sorgung gewidmet. Abschließend werden die einzelnen Ergebnisse mit den hier aufgeworfenen Fragen nochmals im Zusammenhang diskutiert.

Kapitel I

Territoriale Gliederung, Obrigkeit und Bevölkerung im Untersuchungsgebiet: eine Einführung

Das Problem unversorgter Kinder stand im Spannungsfeld zwischen obrigkeitlicher Reglementierung und Politik auf der einen und den sozialen und materiellen Lebensbedingungen auf der anderen Seite. Daher erscheint es sinnvoll - soweit es die Forschungslage zuläßt 1 -, einige grundsätzliche Ausführungen über die Form obrigkeitlicher Herrschaft und die Entwicklung der Bevölkerung an den Anfang der Arbeit zu stellen. Zuerst werden das Untersuchungsgebiet und seine allgemeine Geschichte kurz charakterisiert. Daran schließt sich ein Überblick über die innere Verfassung der beiden Staaten, die Kriminalgerichtsbarkeit des Ancien Régime und die Verwaltungsreformen in der napoleonischen Zeit an. Zuletzt werden die Grundzüge der demographischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung dargestellt.

1.

Territoriale Gliederung und politische Ereignisse Geographische Lage - Weifische Staaten und Kurfürstentum Hannover - Hochstift Hildesheim - Verhältnis Hildesheims zu den weifischen Nachbarn - Siebenjähriger Krieg - napoleonische Zeit - Wiederherstellung der alten Regierung und Bildung des Königreichs Hannover

Der Raum der folgenden Untersuchung gehört geographisch überwiegend zur nordwestdeutschen Tiefebene. Er entspricht ungefähr dem östlichen Teil des heutigen Bundeslandes Niedersachsen und erstreckt sich von Göttingen im Süden bis vor die Tore Hamburgs im Norden; im Westen wird er von Weser und Hunte, im Osten von Elbe und Oker begrenzt. Die Entfernung beträgt in nord-südlicher

Trotz zahlreicher Einzeluntersuchungen fehlt es noch immer an einer umfassenden Darstellung der Geschichte des heutigen Niedersachsen. Die Zusammenfassung von Reinhard OBERSCHELP, Politische Geschichte Niedersachsens 1714-1803 (= Veröffentlichungen der Niedersächsischen Landesbibliothek; 1), Hildesheim 1983, ist wegen ihrer nachgerade anachronistisch anmutenden Konzentration auf die Ereignisgeschichte wenig hilfreich. Wertvoller sind die meist älteren Arbeiten zur politischen Geschichte einzelner Territorien und Zeitabschnitte: Adolf BERTRAM, Geschichte des Bistums Hildesheim, 3 Bde., Hildesheim und Leipzig 1899-1925; Wilhelm HAVEMANN, Geschichte der Lande Braunschweig und Lüneburg, 3 Bde., Göttingen 1853-1857; Adolf KÖCHER, Geschichte von Hannover und Braunschweig 1648-1714, 2 Bde., Leizig 1884-1895; Georg SCHNATH, Geschichte Hannovers im Zeitalter der neunten Kur und der englischen Sukzession, 16741714, 4 Bde. plus Registerband, Hildesheim 1937-1982; Friedrich THIMME, Die inneren Zustände des Kurfürstentums Hannover unter der französisch-westphälischen Herrschaft 1806-1813, 2 Bde., Hannover und Leipzig 1893-1895.

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Territoriale Gliederung, Obrigkeit und Bevölkerung im Untersuchungsgebiet

Richtung etwa 220 km, von Westen nach Osten knapp 100 km. Territorial wurde dieses Gebiet seit dem Mittelalter vornehmlich von der weifischen Machtausdehnung geprägt 2 ; im 18. Jahrhundert gehörte es größtenteils zum Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg - kurz als Kurfürstentum Hannover bezeichnet -, das teilweise auch darüber hinausreichte3 und zu Beginn des Jahrhunderts eine Fläche von rund 20 000 km 2 umfaßte 4 . Im Süden des Kurfürstentums Hannover lag das Hochstift Hildesheim, das "wie ein riesiger, an den Rändern unregelmäßig ausgelappter Pilz in die Länder des Hauses Braunschweig-Lüneburg" 5 hineinragte und die hannoverschen Fürstentümer Göttingen und Grubenhagen von den übrigen Landesteilen trennte. Die Größe dieses Landes betrug in west-östlicher Richtung etwa 50 km, in nord-südlicher Richtung 60 km. Einzelne Teile beider Staaten waren jeweils ohne territoriale Verbindung zum Hauptgebiet; gleichzeitig bestanden mehrere Enklaven angrenzender Staaten6. Unter diesen ist vor allem das ebenfalls weifische Herzogtum BraunschweigWolfenbüttel zu nennen, das - den seit dem Mittelalter üblichen Gebietsteilungen folgend - seit 1635 endgültig aus dem Gesamthaus Braunschweig-Lüneburg ausgeschieden war 7 . Dieser Staat reichte weit in das Kurfürstentum Hannover hinein und begrenzte das Hochstift Hildesheim im Nordosten und Südwesten. Weitere wichtige Nachbarstaaten waren die Hansestädte im Norden, das Kurfürstentum Brandenburg im Osten, das zum Kurfürstentum Mainz gehörende Eichsfeld und die Landgrafschaft Hessen-Kassel im Süden sowie die Grafschaften Lippe und Schaumburg-Lippe im Westen 8 . Die nach der Loslösung Braunschweig-Wolfenbüttels verbliebenen weifischen Gebiete wurden nach dem Tode Herzog Georgs von Calenberg 1641 erneut auf2

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7 8

Vgl. dazu Friedrich UHLHORN, Der Westen, in: ders. und Walter SCHLESINGER, Die deutschen Territorien ( = Handbuch der deutschen Geschichte, hg. von Bruno GEBHARDT, 9. Aufl. bearb. von Herbert GRUNDMANN, Taschenbuchausgabe; 13), 5. Aufl. München 1984, 32-202, hier 71-75, 93f. Dazu gehörten noch das nördlich der Elbe gelegene Herzogtum Lauenburg, Teile des Harzes sowie einzelne Ämter. Nach dem Erwerb der Herzogtümer Bremen und Verden (1720) betrug die Fläche 28 000 km2. SCHNATH, Geschichte Hannovers, Bd. 2, 359f.; SCHILLING, Höfe und Allianzen, 196; Reinhard OBERSCHELP, Niedersachsen 1760-1820. Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur im Land Hannover und Nachbargebieten ( = Quellen und Untersuchungen zur allgemeinen Geschichte Niedersachsens in der Neuzeit; 4.2), Bd. 1, Hildesheim 1982, 7. Manfred HAMANN, Das Staatswesen der Hildesheimer Fürstbischöfe im 18. Jahrhundert, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 34 (1962), 157-193, hier 158. Geschichtlicher Handatlas von Niedersachsen. Hg. vom Institut für Historische Landeskunde der Universität Göttingen, bearb. von Gudrun PISCHKE, Neumünster 1989, Blätter 35d und 37. Ohne territoriale Verbindung zum Hauptgebiet waren im Kurfürstentum Hannover die Fürstentümer Göttingen und Grubenhagen sowie einige Ämter des Fürstentums Calenberg, in Hildesheim das Amt Hunnesrück. Fremde Enklaven waren in Hildesheim das braunschweigwolfenbüttelsche Amt Bodenburg, in Hannover u.a. die Grafschaft Spiegelberg bei Hameln und die hessische Herrschaft Plesse nördlich von Göttingen. UHLHORN, Westen, 73. Geschichtlicher Handatlas, Blatt 37.

Territoriale Gliederung und politische Ereignisse

33

geteilt, in die Fürstentümer Calenberg (Hannover) und Lüneburg (Celle), wo zu Beginn des Untersuchungszeitraums (seit 1665) Herzog Georg Wilhelm regierte 9 . In Hannover gelangte 1 6 7 9 sein jüngerer Bruder Ernst August an die Regierung, unter dessen Herrschaft Hannover einen erheblichen Machtzuwachs erlangte, einmal durch die Verleihung der neunten Kurwürde 1692, dann durch erhebliche Gebietserweiterungen, deren bedeutendste die Vereinigung mit Lüneburg-Celle nach dem Tode Georg Wilhelms 1705 war 1 0 . Hannover gehörte damit nach Fläche und Bevölkerung zu den fünf größten Territorien im R e i c h " . Den Höhepunkt im Aufstieg des hannoverschen Hauses aber bildete 1714 "der erfolgreichste Kronerwerb eines Reichsfürsten" 1 2 : die Thronfolge von Ernst Augusts Sohn Georg Ludwig

in Großbritannien.

Für das Kurfürstentum hatte dieser

Schritt

weitreichende Folgen, da es nun in Abwesenheit des Landesherrn von einem Geheimen Ratskollegium regiert wurde und außerdem in den Sog der englischen Politik geriet. Während Georg I. (bis 1727) und auch sein Sohn Georg II. ( 1 7 2 7 1760, als Kurfürst Georg August) sich noch stark nach Hannover orientierten, besuchte Georg III. ( 1 7 6 0 - 1 8 2 0 ) das Land nicht einmal mehr 1 3 . Ähnlich wie im Kurfürstentum Hannover war es ein wesentliches Merkmal der politischen Verhältnisse des Hochstiftes Hildesheim, daß der Landesherr, in diesem Fall der Bischof, nicht vor Ort weilte 1 4 . Der Grund dafür lag darin, daß das Hochstift seit 1573 in die wittelsbachischen "Pfründenkombinate" 15 mit dem Erzbistum Köln und den westfälischen Bistümern einbezogen war und von den Wittelsbachern Maximilian Heinrich ( 1 6 5 0 - 1 6 8 8 ) , Joseph Clemens ( 1 7 0 2 - 1 7 2 3 ) und 9

10

11

12 13

14 15

Über die Erbfolge der vier Söhne Georgs von Calenberg und die daraus entstehenden Streitigkeiten berichtet in aller Ausführlichkeit KÖCHER, Hannover und Braunschweig, Bd. 1, 343434. 1679 wurden Teile von Bremen und Verden, 1689 das Herzogtum Lauenburg erworben; 1720 folgte der endgültige Erwerb von Bremen und Verden. Georg SCHNATH, Von der Entstehung der Territorien bis zur Entstehung des Landes Niedersachsen, in: ders., Hermann LÜBBING, Günther MÖHLMANN und Franz ENGEL, Geschichte des Landes Niedersachsen. Ein Überblick, Sonderausgabe aus der Geschichte der deutschen Länder "Territorien-Plötz", Würzburg 1962, 34, 39. Ausführlich HAVEMANN, Braunschweig und Lüneburg, Bd. 3, 284ff., und SCHNATH, Geschichte Hannovers, Bd. 1. Vgl. die Übersicht bei SCHILLING, Höfe und Allianzen, 196. Zur Rolle Hannovers im Reich siehe Volker PRESS, Kurhannover im System des alten Reiches 1692-1803, in: Adolf M. BIRKE und Kurt KLUXEN (Hgg.), England und Hannover ( = Prinz-Albert-Studien; 4), München 1986, 53-79. Ebd., 53. Zur Personalunion vgl. die Sammelbände von BIRKE/KLUXEN (Hgg.), England und Hannover, und Heide N. ROHLOFF (Hg.), Großbritannien und Hannover. Die Zeit der Personalunion 1714-1837, Frankfurt a.M. 1989; außerdem Uriel DANN, Hannover und England 1740-1760 ( = Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens; 99), Hildesheim 1986; Hermann WELLENREUTHER, Göttingen und England im 18. Jahrhundert, in: 250 Jahre Vorlesungen an der Georgia Augusta 1734-1984 ( = Göttinger Universitätsreden; 75), Göttingen 1985, 30-63; schließlich auch OBERSCHELP, Geschichte Niedersachsens 17141803, 4-7. HAMANN, Staatswesen, 163. SCHNATH, Entstehung der Territorien, 45.

34

Territoriale Gliederung, Obrigkeit und Bevölkerung im Untersuchungsgebiet

Clemens August (1724-1761) mitverwaltet wurde. Nur während der 14jährigen Herrschaft des vormaligen Domdechanten Jobst Edmund von Brabeck (16881702) und nach der Ablösung von Kurköln 1761 residierte der Landesherr in Hildesheim, nacheinander die Bischöfe Friedrich Wilhelm von Westfalen (17631789) und Franz Egon von Fürstenberg (1789-1802) 16 . Das Verhältnis des Hauses Braunschweig-Lüneburg zu Hildesheim war seit dem Mittelalter durch weifisches Erweiterungsstreben und häufige Auseinandersetzungen gekennzeichnet, die schließlich in der sogenannten Stiftsfehde von 1519-1523 mündeten, in deren Folge die Weifen den größten Teil des Bistums besetzten und dort den Protestantismus einführten 17 . Obgleich das Große Stift 1643 wiederhergestellt wurde, blieb der weifische Einfluß, dessen Hintergrund die Herstellung der wichtigen Verbindung zwischen Göttingen und Hannover war 18 , stark. Im späten 17. Jahrhundert war das Hochstift "unstreitiger Quartierund Manövrierplatz aller weifischen Truppen" 19 , und die Weifenherzöge in Celle bzw. Hannover blieben Schutzherren der Stadt Hildesheim, die seit 1711 eine hannoversche Garnison beherbergte 20 . Die enge räumliche Verbindung Hildesheims zu den weifischen Staaten brachte darüber hinaus zahlreiche wirtschaftliche und soziale Kontakte mit sich. So führte die Landstraße von Hannover nach Göttingen ebenso wie die in das wolfenbüttelsche Braunschweig durch hildesheimisches Gebiet; umgekehrt war das Hochstift nahezu vollständig vom Kurfürstentum Hannover und dem Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel eingeschlossen, so daß Handels- und Reisewege diese Staaten durchqueren mußten 21 . Im Siebenjährigen Krieg wurde das Kurfürstentum Hannover durch seine Verbindung mit England und dessen Bündnis mit Preußen zum Angriffspunkt der anti-preußischen Koalition. 1757 drangen französische Truppen unter dem Befehl des Marschalls Richelieu über die Weser vor und besetzten das Kurfürstentum. Auch die Stadt Hildesheim und das umliegende Land mußten mehrfach französische und preußische Einquartierungen erdulden 22 . Während der Napoleonischen 16

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18 19 20

21 22

Vgl. HAMANN, Staatswesen; ders., Das Hochstift Hildesheim in der deutschen Geschichte, in: Die Diözese Hildesheim in Vergangenheit und Gegenwart 52 (1984), 7-18, bes. 15f. Zu den Regierungszeiten der einzelnen Bischöfe siehe BERTRAM, Hildesheim, Bd. 3, bes. 86ff. SCHNATH, Entstehung der Territorien, 45; ausführlich zur Stiftsfehde BERTRAM, Hildesheim, Bd. 2; Johann Heinrich GEBAUER, Geschichte der Stadt Hildesheim, Bd. 1, Hildesheim 1924, 151-169; HAVEMANN, Braunschweig und Lüneburg, Bd. 2, lff. HAMANN, Staatswesen, 161. Ebd. GEBAUER, Hildesheim, Bd. 2, 130; ausführlich zu den vorangegangenen Auseinandersetzungen BERTRAM, Hildesheim, Bd. 3, 109-119. Geschichtlicher Handatlas, Blätter 60 und 61. OBERSCHELP, Geschichte Niedersachsens 1714-1803, 77-94; Clemens CASSEL, Geschichte der Stadt Celle mit besonderer Berücksichtigung des Geistes- und Kulturlebens der Bewohner, Bd. 2, Celle 1934, 44-62; Rainer BOLLE, Der Göttinger Magistrat im Siebenjährigen Krieg 1756-1763, in: Göttinger Jahrbuch 38 (1990), 101-125; GEBAUER, Hildesheim, Bd. 2, 138-149; BERTRAM, Hildesheim, Bd. 3, 162-166.

35

Territoriale Gliederung und politische Ereignisse

Kriege kam es wiederum zu längeren Besetzungen des Kurfürstentums Hannover und des Hochstiftes Hildesheim 23 . Das Hochstift wurde 1802 infolge der Entschädigungsvereinbarungen zwischen Frankreich und Preußen von preußischen Truppen besetzt und dem preußischen Staat eingegliedert 24 . Das Kurfürstentum Hannover geriet nach einer vorübergehenden Besetzung durch preußische Truppen im Jahr 1801 und einer anschließenden Friedensphase in die wieder ausgebrochenen französisch-englischen Auseinandersetzungen und wurde im Juni 1803 von der französischen Armee besetzt 2 5 . Diese erste französische Besetzung dauerte bis zum Oktober 1805, als preußische Truppen

vom

Kurfürstentum

Besitz

nahmen;

nach einem

neuen

Ab-

tretungsvertrag zwischen Frankreich und Preußen erfolgte dann am 1. April 1806 die förmliche Besitznahme durch Preußen 2 6 . Schon im November 1 8 0 6 allerdings kam es nach der preußischen Niederlage bei Jena und Auerstedt erneut zu einer französischen Besetzung, die diesmal von längerer Dauer sein sollte, da Napoleon die Absicht gefaßt hatte, eine Sicherheitszone gegenüber Preußen zu schaffen 27 . Deshalb wurde zum 1. September 1807 aus Hessen-Kassel, Braunschweig-Wolfenbüttel, preußischen und hannoverschen Gebieten sowie verschiedenen kleineren Territorien das Königreich Westphalen unter der Regentschaft von Napoleons Bruder Jérôme gebildet. Von den hannoverschen Gebieten kamen der Harz, die Fürstentümer Göttingen und Grubenhagen und einige Calenbergische Ämter zu Westphalen; das ehemalige Hochstift Hildesheim wurde ganz dem neuen Staat zugeschlagen 2 8 . Der größere Teil Hannovers blieb jedoch unter direkter französischer Verwaltung, bis im März 1810 auch diese Gebiete dem Königreich West23

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28

Die Darstellung folgt Max BRAUBACH, Von der französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß ( = Handbuch der deutschen Geschichte, hg. von Bruno GEBHARDT, 9. Aufl. bearb. von Herbert GRUNDMANN, Taschenbuchausgabe; 14), 5. Aufl. München 1984; Jacques LOVIE und André PALLUEL-GUILLARD, L'Episode napoléonien. Aspects extérieurs 1799-1815 ( = Nouvelle Histoire de la France contemporaine; 5), Paris 1972; Cari HAASE, Politische Säuberungen in Niedersachsen 1813-1815 ( = Quellen und Untersuchungen zur allgemeinen Geschichte Niedersachsens in der Neuzeit; 5), Hildesheim 1983, bes. 745; THIMME, Zustände. Genaue Datenangaben finden sich in den Findbüchern der Bestände NHStA Hann. 49 bis Hann. 53. BERTRAM, Hildesheim, Bd. 3, 199-204; HAMANN, Staatswesen, 193; HÖING, Raumwirksame Kräfte, 75. Zur europäischen Politik vgl. BRAUBACH, Von der französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß, 56f. HAASE, Säuberungen, 7; THIMME, Zustände, Bd. 1, 44-59; HAVEMANN, Braunschweig und Lüneburg, Bd. 3, 726ff.; Reinhard OBERSCHELP, Politische Geschichte Niedersachsens 1803-1866 ( = Veröffentlichungen der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover; 8), Hildesheim 1988, 1-45; ders., Niedersachsen 1760-1820, Bd. 1, 19-42. Zu den einzelnen Ereignissen in Hannover Dieter BROSIUS, 1803-1918, in: Klaus MLYNEK und Waldemar R. RÖHRBEIN (Hgg.), Hannover Chronik, Hannover 1991, 108-151, hier 109-113; in Göttingen Rudolf VIERHAUS, Göttingen im Zeitalter Napoleons, in: Göttinger Jahrbuch 27 (1979), 177-188. HAASE, Säuberungen, 12. Helmut BERDING, Le Royaume de Westphalie, Etat-Modèle, in: FRANCIA 10 (1982), 345358, hier 345. THIMME, Zustände, Bd. 2, 5; HAVEMANN, Braunschweig und Lüneburg, Bd. 3, 749ff.

36

Territoriale Gliederung, Obrigkeit und Bevölkerung im Untersuchungsgebiet

phalen eingegliedert wurden. Schon Ende Dezember 1810 beschloß Napoleon jedoch, zur besseren Durchsetzung der Kontinentalsperre die Küstengebiete mit den Mündungen von Ems, Weser und Elbe ebenso wie die holländische Küste direkt dem Kaiserreich Frankreich anzugliedern 29 . Der größte Teil des Untersuchungsgebietes blieb allerdings weiterhin beim Königreich Westphalen bis zu dessen Zusammenbruch am Ende des Jahres 1813 30 . Am 4. November 1813 wurde das Kurfürstentum Hannover wiederhergestellt; 1814 wurde Hannover zum Königreich erhoben und konnte sich auf dem Wiener Kongreß territorial vergrößern, unter anderem durch Zugewinn des ehemaligen Hochstiftes Hildesheim 31 .

2.

Herrschaft und Verwaltung

Das Problem unversorgter Kinder beschäftigte alle Ebenen des frühneuzeitlichen Staates. Die Fürsten und ihre Regierungen griffen mit Gesetzen und Verordnungen in die Kinderversorgung und das Armenwesen ein. Unmittelbarer waren aber die lokalen Behörden auf dem Land und in den Städten mit dem Problem konfrontiert, die sich nicht nur dem alltäglichen Elend von Kindern gegenüber sahen, sondern auch die landesherrlichen Gesetze durchsetzen und die Strafverfolgung wahrnehmen mußten. Darüber hinaus entwickelten sie auch selbständige Aktivitäten oder gaben zumindest Anstöße dazu. Hierarchie, Aufgabenverteilung und Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Behörden waren daher entscheidende Voraussetzungen aller obrigkeitlichen Maßnahmen.

2.1.

Kurfürstentum Hannover und Vorläufer Landesherr und Regierung - die Zentralbehörden - die Lokalverwaltung auf dem Land die Städte - Rolle der Stünde

Die Herrschaft der weifischen Herzöge in Celle und Hannover, besonders diejenige Ernst Augusts, war ganz im Sinn des Absolutismus stark von der Persönlichkeit des Herrschers bestimmt 32 . Bei der Führung ihrer Staatsgeschäfte standen 29

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32

Antoinette JOULIA, Les institutions administratives des départements hanséatiques, in: La France à l'époque napoléonienne (= Revue d'histoire moderne et contemporaine 17, JuliSept. 1970), Paris 1970, 880-892, hier 880f. Dieser Zusammenbruch traf auch die übrigen napoleonischen Staatengründungen. BRAUBACH, Von der französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß, 145. OBERSCHELP, Geschichte Niedersachsens 1803-1866, 46ff.; SCHNATH, Entstehung der Territorien, 47; BRAUBACH, Von der französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß, 154. Vgl. PRESS, Kurhannover, 53ff.

Herrschaft und Verwaltung

37

den Herzögen Geheime Ratskollegien als zentrale Regierungsbehörden zur Seite33. Neben dem Geheimen Rat existierten in Hannover nach 1680 drei weitere Zentralbehörden, die personell mit dem Geheimen Rat verbunden waren: die Kammer, die Kanzlei und das Konsistorium 34 ; bald darauf kam mit der Kriegskanzlei eine weitere Zentralbehörde hinzu 35 . Die bis dahin eigenständigen Celler Behörden wurden 1705 bei der Vereinigung beider Länder mit den hannoverschen Gremien vereinigt. Nach dem Wechsel des Kurfürsten nach London 1714 ging die Regierung auf die Geheimen Räte über. Zur Herstellung der Verbindung zwischen diesem Gremium und dem Landesherrn hielten sich einer der Geheimen Räte sowie weitere Beamte ständig in London auf, woraus sich bald die von den englischen Behörden unabhängige Deutsche Kanzlei entwickelte 36 . Unterdessen führte das "mit einer faktischen Omnipotenz" 37 ausgestattete Geheime Ratskollegium, dessen Mitglieder meist dem Adel entstammten 38 , die Regierungsgeschäfte in Hannover unter Zuhilfenahme einer bürgerlichen "Sekretariokratie"39. Die Abwesenheit des Landesherrn stärkte die Landstände und verlieh der hannoverschen Politik im Vergleich etwa zu Preußen nur schwache Züge absolutistischer Herrschaft. In der Forschung gilt das Regiment der Geheimen Räte daher als milde und liberal, zugleich aber auch als schwerfällig, sozial konservativ oder gar rückständig 40 . Diese negative Gesamtbewertung beruht allerdings weniger auf den historischen Tatsachen, sondern spiegelt vielmehr die Perspektive der preußischen Geschichtsschreibung gegenüber dem untergegangenen hannoverschen Staat wider 41 .

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Die Darstellung der hannoverschen Verwaltungsgeschichte folgt im wesentlichen Ernst von MEIER, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Bd. 2: Die Verwaltungsgeschichte, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1899, Hildesheim 1973. Zur Entstehung der fürstlichen Regierungskanzleien ebd., 3-7. Vgl. auch SCHNATH, Geschichte Hannovers, Bd. 2, 319-323. Von MEIER, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Bd. 2, 7ff. Ebd., 16. Das genaue Entstehungsdatum der Kriegskanzlei ist unbekannt, dürfte aber nach PRÖVE, Stehendes Heer, 25, in die frühen 1680er Jahre fallen. Ausführlich dazu: Rudolf GRIESER, Die deutsche Kanzlei in London, ihre Entstehung und Anfänge. Eine behördengeschichtliche Studie, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 89 (1952), 153-168. Eine 'German Chancery' wurde erstmals 1719 erwähnt. Ebd., 160. Wieland SACHSE, Göttingen im 18. und 19. Jahrhundert. Zur Bevölkerungs- und Sozialstruktur einer deutschen Universitätsstadt ( = Studien zur Geschichte der Stadt Güttingen; 15), Göttingen 1987, 29. Vgl. von MEIER, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Bd. 2, bes. 121-154 und 196224 und die Listen 638-640. Ebd., Bd. 1, 491-496. SCHILLING, Höfe und Allianzen, 174; Karl Heinrich KAUFHOLD, Wirtschaft und Gesellschaft im südlichen Niedersachsen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Hermann KELLENBENZ (Hg.), Weltwirtschaftliche und währungspolitische Probleme seit dem Ausgang des Mittelalters, Stuttgart und New York 1981, 207-225, hier 216. Vgl. dazu SACHSE, Göttingen, 29ff. Ein Beispiel für diese Sichtweise ist THIMME, Zustände, Bd. 1, bes. 37ff.

38

Territoriale Gliederung, Obrigkeit und Bevölkerung im Untersuchungsgebiet

Die sogenannten althannoverschen Landesteile wurden im 18. Jahrhundert direkt von den Zentralbehörden verwaltet; mittlere Instanzen, wie es sie für die Herzogtümer Bremen und Verden oder Lauenburg gab, existierten nicht; nur die Justizkanzleien bekamen durch den Umstand, daß die vormalige Celler Kanzlei als Justizkanzlei nach 1705 bestehen blieb und neben die hannoversche Schwesterbehörde trat, zunehmend den Charakter von Mittelbehörden 42 . Neben dem Geheimen Ratskollegium war für die innere Verwaltung besonders die Kammer von Bedeutung, die nicht nur den kurfürstlichen Grundbesitz und somit die landesherrlichen Einnahmen und Ausgaben verwaltete, sondern auch den landesherrlichen Ämtern vorgesetzt war 43 . Eine Übereinstimmung des Geheimen Ratskollegiums mit den anderen Zentralbehörden sollte dadurch gewährleistet werden, daß die Vorsitzenden und häufig weitere Mitglieder dieser Behörden zugleich als Geheime Räte fungierten 44 . Die Geschäfte im Geheimen Ratskollegium, das sich selbst als Landesregierung 45 bezeichnete, sollten ungeachtet einer gewissen Rangfolge kollegial geführt werden 46 ; sukzessive setzte sich allerdings die Aufteilung in verschiedene Departements durch 47 . Die Organe der landesherrlichen Verwaltung auf dem Land waren die Ämter, die direkt der Kammer unterstanden 48 . Eine Ausnahme bildete die sogenannte Großvogtei Celle, die aus der Burgvogtei Celle und elf weiteren Amtsvogteien bestand 49 ; nach 1705 führte jeweils einer der Geheimen Räte den Titel des Großvogtes. Die Ämter vereinigten in der lokalen Ebene "alle Zweige der eigentlichen staatlichen Verwaltung" 50 mit Ausnahme des ständischen Steuerwesens. Die Zuständigkeit der Ämter war seit dem Ende des 17. Jahrhunderts durch verschiedene Amtsordnungen festgelegt und galt in dieser Form während des ganzen 18. Jahrhunderts 51 . Den größten Anteil hatten dabei die Kammersachen, zu denen in erster Linie die Bewirtschaftung der Domänen, die Eintreibung der bäuerlichen Dienste und Abgaben sowie die Einziehung von Gerichtsgebühren und Strafgel-

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Ebd., Bd. 2, 16f.; SCHNATH, Geschichte Hannovers, Bd. 2, 324. Von MEIER, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Bd. 2, 20. Ebd. Die Bezeichnung 'Landesregierung' oder 'Regierung' war während des 18. Jahrhunderts der konstanteste Bestandteil in den wechselnden Namen des Gremiums. Vgl. ebd., 41. Zur Rangfolge ausführlich von MEIER, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Bd. 2, 121ff. Zu den Departements im einzelnen ebd., 84-121. Ebd., 311-337, zur Abhängigkeit von der Kammer bes. 322ff.; Manfred HAMANN, Die althannoverschen Ämter. Ein Überblick, in: Niedersächsisches Jahrbuch fiir Landesgeschichte 51 (1979), 195-208; vgl. auch OBERSCHELP, Niedersachsen 1760-1820, Bd. 2, 100-104. Eicklingen, Ilten, Burgwedel, Bissendorf, Essein, Fallingbostel, Winsen an der Aller, Bergen, Soltau, Hermannsburg und Beedenbostel. Genauer von MEIER, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Bd. 2, 165-181. HAMANN, Ämter, 195. Ebd., 197-199; von MEIER, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Bd. 2, 31 lf.

39

Herrschaft und Verwaltung

dem zählten 52 . Dies erklärt sich nicht zuletzt daher, daß die Ämter in der Regel mitsamt ihren Einkünften gegen eine festgelegte Summe an den Amtsinhaber verpachtet waren 5 3 . Neben Sachbezügen wie Wohnung und Grundnutzung konnten die Beamten häufig auch umfangreiche Bareinkünfte aus ihren Ämtern ziehen 54 . Geleitet wurden die Ämter von einem Amtmann - sofern es sich um einen Adligen handelte, auch als Landdrost oder Oberhauptmann bezeichnet -, dem meist ein zweiter Beamter oder Amtsschreiber

sowie verschiedene subalterne Be-

dienstete zur Verfügung standen, die für das ganze Amt oder jeweils einen Distrikt die Vollzugsaufgaben ausübten 55 . In den einzelnen Dörfern hielten - teils von den Einwohnern gewählte, teils vom Amt bestimmte - Vorsteher, die Bauermeister, den Kontakt zur Amtsobrigkeit 56 . Die an sich gleichberechtigten

Ämter

waren von sehr

unterschiedlicher

Größe 5 7 . Neben den landesherrlichen Ämtern bestanden noch die der Klosterkammer nachgeordneten Klosterämter sowie eine Anzahl adliger Patrimonialgerichte, die teils von den Ämtern abhängig waren, teils aber auch vollkommene Selbständigkeit einschließlich der Kriminalgerichtsbarkeit besaßen 5 8 .

Die Ge-

richtshoheit wurde jedoch zusehends von der Landesregierung beaufsichtigt und gelenkt 5 9 . Die Unabhängigkeit der Städte wurde im Lauf des 17. Jahrhunderts von den Landesherrn stark eingeschränkt. Neben der Verwaltung galt dies besonders für das städtische Steuerwesen, das immer mehr hinter die landesherrlichen Abgaben

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Ebd., 312ff. und 328ff.; Frank WEISSENBORN, Gerichtsbarkeit im Amt Harste bei Göttingen, Diss. iur. Göttingen 1993, 23f. Ebd., 316ff.; HAMANN, Ämter, 196; SCHNATH, Geschichte Hannovers, Bd. 2, 362, Bd. 3, 38. Von MEIER, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Bd. 2, 328ff. HAMANN, Ämter, 198; von MEIER, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Bd. 2, 335337; WEISSENBORN, Amt Harste, 37-52. Vgl. auch Ulrike BEGEMANN, Bäuerliche Lebensbedingungen im Amt Blumenau (Fürstentum Calenberg) 1650-1850. Dargestellt anhand der Eheverträge, der Kirchenbücher des Kirchspiels Limmer und anderer registerförmiger Quellen ( = Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens; 104), Hannover 1991, 70. Vgl. Wolf Dietrich KUPSCH, Das Gericht auf dem Leineberg vor Göttingen. Geschichte eines herzoglichen Landgerichts ( = Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen; 9), Göttingen 1972, 57ff.; WEISSENBORN, Amt Harste, 52-55. Im engeren hannoverschen Untersuchungsgebiet gab es einschließlich der zur Celler Großvogtei gehörigen Amtsvogteien annähernd 100 Ämter. Zur genauen Anzahl siehe von MEIER, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Bd. 2, 320-322. Die sogenannten geschlossenen Gerichte waren völlig autonom, die ungeschlossenen dagegen waren auf die (meist niedere) Gerichtsbarkeit beschränkt. Im hannoverschen Untersuchungsgebiet bestanden gut 40 solcher Gerichte, davon waren etwas mehr als die Hälfte geschlossen. Von MEIER, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Bd. 2, 376-382. Die Entstehung eines adligen Gerichtes, seine Besetzung und Verfassung untersucht eingehend KUPSCH, Gericht Leineberg. KUPSCH, Gericht Leineberg, 133f.

40

Territoriale Gliederung, Obrigkeit und Bevölkerung im Untersuchungsgebiet

zurücktrat 60 . Die Altstadt Hannover erhielt 1699 ein landesherrliches Stadtregiment, das die städtische Autonomie erheblich einschränkte. Der Fürst ernannte nunmehr die Amtsträger des neuen Magistrates, die Bürgerschaft behielt lediglich das Vorschlagsrecht bei Wiederbesetzungen 61 . In Göttingen war der Stadtrezeß von 1690 Endpunkt eines langwierigen landesherrlichen Unterwerfungsprozesses 62 . Ebenfalls 1690 erhielt Einbeck eine neue Verfassung 63 , weitere Städte folgten um die Jahrhundertwende 64 . Auch in Celle wurden die Selbstverwaltung und besonders der Finanzhaushalt nach dem Übergang an Hannover eingeschränkt 65 . Trotz der eingeschränkten Befugnisse konnten sich die Städte ein gewisses Maß an Eigenständigkeit und Handlungsfreiheit bewahren 66 , ebenso wie die vor allem im Süden und Westen des Kurfürstentums Hannover vorkommende, "zwischen Dorf und Stadt" stehende Siedlungsform der Flecken 67 . Die als Landschaften bezeichneten Stände, in denen die säkularisierten Klöster, die Ritterschaft und die Städte zusammengeschlossen waren, konnten sich im Gegensatz zu anderen Territorien in den weifischen Staaten während des 17. Jahrhunderts behaupten und bekamen durch die Abwesenheit des Landesherrn sogar wieder mehr Gewicht 68 . Besonders wichtig war ihre Rolle für die Staatsfinanzierung, da sie formal das Recht zur Steuerbewilligung besaßen 69 und an verschiedenen öffentlichen Angelegenheiten wie dem Armen- und Justizwesen beteiligt waren 70 .

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Norbert WINNIGE, Krise und Aufschwung einer fnihneuzeitlichen Stadt. Göttingen 16501756, unveröff. Diss. phil. Göttingen 1993, 215-226 (im Druck). Carl-Hans HAUPTMEYER, 1636-1802, in: MLYNEK/RÖHRBEIN (Hgg.), HannoverChronik, 46-108, hier 71; SCHNATH, Geschichte Hannovers, Bd. 3, 263. Heinz MOHNHAUPT, Die Göttinger Ratsverfassung vom 16.-19. Jahrhundert (= Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen; 5), Göttingen 1965, 87-108; Kathrin-Sabine EHLERTLARSEN, Wiard HINRICHS, Johannes-Joachim HOFFMANN, Martina KAUP, Ulrike LINDEMANN und Tobias ULRICH, Der Göttinger Stadtrat in der Jahrhunderthälfte der Universitätsgründung, in: Hermann WELLENREUTHER (Hg.), Göttingen 1690-1755. Studien zur Sozialgeschichte einer Stadt (= Göttinger Universitätsschriften: Serie A, Schriften; 9), Göttingen 1988, 23-87, hier 28-32. Einen knappen Überblick gibt auch PRÖVE, Stehendes Heer, 89f. SCHNATH, Geschichte Hannovers, Bd. 2, 364. Ebd., Bd. 2, 364, Bd. 3, 264ff. CASSEL, Celle, Bd. 2, 35. Zum Beispiel Göttingens vgl. Hermann WELLENREUTHER, Epilog, in: ders. (Hg.), Göttingen 1690-1755, 321-328. Käthe MITTELHÄUSSER, Der Flecken in Niedersachsen zwischen Dorf und Stadt, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 63 (1991), 203-249, bes. 204-208. SCHNATH, Geschichte Hannovers, Bd. 2, 334; OBERSCHELP, Niedersachsen 1760-1820, Bd. 2, 128-140. Ausführlich mit der Rolle der Stände beschäftigt sich Dietmar STORCH, Die Landstände des Fürstentums Calenberg-Göttingen 1680-1714 (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens; 81), Hildesheim 1972. Ebd., 65ff., 154ff. Ebd., 183-204. >

Herrschaft und Verwaltung

2.2.

41

Hochstift Hildesheini Regierung - Domkapitel - Land - Stadt Hildesheim - Stände

Die landesherrliche Zentralverwaltung im Hochstift Hildesheim wurde seit ca. 1670 als Regierung bezeichnet 71 , mit welcher der sich gewöhnlich in Köln aufhaltende Landesherr über seine Kabinettskanzlei verkehrte - eine Einrichtung, die auch von den beiden letzten, in Hildesheim selbst regierenden Bischöfen übernommen wurde 72 . In Abwesenheit des Landesherrn besaß auch das Domkapitel erheblichen Einfluß auf die inneren Verhältnisse des Hochstiftes. Das Kapitel, das aus 42 adligen Kanonikern bestand, die sich aus dem katholischen Adel Westfalens und des Niederrheins ergänzten, wählte den Bischof und nahm bei Sedisvakanz die Regierungsaufgaben wahr. Es bildete die erste Kurie des Landtages, über dessen Kompetenzen seine Rechte allerdings hinausgingen, etwa in der Steuerverwaltung und bei der Kontrolle der Kammerrechnungen 73 . Nach einem Rezeß von 1711 mußten vier Protestanten zur Regierung hinzugezogen werden; den Vorsitz führte aber immer ein Mitglied des Domkapitels. Dies galt auch für die anderen Oberbehörden, die Hofkammer und das Hofgericht 74 . Nur die protestantische Kirchen- und Schul Verwaltung, das 'Consistorium Augsburgischer Confession', war protestantisch geführt; ein katholischer Kanzler hatte dort nur repräsentative Funktion 75 . Die ländliche Verwaltung lag ähnlich wie im Kurfürstentum Hannover bei den Ämtern 76 . Außer dem Landesherrn und einigen Patrimonialgerichtsinhabern besaß auch das Domkapitel drei Ämter (Marienburg, Steinbrück und Wiedelah), die diesem direkt unterstanden. Einige Dörfer um Hildesheim gehörten zur Dompropstei, in der der Probst die Rechte eines Landesherrn innehatte; nur die Jurisdiktion für diese Dörfer lag beim Amt Steuerwald. Von den Städten waren neben Hildesheim noch Alfeld, Peine, Bockenem und Elze 'amtsfrei'; die übrigen Städte Gronau, Sarstedt und Dassel dagegen waren den jeweiligen Ämtern untergeordnet 77 . Die Stadt Hildesheim bestand aus der Altstadt und der schon im Hochmittelalter auf einem zur Domprobstei gehörenden Gelände gegründeten Neustadt78. 71

72 73 74 75

76 77 78

HAMANN, Staatswesen, 183. Die Darstellung der Hildesheimer Verwaltungsgescbichte folgt im wesentlichen ebd. und HÖING, Raumwirksame Kräfte. Einen Behördenüberblick gibt auch BERTRAM, Hildesheim, Bd. 3, 201-203. HAMANN, Staatswesen, 181. Ebd., 171f.; HÖING, Raumwirksame Kräfte, 78. HAMANN, Staatswesen, 174, 180. Ebd., 188; HÖING, Raumwirksame Kräfte, 80. Die katholische Kirchenaufsicht übte das Generalvikariat aus. HAMANN, Staatswesen, 188ff. BERTRAM, Hildesheim, Bd. 3, 202; HAMANN, Staatswesen, 188. GEBAUER, Hildesheim, Bd. 1, 71 f.

42

Territoriale Gliederung, Obrigkeit und Bevölkerung im Untersuchungsgebiet

Die Altstadt erhielt 1703 nach schweren Auseinandersetzungen zwischen Rat und Gilden unter Vermittlung eines Geheimen Rates aus Celle eine neue Verfassung, in der sowohl Rat als auch Bürgerschaft straffer organisiert wurden 79 . Die Stadt beanspruchte für sich die Rechte einer Quasi-Reichsstadt80. Sie hielt sich den Ständen weitgehend fern und behauptete gegenüber dem Landesherrn ihre Unabhängigkeit, etwa mit einem eigenen Konsistorium 81 , allerdings um den Preis einer immer stärkeren Abhängigkeit von ihrem hannoverschen Schutzherrn. Die Neustadt erhielt ebenfalls 1703 durch einen Rezeß eine neue Verfassung 82 . Die aus vier Kurien bestehenden Landstände - neben dem Domkapitel die übrigen geistlichen Stifte, die Rittergutsbesitzer und die Städte - waren auch im Hochstift für die Steuerbewilligung zuständig und konnten Gesetzesinitiativen einbringen 83 . Es bestand ein Gegensatz zwischen dem katholischen Landesherrn und dem Domkapitel einerseits und den protestantischen Kurien - vor allem der Ritterschaft - andererseits, die mehrfach Unterstützung bei den weifischen Nachbarn suchten und auch fanden 84 .

2.3.

Die Gerichtsverfassung des Ancien Régime

Die frühneuzeitliche Gerichtsverfassung war im Einzelfall oft unübersichtlich. Daher wird im folgenden nur ein vereinfachender Überblick gegeben, der aber zum Verständnis der strafrechtsgeschichtlichen Ausführungen der folgenden beiden Kapitel unerläßlich ist. Die Jurisdiktion in der frühen Neuzeit wurde in die sogenannte niedere und die höhere

oder

peinliche

Gerichtsbarkeit

unterschieden85.

Die

niedere

Ge-

richtsbarkeit, zu deren Aufgaben die Verhängung von Strafgeldern und geringeren Polizeistrafen zählte, etwa bei Verstößen gegen die öffentliche Ordnung, sittlichen Vergehen oder der Geburt unehelicher Kinder, wurde auf dem Land seit dem Dreißigjährigen Krieg von den landesherrlichen Ämtern bzw. den anderen Gerichtsinhabern ausgeübt. Daneben existierten noch die "außerhalb der regulären Gerichtsverfassung stehenden" 86 Landgerichte, deren Bedeutung allerdings 79 80 81 82 83 84 83

86

Ebd., Bd. 2, 128. HAMANN, Staatswesen, 169f. Ebd., 177, 187. GEBAUER, Hildesheim, Bd. 2, 159. HAMANN, Staatswesen, 175-179; HÖING, Raumwirksame Kräfte, 79. HAMANN, Staatswesen, 177. Vgl. dazu Thomas KRAUSE, Die Strafrechtspflege im Kurfürstentum und Königreich Hannover. Vom Ende des 17. bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ( = Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte; N.F. 28), Aalen 1991, 95-100; KUPSCH, Gericht Leineberg, 84-97. KRAUSE, Strafrechtspflege, 96. Bei den Landgerichten handelte es sich um Schöffengerichte unter Vorsitz landesherrlicher Beamter, dazu ausfuhrlich Götz LANDWEHR, Die althanno-

Herrschaft und Verwaltung

43

stetig abnahm. In den Städten hatten die Magistrate bzw. die vom Landesherrn dafür eingesetzten Beamten die niedere Gerichtsbarkeit inne87. In Göttingen wurde 1737 eine Polizeikommission gegründet, die sich aus dem landesherrlichen Gerichtsschulzen sowie Vertretern von Stadt und Universität zusammensetzte88, in Celle gab es seit 1731 einen Polizeikommissar, der die Arbeit von Magistrat und Burgvogt überwachen sollte 89 . Die Rechtsprechung in 'peinlichen' Fällen, zu denen neben Verbrechen gegen Leib und Leben auch Eigentumsdelikte und schwerere sittliche Verfehlungen zählten, wurde meist vom Landesherrn ausgeübt. Nur ein Teil der adligen Patrimonialgerichte und einige Städte hatten den Anspruch auf eine eigene Kriminalgerichtsbarkeit, die die Entscheidung über das Leben der Verurteilten beinhaltete; dazu gehörten im Kurfürstentum Hannover die Altstadt Hannover, Hameln, Einbeck und Northeim, in Hildesheim die amtsfreien Städte 90 . Weitere Korporationen, die die Halsgerichtsbarkeit beanspruchen konnten, waren die Göttinger Universität und das Hildesheimer Domkapitel91. Dagegen übte in der hannoverschen Neustadt, in Celle und Göttingen der Landesherr die Kriminaljurisdiktion aus 92 . Den unterschiedlichen lokalen Gerichtsbarkeiten entsprachen verschiedene soziale Rechtsgemeinschaften. Dazu gehörte neben den Bürgern der Städte vor allem das Militär, das eigenen Strafgesetzen unterworfen war 93 . Die Angehörigen der Göttinger Universität, Studenten wie Professoren, unterstanden der akademischen Gerichtsbarkeit94. Die unterschiedlichen sozialen und lokalen Zugehörigkeiten bedeuteten, daß oft langwierige Streitigkeiten über die jeweilige Zuständigkeit auftreten konnten, die die Effektivität der Strafverfolgung mitunter ein-

87

88

89

90

91 92

93 94

verschen Landgerichte ( = Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens; 62), Hildesheim 1964, bes. 12ff. und 119ff. KRAUSE, Strafrechtspflege, 96; von MEIER, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Bd. 2, 318f. EHLERT-LARSEN u.a., Göttinger Stadtrat, 30; Stefan BRÜDERMANN, Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert ( = Göttinger Universitätsschriften, Reihe A: Schriften; 15), Göttingen 1990, 251. CASSEL, Celle, Bd. 2, 42. Nachdem die Stelle des Hofamtmannes 1707 eingezogen worden war, übte der Burgvogt beinahe die gesamte Jurisdiktion über Celle und seine Vorstädte aus; nur die niedere Gerichtsbarkeit in der eigentlichen Stadt lag beim Magistrat. Ebd., 13. KRAUSE, Strafrechtspflege, 97-100. Die Zahl der Patrimonialgerichte mit eigener Halsgerichtsbarkeit ist nach KRAUSE, Strafrechtspflege, 97, aufgrund der Quellensituation nicht auszumachen. Ebd. Ebd., 100; KUPSCH, Gericht Leineberg, 127ff.; Gerhard WITTRAM, Die Gerichtsverfassung der Stadt Göttingen vom 13. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts ( = Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen; 6), Göttingen 1966, 90; CASSEL, Celle, Bd. 1, 282ff. und 514ff. PRÖVE, Stehendes Heer, 42-46. Siehe auch Kap. II, Abschnitt 1-3. BRÜDERMANN, Studenten, bes. 33-141.

44

Territoriale Gliederung, Obrigkeit und Bevölkerung im Untersuchungsgebiet

schränkten. In schweren Fällen allerdings funktionierte die Zusammenarbeit der verschiedenen Behörden meist problemlos 95 . Die Halsgerichtsbarkeit in den landesherrlichen Gerichten dependierte von der Person des Fürsten, der sie an seine Regierung bzw. in Hannover später an die Justizkanzleien delegierte. Zur Urteilsfindung wurde von den Gerichten meist eine juristische Fakultät angerufen 96 ; im Kurfürstentum Hannover trafen seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Justizkanzleien immer häufiger selbst die Entscheidung 97 . Die eigentliche Untersuchung wurde aber gewöhnlich von den lokalen Instanzen geführt 98 . Rechtliche Grundlage der höheren Gerichtsbarkeit war die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, die sogenannte Carolina, die sowohl in den späteren hannoverschen Landesteilen als auch in Hildesheim wahrscheinlich schon im 16., spätestens aber zu Beginn des 17. Jahrhunderts Geltung erlangt hatte 99 . Abgesehen von einzelnen Modifikationen vor allem auf strafprozessualem Gebiet wie der "Criminal-Instruction" von 1736100, die genaue Anweisungen zur Führung einer Kriminaluntersuchung gab, blieb die Carolina in Hannover bis in das 19. Jahrhundert hinein gültig 101 ; ein 1768-1772 entstandener Entwurf für ein hannoversches Landrecht scheiterte 102 . Für das nunmehr zum Königreich Hannover gehörende Fürstentum Hildesheim wurde die Geltung der Carolina 1823 noch einmal ausdrücklich bestätigt 103 . Allerdings wurden verschiedene Strafen im Laufe der Zeit gemildert, 1717 wurden z.B. die Schand- und Körperstrafen abgeschafft und in Arbeits- und Freiheitsstrafen geändert 104 .

95 96 97 98

99

100

101 102

103

104

Siehe dazu Kap. II und III, passim. KRAUSE, Strafrechtspflege, 106f. Ebd., 113. Ebd., 97; einen Überblick gibt Heinrich DEICHERT, Zur Geschichte der peinlichen Rechtspflege im alten Hannover, in: Hannoversche Geschichtsblätter 1912, 77-175. Vgl. auch OBERSCHELP, Niedersachsen 1760-1820, Bd. 2, 116-119. KRAUSE, Strafrechtspflege, 17-23. Im Amt Dannenberg wurde zu Beginn des 17. Jahrhunderts in einigen Kindsmordprozessen noch sächsisches Recht angewandt, siehe unten Kap. III, Abschnitt 2.1. Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landesordnungen und Gesetze, fiir den Zellischen Teil (im folgenden abgekürzt CCL), 5. Bde., Lüneburg 1741-1745, Bd. 2, 836; zu ihrer Entstehung vgl. KRAUSE, Strafrechtspflege, 28ff. Ebd., 24-34, zu den Modifikationen betreffend Diebstahlsdelikte 68-94. Friedrich Esajas PUFENDORF, Entwurf eines hannoverschen Landrechts (vom Jahre 1772), hg. von Wilhelm EBEL ( = Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens; 78), Hildesheim 1970. Dazu KRAUSE, Strafrechtspflege, 25. KRAUSE, Strafrechtspflege, 24 Anm. 42; Hinrich RÜPING und Wolfgang SELLERT, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Bd. 1: Wolfgang SELLERT, Von den Anfingen bis zur Aufklärung, Aalen 1989, 199. KRAUSE, Strafrechtspflege, 38-68.

45

Herrschaft und Verwaltung

2.4.

Die napoleonische Zeit Die Übergangszeit - Königreich Westphalen und Kaiserreich Frankreich - Reformen

Mit den wechselnden Besatzungen während der napoleonischen Zeit änderten sich auch die Verwaltungsstrukturen mehrfach 105 . Nach dem Einmarsch der Preußen in Hildesheim wurde zunächst eine 'Hauptorganisationskommission' für das besetzte

Land

eingerichtet.

Bald

darauf

wurde

eine

hildesheimische

'Regierungsdeputation' eingesetzt, die der Kriegs- und Domänenkammer in Halberstadt unterstellt war; die nun vereinigte Stadt Hildesheim erhielt eine neue Verfassung 106 . Die hannoversche Regierung hatte 1803 vor ihrer Flucht noch in den einzelnen Provinzen landschaftliche Deputationskollegien eingesetzt, die mit den Franzosen verhandeln sollten. Auf Befehl des französischen Oberbefehlshabers General Mortier wurde das calenberg-grubenhagensche Kollegium zunächst zum 'LandesDeputations-Collegium'

ernannt

und

übernahm

provisorische

Regie-

rungsaufgaben. Am 22. Juni 1803 wurde dann eine Exekutivkommission geschaffen, deren Mitglieder z.T. gleichzeitig dem Landes-Deputations-Collegium angehörten und die unter der Befehlsgewalt des französischen Oberkommandierenden die Regierungsgeschäfte führten. Als Vorsitzender der Kommission und Verbindungsmann zum Militärkommando wurde ein französischer 'Commissaire du Gouvernement' eingesetzt. Die nachgeordneten Verwaltungsinstitutionen blieben bestehen, ebenso die ständischen Kammern, die für die Ausschreibung der Steuern und die Lieferungen für die französische Armee zuständig waren 107 . Nach dem Abzug der Franzosen 1805 löste sich die Exekutivkommission auf. Die Preußen errichteten zunächst eine 'Administrationskommission', unter der die anderen Behörden, auch das Landes-Deputations-Collegium, weiterbestanden. Nach der offiziellen Besitznahme wurde das hannoversche Staatsministerium einschließlich aller Departements aufgelöst. An ihrer Stelle wurde für die altwelfischen

Provinzen

ein

der

Administrationskommission

unterstehendes

Re-

gierungskollegium gegründet, dem Mitglieder der früheren Ministerien und preußische Beamte angehörten 108 . Als die Franzosen zum zweiten Mal in Hannover einrückten, stellten sie sich auf eine längerfristige Verwaltung des Landes ein. Zwar ließen sie erst einmal die 105

106 107 108

Die napoleonischen Verwaltungsreformen behandeln mehrere Beiträge in: La France à l'époque napoléonienne ( = Revue d'histoire et moderne contemporaine 17, Juli-Sept. 1970), Paris 1970. Grundlegend für das Untersuchungsgebiet ist das zweibändige Werk von THIMME, Zustände, das entgegen dem Titel auch die Zeit der französischen und preußischen Besetzungen 1803 bis 1806 behandelt. GEBAUER, Hildesheim, Bd. 2, 256ff. HAASE, Säuberungen, 10f.; THIMME, Zustände, Bd. 1, 59-83. THIMME, Zustände, Bd. 1, 148-184.

46

Territoriale Gliederung, Obrigkeit und Bevölkerung im Untersuchungsgebiet

von der hannoverschen Regierung eingesetzte Exekutivkommission ebenso wie die Ständevertretungen bestehen 109 . Im Januar 1807 wurden jedoch französische Bevollmächtigte für die Verwaltung eingesetzt, ein Generalgouverneur, der für die militärisch-polizeilichen Aufgaben zuständig war, und ein Intendant, dem die Finanzverwaltung oblag. Ende 1807 wurden dann die Stände aufgehoben 110 . Als Regierung wurde nun unter Erweiterung der Exekutivkommission die sogenannte 'Commission des Gouvernements' gebildet. Auf den mittleren und unteren Ebenen blieb die Verwaltung allerdings mit hannoverschen Beamten besetzt 111 . Das Königreich Westphalen war von der napoleonischen Politik als Modellstaat konzipiert worden, der die Deutschen von der Überlegenheit des nachrevolutionären französischen Systems überzeugen sollte112. Die Konstitutionsakte verkündete u.a. die Gleichheit aller Untertanen vor dem Gesetz, religiöse Gleichberechtigung, die Aufhebung aller Korporationen, die Abschaffung des adligen Privilegs zur Besetzung bestimmter Ämter und der Leibeigenschaft 113 . Um eventuelle Loyalitäten zu den früheren Staaten zu brechen und eine neue staatliche Einheit zu schaffen, wurde die Verwaltung radikal verändert. Die Autonomie von Landschaften und Kommunen wurde abgeschafft und statt dessen das französische Präfektursystem eingeführt 114 . Am 24. Dezember 1807 wurde das Königreich in acht Departements und 27 Distrikte (Arrondissements) eingeteilt 115 . Benannt wurden die Departements in der Regel nach ihren Hauptflüssen, die Arrondissements nach ihren Hauptorten. Das ehemalige Hochstift Hildesheim ging fast ganz im 'Departement der Ocker' auf, Hildesheim selbst wurde Hauptort eines gleichnamigen Arrondissements. Die hannoverschen Fürstentümer Göttingen und Grubenhagen bildeten zusammen mit einigen kleineren Gebieten das 'Departement der Leine' mit den Arrondissements Göttingen und Einbeck 116 . Nach der Vergrößerung Westphalens im Jahr 1810 wurde die Einteilung der bestehenden Departements verändert und es entstanden drei neue. Die Fürstentümer Bremen und Verden sowie Teile von Hoya und Lüneburg gehörten fortan zum 'Norddepartement 1 , der nördliche Teil des Fürstentums Lüneburg kam zum 'Departement der Niederelbe'. Die übrigen hannoverschen Landesteile, also der südliche Teil von Lüneburg, Calenberg, Hoya und Diepholz, wurden im

109 110 111 112

113 114 115 116

NHStA Hann. 51 Nr. 2, Besitznahmeerklärung Mortiers vom 12.11.1806. Ebd., Dekret des Generalgouverneurs Lasalcette vom 20.9.1807. THIMME, Zustände, Bd. 1, 185-383; HAASE, Säuberungen, 14-23. Helmut BERDING, Napoleonische Herrschafts- und Gesellschafispolitik im Königreich Westphalen 1807-1813 ( = Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 7), Göttingen 1973, 20; ders., Le Royaume de Westphalie, 345. BERDING, Herrschafts- und Gesellschaftspolitik, 21. Ebd., 23; ders., Le Royaume de Westphalie, 351. THIMME, Zustände, Bd. 2, 47; HAASE, Säuberungen, 40. THIMME, Zustände, Bd. 2, 49.

Herrschaft und Verwaltung

47

'Allerdepartement' vereinigt; Hannover wurde nicht nur Hauptort des Departements, sondern wie Celle und Nienburg auch eines Arrondissements 117 . Die Verwaltung war zentralistisch-straff gegliedert. An der Spitze der Departements stand ein vom Innenminister ernannter Präfekt, für jedes Arrondissement gab es einen Unterpräfekten; auf unterer Ebene folgten die 'Maires' (Vorsteher) der Kantone und schließlich der Gemeinden 118 . Diesen waren jeweils Kollegien oder Räte mit beschränkten Aufgaben beigegeben. An der Spitze der Verwaltung standen vier, später fünf Ministerien. Das Armenwesen sowie sämtliche Straf- und Fürsorgeanstalten unterstanden dem Innenministerium 119 . Das Justizwesen war durch die Einführung des Code Napoleon und der napoleonischen Zivil- und Kriminalprozeßordnungen geprägt 120 . Allerdings wurden viele Reformen, so die Ablösung der Grundherrschaft und die Agrarreformen, nicht konsequent durchgeführt 121 . Auch ein neues Strafgesetz kam nicht zustande, so daß jeweils nach den überkommenen Kriminalgesetzen der Vorgängerstaaten entschieden werden mußte 122 . Die bereits Ende des Jahres 1810 wieder von Westphalen abgetrennten Gebiete wurden direkt dem Kaiserreich Frankreich unterstellt und in drei Departements eingeteilt, die von einer Regierungskommission,

später von einem Gene-

ralgouverneur mit Sitz in Hamburg regiert wurden 123 . Nach der Wiederherstellung der hannoverschen Herrschaft im Oktober 1813 wurde eine Übergangsregierung gebildet, die schon wenige Tage darauf von einer neuen Regierung abgelöst wurde 124 . Auch Hildesheim, von dem hannoversche Truppen Besitz nahmen, wurde nun mittels einer provisorischen Regierungskommission regiert 125 . Die Veränderungen der französisch-westphälischen Herrschaft wurden umgehend rückgängig gemacht und die alten Strukturen wiederhergestellt 126 .

117 118 119

120 121

122 123

124 125 126

Ebd., 60f. Ebd., 100-139. Dieses Ministerium bestand von 1808-1813. Vor 1808 gehörten die inneren Angelegenheiten zum Geschäftsbereich des Justizministers Siméon. Ebd., 63-99, bes. 64 u. 70. Ebd., 193-228. Elisabeth FEHRENBACH, Traditionelle Gesellschaft und revolutionäres Recht ( = Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 13), 2. Aufl. Göttingen 1978, 79-104; BERDING, Le Royaume de Westphalie, 352; ders., Herrschafts- und Gesellschaftspolitik, 24. Besonders das Weiterbestehen bestimmter bäuerlicher Dienste sorgte für Unsicherheit und Verwirrung THIMME, Zustände, Bd. 2, 209. JOULIA, Institutions administratives, 882ff.; HAASE, Säuberungen, 41; THIMME, Zustände, Bd. 2, 610-622. OBERSCHELP, Niedersachsen 1760-1820, Bd. 1, 42f. GEBAUER, Hildesheim, Bd. 2, 305; BERTRAM, Hildesheim, Bd. 3, 211. In Göttingen z.B. hinterließen sowohl die französischen Besetzungen als auch die westphälische Herrschaft kaum Spuren. VIERHAUS, Göttingen im Zeitlater Napoleons, 178, 187f.

48 3.

Territoriale Gliederung, Obrigkeit und Bevölkerung im Untersuchungsgebiet

Bevölkerungsentwicklung und materielle Lebensgrundlagen Bevölkerungswachstum - Kinderanteil - konfessionelle Gliederung - das Land und die Städte - wirtschaftliche Grundlagen - soziale Gliederung - Teuerung und Armut

Die Bedingungen elterlicher Kinderversorgung unterlagen einer Vielzahl von Faktoren, etwa der Bevölkerungsentwicklung, der Zahl der Kinder in der Familie, den ökonomischen Grundlagen und den Familienstrukturen, die ihrerseits wiederum durch die materiellen Lebensbedingungen geprägt waren 127 . Letztlich müssen die gesamten sozialen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen als Voraussetzung elterlicher Kinderversorgung in Betracht gezogen werden. Es wäre daher wünschenswert, zu Beginn einer Arbeit über unversorgte Kinder diese Voraussetzungen möglichst in ihrer Gesamtheit darzustellen. Angesichts der noch immer eher spärlichen Erforschung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Nordwestdeutschlands und der Größe des untersuchten Gebietes wäre ein solcher Versuch jedoch von vornherein zum Scheitern verurteilt 128 . Statt dessen erscheint es mir sinnvoller, die Entwicklung der Bevölkerung und ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen hier nur in Grundzügen darzustellen und einzelne besonders wichtige Faktoren noch einmal im jeweiligen Interpretationszusammenhang anzusprechen. Das 18. Jahrhundert war die Zeit eines ansteigenden Bevölkerungswachstums in Europa 129 . In Nordwestdeutschland vergrößerte sich die Bevölkerung binnen 100 Jahren auf das Eineinhalbfache 130 . Im einzelnen waren jedoch das Wachstum ebenso wie die Bevölkerungsdichte in den verschiedenen Teilen des Untersuchungsgebietes sehr unterschiedlich; bei den Angaben für größere Gebiete handelt es sich daher in der Regel um Schätzwerte 131 . Am Ende des 17. Jahrhunderts be127

128

129 130

131

Vgl. dazu den Sammelband von Heidi ROSENBAUM (Hg.), Seminar: Familie und Gesellschaftsstrukur. Materialien zu den sozioökonomischen Bedingungen von Familienformen, 4. Aufl. Frankfürt a.M. 1988; Hans MEDICK, Familienwirtschaft als Kategorie einer historisch-politischen Ökonomie. Die hausindustrielle Familienwirtschaft in der Übergangsphase zum Kapitalismus, in: MITTERAUER/SIEDER (Hgg.), Historische Familienforschung, 271299; David LEVINE, Family Formation in an Age of Nascent Capitalism, New York 1977. Da die entsprechenden Bände der Geschichte Niedersachsens noch nicht vorliegen, können vor allem für die ländliche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte nur wenige Lokalstudien herangezogen werden. Etwas besser ist die Forschungslage zu den Städten, da neben verschiedenen älteren Gesamtdarstellungen besonders über Göttingen in letzter Zeit einige bevölkerungsund sozialgeschichtlich orientierte Studien erschienen sind. Die Arbeit von OBERSCHELP, Niedersachsen 1760-1820, ist wegen der ausschließlichen Verwertung zeitgenössischer Periodika nur begrenzt aussagefähig. Vgl. SCHILLING, Höfe und Allianzen, 80f.; MÖLLER, Fürstenstaat, 78ff. Diedrich SAALFELD, Stellung und Differenzierung der ländlichen Bevölkerung Nordwestdeutschlands in der Ständegesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: Ernst HINRICHS und Günther WIEGELMANN (Hgg.): Sozialer und kultureller Wandel in der ländlichen Welt des 18. Jahrhunderts ( = Wolfenbüttler Forschungen; 19), Wolfenbüttel 1982, 229-251, hier 232; vgl. auch SACHSE, Göttingen, 82f. Verantwortlich dafür sind in erster Linie methodische Schwierigkeiten bei der Auswertung bevölkerungsstatistischer Daten. Vgl. dazu Günther FRANZ, Zur Sozialstruktur des nieder-

Bevölkerungsentwicklung und materielle Lebensgrundlagen

49

saßen die beiden weifischen Fürstentümer jeweils ungefähr 2 0 0 0 0 0 Einwohner, wobei allerdings der von Georg Wilhelm regierte nördliche Teil etwa doppelt so groß war wie das Territorium seines Bruders 1 3 2 . Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte das gesamte Kurfürstentum

nach vorsichtigen Schätzungen

mindestens

8 0 0 0 0 0 bis 9 0 0 0 0 0 Einwohner 1 3 3 . Im Hochstift Hildesheim lebten um etwa 123 5 0 0 Menschen

134

1800

, und das Königreich Westphalen, zu dem allerdings

noch andere Gebiete gehörten, hatte 1810 eine Bevölkerung von etwa zwei Millionen Einwohnern 1 3 5 . Das Bevölkerungswachstum einzelner Landesteile ist aufgrund wechselnder Gebietsangaben bzw. der Neugliederung der Verwaltungsgrenzen in westphälischer Zeit schwierig zu bestimmen. Der Zuwachs aber ist deutlich: Hatten die Fürstentümer Calenberg und Göttingen 1 6 8 9 zusammmen 130 0 0 0 Einwohner, sollen 1775 allein in Calenberg gut 186 0 0 0 Menschen gelebt haben 1 3 6 . Im lüneburgischen Teil hatte sich die Bevölkerung im Jahr 1766 bei einigen Gebietsveränderungen von ehemals 2 0 0 0 0 0 auf gut 3 0 0 0 0 0 Personen vergrößert 1 3 7 . Das Bevölkerungswachstum dürfte also auf das ganze 18. Jahrhundert gesehen bei über 5 0 Prozent gelegen haben 1 3 8 . Eine der größten Altersgruppen dieser Bevölkerung stellten Kinder unter 14 Jahren: trotz einer hohen Säuglingssterblichkeit 139 betrug ihr Anteil an der Ge-

132

133

134 135

136

137 138 139

sächsischen Landvolkes im ausgehenden 17. Jahrhundert. Ein Vorbericht, in: Ingomar BOG, Günther FRANZ, Karl Heinrich KAUFHOLD, Hennann KELLENBENZ und Wolfgang ZORN (Hgg.), Wirtschaftliche und soziale Strukturen im saekularen Wandel. Festschrift für Wilhelm Abel zum 70. Geburtstag, Hannover 1974, 228-236; Ralf PRÖVE, Die Bevölkerungsstruktur Göttingens am Vorabend des Siebenjährigen Krieges (1756-1763), in: Göttinger Jahrbuch 36 (1988), 131-140; WINNIGE, Krise und Aufschwung, 78-80. SCHNATH, Geschichte Hannovers, Bd. 2, 359; die Angabe für den calenbergischen Teil bezieht sich dabei auf die Kopfsteuerbeschreibung von 1689, der zufolge in den Fürstentümern Calenberg und Göttingen 130 000 Menschen lebten, zur Grundlage der Berechnung vgl. FRANZ, Sozialstruktur, passim. OBERSCHELP, Niedersachsen 1760-1820, Bd. 1, 8; HAVEMANN, Braunschweig und Lüneburg, Bd. 3, 649. Während sich diese Zahlen auf Berechnungen Spittlers stützen, geht SACHSE, Göttingen, 151, in Anlehnung an den Statistiker Adolph Tellkampf davon aus, daB die Bevölkerung des Kurfürstentums bereits 1745 die Millionengrenze überschritten und 1790 beinahe 1,3 Millionen erreicht hatte. HÖING, Raumwirksame Kräfte, 77. 1808: 1 910 811 Einwohner. Johann Samuel ERSCH, Handbuch über das Königreich Westphalen zur Belehrung über Land und Einwohner (...), Halle 1808, 67; 1812: 2 102 000 Einwohner. G. HASSEL, Statistisches Repertorium über das Königreich Westphalen, Braunschweig 1813, 2. Vgl. OBERSCHELP, Niedersachsen 1760-1820, Bd. 1, 9. Zu 1689 FRANZ, Sozialstruktur; für 1775 gaben Meiners und Spittler 186 753 Personen an, siehe Tabellarisches Verzeichnis der innerhalb zehen Jahren zu Göttingen copulirten Ehen (...), in: Christoph MEINERS und Ludwig Timotheus SPITTLER (Hgg.), Göttingisches Historisches Magazin, Bd. 2 (1788), 314f., hier 315. OBERSCHELP, Niedersachsen 1760-1820, Bd. 1, 8. KAUFHOLD, Wirtschaft und Gesellschaft, 210. Siehe dazu Kapitel VI, Abschnitt 3.1.

50

Territoriale Gliederung, Obrigkeit und Bevölkerung im Untersuchungsgebiet

samtbevölkerung ungefähr ein Drittel 140 . Im Alter von einem bis 20 Jahren befanden sich nach der Kopfsteuerbeschreibung von 1689 im Calenbergischen Teil etwas mehr als 50 Prozent aller Einwohner 141 . Pro Ehe wurden durchschnittlich zwischen drei und vier Kinder geboren 142 . Konfessionell war das Untersuchungsgebiet

im wesentlichen vom

Prote-

stantismus geprägt. Die Bevölkerung in den weifischen Territorien, in denen im 16. Jahrhundert die Reformation eingeführt worden war, war beinahe ausnahmslos lutherisch. Vor allem in den Städten lebten allerdings konfessionelle Minderheiten, Juden, Katholiken und Reformierte, einige davon französischer Herkunft 143 . Auch in Hildesheim war die Reformation erfolgreich gewesen, nicht nur in der Stadt selbst, sondern auch in den nach der Stiftsfehde weifisch gewordenen Landesteilen. Nur die Bevölkerung der dem Bischof verbliebenen Gebiete, des sogenannten "Kleinen Stiftes", zu dem die Dompropstei und die Ämter Peine, Steuerwald und Marienburg gehörten, und natürlich die Kleriker in der Stadt hatten am Katholizismus festgehalten. Um 1800 machten die Katholiken im Hochstift etwa 22 Prozent der Einwohnerschaft aus, in der Stadt Hildesheim ca. 36 Prozent 144 .

140

141

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143

144

1686 waren 34,5 Prozent (1078 von 3125) der in Göttingen für die Kopfsteuer gezählten Personen Kinder unter 14 Jahren. WINNIGE, Krise und Aufschwung, 84. Nach Meiners und Spittler waren im Fürstentum Calenberg 1775 von insgesamt 186 753 Personen 61 698 oder 33 Prozent unter 14 Jahren. Um 1780 kamen in Göttingen angeblich auf 6533 Jugendliche und Erwachsene (ohne Studenten) etwa 3700 Kinder, was einem Anteil von 36 Prozent entspräche: Tabellarisches Verzeichnis der innerhalb zehen Jahren zu Göttingen copulirten Ehen. Dieser Wert dürfte allerdings zu hoch berechnet sein, denn in der Volkszählung von 1756 machten Kinder bis 15 Jahre nur 25,6 Prozent der Bevölkerung aus. PRÖVE, Bevölkerungsstruktur, 138. Nach einer Einwohnerzählung von 1766 waren von 6302 gezählten Personen 1905 oder 30 Prozent unter 14 Jahren; allerdings fehlen in dieser Berechnung sowohl Studenten als auch das Militär, während die Kinder von Militärangehörigen in der Zählung enthalten sind, wodurch sich eine deutliche Verschiebung zuungunsten des mittleren Alters ergibt. StAGö AA Zählungen Nr. 7. Siegfried BÜSCH, Hannover, Wolfenbüttel und Celle. Stadtgründungen und Stadterweiterungen in drei weifischen Residenzen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens; 75), Hildesheim 1969, 170; Käthe MITTELHÄUSSER, Häuslinge im südlichen Niedersachsen, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 116 (1980), 235-278, hier 253. Nach zeitgenössischen Berechnungen betrug die durchschnittliche Kinderzahl pro Ehe im Zeitraum von 1778-1785 im Kurfürstentum Hannover 3,77. Die Stadt Hannover lag mit 3,34 darunter, die Fürstentümer Calenberg mit 3,94 und Grubenhagen mit 4,15 darüber. Friedrich Arnold KLOCKENBRING, Einige Resultate und Bemerkungen, aus den Geburts- und Sterbelisten der Chur-Braunschweig-Lüneburgischen Lande überhaupt, und der Stadt Hannover insbesondere, in: ders., Aufsätze verschiedenen Inhalts, Bd. 1, Hannover 1787, 1-68, hier 34, 62. HAUPTMEYER, 1636-1802, 103, zufolge wurden in der Stadt Hannover 1784 durchnittlich 3,6 Kinder geboren. Über die Zahl von Hugenotten, deutschen Reformierten und Juden in der hannoverschen Neustadt vgl. HAUPTMEYER, 1636-1802, bes. 66, 72f., 88; zu Hameln ausführlich Thomas KLINGEBIEL, Weserfranzosen. Studien zur Geschichte der Hugenottengemeinschaft in Hameln (1690-1757) (= Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens; 32), Göttingen 1992; zu Celle CASSEL, Celle, Bd. 2, 87ff. HÖING, Raumwirksame Kräfte, 77.

Bevölkerungsentwicklung und materielle Lebensgrundlagen

51

Am Ende des 17. Jahrhunderts lebten etwa drei Viertel der nordwestdeutschen Bevölkerung auf dem Land; ein Verhältnis, das sich im Laufe des 18. Jahrhunderts nur wenig zugunsten der Städte veränderte 145 . Das Wachstum der Landbevölkerung war regional unterschiedlich, lag aber auch in dichter besiedelten Gegenden eher etwas unterhalb des durchschnittlichen Bevölkerungsanstiegs, im Fürstentum Göttingen z.B. bei etwa 47 Prozent, teilweise etwas darüber 146 . Die ländlichen Gebiete waren um 1700 - mit Ausnahme des Harzes - nahezu ausschließlich agrarisch geprägt 147 . Die rechtliche Grundlage der Verteilung des Landbesitzes bildete das sogenannte Meierrecht, das die Rechte der Grundherren zugunsten fiskalischer Interessen des Landesherrn begrenzte 148 . Nach diesem Recht waren die Bauern zwar persönlich frei, erhielten aber ihr Land nur in Form einer Pacht vom Grundherrn, dem sie dafür ebenso verschiedene Abgaben und Dienste schuldeten wie dem Landesherrn 149 . Die dörfliche Sozialordnung wurde durch die Größe der Höfe entschieden; an der Spitze standen die Großbauern, die sogenannten Meier, die nach der Größe ihrer Stelle in Voll-, Halb- und Viertelmeier unterteilt wurden. Darauf folgten die Besitzer der kleineren Kothöfe, schließlich die landarmen Brinksitzer und zuletzt die landlose Bevölkerung 150 , darunter neben Hirten und Tagelöhnern oft ehemalige Soldaten und deren Anhang bzw. Hinterbliebene 151 . Ohne eigenen Haushalt lebte das Gesinde, das jedoch oft nur während einer Übergangszeit in diesem Stand verblieb 152 . Durch den Bevölkerungsanstieg vermehrte sich bei gleichbleibender Zahl der Hofstellen vor allem die Gruppe der landarmen und besitzlosen Familien: machten diese um 1680 noch knapp 40 Prozent der ländlichen Bevölkerung aus, wuchs ihr Anteil

145

146

147

148

149

150

151

152

Nach SAALFELD, Bevölkerung Nordwestdeutschlands, 231, gehörten 1680 77 Prozent der Einwohner Nordwestdeutschlands zur Landbevölkerung, 1800 73 Prozent. SCHNATH, Geschichte Hannovers, Bd. 2, 414, gibt an, daß im calenbergischen Teil 1689 etwa 45 000 der 200 000 Einwohner in den Städten lebten. Der Anteil des Adels sank zwischen 1680 und 1800 auf weniger als ein Prozent. SAALFELD, Bevölkerung Nordwestdeutschlands, 231. Bernd HABICHT, Stadt- und Landhandwerk im südlichen Niedersachsen im 18. Jahrhundert ( = Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; 10), Göttingen 1983, 113. KAUFHOLD, Wirtschaft und Gesellschaft, 209; SCHNATH, Geschichte Hannovers, Bd. 3, 256. Ebd.; SAALFELD, Bevölkerung Nordwestdeutschlands, 233; speziell zum Calenberger Meierrecht vgl. BEGEMANN, Bäuerliche Lebensbedingungen, 6-10. Zu den bäuerlichen Einkünften und Belastungen vgl. im einzelnen Walter ACHILLES, Die Lage der hannoverschen Landbevölkerung im späten 18. Jahrhundert ( = Quellen und Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Niedersachsens in der Neuzeit; 9), Hildesheim 1982; BEGEMANN, Bäuerliche Lebensbedingungen, 49-63. SAALFELD, Bevölkerung Nordwestdeutschlands, 234; KAUFHOLD, Wirtschaft und Gesellschaft, 210; BEGEMANN, Bäuerliche Lebensbedingungen, 11-14; SCHNATH, Geschichte Hannovers, Bd. 2, 417f. MITTELHÄUSSER, Häuslinge, 243, 258; BEGEMANN, Bäuerliche Lebensbedingungen, 40. Vgl. unten Kap. III, Abschnitt 2.3.

52

Territoriale Gliederung, Obrigkeit und Bevölkerung im Untersuchungsgebiet

bis 1800 auf über 50 Prozent 153 . Allein der landlosen Unterschicht gehörten etwa 35 bis 38 Prozent der Landbevölkerung an 154 . Folgen dieser Verschiebung waren vor allem in den südlichen Teilen des Untersuchungsgebietes, in dem die Höfe kleiner waren als im Fürstentum Lüneburg 155 , eine starke Ausbreitung des Häuslingswesens, also der Vermietung bäuerlichen Wohnraums an die landbesitzlose Bevölkerung, und eine zunehmende Bedeutung des Nebenerwerbs 156 . Dazu zählten einmal das Landhandwerk, dem etwa ein Achtel der ländlichen Erwerbstätigen nachging 157 , und dann vor allem die Garnspinnerei, die im wesentlichen die wirtschaftliche Grundlage für das Anwachsen der ländlichen Unterschicht lieferte 158 . Außer Handwerk und textilem Heimgewerbe existierten nur wenig andere Gewerbeformen 159 . Erst im ausgehenden 18. Jahrhundert traten auch in ländlichen Gebieten vermehrt sogenannte 'Fabriken' auf, etwa Fayence- und Pfeifenfabriken, Papiermühlen oder Glashütten 160 . Verantwortlich für die insgesamt langsame wirtschaftliche Entwicklung waren nicht zuletzt politische Versäumnisse: Sowohl im Kurfürstentum als auch im Hochstift Hildesheim wurde kaum eine gezielte 153

154

155

156

157 158

159 160

161

Gewerbeförderung

betrieben 161 .

Erst

1786

wurde

in

Hannover

ein

Nach Umrechnung der Prozentangaben bei SAALFELD, Bevölkerung Nordwestdeutschlands, 232; vgl. auch MITTELHÄUSSER, Häuslinge, 261f. Bestätigt werden diese Ergebnisse jetzt auch durch die Mikro-Analyse eines Kirchspiels bei Osnabrück: Jürgen SCHLUMBOHM, Familie, Verwandtschaft und soziale Ungleichheit: Der Wandel einer ländlichen Gesellschaft vom 17. zum 19. Jahrhundert, in: Rudolf VIERHAUS (Hg.), Frühe Neuzeit - Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen, Göttingen 1992, 133156, hier 139. SAALFELD, Bevölkerung Nordwestdeutschlands, 245. Cord ALPHEI, Geschichte Adelebsens und Lödingsens, Göttingen 1990, 87, klassifiziert ein Viertel der Landbevölkerung als arm. Walter ACHILLES, Die Bedeutung des Flachsanbaus im südlichen Niedersachsen für Bauern und Angehörige der unterbäuerlichen Schicht im 18. und 19. Jahrhundert, in: Hermann KELLENBENZ (Hg.), Agrarisches Nebengewerbe und Formen der Reagrarisierung im Spätmittelalter und im 19./20. Jahrhundert (= Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; 21), Stuttgart 1975, 109-124, hier 120; SAALFELD, Bevölkerung Nordwestdeutschlands, 236. Ebd., 242f.; MITTELHÄUSSER, Häuslinge, vor allem 247 (Anstieg) und 258ff. (Erwerb). Vgl. auch BEGEMANN, Bäuerliche Lebensbedingungen, 38-43, 63-73, und OBERSCHELP, Niedersachsen 1760-1820, Bd. 1, 137ff. SAALFELD, Bevölkerung Nordwestdeutschlands, 245. ACHILLES, Flachsanbau, bes. 110; Karl Heinrich KAUFHOLD, Gewerbe und ländliche Nebentätigkeiten im Gebiet des heutigen Niedersachsen um 1800, in: Archiv für Sozialgeschichte 23 (1983), 163-218, hier 190ff.; ders., Wirtschaft und Gesellschaft, 213f.; ALPHEI, Geschichte Adelebsens, 98; HABICHT, Stadt- und Landhandwerk, 82; OBERSCHELP, Niedersachsen 1760-1820, Bd. 1, 177ff.; zu Hildesheim vgl. auch HAMANN, Staatswesen, 159. KAUFHOLD, Gewerbe und ländliche Nebentätigkeiten, 204f. Vgl. dazu die Übersicht bei KAUFHOLD, Gewerbe und ländliche Nebentätigkeiten, 201f. Zur zeitgenössischen Verwendung des Begriffes 'Fabrik', die sich erheblich von der heutigen Bedeutung unterscheidet, vgl. ebd., 200f. KAUFHOLD, Wirtschaft und Gesellschaft, 216-220; SACHSE, Göttingen, 26ff. Ein ausgesprochen negatives Urteil über die hannoversche Wirtschaftspolitik fällt Klaus PÜSTER, Möglichkeiten und Verfehlungen merkantiler Politik im Kurfürstentum Hannover unter Berücksichtigung des Einflusses der Personalunion mit dem Königreich Großbritannien, Diss.

Bevölkerungsentwicklung und materielle Lebensgrundlagen

'Kommerzkollegium'

53

ins Leben gerufen, das diese Aufgabe wahrnehmen

sollte 162 . In Hannover gab es um 1700 (vor der Vereinigung mit Lüneburg-Celle) 23, im Hochstift Hildesheim acht Städte 163 , darunter allerdings auch Kleinststädte, die weniger als 1000 Einwohner hatten und sich in dieser Beziehung nicht von den Flecken unterschieden 164 . Nur die größte Stadt des Untersuchungsgebietes, Hannover, hatte schon im frühen 18. Jahrhundert über 10 000 Einwohner, mit einigem Abstand folgten Hildesheim, Göttingen und Celle. 1811 hatte Hildesheim 10 788 Einwohner 165 , Göttingen 8957 Einwohner, zu denen noch 736 Studenten hinzukamen 166 , und Celle 8367 Einwohner 167 . Einige größere Städte wie Hannover, Hildesheim und Celle waren zudem von Vorstädten umgeben, die sich im 18. Jahrhundert z.T. rasch ausdehnten168. Der Bevölkerungszuwachs in den Städten war teilweise erheblich höher als auf dem Land. Der Ursprung dafür war weniger das endogene Wachstum der Stadtbevölkerung als vielmehr ein starker Zuzug 169 . Am stärksten, nämlich um über 150 Prozent 170 , wuchsen die großen Städte Hannover und Göttingen. In Hannover stieg die Bevölkerung von etwa 8200 bis 8500 Menschen im Jahr 1675 über 10 000 um 1700 auf 16 800 im Jahr 1757. Nach einem geringen Verlust nach dem Siebenjährigen Krieg begann ein erneutes Wachstum, das dann wiederum in der französischen Zeit gebremst wurde; 1811 hatte der aus Alt- und Neustadt bestehende Stadtkanton Hannover 17 572 Einwohner, 1818 wurde die Einwohnerzahl inklusive Garnison und Vorstädte auf 24 000 geschätzt171.

162 163 164 165 166 167 168

169

170 171

rer. pol. Hamburg 1966, bes. 93ff., 241-248. Wenigstens für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts gelangt zu einer positiveren Bewertung: Waldemar RÖHRBEIN, Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in den hannoverschen Kurlanden zur Zeit des deutschen Frühmerkantilismus, in: Neues Archiv für Niedersachsen 11 (1962), 40-63. KAUFHOLD, Wirtschaft und Gesellschaft, 216f. BERTRAM, Hildesheim, Bd. 3, 201. SCHNATH, Geschichte Hannovers, Bd. 2, 361; MITTELHÄUSSER, Hecken, 219. HASSEL, Repertorium, 19. SACHSE, Göttingen, 258. HASSEL, Repertorium, 4. Vgl. HAUPTMEYER, 1636-1802, passim; CASSEL, Celle, Bd. 2, 17; GEBAUER, Hildesheim, Bd. 2, 251. Vgl. am Beispiel Göttingens Carola BRÜCKNER, Sylvia MÖHLE, Ralf PRÖVE und Joachim ROSCHMANN, Vom Fremden zum Bürger: Zuwanderer in Göttingen 1700-1755, in: WELLENREUTHER (Hg.), Göttingen 1690-1755, 99-196, bes. 105f.; WINNIGE, Krise und Aufschwung, 95-98; SACHSE, Göttingen, 118. In Göttingen sogar um 170 Prozent. HABICHT, Stadt- und Landhandwerk, 111. SCHNATH, Geschichte Hannovers, Bd. 3, 256; OBERSCHELP, Niedersachsen 1760-1820, Bd. 1, 10, 240; HAUPTMEYER, 1636-1802, 60, 66, 86, 97, 107; BÜSCH, Hannover, Wolfenbüttel und Celle, 144, 147.

54

Territoriale Gliederung, Obrigkeit und Bevölkerung im Untersuchungsgebiet

In Göttingen, w o die Bevölkerung nach dem Dreißigjährigen Krieg auf 3000 Personen gesunken war 172 , lebten um 1700 wieder annähernd 4 0 0 0 Menschen 173 . Nach 1700 begann ein stetiges Bevölkerungswachstum, das sich nach der Universitätsgründung 1734/37 noch beschleunigte. Im Jahr 1740 zählte die Stadt etwa 7500, vor Ausbruch des Siebenjährigen Krieges 8600 Menschen 174 . In den folgenden Jahren nahm die Bevölkerungszahl durch die Auswirkungen des Krieges wieder etwas ab und stagnierte bis etwa 1780.

Zwischen

1783 und

1815

schwankte die Einwohnerzahl nach neueren Angaben zwischen 9000 und 9500 1 7 5 . Das Bevölkerungswachstum anderer Städte verlief weniger rasch, wenngleich einzelne kleinere Siedlungen wie der Flecken Adelebsen ebenfalls eine starke Bevölkerungsvermehrung von 433 Personen im Jahr 1689 auf 1149 im Jahr 1810 (165 Prozent) erlebten 176 . Die kleineren Städte im Fürstentum Göttingen verzeichneten dagegen einen Bevölkerungsanstieg zwischen 30 und 120 Prozent 177 . Während in der älteren Forschung meist die Ansicht vertreten wurde, daß die wirtschaftliche. Entwicklung

der Städte

im

18.

Jahrhundert allgemein

sta-

gnierte 178 , zeigen neuere Arbeiten, daß einige Städte durchaus einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebten 179 . In Göttingen z.B. begann diese Entwicklung schon in der ersten Jahrhunderthälfte und wurde durch die 1734/37 noch erheblich verstärkt

180

Universitätsgründung

. Neben dem durch die Universität ausgelö-

sten Konjunkturaufschwung waren vor allem das Textil- und Ledergewerbe Träger dieser Entwicklung 181 .

172

173

174

175

176 177 178 179 180

181

Walter KRONSHAGE, Die Bevölkerung Göttingens. Ein demographischer Beitrag zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 14. bis 17. Jahrhundert ( - Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen; 1), Göttingen 1960, 395. Nach den auf der Kopfsteuerbeschreibung von 1689 basierenden Berechnungen von WINNIGE, Krise und Aufschwung, 91, Tabelle II.5, betrug die Stammbevölkerung (ohne Militär und Schüler des Pädagogiums) in diesem Jahr 3293 Personen. Zur Gesamtbevölkerung zählten nach Winnige noch 150 Schüler sowie ca. 500 Militärangehörige inkl. Familien. SACHSE, Göttingen, 256, geht dagegen von einem geschätzten Wert von nur 3500 Personen aus. Eine umfassende Kritik der zugrundeliegenden Zählungen und Angaben über einzelne Bevölkerungszahlen findet sich bei WINNIGE, Krise und Aufschwung, 78-91, die Ergebnisse sind zusammengefaßt ebd., 91, Tabelle II.5. Vgl. auch PRÖVE, Stehendes Heer, 81; BRÜCKNER u.a., Vom Fremden zum Bürger, 101-105. Davon abweichend gibt SACHSE, Göttingen, 257, für 1740 nur ca. 6000 Einwohner an. SACHSE, Göttingen, 103, 258. Dagegen schätzten Meiners und Spittler die Bevölkerung 1788 auf 11 033 Personen, vgl. Tabellarisches Verzeichniß der innerhalb zehen Jahren zu Göttingen copulirten Ehen, 314. ALPHEI, Geschichte Adelebsens, 83. HABICHT, Stadt- und Landhandwerk, 111; vgl. SACHSE, Göttingen, 88. GEBAUER, Hildesheim, Bd. 2, 216f. HABICHT, Stadt- und Landhandwerk, 81. WELLENREUTHER (Hg.), Göttingen 1690-1755, passim, bes. 325f.; dezidiert WINNIGE, Krise und Aufschwung, 408. HABICHT, Stadt und Landhandwerk, 59-67; BRÜCKNER u.a., Vom Fremden zum Bürger, 117.

Bevölkerungsentwicklung und materielle Lebensgrundlagen

55

Auch in Einbeck, das nach dem Dreißigjährigen Krieg an Bedeutung verloren hatte 182 , nahm das Textilgewerbe seinen Aufstieg: bis 1750 wurden etwa 60 Verlagsunternehmen gegründet 183 . Mit unterschiedlichem Erfolg wurde die Ansiedlung von Manufakturen auch in anderen Orten des Kurfürstentums von der Landesregierung gefördert 184 . Eine vergleichweise langsame Entwicklung machte neben Celle auch Hildesheim durch 185 . Damit verbunden war eine ungünstige Entwicklung des stärksten Erwerbszweiges, des Handwerks, wenngleich auch in Hildesheim die Zahl der Manufakturen anstieg 186 . In den Städten lebten keineswegs nur Bürger, sondern auch viele sogenannte Fremde, die das Bürgerrecht nicht erwarben, und Angehörige anderer Rechtsgemeinschaften wie z.B. Soldaten und ihre Familien. In den meisten hannoverschen Städten lag eine größere Garnison, zu der in Hannover ca. 700, in Göttingen in der ersten Jahrhunderthälfte zwischen 600 und 800 und in Einbeck etwa 500-600 Soldaten gehörten 187 , die Familien nicht gerechnet. Zu den Fremden zählten nicht nur Zuwanderer aus unteren Schichten wie Tagelöhner oder Dienstboten, sondern zunehmend auch begüterte Neueinwohner 188 . Das Bürgerrecht verlor daher immer mehr an Bedeutung; so besaßen in Göttingen 1740 nur 56 Prozent der Einwohner das Bürgerrecht, 19 Prozent gehörten zur Militärbevölkerung, 18 Prozent waren Fremde und sieben Prozent gehörten zur Universitätsbevölkerung 189 . Den größten Anteil innerhalb der Berufsgruppen hatten Handwerk und Gewerbe. 1763 arbeiteten 45 Prozent der Haushaltsvorstände in diesem Bereich, in Hildesheim gehörten 1811 ca. 30 Prozent dem Handwerk an 190 . Der Anteil von Tagelöhnern betrug in Göttingen zwölf, in Hildesheim zehn Prozent. Für Göttingen haben Norbert Winnige und Wieland Sachse den Versuch unternommen, mittels eines multiplen Sozialindex die soziale Schichtung der Bevölkerung zu ermitteln: 1689 gehörten demnach zur Oberschicht zehn Prozent,

182

Peter BURSCHEL, Erstarrung und Wandel. Einbeck 1600-1750, in: Geschichte der Stadt Einbeck, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Einbeck 1990, 191202, hier 192. 183 Ebd., 199. 184 SCHNATH, Geschichte Hannovers, Bd. 3, 293-301; OBERSCHELP, Niedersachsen 17601820, Bd. 1, 154-160; CASSEL, Celle, Bd. 2, 73f. Zur Bedeutung von Textilmanufakturen vgl. auch HABICHT, Stadt- und Landhandwerk, 82. 185 CASSEL, Celle, Bd. 2, 16f.; BERTRAM, Hildesheim, Bd. 3, 202. 186 Karl Heinrich KAUFHOLD, Das Handwerk der Stadt Hildesheim im 18. Jahrhundert. Eine wirtschaftsgeschichtliche Studie (= Göttinger handwerksgeschichtliche Studien; 13), Göttingen 1968, 275f., 280. 187 PRÖVE, Stehendes Heer, 32; Horst HÜLSE, Vom Dreißigjährigen Krieg bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Geschichte der Stadt Einbeck, Bd. 1, 245-258, hier 253. 188 PRÖVE, Stehendes Heer, bes. 82f. 189 Ebd., 84 Tabelle 1. 190 SACHSE, Göttingen, 151; Karl Heinrich KAUFHOLD, Die Wirtschafts- und Sozialstruktur der Stadt Hildesheim zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Spiegel der Personenstandserhebung 1811, in: Alt-Hildesheim 39 (1968), 28-34; ders., Handwerk, 274.

56

Territoriale Gliederung, Obrigkeit und Bevölkerung im Untersuchungsgebiet

zur Mittelschicht 50,2 und zur Unterschicht 39,8 Prozent der Haushalte191, 1763 zur Oberschicht 10,8, zur Mittelschicht 48,1 und zur Unterschicht 41 Prozent. Beinahe 30 Prozent der Göttinger Bevölkerung von 1763 müssen als arm gelten. 1 9 2 . Mitverantwortlich für das Anwachsen der Unterschicht und die verbreitete Armut waren ein dem Bevölkerungswachstum folgender Anstieg der Nahrungskosten, die ohnehin bereits einen hohen Anteil der verfügbaren Einkünfte verschlangen 193 , und das daraus resultierende Sinken der Realeinkommen 194 . Besondere Teuerungsspitzen - gemessen am Roggenpreis -, die fast immer mit Kriegsereignissen einhergingen, gab es 1739-41, 1757, 1761/62, 1771-1773, 1791/92 und 1804-1806 1 9 5 . Vor allem die Zeit von 1790-1820 und die französische Besetzung waren infolge der Kriegsereignisse von Teuerungen und einem nachhaltigen Kaufkraftverlust gekennzeichnet196. Der Göttinger Superintendent und Armenpfleger Wagemann zeigte sich daher von einer weiteren Zunahme der Armut überzeugt: "Es wird dergleichen Menschen [sc. Bettler] im Departement künftig noch mehrern als bisher geben; da durch den Geld-Mangel, welcher eine Folge der Krieges-Bedrückungen ist, manche Unternehmungen eingestellt werden, wobey dürftige Hand-Arbeiter ihr Brodt fanden" 19 '. Das Bevölkerungswachstum und die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lebensgrundlagen vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts blieben nicht ohne Auswirkungen auf Familie und Zusammenleben, die hier zunächst nur angedeutet werden können. Dazu gehörten die Zunahme kleiner Haushalte und insbesondere alleinlebender Personen ebenso wie steigende Mobilität und sich verschlechternde Aussichten für Familiengründungen, die direkt die Bedingungen der Kinderversorgung betrafen. 191 192 193

194

195

WINNIGE, Krise und Aufschwung, 140 Tabelle 11.24. SACHSE, Göttingen, 162. Vgl. dazu Diedrich SAALFELD, Lebensstandard in Deutschland 1750-1860. Einkommensverhältnisse und Lebenshaltungskosten städtischer Populationen in der Übergangsperiode zum Industriezeitalter, in: BOG u.a. (Hgg.), Wirtschaftliche und soziale Strukturen im saekularen Wandel, 417-443; Rolf ENGELSING, Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten ( = Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 4), 2. Aufl. Göttingen 1978, 26ff. ABEL, Massenarmut und Hungerkrisen, 200-215, 252-266; Hans Jürgen GERHARD und Karl Heinrich KAUFHOLD (Hgg.), Preise im vor- und frühindustriellen Deutschland. Grundnahrungsmittel ( = Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; 15), Göttingen 1990; SAALFELD, Lebensstandard, bes. 418, 424. Speziell zum Untersuchungsgebiet KAUFHOLD, Handwerk, 278; SACHSE, Göttingen, 92, Abb. 2. SACHSE, Göttingen, 95; HAUPTMEYER, 1636-1802, 99; GEBAUER, Hildesheim, Bd. 2,

268. 196 197

SAALFELD, Lebensstandard, 428. Zu Hildesheim GEBAUER, Hildesheim, Bd. 2, 268. NHStA Hann. 52 Nr. 1168, Vorschlag Wagemanns von März 1809.

Kapitel II

Sicherung familialer Kinderversorgung oder Verschlechterung der Versorgungsbedingungen? Ziele und Auswirkungen der frühneuzeitlichen Ehe- und Sexualgesetzgebung

Die frühneuzeitliche Sittengesetzgebung stand in engem Zusammenhang mit dem Problem unversorgter Kinder. Einerseits wurden durch die Reglementierung von Sexualität, Ehe und Familie die Bedingungen für die familiale Kinderversorgung entscheidend mitgeprägt, andererseits bestimmten die in der Sittengesetzgebung wirksamen obrigkeitlichen Ziele auch die Reaktion der Obrigkeiten auf das Problem unversorgter Kinder. Im Vordergrund dieses Kapitels stehen daher ganz allgemein die Begründung der obrigkeitlichen Sittenaufsicht, die Intensität der Reglementierung und der Zusammenhang zwischen den einzelnen Maßnahmen, im besonderen aber der Bezug der Gesetzgebung zur Kinderversorgung, ihre Ziele ebenso wie ihre tatsächlichen Auswirkungen.

1.

Ehegebot und obrigkeitliche Sittenzucht Christliche Privilegierung der Ehe - Bedeutung der Kinderversorgung - Entstehung weltlicher Sittengesetze - Begründung obrigkeitlicher Sittenaufsicht

Die einzige von den kirchlichen und weltlichen Autoritäten der frühen Neuzeit anerkannte Lebensform von Sexualität war die Ehe 1 . Diesem Gebot lag die Privilegierung der Ehe in der christlichen Lehre zugrunde, die ihre Vollendung im 12. Jahrhundert gefunden hatte 2 . Entscheidend für die spirituelle Bedeutung der Ehe war die Auffassung, daß ihr allein die Aufgabe der Fortpflanzung zukomme und sie somit der Erhaltung des Menschengeschlechtes diene 3 ; vor allem Thomas von Aquin betonte, daß nur Ehegatten gemeinsam in der Lage seien, Kinder auf1

2

3

Allgemein dazu van DÜLMEN, Kultur und Alltag, Bd. 1, 158; ULBRICHT, Kindsmord, 114; ELLRICHSHAUSEN, Mutterschaft, 44. Bereits im Alten Testament erschien die Ehe als privilegierte, im Schöpferwillen Gottes verankerte Einrichtung; es handelte sich jedoch auf Seiten des Mannes nicht unbedingt um eine Einehe. Das Neue Testament sah die Ehe als eine von Anfang an von Gott gestiftete Gemeinschaft. Während des Mittelalters gewann die Ehe noch an Bedeutung. Bereits die Kirchenväter sprachen von einer gnadenhafien Qualifizierung der Ehe, und seit dem Konzil von Verona (1184) wurde sie allgemein als Sakrament bezeichnet. Lexikon für Theologie und Kirche (im folgenden abgekürzt LThK), 2., völlig neubearb. Aufl., hg. von Josef HÄFER und Karl RAHNER, Sonderausgabe, Bd. 3, Freiburg 1986, 675ff., Art. "Ehe". Schon bei Augustinus: DIETERICH, Eherecht, 22; weiter dann bei Thomas von Aquin: SCHWAB, Ehegesetzgebung, 34-40.

58

Sicherung familialer Kinderversorgung?

zuziehen 4 . Diese Auffassung hatte sich zu Ende des Mittelalters durchgesetzt 5 und wurde auch von großen Teilen der Bevölkerung akzeptiert 6 . Während Probleme von Sexualität und Ehe im Mittelalter beinahe ausschließlich kirchliche Angelegenheit waren 7 , zogen zu Beginn der frühen Neuzeit zunehmend die weltlichen Obrigkeiten die Sittengesetzgebung an sich 8 . Diese Ausdehnung der weltlichen Herrschaft war Teil eines umfassenden Prozesses, der auf einem neuen Verständnis von Obrigkeit und landesherrlicher Gewalt beruhte 9 . Von großer Bedeutung für diese Verweltlichung war die Verwissenschaftlichung des Rechts durch die Rezeption römisch-rechtlicher Grundsätze, die eine Aufstellung eingehender Verhaltensregeln und deren strikte Überwachung überhaupt erst ermöglichte 10 . Die weltlichen Gesetze ersetzten aber nicht einfach die kirchlichen Regeln: Die kirchliche Disziplin blieb vor allem in protestantischen Gebieten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bestehen, wenn auch nur noch als Ergänzung der weltlichen Ordnung. Zudem wurden im Zuge der Rezeption christliche Vorstellungen aus dem kanonischen Recht in die weltliche Gesetzgebung übernommen 11 . Durch Reformation und Gegenreformation gewannen christlich-sittliche Ziele weiter Einfluß auf die weltliche Ordnung, so daß eine strikte Normierung und Kontrolle des

4

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9 10

11

Jean-Louis FLANDRIN, Familien. Soziologie, Ökonomie, Sexualität, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1978 (Orig.: Familles, parenté, maison, sexualité dans l'ancienne société, Paris 1977), 204. Während sich die Reformatoren gegen die Auffassung von der Ehe als Sakrament wandten, hielt die katholische Kirche daran fest und bestätigte sie im Konzil von Trient 1564. Der sakramentale Charakter der Ehe impliziert ihre Alleingültigkeit und Unauflösbarkeit. Luther bestritt zwar den sakramentalen Charakter der Ehe, da diese nach seiner Auffassung keine Gnade verleihen könne, die Ehe galt ihm aber als "Heilmittel gegen die Unkeuschheit" und daher als notwendiger Stand für nahezu alle Menschen. Theologische Realenzyklopädie, hg. von Gerhard KRAUSE und Gerhard MÜLLER (im folgenden abgekürzt TRE), Bd. 9, Berlin und New York 1982, 338f., Art. "Ehe/Eherecht/Ehescheidung". Die Zeugung von Kindern nannten auch viele frühneuzeitliche Eheordnungen als Ehezweck, ebd., 341. Van DÜLMEN, Kultur und Alltag, Bd. 1, 170. Grund dafür dürfte gewesen sein, daß wegen der wirtschaftlichen Bedingungen die Erziehung von Kindern für die meisten Menschen tatsächlich nur in der Ehe möglich war. Wenn auch das Mittelalter durch die Durchsetzung des kanonischen Eherechtes gekennzeichnet war, gab es doch auch immer weltliche Verbote, etwa gegen heimliche oder ohne elterliche Einwilligung geschlossene Ehen. SCHWAB, Ehegesetzgebung, 29. Ernst SCHUBERT, Soziale Randgruppen und Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter, in: Saeculum 39 (1988), 294-339; ders., Arme Leute, 123. Am Beispiel der Prostitution in den spätmittelalterlichen Städten verfolgt diesen Prozeß Beate SCHUSTER, Dirnen und Frauenhäuser in den deutschen Städten des 15. und 16. Jahrhunderts, unveröff. Diss. phil. Göttingen 1992, bes. 291-396 (im Druck). Der Übergang der Ehegesetzgebung auf die weltliche Gewalt war bereits im Spätmittelalter vorbereitet worden, besonders durch Wilhelm von Ockham und Marsilius von Padua. SCHWAB, Ehegesetzgebung, 40-51. Vgl. RADBRUCH/GWINNER, Geschichte des Verbrechens, 134. Eberhard SCHMIDT, Einführung in die deutsche Strafrechtspflege, 3. Aufl., Göttingen 1965, l l l f . , 116; RÜPING/SELLERT, Strafrechtspflege, Bd. 1, 193ff.; SCHULZE, "Sozialdisziplinierung", 278. SCHMIDT, Strafrechtspflege, 122; RÜPING/SELLERT, Geschichte der Strafrechtspflege, Bd. 1, 196f.

Ehegebot und obrigkeitliche Sittenzucht

Sexuallebens

der

Bevölkerung entstand12.

Ausdruck dieser

59 weitreichenden

Sittengesetzgebung waren städtische und landesherrliche Eheordnungen, mit denen die Obrigkeiten versuchten, Eheschließungen von ihrer Zustimmung abhängig zu machen.

Gleichzeitig wurde von der Doktrin

abweichendes

Sexualverhalten nun von den weltlichen Obrigkeiten geahndet und unter schwere Strafen gestellt13. Unter dem Begriff 'Unzucht' wurden nicht nur Sexualdelikte im heutigen Sinn, sondern alle Handlungen nichtehelicher Sexualität subsumiert. Die Ausdehnung der Sittengesetzgebung bewirkte vor allem eine Verdrängung institutionalisierter Formen nichtehelicher Sexualität14. Sexuelle Handlungen außerhalb der Ehe kamen jedoch weiterhin vor, wie die Strafpraxis, aber auch die Existenz unehelicher Kinder beweisen 15 . Durch die Kriminalisierung der nichtehelichen Sexualität wurde diese nun aber an den Rand der Gesellschaft gedrängt und zu einem Konfliktstoff zwischen den Obrigkeiten und einzelnen Untertanen oder bestimmten gesellschaftlichen Gruppen. Im Zuge dieser Entwicklung entstand auf Seiten der Obrigkeiten das Bild einer tendenziell lasterhaften und unmoralischen Bevölkerung, das mit einer Ausweitung der als sittenwidrig empfundenen Tatbestände einherging 16 . Diesem vermeintlichen sittlichen Verfall sich entgegenzustellen, war eines der am häufigsten wiederholten Anliegen der Obrigkeiten; zunächst von den Reichsstädten durchgesetzt 17 , erlangte es in der Peinlichen Gerichtsordnung von 1532 und den Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 157718 reichsweite Gültigkeit. Auch die weifischen und hildesheimischen Obrigkeiten waren um sittliche Reglementierung bemüht, wovon eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen 12

13

14

15 16 17

18

Vgl. SCHUBERT, Soziale Randgruppen, 329. Die Bedeutung der Reformation betont besonders Lyndal ROPER, The Holy Household. Women and Morals in Reformation Augsburg O Oxford studies in social history), Oxford 1989. Zu Hannover vgl. auch MÜLLER, Sittenaufsicht, 15ff. Vgl. dazu die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1S32 (im folgenden abgekürzt PGO), hg. von Gustav RADBRUCH, 6. Aufl. hg. von Arthur KAUFMANN, Stuttgart 1975, 81-83, §§ 116-123; allgemein van DÜLMEN, Kultur und Alltag, Bd. 1, 184-197; ders., Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, 3. Aufl., München 1988; FELBER, Unzucht; RADBRUCH/GWINNER, Geschichte des Verbrechens, 143; ROPER, Household, 65f., 70; SCHUBERT, Soziale Randgruppen, 331; SCHUSTER, Dirnen, 392f. Dies betraf besonders die Aufhebung der Frauenhäuser. In Augsburg wurde das Frauenhaus 1533 geschlossen (ROPER, Household, 103), in Nördlingen 1536 (FELBER, Unzucht, 117). Ausführlich dazu SCHUSTER, Dirnen, 354-388; außerdem RADBRUCH/GWINNER, Geschichte des Verbrechens, 129. Nach Flandrin wurde zu Beginn der Neuzeit die Prostitution erheblich stärker verfolgt als zuvor, und zumindest in Frankreich wurde auch das Konkubinat erst im 16. und 17. Jahrhundert zurückgedrängt. FLANDRIN, Familien, 212. Vgl. MÜLLER, Sittenaufsicht, 17; SCHUBERT, Soziale Randgruppen, 323. ROPER, Household, 82f. Der Augsburger Rat z.B. weitete die sittliche Aufsicht auf die Stadtbewohner 1537 erheblich aus. ROPER, Household, 56ff. Vgl. auch SCHUSTER, Dirnen, 291-396. Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Neudruck der Ausgabe von 1747, 4 Bde., Osnabrück 1967, Bd. 2, 332-345, bes. 343, 587-606, bes. 601, Bd. 3, 379-398, bes. 393.

60

Sicherung familialer Kinderversorgung?

zeugt 19 . In seiner 1569 erlassenen Kirchenordnung, mit der die Reformation im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel eingeführt wurde und die 1584 auch in den Fürstentümern Calenberg und Göttingen Gültigkeit erlangte 20 , beanspruchte Herzog Julius die Aufsicht über die Eheschließung der Untertanen 21 . Etwa eine Generation später (1593) erschien eine "Fürstliche Constitution Ehebruchs und Hurerey halber", die die Kirchenordnung ergänzte und Ehebruch und nichteheliche Sexualität unter schwere Strafen stellte22. Seinen Handlungsbedarf begründete der Landesherr damit, daß "bey diesen letzten Zeiten der Welt unter andern groben Sünden, Ehebruch, Hurerey und allerhand Unzucht so hefftig im Schwange gehen, daß die [sie!] von vielen vor keine Sünde, auch die bishero gebrauchte Straffe wenig geachtet, sondern Gott der Allmächtige dadurch hefftig täglichs erzürnet wird" 23 . Beinahe gleichzeitig drang der Herzog in einer behördeninternen Anweisung, einem sogenannten Ausschreiben, auf die Einhaltung und Beachtung der Kirchenordnung 24 . Die "Constitution" wurde von den Ständen im Gandersheimer Landtag 1601 bestätigt und dem Landtagsabschied beigelegt23. 1615 dann wurde die Kirchenordnung von 1569 noch einmal publiziert 26 und in einem Mandat an den Landtagsabschied von 1601 erinnert 27 . 1640 und 1677 ergingen erneut Anweisungen an die Beamten 28 . In den Fürstentümern Lüneburg und Grubenhagen wurden Ehebruch und Unzuchtsdelikte in der 1618 unter der Regierung Herzog Christians auf einem Landtag ausgearbeiteten und veröffentlichten "Policey-Ordnung" unter Strafe gestellt. Anlaß für diese Ordnung war auch hier der Ärger über allgemeine Mißstände, Ausschweifungen und "Ueppigkeiten" der Bevölkerung 29 , insonderheit die angenommene Tatsache, daß "der Ehebruch leider für [sie!] allen andern La-

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21

22 23 24

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Zu Hildesheim vgl. Silke LESEMANN, Arbeit, Ehre, Geschlechterbeziehungen. Zur sozialen und wirtschaftlichen Stellung von Frauen im frühneuzeitlichen Hildesheim, unveröff. Diss. phil. Hannover 1992, 163-183 (im Druck). Michael MUSTER, Das Ende der Kirchenbuße, Diss. iur. Kiel 1983, 87. Zum Anfall Calenbergs und Göttingens an Wolfenbüttel SCHNATH, Von der Entstehung der Territorien bis zur Entstehung des Landes Niedersachsen, 29. Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landesordnungen und Gesetze, für den Calenbergischen Teil (im folgenden abgekürzt CCC), 5 Bde., Göttingen 1739-1740, Bd. 1, Cap. I, 1-407. CCC, Bd. 4, Cap. VIII, 49-52. CCC, Bd. 4, Cap. VIII, 49. CCC, Bd. 1, Cap. I, 408-412. Die "Constitution" ist vom 3. Januar 1593 datiert, das "Ausschreiben" vom 6. Januar. CCC, Bd. 4, Cap. VIII, 49-52. CCC, Bd. 1, Cap. I, 1-407. CCC, Bd. 4, Cap. VIII, 52ff. CCC, Bd. l.Cap. I, 438f. CCL, Bd. 3.1, Cap. IV, 1-136, hier 3f.

61

Ehegebot und obrigkeitliche Sittenzucbt

stern fast überhand nimmt" 30 . Kurz darauf wurden Eheschließung und Eheprobleme noch einmal in der Kirchenordnung von 1619 aufgegriffen und der Aufsichtsanspruch der Obrigkeit bekräftigt 31 . Da durch den Dreißigjährigen Krieg die meisten Exemplare der Kirchenordnung verloren gegangen waren, wurde diese 1643 erneuert 32 . Im Hochstift Hildesheim wandte sich die landesherrliche Obrigkeit in der Polizeiordnung von 1665 gegen 'Unzucht' und 'Hurerei', auf die sie harte Strafen setzte 33 ; der Rat der Stadt Hildesheim hatte dies schon 1544 in der "Kerckenordinge" 34 getan. Prinzipiell galten diese aus dem 17. und zum Teil sogar aus dem 16. Jahrhundert stammenden Bestimmungen bis weit in das 18. Jahrhundert hinein. Sie wurden immer wieder durch kürzere Verordnungen oder Ausschreiben ergänzt, die sich mit nicht- oder außerehelicher Sexualität beschäftigten. Im Kurfürstentum Hannover war zudem das Sexualverhalten einer einzelnen Statusgruppe, nämlich des Militärs, auch im 18. Jahrhundert noch mehrfach Gegenstand ausführlicher Gesetzes werke 35 . Allen

obrigkeitlichen

Anordnungen

gemein

war

der

Abscheu

vor

der

'Lasterhaftigkeit' der Bevölkerung, dem sie in den schärfsten Tönen Ausdruck verliehen. So beklagte sich der Rat der Altstadt Hannover im Jahre 1663 über zunehmenden Sittenverfall:

30 31

32 33

34

35

Ebd., 15. Siehe CCL, Bd. 1, Cap. I., 1-440. In der dort abgedruckten Kirchenordnung von 1643 wird auf die vorhergehende Ordnung von 1619 verwiesen. Ebd. Hildesheimische Landesordnungen, Neue Ausgabe (im folgenden abgekürzt HLO), 2 Bde., Hildesheini 1822-1823, Bd., 1, 30-91. Philipp Jacob HILLEBRANDT, Sammlung Stadt-Hildesheimischer Verordnungen, Hildesheim 1791, lff. Vgl. dazu auch LESEMANN, Arbeit, Ehre, Geschlechterbeziehungen, bes. 163-183. Juristisches Seminar Göttingen, Sammelbände unedierter Hannover-Calenberg-Göttingischer Landesgesetze von ca. 1709-1807, gesammelt von E. HAKE, 20 Bde. nebst Register, o.O. o.J., Bd. 2, fol. 103, Fürstlich Braunschw: Lüneburgisches Kriegs-Recht Oder ArticulsBrieff, Celle 1673; NHStA Cal. Br. 23b Nr. 157, Articuls-Brief, wonach hohe und niedere Kriegs-Officiere auch gemeine Soldaten zu Roß und zu Fufie sich zu verhalten (1699); CCL, Bd. 2, Cap. III, 1-38, Krieges-Recht oder Articuls-Brief (1736); Ernst SPANGENBERG, Sammlung der Verordnungen und Ausschreiben welche für sämtliche Provinzen des Hannoverschen Staats (...) jedoch was den Calenbergischen, Lüneburgischen und Bremen- und Verdenschen Theil betrifft, (...) bis zur Zeit der feindlichen Usurpation ergangen sind, T. 1-4 in 7 Bdn., Hannover 1819-1825, Bd. 3, 526-554, Neu verfassete allerhöchst bestätigte KriegesArtikel (1790). Die einzelnen Bestimmungen dieser Verhaltensreglements werden unten ausgeführt, zur Regulierung des Sexualverhaltens im Bereich der hannoverschen Armee allgemein vgl. PRÖVE, Stehendes Heer, 42ff. u. 130-143.

62

Sicherung fomilialer Killderversorgung?

"Als man eine Zeithero mit eußerstem Verdruß gewahr werden müßen, was maßen bey vielen daß sechste Gebott dergestalt beginnet aus äugen gesetzet zu werden, daß fast die hurerey für tugendt, die leichtfertigkeit für Zucht und die frechheit für schäm zu passiren vermeinet" 36 . Wie schon aus der "Constitution" Heinrich Julius' hervorging, leiteten die Obrigkeiten ihren Anspruch auf die sittliche Kontrolle ihrer Untertanen aus der Vorstellung ab, daß als Folge des Sittenverfalls die kollektive Strafe Gottes zu fürchten sei37. Verwüstungen infolge von Kriegen oder natürliche Katastrophen wurden

als

göttliche

Strafe

für

lasterhaftes

Verhalten

gedeutet.

Die

"Kerckenordinge" der Stadt Hildesheim von 1544 warnte vor Unzucht, "damit Godt nicht eine harde Straffe late komen up unse Stadt" 38 . Auch die hannoverschen Ratsherren befürchteten, daß die Stadt das Schicksal von Sodom und Gomorrha teilen werde 39 . Die Drohung, das Fehlverhalten des Einzelnen sei eine Gefahr für die Gemeinschaft, war ein willkommenes Argument bei der Durchsetzung obrigkeitlicher Normen in der Bevölkerung. Bei Bedarf, etwa in Krisenzeiten, wurde dieser Topos hervorgeholt und als Grund für die Heimsuchungen präsentiert 40 . So erklärte das Domkapitel in Hildesheim 1762 die Schäden des Siebenjährigen Krieges ganz in dieser Tradition, indem es befand, daß "das Laster der Unzucht in diesem Hochstifte so stark einreisse, daß man die Ursache des über Land und Leute gezogenen göttlichen Zorns ferner nach zu forschen nunmehro nicht bedürffe; inmassen nicht unbekand ist, daß wegen solcher Laster ganze Königreiche untergegangen, Städte durch Feuer, und die Welt durch die allgemeine Sündfluht verzehret sey" 41 . Auch im Kurfürstentum Hannover klagten noch im 18. Jahrhundert mehrere Verordnungen über unsittliches Verhalten der Bevölkerung 42 . Dennoch wurden, wie unten ausführlicher dargestellt wird, ab etwa 1730 schrittweise die Strafen für einzelne Verstöße gegen die Sittlichkeit gelockert, womit eine Veränderung der Sexualmoral einherging. Eine umfassende Wandlung brachten jedoch erst die na-

36 37

38 39 40

41 42

StAH Ratsverordnungen, Ratsverordnung vom 26.11.1667. Vgl. dazu RÜPING/SELLERT, Geschichte der Strafrechtspflege, Bd. 1, 253f., 286; SCHUBERT, Arme Leute, 129. HILLEBRANDT, Sammlung, 8. StAH Ratsverordnungen, Ratsverordnung vom 26.11.1667. Daß dies nicht nur für das Reich galt, sondern z.B. auch in England, berichtet Peter LASLETT, Verlorene Lebenswelten, 3. Aufl., Stuttgart 1988 (Orig.: The World We Have Lost, further explored, 3 rd edition, Cambridge 1983), 195. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 3502, Verordnung vom 4.6.1762. CCC, Bd. 1, Cap. I, 940-953, Ehe-Verlobungs-Constitution vom 15. Januar 1733; siehe auch SCHUBERT, Arme Leute, 129.

Die Beaufsichtigung von EheschlieBung und Eheleben

63

poleonischen Gesetze, die zwischen 1808 und 1811 im Königreich Westphalen und den besetzten Gebieten eingeführt wurden 43 .

2.

Die Beaufsichtigung von Eheschließung und Eheleben Verbindliche Ehezeremonien - obrigkeitliche Eheverbote - Ehekonflikte - Ehebruch - Bigamie

Einer der wichtigsten Inhalte der weltlichen Sittengesetzgebung war die Reglementierung von Eheschließung und Eheleben. Seit dem Spätmittelalter bemühten sich die Landesherren in ihren Eheordnungen darum, kirchliche Rechtsansprüche und die "Sozialverbindlichkeit religiöser Aussagen über die Ehe" 44 zurückzudrängen. Ziel der Eheordnungen war es, die Eheschließung von landesherrlicher Zustimmung abhängig zu machen, verbindliche Zeremonien durchzusetzen 45 und nicht genehmigte heimliche Heiraten, sogenannte 'Winkelcopulationen', zu verhindern 46 . Private Eheabsprachen sollten hinfort ungültig sein, auch wenn sie durch die geschlechtliche Vereinigung besiegelt worden waren 47 . Diese

Bestrebungen

prägten

auch

die braunschweig-lüneburgische

Kir-

chenordnung von 1569. Die Hochzeit wurde von der Zustimmung der Eltern bzw. der Vormünder abhängig gemacht 48 , Eheschließungen zwischen Unmündigen sollten grundsätzlich nur mit Zustimmung des Konsistoriums möglich sein. Kinder, die gegen den Willen ihrer Eltern heirateten, sollten bestraft werden, "und so viel ernstlicher mehr, wo neben solchem ungehorsam, auch die Beyschlaffung, Schwechung oder Schwengerung gefolget were" 49 . Die Kirchenordnung von 1643 für den lüneburgischen Teil verbot den Pfarrern, Fremde ohne obrigkeitliches Zeugnis zu trauen 50 . 43

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Zur Chronologie der Einführung Theodor HAGEMANN, Sammlung der Hannöverschen Landesverordnungen und Ausschreiben des Jahres 1813, Hannover 1814, Vf. SCHWAB, Ehegesetzgebung, 32. Für Luther hatte die kirchliche Zeremonie auch "die Funktionen eines weltlichen Handels". DIETERICH, Eherecht, 47. Auch die katholische Kirche beschloß 1564 im Konzil von Trient, nur Eheverträge anzuerkennen, die vor Zeugen und dem Gemeindepriester geschlossen worden waren. TRE, Bd. 9, 344, Art. "Ehe/Eherecht/Ehescheidung"; LThK, Bd. 3, 693, Art. "Ehe". Van DÜLMEN, Kultur und Alltag, Bd. 1, 157-184; ELLRICHSHAUSEN, Mutterschaft, 44ff.; MATZ, Pauperismus und Bevölkerung, 12; ROPER, Household, 154ff.; SCHUBERT, Arme Leute, 121. Erste Ansätze gab es dazu bereits im Mittelalter, vgl. SCHWAB, Ehegesetzgebung, 29ff. Van DÜLMEN, Kultur und Alltag, Bd. 1, 161. Dies galt zunächst für den protestantischen Bereich, später dann auch für den katholischen. Auch in England gab es Bestrebungen, die Form der Eheschließung zu standardisieren, wenn auch die vorheheliche Vereinigung offiziell erst 1753 unter Strafe gestellt wurde. LASLETT, Lebenswelten, 204f. Der Elternkonsens war eine der von Luther genannten Ehebedingungen. DIETERICH, Eherecht, 56f., zur Begründung in der Schrift vgl. SCHWAB, Ehegesetzgebung, 231f. CCC, Bd. 1, Cap. I, 281. CCL, Bd. 1, Cap. I, 139.

64

Sicherung familialer Kinderversorgung?

In der "Ehe-Verlobungs-Constitution" von 1733 beklagte die Regierung, daß den früheren "heylsamen Ordnungen nicht allemahl gehörig nachgelebt" werde, sondern "priesterliche Einsegnungen gemisbrauchet" würden und Versuche bestünden,

"ungültige Ehe-Verlöbnisse durch fleischliche Vermischungen un-

verbrüchlich zu machen" 51 . Offenbar hielt sich in der Bevölkerung die mittelalterliche Auffassung, daß die geschlechtliche Vereinigung die Ehe konstituiere und sie unauflöslich mache 52 . Weiter lautete die Klage, viele hätten sich im Ausland und von Priestern anderer Religionen trauen lassen. Daher wurde noch einmal verordnet, daß ein gültiges Verlöbnis die Zustimmung von Eltern, Großeltern oder Vormündern benötige und im Beisein zweier männlicher Zeugen geschlossen werden müsse. Andere Verlöbnisse sollten nicht gelten 53 . Gleichzeitig wurde der unbegründeten Verweigerung der Zustimmung durch Eltern und Vormünder vorgesorgt und den Heiratswilligen das Recht auf eine Beschwerde beim Konsistorium zugebilligt. Männer, die eine Frau mit einem Eheversprechen verführt hatten, sollten gezwungen werden, sie zu heiraten. Auch ohne Beweis sollten die Frauen zumindest das Recht auf eine Entschädigung für den Verlust der Jungfräulichkeit (Brautschatz) und Alimente für das Kind haben. Zur besseren Bekanntmachung der Verordnung sollte diese alljährlich "an dem Sonntage, wann das Evangelium von der Hochzeit zu Cana erkläret wird", von allen Kanzeln verlesen werden 54 . Ähnliche Verordnungen ergingen in der Folgezeit wiederholt für einzelne Landesteile 55 . Am Ende des 17. Jahrhunderts wichen offenbar viele Heiratswillige, die in ihrem Heimatort keine Eheschließungserlaubnis erhielten, in das Hochstift Hildesheim aus. Im Jahre 1695 erließ Bischof Jobst Edmund daher auf Beschwerden "aus den benachbarten Fürstenthümern und Landen" ein "Landesherliches PönalVerbot der Winkelcopulationen", welches den Pfarrern bei Androhung einer Geldstrafe von 100 Goldgulden oder sogar der Enthebung der Pfarrstelle untersagte, Fremde ohne Bescheinigungen zu trauen. Künftig mußte eine Genehmigung des Fürstbischofs vorliegen 56 . In Hildesheim selbst galten für die protestantischen Untertanen ähnliche Ehegesetze wie in den hannoverschen Landen 57 . Eine Konsistorialverordnung verbot 1743 heimliche Eheversprechen und machte die 51 52

53

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CCC, Bd. 1, Cap. I, 940-943, hier 941a (die Seiten 941 und 942 sind doppelt vorhanden). DIETERICH, Eherecht, 196. Auch die protestantische Rechtsprechung folgte dieser Auffassung. Diese Bedingungen gehen auf Luther zurück und hatten sich im 16. Jahrhundert durchgesetzt. DIETERICH, Eherecht, 55ff„ 126. Ebd., 943. SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 1, 343-348, Eheverordnung für Bremen und Verden 1753; ebd., Bd. 2, 198, Verordnung, daß Verlobte aus verschiedenen Landen die Zustimmung beider Landesherrn besitzen müssen (1767); ebd., Bd. 3, 257-262, Eheordnung für das Land Hadeln 1786. HLO, Bd. 1, 102f. LESEMANN, Arbeit, Ehre, Geschlechterbeziehungen, 88-94.

Die Beaufsichtigung von Eheschließung und Eheleben

65

Zustimmung der Eltern und die Gegenwart von zwei Zeugen zur Voraussetzung eines gültigen Verlöbnisses 58 . Für die katholischen Untertanen galten die kirchlichen Ehegesetze, wie sie im Konzil von Trient festgelegt worden waren 59 . Da offenbar immer wieder Verstöße dagegen vorkamen und Ehen mit "falsch- oder erdichteten dergleichen Zeugnissen (...) ohne vorhergegangenen Kirchen-Ruf, oder darüber erhaltene obrigkeitliche Dispensation" 60 geschlossen wurden, setzte die Regierung 1747 schwere Strafen aus, von der Trennung des Paares über Geldund Haftstrafen bis zur Exkommunikation. Die Einführung verbindlicher Zeremonien und die Unabdingbarkeit des Elternkonsenses zielten bereits auf eine Kontrolle der Besitzweitergabe vor allem im ländlichen Bereich und damit auf den Erhalt der Lebensgrundlage für neugegründete Familien 61 . Dies galt um so mehr für die seit dem 17. Jahrhundert vermehrt auftretenden landesherrlichen Eheverbote 62 . Zunächst hatten diese Eheverbote noch vorrangig moralischen Charakter und galten der Verwandtenehe. Eheschließungen zwischen Verwandten oder Verschwägerten waren bis zum dritten Grad verboten 63 . Lange Listen führten sämtliche verbotenen Verwandtschaftsbeziehungen einzeln in auf- und absteigender Linie, jeweils nach Mann oder Frau getrennt, auf; dies führte zu abstrusen ausdrücklichen Verboten von Ehen mit Urgroßtanten, Urgroßneffen oder den Ehegatten von Urenkeln 64 . Zur besseren Bekanntmachung wurden diese Listen noch 1763 und 1786 im gesamten Kurfürstentum Hannover von den Kanzeln verlesen 65 . In gewissen Fällen konnten allerdings Dispense von den Verboten erreicht werden, z.B. bei Heirat eines Mannes mit der Stieftochter seiner verstorbenen Frau oder der zweiten Frau seines Stiefvaters 66 , später mit der Witwe des Onkels oder des Bruders 67 . Bei einer Wiederverheiratung nach dem Tod des Ehegatten mußte eine Frist gewahrt werden, von Witwern sechs Monate, von Witwen ein Jahr 68 .

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HLO, Bd. 1, 314-320. Siehe Anm. 45. HLO, Bd. 1, 323-325, hier 323. Vgl. BREIT, "Leichtfertigkeit", 57; SCHUBERT, Soziale Randgruppen, 322f. Vgl. EHMER, Heiratsverhalten, 47ff. In dieser Hinsicht folgten auch die protestantischen Eheordnungen kanonischen Vorschriften. Luther dagegen hatte Blutsverwandtschaft nur bis zum zweiten Grad, Schwägerschaft bis zum ersten, in Einzelfällen bis zum zweiten Grad als Ehehindernis angesehen. DIETERICH, Eherecht, 61f., 216; SCHWAB, Ehegesetzgebung, 229f. CCC, Bd. 1, Cap. I, 289ff. Im Hochstift Hildesheim galten ähnliche Verbote, vgl. HLO, Bd. 1, 314-320, Konsistorialverordnung von 1743. SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 2, 45, Bd. 3, 273. Ebd., Bd. 2, 571 (1775). Ebd., Bd. 4, 268 (1802). CCC, Bd. 1, Cap. I, 932. Consistorialausschreiben von 1686.

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Sicherung familialer Kinderversorgung?

Darüber hinaus wurden zunehmend Eheverbote oder zumindest erhebliche Einschränkungen der Heiratserlaubnis für bestimmte soziale Gruppen erlassen. 69 Dazu gehörten Dienstboten, die nur mit Zustimmung ihrer Dienstherrschaft eine Ehe eingehen durften 70 , und Soldaten, die bei einer Eheschließung in jedem Fall die Zustimmung ihres Regimentschefs benötigten. Diese Anordnung konnte einem regelrechten Verbot gleichkommen; zwar gab es durchaus verheiratete Soldaten, deren Anteil an der Regimentsstärke überschritt aber nie eine bestimmte Größenordnung 71 . Ohne den erforderlichen 'Consens' durfte kein Pfarrer einen Soldaten trauen 72 . Glaubt man einer Verordnung von 1722, kam es dennoch "fast täglich" zu solchen Hochzeiten, für die den Soldaten eine einjährige Festungsbaustrafe angedroht wurde. Heimlich angetraute Frauen sollten "als Huhren" 73 aus den Garnisonen fortgejagt werden. Hinter diesen Eheverboten standen rationale Interessen. Mit der erzwungenen Ehelosigkeit von Dienstboten sollte deren Dienstzeit verlängert und einem Mangel an Gesinde vorgesorgt werden 74 . Dasselbe galt für Soldaten, bei denen man darüber hinaus negative Folgen für ihre militärische Eignung befürchtete 75 . Ein weiteres kam hinzu: In den Augen der Obrigkeit bestand die Gefahr, daß gerade Dienstboten und Soldaten keine ausreichende materielle Basis für die Gründung einer Familie mitbrächten und daher mit ihren Kindern auf öffentliche Unterstützung angewiesen sein würden. Ein einfacher Soldat z.B. war kaum in der Lage, eine Familie zu ernähren 76 . Die Furcht der Obrigkeiten vor unterstützungsbedürftigen Familien ging schließlich so weit, daß die Erteilung einer Eheerlaubnis generell vom Nachweis einer ausreichenden Lebensgrundlage abhängig ge-

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Grundlegend dazu EHMER, Heiratsverhalten, 47ff. Vgl. generell SCHWAB, Ehegesetzgebung, 196-199, 236-239. Die Trennung nach katholischen und protestantischen Gebieten verstellt allerdings den Blick auf die gemeinsamen utilitaristischen Motive der Ehehindermsse. So die Eheverordnung für Bremen und Verden 1753. SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 1, 343-348. Vgl. dazu auch ELLRICHSHAUSEN, Mutterschaft, 92. In Göttingen etwa 30 Prozent. PRÖVE, Stehendes Heer, 134. Über die Schwierigkeiten, einen Ehekonsens des Regimentschefs zu erhalten, berichtete 1685 eine Frau aus dem Amt Burgdorf den Geheimen Räten in Celle: Der Obrist habe seine Einwilligung gegeben unter der Bedingung, dafi der heiratswillige Dragoner "ihm einen guten Kehrl zu completirung der Compagnie verschaffe". Nachdem dies geschehen war, habe er plötzlich zusätzlich 50 Rtlr. für ein Pferd verlangt. NHStA Celle Br. 61a Nr. 2431. CCL, Cap. I, 1130f., königliches Reskript an das Konsistorium vom 14.4.1716 und Konsistorialausschreiben vom 7.5.1716. CCL, Bd. 1, Cap. I, 181. EHMER, Heiratsverhalten, 48; SCHUBERT, Soziale Randgruppen, 330. In dem Verbot der Trauung von Soldaten 1716 heißt es, daß "dadurch gemeiniglich die Leute zu einem liederlichen Leben verführet werden, auch sonst allerhand Inconvenientzen und schädliche Folgen entstehen". CCL, Bd. 1, Cap. I, 1130f. Vgl. auch EHMER, Heiratsverhalten, 49. Zu den unerwünschten Folgen gehörte auch die Erhöhung der Einquartierungsleistung seitens der Bevölkerung. PRÖVE, Stehendes Heer, 132. Genaue Angaben über die Einkünfte von Soldaten macht PRÖVE, Stehendes Heer, 171-179; vgl. auch SCHUBERT, Arme Leute, 139. Tatsächlich stellten Soldatenkinder einen großen Teil der unversorgten Kinder. Vgl. dazu unten Kap. VI, Abschnitt 1.4.

Die Beaufsichtigung von Eheschließung und Eheleben

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macht wurde 77 . In Göttingen z.B. durften sich arme Leute nach 1795 nur verheiraten, wenn sie über ausreichende finanzielle Mittel verfügten 78 ; 1796 wurde dort zwölf Paaren aus diesem Grund die Heiratserlaubnis versagt 79 . Allerdings gab es vor 1813 weder im Kurfürstentum Hannover noch in Hildesheim derart umfangreiche Ehebeschränkungen, wie sie die süddeutschen Staaten in ökonomischer Hinsicht errichteten 80 . In ihrer Sorge vor schädlichen Einflüssen auf Soldaten und Studenten - denen die Heirat zwar nicht grundsätzlich verboten war, aber nur sehr ungern gesehen wurde 81 - beschränkten sich die Obrigkeiten jedoch nicht allein auf Eheverbote, sondern versuchten, Frauen überhaupt von Kontakten mit diesen sozialen Gruppen abzuschrecken, indem Ehe- und Alimentationsklagen erschwert oder unmöglich gemacht wurden 82 . In der Folge bewirkten diese Bestimmungen allerdings das Gegenteil ihrer ursprünglichen Absicht: Ohne die relative Sicherheit einer Ehe und ohne Alimentenzahlungen waren uneheliche Kinder von Soldaten und Studenten noch stärker als zuvor von Versorgungslosigkeit bedroht und belasteten daher vermehrt die Armenkassen 83 . Die Ehebeschränkungen wurden weitgehend aufgehoben 84 , als mit den französisch-westphälischen Gesetzen die Zivilehe eingeführt wurde 85 . Allerdings mußte immer noch je nach dem Alter der Brautleute die Einwilligung der Eltern vorliegen 8 6 . Ehen zwischen Verwandten waren nur noch bis zum zweiten Grad verboten 87 , für die Heirat unter Verschwägerten konnte ein Dispens erreicht werden 88 .

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Vgl. EHMER, Heiratsverhalten, 48f. BRÜDERMANN, Studenten, 412. Reinhard ZAHN, Die Armenanstalt der Stadt Göttingen unter Ludwig Gerhard Wagemann sowie andere armenpflegerische Einrichtungen der Stadt im ausgehenden 18. Jahrhundert, Diss. med. Göttingen 1972, 102. In Hannover kam es erst 1827 zu umfangreichen Ehebeschränkungen. EHMER, Heiratsverhalten, 53. Zu den süddeutschen Staaten und Österreich vgl. ebd., 53-61, und MATZ, Pauperismus, 30ff. BRÜDERMANN, Studenten, 411-415, bes. 412f. 1740 wurde, da bei den Kriegsgerichten immer noch Eheklagen vorlagen, verordnet, daß "dergleichen Satisfactions-Klagen (...) überall nicht angenommen-noch diese deßfals zu einem Abtrag oder Vergeltung an die Klägerin vertheilet, sondern (...) sofort abgewiesen werden sollen. " Um den Soldaten keinen Freibrief zu erteilen, wurden die Strafen noch einmal in Erinnerung gerufen, CCL, Bd. 1, Cap. I, 1141-1143. Ähnlich wurde 1793 die Frist für Alimentationsklagen gegen Studenten auf acht Wochen nach der Niederkunft der Frau begrenzt. SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 3, 683f. Da einige Kinder, deren Mütter die Frist versäumt hatten, aus der Armenkasse unterstützt werden mußten, wurde die Frist für Alimentationsklagen gegen Studenten bereits 1805 wieder aufgehoben. SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 4, 525f. Ebenso in den süddeutschen Staaten. MATZ, Pauperismus, 34-36. Code Napoléon. Edition seule officielle pour le Royaume de Westphalie, Straßburg 1808, 165ff. Männer mußten bei der Eheschließung wenigstens 18, Frauen 15 Jahre alt sein. Unter 30 bzw. 25 Jahren mußten mehrere Versuche gemacht werden, die Zustimmung der Eltern zu erhalten, darüber nur noch einer. Code Napoléon, 144-153. Ebd., 161f.

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Sicherung familialer Kinderversorgung?

Offiziere konnten nur mit Genehmigung des Kriegsministers eine Ehe eingehen 89 . Nach Wiedereinführung der hannoverschen Gesetze behielten Ehen und Verlöbnisse aus dieser Zeit ihre Gültigkeit, die zivilen Trauungen mußten aber kirchlich nachgeholt werden 90 . Die obrigkeitliche Reglementierung des Ehelebens war mit der Eheschließung nicht beendet. Überschritten Streitigkeiten zwischen Eheleuten ein gewisses Maß, konnte einer der Eheleute Klage erheben und den Konflikt damit öffentlich machen. Anlaß für Klagen waren meist Gewalt, Verschwendung und Ehebruch 91 . In besonders schweren Fällen, etwa wenn nach einem Ehebruch der betrogene Teil nicht zur Versöhnung bereit war oder ein Gatte den anderen böswillig verlassen hatte, konnte die Ehe nach den protestantischen Ehegesetzen geschieden werden. Allerdings war dies Ausnahmefallen vorbehalten 92 . Vielmehr sollten Pfarrer und Superintendenten versuchen, die Parteien notfalls unter Strafandrohung zu versöhnen, "damit dem Hausteuffel gesteuret, Friede gepflanzet, das Gebet befördert" 93 werde. Auch hier trat eine gesetzliche Änderung erst in der französischen Zeit ein 94 . Ehebruch war nach dem Geschlechtsverkehr unter Unverheirateten die häufigste Verletzung der Sexualmoral, wie nicht nur die oben erwähnten Klagen der Obrigkeit, sondern auch die Zahl der verhandelten Fälle zeigen 9 5 . Die Carolina 88

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Bulletin des lois et décrets du Royaume de Westphalie. Bulletin der Gesetze und Décrété des Königreichs Westphalen, Zweite officielle Auflage, Bd. 2, Kassel 1810, 194f. Ebd., Bd. 4, Kassel 1811, 20-25. HAGEMANN, Sammlung der Hannöverschen Landesverordnungen und Ausschreiben des Jahres 1814, Hannover 1815, 703-750, hier 720. Van DÜLMEN, Kultur und Alltag, Bd. 1, 175f.; LESEMANN, Arbeit, Ehre, Geschlechterbeziehungen, 139-155. Zum Verlauf einer Ehestreitigkeit vor dem Göttinger Universitätsgericht vgl. Sylvia MÖHLE, "Damit das Scandai nicht in der Stadt laut würde". Die Geschichte einer Eheklage und ihres Ausgangs, in: Volkskunde in Niedersachsen 7 (1990), 55-61. Zur Entstehung öffentlicher Ehestreitigkeiten vgl. auch Ariette FARGE und Michel FOUCAULT, Familiäre Konflikte. Die "Lettres de cachet", Frankfurt a.M. 1989 (Orig.: Le désordre des familles. Lettres de cachet des Archives de la Bastille, Paris 1982). CCL, Bd. 1, Cap. I, 1-440, hier 137, Kirchenordnung Herzogs Friedrichs für den lüneburgischen Teil von 1643; für Calenberg CCC, Bd. 1, Cap. I, 1-407, hier 185f., Kirchenordnung von 1569. Von zögernder Scheidungspraxis berichtet auch van DÜLMEN, Kultur und Alltag, Bd. 1, 178; zur Begründung der Ehescheidung in der frühen Neuzeit SCHWAB, Ehegesetzgebung, 240-244; allgemein Dirk BLASIUS, Ehescheidung in Deutschland 1794-1945: Scheidung und Scheidungsrecht in historischer Perspektive (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 74), Göttingen 1987. CCL, Bd. 1, Cap. I, 138. Auch die protestantische Eheordnung für das Hochstift Hildesheim von 1743 sab die Schlichtung von Ehestreitigkeiten durch Pfarrer und Obrigkeit vor. HLO, Bd. 1, 318. Bei Ehebruch konnte der Mann in jedem Fall die Scheidung verlangen, die Frau nur, wenn ihr Mann "seine Beyschläferin in dem gemeinschaftlichen Hause gehalten hat." Weitere Scheidungsgrunde waren Mißhandlung, ehrenrührige Strafen und Abneigung. Code Napoléon, 229ff. Im Celler Zuchthaus saßen von 1731 bis 1815 106 Personen, meist Frauen, eine Strafe wegen Ehebruchs ab, weitere 20 waren wegen Ehebruchs in Verbindung mit Blutschande bestraft worden. Wegen Blutschande allein waren dagegen nur 44 Personen und wegen Bigamie nur drei verurteilt worden. JVACe, Verzeichnis der Züchtlinge 1731-1778, 1778-1791, 1804-

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nannte in Bezug auf den Ehebruch keine eindeutige Strafe, sondern berief sich auf altes Herkommen und das kaiserliche Recht96. Im allgemeinen stand aber auf Ehebruch die Todesstrafe 97 . Auch die Reichspolizeiordnung von 157798 und die hildesheimische Polizeiordnung von 166599 beriefen sich auf die "Verordnung der Rechte" 100 . Dabei wurde jedoch zwischen 'einfachem' (Beischlaf einer verheirateten mit einer ledigen Person) und 'doppeltem' Ehebruch (Beischlaf zweier Verheirateter) unterschieden. Die "Constitution" von 1593 für die südlichen weifischen Landesteile forderte für Ehebrecher Staupenschlag und anschließende Landesverweisung 101 ; diese konnte in eine Geldstrafe gemildert werden, wenn der betrogene Teil dem Ehebrecher formell verzieh 102 . Nach der lüneburgischen Polizeiordnung von 1618 sollten bei einfachem Ehebruch beide Beteiligten des Landes verwiesen werden, die verheirateten 'Täter' nach zuvor erlittenem Staupenschlag. Erfolgte eine formelle Versöhnung der Eheleute, wurden die weltlichen Strafen ausgesetzt und lediglich Kirchenbuße verhängt 103 . Auf doppelten Ehebruch stand dagegen die Todesstrafe. Militärangehörige,

ob verheiratet oder ledig,

sollten nach den

"Articulsbriefen" von 1673 und 1699 bei Ehebruch in jedem Fall mit dem Schwert gerichtet werden 104 . Nachdem der Staupenschlag im Jahre 1717 abgeschafft worden war 105 , wurde auch die Strafe für Ehebruch in lebenslängliche Zuchthaushaft oder Zwangsarbeit geändert 106 . Die erneuerten Militärgesetze von 1736 verkündeten eine noch deutlichere Strafmilderung. Offiziere sollten nunmehr "mit Verlust der Gage 6 Monat auf die Schild-Wache, der Unter-Officier oder Gemeine aber mit einjährigem Vestungs-Bau bestrafft werden" 107 . 1790 wurde auch für das Militär die Strafe dahingehend differenziert, daß nun verheiratete Militärangehörige härter bestraft

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1812 und 1812-1821; NHStA Hann. 86 Celle Nr. 104, Verzeichnis der Züchtlinge 17911804. PGO, 83, Art. 120. Zur unterschiedlichen Ausformulierung von Deliktbeschreibungen und Strafen SCHMIDT, Strafrechtspflege, 116. So im Sachsenspiegel, Schwabenspiegel und Laienspiegel. FELBER, Unzucht, 68. Reichsabschiede, Bd. 3, 379-398, hier 393. HLO, Bd. 1, 30-91, hier 45f. Ebd. Beim Staupenschlag oder Stäupen handelte es sich um eine besonders schwere Prügelstrafe, die gewöhnlich in Verbindung mit der Landesverweisung ausgesprochen wurde und die Ehrlosigkeit des Verurteilten mit sich brachte. KRAUSE, Strafrechtspflege, 197; van DÜLMEN, Theater des Schreckens, 70f. CCC, Bd. 4, Cap. VIII, 50. CCL, Bd. 3.1, Cap. IV, 15. Zur Kirchenbuße ausführlicher weiter unten. Juristisches Seminar Göttingen, Sammelbände unedierter Landesgesetze, Bd. 2, fol. 103; NHStA Cal. Br. 23b Nr. 157. CCC, Bd. 2, Cap. II, 696ff„ erläuternd dazu KRAUSE, Strafrechtspflege, 38f. Die einfache Landesverweisung ohne Staupenschlag blieb aber bestehen. Anweisung der Regierung an den Magistrat der Altstadt Hannover vom 23.7.1743. SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 1, 67. CCL, Bd. 2, Cap. III, 13.

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Sicherung familialer Kindelversorgung?

wurden als ledige, nämlich mit einem Jahr anstelle von sechs Monaten Zwangsarbeit im Festungsbau für Gemeine und Unteroffiziere bzw. Festunghaft für Offiziere 108 . 1809 schließlich wurde die Strafe für einfachen Ehebruch generell auf vier- bis sechswöchiges Gefängnis herabgesetzt. Voraussetzung war allerdings wiederum, daß der betrogene Gatte den Ehebruch verzieh 109 . Es scheint, daß die Obrigkeit einer Versöhnung der Eheleute meist vor einer harten Strafe den Vorzug gab. Zwar sind aus dem 17. Jahrhundert einige Fälle überliefert, in denen Ehebruch mit dem Tod bestraft wurde; es handelte sich aber durchweg um Fälle, die augenscheinlich als besonders schwerwiegend empfunden wurden 110 . Dies gilt auch für die Strafe der Landesverweisung, die um 1700 in Celle gegen einen Mann und eine Frau wegen Ehebruchs und Blutschande ausgesprochen wurde 111 . Setzte sich dagegen der betrogene Ehepartner für den Schuldigen bei der Obrigkeit ein, wurden die Strafen erheblich vermindert. Gegen einen verheirateten Mann aus Hardegsen wurde die Landesverweisung 1669 wegen der Bemühungen seiner Frau auf ein Jahr begrenzt 112 . In anderen Fällen waren die Begnadigungen noch umfassender: Die gegen Hermann Grümmer ausgesprochene Landesverweisung wurde 1707 auf Bitten seiner Frau nach kurzer Zeit aufgehoben 113 . Die Frau von Henning Bartels aus Ahlten, der 1677 vor einer Anklage wegen Ehebruchs mit seiner Magd geflüchtet war, erreichte, daß ihr Mann mit der Zahlung der 'Brüche' (Geldbuße) für sich selbst und die Magd sowie 20. Rtlr. Strafe davonkam. Auch die schwangere Magd, die des Landes verwiesen werden sollte, wurde zunächst auf Bitten ihrer Familie begnadigt. Später mußte sie dann aber samt ihrer Familie in ein anderes Dorf umsiedeln, da sich die betrogene Ehefrau bei der Regierung beschwerte, daß sie vor übler Nachrede nicht sicher sei, solange die Magd sich im Dorf aufhalte 114 . In den 1730er Jahren wurde die Rechtsprechung kurzzeitig verschärft: Die Regierung verordnete, daß Ehebrecher in jedem Fall, auch wenn sie die Verzeihung ihres Gatten erlangt hatten, zu Zwangsarbeit verurteilt werden sollten. Bald dar108 109 110

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SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 3, 539, 553. Ebd., Bd. 4.1, 640-642, hier 641. Im Amt Dannenberg wurden Anfang des 17. Jahrhunderts eine Ehefrau und ein Ehemann hingerichtet. In beiden Fällen handelte es sich insofern um besonders schwere Vergehen, als noch Blutschande hinzukam: die Frau hatte zunächst mit ihrem ebenfalls verheirateten Schwager und später mit einem ledigen Gesellen Beischlaf, der Mann hatte betrunken seine Nichte, die bei ihm als Magd diente, geschwängert. NHStA Hann. 72 Dannenberg Nr. 18. Zum letzten Mal wurde anscheinend 1689 in Einbeck ein Mann wegen doppelten Ehebruchs hingerichtet. NHStA Hann. 72 Einbeck Nr. 568. In Celle wurde zwar noch 1692 ein Todesurteil vollstreckt, in diesem Fall aber hatten die Angeklagten obendrein den Ehemann der Frau umgebracht. StACe 12 B Nr. 63, II. StACe 12 B Nr. 63, IV. NHStA Cal. Br. 2 Nr. 1093. NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 254. NHStA Celle Br. 61a Nr. 5430. Die Entfernung der anderen Frau war vermutlich eine der Hauptforderungen betrogener Ehefrauen. BECKER, Leben und Lieben, 297.

Die Beaufsichtigung von Eheschließung und Eheleben

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auf wurde die Strafpraxis aber wieder gemildert 115 . Das belegen auch die ab etwa 1750 häufiger verhängten Zuchthausstrafen, die in etwa drei Vierteln aller Fälle weniger als ein Jahr betrugen 116 . Der Obrigkeit war offenbar daran gelegen, möglichst wenig Aufsehen zu erregen, den Frieden in der Gemeinschaft zu sichern und Eigentum nicht leichtfertig zu zerstören 117 ; dahinter stand natürlich auch das landesherrliche Interesse am Steuerzahler. Daher wurde in dem oben geschilderten Fall dem besitzenden, verheirateten Hausvater der Vorzug vor der ledigen Magd gegeben. Harte Strafen waren folglich weniger Ausdruck einer generell strengen Rechtspflege als vielmehr die Folge einer nicht wiedergutzumachenden Störung der sozialen Ordnung, wenn etwa ein Fall zu viel Aufsehen erregt hatte 118 . Als noch gravierender als Ehebruch galt Bigamie, die in der frühen Neuzeit schwer zu kontrollieren war. Besonders in Krisen- oder Kriegszeiten kam es vor, daß Menschen auseinandergingen und Ehen dabei zerrissen wurden, ohne jedoch aufgelöst zu sein 119 . Die calenbergische Kirchenordnung schrieb daher 1569 fest, daß ohne eine Bescheinigung über den Tod des Ehegatten keine neue Ehe geschlossen werden durfte, gleich wie lange dieser schon verschwunden war 120 . In den folgenden Erneuerungen von 1593 und 1615 wurde diese Vorschrift immer wieder bestätigt. Die Strafe für Bigamie sollte mindestens so schwer wie die für Ehebruch sein und bei Vorsätzlichkeit mit dem Tod bestraft werden 121 . Diese Regelung galt auch im Kurfürstentum Hannover bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts, wenn die Strafen auch im Einzelfall möglicherweise milder ausfielen 122 . 115

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NHStA Hann. 69 A Nr. 186, Schreiben der Geheimen Räte an die Justizkanzlei Hannover vom 6.11.1794. Aus diesem Schreiben geht hervor, daß ein landesherrliches Reskript vom 4.8.1734 eine Strafverschärfung anordnete, bald aber wieder Begnadigungen üblich wurden. Z.B. wurde 1763 die Bestrafung einer Frau aus Hannover ausgesetzt, bis ihr Mann, der sich im Krieg befand, entschieden hätte, ob er ihr verzeihen wollte. StAH A Nr. 1255. JVACe, Verzeichnis der Züchtlinge 1731-1778, 1778-1791 und 1804-1812; NHStA Hann. 86 Celle Nr. 104, Verzeichnis der Züchtlinge 1791-1804. Die Regierung selbst nannte "Rücksicht auf das Hauswesen [des Ehebrechers] und auf die nothwendige Unterstützung des beleidigten Theils" als Motiv für Begnadigungen. Dazu kam der Wunsch, "bey einem sonstigen guten Betragen des schuldigen Theils eine Gemeinschaft desselben mit gröbern Verbrechern zu verhüten". NHStA Hann. 69 A Nr. 186, Schreiben der Geheimen Räte an die Justizkanzlei Hannover vom 6.11.1794. In diesem Sinn ist auch die Bemühung des Göttinger Universitätsgerichts zu verstehen, jeden Skandal zu vermeiden, vgl. MÖHLE, "Scandal", 61. Von einer Zurückhaltung der Obrigkeit in Ehebruchsfällen und einer Präferenz für den ehelichen Frieden berichtet auch MUSTER, KirchenbuBe, 127. Ein solcher Fall ist der des Pastors der Ägidienkirche in Hannover, der 1731 in den Verdacht des Ehebruchs geriet. Seine 'Abwege' hatten ein solches Aufsehen erregt, daß darüber Lieder in Umlauf waren. Der Pastor wurde deshalb ohne Prozeß für den Rest seines Lebens auf die Festung Scharzfels gebracht. NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 259. FELBER, Unzucht, 78. CCC, Bd. 1, Cap. I, 287. PGO, 83, Art. 121. Für die Zeit vor 1700 konnten keine Verurteilungen wegen Bigamie festgestellt werden; die Annahme einer milderen Bestrafung im Einzelfall stützt sich auf die Erkenntnisse aus den Urteilen bei Ehebruch.

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Sicherung familialer Kinderversorgung?

Im Jahr 1729 wurde die Bestrafung der Bigamie auf eine Initiative des Geheimen Ratskollegiums hin entschärft. In einem Reskript vom 14. November 1729 überließen es die Geheimen Räte den Beamten, eine Leibesstrafe oder eine lebenslange Haftstrafe zu verhängen 123 . In den drei Fällen von Bigamie in den Celler Zuchthauslisten zwischen 1772 und 1790 fielen die Strafen sehr mild aus, zwischen drei Monaten und zwei Jahren Haft. In dem letzten Fall wurde schon nach zwei Monaten die Begnadigung ausgesprochen, so daß insgesamt eine sechsmonatige Haft die längste abgesessene Strafe war 124 . Für Militärangehörige sollte die Strafe wiederum härter ausfallen: 1736 hieß es, der Bigamist solle "dem Befinden nach, an Ehre und Leib ernstlich bestrafet werden" 125 , ähnlich auch 1790 126 . In allen Fällen wurde die zweite Ehe mit dem Urteil ungültig 127 .

3.

Die Unterdrückung und Kriminalisierung vor- und nichtehelicher Sexualität Traditionelle Eheeinleitung - Spinnstuben - Unzuchtsstrafen - Kirchenbuße - dreimalige uneheliche Schwangerschaft - Prostitution - gewaltsame Entführung und Vergewaltigung Inzest - Exkurs: "Sodonüe"

Der Normierung von Eheschließungen und Eheleben entsprach eine vehemente Bekämpfung der von den obrigkeitlichen Geboten abweichenden Sexualität. Davon waren nicht nur der nichteheliche Beischlaf, sondern auch die vielerorts verbreiteten Rituale der Brautwerbung betroffen 128 . Diese vor allem auf dem Land üblichen Formen des freien Umgangs zwischen den Geschlechtern dienten dem gegenseitigen Kennenlernen 129 und beeinhalteten in der Regel wohl nur bei bestehender Verlobung bzw. Heiratsabsicht auch den Beischlaf, der in diesem Fall mutmaßlich auch von der Gemeinschaft toleriert war 130 . Die Eheverordnung für Bremen und Verden von 1753 untersagte Verlobten ausdrücklich, vor der Hoch123 124

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CCL, Bd. 2, Cap. II, 920f. JVACe, Verzeichnis der Züchtlinge 1731-1778, 1778-1791, 1804-1812 und 1812-1821; NHStA Hann. 86 Celle Nr. 104, Verzeichnis der Züchtlinge 1791-1804. CCL, Bd. 2, Cap. III, 12. SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 3, 553. CCL, Cap. III, 12. Nach dem Code Napoléon konnte nur der erste Ehegatte die zweite Ehe anfechten. Code Napoléon, 35. Vgl. dazu die groBangelegte Untersuchung von Karl Robert V. WIKMAN, Die Einleitung der Ehe. Eine vergleichende ethno-soziologische Untersuchung über die Vorstufe der Ehe in den Sitten des schwedischen Volkstums (= Acta Academiae Aboensis, Humaniora; 11.1), Abo 1937; die Seiten 236-243 betreffen auch Nordwestdeutschland. Die Sitte des sogenannten Fensterns oder Nachtfreiens wurde von den Obrigkeiten auf Fehmarn und Föhr ebenso bekämpft wie im Alpenraum. BREIT, "Leichtfertigkeit", 85ff.; ULBRICHT, Kindsmord, 115; SCHUBERT, Soziale Randgruppen, 332. BECK, Illegitimität, 139-44. Ebd., 144; van DÜLMEN, Kultur und Alltag, Bd. 1, 186f.; MITTERAUER, Ledige Mütter, 127; LASLETT, Lebenswelten, 206.

Die Unterdrückung und Kriminalisierung vor- und nichtehelictaer Sexualität

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zeit ein gemeinsames Haus zu beziehen, "damit sowohl die Gelegenheit zu einem sündlichen Umgange verhütet, als auch alle üble Nachrede und Aergerniß vermieden werde" 131 . Zu den institutionalisierten Formen vorehelicher Kontakte, die von den Obrigkeiten mit großem Mißtrauen beobachtet wurden, gehörten auch die sogenannten Spinnstuben 132 . Dabei handelte es sich um abendliche Zusammenkünfte junger Frauen und Mädchen, bei denen verschiedene Handarbeiten ausgeführt wurden, aber auch geredet, gesungen und getanzt wurde; ab einem bestimmten Zeitpunkt kam dann die männliche Jugend hinzu. Seit dem Bestehen der Spinnstuben 133 bemühten sich die Obrigkeiten, den Ablauf der Abende zu kontrollieren und das unbeaufsichtigte Treiben der Jugend zu unterbinden 134 . Auch die hannoverschen Behörden kämpften nachhaltig gegen den Brauch der Spinnstuben. Sowohl im Amt Diepenau (Grafschaft Hoya) als auch im Amt Gifhorn (Fürstentum Lüneburg) gab es im 18. Jahrhundert mehrfach Beschwerden von Pfarrern und Schulmeistern gegen die Spinnstuben, denen amtliche Verbote folgten. Anlaß für die Entrüstung der Denunzianten waren die als sittenlos empfundene Geselligkeit insgesamt, besonders' aber zu intime Kontakte der jungen Leute: "Es ist nämlich alhier Gewohnheit, das die Mädgens um WintersZeit, Abends bey 10 bis 12 zu Spinnen in ein Hauß sich versammlen, wobey sich ebenso viel Junge Burschen einfinden, und den gantzen Abend mit faulen Geschwätz und schändlichen Bule-Liedern zu singen zubringen, wovon die Schüler selbst alles Drohen und Vermahnen ohngeachtet nicht zurück zu halten, wann nun die Zeit dermaßen bis 8 od: 9 Uhr hingebracht, so wird /: wie sie es nennen :/ halbbettgehenzeit gehalten, da dann der Hauß-Wirth ein Streu auf der Diel zu bereitet, worauf sich die gantze Versammlung, nachdem sie das Licht ausgeblasen, sich begibt, und Alda wohl eine Stunde mit Raserey zubringet, wornach sie sich wieder in die Stube begeben, und die Zeit mit Singen und unnützen Reden bis auf den Abend zubringen" 135 . Die Denunzianten fürchteten die Spinnstuben als schlechtes Beispiel für die Jugend und sahen ihre Bemühungen um eine sittenstrenge Erziehung dadurch zu-

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SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 1, 345. Vgl. die ausführliche Darstellung von Hans MEDICK, Spinnstuben auf dem Dorf. Jugendliche Sexualkultur und Feierabendbrauch in der ländlichen Gesellschaft der frühen Neuzeit, in: Gerhard HUCK (Hg.), Sozialgeschichte der Freizeit. Untersuchungen zum Wandel der Alltagskultur in Deutschland, Wuppertal 1980, 19-49; den Zusammenhang zu vorehelicher Sexulität stellen auch MITTERAUER, Ledige Mütter, 58f., und SHORTER, Geburt der modernen Familie, 150-153, her. MEDICK, Spinnstuben, 23, weist die erste bildliche Darstellung für 1524 nach. Ebd., 24. NHStA Hann. 74 Stolzenau Nr. 3613, Schreiben des Superintendenten von Stolzenau vom 4.1.1774.

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Sicherung familialer Kinderversorgung?

nichtegemacht 136 . Das Amt reagierte auf diese Anzeigen, wie schon bei anderen Gelegenheiten, mit einem generellen Verbot der Spinnstuben. Einige Jahre später wurden die Untervögte aller Dörfer in einem "Circular" angewiesen, von Haus zu Haus zu gehen und bekannt zu machen, daß die Teilnahme an Spinnstuben künftig mit 2 Rtlr. Geldstrafe, gegebenenfalls auch mit Gefängnis oder dem Halseisen bestraft werde. Zur Einhaltung des Verbotes sollten die Untervögte sich "unter der Hand fleißig darnach erkundigen [und] die Häuser oft visieren" 137 . Ein ähnlicher Brauch wie in Diepenau existierte im Amt Gifhorn. Dort beklagte sich der Pastor von Isenbüttel 1763, daß trotz wiederholter Verbote in seinem Dorf die Gewohnheit des 'Spinnlaufens' anhalte. Junge Mädchen liefen abends mit ihren Spinnrädern durchs Dorf und holten die jungen Männer in ihre Spinngesellschaften. Kürzlich sei es dabei "so liederlich hergegangen, daß vieles davon geredet wird" 138 . Das Amt verhängte darauf ein (erneutes) Verbot der Spinngesellschaften. Hauswirte sollten mit 3 Rtlr. Strafe belegt werden, "die jungen Leute beiderlei Geschlechts aber (...) jedesmahl mit dem Straf-Pfahl bestrafet, und denen jungen Mädgens noch überdem das Spinnrad auf den Rücken gebunden werden" 139 . Ungeachtet der Verbote hielt sich die Institution des Spinnlaufens in Isenbüttel hartnäckig, obwohl mehrfach Haussuchungen durchgeführt, Spinnräder beschlagnahmt und einige Leute "nach Gifhorn in Gehorsam gebracht" 140 worden waren. Auch im Amt Diepenau belegen häufig wiederholte Klagen und Verbote, daß die Dorfjugend entgegen den obrigkeitlichen Anordnungen an den Spinngesellschaften festhielt - wahrscheinlich mit Unterstützung zumindest eines Teils der erwachsenen Bevölkerung, die ja die Räume bereitstellen mußte 141 . Daran änderten auch die am Ende des Jahrhunderts noch einmal erhöhten Geldstrafen nichts 142 . Ebensowenig gelang es den Obrigkeiten, den nichtehelichen Geschlechtsverkehr zu unterbinden, welcher unter allen Sittendelikten am häufigsten geahn-

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Ebd. Die Spinnstuben werden als "Stein im Wege" zu einer christlichen Erziehung bezeichnet. Offenbar handelte es sich um einen Autoritätskampf, denn die Denunzianten klagten auch, daß an Feiertagen sofort nach dem Gottesdienst mit "Saufen und Schwelgen" begonnen werde. Ebd. Circular vom 19.9.1786. NHStA Hann. 74 Gifhorn Nr. 722, Schreiben vom 21.3.1763. Ebd., undatiertes amtliches Verbot (nach dem 22.3.1763). Ebd. Schreiben vom 21.3.1763. NHStA Hann. 74 Stolzenau Nr. 3613. Die frühesten Klagen in der Akte stammen von 1729. Verbote gegen Spinnstuben ergingen 1741, später dann in kurzer Folge in den Jahren 1786, 1791, 1794, 1797, 1798 und 1801. 1798 wurde die Strafe für Organisatoren und Teilnehmer auf 10 Rtlr. erhöht.

Die Unterdrückung und Kriminalisierung vor- und nichtehelicher Sexualität

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det wurde 143 . Wesentlicher Beweggrund für die Bestrafung des nichtehelichen Beischlafs war neben moralischen Motiven und der Bekräftigung der Ehegesetze das Bestreben, die Zeugung von Kindern, die mit einiger Wahrscheinlichkeit von der Gemeinschaft oder der Obrigkeit versorgt werden müßten, zu verhindern 144 . Sei es, daß zwei ledige Personen nicht heiraten wollten oder konnten, oder daß eine ledige Frau mit einem verheirateten Mann verkehrte - die solchen Verhältnissen entstammenden Kinder waren in besonderem Maße von Versorgungslosigkeit bedroht. Ursache dafür war aber nicht nur die gemeinhin schlechte wirtschaftliche Lage einer alleinstehenden Frau mit Kind, die kaum Verdienstmöglichkeiten hatte 145 , sondern auch der soziale Druck, dem die Frauen zum Teil durch das Verhalten ihres Umfeldes, also Familie, Dienstherrschaft oder Dorfbzw. Stadtgemeinschaft, ausgesetzt waren. Zu diesem aber trug die obrigkeitliche Ächtung und Verfolgung nichtehelicher Sexualität nicht unwesentlich bei. Kriminalisierung und Strafen erhöhten so in der Realität häufig die Gefahr, daß uneheliche Kinder nicht von den Eltern versorgt werden konnten und möglicherweise verheimlicht und ausgesetzt wurden. Gewöhnlich wurde der nichteheliche Beischlaf zwischen Ledigen mit einer Geldbuße, den sogenannten 'Huren-' oder 'Unzuchtsbrüchen', bestraft. Während die "Constitution" Heinrich Julius' von 1593 die Bestrafung der bisherigen Praxis der einzelnen Gerichte überließ und lediglich eine Empfehlung für eine Geldstrafe je nach Höhe des Vermögens und Strafverschärfungen in besonderen Fällen aussprach 146 , sah die lüneburgische Polizeiordnung von 1618 einheitliche Strafen vor, nämlich für den Mann 20 und für die Frau 10 Lübische Gulden 147 . Konnten die Verurteilten die Strafe nicht zahlen, sollten sie statt dessen "acht Tage ins Gefängnis geworfen und darin nur mit Wasser und Brod versehen werden" 148 . Bei wiederholtem nichtehelichen Beischlaf wurde in jedem Fall eine Gefängnisstrafe verhängt, und zwar zwei Wochen für die Frau und vier Wochen für den Mann 149 . Ähnliche Strafen galten in Hildesheim: Nach der Polizeiordnung von 1665 mußte die Frau ebenfalls 10 und der Mann 20 Gulden Geldbuße zahlen. Wirte, die eine schwangere Frau beherbergten, mußten damit rechnen, die 'Brüche' für 143

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Vgl. dazu jetzt die umfassende Untersuchung von BREIT, "Leichtfertigkeit", zur Gesetzeslage bes. 267-294; außerdem ELLRICHSHAUSEN, Mutterschaft, 51-86; BECKER, Leben und Lieben, 250-260. Fränkischen Obrigkeiten galten uneheliche Kinder als zukünftige Bettler. SCHUBERT, Arme Leute, 126. Zu den Lebensbedingungen lediger Mütter vgl. auch Kap. III, Abschnitt 3.3. und Kap. VI, Abschnitt 1.4. CCC, Bd. 4, Cap. VIII, 49-52. CCL, Bd. 3.1, Cap. IV, 1-136, hier 15f. Ebd., 16. Ebd.

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diese und gegebenenfalls auch für den Kindsvater bezahlen zu müssen 150 . Eine Verordnung von 1763 legte fest, daß die Frauen bei Zahlungsunfähigkeit mit vier bzw. im Wiederholungsfall acht Tagen Gefängnis bestraft werden sollten151. Verschiedene Umstände konnten zur Strafverschärfung beitragen, etwa 'Unzucht' an bestimmten Orten 152 oder mit Verwandten, Minderjährigen und Abhängigen. Wichtig für die Bestrafung des Mannes war außerdem der Ruf der Frau; der Verkehr mit einer als ehrbar geltenden Frau wog schwerer als der mit einer Frau von schlechter Reputation 153 . Ebenfalls besonders hart, nämlich mit Landesverweisung, sollte bestraft werden, wer Beischlaf mit einer einem anderen versprochenen Braut hatte 154 . Einer unerbittlichen Logik folgend, wandten sich die Unzuchtsstrafen in besonderem Maße wiederum gegen Dienstboten und Soldaten. Die Polizeiordnung für das Fürstentum Lüneburg von 1618 enthielt ein explizites Verbot für Knechte und Mägde, sich gegenseitig zu Bier und Geselligkeit einzuladen, "als durch die Abend- oder Nacht-Täntze, Ursache zu solcher lästerlichen Unzucht gegeben wird" 155 . Bei Zuwiderhandlungen sollte eine Geldstrafe von einem Gulden oder eine Nacht im Gefängnis verhängt werden 156 . Besonders harte Strafen sollten Dienstboten treffen, die im Hause ihrer Herrschaft miteinander nichtehelichen Verkehr hatten. Die dafür vorgesehene Strafe war bereits bei einmaligem Beischlafhöher als die Wiederholungsstrafe für andere Personen 157 . Auch in Hildesheim richtete sich die Unzuchtsgesetzgebung vorrangig gegen das unverheiratete Gesinde. Eine Verordnung des Domkapitels von 1762 stellte fest, daß es "bey denen grossen Oeconomien" besonders häufig zum unehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Dienstboten komme, "indem die im Herrendienst arbeitende beyderley Geschlechts-Personen, da sie wegen Entlegenheit ihrer Wohnungen, des abends füglich nach Hause zu kehren, und des anderen morgens zu bestimmter Zeit im Herrendienst zu erscheinen nicht vermögen, folglich des Nachts beym Amthause zu verbleiben gemüßiget seynd, 150

HLO, Bd. 1, 30-91, hier 44. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 3503, "Resolutio Celsissime ad Protocollum Generale" vom 15.11.1763. 152 Als besonders strafwürdig galt der uneheliche Beischlaf "in Klöstern, Kirchen oder auf unsern Schlössern, Frauenzimmer- und Amtshäusern (...), Cantzleyen, Marstellen, Apothecken, Mühlen, Brau- und Backhäusern, Vorwercken und Meyereyen". CCC, Bd. 4, Cap. VIII, 51, Fürstliche Constitution von 1593. 153 Ebd., 50f.; hildesheimische Polizeiordnung von 1665. HLO, Bd. 1, 44. 154 Lüneburgische Polizeiordnung von 1618. CCL, Bd. 3, 16, § 8. 155 CCL, Bd. 3, Cap. IV, 16. 156 Ebd. 157 »wie dann auch diejenigen, so in ihrer Herren oder Frauen Häusern Unzucht treiben, und also ihr eigen Brod schänden, härter als obstehet, und zwar zum allerwenigsten mit vierwöchiger schweren Gefängnifi, unnachläßig gestrafet werden sollen." Polizeiordnung von 1618. CCL, Bd. 3, 16. 151

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zusammen auf einen gemeinschaftlichen Heu oder Stroh-Boden ihr Nachtlager zu nehmen geduldet werden, allwo dan junge und unschuldige durch Hören und Sehen viele Boßheit erlernen, ältere, sogar Verwante mit Verwanten, auf vielerley Weise das sechste Gebot Gottes muthwillig übertreten" 158 . Die Verwalter oder Pächter der Güter wurden aufgefordert, für getrennte Schlafstätten zu sorgen und auf die strikte Trennung der Geschlechter zu achten. Den Dienstboten selbst wurde eine harte Strafe angedroht: Sollten weiterhin "einige Weibs- oder Manns-Personen (...) sich erfrechen (...), ihre angewiesene Ruhestätte zu veränderen, und zu anderen Geschlechts-Personen sich zu lagern, so sollen dieselbe (...) sofort nach verrichteten Herrendienst mit ein tägigen Civil-Arrest, bey Wasser und Brot (...) ohne Rücksicht und unfehlbar bestrafet werden" 159 . Die Wirksamkeit der Verordnung muß allerdings bezweifelt werden, da eine getrennte Unterbringung des Gesindes allein aus organisatorischen Gründen wahrscheinlich zu umständlich war und es deswegen immer wieder zu engen Kontakten zwischen den Geschlechtern kam 160 . Zudem blieb heiratswilligen Dienstboten aufgrund materieller und rechtlicher Ehehindernisse kaum eine andere Möglichkeit, als die Ehe durch den vorehelichen Geschlechtsakt zu "antizipieren"161, wollten sie nicht lange Wartezeiten auf sich nehmen 162 . Besonders strenge Sittengesetze galten auch für die kurhannoversche Armee. Die Gesetze von 1673, 1699, 1736 und 1790 stellten nichtehelichen Geschlechtsverkehr ebenfalls unter Strafe und wandten sich namentlich gegen die Anwesenheit von "Mätressen", "Konkubinen" und "Huren" 163 in den Garnisonen. Wenn ein Soldat trotzdem mit einer Frau zusammenlebte, sollte diese "von dem Provos durch den Stöcken-Knecht weggenommen, und des Landes verwiesen werden" 164 . Trotzdem gab es in Göttingen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer wieder Soldaten, die uneheliche Kinder zeugten und unverheiratet 158 159 160

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NHStA Hild. Br. 1 Nr. 3502, fol. 70f., Domkapitelsverordnung vom 4.6.1762. Ebd. In Franken betrug die Strafe nur etwa 2 Rtlr. SCHUBERT, Arme Leute, 126. Nach SCHUBERT, Arme Leute, 126, duldeten manche Dienstherren das gemeinsame Übernachten der Einfachheit halber oder auch, "um das Gesinde bei Laune zu halten". Auch BREIT, "Leichtfertigkeit", 217, berichtet von Fällen, in denen Knechte und Mägde zusammen in eine Kammer gelegt wurden. KRAUS, "Antizipierter Ehesegen". Die von Kraus beschriebenen Verhaltensweisen bestanden sicher nicht erst im 19. Jahrhundert, auch wenn sie in dieser Zeit häufiger gewesen sein mögen als zuvor. BREIT, "Leichtfertigkeit", 218f. Juristisches Seminar Göttingen, Sammelbände unedierter Landesgesetze, Bd. 2, fol. 103, Kriegs-Recht 1673, § 62; NHStA Cal. Br. 23b Nr. 157, Articuls-Brieff 1699, § 23; CCL Bd. 2, Cap. III, 1-38, Krieges-Recht 1736, Art. 44; SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 3, 526554, Krieges-Artikel, Art. 216. CCL, Bd. 2, Cap. III, 13, Krieges-Recht 1736, Art. 45.

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mit Frauen zusammenlebten, ohne daß die militärischen Obrigkeiten dagegen einschritten 165 . Wie ein umfangreicher Aktenbestand der Cellischen Regierungskanzlei166 zeigt, bemühten sich die Obrigkeiten seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhundert besonders unnachgiebig um die Durchsetzung der Unzuchtsstrafen. Immer wieder suchten Untertanen um Erlaß der Geldstrafen nach, da sie sich zu Unrecht verurteilt fühlten oder die sehr hohen Bußgelder nicht zahlen konnten. Den Bittgesuchen wurde aber nur in Ausnahmefallen nachgegeben 167 . Unabhängig davon kam es in den weifischen Gebieten wiederholt zu Auseinandersetzungen um die Bezahlung der Geldbußen. Einige Adlige und Gutsherren betrachteten die Eintreibung dieser Summen offenbar als ihr eigenes Recht, wogegen sich der Landesherr wandte und seine Beamten anwies, ihrerseits genau die Bezahlung der Strafen zu kontrollieren 168 . Unsicherheit bestand auch darüber, an welchem Ort die Strafe zu bezahlen war. Nach und nach setzte die Regierung hier durch, daß sowohl die Frau als auch der Mann die Buße nicht an ihrem Heimatort zu bezahlen hatten, sondern an dem Ort, wo das Kind auf die Welt kam 169 . Die dahinterstehende Absicht dürfte gewesen sein, die Strafgelder derjenigen Obrigkeit zukommen zu lassen, die gegebenenfalls für die Verpflegung und Unterbringung des Kindes aufkommen mußte. Die Handhabung der Unzuchtsstrafen im Verlauf des 18. Jahrhunderts kann mangels ausreichender Quellen nicht vollständig nachvollzogen werden 170 . Zwar beharrte die Obrigkeit in ihren Verordnungen auf der Bezahlung der Unzuchtsstrafen; noch 1797 ordneten die Geheimen Räte in Hannover an, daß selbst für totgeborene Kinder die 'Brüche' bezahlt werden müßten 171 . Die eher fruchtlo-

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PRÖVE, Stehendes Heer, 136-143. NHStA Celle Br. 61a. Für Jürgen Schmidt im Amt Gifhorn wurde die Geldstrafe 1671 in eine Gefängnisstrafe verwandelt. Ausschlaggebend dürfte gewesen sein, daß er einen vormals wüsten Hof bewirtschaftete und sein Haus neu aufbauen mußte, weshalb er auf seine Bitte zusätzlich etwas Holz erhielt. NHStA Celle Br. 61a Nr. 4777. Ein anderer Mann bat um Erlassung der Bufie, da ihm der Hagel sein Kom vernichtet habe. NHStA Celle Br. 61a Nr. 1217. Leider fehlt in vielen Fällen die Entscheidung der Kanzlei. Ausschreiben der Geheimen Räte in Hannover vom 16.12.1693. NHStA Cai. Br. 23b Nr. 151; Deklaration der Fürstlichen Regierung in Celle vom 30.1.1700. NHStA Cai. Br. 23b Nr. 158; auch CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1203f. CCC, Bd. 4, Cap. V, 85f., Ausschreiben der Kammer vom 26.9.1707; CCC, Bd. 2, Cap. II, 779f., Verordnung der Geheimen Räte vom 22.2.1735. Bei dieser Regelung handelte es sich um eine Besonderheit des braunschweig-lüneburgischen Rechts, wie aus einem Schriftwechsel aus der preußischen Besatzungszeit 1806 hervorgeht. NHStA Hann. 50 B Nr. 84. Die Entwicklung in anderen Gegenden war unterschiedlich. In Franken kam es weiterhin zu harten Strafen wie Zwangsarbeit, Zucht- und Arbeitshaushaft. SCHUBERT, Arme Leute, 127. In Schleswig-Holstein dagegen ließ die Strenge der Bestrafung seit etwa 1740 nach. ULBRICHT, Kindsmord, 115. In einem Reskript an die Klosterbeamten zu Ilfeld vom 31.7.1787 vertrat die Regierung die Auffassung, "daß die erfolgte Niederkunft mit einem unehelichen Kinde, es sey übrigens le-

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sen Anstrengungen um Eintreibung der Geldbußen, die der Celler Burgvogt in den Jahren 1733 bis 1755 unternahm, deuten aber daraufhin, daß die Obrigkeiten immer größere Schwierigkeiten hatten, die Strafen wirklich durchzusetzen 172 . Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde in aufklärerischen Schriften vielfach Kritik an diesen Strafen geäußert 173 . Trotzdem blieben sie bestehen und wurden zumindest vereinzelt weiter vollzogen: aus Hildesheim ist noch aus dem Jahr 1803 die Bitte einer Frau um Erlaß der Geldstrafe überliefert 174 . In als besonders schwerwiegend empfundenen Einzelfallen ging die Obrigkeit auch noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit drastischen Strafen gegen die nichteheliche Sexualität vor 1 7 5 . Nach den Gesetzen waren die Strafen für Männer durchweg höher als für Frauen. Ganz besonders deutlich wird dies in einer hildesheimischen Resolution von 1763, die für den Fall, daß der Kindsvater ein Einheimischer war, diesem die Geldbuße für die Frau auferlegte und die Frau von weiteren Strafen ausdrücklich verschonte 176 . Diese Regelung trug dem Umstand Rechnung, daß die Frau sich später um das Kind kümmern mußte und in ihrer sozialen Stellung weit stärker beeinträchtigt wurde als der Mann. Wie oben gezeigt wurde, war es außerdem unter Umständen sehr schwierig, den Vater zu Unterhaltszahlungen zu veranlassen 177 . In der Realität wurden Männer aber offenbar seltener bestraft 178 , wie das Beispiel der Göttinger Soldaten lehrt. Die Frauen traf dagegen meist die ganze Härte der Strafen. Zum einen ließ sich ihr 'Vergehen' wegen der Schwangerschaft kaum verheimlichen, zum anderen waren sie häufig dem Verdacht der Sittenlosigkeit ausgesetzt und erhielten folglich einseitig die Schuld zugescho-

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bendig geboren, oder todt zur Welt gekommen, die Erhebimg der Unzuchtsbrüche an dem Orte der Niederkunft begründe." SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 3, 335. Siehe dazu die Auseinandersetzung des Burgvogtes mit der Stadt im Kap. III, Abschnitt 3.4. Zum Vollzug in den Herzogtümern Schleswig und Holstein vgl. Otto ULBRICHT, Reformvorschläge und Reformmaßnahmen auf dem Gebiet der Illegitimität und des Kindsmordes in Nordwestdeutschland, in: Rudolf VIERHAUS (Hg.), Kultur und Gesellschaft in Nordwestdeutschland, Bd. 1: Das Volk als Objekt obrigkeitlichen Handelns (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung; 13), Tübingen 1992, 121-169, hier 154-156. ULBRICHT, Kindsmord, 284-296; ders., Reformvorschläge, 135-138. StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 180. 1766 wurden im hildesheimischen Amt Wohldenberg zwei Männer und zwei Frauen zu Spinnhaus- und Gefängnisstrafen und anschließenden Ortsverweisungen verurteilt. Ein Mann und eine Frau hatten miteinander sowie jeweils mit einem anderen Partner Beischlaf gehabt, außerdem waren beide Männer verheiratet. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 3537. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 3503, handschriftliche "Resolutio" vom 15.11.1763. Diese Praxis bestand jedoch bereits vor 1763, denn schon 1761 äußerte der Domdechant sein Mißfallen Uber die Straffreiheit der Frauen. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 10206, Schreiben vom 23.5.1761. Alimentationsklagen waren schwer durchzubringen, wenn etwa mehrere Männer aussagten, mit derselben Frau geschlafen zu haben. Richteten sich die Klagen gegen Soldaten oder Studenten, war es für die betreffende Frau besonders schwierig, eine Unterhaltszahlung zu erhalten. Vgl. BRÜDERMANN, Studenten, 402ff. Vgl. auch SCHUBERT, Arme Leute, 139.

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ben 179 . Bedenkt man, daß auch die sozialen und wirtschaftlichen Folgen unehelichen Beischlafs für eine Frau ungleich schwerwiegender waren, kann man zusammenfassen, daß die Sittengesetzgebung insgesamt hauptsächlich zu Lasten der Frau ging 1 8 0 . Neben den weltlichen Strafen existierte vor allem in protestantischen Gebieten ein Katalog von kirchlichen Sanktionen 181 . Die braunschweig-lüneburgische Kirchenordnung von 1569 sah Kirchenstrafen als Ergänzung bzw. Verschärfung der weltlichen Strafen an; ihre Verhängung wurde zwar den kirchlichen Behörden anheimgegeben, an ihrer Vollstreckung aber sollte auch die weltliche Obrigkeit teilhaben 182 . Wichtigster Bereich der kirchlichen Strafgerichtsbarkeit waren Verstöße gegen die Sexualmoral, die mit öffentlicher Kirchenbuße geahndet wurden 183 . Obwohl die Kirchenstrafen nur vom Konsistorium ausgesprochen werden durften, kam es zu Eigenmächtigkeiten von Pfarrern und Beamten 184 . Einige Pastoren mißbrauchten offenbar die Kirchenzucht zu eigenen Zwecken und forderten in Unzuchtsfallen 1 Rtlr., den sie unter Androhung des Ausschlusses vom Abendmahl erzwangen 185 . Die Bewertung der Kirchenbuße war widersprüchlich: sie war für eine Wiedereingliederung in die Gemeinde sehr wichtig, wurde aber von den Untertanen

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Der Hildesheimer Domdechant machte 1761 Frauen als die eigentlichen Verführerinnen aus (wie Anm. 176). Die Schonung des Mannes zu Lasten der Frau zeigt außer dem oben angeführten Fall Bartels (NHStA Celle Br. 61a Nr. 5430) auch das Schicksal einer Frau, die 1799 vom Göttinger Magistrat mit Stadtverweisung und Zuchthaus bedroht wurde, um den Ruf des Vaters ihres unehelichen Kindes, des Ratsapothekers Jordan, zu schützen. StAGö AA Sicherheitswesen Polizei Nr. 20. Siehe auch SCHUBERT, Arme Leute, 121 u. 130f., und FELBER, Unzucht, 74. Die unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen heben auch hervor SCHUBERT, Arme Leute, 121; van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 112; WUNDER, Frauen, 166, 170. Luther lehnte zwar den großen Bann, der neben kirchlichen auch weltliche Folgen hatte, ab; den kleinen Bann (Ausschluß von den Sakramenten, Verweigerung kirchlicher Handlungen) zur Strafung öffentlicher Verstöße gegen die kirchliche Ordnung erkannte er jedoch ausdrücklich an. MUSTER, Kirchenbuße, 29-37; LThK, Bd. 6, 286f., Art. "Kirchenzucht". Die reformierte Auffassung verlieh der Kirchenzucht noch größere Bedeutung. MUSTER, Kirchenbuße, 38-42. Vgl. auch Paul MÜNCH, Zucht und Ordnung. Reformierte Kirchenverfassungen im 16. und 17. Jahrhundert (Nassau-Dillenburg, Kurpfalz, Hessen-Kassel) (= Spätmittelalter und Frühe Neuzeit. Tübinger Beiträge zur Geschichtsforschung; 3), Stuttgart 1978, 183-189. Ebd., 89f. MUSTER, Kirchenbuße, 92f. u. 110-127. Im Jahr 1640 erging ein Edikt Herzog Georgs, das den Beamten befahl, Personen, die wegen Ehebruchs oder nichtehelichen Beischlafs die Kirchenbuße leisten mußten, ordnungsgemäß dem Konsistorium anzuzeigen und nicht eigenmächtig die Strafen festzusetzen. 1677 wiederholte das Konsistorium in einem Ausschreiben diese Anordnung, da "die zur Kirchen-Buße ausstehende Delicta, zu mercklicher Aergerniß jedes Orts Gemeine und Eingepfarreten, zuweilen untergeschlagen, und denen ihnen vorgesetzten Superintendenten vorenthalten werden". CCC, Bd. 1, Cap. I, 438f. Für Braunschweig-Wolfenbüttel vgl. MUSTER, Kirchenbuße, 99. CCL, Bd. 1, Cap. I, 973f., Konsistorialausschreiben vom 9.11.1731.

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offenbar als besonders hart empfunden 186 . Nachdem die Kirchenbuße im Lauf des 18. Jahrhunderts auf Sittlichkeitsdelikte eingeengt wurde und in der Bevölkerung immer weniger Anerkennung fand 187 , wurde sie in der zweiten Jahrhunderthälfte in vielen Staaten aufgehoben 188 . In Hildesheim hielt sie sich bis 1785, in Kurhannover als Unzuchtsstrafe sogar noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts 189 . Im Kirchspiel Limmer bei Hannover leisteten zwischen 1751 und 1764 21 Personen Kirchenbuße, allesamt wegen 'fleischlicher' Vergehen 190 . Auch hier waren die Frauen - in der Regel ledige Mütter - deutlich in der Überzahl 191 . Der einzige Weg, der Kirchenbuße zu entgehen, bestand für eine ledige Frau in der Flucht, später dann auch in der Niederkunft in einer Entbindungsanstalt 192 . Neben ledigen Müttern wurde die Kirchenbuße vor allem von Ehepaaren wegen zu früher Niederkunft der Frau nach der Hochzeit geleistet 193 . Der Fehltritt des vorehelichen Geschlechtsverkehrs war zumindest im 17. Jahrhundert mit der späteren Eheschließung noch nicht wieder wettgemacht; vielmehr sollte die Hochzeitszeremonie die Schande der Brautleute deutlich preisgeben: "Was zu letzt des Volckes ist, das vor der Zeit in Unehren sich zusammen findet, Schande und Ärgernis anrichtet, sol ohne hochzeitliche pompa, und öffentlich Gepräng, ohne Seitenspiel, und ohne Jungfrawen, mit verdeckten Haupt, seinen Kirchgang und Hochzeit halten, allen ehrlichen, frommen, züchtigen Kindern, zur ewigen Abscheu, und augenscheinlichen getreuen Verwarnung" 194 . Besonders drastische Folgen hatte vorehelicher Beischlaf im städtischen Umfeld. Zünfte und Gilden, die die Sittengesetzgebung immer restriktiver auslegten und zur Abschottung nutzten, schlössen aus diesem Grund ihre Mitglieder aus oder 186

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Folgende Beispiele verdeutlichen diese Ambivalenz: 1731 ersuchte eine Frau freiwillig um Kirchenbuße, um ihre Wiedereingliederung in die Gemeinde zu erreichen. NHStA Hann. 74 Hameln Nr. 2690. Auf der anderen Seite stehen mehrere Gesuche um Erlaß der Kichenbuße und vor allem des als besonders entwürdigend empfundenen Stehens vor dem Altar in NHStA Celle Br. 61a Nr. 343. Zur Gestalt einer (reformierten) Kirchenbuße siehe Johanna-Luise BROCKMANN, Das Ärgernis - Ein Lehrstück zur Sozialgeschichte der "armen Weibspersonen" in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Adrian KNIEL (Hg.), Sozialpädagogik im Wandel, Kassel 1984, 13-37, hier 29. MUSTER, Kirchenbuße, 9 und 188. Ebd., 68. In Schleswig-Holstein wurde die Kirchenbuße in den 1760er Jahren in eine Geldstrafe umgewandelt. ULBRICHT, Kindsmord, 215. Zu den Gründen für die Aufhebung ebd., 278-283, und ders., Reformvorschläge, 134f. MUSTER, Kirchenbuße, 68. Zu den Gründen für die Beibehaltung siehe ULBRICHT, Reformvorschläge, 150-153. 1795/96 standen in Weende 17 Personen unter der Kirchenzensur. KKAGö Pfarrarchiv Weende KR II Nr. 1. HOOF, Pestalozzi, 81-86. Ebd., 83. Diese Maßnahme sollte offenbar den Anreiz, ein Accouchirhaus aufzusuchen, erhöhen. Vgl. dazu Kap. IV, Abschnitt 5.2. KKAGö Pfarrarchiv Weende KR II Nr. 1. Kirchenordnung von 1643. CCL, Bd. 1, Cap. I, 1-440, hier 140. Von ähnlichen Zeremonien berichtet auch SCHUBERT, Arme Leute, 126.

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ließen Handwerker gar nicht erst zu 195 . Immerhin wurden im Kurfürstentum Hannover die Geldstrafen für uneheliche Geburten bei einer nachträglichen Hochzeit halbiert 196 . Als Beweis vorehelichen Geschlechtsverkehrs reichte normalerweise die frühzeitige Geburt eines Kindes acht Monate nach der Hochzeit; allerdings war wohl auch den Zeitgenossen die Problematik dieses Beweises bewußt 197 . Am härtesten waren von den Unzuchtsstrafen Frauen betroffen, die sich wiederholt auf nichteheliche sexuelle Kontakte einließen. Eine Besonderheit des braunschweig-lüneburgischen Rechtes war die besonders strenge Bestrafung von Frauen, die mehr als zwei uneheliche Schwangerschaften hatten 198 . Dies galt als eigener Tatbestand und wurde nicht von der niederen Gerichtsbarkeit, sondern von den Kriminalgerichten geahndet 199 . Ausgang dieser besonderen Gesetzeslage war die Polizeiordnung für das Fürstentum Lüneburg von 1618, die dreimalige uneheliche Schwangerschaft von anderen Unzuchtsdelikten abgrenzte und dafür die Landesverweisung vorsah 200 . Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde dieses Delikt allerdings als eines der ersten schrittweise entschärft. Im Jahr 1735 wurde eine Frau auf Anraten der Justizkanzlei Hannover und mit Zustimmung des Geheimen Ratskollegiums zu einer zweijährigen Zuchthausstrafe begnadigt, da so ihre Kinder weit kürzere Zeit auf öffentliche Kosten unterhalten zu werden brauchten als im Fall einer ewigen Landesverweisung 201 . Die Geheimen Räte betonten jedoch, daß es sich nicht um eine generelle Änderung der Strafe handele, sondern daß im Einzelfall immer neu über eine Strafmilderung entschieden 193

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Bei der Justizkanzlei Celle beschwerte sich 1709 der Burgdorfer Bürger und Tuchmacher Hans Buchholz, dafi das Tuchmacheramt ihn ausschließen wolle, obwohl er die Unzuchtsbrüche für den vorzeitigen Beischlaf mit seiner Frau ordnungsgemäß bezahlt habe. NHStA Celle Br. 61a Nr. 2513. Vgl. auch van DÜLMEN, Kultur und Alltag, Bd. 1, 145. Schubert geht davon aus, dafi die Sittengesetzgebung nur deshalb von der Gesellschaft so stark akzeptiert wurde, weil sie Teil des Kampfes um Arbeit und Arbeitsplätze war. SCHUBERT, Arme Leute, 125. Auf eine Anfrage der Justizkanzlei Hannover teilte das Amt Calenberg 1704 mit, daß die 'Brüche' in diesem Fall von 15 Rtlr. auf 7 Rtlr. 18 Mgr. halbiert würden. NHStA Hann. 74 Calenberg Nr. 753, Schreiben des Amtes vom 3.5.1704. Auch im Fürstentum Lüneburg galt diese Praxis. 1679 verlangte Johann Werner von der Kanzlei in Celle die Rückerstattung der Hälfte der von seiner Tochter an das Amt Fallersleben gezahlten 'Brüche', da diese inzwischen den Vater des Kindes geheiratet habe. NHStA Celle Br. 61a Nr. 4153. 1691 mußte Otto Ahlers aus Vilsen im Amt Altenbruchhausen für die Schwängerung einer ledigen Magd 15 Rtlr. Strafe zahlen, für den vorehelichen Geschlechtsverkehr mit seiner zweiten Frau aber nur 7,5 Rtlr. NHStA Celle Br. 61a Nr. 1598. 1690 beklagte sich Henrich Reincke, Häusling in Wettmar im Amt Burgwedel, daß die Niederkunft seiner Frau acht Monate nach der Hochzeit nicht unbedingt auf eine voreheliche Zeugung schließen lasse. NHStA Celle Br. 61a Nr. 2648. Allerdings wurde auch in Schleswig-Holstein eine Zuchthausstrafe bei mehr als zwei unehelichen Geburten verhängt. ULBRICHT, Kindsmord, 215. Friedrich von BÜLOW und Theodor HAGEMANN, Practische Erörterungen aus allen Theilen der Rechtsgelehrsamkeit, 2. Aufl., Bd. 7, Hannover 1824, 11. CCL, Bd. 3.1, Cap IV., 16, § 8. NHStA Hann. 93 Nr. 1111, fol. 4-10, Schreiben der Landesregierung vom 2.4.1735.

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werden müsse 2 0 2 . 1736 und 1754 wurden daher noch zwei Frauen des Landes verwiesen 2 0 3 ; danach aber gewannen die Bedenken gegen die Landesverweisung die Oberhand 2 0 4 und es setzte sich die Zuchthausstrafe durch, die meist zwischen sechs Wochen und drei Monaten betrug 2 0 5 . Trotz ausdrücklicher Anweisungen zu Strafmilderungen sollte der Tatbestand jedoch nicht abgeschafft werden 2 0 6 . Dies geschah erst mit der Einführung des französischen Rechts in den Jahren 18081811. Als sich jedoch die westphälischen Behörden mit einer zunehmenden Zahl unehelicher Kinder konfrontiert sahen, die "von ihren Müttern und deren Verwandten nicht unterhalten werden können u. der Commune zur Last fallen" 2 0 7 , beschlossen sie kurzerhand die Wiedereinführung des Tatbestandes und einer Gefängnisstrafe 208 , die auch nach der Restauration der hannoverschen Gesetze bestehen blieb 2 0 9 . In den großen Städten Hannover und Göttingen wandten sich die obrigkeitlichen Maßnahmen auch gezielt gegen die Prostitution, die sich nach der Aufhebung der Frauenhäuser im 16. Jahrhundert in Randbereiche verlagert hatte und in illegalen Bordellen oder auf der Straße weiterexistierte 210 . Die Trennung zwischen ledigen Müttern und Prostituierten läßt sich allerdings kaum nachvollzie-

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NHStA Cal. Br. 23b Nr. 194, Reskript vom 2.4.1735. Vgl. auch David Georg STRUBE, Rechtliche Bedenken, Bd. 2, Hannover 1763, 429. Anna Margaretha Meyers 1736: NHStA Hann. 93 Nr. 1111, fol. 13ff.; Marie Piepers 1754: Ernst SPANGENBERG (Hg.), David Georg Strube's Rechtliche Bedenken, Bd. 2, Hannover 1827, 117. Neben dem Unterhalt der Kinder war eine weitere Kritik an der Landesverweisung, dafi sich die Reichsstände gegenseitig ihre Verurteilten zuschoben. Aus diesem Grund schlug die dänische Landesregierung für Holstein den Geheimen Räten vor, die Landesverweisung ganz abzuschaffen. NHStA Hann 69 A Nr. 187. Vgl. zu dieser Strafe auch KRAUSE, Strafrechtspflege, 198f. Im Zuchthaus Celle mußten zwischen 1742 und 1806 über 60 Frauen eine Strafe wegen dreimaliger unehelicher Schwangerschaft verbüßen. Die Strafe betrug in den meisten Fällen sechs Wochen, zwei oder drei Monate. Die Höchststrafe war ein Jahr, die Mindeststrafe vier Wochen. JVACe, Verzeichnis der Züchtlinge 1731-1778, 1778-1791 und 1804-1812; NHStA Hann. 86 Celle Nr. 104, Verzeichnis der Züchtlinge 1791-1804. Einige Einzelfälle außerdem in NHStA Hann. 93 Nr. 1111 und bei SPANGENBERG (Hg.), Strube's Bedenken, Bd. 3, Hannover 1828, 117. 1781 erklärten die Geheimen Räte sich prinzipiell einverstanden, die Zuchthausstrafe in eine drei bis vierwöchige Gefängnisstrafe umzuwandeln. Dennoch teilten sie 1788 mit, daß den Frauen, die im Göttinger Accouchirhaus niederkamen, zwar die Kirchenbuße erlassen werden sollte, nicht aber die Strafe wegen der dreimaligen unehelichen Schwangerschaft. NHStA 913 Nr. 1111, Schreiben vom 12.12.1781 und vom 12.2.1788. 1809 wurde generell eine dreiwöchige Gefängnishaft mit achttägiger 'carena' (Fastenzeit) festgesetzt. SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 4.1, 641. NHStA 913 Nr. 1111, Schreiben des Präfekten des Allerdipartements vom 9.7.1812. Ebd. Der Präfekt behauptete einfach die Gültigkeit der früheren Gesetze: "Die Gesetze u. Rechtsgewohnheiten, welche unter dem vorigen Gouvernement die außer der Ehe geschwängerten unzüchtigen u. liederlichen Frauenspersonen einer Strafe unterwarfen, finden noch ihre völlige Anwendung u. sind durch die jetzige Verfaßung keiner Abänderung unterworfen." Der letzte von Hagemann berichtete Fall stammt aus dem Jahr 1823. BÜLOW/HAGEMANN, Practische Erörterungen, Bd. 7, 12. ROPER, Household, 92. Siehe auch oben Anm. 8.

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hen: Im zeitgenössischen Sprachgebrauch wurden Prostituierte wie ledige Mütter gleichermaßen als 'Huren' diskriminiert. Ob eine Frau, die mehrere uneheliche Kinder von verschiedenen Vätern hatte, sich wirklich prostituierte, kann daher nach Lage der Quellen nicht eindeutig entschieden werden. Am häufigsten gingen die Göttinger Behörden gegen die Prostitution vor. Die Intensität der Bekämpfung und die möglicherweise häufige Verbreitung der Prostitution in Göttingen ist auf die Gründung der Universität zurückzuführen. Einerseits war mit den Studenten - zusätzlich zur Garnison 211 - eine größere Gruppe lediger Männer in die Stadt gekommen, die als Klientel für Prostituierte in Frage kamen, andererseits drängten Universitätsbehörden und Landesregierung in Sorge um das Wohl der Studenten die städtischen Institutionen zu einem besonders harten Vorgehen 212 . In den ersten Reskripten, die bald nach der Universitätsgründung ergingen 213 , forderte die Regierung den Göttinger Magistrat auf, alle vier Wochen unangekündigte Razzien gegen Prostituierte vorzunehmen. Die gleiche Anweisung erhielt das benachbarte Amt Harste. Außerdem wurden die städtischen Gerichtsdiener ermächtigt, auch ohne Genehmigung des Amtes eigenmächtig Visitationen in den umliegenden Dörfern durchzuführen 214 . Zwischen 1750 und 1753 forderte die Regierung in allein acht Schreiben den Magistrat zu verstärkten Maßnahmen gegen die Prostitution innerhalb und vor der Stadt auf 215 . Im Dezember 1751 die Universität hatte zuvor einen ausführlichen Bericht eingeschickt 216 - ließen die Geheimen Räte eigens eine Verordnung drucken und durch den Magistrat in der Stadt anschlagen 217 . Darin wurden "Hurerey" und "Kuppeley" mit Gefängnis und Stadtverweisung, beim dritten Mal mit Zuchthaus bedroht. Für die Festnahme eines "liederlich Mensch" wurde "ein gewisses Fanggeld" ausgesetzt 218 . Zusätzlich

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Vgl. dazu PRÖVE, Stehendes Heer, 142f. Zum Zusammenhang von Prostitution und studentischem Leben sowie zum Vorgehen des Universitätsgerichts siehe BRÜDERMANN, Studenten, 386-399. Die Universität handelte in der Sorge um die Verschwendung von Zeit und Geld der Studenten und aus Angst um ihre Gesundheit, ebd., 387. StAGö AA Sicherheitswesen Polizei Nr. 20, Reskript vom 17.2.1748. Daraus geht hervor, daß schon 1736 und 1738 entsprechende Reskripte ergangen waren, die allerdings im Original nicht auffindbar sind. Vgl. BRÜDERMANN, Studenten, 386 Anm. 39. Die Prostituierten hielten sich häufig in den angrenzenden Dörfern, also außerhalb der Gerichtsbarkeit von Universität und Stadt, auf, oder auf hessischem Gebiet, wo sie für die hannoverschen Behörden unerreichbar waren. BRÜDERMANN, Studenten, 392-395. StAGö AA Sicherheitswesen Polizei Nr. 20, Schreiben vom 5.3. und 21.11.1750, 24.11. und 28.12.1751, 1.3.1752, 27.1., 23.5. und 18.6.1753. Vgl. auch BRÜDERMANN, Studenten, 388 Anm. 48, der allerdings das letztgenannte Schreiben nicht erwähnt. BRÜDERMANN, Studenten, 386. SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 1, 274f. Der Magistrat bestätigte am 25.1.1752, die Verordnung der Scharwache und den Unterbedienten zur Publikation übergeben zu haben. StAGö AA Sicherheitswesen Polizei Nr. 20. Ebd. Die Regierung hatte den Magistrat in einem Schreiben vom 21.11.1751 ermächtigt, "denen Unterbedienten disfalls eine Ergötzlichkeit zu versprechen".

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forderte die Regierung den Magistrat auf, über die Einrichtung eines Spinnhauses nachzudenken, um den Transport der Frauen in das Celler Zuchthaus zu ersparen 219 . Dieser Vorschlag scheiterte allerdings ebenso wie die Auszahlung der Belohnungen an der Ablehnung durch die Stadt 220 . Die häufigen Klagen der Universität, die mit radikalen Strafforderungen einhergingen 221 , und die darauffolgenden Anweisungen der Regierung dokumentieren, daß die Maßnahmen des Magistrates weitgehend wirkungslos blieben 222 . Daher wurde nach 1764 der Polizeikommission die Verfolgung der Prostitution übertragen. Diese erhielt 1772 das Recht, ohne Hinzuziehung der Vögte oder Bauermeister in den angrenzenden Ämtern und Gerichten gegen Prostituierte vorzugehen 223 . 1799 wurde gar die Universität selbst autorisiert, in den Dörfern Visitationen abzuhalten, nachdem ihr dies schon 1790 für die Stadt zugestanden worden war 224 . Doch scheint die Prostitution auch durch diese Maßnahmen nicht wesentlich eingedämmt worden zu sein 225 . Auch aus Hannover sind einige Festnahmen von Prostituierten überliefert 226 . In den Kämmereirechnungen der Altstadt ist wiederholt vermerkt, daß sogenannte 'Huren' oder 'liederliche Weibspersonen' an die 'Fiddel', die hölzerne Schandgeige, geschlossen oder der Stadt verwiesen wurden 227 . Zu Beginn des 19. Jahr219 220

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Ebd., Schreiben vom 28.12.1751. Ebd., Ratsprotokoll vom 18.1.1752 und Antwort an die Regierung vom 25.1.1752. Die Stadt verlangte weiter, daß die Belohnungen für die Denunzianten und die Heilungskosten für geschlechtskranke Frauen von der Kammer übernommen werden müßten, was die Regierung am 1.3.1752 zusagte. Am 8.3.1752 berichtete der Magistrat, daß der Gerichtsschulze sich weigere, die Belohnungen ohne ausdrückliche Anweisung der Regierung auszuzahlen, ebd. Danach wurde dieses Thema nicht weiter erwähnt. BRÜDERMANN, Studenten, 390, schließt daraus, daß die Zahlung der Belohnungen scheiterte. BRÜDERMANN, Studenten, 388f. Der Magistrat beschränkte sich darauf, mehrfach die Wachen zu scharfer Kontrolle aufzufordern. StAGö AA Sicherheitswesen Polizei Nr. 20, Ratsprotokoll vom 24.11.1750, Anweisung an die Wache 29.6.1753. Ebd., Schreiben vom 26.8.1772. BRÜDERMANN, Studenten, 397. BRÜDERMANN, Studenten, 390 u. 397. Einige Festnahmen sind überliefert in StAGö AA Sicherheitswesen Polizei Nr. 20. Nach BRÜDERMANN, Studenten, 389 wurden noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts von der Universität Schandstrafen gefordert und auch vollzogen. 1 690 wurde Maria Magdalena Klemmers wegen Prostitution auf fünf Jahre der Stadt verwiesen und mußte in der Urfehde schwören, die Stadt nicht wieder zu betreten. Als sie bald darauf wieder in der Stadt aufgegriffen wurde, mußte sie zwei Stunden am Pranger stehen und wurde anschließend auf ewig der Stadt verwiesen. 1694 wurde sie erneut in Hannover angetroffen, als sie nach eigener Aussage der Straßenprostitution nachging. Nach Einholung eines Gutachtens der Juristischen Fakultät Jena wurde sie wiederum der Stadt verwiesen, nachdem ihr die vorderen Glieder der beiden Finger, mit denen sie die Urfehde geschworen hatte, abgeschlagen worden waren. Eine andere Frau, die 1690 auf dem Wall in Gesellschaft eines Soldaten festgenommen wurde, geriet zumindest in den Verdacht, sich prostituiert zu haben. NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 262. Aufgrund der hohen Strafen dürfte es sich in den meisten Fällen um Prostituierte und nicht um ledige Schwangere oder Ehebrecherinnen gehandelt haben. Einige Frauen waren außerdem an der 'Franzosenkrankheit' (Syphilis) erkrankt. Insgesamt sind zwischen 1700 und 1808 49 solcher Einträge vermerkt. StAH B 6634m-6744g.

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hunderte scheint die Prostitution in Hannover erhebliche Ausmaße angenommen zu haben, denn im Jahr 1807 wurde auf Veranlassung der französischen Armee eigens ein Hospital für geschlechtskranke Prostituierte gegründet 228 . Zum Unterhalt dieser Einrichtung, in der ca. 16 Frauen pro Jahr behandelt wurden, mußten 38 registrierte Prostituierte beitragen, die je nach Vermögensklasse jährlich 2 bis 6 Rtlr. zu entrichten hatten 229 . Daß die Prostitution insgesamt ein großstädtisches Delikt war oder doch zumindest in den Städten härter verfolgt wurde, zeigen auch die Herkunftsorte der Frauen, die wegen 'Hurerei' in Celle eine Zuchthausstrafe absaßen. Von 12 Frauen, die zwischen 1771 und 1799 dort aufgenommen wurden, kamen zehn aus Hannover und eine aus Göttingen. Nur eine Frau war von einem ländlichen Amt eingeliefert worden 230 . Die verhängten Strafen waren recht drastisch und deutlich höher als für dreimalige uneheliche Schwangerschaft 231 . Als besonders schwerwiegend galt der nichteheliche Geschlechtsverkehr, wenn es dabei zu einer Verletzung elementarer gesellschaftlicher oder religiöser Grundsätze kam. Die Entführung einer Frau gegen ihren Willen oder die Vergewaltigung (Notzucht) wurden nach der Carolina mit schweren Strafen belegt. Die vollzogene Vergewaltigung sollte mit der Hinrichtung durch das Schwert gestraft werden, versuchte Vergewaltigung oder Entführung nach den Umständen des Einzelfalles 232 . Die kurhannoversche Gesetzgebung war in diesen Fällen sogar noch schärfer: nach dem Militärrecht sollten nicht nur vollendete Vergewaltigung, sondern bereits der Versuch oder die Entführung einer Frau mit dem Tod durch das Schwert bestraft werden 233 . Verurteilungen wegen Vergewaltigungen scheinen allerdings eher selten gewesen zu sein 234 . Die wenigen verhängten Strafen blieben deutlich unter den Forderungen der Gesetzestexte. Zwischen 1770 228

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NHStA Hann. 52 Nr. 344, Bericht des Generalsekretärs des Allerd£partements an den Innenminister vom 13.2.1811. Demnach sei 1807 "die Zahl der mit venerischen Uebeln behafteten Militairs in dem Hospitale dreyfach größer (...) als die der Fieberkranken, Blessirten und Krätzigen" gewesen. Ebd. JVACe, Verzeichnis der Züchtlinge 1731-1778, 1778-1791 und 1804-1812; NHStA Hann. 86 Celle Nr. 104, Verzeichnis der Züchtlinge 1791-1804. Neben dem Delikt 'Hurerei' existierte auch noch die Bezeichnung 'liederlicher Lebenswandel', dessentwegen weitere 26 Frauen, ebenfalls zum größeren Teil aus Hannover und Göttingen, eine Strafe verbüßten. Unter dieses Delikt fielen aber auch Trunkenheit oder Vagabundieren. Ebd. Die meisten Frauen waren auf unbestimmte Zeit verurteilt worden. Nur eine Frau erhielt eine Strafe von sechs Monaten, die anderen verbrachten zwischen 1,5 und 19 Jahren im Zuchthaus. PGO, 82, Art. 118f. Juristisches Seminar Göttingen, Sammelbände unedierter Landesgesetze, Bd. 2, fol. 103, Kriegs-Recht 1673, § 60; NHStA Cal. Br. 23b Nr. 157, Articuls-Brieff 1699, § 20; CCL, Bd. 2, Cap. III, 1-38, Krieges-Recht 1736, Art. 40; SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 3, 526-554, Krieges-Artikel, Art. 221. Angezeigte Entfuhrungen konnten Uberhaupt nicht festgestellt werden, Vergewaltigungen nur vereinzelt.

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und 1810 verbüßten im Celler Zuchthaus drei Männer wegen versuchter oder vollendeter Vergewaltigung Freiheitsstrafen zwischen einem und zwei Jahren 235 . Im Prozeß gegen einen 21jährigen Ehemann aus Vahrenwald, der 1749 wegen versuchter Vergewaltigung einer Vierzehnjährigen verhaftet worden war, fehlt ein abschließendes Urteil; der Mann wurde jedoch auf Fürbitte seines Vaters gegen die Verpfandung seiner Güter freigelassen 236 . Ein anderer Mann, der 1759 beim Amt Winzenburg von einer Ehefrau angezeigt worden war, wurde nach einem Gutachten der Juristischen Fakultät Erfurt nach Ablegung des Reinigungseides 2 3 7 freigelassen 238 . Der Grund für solche milden Urteile lag in der Schwierigkeit, eine Vergewaltigung zu beweisen, und in der unsicheren sozialen Stellung vor allem lediger Frauen. Wenn eine Klage nicht wie in dem oben geschilderten Fall von der Familie oder von einer einflußreichen Person 239 unterstützt wurde, hatte die Frau kaum Aussicht darauf, daß ihr geglaubt wurde 240 . Oft wurde ihr auch eine Mitschuld unterstellt, die ebenfalls eine Bestrafung nach sich zog 2 4 1 . Außerdem war die Vergewaltigung ein Delikt, das sich meist im engeren Lebensbereich der Frau abspielte 242 ; eine Anzeige unterblieb wahrscheinlich häufig wegen drohender Konflikte in Familie oder Nachbarschaft. Dies gilt zum Teil auch für den Inzest. Die Carolina faßte den Begriff des Inzestes noch nicht so weit wie dies die oben behandelten Eheverbote taten 243 . In der Polizeiordnung von 1618 wurde Blutschande nicht unter allen Umständen mit 235

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JVACe, Verzeichnis der Züchtlinge 1731-1778, 1778-1791, 1804-1812 und 1812-1821; NHStA Hann. 86 Celle Nr. 104 Verzeichnis der Züchtlinge 1791-1804. NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 271. Die Ablegung des Reinigungs- oder Unschuldseides war im gemeinrechtlichen Inquisitionsprozeß eine Möglichkeit für den Angeklagten, trotz eines nicht vollständig ausgeräumten Verdachts, aber bei mangelndem Geständnis einen Freispruch zu erlangen. Genauer Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte, hg. von Adalbert ERLER und Ekkehard KAUFMANN, Bd. 4, Berlin 1990, , 837-840, Art. "Reinigungseid". NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5388. In einem dem hildesheimischen Amt Steuerwald 1748 angezeigten Fall klagte die Äbtissin des evangelischen Damenstiftes in Gandersheim für das Opfer. NHStA Hild. Br. 6 Nr. 96. 1646 wurde einer Frau, die behauptete, von schwedischen Reitern vergewaltigt worden zu sein, unterstellt, von ihrem Vetter schwanger zu sein, mit dem sie früher schon einmal Beischlaf hatte. NHStA Celle Br. 61a Nr. 5386, "Memoriale bei dem Landgerichte zu Ilten, in den Freyen". Auch in Nördlingen waren die Strafen für Vergewaltigung vergleichsweise milde, vgl. FELBER, Unzucht, 84f. Daß Vergewaltigungen im frühen 17. Jahrhundert überhaupt nur dann bestraft wurden, wenn sie zum öffentlichen Skandal geworden waren, betont Martin DINGES, Stadtarmut in Bordeaux. Alltag-Politik-Mentalitäten ( = Pariser historische Studien; 26), Bonn 1988, 153. 1814 wurde vom Amt Harste eine Frau, die ganz offensichtlich von ihrem Vater mit Gewalt zum Beischlaf gezwungen worden war, zu fünf Jahren Zuchthaus mit anschließender Verweisung aus ihrem Wohnort verurteilt. NHStA Hann. 26a Nr. 7098. Von Bestrafungen von Vergewaltigungsopfern berichten auch BECKER, Leben und Lieben, 292, und FELBER, Unzucht, 86. Etwa bei Vergewaltigungen von Mägden durch ihre Dienstherren. Siehe dazu Kap. III, Abschnitt 2.3. Die Carolina spricht von Unzucht eines Mannes mit seiner Stieftochter, Schwiegertochter oder Stiefmutter "vnd noch nehern sipschafften". PGO, 81, Art. 117.

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Hinrichtung bedroht 244 . Auch die hannoverschen Militärgesetze gingen von einer engen Definition von Blutschande aus. Nachdem sie in den "Articulsbriefen" von 1673 und 1699 gar nicht erwähnt wurde, stellte derjenige von 1736 den Inzest in direkter auf- oder absteigender Linie, also zwischen Eltern und Kindern, unter Todesstrafe; Inzest zwischen Geschwistern aber sollte "mit der Straffe der Vestung, des Zucht-Hauses oder sonsten mit schwerer Leibes-Strafe beleget werden" 245 . 1790 wurden diese Strafen nochmals bestätigt246. Inzestdelikte wurden zwar relativ häufig verfolgt, die Todesstrafe wurde aber nur selten vollzogen 247 . Hier ist nur ein Fall bekannt: Um 1700 wurde in Celle eine Frau, die von ihrem Neffen ein Kind empfangen hatte, mit dem Schwert hingerichtet; der Grund für die Todesstrafe dürfte aber eher die gleichzeitig verhandelte Tötung des Kindes gewesen sein 248 . Der Neffe wurde zu zwei Jahren 'ad operas publicas' (Zwangsarbeit) begnadigt249. Etwa zur selben Zeit wurden ein Mann und eine Frau wegen Blutschande und Ehebruchs für ewige Zeit des Landes verwiesen, 1706 noch einmal eine Frau, nachdem sie zuvor eine Stunde mit auf den Rücken gebundenen Ruten an den Schandpfahl gestellt worden war 250 . Am härtesten wurde wohl der Inzest zwischen Vätern und Töchtern bestraft. Hans Mügge, der seiner Tochter beigewohnt haben sollte, wurde 1693 in Hildesheim der Folter unterzogen; da er aber die Tat weiter leugnete, dürfte er Aussicht gehabt haben, der Todesstrafe zu entgehen251. Im Jahr 1814 wurde ein Mann wegen erzwungenen Beischlafs mit seiner Tochter von der Justizkanzlei Hannover zum Tod verurteilt, dann aber zu einer lebenslänglichen Festungsbaustrafe begnadigt252. Auch die Aufnahmelisten des Celler Zuchthauses, wo zwischen 1760 und 1815 insgesamt 65 Personen eine Strafe wegen eines Inzestdeliktes verbüßten253, zeigen, daß der Geschlechtsverkehr zwischen Vätern und Töchtern am härtesten bestraft wurde. Von fünf zu lebenslänglicher Haft verurteilten Männern hatten drei ihrer leiblichen Tochter beigewohnt, die beiden anderen hatten sich zusätzlich zur 244 245 246 247

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CCL, Bd. 3, Cap. III, 16. Ebd., 1-38, Krieges-Recht 1736, Art. 42. SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 3, 526-554, Krieges-Artikel, Art. 220. Zur Verfolgung von Blutschande vgl. auch van DÜLMEN, Kultur und Alltag, Bd. 2, 267f.; B E C K E R , Leben und Lieben, 289-293. StACe 12 B Nr. 63, IV. Die Frau war zunächst zur üblichen Strafe für Kindsmörderinnen, nämlich zum Tod durch Ertränken, verurteilt worden; diese wurde dann aber in die Hinrichtung mit dem Schwert abgewandelt. Ebd. Eigentlich sah das Urteil Staupenschlag und Landesverweisung vor. Ebd. StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 154. Das Urteil fehlt in diesem Fall, aber gewöhnlich wurde ein Delinquent, wenn er auch unter der Folter nicht gestand, freigelassen oder milde bestraft. NHStA Hann. 26a Nr. 7098. Davon 45mal Blutschande und 20mal Blutschande in Verbindung mit Ehebruch. Die Verurteilten waren in der Mehrzahl Frauen (51), da hauptsächlich Frauen zum Zuchthaus verurteilt wurden, während die Männer, wenn sie kräftig genug waren, Zwangsarbeit leisten mußten.

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Blutschande weiterer schwerwiegender Vergehen schuldig gemacht. Auch unter den Frauen wurden diejenigen, die mit ihrem Vater Geschlechtsverkehr hatten, besonders rigide bestraft. Soweit sich der Verwandtschaftsgrad der Delinquenten ermitteln läßt, war der Beischlaf zwischen Vätern und Töchtern das häufigste Inzestdelikt (acht Frauen, fünf Männer). Die Hintergründe werden aus den Zuchthauslisten nicht deutlich. In den drei Fällen von Inzest zwischen Vätern und Töchtern, die aus Akten ermittelt werden konnten, hatten zwei Väter ihre Töchter zum Geschlechtsverkehr gezwungen 254 , in dem dritten Fall dagegen scheinen Vater und Tochter in einem eheähnlichen Verhältnis gelebt zu haben 255 . Auch bei Nötigung oder Gewaltanwendung durch den Vater wurden die Töchter bestraft; aus den fünf Fällen, in denen Vater und Tochter nach Celle gebracht wurden, geht allerdings hervor, daß entgegen der sonst üblichen Schuldzuweisung die Väter durchweg härter bestraft wurden 256 . Der Grund dafür dürfte die Verletzung der als 'natürlich' geltenden väterlichen Pflichten gewesen sein. Außerdem gab es Verurteilungen wegen Beischlafs zwischen Stiefvater und Stieftochter (3), Stiefmutter und Stiefsohn (2), Onkel und Nichte, Tante und Neffe (je eine). Die Strafen waren in diesen Fällen deutlich niedriger 257 . In zehn Fällen handelte es sich nicht um Blutsverwandte, sondern um Schwager und Schwägerin. Auffallenderweise war die Hälfte der Frauen verwitwet, die Ehe als verwandtschaftliches Bindeglied bestand also nicht mehr 258 . Allerdings waren auch die Strafen vergleichsweise gering - meist nicht mehr als sechs Monate Haft - und überstiegen nicht wesentlich die Strafen für Ehebruch oder Unzucht. Für die Verbindung einer Witwe mit ihrem unverheirateten Schwager oder Stiefsohn konnten materielle Interessen ausschlaggebend sein, etwa die gemeinsame Weiterführung einer Hofstelle. Möglicherweise bestand aber nicht einmal in allen

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StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 154; NHStA Hann. 26a Nr. 7098. In beiden Fällen waren es die Töchter, die ihren Vater anzeigten. In dem zweiten Fall weisen die Angaben der Frau eindeutig auf Gewaltanwendung des Vaters hin. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5510. Dem Amtmann von Winzenburg wurde 1713 angezeigt, daß es sich bei einem vermeintlichen Ehepaar in Wirklichkeit um Vater und Tochter handelte. Es stellte sich heraus, daß der Mann, ein 73jähriger ehemaliger Tagelöhner, Viehhirte und Bettler, bereits 1709 wegen Blutschande aus dem hessischen Amt Schaumburg verwiesen worden war. Nach mehreren Verhören gestanden die beiden, damals ein Kind gehabt zu haben, leugneten aber, seitdem weiterhin sexuelle Kontakte gehabt zu haben. Auch FELBER, Unzucht, 81, stellt fest, "daß die Deszendenten milder oder erheblich milder bestraft wurden als die Aszendenten." Daß sie überhaupt bestraft wurden, verwundert Felber allerdings nicht; er scheint vorauszusetzen, daß der Beischlaf auch von Seiten der Kinder durchweg freiwillig geschah. Der einzige Mann erhielt zwölf Jahre, die Frauen zwischen sechs Monaten und sechs Jahren Zuchthausstrafe. Der Verkehr zwischen Verschwägerten galt nach § 173 StGB noch bis 1973 als Blutschande, jedoch nur, wenn die Ehe zum Zeitpunkt der Tat noch bestand.

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genannten

Fällen

ein

sexuelles

Verhältnis,

sondern

Zusammenleben im Haus erregte den Verdacht des Inzestes

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das

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enge

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Das am unerbittlichsten geahndete Sexualdelikt war die sogenannte Sodomie 2 6 0 . Mit diesem Strafbestand, der zwar in keinem kausalen Zusammenhang mit dem Problem unversorgter Kinder stand, für das Verständnis des umfassenden Anspruchs frühneuzeitlicher Sittengesetzgebung aber unerläßlich ist, waren alle nicht-heterosexuellen Handlungen gemeint, gleichgeschlechtliche Beziehungen ebenso wie sexuelle Handlungen mit Tieren. Homosexualität wurde ebenso wie Bestialität als schweres Verbrechen gegen die göttliche Natur empfunden und entsprechend geahndet 261 . In der Carolina waren diese Handlungen unter dem Titel "unkeusch, so wider die natur beschicht" 262 zusammengefaßt und mit dem Tod durch Verbrennen bedroht worden 263 . Die hannoverschen Militärgesetze stellten noch 1736 "Sodomiterey oder abscheuliche Unkeuschheit wider die Natur" 264 unter die Strafe des Verbrennens. Erst die erneuerten "Krieges-Artikel" von 1790 milderten die Strafe für "unnatürliche Unzucht" insofern, als sie alternativ zur Todesstrafe lebenslange Zwangsarbeit (Karrenstrafe) empfahlen 265 . Trotz der scharfen Gesetze scheint die Bestrafung von Homosexualität und Bestialität eher selten gewesen zu sein, zumal letztere nur durch Anzeige Dritter zur Kenntnis der Obrigkeiten gelangen konnten 266 . 259

1753 geriet im hildesheimischen Dorf Borsum eine siebenundzwanzigjährige Witwe in den Verdacht der Blutschande mit ihrem Stiefsohn, einem hannoverschen Musketier. Da beide leugneten, wurde das Verfahren schließlich eingestellt. Der Musketier vermutete eine Intrige seines Schwagers, die die Stiefmutter aus dem Haus entfernen sollte, da der Vorschlag, daß der Musketier bei seiner Stiefinutter im Bett nächtigen solle, auf den Schwager zurückging. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5711, fol. 17-39. 260 Vgl. van DÜLMEN, Kultur und Alltag, Bd. 2, 268f. 261 Ebd., Bd. 1, 195. 262 PGO, 81, Art. 116. 263 Ebd.: "Item so eyn mensch mit eynem vihe, mann mit mann, weib mit weib, unkeusch treiben, die haben auch das leben verwürckt, vnd man soll sie der gemeynen gewonheyt nach mit dem fewer vom leben zum todt richten." 264 CCL, Bd. 2, Cap. III, 1-38, Krieges-Recht 1736, Art. 43. 265 SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 3, 526-554, Krieges-Artikel 1790, Art. 222. 266 vgl. auch FELBER, Unzucht, 91, und van DÜLMEN, Theater des Schreckens, 190-193. Über Homosexualität in der frühen Neuzeit ist wenig bekannt. Einen kulturhistorischen Überblick über Homosexualität und Christentum bis zum Mittelalter liefert James BOSWELL, Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality, New York 1981. Ganz allgemein zu Homosexualität und Bestialität auch LASLETT, Lebenswelten, 190f. Ein Fall einer Anzeige von Bestialität mit einem Pferd ist aus dem Hildesheimischen überliefert, NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 777. In einer Sammlung von Rechtsfällen aus dem 18. Jahrhundert werden unter insgesamt 110 Kriminalprozessen vier Fälle von Bestialität mit Pferden genannt, von denen drei mit der Hinrichtung des Täters und einer mit einer Landesverweisung endeten. H[ieronimusl W[iegand] von LfAFFERT], Vermehrte Relationes et Casus Criminales cum Rationibus Dubitandi et Decidendi Imgleichen einigen dazugehörigen Königl. Chur- und Fürstlichen Rescriptis sambt anderen Beylagen und zugefügten Urtheilen, hg. von A.F. von L[affert], Celle 1721. Eine andere Sammlung enthält sogar nur einen Fall von Bestialität. Christian Friedrich Georg MEISTER, Rechtliche Erkenntniße und Gutachten in peinlichen Fällen, größten Theils im Namen der Göttingischen Juristen-Fakultät ausgearbeitet, Bd. 1, Göttingen und Kiel 1771, 96-99. Dagegen meint van DÜLMEN, Kultur und Alltag, Bd. 2, 268, Bestia-

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Der Härte der Strafandrohungen nach zählten Homosexualität, Inzest und Vergewaltigung zu den am stärksten geächteten Sexualdelikten. Die Kriminalisierung durch die obrigkeitliche Gesetzgebung erstreckte sich aber auf alle Formen nichtehelichen Geschlechtsverkehrs, zum Teil sogar auf Geschlechterkontakte, die nicht zum Beischlaf führten. In der Anwendung der Sexualgesetzgebung erwies sich gerade die verhältnismäßig milde bestrafte Sexualität zwischen Ledigen als Hauptziel obrigkeitlicher Reglementierung. Die Strafen trafen in ihrer ganzen Härte vor allem die Frauen: Sie wurden nicht nur infolge der Schwangerschaft häufiger bestraft als Männer, sondern gerieten schnell in den Ruf einer 'Hure' und hatten bei wiederholter unehelicher Niederkunft erhebliche Strafverschärfungen zu erwarten. Diese Diskriminierung lediger Mütter fand ihre Fortsetzung in der rechtlichen Benachteiligung unehelicher Kinder.

4.

Rechtliche Auswirkungen auf die Kinderversorgung

Die obrigkeitliche Reglementierung des Ehe- und Familienlebens in der frühen Neuzeit machte bei der Geburt der Kinder nicht halt. Der Geburtsvorgang selbst 267 , besonders das Hebammenwesen, unterlag genauso der obrigkeitlichen Aufsicht wie das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern und das Erbrecht 268 . Entsprechend den Zielen der Ehe- und Unzuchtsgesetzgebung waren uneheliche Kinder in den Rechten gegenüber ihren Eltern im Vergleich zu ehelichen Kindern deutlich benachteiligt 269 . Diese Nachteile bestimmten das Leben unehelicher Kinder von Anfang an. Ihre materielle Versorgung war besonders gefährdet, weil ledige Frauen aufgrund der aus der Sittengesetzgebung resultierenden moralischen

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lität habe "in der ländlichen Gesellschaft fast zum alltäglichen Leben" gehört, wobei er sich auf Fälle aus der Schweiz beruft. Hier schiene es mir angebracht, genauer nach den Anzeigen, den dahinterstehenden Personen und Interessen zu fragen. Für die Wiedereingliederung soeben entbundener Frauen in die Gemeinde und die Taufe gab es genaue Vorschriften. Nach den Kirchenordnungen von 1S69 und 1643 sollten 'Kindbetterinnen' nach sechs Wochen zur Kirche gehen; Paten und Hebammen mußten ehrbare Leute sein, die Taufe bald nach der Geburt erfolgen und die Nottaufe auf echte Notfalle beschränkt bleiben. CCC, Bd. 1, Cap. I, 140-146; CCL, Bd. 1, Cap. I, 45-52. Eine weitere Verordnung zur Wiederzulassung der 'Kindbetterinnen' erging 1663. CCL, Cap. I, 441-444. Gastmähler anläßlich von Taufen wurden untersagt. Ebd., 52, außerdem CCC und CCL, passim. Kinder wurden zur Folgsamkeit gegenüber ihren Eltern aufgerufen und Ungehorsam mit strengen Strafen bedroht. Kirchenordnung von 1569, CCC, Cap. I, 280; Polizeiordnung von 1618, CCL, Bd. 3, 16. 1735 wurde eigens eine Verordnung angeschlagen und verlesen, die widerspenstigen Kindern mit Zuchthaus und Zwangsarbeit drohte (Königliches Edikt vom 30.11.1735. CCC, Bd. 2, Cap. II, 821f.; CCL, Bd. 2, Cap. II, 790f.) Diese Verordnung war noch 1802 in Kraft (SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 4.1, 268f., Landesherrliches Postskript an die Justizkanzlei Celle vom 22.5.1802). SCHUBART-FIKENTSCHER, Die Unehelichen-Frage, bes. 100-124; HARMS-ZIEGLER, Illegitimität und Ehe, 25-54.

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Verdächtigungen oft große Schwierigkeiten hatten, den Vater des Kindes zu Unterhaltszahlungen heranzuziehen 270 . Aus demselben Grund waren die Aussichten auf einen späteren Nahrungserwerb für uneheliche Kinder ungleich schlechter, da ihnen der Zugang zum zünftigen Handwerk und das Bürgerrecht verwehrt waren 271 . Besonders hart von moralischer Diskriminierung betroffen und daher von Unterhaltsansprüchen gemeinhin ausgeschlossen waren Kinder, die einem Ehebruch, einer Vergewaltigung oder einer inzestuösen Beziehung entstammten 272 . Abgesehen von den rechtlichen Folgen spürten die Kinder die moralische Diffamierung auch im alltäglichen Leben, etwa indem sie den Spott ihrer Altersgenossen erdulden mußten 273 . Unübersehbares Zeugnis für die Benachteiligung unehelicher Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft war ihre überproportional hohe Sterblichkeit 274 . Selbst im Tod noch wurden uneheliche Kinder und ihre Mütter diskriminiert. Die Ämter um Göttingen wurden seit den 1740er Jahren angewiesen, die Leichen "unzüchtiger Weibspersonen und deren unehelicher Kinder" 275 ebenso wie die von Verurteilten und unbekannten Bettlern nach Göttingen zur Anatomie schaffen zu lassen. 1814 wurde diese Anweisung erneuert, mit dem Argument, "daß es dem anatomischen Theater zu Göttingen oftmals an Cadavern fehlt" 276 . Die Verweigerung des üblichen Begräbnisses wurde von Betroffenen selbst und auch von den örtlichen Obrigkeiten als erhebliche Zurücksetzung empfunden 277 . In Ausnahmefallen konnten uneheliche Kinder nachträglich legitimiert werden, z.B. durch den Prorektor der Göttinger Universität, der durch ein kaiserliches Privileg dazu berechtigt war 278 . Mit der Aufklärung wuchs die Kritik an der Be270

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Beispiele oben und Kap. III, Abschnitt 3.3. Vgl. auch ELLRICHSHAUSEN, Mutterschaft, 116f. Zur Entstehung der Unehrlichkeit durch uneheliche Geburt vgl. Emst SCHUBERT, Mobilität ohne Chance: die Ausgrenzung des fahrenden Volkes, in: Winfried SCHULZE (Hg.), Ständische Gesellschaft und Mobilität ( = Schriften des Historischen Kollegs; Kolloquien; 12), München 1988, 113-164, hier 118-124; weiter SCHUBART-FIKENTSCHER, Die Unehelichen-Frage, 102f.; ELLRICHSHAUSEN, Mutterschaft, 90f. In Hildesheim erhielten nur eheliche Kinder das Bürgerrecht. GEBAUER, Hildesheim, Bd. 2, 173. SCHUBART-FIKENTSCHER, Die Unehelichen-Frage, 69; ELLRICHSHAUSEN, Mutterschaft, 115f. C.W. von HAGEN, Die Unehelichgebohrenen oder Gründe zum Beweise der Unrechtmässigkeit der bisher gewöhnlichen Verachtung derselben, o.O. 1803, 9. Vgl. Kap. VI, Abschnitt 3.1. NHStA Cal. Br. 23b Nr. 232, Regierungsausschreiben vom 31.12.1773. Der erste Beleg einer solchen Aufforderung stammt von 1744. NHStA Hann. 74 Göttingen K Nr. 416. HAGEMANN, Sammlung 1814, 256-258. NHStA Hann. 74 Göttingen K Nr. 416, Schreiben des Amtes Harste vom 16.4.1744 und Schreiben des Pfarrers von Lenglern von 1765. Beispiele für die Auslieferung der Leichen von hingerichteten Frauen ebd., und bei HOOF, Kindsmordvorgänge, 70. CCC, Bd. 1, Cap. I, 710-713, Privilegia Caesarea Academiae Georgiae Augustae, hier 710. Dieses Privileg wurde am 7.12.1736 vom Kurfürsten bestätigt. CCC, Bd. 1, Cap. I, 713-733, hier 715. Ein Beispiel ist die sogenannte Reinwaschung der Juliane Fahse aus Göttingen durch den Prorektor Prof. Staeudlin am 21.8.1817, durch die auch das noch ungeborene Kind legitimiert wurde. UAGö 31 Nr. 122. Zahlreiche weitere Fälle befinden sich in UAGö Universi-

Zusammenfassung

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nachteiligung unehelicher Kinder 279 . Der nicht verwirklichte Entwurf für ein hannoversches Landrecht von Friedrich Esajas Pufendorf (1768-1772) sah vor, daß Kinder ohne Zuziehung des Vaters um Legitimation nachsuchen können sollten, ohne daß damit allerdings eine völlige Gleichstellung mit ehelichen Kindern erreicht werden sollte. Kinder aus ehebrecherischen und inzestuösen Verhältnissen sollten weiterhin von dieser Regelung ausgenommen bleiben 280 . Eine Verbesserung war sicherlich der Vorschlag, daß der von der Frau angegebene Vater, wenn er nachweislich mit ihr Beischlaf gehabt hatte, in jedem Fall für den Unterhalt des Kindes aufkommen sollte, auch wenn er noch weitere Männer als mögliche Väter angab 281 . Das französisch-westphälische Recht brachte keine wesentlichen Verbesserungen für die Rechtsstellung unehelicher Kinder. Zwar sollte bei einer späteren Ehe automatisch die Legitimierung erfolgen, Kinder aus ehebrecherischen oder blutschänderischen Beziehungen waren aber wiederum ausgenommen 282 . Selbst von ihren Vätern anerkannte uneheliche Kinder blieben nach wie vor beim Erbrecht benachteiligt283. Gleichzeitig enthielt das französische Recht noch eine deutliche Verschlechterung der Versorgungsbedingungen unehelicher Kinder durch das Verbot der "recherche de la paternité". Fortan durften die Behörden nicht mehr den Vater eines nichtehelichen Kindes ausfindig machen, was Alimentationsklagen der Mütter unmöglich machen und so die wirtschaftliche Lage von Mutter und Kind weiter verschlechtern konnte 284 . Zeitgenössische Beobachter vermuteten daher eine zunehmende Belastung des öffentlichen Armenwesens durch uneheliche Kinder 285 .

5.

Zusammenfassung

Sexualität, Partnerwahl und Fortpflanzung der Bevölkerung gerieten während der frühen Neuzeit zunehmend unter den Einfluß obrigkeitlicher Reglementierung. Ziel dieser Sittengesetzgebung waren eine materiell abgesicherte Bevölkerungsretätsgericht D Nr. LIX. Vor der Gründung der Göttinger Universität wurde der Amtmann von Fallersleben angewiesen, sich wegen einer Legitimierung an die Universität Helmstedt zu wenden. NHStA Celle Br. 61a Nr. 4188, Schreiben der Geheimen Räte vom 27.6.1703. Zum Legitimierungsprivileg der Universität Halle vgl. auch SCHUBART-FIKENTSCHER, Die Unehelichen-Frage, 31. 279 Hier ist vor allem die Schrift von HAGEN, Die Unehelichgebohrenen, zu nennen. Vgl. auch SCHUBART-FIKENTSCHER, Die Unehelichen-Frage, passim. 280 PUFENDORF, Entwurf, 31, Titul 3, § 16; 39f., Titul 12, § 3; 198, Titul 85, § 9. 281 PUFENDORF, Entwurf, 159, Titul 75, § 2. 282 Code Napoléon, 74. 283 Ebd., 76. 284 Vgl. Werner SCHUBERT, Französisches Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Zivilrecht, Gerichtsverfassungsrecht und Zivilprozeßrecht, Köln 1977, 468-473. 285 NHStA Hann. 52 Nr. 1168, Vorschlag des Göttinger Superintendenten Arnold Wagemann vom März 1809 betreffs des Armenwesens.

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Sicherung familialer Kinderversorgung?

Produktion und die Bindung der Fortpflanzung an die Erhaltung und geregelte Weitergabe von Eigentum 286 . Eine Schlüsselrolle spielte daher die obrigkeitliche Beschränkung der freien Fortpflanzungswahl durch das Ehegebot. Bereits die christliche Privilegierung der Ehe hatte ihren Ursprung außer in ihrer geistlichen Bedeutung vor allem in der Tatsache, daß sie moralisch wie ökonomisch als der sicherste Rahmen für die Fortpflanzung und die Kindererziehung erschien 287 . In Ergänzung zur Beaufsichtigung von Eheschließung und Eheleben diente die weltliche Sittengesetzgebung der Verfolgung aller vom Ehegebot abweichenden Formen von Sexualität. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts intensivierten die Obrigkeiten ihre Bemühungen um die Fortpflanzungskontrolle; Sitten- und Sexualdelikte wurden von den landesherrlichen Behörden mit aller Schärfe geahndet. Um die unkontrollierte Fortpflanzung und die Geburt von Kindern zu verhindern, deren Versorgung als nicht ausreichend gesichert erschien 288 , wurden zudem immer weitere Ehehindernisse errichtet, zunächst für Dienstboten und Soldaten, später dann für alle besitzlosen Bevölkerungsgruppen. In diesem Sinn erwies sich die Heiratsgesetzgebung "als einschneidende Verkürzung von Sozialhoffnungen unterer Schichten" 2 8 9 . Die Ausweitung der Ehehindernisse war Ausdruck eines Wandels der obrigkeitlichen Gesetzgebung, fort von einer religiös-sittlichen hin zu einer weltlich-rationalen Begründung290. Damit einher ging die langfristige Lockerung der Sittengesetze: Dies begann mit einer Entschärfung einzelner Delikte wie Bigamie oder dreimaliger unehelicher Schwangerschaft und betraf schließlich die gesamte Strafverfolgung im sittlichen Bereich. In der frühneuzeitlichen Sittengesetzgebung gelangte allerdings "eher das Gewollte" 291 zum Ausdruck; die Maßnahmen waren "nicht auf die tatsächlichen Wirkungen abgestimmt, sondern davon losgelöst" 292 . Selbst wenn die strengen Gesetze auf der einen Seite von nichtehelichen Kontakten abschrecken konnten, wurden solche Beziehungen doch auf der anderen Seite durch die zunehmenden Ehehindernisse noch befördert. Schon Zeitgenossen sahen in der restriktiven Heiratsgesetzgebung einen Grund für den Anstieg unehelicher Geburten 293 . Damit 286

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Erbvorgang und Erbregelungen wurden in zahlreichen Gesetze genau festgelegt, vgl. CCC und CCL, passim. Dieser Gedanke spielte schon bei Thomas von Aquin eine wichtige Rolle. Vgl. SCHWAB, Ehegesetzgebung, 35. Damit verbunden war auch die Bindung des Erbes an die Ehelichkeit der Kinder und die erbrechtliche Benachteiligung illegitimer Nachkommen. Nur sehr wohlhabende Leute waren in der Lage, auch uneheliche Kinder ausreichend zu versorgen. SCHUBERT, Mobilität, 163f. Vgl. SCHWAB, Ehegesetzgebung, 125ff., 196ff. Ebd. ELLRICHSHAUSEN, Mutterschaft, 87. HAGEN, Die Unehelichgebohrenen, 47f. Diese Auffassung vertritt auch SCHUBERT, Soziale Randgruppen, 337.

Zusammenfassung

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aber hatte die Gesetzgebung vor allem zur Folge, daß Kinder, die außerhalb der Ehe zur Welt kamen, durch die wirtschaftliche Unsicherheit nichtehelicher Beziehungen, die strafrechtliche Verfolgung und soziale Diskriminierung lediger Mütter und nicht zuletzt ihre eigene rechtliche Benachteiligung besonders schlechte Aussichten auf eine gesicherte familiale Versorgung hatten und daher eher als andere Kinder auf die Hilfe der Öffentlichkeit angewiesen waren.

Kapitel III

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht: Kindsmord und Kindesaussetzung

Die krassesten Formen kindlicher Versorgungslosigkeit waren die Tötung oder Aussetzung des Kindes. Diese Handlungsweisen nahmen in der obrigkeitlichen Auseinandersetzung mit der Kinderversorgung einen besonderen Stellenwert ein, da sie der christlich fundierten Ethik der frühen Neuzeit grundlegend zuwiderliefen und deshalb unnachgiebig verfolgt wurden. Im folgenden werden die Verbreitung dieser Handlungsweisen in der frühneuzeitlichen Bevölkerung, ihre Hintergründe und ihre Bewertung durch Gesellschaft und Obrigkeit untersucht.

1.

Geburtenkontrolle oder individuelle Konfliktsituation? Einige Vorüberlegungen

Seit Thomas Robert Malthus sind die Tötung und Aussetzung von Kindern parallel zur Abtreibung immer wieder als Strategien der Geburtenkontrolle gedeutet worden 1 . Diese pauschale, für unterschiedliche Kulturen wie historische Epochen gleichermaßen angewandte Interpretation2 ignoriert oder unterschätzt freilich die "Eingebundenheit in kulturelle und soziale Gesamtzusammenhänge" 3 , zu denen die Situation der Täter(innen) in der Gesellschaft genauso gehört wie die gerade während der frühen Neuzeit sich nachhaltig verändernde moralische und strafrechtliche Beurteilung der einzelnen Taten 4 . Die unnachgiebige Verfolgung von Abtreibung, Kindestötung und Aussetzung in der frühen Neuzeit ist untrennbar mit der Ausbildung des neuzeitlichen Strafrechts verbunden. Obgleich die kirchliche Auffassung von der Schutzwürdigkeit neugeborenen und ungeborenen Lebens5 nicht erst zu Beginn der frühen Neuzeit 1

2

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Vgl. Judith SCHULER, Infantizid - Biologische und soziale Aspekte. Eine Untersuchung anhand von Fallbeispielen aus Neuguinea, unveröff. Diss. phil. Göttingen 1992, 2ff. (im Druck). Ebd., 188ff. - In der historischen Forschung ist diese Ansicht vertreten worden u.a. von FLANDRIN, L'attitude, 161 und 163; PFEIL, Das Kind als Objekt der Planung; John R. GILLIS, Die Geschichte der Jugend, Weinheim und Basel 1980 (Orig.: Youth and History, New York 1974), 32; SCHULTE, Dorf, 63. SCHULER, Infantizid, 68. Vgl. ULBRICHT, Kindsmord, 21. Ein männlicher Fötus galt spätestens ab dem 40., ein weiblicher ab dem 80. Tag als beseelt. LThK, Bd. 2, Sp. 294, Art. "Beseelung". Zur Diskussion um den Beseelungszeitpunkt in der frühen Neuzeit Esther FISCHER-HOMBERGER, Medizin vor Gericht. Gerichtsmedizin von der Renaissance bis zur Aufklärung, Bern usw. 1983, 268-272.

Geburtenkontrolle oder individuelle Konfliktsituation

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entstand und sich auch zuvor immer wieder Mütter oder Eltern ihrer Kinder entledigt hatten 6 , wurde doch die obrigkeitliche Verfolgung erst ab der Mitte des 16. Jahrhunderts erheblich intensiviert 7 . Voraussetzung dafür waren die oben beschriebene Übernahme christlicher Anschauungen in das weltliche Strafrecht 8 und eine "Verherrschaftlichung" 9 und Vergesellschaftung des Rechts, die eine private Klage, die bei diesen Delikten eher unwahrscheinlich war, unnötig und eine Strafverfolgung "von ampts wegen" 10 möglich machten. In der Carolina wurde 1532 die rechtliche Grundlage für Verfolgung von Kindestötung (Art. 131), Kindesaussetzung (Art. 132) und Abtreibung (Art. 133) für die folgenden 250 bis 300 Jahre geschaffen 1 1 . Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts beanspruchte vor allem die Kindsmordproblematik öffentliches Interesse und wurde "Gegenstand einer ganz bedeutenden Debatte" 12 der deutschen Spätaufklärung. Die Auseinandersetzung mit dem Thema erreichte ihren Höhepunkt, als auf die 1780 von dem Mannheimer Regierungs- und Oberappellationsrat von Lamezan (1741-1817) 1 3 gestellte Preisfrage: "Welches sind die besten ausführbaren Mittel, dem Kindermorde Einhalt zu tun?" über 385 Abhandlungen eingingen 14 . Etwa zur gleichen Zeit, in der sich diese Schriften mit den gesellschaftlichen und rechtlichen Ursachen des Kindsmordes auseinandersetzten und eine Reform des Strafrechts forderten, entdeckte die schöne Literatur das Thema 15 . Abtreibung und Kindesaussetzung fanden dagegen nur wenig Beachtung. Zwar wurde am Ende des 18. Jahrhunderts auch

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Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 8 und 62; JEROUSCHEK, Lebensschutz und Lebensbeginn, 128ff.; John BOSWELL, The Kindness of Strangers: The Abandonment of Children in Western Europe from Late Antiquity to the Renaissance, New York 1989, passim, bes. 430; HUNECKE, Findelkinder, 11. Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 9. Dies gilt auch für England, wo Kindsmord erst unter Elisabeth I. zu einem wichtigen Delikt für die königlichen Behörden wurde, und Frankreich. Vgl. Peter C. HOFFER und N.E.H. HULL, Murdering Mothers, Infanticide in England and New England 1558-1803, New York und London 1981, 3; FLANDRIN, L'attitude, 161f. Zur Verfolgung der Kindestötung in den englischen Kolonien vgl. HOFFER/HULL, Murdering Mothers; Ann JONES, Frauen die Töten, Frankfurt a.M. 1986 (Orig.: Women Who Kill, New York 1981), 62ff. JEROUSCHEK, Lebensschutz, 135; van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 9. Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 7. PGO, 52, Art. 46. Im Mittelalter dagegen war die Klage Voraussetzung für eine Strafverfolgung. JEROUSCHEK, Lebensschutz, 131; Gustav RADBRUCH, Zur Einführung in die Carolina, in: PGO, 5-23, hier 5f. Differenziert dazu RÜPING/SELLERT, Strafrechtspflege, Bd. 1, 207. JEROUSCHEK, Lebensschutz, 8. Zur Einführung der Carolina vgl. Kap. I, Abschnitt 2.3. ULBRICHT, Reformvorschläge, 121. Genauere Angaben zur Person Lamezans macht ULBRICHT, Kindsmord, 219. Zu den eingeschickten Antworten müssen noch einige, die vor der Entscheidung veröffentlicht wurden, hinzugerechnet werden. Die Resonanz auf diese Preisfrage (Lamezan hatte 100 Dukaten für die beste Antwort ausgesetzt) war im Vergleich mit anderen Preisaufgaben außergewöhnlich lebhaft. ULBRICHT, Kindsmord, 217f. WEBER, Kindsmörderin, 18ff., nennt insgesamt 14 Bearbeitungen des Kindsmordmotivs.

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Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

über Findelhäuser diskutiert, jedoch vorrangig im Zusammenhang mit dem Kindsmord und als Vorbeugemaßnahme gegen diesen 16 . Entspricht die perspektivische Verengung auf die Kindestötung der tatsächlichen Verbreitung der Tat, oder ist sie vielmehr das Produkt einer einseitigen Wahrnehmung? In der Realität scheinen die verschiedenen Tatbestände nahe beieinandergelegen zu haben. Über die 29jährige Magdalena Margaretha Casparus, die 1775 in Hildesheim wegen des Verdachts der Kindesaussetzung festgenommen wurde, erzählte eine andere Frau, die mit der Verdächtigen im selben Haus lebte: "Sie habe von Anfang mit dem Kinde nichts gutes im Sinne gehabt, und von Anfange die Frucht abtreiben wollen und ihr selbst gesaget, daß sie etwas eingenommen in der Meinung daß selbige weggehen sollte (...) Sie habe ferner ihre Schwangerschaft so lange wie möglich verleugnet [und später ihrem Kind] ein Küßen über das Gesicht gestopfet [und] darzu geäusert, sie habe geglaubt, das Satans Kind sollte ersticken" 17 . Soll die Beschäftigung mit diesen Problemen zur "Aufschlüsselung des sozialen Beziehungssystems der frühneuzeitlichen Gesellschaft im Wandel" 18 beitragen, dürfen Kindestötung, Abtreibung oder Aussetzung nicht als isolierte Phänomene behandelt werden. Nur eine vergleichende Untersuchung kann klären, ob es sich um "populär-unterschichtige Verhaltensweisen" 19 handelte und ob das außerordentliche Interesse an der Kindestötung seit dem späten 18. Jahrhundert der frühneuzeitlichen Realität entspricht. Dafür müssen nicht nur das quantitative Vorkommen der einzelnen Tatbestände und ihre sozialen Hintergründe, sondern ebenso die Intensität der obrigkeitlichen Verfolgung abgewogen werden. Dies beinhaltet, daß in erster Linie unveröffentlichte Quellen der damaligen Gerichtsbarkeit ausgewertet werden müssen 20 . Die in Zeitschriften und juristischen Lehrbüchern des späten 18. Jahrhunderts publizierten Kindsmordfälle, auf denen viele bisherige Studien basieren, werden hingegen nur ergänzend herangezogen, da ihre Auswahl bereits von der Kindsmorddiskussion beeinflußt war. Die ausführlichsten Informationen vermitteln Gerichtsakten, die die gesamte 16

17 18 19 20

Zu der im Zusammenhang mit der Kindsmordfrage gefühlten Findelhausdebatte vgl. ULBRICHT, Debate, 214ff. Die Beiträge beschäftigten sich eingehend mit den Verhältnissen in anderen Ländern und dem Für und Wider der dortigen Findelhäuser. StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 179a, Verhörprotokoll vom 17.10.1775. Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 7. Ebd., 9. Die vorliegenden Arbeiten zu Kindsmordfällen und Aussetzungen im Untersuchungsgebiet beschränken sich ausschließlich auf die Städte Hannover und Hildesheim und sind überdies in der Aktenerfassung unvollständig: HOOF, Kindsmordvorgänge; ders., Pestalozzi, 153-219. Einige der hier untersuchten Kindsmordprozesse bespricht jetzt auch: LESEMANN, Arbeit, Ehre, Geschlechterbeziehungen, 187-209.

Kìndsmord

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Kriminaluntersuchung wiedergeben. In diesen Fällen lassen sich oft der soziale Hintergrund der Frauen und der Tathergang - wenigstens ansatzweise - rekonstruieren. Allerdings ist nur etwa ein Fünftel der hier berücksichtigten annähernd 250 Kindsmordfalle und ein noch kleinerer Teil der bekannten Kindesaussetzungen in ausführlichen Akten dokumentiert 21 . In vielen Fällen, die nur bruchstückhaft oder in seriellen Quellen überliefert sind 22 , beschränkt sich die Auskunft oft darauf, daß ein totes oder lebendiges Kind aufgefunden bzw. eine Verurteilung ausgesprochen wurde, und auf Angaben zu Name und Alter der Verurteilten, Gerichtsort und Strafe. Die zur Verfügung stehenden Informationen sind also für einzelne Aspekte des Themas von unterschiedlicher Dichte; um die Basis für die Untersuchung einiger Punkte zu verbreitern, wurden daher auch Fälle aus der Zeit vor 1680 berücksichtigt.

2.

Kindsmord

Nach heutiger Defmiton erstreckt sich die Kindestötung als privilegierte Tötung nur auf ein "nichteheliches Kind" und die Zeit "in oder gleich nach der Geburt" (§ 217 StGB) 23 . Auch die Carolina geht in der Definiton des Straftatbestands im Regelfall von einer ledigen Täterin aus 24 . In den Quellen werden dagegen auch Kindestötungen durch verheiratete Frauen und zuweilen ganz andere Verbrechen wie die Beihilfe zu einer Kindestötung, die Tötung eines bereits herangewachsenen Kindes oder die Tötung von Kindern durch Fremde unter der Bezeichnung 'Kindermord' begriffen 25 . Da zumindest Kindestötungen durch verheiratete oder verwitwete Frauen mit einer gewissen Regelmäßigkeit vorkamen und mit der 21

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Bei den Kindsmordfällen handelt es sich in der Regel um mehr oder weniger vollständige Gerichtsakten, bei der Aussetzung dagegen um Gerichtsakten und einfache Verwaltungsprotokolle. Zur Überlieferung siehe unten Abschnitt 2.5. Vgl. zum selben Problem auch ULBRICHT, Kindsmord, 14. Dies sind vor allem die Aufnahmelisten des Celler Zuchthauses (JVACe, Verzeichnis der Züchtlinge 1731-1778, 1778-1791, 1804-1812 und 1812-1821, und NHStA Hann. 86 Celle Nr. 104, Verzeichnis der Züchtlinge 1791-1804), die Rechnungen der kurfürstlichen Kammer in Hannover (NHStA Hann. 76c A Nr. 109ff.) und der Kämmerei der Altstadt Hannover (StAH B Nr. 6634ff.). § 127 Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 10.3.1987 (BGBl. I, 945, ber. 1160) (BGBl. III 450/2). PGO, 48, Art. 35: "eyn dira so für eyn jungftaw geht". Zur Interpretation vgl. WÄCHTERSHÄUSER, Verbrechen, 60-66. Die Tötung von herangewachsenen Kindern durch ihre Mütter geschah entweder aus Verzweiflung oder in geistiger Verwirrung, so bei einer Frau, die 1673 im hildesheimischen Amt Steuerwald im Beisein eines siebenjährigen Sohnes ihr kleines Kind mit einem Messer tötete. NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 770. Ein Kindermädchen, das 1735 dem Kind einer anderen Magd die Kehle durchschnitt, gab zu Protokoll, "es wäre ihr immer im Sinne gewesen, daß sie eine Mordtat begehen solte". NHStA Hann. 72 Bockenem Nr. 412. Oft wurden diese Taten auch von Lebensüberdriissigen verübt, die so den als Sünde geltenden Selbstmord durch eine Hinrichtung umgingen. ULBRICHT, Kindsmord, 19.

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Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

zeitlichen Nähe zur Geburt und der Mutter als Tatsubjekt starke Ähnlichkeiten zur eigentlichen Kindestötung aufwiesen, werden im folgenden unter dem in der historischen Forschung üblichen Begriff 'Kindsmord' alle Tötungen von Neugeborenen durch die Mutter oder mit ihrer Billigung verstanden 26 .

2.1.

Entdeckung und Gerichtsverfahren Entdeckung der Tat - Verfolgung und Festnahme der Verdächtigen - Inquisitionsverfahren - Haft und Folter - Untersuchung der Kindesleiche - Urteil

Nach der Carolina galt die Tötung eines neugeborenen Kindes als eines der schwersten Verbrechen überhaupt, das nur mit dem Tod der Täterin gesühnt werden konnte 27 . Während des 17. und frühen 18. Jahrhunderts erreichten die Empörung über die Tat und die Härte der Verfolgung ihren Höhepunkt 28 . Wesentliche Gründe für die scharfe Verurteilung der Kindsmörderinnen waren die Wehrlosigkeit des Kindes und der Bruch der als natürlich angesehenen Mutterliebe 29 . Die Richter von Margaretha Rappen (1671/72) 3 0 äußerten besonderen Abscheu darüber, daß die Verurteilte

"das arme, elende, seine nathürliche Mutter an-

schreyende winselnde Kind nicht aufnehmen [wollte]". Die Mutter wurde als "grausame Bestie" bezeichnet 31 .

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Eine solche Einschränkung ist unerläßlich, da sonst quantitative Aussagen leicht verzerrt werden könnten. HOFFER/HULL, Murdering Mothers, XHIf., begreifen sogar die Tötung neunjähriger Kinder als Kindsmord, vgl. dazu ULBRICHT, Kindsmord, 19f. Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 19, stellt zwar fest, daß es sich in den meisten Fällen um ledige Frauen handelte, die ihr Kind direkt nach der Geburt getötet hatten, erklärt aber nicht, welche Fälle er für die quantitative Untersuchung berücksichtigt. Eine ausführliche Diskussion definitorischer Probleme, die schließlich zu einem ähnlichen Arbeitsbegriff wie dem hier verwendeten führt, findet sich bei SCHULER, Infantizid, 10-24, bes. 22 und 226. Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 24f.; WÄCHTERSHÄUSER, Verbrechen, 67. Davon zeugen zahlreiche Mandate und Verordnungen gegen den Kindsmord, vgl. van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 21; ULBRICHT, Kindsmord, 197. Für das Untersuchungsgebiet sind spezielle Verordnungen zwar nicht überliefert, die Quellenüberlieferung läßt aber ebenfalls einen Höhepunkt seit ca. 1690 erkennen. Vgl. Anhang 3. Vgl. auch van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 21; ULBRICHT, Kindsmord, 21 und 330. Die einzelnen Fälle werden mehrfach und in unterschiedlichen Zusammenhängen erwähnt. Wegen der häufigen Nennungen werden Quellennachweise nur bei wörtlichen Zitaten angegeben. Die Fundstellen der ausfuhrlich dokumentierten Fälle lassen sich anhand von Name und Jahr in Anhang 3 ermitteln. - Statt der üblichen verkürzten Wiedergabe eines Einzelfalles sei auf zwei ausführliche Aktenpublikationen hingewiesen: Das Leben und Sterben der Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt. Nach den Prozeßakten dargestellt von Siegfried BIRKNER, Frankfurt a.M. 1989; Herbert GÜNTHER, Vermutungen über ein argloses Leben. Roman. Mit einem Protokoll von Gottfried August Bürger, 1781, Würzburg 1987. Da sich der zweite Fall 1781 im hannoverschen Gericht Altengleichen zutrug, wird er noch häufiger genannt. Verkürzte Wiedergaben von Einzelfällen finden sich außerdem bei ULBRICHT, Kindsmord, 25; van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 11; HOOF, Kindsmordvorgänge; LESEMANN, Arbeit, Ehre, Geschlechterbeziehungen, 191-209. StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 140.

Kindsmord

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Zu der Empörung über Tat und Täterinnen trugen möglicherweise die Umstände der Entdeckung einer Kindestötung nicht unerheblich bei. Meist wurde zuerst das getötete Kind gefunden 32 . Solche Leichenfunde schockierten zumindest die Untersuchungsbeamten und wurden mit Entsetzen kommentiert 33 , da die Kinder außer durch Spuren von Gewalteinwirkung oft auch durch die versuchte Beseitigung der Leiche grausam entstellt waren. Ein Kind, das 1771 im Amt Marienburg gefunden wurde, war "dem Anschein nach beigerodet und bereits von Raben und Hunden hin und wieder beschädiget" 34 . In einem anderen Fall hatten Hunde die vergrabene Leiche "loeß gekratzet, sich damit gezogen, undt den Kopf nebenst beeden Armen, Und dem Linckern Fueß abgerißen undt gefreßen ehe eß die leute gesehen undt die Hunde davon getrieben" 35 . Als 1765 im Brunnen eines Bauernhofes in Nöpke (Amt Wölpe) ein totes Kind gefunden wurde, hieß es: "daßelbe sey ohne Kopf, ein kleiner Junge, und gantz verstümmelt, dem Ansehen nach sey solches bevor es in den Brunnen gekommen, einem Unthier vorgeworffen gewesen" 36 . Oft wurden die toten Kinder in unmittelbarer Nähe der Wohnung der Mütter entdeckt, etwa im Brunnen (4) oder auf dem Misthaufen (3). Zwei Kinder waren von der Mutter in ihrem Zimmer vergraben und eines unter dem Bettstroh versteckt worden, ein anderes wurde in der verschließbaren Lade einer verstorbenen Magd gefunden, als die Hausherrin und andere Frauen die Tote bekleiden wollten und die Lade erbrachen 37 . Acht Leichen fand man in Flüssen oder kleineren Gewässern, die an dem Haus oder Hof oder der Mühle, in denen die Frauen arbeiteten, vorüberflossen. Nur in acht Fällen hatten die Täterinnen die Leiche außerhalb ihres Lebensbereiches, an verschiedenen Orten in der Stadt oder in der freien Natur versteckt 38 .

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37 38

Von 42 Fällen, in denen die Art der Entdeckung ermittelt werden konnte, wurde 27mal zuerst die Leiche des Kindes gefunden. Van Dülmen betont, daß in den Quellen immer wieder die "Gräßlichkeit" der Tat hervorgehoben wird. Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 22f. Vgl. auch ULBRICHT, Kindsmord, 22f. NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 760. Usabe Engelke (1686), NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5241, fol. l v . Trine Marie Krussen (1765/66). NHStA Hann. 152 acc. 34/80 Nr. 5, Protokoll vom 21.10.1765. Das Kind war teilweise von Schweinen gefressen worden. [N.N.] (1725). NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5457. Eine auf dem Nikolaifriedhof in Hannover, über dessen Mauer das Kind wahrscheinlich geworfen worden war, eine unter einer Windmühle vor dem Agidientor in Hannover, eine im Kreuzgang des Hildesheimer Doms und fünf an verschiedenen Orten in Stadt und Land. ULBRICHT, Kindsmord, 179, macht darauf aufmerksam, daß auf Friedhöfen gefundene Kindesleichen oftmals eheliche Totgeburten waren, deren sich die Eltern auf diese Weise entledigten, um die Beerdigungskosten zu sparen. Es ist jedoch in anderen Fällen nachweisbar, daß auch getötete Kinder heimlich auf den Friedhof gebracht wurden.

102

Defizite der Kindelversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

Der Bewertung der Tat entsprechend, verwandten die Obrigkeiten große Mühe auf die Strafverfolgung. Wenn auch nur in einigen Fällen über die Verhaftung berichtet wird, fallt doch der dabei getriebene Aufwand auf. In zwei Fällen wurde ein ganzer Trupp von Häschern ausgeschickt, um die Verdächtige festzunehmen und eine Flucht zu verhindern. Der Amtmann von Marienburg sandte 1720 den Amtsvogt mit acht Männern los, um Anna Maria Höppner festzunehmen, und im Amt Wölpe wurden zur Ergreifung von Trine Marie Krussen (1765) sogar 19 Helfer aufgeboten. Die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Obrigkeiten und Behörden funktionierte offenbar recht gut. Zwar kam es im Hochstift Hildesheim mehrmals zu Auseinandersetzungen über die Jurisdiktion zwischen fürstbischöflichen und domkapitularischen Ämtern oder adligen Gerichten, doch diese Streitigkeiten verzögerten ein Verfahren allenfalls für kurze Zeit, ohne die Untersuchung wirklich zu stören. Amtshilfe wurde prompt gewährleistet, die Angeklagten wurden bereitwillig an andere Gerichtsobrigkeiten oder sogar benachbarte Staaten ausgeliefert 39 . Wurde ein totes Kind gefunden, entstand meist sehr bald ein konkreter Verdacht. In einem Fall machte eine Magd sich verdächtig, weil sie nach der Entdeckung des Kindes verschwand 40 . Oft aber wiesen die Nähe des Fundortes zu dem Lebensbereich der Verdächtigen und ihr im Nachhinein ungewöhnlich erscheinendes früheres Verhalten auf eine bestimmte Frau hin 41 . Bei dem bereits genannten Fund eines toten Kindes in Nöpke fiel der Verdacht sofort auf die 1718jährige Trine Marie Krussen aus Borstel, die sich einige Zeit zuvor zur Flachsarbeit in Nöpke aufgehalten hatte. Die Obrigkeiten wurden jedoch nicht nur aktiv, nachdem ein totes Kind gefunden worden war. Zu ihren Aufgaben gehörte es auch, in Verdachtsfällen, etwa wenn bei einer Frau die Zeichen einer Schwangerschaft plötzlich verschwunden waren, Ermittlungen anzustellen42. Von gut einem Drittel der hier untersuchten Vorgänge erfuhren die Obrigkeiten, ohne daß bis zu diesem Zeitpunkt eine Leiche gefunden worden war 43 . In diesem Fall waren die Beamten auf die Mitarbeit der Hebammen angewiesen, die zur Kontrolle lediger Schwangerer verpflichtet waren 44 . 39

40 41 42 43 44

Anna Maria Höppner (1720) wurde bei Salzdetfurth festgenommen und vom dortigen Gerichtsherrn dem Amt Marienburg Ubergeben. Dorothea Elisabeth Lampe (1737) wurde auf Ersuchen des hannoverschen Amtes Lauenstein im hildesheimischen Gronau verhaftet und später ausgeliefert. Im Fall Catharina Margaretha Wannbold (1746) wurde das Kind auf einem Friedhof im hildesheimischen Amt Marienburg entdeckt, nachdem sich die hannoversche Justizkanzlei an die Fürstbischöfliche Regierung gewandt hatte. Anne Ilsche Schreckes (1668). Ilsabeth Heinemeier (1654/55). PGO, 48, Art. 35. In 15 von 42 Fällen, in denen die Entdeckung der Tat rekonstruiert werden konnte. Siehe dazu unten Abschnitt 3.4. Vgl. außerdem Alois NÖTH, Die Hebammenordnungen des XVIII. Jahrhunderts, Diss. med. Würzburg 1931, 29f.

Kindsmord

103

Von einer Hebamme, die in einem Fall wiederum vom Hauswirt gerufen worden war, wurden hier allerdings nur zwei Frauen angezeigt. Weitaus häufiger denunzierten Nachbarn oder Angehörige die Frauen. Drei Verdächtige wurden von ihrem Hauswirt oder ihrer Dienstherrschaft angezeigt, eine von ihrem Vater, eine andere von ihrem Bruder und die verheiratete Kindsmörderin Magdalena Hagemann (1804) von ihrem Mann. Eine Frau versuchte überhaupt nicht, die Geburt zu verheimlichen, sondern benachrichtigte am darauffolgenden Morgen ihre Schwester und ihre Schwägerin, die ihrerseits die Hebamme holten 45 . Die meist unverzügliche Ermittlung einer Verdächtigen und die Anzeigen deuten darauf hin, daß nicht nur die Obrigkeiten und ihre Vertreter, sondern größere Teile der Bevölkerung die Tat mißbilligten und nicht bereit waren, die mögliche Täterin zu decken. Der gesellschaftliche Verurteilungsdruck muß sehr hoch gewesen sein: In Hannover bezichtigte sich eine Frau mittelst eines Zettels möglicherweise freiwillig selbst, nachdem das Kind gefunden worden war und der Pfarrer in der Marktkirche "scharff wieder den Mörder oder aber die Mörderin" gepredigt hatte46. Auch die drohende Strafe war anscheinend bekannt. Eine Frau floh, "weil sie wehre bange gewehsen füer die Straaff [und] vermeinte, daß sie den todt wegen deß kindeß verdienet hette" 47 . In einigen Fällen wurden gleich mehrere Personen auf die Tat aufmerksam, so daß an eine Geheimhaltung nicht mehr zu denken war. Anna Dorothea Biesters (1663) z.B. wurde von anderen Frauen im Haus blutend auf der Diele gefunden, Elisabeth Pein (1675) wurde verhaftet, "Nachdem durch die Kindeswerterin, Küchin und Mägde außgebragt daß von der frauen Maget Elisabeth Pein einige kenne Zeichen hinterlassen, alß wan sie die vergangene Nacht ein Kind gebohren, und selbiges ohne Zweyfel müste an die Seite gebracht haben" 4 8 . Daran zeigt sich, daß sich der körperliche Zustand der Schwangeren aufgrund des engen häuslichen Zusammenlebens, in das die meisten Frauen eingebunden waren, kaum verheimlichen ließ 49 . Marie Dorothee Louise Dismer (1800) kam sogar im Beisein einer schlafenden Frau nieder, mit der sie das Bett teilte 50 .

45

46 47 48 49

50

Anne Elisabeth Ohnverzacht (1738/39). Diese Offenheit zahlte sich aus, denn die Frau wurde am Ende freigesprochen. [N.N.] Hagemanns (1727). HOOF, Kindsmordvorgänge, 52. Anna Maria Höppner (1720). NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 740, Protokoll vom 3.6.1720. NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 771, Verhör vom 4.3.1675. Vgl. ULBRICHT, Kindsmord, 117. Auch van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 32, geht davon aus, daß Hausleute und Nachbarn oft einen Verdacht hatten. Ähnlich über ländliche Verhältnisse im 19. Jahrhundert SCHULTE, Dorf, 145. Vgl. ebd., 154.

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Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

In einigen Fällen breiteten sich ein Verdacht oder das Wissen um die Tat derartig aus, daß sie als Gerücht oder Hörensagen Teil der Dorföffentlichkeit wurden 51 . Die Ehefrau des Schulzen von Bückau zeigte 1731 an, "daß die Rede im dorffe ginge" 52 , Ilsabe Catharina Maatsch habe ein Kind gehabt und umgebracht. Ähnlich verhielt es sich bei Marie Dorothee Louise Dismer (1800), die vom Gogrefen des Dorfes, in dem sie als Magd diente, angezeigt wurde. Im Fall Trine Schützen (1690) berichtete ein Zeuge, "daß das gantze lant und Stadt voll wäre, daß Forstschreiber Trine ein kind ümbracht"53 habe. Es verwundert daher, daß relativ wenige Schwangerschaften vor der Geburt entdeckt wurden. Von 19 Frauen, die ihre Schwangerschaft nachweislich zu verheimlichen suchten, waren nur sechs von ihrer Umwelt wegen ihres Zustandes befragt worden54. Auch die Kontrolle der Schwangeren durch die örtlichen Obrigkeiten erfolgte eher oberflächlich. Christiane Hoppert (1731) war aufgrund des Gerüchtes, daß sie schwanger sei, vor das Amt Salzderhelden gefordert worden; als sie ihre Schwangerschaft aber leugnete, begnügte sich der Beamte mit dieser Auskunft, ohne die Frau weiter zu überwachen. Im Fall Anna Maria Höppner (1720) wurde der Amtmann des hildesheimischen Amtes Marienburg von dem Hofrat Lammers gerügt, daß er die Angeklagte nicht schon vor der Tat ihres "dicken Leibes" 55 wegen verhaftet habe. Nicht die Schwangere, sondern die vermeintliche Kindsmörderin erregte also die öffentliche Aufmerksamkeit. Kindsmord als schweres Verbrechen hatte für die Obrigkeiten einen so hohen Stellenwert, daß im eben zitierten Fall Schützen ein Amtsschreiber eigens aus dem Lüneburgischen nach Erfurt reiste, um einen Mann zu befragen, der früher mit der Verdächtigen zusammen gedient hatte und nun Musketier bei den kaiserlichen Truppen war. Durch das Interesse von Obrigkeiten und Gesellschaft an seiner Verfolgung war der Kindsmordvorwurf auch für die fälschliche Anschuldigung von Frauen besonders geeignet56. 51

52 53 54

55 56

Ebd., 170: "Im Gerede offenbart sich, dafl die Leute (...) über alles Bescheid wissen." Ähnliches berichten ULBRICHT, Kindsmord, 122; BECK, Illegitimität, 130. NHStA Hann. 72 Dannenberg Nr. 23, Protokoll vom 10.1.1731. NHStA Cal. Br. 23 Nr. 655, fol. l v . In einem Fall hatte die Mutter Verdacht geschöpft, in dreien die Dienstherrin. Bei Maria Wedemeyer (1688) wußten eine Freundin, durch diese die Hebamme und sogar der Dorfpfarrer von der Schwangerschaft. Mehrfach befragt wurde auch Anna Dorothea Biesters (1663), über die eine Zeugin, die im selben Haus lebte, aussagte: "Alle leute hettenß dafuro gehalten", daß sie schwanger gewesen sei. NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 235, Verhör vom 28.8.1663. NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 740, Schreiben vom 21.5.1720. In Hannover gab eine Frau, die ihre eigene Verhaftung herbeiführte, um von der Straße zu kommen, als plausibelsten Verhaftungsgrund vor, sie habe ihr Kind getötet. NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 265. Als die Einwohner des hildesheimischen Amtes Bilderlahe 1677 bei der Regierung darum baten, ein auf Gemeindekosten unterhaltenes Kind der Mutter zurückzugeben, versuchten sie das Interesse der Regierung zu erregen, indem sie die Frau fälschlicherweise des Kindsmordes bezichtigten. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9906, Schreiben der Amtseinwohner vom 2.10.1677.

105

Kindsmord

D i e e n t s c h e i d e n d e V o r a u s s e t z u n g für eine Verurteilung im

frühneuzeitlichen

K r i m i n a l p r o z e ß w a r das Geständnis der o d e r des A n g e k l a g t e n 5 7 . U m als Kindsm ö r d e r i n g e r i c h t e t zu w e r d e n , m u ß t e die V e r d ä c h t i g e eingestehen, das Kind g e tötet z u haben - die V e r h e i m l i c h u n g der S c h w a n g e r s c h a f t allein erfüllte den T a t bestand n i c h t 5 8 . D a h e r w u r d e in d e r R e g e l s o f o r t nach d e r V e r h a f t u n g mit d e m V e r h ö r b e g o n n e n , das u m die entscheidenden F r a g e n kreiste, o b das Kind gelebt und die m u t m a ß l i c h e T ä t e r i n seinen T o d verschuldet h a t t e 5 9 ; die T a t h i n t e r g r ü n d e w u r d e n allenfalls sehr s c h e m a t i s c h erfaßt,

w e n n g l e i c h die V e r d ä c h t i g e n

auch

nach A l t e r , H e r k u n f t , Tätigkeit und sexuellen B e z i e h u n g e n b e f r a g t w u r d e n . W a r n o c h keine K i n d e s l e i c h e gefunden w o r d e n , w u r d e die F r a u v o n einer H e b a m m e untersucht, o b sie ein Kind g e b o r e n h a t t e 6 0 . A n w e i s u n g e n für eine s o l c h e U n t e r s u c h u n g sind s c h o n in d e r C a r o l i n a e r w ä h n t 6 1 und wurden in den h a n n o v e r s c h e n Kriminalinstruktionen v o n 1 7 3 6 6 2 und 1 8 0 0 6 3 weiter ausgeführt.

Gegebenenfalls

57

KRAUSE, Strafrechtspflege, 104; van DÜLMEN, Theater des Schreckens, 24; RÜPING/SELLERT, Strafrechtspflege, Bd. 1, 268. Allgemein zum frühneuzeitlichen Strafprozeß van DÜLMEN, Theater des Schreckens; KRAUSE, Strafrechtspflege, 103-113; zur gemeinrechtlichen Strafprozeßlehre RÜPING/SELLERT, Strafrechtspflege, Bd. 1, 311-345 (Auszüge aus Benedikt Carpzovs "Practica Nova imperialis Saxonica rerum criminalium", 1635).

58

Nach der Carolina war die Verheimlichung schwerer Verdachtsgrund: "Doch so eyn weibßbild eyn lebendig gliedmessig kindtlein also heymlich tregt, auch mit willen alleyn, und on hilff anderer weiber gebürt, welche on hilfliche geburt, mit tödlicher verdechtlichkeyt geschehen muß, ( . . . ) so soll man sie ( . . . ) mit peinlicher ernstlicher frag zu bekantnuß der warheyt zwingen." PGO, 88, Art. 131. Dazu WÄCHTERSHÄUSER, Verbrechen, 63. In Einzelfällen wurde die Verheimlichung mit einer minder schweren Strafe geahndet, siehe unten. In Frankreich dagegen war die Nichtbekanntgabe der Schwangerschaft nach einem Edikt Heinrichs II. von 1556 dem Kindsmord gleichgesetzt. Marie-Claude PHAN, Les déclarations de grossesse en France (XVI C -XVIII C siècles): Essai institutionnel, in: Revue d'histoire moderne et contemporaine 22 (1975), 61-88, hier 70; FLANDRIN, Les conduites sexuelles, 161f. Ähnliche Bestimmungen galten seit 1624 in England: R.W. MALCOLMSON, Infanticide in the Eighteenth Century, in: J . S . COCKBURN (Hg.), Crime in England 1550-1800, London 1977, 187-209, hier 196.

59

In der gemeinrechtlichen Literatur war die Lebensfähigkeit eines der am meisten diskutierten Probleme. Wächtershäuser deutet die Formulierungen der Carolina ("kind, das leben vnd glidmaß empfangen hett" bzw "eyn lebendig gliedmessig kindlein*) dahingehend, daß das Kind außerhalb des Mutterleibes lebensfähig sein mußte. WÄCHTERSHÄUSER, Verbrechen, 66f. Ähnlich JEROUSCHEK, Lebensschutz, 8 und 141. Über Schuld als Strafvoraussetzung auch RÜPING/SELLERT, Strafrechtspflege, Bd. 1, 292. Margaretha Rappen (1671/72), Marie Dorothee Louise Dismer (1800). PGO, 48, Art. 35f. : "Soll sie durch verstendig frawen an heymlichen Stetten als zu weither erfährung dienstlich ist, besichtigt werden (...). Item wo aber das kindtlein, so kürtzlich ertödt worden ist, daß der mutter die milch inn den priisten noch nit vergangen, die mag an den prusten gemolcken werden, welcher dann in den priisten recht vollkommene milch funden wirdet, die hat deshalb eyn starck Vermutung peinlicher frag halber wider sich".

60 61

62

"Königliche umständliche Criminal Instruction de 30. April/11. May 1736 wie in peinlichen Sachen zu verfahren: ( . . . ) bey gerügtem Kinder-Mord sind die Gerichte wohl befuget, auch schuldig, das verdächtige Weibes-Bild, so man im Argwohn hat, daß sie heimlich ein Kind gebohren, und ab Seite gebracht habe, von denen Weh-Müttern besichtigen zu lassen, wann nur durch die General-Inquisition erforschet worden, daß sie einen hohen ungewöhnlichen Leibe gehabt, solchen aber gehling und geschwind verlohren hat, und sie sonsten eine Person ist, zu welcher man sich dergleichen versehen kann, u.s.w. " CCL, Bd. 2, Cap. II, 844.

63

SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 4.1, 30-39.

106

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

wurden Angehörige, Nachbarn oder die Dienstherrschaft vernommen, die Aussagen über die Schwangerschaft und das Verhalten der Frauen vor der Geburt machen sollten. Die Kindsväter wurden über die Beziehung zu der Frau und über die Schwangerschaft befragt. Während des Verfahrens genoß die Angeklagte einen gewissen rechtlichen Schutz. Die Untersuchung durch eine Hebamme durfte nur durchgeführt werden, wenn bereits ein begründeter Verdacht bestand 64 , und die Kriminalinstruktion von 1736 schrieb 'erträgliche' Gefangnisse und besondere Rücksicht auf Kranke vor 65 . Bei den Kindsmörderinnen sollte besonders auf die Genesung von der Geburt geachtet werden. Wenngleich die Genesungsfrist in einigen Fällen beachtet wurde 66 , waren Verhörmethoden und Haftbedingungen doch oft hart. Trine Marie Krussen (1765) wurde nach ihrer Festnahme sofort vernommen, obwohl sie sich vor Schwäche - offenbar infolge der Niederkunft - nicht einmal auf den Beinen halten konnte. Maria Gertrud Willy (1742/43) wurde bis in den Dezember hinein in einem unbeheizten Gefängnis festgehalten. Schutz vor schlechter Behandlung fanden am ehesten Angeklagte, die einen gesellschaftlichen Rückhalt besaßen und für die sich ihre Familie oder eine einflußreiche Person verwandten 67 . Der Vater von Marie Dorothee Louise Dismer (1800) erreichte Hafterleichterungen für seine Tochter, und im Fall Johanne Philippine Ernestine Pascal (1768/69) setzte der Arbeitgeber des Kindsvaters durch, daß die Frau während des Prozesses nicht in einem öffentlichen Gefängnis, sondern unter Aufsicht einer Hebamme verwahrt wurde. Ledige Frauen ohne Familie oder Fürsprecher aber verloren durch die uneheliche Schwangerschaft und Geburt den Anspruch auf gesellschaftliche Achtung. Diesen Stellungsverlust veranschaulicht die Selbsteinschätzung von Anne Christine Ochsener (1727), die auf die Frage, ob sie ledig oder verheiratet sei, antwortete: "Nein, sondern eine beschlaffene Mensche" 68 . Zumindest seit dem Ende des 17. Jahrhunderts stand den Frauen, sofern sie nicht freiwillig darauf verzichteten 69 , das Recht auf einen Verteidiger zu 70 . In den meisten Fällen versuchte dieser, Milderungsgründe für die Angeklagte und ihr Verhalten anzuführen. Der Anwalt von Christiane Hoppert (1731) bat um Mitleid mit der Angeklagten "wegen ihrer Jugend und Einfalt, auch alten Eltern und daß sie drey Monat lang gefangen geseßen" 71 . In wenigen Fällen ging die Verteidi64 65 66

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Siehe Anm. 61. CCL, Bd. 2, Cap. II, 836. Im Fall Maria Gertrud Willy (1742/43) vergingen zwischen Anzeige und ausführlichem Verhör nahezu zwei Monate. Zu den Haftbedingungen und gesellschaftlichen Unterschieden vgl. van DÜLMEN, Theater des Schreckens, 20-23. NHStA Hannover Hann. 72 Einbeck Nr. 340, Verhör vom 9.10.1727. Ilsabe Engelke (1686). Vgl. KRAUSE, Strafrechtspflege, l l l f . ; ULBRICHT, Kindsmord, 335-338. NHStA Hann. 72 Einbeck Nr. 445, Verteidigungsschrift 1731.

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gung von der Unschuld der Angeklagten aus und forderte "völlige absolutionam" 72 , also Freispruch, der allerdings nie erreicht wurde. Aussichtsreicher war der Versuch, wenigstens die Todesstrafe zu verhindern. Dies gelang in drei Fällen, blieb aber ebensooft erfolglos 73 . Gestand eine Frau nicht gleich beim ersten Verhör die Tötung des Kindes oder beharrte sie darauf, das Kind habe keinerlei Lebenszeichen von sich gegeben, wurden die Verhöre wiederholt. Verliefen auch diese aus der Sicht des Gerichtes erfolglos, konnte die sogenannte 'Tortur' oder 'Peinliche Befragung' angeordnet werden 74 . Die Anwendung der Tortur war allerdings an gewisse Regeln und Bedingungen geknüpft: Es mußten ausreichende Verdachtsgründe 75 und die Zustimmung des Landesherrn oder der vorgesetzten Instanz vorliegen, und oftmals wurde zudem eine Spruchinstanz, z.B. eine juristische Fakultät, mit einem Gutachten beauftragt, in dem über die Anwendung der Folter entschieden wurde 76 . In wie vielen Fällen die Folter angeordnet wurde, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen, da oft ausführliche Akten fehlen. Soweit sich der Untersuchungsverlauf rekonstruieren läßt, wurden 16 Frauen mit der Folter bedroht, gegenüber acht Frauen, die ohne dieses Mittel gestanden. Von diesen gab wiederum nur die Hälfte die Tat sofort zu, andere erst nach längeren Verhören oder beim Anblick des toten Kindes 77 . Oft genügte bereits die Androhung der Folter oder das Zeigen der Instrumente, um ein Geständnis zu erreichen. Andernfalls wurde zunächst ein 'leichterer' Grad der Tortur verhängt und diese "menschlicher weise" 78 durchgeführt, d.h. es wurden wie bei Elisabeth Wehden Daumen- und/oder Beinschrauben angesetzt 79 , die bald das gewünschte Geständnis hervorriefen 80 .

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Maria Gertrud Willy (1742/43). Ebenso erfolglos blieb das Gnadengesuch für Anna Elisabeth Fischer (1655/56), das Vater, Stiefmutter und Bruder der Frau einreichten. Auch KRAUSE, Strafrechtspflege, 112, bewertet den Erfolg der Verteidigung eher skeptisch. Zu den Formalien und Methoden der Folter KRAUSE, Strafrechtspflege, 106f.; van DÜLMEN, Theater des Schreckens, 29-36; RÜPING/SELLERT, Strafrechtspflege, Bd. 1, 205ff. Zu den Verdachtsgriinden KRAUSE, Strafrechtspflege, 107f. In der Carolina war festgelegt, daB die Folter nicht ohne eine 'redliche', d.h. durch begründeten Verdacht veranlafite Anzeige verhängt werden durfte. PGO, 40, Art. 20. Nach gemeinrechtlicher Lehre war allerdings die Flucht als Folterungsgrund ausreichend. RÜPING/SELLERT, Strafrechtspflege, Bd. 1, 330. Neben dem Landesherrn konnten dies auch die Regierung, im Kurfürstentum Hannover die Justizkanzleien und in Hildesheim das Domkapitel sein. Nur zweimal drohten die Obrigkeiten ohne weitere Umstände mit der Tortur. Einmal war dies der Magistrat der Altstadt Hannover im Fall Anna Elisabeth Fischer (1655/56), einmal die Celler Regierung im Fall Gesche Roden (1680). Vgl. generell KRAUSE, Strafrechtspflege, 106. Anna Margaretha Oelmann (1714). NHStA Hann. 72 Einbeck Nr. 569. Elisabeth Pein (1675). NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 771, Gutachten der Juristischen Fakultät Helmstedt vom 19.7.1675, ebenso bei Maria Wedemeyer (1688) (ebenfalls Helmstedt). Zu den Foltergraden KRAUSE, Strafrechtspflege, 107; RÜPING/SELLERT, Strafrechtspflege, Bd. 1, 335; DEICHERT, Geschichte der peinlichen Rechtspflege, 111-133.

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Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

Gegebenenfalls wurde die Folter wiederholt und der Grad der Mißhandlungen verstärkt81. Das unter der Folter gemachte Geständnis mußte ohne Zwang in der sogenannten Urgicht wiederholt werden; wurde es widerrufen, konnte erneut gefoltert werden82. Überstand eine Angeklagte die Folter bis zum angeordneten Grad ohne Geständnis, mußte sie aus der Haft entlassen werden83. Nur wenige Frauen besaßen aber die Kraft, der Folter zu widerstehen. Ilsabeth Heinemeier (1654/55) und Anne Elisabeth Ohnverzacht (1738/39) blieben aufgrund ihrer Standhaftigkeit von der Todesstrafe verschont, Anne Christine Ochsener (1727) wurde wahrscheinlich trotzdem hingerichtet. Andere widerriefen nach der ersten Folter ihr Geständnis, gestanden aber bei deren Wiederholung84. Im Zuge einer zunehmenden Entschärfung des Strafrechtes wurde die Folter ab etwa 1730 seltener eingesetzt. "In Ermangelung stärckeren Verdachts" verzichtete die Helmstedter Juristenfakultät 1738 auf die Anwendung der Folter 85 , und auch in zwei weiteren Fällen wurde von der Tortur abgesehen86. Allerdings kamen auch nach 1730 vereinzelt noch Folterungen vor, sowohl 1742 im hildesheimischen Amt Liebenburg87 als auch 1755 in Hannover88. Nach den Akten fand die letzte Tortur einer Kindsmörderin im Amt Calenberg statt. Angeordnet wurde sie von der Justizkanzlei in Hannover am 22. Juli 1800, vollzogen am 5. August (Daumenschrauben, Beinstöcke, Peitsche). Im Verlauf der Mißhandlungen gestand die Frau, widerrief aber drei Tage später in der 'Urgicht' das Geständnis. Zu einer weiteren Prozedur kam es nicht, da die erste Behandlung offenbar so brutal gewesen war, daß auch die Beamten der Justizkanzlei darüber erschraken. Am 3. September schrieben sie dem Amt: "Wir können Euch das Befremden nicht unbezeugt lassen, womit Wir aus denen eingesandten Untersuchungs-Acten, und dem bey der Tortur Volstreckung an der Inquisitinn Marie Dorothee Louise 80

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Im Protokoll heißt es: "[Die Angeklagte] Sagt hette nicht vermeinet das sie schwanger geweßen, weilen sie keine bewegung bei sich empfunden, herauf hatt der Meister ihr eine beinschraube angesetzet und zugezogen, aber alsbald wiederumb ledig gelaßen, bekennet sie sei allein im garten geweßen ohne einiges menschen hülffe das kind gebohren, und alsbaldt dem kinde mit der handt die gurgel zugedrücket, und umb das leben gebracht". NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 282. Das Protokoll der Folterung von Anna Sophia Bertrams (1755) ist abgedruckt bei HOOF, Kindsmordvorgänge, 52-60. Vgl. KRAUSE, Strafrechtspflege, 107. Vgl. van DÜLMEN, Theater des Schreckens, 36. Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 39f. Anna Elisabeth Fischer (1655/56), Elisabeth Pein (1675). Anna Hedwig Grote (1737/38). NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5506, fol. 73. Anna Ernst (1746/47), Ilse Anne Margaretha Engel (1755/46). Maria Gertrud Willy. Anna Sophia Bertrams. Aus diesem einen Fall zu schließen, daß um "die Mitte des Jahrhunderts ( . . . ) in Hannover (...) noch uneingeschränkt gefoltert" wurde, wie es jüngst Wolfgang Sellert getan hat, erscheint angesichts der oben ausgeführten Fälle, in denen auf die Anwendung der Folter verzichtet wurde, zumindest vorschnell. RÜPING/SELLERT, Strafrechtspflege, Bd. 1, 199 Anm. 61.

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Dismer abgehaltenen Protocollo, wahrnehmen müssen, wie derselben während der Torturbehandlung 38 Peitschenhiebe, von des Scharfrichters Leuten zu Theil geworden sind" 89 . Mit der Zusendung des Urteils am 3. November rügten die Kanzleiräte die Prozeßführung des Amtes und insbesondere noch einmal die Brutalität der Folter. Der Scharfrichter erhielt einen Verweis 90 . Seit dem 17. Jahrhundert war in den meisten Fällen eine Untersuchung des toten Kindes Teil des Verfahrens 91 . Diese diente zunächst nicht so sehr der Feststellung der Todesursache als viel mehr dem Nachweis, daß das Kind lebendig und lebensfähig zur Welt gekommen war. In der Kriminalinstruktion für das Kurfürstentum Hannover von 1736 wurden die Beamten angewiesen, tot gefundene Kinder nicht einfach zu begraben, sondern von einem Mediziner ('Physicus') und einem Wundarzt ('Chirurgus') untersuchen zu lassen92. Wegen des Zustandes der Kindesleichen war eine Obduktion häufig aber unmöglich oder doch nur unter schwierigen Umständen durchführbar. Ein 1654 im Amtsbezirk Moringen gefundenes Kind z.B. konnte nicht mehr ärztlich untersucht werden, weil es "fast faul gewesen, auch die raben demselben daß Angesicht auch die Brust und die vornembste viscera [i.e. Eingeweide] im Leibe, als lunge und hertz gantz zerhacket und zerfreßen" 93 hatten. Schwere Verletzungen wies auch eine Kindesleiche auf, die 1731 im Beisein des Amtmannes und einiger Amtbediensteter durch den 'Landphysicus' Wieseler und einen Chirurgen in der Amtsstube in Dannenberg untersucht wurde 94 . In früherer Zeit war daher das ärztliche Gutachten immer nur Indiz, ersetzte aber nicht das Geständnis als Beweis95. Allerdings wurden die ärztlichen Gutach-

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NHStA Hann. 152 acc. 34/80 Nr. 77, 147f. Ebd., 153-162 und 173. Die erste Untersuchung fand 1654/55 im Fall Ilsabeth Heinemeier statt. Vgl. FISCHERHOMBERGER, Medizin vor Gericht, 279f. "[Es] soll der Cörper in Gegenwart derer Beamten selbst besichtiget, und ob vermuthlich, daß das Kind lebendig oder todt zur Welt gekommen? was für Ursachen solcher Vermuthung vorhanden? ob es eine vollenkommene Geburt gewesen oder nicht? von einem Medico und Wund-Arzt, auch nach vorkommenden Umständen der Wehe-Mutter zugleich mit attestiret werden." CCC, Bd. 2, Cap. II, 851; CCL, Bd. 2, Cap. II, 825. Ilsabeth Heinemeier (1654/55). "Es war nemlich sothanes Kind zwar etwas welck, doch dem Leibe und äußerlichen gliedern nach gantz vollenkommen, maßen daßelbe siebenzehen Zoll in der Länge gehabt, und überdehm die Nagel an Händen und Füßen gantz ausgewachsen gewesen, ungleichen fand mann den Kopff voller Haare. Hiernechst fanden sich verschiedene Merkmahle einer gewaltsamkeit den der lincke Arm war nicht allein an der Schulter glat abgeschnitten, sondern fand sich auch gar nicht bey dem Körper: an dem rechten Arme war ebenfals die Haut nahe bey der Schulter rund herum abgelöset, biß an den Ellenbogen gewaltsamer weise herunter gestreuffet, und gantz über dieselbe Hand und Finger gezogen." Ilsabe Catharina Maatsch, NHStA Hann. 72 Dannenberg Nr. 23, Obduktionsbericht vom 11.1.1731. Im Fall Maria Wedemeyer (1688) überließ der Arzt die Frage, ob die Kinder (Zwillinge) von der Mutter getötet worden oder bei der Geburt gestorben waren, ausdrücklich dem Verhör.

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ten im Laufe des 18. Jahrhunderts immer genauer 96 . Lehrbücher erschienen, so das Werk von Büttner (1771), das genaue Anweisungen für die Obduktion einer Kindesleiche gab und 86 Untersuchungsberichte zur Veranschaulichung enthielt 97 , und die kurhannoversche "Instruction für Criminal Obrigkeiten" von 1800 gab detaillierte Richtlinien, wie bei der Obduktion von Kindes- und anderen Leichen vorzugehen war. Dadurch wurde der Obduktionsbericht für das Verfahren zunehmend wichtiger und ersetzte die Folter als Beweis bzw. machte deren Anwendung überflüssig: Obwohl in dem vor dem Göttinger Universitätsgericht verhandelten Fall Johanne Philippine Ernestine Pascal (1768/69) die Juristische Fakultät Erfurt die Tortur verhängte, lehnten die Geheimen Räte in Hannover, als der Göttinger Prorektor um Bestätigung dieser Anordnung nachsuchte, die Folter wegen der nicht vorhandenen Zeichen von Gewalteinwirkung und der Jugend der Angeklagten ab und verurteilten diese ohne weitere Beweise zu einer Zuchthausstrafe. Die Urteile wurden im 17. und früheren 18. Jahrhundert häufig bei einer Juristischen Fakultät in Auftrag gegeben 98 , vor 1650 auch nach sächsischem Recht beim Magdeburger Schöffenstuhl. In einigen Fällen sprach jedoch die vorgesetzte Obrigkeit, die Regierung oder der Landesherr, das Urteil, später übernahmen die neugeschaffenen Justizbehörden die Urteilsfindung. Das Urteil wurde zunächst schriftlich gefallt und erst anschließend der Angeklagten verkündet 99 .

2.2.

Die Strafen Todesstrafe - allmähliche Entschärfimg der Hinrichtungsart im späten 17. Jahrhundert außerordentliche Strafen - Ansätze zu einer neuen Bewertung der Tat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts stand bei der Bestrafung des Kindsmordes die Auffassung im Vordergrund, daß Gott durch die Tötung des Kindes erzürnt wor-

96

97

98

99

Ein Beispiel ist das Protokoll im Fall Catharina Elisabeth Erdmann (1781). GÜNTHER, Vermutungen, 157-160. Zur Entwicklung der medizinischen Gutachten FISCHER-HOMBERGER, Medizin vor Gericht, 290f.; van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 34f. Christoph Gottlieb BÜTTNER, Vollständige Anweisung wie durch anzustellende Besichtigungen ein verübter Kindermord auszumitteln sey, nebst Acht und Achtzig beygefiigten Obductions-Zeugnissen, zum Nutzen derer neuangehenden Aerzte und Wundaerzte, Königsberg und Leipzig 1771. Am häufigsten war dies sowohl in Hildesheim als auch im Kurfürstentum Hannover die Fakultät in Helmstedt (5 bzw. 4 Gutachten), weiter die Fakultäten in Rinteln, Gießen, Erfurt und Göttingen. Nach der Kriminalinstruktion von 1736 mußte dies vor der Vollstreckung geschehen. KRAUSE, Strafrechtspflege, 163. In früherer Zeit dagegen wurde das Urteil erst auf dem sogenannten 'endlichen Rechtstag' verkündet, dazu van DÜLMEN, Thater des Schreckens, 3861; RÜPING/SELLERT, Strafrechtspflege, Bd. 1, 209.

Kindsmord

111

den sei und das ganze Gemeinwesen dafür strafen werde 100 . Die Tat hatte "BluhtSchulden auf das Landt" 101 gebracht, die nur durch den Tod der Täterin oder des Täters gesühnt werden konnten. In den hier ausgewerteten Fällen, soweit sie nicht den Aufnahmebüchern des Celler Zuchthauses entnommen sind, wurden 60 Prozent der angeklagten Frauen hingerichtet; läßt man die Fälle beiseite, in denen das Urteil fehlt oder die Angeklagte fliehen konnte, wurden in mehr als drei Vierteln der Fälle Todesurteile verhängt 102 . Kindsmord war damit das Verbrechen, für das Frauen am häufigsten zum Tode verurteilt wurden 103 .

Tabelle 1: Ausgang von Kindsmorduntersuchungen 1600 bis 1809, in denen es zur Anklage einer Täterin kam (ohne Celler Zuchthauslisten) 1 | | | | | | |

Hannover Ertränkt Schwert Verweisung Haft Freispruch Flucht unbekannt

| Insgesamt i

9 21 3 5 -

8 46

1 Hildesheim | 1 1 1 | 13 1 2 | 2 1 1 | 2 | 6 | I 1 27 | i

Quellen: Wie Anhang 3

Entsprechend der Carolina war die übliche Todesart im 17. Jahrhundert zunächst das Ertränken 104 . Die Angeklagte wurde "von dem Scharffrichter in einen Sack gestecket, und verbunden; damit in einen tieffen Fluß geworffen, und also vom Leben zum Tode gebracht" 105 . Wie Tabelle 1 zeigt, wurde die Strafe im späteren Kurfürstentum Hannover neunmal vollzogen 1 0 6 ; für das hildesheimische Gebiet

100 V g l v a n DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 9 und 26; RÜPING/SELLERT, Strafrechtspflege, Bd. 1, 253f. und 286f.; ULBRICHT, Kindsmord, 329; SCHUBERT, Anne Leute, 129. 101

Lucie Sophie Albrecht (1750). Der Begriff der Blutschulden gehört zu den festen Topoi der Urteile. Dies entspricht ungefähr dem von ULBRICHT, Kindsmord, 340, errechneten Anteil (23 von 32 = 72 Prozent). 103 V g l v a n DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 60. 104 PGO, 87, Art. 131. Entgegen der häufig vertretenen Ansicht, nach der Carolina sei das Lebendigbegraben die eigentliche Strafe gewesen, war das Ertränken wohl als Regelstrafe vorgesehen; nur wenn kein Wasser vorhanden war oder aber die Tat sehr häufig vorkam, sollte die Verurteilte lebendig begraben und gepfählt werden. ULBRICHT, Kindsmord, 18 Anm. 28; WÄCHTERSHÄUSER, Verbrechen, 67. Lebendigbegraben und PShlen wurden vermutlich generell nur sehr selten vollzogen. Van DÜLMEN, Theater des Schreckens, 122. 105 Catharina Gronau (1633). 106 Im Fall Gesche Pauss (1600?) bestimmte das Urteil allerdings alternativ Ertränken (nach der Carolina) oder Verbrennen (nach sächsischem Recht). 102

112

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

ist nur eine Hinrichtung durch Ertränken bekannt (1672)107. Das Ertränken wurde "allenthalben im Laufe des 17. Jahrhunderts sukzessive eingeschränkt" 108 und die Verurteilte zur Hinrichtung mit dem Schwert 'begnadigt' 109 . Der Übergang vollzog sich allerdings nur langsam, die wahrscheinlich letzte Ertränkung einer Kindsmörderin wurde 1716 in Göttingen vollzogen 110 . Die ersten überlieferten Hinrichtungen mit dem Schwert wurden im Fürstentum Lüneburg 1638, im hildesheimischen Borsum 1644 und in der Altstadt Hannover 1655 vollzogen 111 . In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde die Enthauptung auch im späteren Kurfürstentum Hannover zur häufigsten Hinrichtungsart 112 . In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die Todesstrafe schließlich zunehmend durch andere Strafen ersetzt 113 . Neben der Sühne des Verbrechens sollte die Strafe der Abschreckung und Verhinderung ähnlicher Taten dienen 114 . Deutlich wird diese doppelte Absicht im Rechtsgutachten im Fall Margaretha Rappen 1671/72: "[das Verbrechen] müße bestraffet sein, woferne das unschuldige Bluth gerochen, der erzürnete Gott ausgesöhnet, undt andere dergleichen bestien, deren es leyder bei diesen Zeiten gar viel giebet, von so abscheulichen Unthaten deferrieret [i.e. abgebracht] undt abgeschrecket werden" 115 . Catharina Gronau sollte 1633 "andern zum öffentlichen abscheu und exempell" ertränkt werden. Zur Erhöhung der Wirkung in der Öffentlichkeit wurden in Einzelfallen

immer

wieder

verschiedene

Strafverschärfungen

verhängt 116 .

Margaretha Hartmanns (1644/45) sollte "mit glüenden Zangen einmahl an ihrer rechten Brust gerißen werden" 117 ; die Verschärfung wurde dann allerdings wieder zurückgenommen. In vier Fällen zwischen 1703 und 1765 wurde der Kopf der 107 108 109

110 111 112 113

114

115 116

117

Maria Rappen (1671/72). Van DÜLMEN, Theater des Schreckens, 123. Vgl. KRAUSE, Strafrechtspflege, 154 Anm. 269; van DÜLMEN, Theater des Schreckens, 138; WÄCHTERSHÄUSER, Verbrechen, 68. StAGö AB Kä 1 Nr. 315, Eintrag vom 27.6.1716. Anna Reuters (1638), Margaretha Hartmanns (1644/45), Anm Elisabeth Fischer (1655/56). Zwischen 1650 und 1699 wurden zwei Frauen ertränkt und fünf enthauptet. Nach den Akten fand im Hildesheimischen die letzte vollzogene Hinrichtung 1756/57 statt (Ilse Anne Margaretha Engel). Im Kurfürstentum Hannover wurden 1765 Trine Marie Krassen und (wahrscheinlich) 1809 Anne Catharine Loges enthauptet. Von weiteren Todesurteilen aus dem 19. Jahrhundert berichtet KRAUSE, Strafrechtspflege, 137. In Nürnberg und Nördlingen wurden die letzten Kindsmörderinnen 1777 hingerichtet. Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 52; FELBER, Unzucht, 130. Zum Abschreckungscharakter der Strafen vgl. RÜPING/SELLERT, Strafirechtspflege, Bd. 1, 254 und 287. StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 140. Vgl. KRAUSE, Strafrechtspflege, 155f. Eine Häufung dieser Strafverschärfungen während eines bestimmten Zeitraumes konnte nicht festgestellt werden, ebensowenig von ULBRICHT, Kindsmord, 340. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5697.

Kindsmord

113

Verurteilten nach der Hinrichtung auf einen Pfahl gesteckt und zur Schau gestellt 118 . Eine weitere mögliche Strafverschärfung war das Umhängen einer hölzernen, einem Kind nachgebildeten Puppe 119 . Ehrstrafen wie diese trafen nicht nur die Verurteilte, sondern auch deren Familie. Strafverschärfungen, zu denen wohl auch die letzten Fälle von Ertränken zu rechnen sind, wurden daher zumeist gegen alleinstehende Frauen ohne Familie verhängt. Mit Rücksicht auf die gesellschaftliche Stellung der Familien der Angeklagten entschlossen sich die Gerichte dagegen oft zur Rücknahme der Strafverschärfungen oder einer Milderung der Hinrichtungsart 120 . Als noch 1734 die Juristische Fakultät Helmstedt die Strafe des Säckens ("poena cullei", Ertränken in einem Sack121) gegen eine Kindsmörderin verhängte, setzte sich der Magistrat der Altstadt Hannover bei der Regierung für die Umwandlung in eine Enthauptung ein, weil "selbige eine Bürgerstochter, auch deren Brüder und Anverwandte hier in der Stadt wohnhaft" 122 . Die Auswirkungen des Prozesses auf die Familie der Angeklagten illustriert die Eingabe der Angehörigen von Lucie Sophie Albrecht (1750) an die hildesheimische Regierung: "Wir überlaßen diese Delinquentin der gerechten Ahndung der Göttlichen und algemeinen Gesetze. Aber allergnädigster ChurFürst und Herr! (...) Die böse That unserer Tochter und respect. Schwester hat bereits bewürcket, daß wir unseres Mannes und Vaters beraubet wurden, welchen der Schrecken und die Betrübnüß über seiner Tochter übertriebene Ausschweiffung wenig Tage nachher, da er solches erfahren, unter die Erde gebracht und Unß zu einer Wittibe und Waisen gemachet" 123 . Aufgrund ihres Einflusses erreichte die Familie, "daß die Vollziehung der urthel [sie!] an einem verschlossenen orth in der Stille" 124 geschah und so weniger Aufsehen erregte. Eine Milderung der Hinrichtungsart oder ein christliches Begräbnis 125 konnten auch durch nachhaltige Reue der Verurteilten bewirkt werden. Um die Frauen auf diesem Weg mit Gott zu versöhnen, wurden sie von einem Geistlichen auf die 118 Anna Chuimeyer (1703), Anna Christiane Hoppert (1731), Engel Christine Suffeit (1737/38) und Trine Marie Krassen (1765/66). 119 [N.N.] (1712). 120 1 655/56 wurde Anna Elisabeth Fischer infolge eines Gnadengesuches ihrer Familie wegen geringer christlicher Erziehung vom Ertränken zum Schwert begnadigt. Im Fall [N.N.] (1712) erreichte die Mutter der Angeklagten, daB auf das Umhängen eines hölzernen Kindes verzichtet wurde. 121 KRAUSE, Strafrechtspflege, 185 Anm. 26. 122 HOOF, Kindsmordvorgänge, 63ff. 123 NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5609, Schreiben vom 21.7.1750, fol. 14v. 124 Ebd., Schreiben vom 11.12.1750, fol. 79 r . 125 Anna Maria Höppner (1720).

114

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

Hinrichtung vorbereitet und im Christentum unterrichtet 126 . In Hildesheim entbrannte zuweilen heftiger Streit um die Seele der Verurteilten. Die fürstbischöfliche Regierung versuchte, lutherische Delinquentinnen vor dem Tod noch zum Katholizismus zu bekehren 127 , wogegen sich die Protestanten zur Wehr setzten. 1672 kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen der Regierung und dem Rat der Altstadt, weil dieser einem katholischen Priester den Zugang zu einer Verurteilten verweigert hatte128. 1738 beschwerte sich ein evangelischer Pastor, daß katholische Geistliche versuchten, die verurteilte Engel Christine Suffert zu bekehren. Zu besonders großem Aufsehen führte der Bekehrungsversuch bei Lucie Sophie Albrecht, deren Vater ehemals Konsistorialrat und deren Bruder angehender evangelischer Pastor war. Letzterer beschwerte sich am 16.9.1750, "daß der unglücklichen Person zur Liebenburg, ohngeachtet sie in ihrer religión zu leben und zu sterben beständig declariret, von Catholischen Geistlichen noch immerhin hart zugesetzt" 129 und dem evangelischen Pastor der Kontakt mit der Verurteilten verweigert werde. Nur wenige Verfahren endeten nicht mit dem Todesurteil. Der Freispruch einer Angeklagten war zwar denkbar, blieb jedoch eine Ausnahme: Anne Elisabeth Ohnverzacht, gegen die im April 1738 das hildesheimische Amt Gronau eine Untersuchung aufgenommen hatte, wurde, nachdem sie wahrscheinlich auch unter der Folter darauf beharrt hatte, ihr Kind nicht getötet zu haben, im Juni 1739 aus der Haft entlassen. Das Verfahren ging dennoch zu ihren Lasten: Vor der Freilassung mußte sie in der 'Urfehde' den Verzicht auf Rache schwören und außerdem versprechen, bei Besserung ihrer Verhältnisse die angefallenen Kosten zu bezahlen 130 . In anderen Fällen, in denen die Tötung nicht nachgewiesen werden konnte, wurde als 'poena extraordinaria' 131 die Verweisung der Angeklagten aus der Stadt oder dem Land angeordnet 132 . In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die Landesverweisung immer seltener ausgesprochen133 und durch Zuchthausstrafen ersetzt. Allerdings wurde noch 1776 Catharina Elisabeth Leder vom Gericht der Hildesheimer Neustadt des Landes verwiesen, obwohl die Juristische Fakultät 126 127 128 129 130

131 132

133

Anne Christine Ochsener (1727) wurde drei Tage auf den Tod vorbereitet. Insgesamt in sechs Fällen. Margaretha Rappen (1671/72). NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5609, fol. 19r. Ebd. Nr. 10148, fol. 376. Vgl. zu dieser Praxis auch van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 53. Über die Verhängung außerordentlicher Strafen KRAUSE, Strafrechtspflege, 133f. 1 654/55 wurde Ilsabeth Heinemeier, der keine Tötung nachgewiesen werden konnte, aus Einbeck verwiesen. In Celle wurden Magdalena Tiemanns (1700?) wegen Verdachts auf Kindsmord und Ilse Kruse (1706) wegen verheimlichter Geburt und Verwahrlosung des Kindes auf ewig des Landes verwiesen; letztere erlitt vorher den Staupenschlag. Zur Landesverweisung bei nicht nachgewiesener Tötung vgl. ULBRICHT, Kindsmord, 341. Vgl. Kap. II, Abschnitt 2.3.

Kindsmord

115

Helmstedt eine lebenslange Zucht- oder Werkhausstrafe vorgeschlagen hatte; das Gericht befand, die Strafe sei "mit leidlichen Kosten des publici" nicht zu vollziehen, da die Hildesheimer Neustadt über kein eigenes Zuchthaus verfüge. Ein neues Gutachten verfügte daraufhin die Landesverweisung. Die Frau erhielt 39 Staupenschläge, mußte die Urfehde schwören und am nächsten Tag das Land verlassen. Generell wurden Kindsmörderinnen nun aber immer häufiger mit dem Zuchthaus bestraft. Erstmals wurde 1738 Anna Hedwig Grote, der keine absichtliche Tötung nachgewiesen werden konnte, vom hildesheimischen Amt Winzenburg zu einer zweijährigen Haft im Spinnhaus in Peine verurteilt, obwohl die Helmstedter Fakultät eine zehnjährige Verweisung aus dem Hochstift und den braunschweiglüneburgischen Landen festgesetzt hatte. Der Grund für diese milde Strafe lag darin, daß die Frau noch vier unmündige Kinder hatte, die bei einem Landesverweis länger auf öffentliche Kosten hätten unterhalten werden müssen. 1746 wurde Anna Ernst im ebenfalls hildesheimischen Steuerwald zu einer unbefristeten Haftstrafe verurteilt, da die Helmstedter Fakultät ihr Unwissenheit zugute hielt und der Dienstherrschaft eine Mitschuld zusprach. Auch im Kurfürstentum Hannover wurde die Zuchthausstrafe häufiger vollzogen. 1769 wurde die erst 14jährige Johanne Philippine Ernestine Pascal aus Göttingen von den Geheimen Räten in Hannover wegen nicht nachweisbarer Gewaltanwendung und ihrer Jugend zu einer zehnjährigen Zuchthausstrafe verurteilt, obwohl das vom Universitätsgericht eingeholte Gutachten der Juristenfakultät Erfurt auf Anwendung der Tortur entschieden hatte. 1795 wurde [N.N.] Hupen wegen "Verheimlichung der Geburt und Vernachlässigung der Leibesfrucht" zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Catharina Elisabeth Erdmann (1781) wurde wegen Kindsmordes zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurteilt, Marie Louise Dismer (1800) zu 20 Jahren Haft. Möglicherweise nahmen die Zuchthausstrafen in weit stärkerem Maße zu, als dies aus den Gerichtsakten hervorgeht. Darauf weist erstens eine zeitgenössische Statistik hin, die eine Abnahme von Todesurteilen zwischen 1765 und 1784 nahelegt 134 , und zweitens die Zahl der im Celler Zuchthaus eingelieferten Kindsmörderinnen, die die aktenmäßig belegten Verurteilungen um ein Vielfaches übersteigt. Gleichzeitig mit der Milderung der Strafen wurde der Strafbestand differenziert und erweitert. In den Aufnahmebüchern des Zuchthauses ist nicht mehr 134

G.E. von RÜLING, Beitrag zur Geschichte der Menschheit des laufenden Jahrhunderts, in Rücksicht auf Verbrechen und Strafen, in: Annalen der Braunschweig-Lüneburgischen Churlande 3 (1789), 551-560, hier 551. Danach wurden im Gerichtsbezirk der Justizkanzlei Hannover 1765 eine, 1766 zwei und 1771, 1773 und 1779 jeweils eine Kindsmörderin hingerichtet, also fünf in der ersten Hälfte des von v. Rüling angegebenen Zeitraums und nur eine in der zweiten Hälfte.

116

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

allein von 'Kindermord' die Rede, sondern daneben existierten die Delikte 'Schuld am Tod des Kindes', 'Verwahrlosung (oder Vernachlässigung) der Leibesfrucht' und 'Fahrlässigkeit (oder Verschuldung) vor, bei und nach der Geburt'. Obwohl die Verheimlichung von Schwangerschaft und Geburt in der Carolina nicht als eigener Tatbestand galt 135 , wurden Frauen häufig auch wegen dieses Deliktes verurteilt. Die Abstufung der einzelnen Delikte ergibt sich aus den verhängten Strafen, wie die folgende Tabelle zeigt. Tabelle 2: Deliktbezeichnungen und Strafen j

| | | | | |

i l 1 | lebensl. | durchschnittl. Zeit-| |in Prozent| strafen in Jahren | j |

Delikt

Kindsmord Kindsmordverdacht/-versuch Schuld am Tod des Kindes Verwahrlosung/Vernachlässigung Verschuldung/Fahrlässigkeit Verheimlichung

1 1 1 1

48 38 34 16

| | | |

1

io

|

|

i

0,02 |

I

6,4 6,6 5,4 4,5 5,3 3,9

| | | | | | i

Quelle: JVACe, Verzeichnis der Zuchtlinge 1731-1778, 1778-1791, 1804-1812 und 1812-1821; NHStA Hann. 86 Celle Nr. 104, Verzeichnis der Zuchtlinge 1791-1804

Betrachtet man die Verteilung der einzelnen Delikte im Zeitraum von 1756 (erste Kindsmörderin) bis 1815, ist zu beobachten, daß die Verheimlichung der Geburt (42mal) insgesamt öfter bestraft wurde als Kindsmord (28mal, dazu noch 13mal versuchter Kindsmord oder Verdacht darauf). Es folgen Schuld am Tod des Kindes (38), Vernachlässigung (38) und Verschuldung bei der Geburt (29). Die weniger hart bestraften Delikte waren also etwa dreieinhalbmal so häufig wie Kindsmord und Kindsmordverdacht. Zudem nahmen Verurteilungen wegen Kindsmordes im Verhältnis zu den anderen Tatbeständen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts immer weiter ab 136 , während parallel vor allem die Verurteilungen wegen Verheimlichung der Schwangerschaft anstiegen137. Die Differenzierung der Strafen führte also dazu, daß nicht mehr nur die Tötung eines Kindes strafwürdig war; gleichzeitig wandelte sich die Intention der

135

136 137

Vgl. Anm. 58. Gesonderter Tatbestand war die Verheimlichung nach einem preußischen Edikt vom 8.2.1765 (WÄCHTERSHÄUSER, Verbrechen, 161-167). Da Verheimlichung in den Zuchthauslisten erst ab 1768 als Delikt auftaucht, liegt die Vermutung nahe, daß die preußische Praxis nachgeahmt wurde. Siehe unten Tabelle 4. 1771-80: 3; 1781-90: 7; 1791-1800: 19.

Kindsmord

117

Strafe vom Sühnegedanken zur Bestrafung nicht akzeptierten Verhaltens138. So wurde Marie Dorothee Louise Dismer (1800) "wegen des ihr (...) allemal zur Last fallenden äusserst strafwürdigen Betragens vor, bey und nach der Geburt dieses Kindes" verurteilt. Diese Neubewertung des Tatbestandes ist Teil einer umfassenden Rationalisierung der Strafrechtspflege, die einerseits mit der Aufgabe der strengen Sittengerichtsbarkeit, andererseits mit dem Verzicht auf die Folter und der Verbesserung der medizinischen Gutachten in Verbindung stand.

2.3.

Die Angeklagten Tätigkeit - soziale Herkunft - Alter - die Beziehung zu den Vätern

Eine umfassende sozialpsychologische Erklärung des Kindsmordes, wie sie in einigen neueren, das 19. Jahrhundert betreffenden Studien präsentiert wird139, ist für die frühe Neuzeit aufgrund der besonderen Quellenlage nicht überzeugend. Während die verfügbaren Quellen zahlreiche Informationen über die strafrechtliche Verfolgung des Kindsmordes enthalten, wird die Lebenswirklichkeit der Angeklagten selbst in umfangreichen Gerichtsakten nur bruchstückhaft und verzerrt wiedergegeben140. Die Aussagen der Angeklagten selbst, aber auch der Zeugen waren in erheblichem Maß durch die Verhörsituation geprägt. Angst vor der Strafe, die Befragung durch mehrere Beamte - Richard van Dülmen spricht in diesem Zusammenhang von einem Zweikampf zwischen Gericht und Angeklagter141 - und die Haftbedingungen schüchterten 'Inquisitin' wie 'Deponenten' ein. Die untersuchenden Beamten richteten ihre Fragen ausschließlich auf den Nachweis der Tat; Suggestivfragen, etwa die Art der Tötung betreffend, waren nicht ungewöhnlich. Gerichtsakten geben daher teilweise eher Aufschluß über das Denken der Richter als über die Lebenswirklichkeit der Frauen, was sich auch in der Sprache der Akten widerspiegelt142. Darüber hinaus läuft die Erklärung der Tat mit psychologischen Mechanismen ebenso wie die eingangs ausgeführte These von der Kindestötung als nachträglicher Geburtenkontrolle Gefahr, unter Vernachlässigung gesellschaftlicher Fakto-

138

139

140 141 142

Zum Wandel des Strafgedankens und zur Aufnahme erzieherischer Aspekte vgl. RÜPING/SELLERT, Strafrechtspflege, Bd. 1, 357-361. So z.B. SCHULTE, Dorf, 156ff. Weitere Arbeiten nennt ULBRICHT, Kindsmord, 155 Anm. 603. Vgl. zu diesen Schwierigkeiten auch ULBRICHT, Kindsmord, 15. Van DÜLMEN, Theater des Schreckens, 25. Die Aussagen sind in indirekter Rede wiedergegeben, die Frauen werden ausschließlich als 'inquisita' oder 'inculpata' bezeichnet. Vgl. die Verhörprotokolle bei HOOF, Kindsmordvorgänge, 52-60, und GÜNTHER, Vermutungen, 145-213. Zu Problem der Suggestivfragen auch ULBRICHT, Kindsmord, 162.

118

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

ren heutige Verhaltensmuster auf die frühe Neuzeit zu übertragen 143 . So werden den Frauen unter Voraussetzung einer Kontinuität psychosozialen Verhaltens nachträglich bestimmte Denk- und Verhaltensweisen zugewiesen, die ihnen möglicherweise aufgrund einer anderen Sozialisation fremd waren 144 . Da sich das innere Erleben der Frauen letztlich anhand des verfügbaren Quellenmaterials nicht nachvollziehen läßt, muß sich die Darstellung darauf beschränken, eine Charakteristik der Tat zu entwickeln, die einen späteren Vergleich mit der Kindesaussetzung und somit mögliche weitere Aufschlüsse erlaubt. Auch bei diesem Vorgehen

müssen

aber

immer

wieder

Einschränkungen

durch

die

Quellensituation akzeptiert werden. Am wenigsten von der Verhörsituation beeinflußt waren die Angaben der Frauen zur Person. In der Herkunft und der gesellschaftlichen Stellung der Täterinnen wurde seit der Aufklärung eine mögliche Erklärung für die Tat gesehen. Das Bild der Kindsmörderin in der Forschung war jedoch durch unterschiedliche Stereotypen geprägt. In literaturwissenschaftlichen Arbeiten wurde meist das literarische Bild von der bürgerlichen Jungfrau, die Opfer eines skrupellosen Verführers geworden war, auf die sozialgeschichtliche Realität übertragen 145 . Radbruch und Gwinner dagegen machten "Dienstboten, meist entwurzelte und verstädterte Landmädchen" als "die vorherbestimmten Kindsmörderinnen" aus, der Kindsmord sei daher "Folge der geschlechtlichen Ausbeutung der Unterschicht durch die Oberschicht" 146 gewesen. Erst Ulbricht und van Dülmen haben auf breiterer Basis die Herkunft der Frauen untersucht und festgestellt, daß es sich in der Tat meist um Dienstmägde handelte, die Vorgeschichte der Schwangerschaft aber individuell sehr unterschiedlich war 147 . Soweit die Quellen dazu Auskünfte geben, machten Dienstmägde auch in den hier untersuchten Fällen die größte Gruppe unter den Angeklagten aus: Von insgesamt 26 Frauen, deren Tätigkeit aus den Akten ermittelt werden konnte, standen 20 (77 Prozent) als Mägde bei anderen Leuten in Dienst. Zwei weitere 143

144

145

146 147

Dazu grundsätzlich: Hans MEDICK, Vom Interesse der Sozialhistoriker an der Ethnologie. Bemerkungen zu einigen Motiven der Begegnung von Geschichtswissenschaft und Sozialanthropologie, in: Hans SÜSSMUTH (Hg.), Historische Anthropologie, Göttingen 1984, 4956, bes. 52f. Vgl. die Kritik von ULBRICHT, Kindsmord, 155-159. Auch ethnologische Untersuchungen stehen vor dem Problem, daS die Gefühle der Frauen nach der Kindestötung weitgehend nicht bekannt sind. SCHULER, Infantizid, 164. Vgl. WEBER, Kindsmörderin, 61ff. Weber selbst erliegt trotz des Versuchs, die soziale Realität des Kindsmordes zu berücksichtigen, dem Klischee, indem er die Kindsmörderin pauschal als "ein Mädchen, das zuvor ein geordnetes Leben gefuhrt hatte, geachtet war und bei jedermann in vollen Ehren stand" (13), beschreibt. RADBRUCH/GWINNER, Geschichte des Verbrechens, 303. Laut van Dülmen machten Dienstmägde 50-65 Prozent der Frauen aus, nach Ulbrichts Berechnung sogar über 83 Prozent. Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 77; ULBRICHT, Kindsmord, 34. Über ganz ähnliche Verhältnisse in England berichtet MALCOLMSON, Infanticide, 202.

Kindsmord

119

Frauen, die vom Spinnen lebten, waren zuvor als Mägde tätig gewesen. Von den übrigen Frauen lebten zwei von Gelegenheitsarbeit, eine arbeitete als "NäheMädgen" 148 und eine als Haushälterin. Alle diese Frauen waren ledig. Bei weiteren 17 Frauen, über deren soziales Umfeld einzelne Nachrichten vorliegen, ohne daß eine Beschäftigung angegeben wurde, handelte es sich teils um junge Mädchen, die im Hause ihrer Eltern lebten und zeitweise auswärts halfen, teils um ältere Frauen, die meist verheiratet oder verwitwet waren. Insgesamt dürfte der Anteil verheirateter und verwitweter Frauen ungefähr zehn Prozent betragen haben 149 . Bei den Dienstboten handelte es sich weniger um einen sozialen Stand als vielmehr um eine Altersgruppe; viele Mägde heirateten nach einer längeren Dienstzeit und gaben ihre Tätigkeit auf 150 . Die eigentliche soziale Herkunft der Frauen ist nur schwer zu ermitteln. Zuerst einmal liegen in nur 14 Fällen Informationen über die soziale Herkunft der Eltern der Angeklagten vor. Darüber hinaus wechseln Tätigkeitsbezeichnungen mit Angaben über die gesellschaftliche oder rechtliche Stellung. Fünf Väter von Kindsmörderinnen lebten von der Landwirtschaft. Davon gehörten drei zur kleinbäuerlichen Schicht (je ein Kötter, Halbkötter und Ackermann), die beiden anderen hatten eine etwas herausgehobene Stellung im Dorf als Dorfschulze bzw. Bauermeister inne. Der Vater Lucie Sophie Albrechts (1750) war in Hildesheim Hofgerichtsassessor und Konsistorialrat, also ein hoher Beamter, ein Vater war Schuster, ein anderer ein nicht näher bezeichneter Stadtbürger in Hannover. Die übrigen fünf Väter gingen dagegen eindeutig Tätigkeiten von geringerer sozialer Reputation und niedrigen Einkünften nach: Zwei waren einfache Soldaten, je einer Brauerknecht, Hirte, Schuster und Torwärter am Ostertor in Hildesheim. Eine verwitwete Mutter lebte in Göttingen als Speisewirtin. Insgesamt deuten diese Angaben darauf hin, daß die Kindsmörderinnen mehrheitlich eher einfachen Verhältnissen entstammten. Da sie im Verlauf des gerichtlichen Verhörs beinahe immer danach gefragt wurden, ist das Alter recht vieler Frauen bekannt. Teilweise sind die Angaben allerdings etwas ungenau, wie etwa bei Anna Reuters (1638), deren Alter zwischen 40 und 50 Jahren angegeben wird. Einige Frauen wußten selbst nicht ge148 149

150

[N.N.] Hagemanns (1727). HOOF, Kindsmordvorgänge, 52. Von den 43 Frauen, deren Umfeld aus den Akten ansatzweise bekannt ist, waren zwei verheiratet und fünf verwitwet (zusammen 11,6 Prozent). Etwas geringer war der Anteil unter den Verurteilten im Celler Zuchthaus: von 172 Frauen waren 13 verheiratet und vier verwitwet (zusammen 9,9 Prozent). Quellen wie Tabelle 3. Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 77f.; Michael MITTERAUER, Gesindedienst und Jugendphase im europäischen Vergleich, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), 177-204, hier 183. Besonders niedrig war die Zahl über dreißigjähriger Dienstboten im hannoverschen Amt Blumenau. BEGEMANN, Bäuerliche Lebensverhältnisse, 33. Von ähnlichen Ergebnissen aus dem nordwestdeutschen Raum berichtet SCHLUMBOHM, Familie, 144f. Von ungefähr einem Drittel lebenslang dienenden Gesindes in Bayern geht dagegen aus: BREIT, "Leichtfertigkeit", 32.

120

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Straftecht

nau, wie alt sie waren. Ilsabe Catharina Maatsch (1731) gab ihr Alter mit 20 Jahren an, "wie sie nicht anders meinete" 151 , Catharina Elisabeth Erdmann (1781) behauptete von sich, demnächst 20 Jahre alt zu werden, obwohl sie nach dem Taufschein schon 23 war 1 5 2 , und Anna Churmeyer (1703) bekannte sogar, sie "wüste eigentlich nicht wie alt" 1 5 3 sie sei. Diese Fälle sind jedoch Ausnahmen, die bei insgesamt 29 Angeklagten, deren Alter aus den Kindsmordakten hervorgeht, nicht sonderlich ins Gewicht fallen. Darüber hinaus ergeben die Altersangaben in den Celler Zuchthauslisten, die bei 80 von 172 Frauen eingetragen sind, ein ganz ähnliches Bild 1 5 4 . Tabelle 3: Alter v o n 109 v e r u r t e i l t e n 1 | Anzahl 1 1

1 | unter 2 0 1| 9 | absolut| | in % | 8 i i

20-24 39 36

25-29 33 30

30-34

Kindsmörderinnen 35-39

18 17

5 5

1 40 u.älter | 1 1 5

4

1 1 1

Quelle: wie A n h a n g 3 u n d Tabelle 2

Es fällt auf, daß der Kindsmord keinesfalls alle gebärfähigen Frauen gleichermaßen betraf. Unter den Verurteilten waren nur sehr wenige junge Mädchen und auch relativ wenige Frauen über 30 Jahren. Die meisten (66 Prozent) waren vielmehr zwischen 20 und 30 Jahren alt. Das Durchschnittsalter lag bei 25,2 Jahren nach den Gerichtsakten und bei 26,4 Jahren bei den im Celler Zuchthaus inhaftierten Frauen 1 5 5 . Das Durchschnittsalter nur der ledigen Frauen (96) aus beiden Quellengruppen betrug 24,9 Jahre. Wäre die Tötung des Kindes eine Strategie der Geburtenbeschränkung gewesen, hätten sich sowohl mehr ältere als auch verheiratete Frauen unter den Täterinnen befinden müssen. Anhand ganz ähnlicher Ergebnisse über das Alter der Kindsmörderinnen 156 und der daraus folgenden Übereinstimmung zwischen dem Durchschnittsalter von 151 152 153 154

155

156

NHStA Hann. 72 Dannenberg Nr. 23. GÜNTHER, Vermutungen, 184. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5299, fol. 11. Nach den Akten waren 65 Prozent der Frauen zwischen 20 und 30 Jahre alt, nach den Zuchthauslisten 67 Prozent. Das Durchnittsalter lag bei 25,2 Jahren bzw. 26,4 Jahren. Bei einer ungenauen Altersangabe wurde mit dem Mittelwert gerechnet, also 26,5 bei einer Angabe von 26 oder 27 Jahren. Das von Ulbricht auf einem vergleichbaren Zahlenmaterial (92 Frauen inkl. Fällen von verheimlichter Schwangerschaft und Geburt) errechnete Durchschnittsalter lediger Frauen beträgt gleichfalls 24,9 Jahre. 76,5 Prozent aller Kindsmörderinnen in Schleswig-Holstein waren zwischen 20 und 29 Jahre alt. ULBRICHT, Kindsmord, 30f. WÄCHTERSHÄUSER, Verbrechen, 122, hat errechnet, daß von 53 hauptsächlich aus Preußen stammenden Frauen 73,6 Prozent zwischen 20 und 30 Jahre alt waren. Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 83, kommt unter Einbeziehung dieser Angaben sowie einiger Zahlen aus Danzig zu dem Schluß, "daß die meisten Kindsmörderinnen in der Tat 23-27 Jahre alt waren."

121

Kindsmord

Kindsmörderinnen und dem durchschnittlichen Heiratsalter, das bei etwa 24 Jahren oder etwas darüber lag, vermuten sowohl van Dülmen als auch Ulbricht, daß die Frauen "sich entsprechend dem alten traditionellen Heiratsmuster verhielten" 157 und der Kindsmord "im Zusammenhang gescheiterter Heiratspläne" 158 zu verstehen sei. Bei einer solchen Interpretation ist allerdings zu berücksichtigen, daß bei den Dienstboten insgesamt die Zahl der 20-29jährigen sehr hoch war 159 ; die Altersstruktur bestätigt also zuallererst die Feststellung, daß es sich bei den meisten Kindsmörderinnen um Dienstmägde handelte. Die Beziehung zu den Kindsvätern muß daher jeweils im Einzelfall berücksichtigt werden. Da die Befragung der Männer hauptsächlich die Vaterschaft sowie eine eventuelle Mittäterschaft nachweisen sollte, stammen Aussagen über die Art der Beziehung fast immer von den Frauen selbst. Eine von ihnen, Ilsabe Catharina Maatsch, gab an, eine geplante Eheschließung sei daran gescheitert, daß "des Stupratoris [i.e. Schwängerers] Bargen Vatter in die heirath (...) nicht [habe] willigen wollen" 160 . Von der Absicht einer späteren Ehe, besiegelt durch ein vor dem Beischlaf bestehendes Eheversprechen 161 , ist in noch zwei Fällen die Rede: bei den ledigen Mägden Anna Margarethe Mollers und Ilsabe Engelke (beide 1686). In drei weiteren Fällen stellten die Männer erst nach dem Beischlaf eine Eheschließung in Aussicht, um die Frauen zu beruhigen 162 . Trotzdem ist nicht auszuschließen, daß sich weitere Frauen Hoffnungen auf eine Heirat gemacht hatten. Eine Auswertung der Tätigkeiten von 26 Kindsvätern ergab, daß Knechte die größte Gruppe ausmachten (7); in fünf Fällen dienten diese mit der Frau im gleichen Haus. Danach folgten Soldaten (5), Bedienstete des herzoglichen Hofes in Hannover (ein Kammerdiener und ein Stallbursche) oder von Adligen (ein Hofmeister, ein Knecht eines Leutnants sowie ein Lakai), und drei Hirten; die übrigen sieben Männer gehörten verschiedenen Berufen an: vier waren Handwerker

(j e

ein

Fleischermeister,

Schuster,

Schneider,

Leineweber),

einer

'Ackermann' und einer Pferdehändler. Die relativ große Zahl von Knechten und die weitgehende Übereinstimmung des sozialen Milieus der Väter mit der Her-

157 158 159

160 161

162

Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 83. Ebd., 84; ähnliche Überlegungen bei ULBRICHT, Kindsmord, 33. Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 78. In Zürich waren 1697 38,4 Prozent aller 2024jährigen und 23,4 Prozent aller 25-29jährigen Dienstboten, in Salzburg 1647 71,5 Prozent aller 20-24jährigen und 48,5 Prozent aller 25-29jährigen. NHStA Hann. 72 Dannenberg Nr. 23, Protokoll vom 14.3.1731. Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 83, behauptet, die Frauen hätten oft angegeben, erst nach einem Heiratsversprechen mit einem Mann Beischlaf gehabt zu haben; eine Zahlenangabe fehlt aber. ULBRICHT, Kindsmord, 86, führt allerdings an, daB in 35 von 39 Fällen ein Heiratsversprechen vorlag. Ilsabeth Heinemeier (1654/55), Anna Elisabeth Fischer (1655/56). Im Fall Anna Churmeyer (1703) sagte der Kindsvater, "Er wolte dennoch thun was sich gebührte". NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5299, fol. 12r.

122

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

kunft der Frauen 163 lassen eine geplante oder gewünschte Hochzeit durchaus denkbar erscheinen. Andererseits aber besteht ebensogut die Möglichkeit, daß es sich um nichteheliche, eventuell längerfristige Beziehungen handelte, wie sie gerade bei Soldaten häufiger vorkamen 154 . Für die Existenz solcher Beziehungen gibt es Indizien: den - wenngleich geringeren - Anteil älterer Frauen, zu denen auch die Witwen oder Ehefrauen zählten, und lediger Mütter unter den Kindsmörderinnen. Zwei von den fünf aus den Akten bekannten Witwen waren 40 Jahre oder älter. Eine von ihnen hatte mehrfach Kirchenbuße wegen nichtehelichen Geschlechtsverkehrs leisten müssen 165 , eine andere hatte bereits sieben Kinder geboren 166 . Auch einige ledige Frauen hatten früher schon uneheliche Kinder zur Welt gebracht und waren nach der Geburt ledig geblieben. Elisabeth Pein (1675) und die 24jährige Anne Elisabeth Ohnverzacht (1738/39) hatten jeweils ein uneheliches Kind, genauso wie Elisabeth Wehden (1637), die eine fünfjährige Tochter von demselben Mann hatte wie ihre Schwester. In einigen Fällen scheint eine dauerhafte nichteheliche Beziehung bestanden zu haben. Anna Ilse Wöhlers (1732), eine ledige 20jährige Frau, hatte mit dem Vater ihres Kindes, einem verheirateten, aber von seiner Frau getrennt lebenden Pferdehändler, schon seit drei Jahren ein Verhältnis. Eine andere Frau, die 1712 in Alfeld vor Gericht gestellt wurde, sollte mehrere uneheliche Kinder, die sie von ihrem Dienstherrn hatte, ermordet haben 167 . Die 36- oder 37jährige Dorothea Elisabeth Lampe (1737) schließlich hatte zuvor bereits drei uneheliche Kinder geboren, deren Vater Soldat, genauer Dragoner, gewesen war. Nach dessen Tod hatte sie eine Beziehung zu einem anderen Dragoner begonnen und von diesem ein viertes Kind empfangen. In zumindest einem Fall scheint die Frau sich aus dem nichtehelichen Geschlechtsverkehr einen Vorteil erwartet zu haben. Die 20jährige Magd Engel Christine Suffert gab an, im Haus ihres Dienstherren mit diesem sowie mit einem Amtsschreiber Verkehr gehabt zu haben; beide Männer hätten ihr materielle Versprechungen gemacht 168 . Eine weitere Frau gab ebenfalls mehrere mögliche Väter an 169 . All diese Fälle zeigen, daß außereheliche Geschlechtsbeziehungen keine Ausnahme waren und in gewissem Rahmen auch längerfristig bestehen konnten. 163 164

165 166 167 168

169

Ähnliche Übereinstimmungen berichtet ULBRICHT, Kindsmord, 78. PRÖVE, Stehendes Heer, 136-140; Christina MÜLLER, Karlsruhe im 18. Jahrhundert. Zur Genese und sozialen Schichtung einer residenzstädtischen Bevölkerung ( = Forschungen und Quellen zur Stadtgeschichte; 1), Karlsruhe 1992, 387 und 391. Anna Reuters (1638). Christina Margaretha Ützmann (1737). HOOF, Kindsmordvorgänge, 52. NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 850, Schreiben an das Domkapitel vom 3.8.1712 (vorgelegt). "Eß hetten zwey, nemblich ihr brodt herr Johan Henrich Dutmann, undt einer nahmens Mühs vom Amt Hunsrück einen Beischlaff mit ihr gehabt, wüste also eigentlich nicht wehr Vatter zum Kind Wehre." NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5140, Verhör vom 7.1.1738. Anna Dorothea Biesters (1663).

Kindsmord

123

Neben dieser Form von Sexualiät und den möglichen vorehelichen Verbindungen fällt vor allem eine dritte Art der Geschlechterbeziehung auf: einige Frauen wurden ihren Aussagen nach gegen ihren Willen zum Geschlechtsverkehr genötigt. Maria Wedemeyer aus Ricklingen, die 1688 in Hildesheim festgenommen wurde, gab an, zweimal zum Beischlaf gezwungen worden zu sein. Die Witwe Anna Hedwig Grote war nach ihrer Aussage vor dem Amt Winzenburg 1737 auf dem Rückweg von Gronau nach Breinum, wo sie wohnte, von dem verheirateten Schneider Spier vergewaltigt worden. Gleichzeitig habe Spier ihr Stoff für einen neuen Rock oder ein Brusttuch versprochen, wohl um ihr Schweigen zu erkaufen. Ebenfalls auf einen erzwungenen oder erduldeten Geschlechtsverkehr verweisen die Aussagen von Anna Christiane Hoppert (1731), die angab, der Kindsvater, ein Musketier, habe viermal "seinen bösen Willen mit ihr vollbracht" 170 , und von Catharina Elisabeth Erdmann (1781), die "zum ersten Male nicht ohne Gewalt und Zwang" 171 mit dem Kindsvater Beischlaf hatte. In einigen Fällen waren das enge Zusammenleben von weiblichen Dienstboten mit ihrer Dienstherrschaft und ihre Abhängigkeit Anlaß zur sexuellen Ausbeutung der Magd 172 . Im Fall Trine Schützen (1690), die bei einem Forstschreiber diente, berichtete ein Zeuge, der junge Forstschreiber habe "zu unterscheeden malen, wenn Sie auf dem Hofe zusammen kommen, ihr der Trinen in den Busen gegriffen" 173 . Auch Ilsabeth Heinemeier (1654/55) wurde im Rahmen ihres Dienstes zum Beischlaf genötigt. Als Magd in einer Garküche mußte sie den Bruder ihres Dienstherrn, der in der Gaststätte getrunken hatte, mit der Laterne nach Hause begleiten. Diese Situation mißbrauchte der Mann, um sie zu vergewaltigen: "und ob sie woll den geradesten weg auff sein Hauß zugehen wolle, hette er dennoch dreimahl beiwege gesuchet, auch endlich [an einem einsamen Ort] sie herumgezogen, alß das Ihr die Leuchte aus den Händen gefallen, und das Licht ausgeloschet, Sie nieder auff die erde geworffen, alß das Sie mit dem Kopf gegen die pforte zu liegen gekommen, auch das werck des beyschlaffs mit derselben verrichtet" 174 . Ganz besonders deutlich wird die Verbindung von Dienstverhältnis und sexueller Gewalt bei Anna Elisabeth Fischer (1655/56) aus Hannover. Nach ihrer ersten Aussage war auch sie vergewaltigt worden: "Niclauß des Jüngsten Princen Kammerdiener (...) wehre in ihrem Hause zu Tisch gangen, und wie ihr herr und frau einstmahls zu 170 171 172 173 174

NHStA Hann. 72 Einbeck Nr. 445, Verhör vom 26.1.1731. GÜNTHER, Vermutungen, 161. Vgl. ULBRICHT, Kindsmord, 81. NHStA Cal. Br. 23 Nr. 655, fol. l v . NHStA Hann. 72 Einbeck Nr. 571, Protokoll vom 18. Dezember 1654.

124

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

Hofe gewesen, hette Sie das bette gemacht, da wehre der Kammerdiener auff die Kammer zu ihr kommen, dieselbe hinter sich zugeschloßen, und sie mit guten Worten beredet, Sie hette sich lange weile gewehret, Er hette Sie aber Endtlich auffs bette geworffen, und mit Ihr [unleserlich] gehabt, hette in allem dreymal bey ihr geschlaffen und gesagt wan Er Sie sehende wolte Er Sie wieder Ehrlich machen" 175 . Später beschuldigte sie ihre Dienstherrin, sie gegen ihren Willen und obwohl es im Hause noch warm war, zum Holzholen in den Schuppen geschickt zu haben, um dem Kammerdiener erneut Gelegenheit zum Beischlaf zu verschaffen 176 . Außerdem habe die Herrin sie auf ähnliche Weise ihrem Schwager zugeführt: "[diese habe] sobalt von der Cammer sich gemachet, die thüer hinter sich zugeschloßen, da dann Moritz mich überwältigen wollen, welches ihme damahlen gleichwohl nicht angangen, sondern habe gesehen, daß ich die thüer wieder eröffnet undt ihme also entgangen, wie nun selbigen abents mich meine frauen in den Stall geschicket undt Holtz langen sollen, ist der Moritz mihr sobalt gefolget, undt mich auff die Erde niedergeworffen, seinen bösen willen verübet, mit andeuten meine frau hette es ihme anbefohlen, undt ob ich wol mich bemühet seiner zu erwehren undt ruffen wollen, hat Er mit dem Schnupftuche mir den Mündt zustopfen wollen. Wenige tage darnach ist Moritz wieder in meiner frauen logement gewesen, wie ich nun selbigmahl in den stall undt salva venia [i.e. mit Verlaub] uffs privat gangen, ist mir Moritz gefolget, mich daselb überwältiget, mit vorgeben, Er hette Vergünstigung von meiner frauen, daß Erß nurt thun solte" 177 . Nach dem Beischlaf habe die Küchenschreiberin sie am Fortzug gehindert, indem sie ihr "zeugk beygelegt und verschlossen" habe. Zur Bekräftigung ihrer Beschuldigungen berichtete sie, daß auch die vor ihr im Hause tätige Magd auf ähnliche Weise vom Bruder des Küchenschreibers zum Geschlechtsverkehr gezwungen worden sei. Diese Beispiele belegen, daß die ledige Magd durch ihre abhängige Stellung im Haus von ihrer Herrschaft sexuell ausgenutzt werden konnte. Sexuelle Beziehungen zwischen Magd und Herrschaft sind mehrfach belegt 178 . Zwar wurden nur zweimal Dienstherren als Väter angegeben; zusätzlich zu den beiden oben ausgeführten Fällen, wo die Brüder der Dienstherren Geschlechtsverkehr mit der Magd hatten, sind aber noch zweimal Söhne von Dienstherren und einmal der 175 176

177 178

NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 250, Verhör vom 15.10.1655. Ebd.: "wie ich nun darin gewesen, ist mir sobalt Niclaß gefolget, mich auff die Erden niedergeworffen undt seinen willen verübet, mit vorgeben Er hette Vergünstigung von meiner Frauen, und hette Sie ihme solches befohlen." Ebd., Schreiben vom 15.12.1655. Der anhand anderer Fälle angegebene Anteil von Dienstherren an den Kindsvätern liegt zwischen 15 und 25 Prozent. ULBRICHT, Kindsmord, 81. Von Beziehungen zwischen Mägden und Dienstherren berichten auch KAPPL, Not, 140ff.; SCHUBERT, Soziale Randgruppen, 316.

Kindsmord

125

Sohn eines Hauswirtes als Väter der Kinder verzeichnet. Genau wie bei den Heiratsabsichten kann aber auch hier nicht verallgemeinert werden: Es ist durchaus denkbar, daß die Frauen hofften, den Sohn ihres Herrn eventuell später heiraten zu können, und daher in den Beischlaf einwilligten179. Die skizzierten drei Beziehungstypen sind selbstverständlich nur Annäherungen an die Realität. Einige Fälle passen nicht in diese Muster, so z.B. eine verheiratete Kindsmörderin, die geflohen war und von ihrem Mann angezeigt wurde 180 . Lucie Sophie Albrecht (1750) war auf dem Gut Flachstöckheim von einem "beweibten Laquayen" verführt worden. Anna Maria Zielen (1734) sagte aus: "Dieser Bösewicht hatte sie schändlicherweise verführet, da er doch Frau und Kinder am Leben" 181 . Ob die Verführung ein Eheversprechen oder materielle Vorteile beinhaltete oder die Frauen von sich aus in den Beischlaf einwilligten, kann nicht geklärt werden. Wenn es auch keine auf alle Fälle passenden Beziehungsmuster gibt, scheinen doch die ausgeführten drei Typen von Beziehungen vorherrschend gewesen zu sein. Das Bild, das die Annäherungen an das soziale Milieu der Kindsmörderinnen und die Art der Beziehung ergeben haben, unterscheidet sich grundlegend weder von dem der Frauen, die ihre Kinder aussetzten, noch von dem lediger Mütter, die sich bemühten, ihre Kinder zu versorgen - vielleicht mit Ausnahme der Fälle von erzwungenem Beischlaf. Die in den neueren Untersuchungen versuchte Herleitung des Kindsmordes aus den Lebensbedingungen weiblicher Dienstboten, bei der das enge Zusammenleben der Geschlechter auch bei unverheiratetem Gesinde, die wirtschaftliche Not und die Furcht um den Arbeitsplatz als Ursachen des Kindsmordes genannt werden, ist daher problematisch 182 . Die soziale Lage war nicht Ursache, sondern eher Bedingung für den Kindsmord in der frühen Neuzeit; sie allein ist jedenfalls keine hinreichende Erklärung für die Tötung eines neugeborenen Kindes.

179

180 181 182

Vgl. ebd. Laut ULBRICHT, Kindsmord, 83, waren solche Ehen allerdings eher unwahrscheinlich. Derselben Auffassung ist KAPPL, Not, 142f. Magdalena Hagemann (1804). HOOF, Kindsmordvorgänge, 61. Der grundsätzliche Einwand, daß beileibe nicht alle unehelich schwangeren Dienstmägde ihre Kinder umbrachten, wird zwar erkannt, unter Hinweis auf mangelhafte Vergleichsmöglichkeiten, die durch die geringe Kenntnis über die Lebensverhältnisse von Dienstmägden einerseits und ledigen Müttern andererseits bedingt sind, bleibt aber die Neigung bestehen, im Gesindedienst eine Ursache für den Kindsmord zu sehen. Dies gilt besonders für van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 84f.; vorsichtiger interpretiert ULBRICHT, Kindsmord, 154f. Zur Unzulänglichkeit äußerer Gegebenheiten für die Erklärung heutiger Kindestötungen vgl. Günther FAUST, Die Kindestötung. Eine kriminalbiologische Betrachtung aus der Sicht der Persönlichkeit und Konfliktlage der Täterin, Mainz 1967, bes. 32 u. 70f.

126 2.4.

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

Der Weg zur Tat Motive - Verhalten der Umwelt - Tötungsabsicht - Schuldnachweis - Tatsituation

Es stellt sich daher die Frage, wo die Beweggründe der Frauen für eine solche Tat gelegen haben könnten. Klare Motive 183 , wie sie in den aufklärerischen Schriften des ausgehenden 18. Jahrhunderts eine Rolle spielten, vor allem die Furcht vor gesellschaftlicher Schande und Unzuchtsstrafen sowie materielle Not 184 , wurden von den Frauen selbst nur äußerst selten angeführt. Elisabeth Pein (1675) gab nach langen Verhören und Folter schließlich zu, ihre Absicht sei gewesen, daß "ihr Schande heimbich [sie!] bleiben" 185 solle, und Maria Wedemeyer (1688) hatte ihren Heimatort verlassen, da dort das Gerücht umging, sie habe das Kind mit ihrem eigenen Vater erzeugt, was nicht nur ihren Ruf schädigte,

sondern sie auch der Gefahr einer Bestrafung wegen

Inzests

aussetzte 186 . Die Angst vor Strafen ist vor allem bei Frauen wahrscheinlich, die eine stark kompromittierende, also ehebrecherische oder inzestuöse Beziehung eingegangen

waren 187 .

Bemerkenswerterweise

wurde dieses

Motiv

zudem

ausschließlich bei Fällen aus dem 17. Jahrhundert genannt, als Unzucht, Ehebruch und Blutschande weit härter bestraft wurden als im 18. Jahrhundert 188 . Die Angst vor materieller Not wurde sogar nur von einer Frau als Auslöser für die Tötung des Kindes genannt: "Sie hette gedacht, wo die Nahrunge herkommen wolte. Sie were blüht arm, hette keine Herberge kriegen können, wenn sie das Kind behalten" 189 . Prinzipiell dürfte Armut erst einige Zeit nach der Geburt eine Rolle gespielt haben 190 . Möglicherweise entsprangen die Motive Schande und Armut ohnehin 183

184 185 186 187 188

189

190

ULBRICHT, Kindsmord, 92, unterscheidet in Anlehnung an HOFFER/HULL, Murdering Mothers, zwischen 'Ursachen' im Sinn von "environmental causes" und 'Motiven' im Sinn von "individual motivation". Die Verwendung dieser Begriffe ist jedoch problematisch, da 'Ursachen' eine Art Unausweichlichkeit, 'Motive' in jedem Fall eine geplante Handlung assoziieren. Vgl. ULBRICHT, Kindsmord, 161. NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 771, Urgicht vom 5.8.1675. Vgl. LESEMANN, Arbeit, Ehre, Geschlechterbeziehungen, 196-203. Vgl. ULBRICHT, Kindsmord, 153. Elisabeth Wehden (1637) und Margaretha Rappen (1671/72) nannten explizit die Angst vor Strafe. Die größere Bedeutung der Strafen zeigt auch die harte Bestrafung der Kindsväter im 17. Jahrhundert: 1604 wurde ein Kindsvater wegen Blutschande an den Pranger gestellt (Ilse Pengel); Cord Biesters wurde wegen Ehebruchs des Landes verwiesen (Elisabeth Wehden 1637); Andreas Bertram mußte 100 Rtlr. zahlen (Ilsabeth Heinemeier 1654/55). Vgl. auch Kap. II, Abschnitt 3. ULBRICHT, Kindsmord, 170, und van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 92, halten die Angst vor Strafen als Auslöser für eine Kindestötung für nebensächlich. Anna Margaretha Oelmann (1714). NHStA Hann. 72 Einbeck Nr. 569, Verhör vom 13.2.1714. ULBRICHT, Kindsmord, 165. Vgl. auch die Tötung älterer Kinder in Abschnitt 3.3.

Kindsmord

127

mehr der Erwartungshaltung und dem Frageschema der Beamten als den Gedanken der Frau 191 . Überzeugender in seiner weniger linearen Begründung erscheint daher der Wunsch von Engel Christine Suffert (1737): "damit sie ledig und loß sein wollen" 192 . Breiten Raum in den Aussagen der Frauen nahm das Verhalten ihrer näheren Umgebung ein. Nur eine Frau berichtete, daß ihr von einer Frau aus der Nachbarschaft Hilfe für die bevorstehende Niederkunft angeboten wurde:

"Maria, siehe, du bist noch jung, bleib bey deinen Vater, kompts daß deine Zeit vorhanden ist, ich wohne nahe bey dir, ich will zu dir kommen, und dir an die Hand gehen, auch die Hembden, [innen, und das ein und ander geben, daß dir nichts fehlen soll, und komme ja auff keine böse gedancken" 193 .

In mehreren Fällen waren die Schwangeren ihrer späteren Aussage nach von anderen aufgefordert worden, das Kind bei der Geburt zu töten. Der Vater des Kindes von Ilse Anne Margaretha Engel (1755) riet ihr, "Wan sie ein Kindt bekähme, so solte sie es ins Waßer werfen" 194 . Zwei weitere Kindsväter hatten ähnliche Aufforderungen gemacht 195 , ebenso in zwei Fällen weibliche Angehörige 196 . Die wenigen Untersuchungen wegen Mittäterschaft richteten sich in der Regel gegen die Mütter der Angeklagten 197 . Margaretha Elisabeth Rolefer wurde beschuldigt, gemeinsam mit ihrer Tochter die Tötung begangen zu haben 198 , und in dem von Meister überlieferten Fall Anne Marg. R. (1766) hatte sogar deren Mutter das Kind getötet 199 . Andere Mütter wurden zumindest wegen Fahrlässigkeit angeklagt 200 , und in einigen Fällen sorgten nahestehende Personen für die

191

192 193 194 195 196

197

198 199

200

ULBRICHT, Kindsmord, 162, hält die Suggestion von Motiven bei der Vernehmung für wahrscheinlich. FAUST, Kindestötung, 34, gibt ebenfalls zu bedenken, dafi klar umrissene Motive suggestive Erklärungsversuche oder opportune Darstellungsversuche sein könnten. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5140, fol. 9-13. Vgl. auch ULBRICHT, Kindsmord, 168. Maria Wedememeyer (1688). StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 152. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 10143, fol. 33v. Margaretha Rappen (1671/72), Elisabeth Pein (1675). Maria Wedemeyer (1688) gab an, von ihrer Schwester zu der Tat ermuntert worden zu sein. Der Vater des Kindes von Anne Ilsche Schreckes (1668) sagte nach der Tat: "Er hette nicht gehoffet, das sie es also gemachet hette, wie ihr ihre Base und des Kindes vaters mutter gesaget." NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 283, Verhör vom 7.2.1668. In einem Fall war eine Frau gemeinsam mit ihrer Schwester angeklagt. NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 850. Im Celler Zuchthaus wurde 1778 ein Mann eingeliefert, der wegen der Tötung eines mit seiner eigenen Tochter im Inzest erzeugten Kindes zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden war. JVACe, Verzeichnis der ZUchtlinge 1731-1778. Elisabeth Meyers (1710?). Christian Friedrich Georg MEISTER, Rechtliche Erkenntniße und Gutachten in peinlichen Fällen, größten Theils im Namen der Göttingischen Juristen-Fakultät ausgearbeitet, Bd. 2, Göttingen und Kiel 1772, 179-183. In den Aufnahmebüchern des Celler Zuchthauses lassen sich zwei wegen Fahrlässigkeit verurteilte Mütter nachweisen (1784 und 1801). JVACe, Verzeichnis der Züchtlinge 1778-1791, und NHStA Hann. 86 Celle Nr. 104, Verzeichnis der Züchtlinge 1791-1804. Die Mutter von

128

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

Beseitigung der Kindesleiche201. Das Motiv für die Beihilfe der Verwandten mag die Vermeidung des öffentlichen Aufsehens gewesen sein, wie dies van Dülmen nahelegt 202 , oder aber auch Solidarität mit der Schwangeren. Aber auch in anderer Richtung spielte das Verhalten von Kindsvätern und Familie eine wichtige Rolle: wenn die Frauen mit der Schwangerschaft alleingelassen wurden. Drei Männer schoben der Frau die alleinige Verantwortung für das Kind zu, sie "solte nur damit machen, was sie wolte" 203 . Anne Christine Ochsener (1727) schilderte, wie sie von ihrer gewohnten Umgebung ausgestoßen worden sei. "[Der Kindsvater habe] sie mit harten ungestühmen Worten angefallen und gesaget, wan sie sagte daß er Vater des Kindes wäre, wolte er sie ermorden, und sie solte weg gehen, und ins waßer springen (...) der Stieffvater [habe] sich verlauten lassen, er wolte sie todt schießen." "[Ihre Eltern] hätten sie todtschlagen wollen und der Vater hätte sie aus dem Hause gestoßen und sie umbringen, der Bruder sie todschießen, auch die Leute dabei sie in Einbeck gewesen sie im Hause nicht leiden wollen" 204 . Auch die Verheimlichung der Schwangerschaft, die in den meisten Fällen dem Kindsmord vorausging, war nach den Aussagen eine Reaktion auf das ablehnende Verhalten der Umwelt. Die Tante von Ilsabe Catharina Maatsch (1731) hatte ihr gesagt, sie solle "ihr nicht vor die Augen kommen" 205 . Maria Gertrud Willy (1742/43) fürchtete, ihr Bruder, ein Schulmeister, werde "sie auß dem Hauße verstoßen" 206 . Eine wichtige Instanz für Mägde war auch die Dienstherrschaft. Anna Churmeyer (1703) sagte, "Sie hette es der Frauen nicht sagen dürfen, weilen dieselbe mit ihr zürnen mögen" 207 . Auch Ilse Anne Margaretha Engel (1755/56) gab an, Furcht vor ihrer Dienstherrin gehabt zu haben. In vier Fällen jagten der Arbeitgeber oder der Hauswirt die Frauen kurz vor der Niederkunft aus dem Haus, so daß sie keinen Zufluchtsort mehr hatten 208 .

201

202 203 204 205 206 207 208

Johanne Philippine Ernestine Pascal (1768) aus Göttingen entging 1769 nur durch einen Reinigungseid (vgl. Kap. II, Anm. 237) einer Zuchthausstrafe. 1637 wurde die Mutter von Elisabeth Wehden zu acht Tagen Haft verurteilt, weil sie das tote Kind auf einen Friedhof geschafft hatte. Im Fall Anna Ilse Wöhlers (1732) war der Kindsvater gesehen worden, als er eine Schachtel mit dem toten Kind darin in seinem Garten vergrub. Im Fall [N.N.] (1719) hatte eine fremde Frau das tote Kind vergraben. Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 43ff. Anna Churmeyer (1703). NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5299, fol. 12. NHStA Hann. 72 Einbeck Nr. 340, Verhöre vom 8. und 9.10.1727. NHStA Hann. 72 Dannenberg Nr. 23, Protokoll vom 14.3.1731. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 10158, fol. 41 v . Ebd. Nr. 5299, fol. 12v. Auch ULBRICHT, Kindsmord, 163, nennt Angst vor den Eltern als häufigstes Motiv. Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 93, spricht von Schande als häufigstem Beweggrund, diffe-

Kindsmord

129

Auch bei diesen Angaben der Frauen mag es sich wenigstens zum Teil um opportune Aussagen gehandelt haben. Dennoch ist deutlich geworden, daß das Verhalten der Umwelt die Tatsituation in zweierlei Hinsicht befördern konnte: indem die Frau Unterstützung für die Tat fand oder indem sie völlig von ihrer Umwelt isoliert wurde. Darüber, ob es sich um eine geplante Tötung, eine Affekthandlung oder vielleicht nur Fahrlässigkeit handelte, sagt das Verhalten der Umwelt allerdings nichts aus. Gerade in der entscheidenden Frage nach einer bestehenden Tötungsabsicht macht sich die Problematik der Verhörsituation und der erpreßten Geständnisse am nachhaltigsten bemerkbar. Ein großer Teil der Angeklagten behauptete nämlich zunächst, dem Kind keinerlei Schaden zugefügt zu haben, so wie Ilse Anne Margaretha Engel (1755/56): "Vorher hätte sie diese gedancken nicht gehabt, sondern dieselbe wären ihr erst gekommen, alß sie das Kindt auf dem hoff würcklich zur Weldt gebohren, wo sie dan gedacht: sie wolte es in dem Wasser Graben werffen, daß es daselbst umkommen- und also ihre Niederkunfft verborgen bleiben möchte, weil sie an dem Kind kein leben verspühret hätte" 209 . Gleich viele Frauen (je 8) gaben an, das Kind sei tot zur Welt gekommen, oder es müsse sich bei der Geburt tödlich verletzt haben, indem es von ihnen "geschossen" und mit dem Kopf aufgeschlagen oder die Nabelschnur abgerissen sei 210 . Ob es sich bei diesen Aussagen um die Wahrheit oder um Schutzbehauptungen handelte, kann anhand der späteren Aussagen nicht geklärt werden. Die Verurteilung beruhte meist auf den erst unter der Folter erfolgten Geständnissen. Aber auch ohne daß die Folter angewendet wurde, schwebte sie als Drohung über dem Verfahren 211 . Wie groß die Angst vor der Tortur war, belegt ein Bittschreiben der Anna Elisabeth Fischer (1655/56). Für den Fall, daß sie gefoltert werden sollte, bot sie lieber ein Geständnis an, "als mich darunter martern und quälen [zu] lassen" 212 . Endlose Verhöre, drohende und angewandte Folter mögen manche Frau dazu gebracht haben, aus Resignation, Angst oder Schmerzen ein falsches Geständnis abzugeben 213 .

209 210 211

212 213

renziert dabei aber nicht zwischen abstrakter gesellschaftlicher Schande und Problemen mit der näheren Umgebung. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 10143, fol. 32 v . Leider enthalten nur insgesamt 16 sehr ausfuhrliche Akten Aussagen zu diesem Punkt. Vgl. van DÜLMEN, Theater des Schreckens, 27: "Es gab viele erfolgreiche Verhöre ohne Folter, aber ob die Geständnisse wirklich freiwillig erfolgten, sei dahingestellt. Nur allzu genau wußte jeder, was die Folter bedeutete." NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 250, Verteidigungsschreiben vom 15.12.1655. Van DÜLMEN, Kindsmord, 55f„ stellt fest, daß die Verurteilten durch das Verfahren oft in sehr gleichmütiger Stimmung zur Hinrichtung gingen und "ihr Lebenswille (...) gebrochen war".

130

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

Während die Verhöre also aus heutiger Sicht kaum zur Klärung der Schuldfrage taugen, scheinen die ärztlichen Obduktionsberichte für die Aufdeckung einer objektiven Wahrheit auf den ersten Blick geeigneter zu sein. Die Aussagen über die Todesursachen sind jedoch keineswegs eindeutig. In 15 Gutachten wurden fünfmal Erwürgen, dreimal Verbluten, ebenso oft Schädelverletzungen, zweimal gewaltsamer Tod und j e einmal Ersticken und Erdrücken angegeben (wobei in einigen Fällen zwei Ursachen angenommen wurden). Einmal war keine Todesursache zu ermitteln. Diese Befunde sagen wenig über den Tathergang und darüber, ob die Frauen die Kinder absichtlich getötet hatten oder ob es sich wirklich, wie in vielen Fällen behauptet wurde, um einen Unfall oder Nachlässigkeit handelte. Dazu kommt, daß die aus den Untersuchungen gezogenen Schlüsse aus heutiger Sicht nicht frei von Zweifeln sind. Für die Frage, ob das Kind gelebt hatte, war neben der äußeren Gestalt seit dem Ende des 17. Jahrhunderts die sogenannte Lungenschwimmprobe 214 entscheidend. Dabei wurde die Lunge des Kindes herausgenommen und ganz oder in Teilen in frisches Wasser gelegt. Schwamm sie oben, so galt dies als Beweis, daß sie Luft enthielt und das Kind gelebt hatte. Diese Probe, die auch heute noch Bestandteil rechtsmedizinischer Untersuchungen ist 215 , kann jedoch auch zu falschen positiven Ergebnissen führen, etwa indem nichtbeatmete Lungen durch Fäulnis schwimmfahig werden 216 . Diese Möglichkeit, die aufgrund der beschriebenen Verwesungserscheinungen häufig bestand, wurde jedoch nicht erkannt bzw. die Lungenschwimmprobe trotz Fäulnis als Beweis des Gelebthabens gewertet 217 . Der Verteidiger von Ilsabe Catharina Maatsch (1731) bezweifelte generell den ärztlichen Obduktionsbefund, da das Kind bereits "welk" gewesen sei, und bestritt, daß es sich um eine Lebendgeburt gehandelt habe. Tatsächlich hatte die Lungenschwimmprobe einen negativen Befund ergeben 218 : "Man hat hierauf das gewöhnliche Experiment mit der Lunge gemachet, und fiel dieselbe sowoll gantz, allß nachhero in Stücken 214

215

216 217

218

Über die Entwicklung der Lungenschwimmprobe FISCHER-HOMBERGER, Medizin vor Gericht, 280-282; ULBRICHT, Kindsmord, 236ff.; van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 34. Vgl. Balduin FORSTER und Dirk ROPOHL, Rechtsmedizin, 4. Aufl., Stuttgart 1987, 154162; Gustav ADEBAHR, Kindstötung, in: Wolfgang SCHWERD, Rechtsmedizin für Mediziner und Juristen, 2. Aufl., Köln 1976, 92-96. FORSTER/ROPOHL, Rechtsmedizin, 157. Als 1751 in Sarstedt ein totes Kind gefunden wurde, untersuchten zwei Ärzte die Leiche. Sie kamen zu dem Schluß, daß das Kind gelebt habe. Als Beweis weiteten sie auch das positive Ergebnis der Lungenschwimmprobe. Gleichzeitig notierten sie, dafi das Kind "von der Fäulnis über und über stark angegriffen" war. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9900, fol. 150f. Die Auffassung, daß die Lungenschwimmprobe durch Fäulnis nicht beeinflußt werde, findet sich auch bei MEISTER, Rechtliche Erkenntniße, Bd. 2, 418. NHStA Hann. 72 Dannenberg Nr. 23, Untersuchungsbericht vom 11.1.1731.

Kiodsmord

131

geschnitten zu boden, war dabey schwer und compact und also vesícula pulmonales [i.e. Lungenbläschen] noch nicht ausgedehnet. Trotzdem schlössen die Ärzte, daß das Kind gelebt habe und eines gewaltsamen Todes gestorben sei: "wann [wir] aber alle umstände erwegen, scheint probabel zu seyn, daß defunctus von Verblutung et suffocatione [i.e. Ersticken] eines gewaltsamen Todes gestorben und umkommen." Obgleich bei einer Lungenschwimmprobe auch falsche negative Befunde möglich sind, können die Zweifel des Verteidigers in diesem Fall angebracht gewesen sein 219 . Dies gilt auch für das mehrfach als Todesursache genannte Verbluten des Kindes durch die Nabelschnur 220 . Diese Einwände müssen nicht bedeuten, daß die medizinischen Gutachten nicht im Gesamtergebnis doch richtig waren; eine Beurteilung dürfte auch Rechtsmedizinern im nachhinein nicht leicht fallen. Bei allen Vorbehalten zählt hier aber allein die Feststellung, daß auch die Obduktionen keineswegs immer zuverlässige Aussagen über den genauen Tatverlauf enthalten. Da es auch keine unabhängigen Zeugen für die Tat gab, können anhand der Gerichtsakten weder der Tatverlauf exakt rekonstruiert noch die Frage nach einer bestehenden Tötungsabsicht geklärt werden. Auch die Verheimlichung der Schwangerschaft allein kann nicht grundsätzlich als Tötungsabsicht interpretiert werden, da sie, ebenso wie ein Verlassen der häuslichen Umgebung vor der Geburt, auch in Absicht einer Aussetzung geschehen sein könnte. Wahrscheinlich war die Verheimlichung der Schwangerschaft zunächst einmal ein Aufschub, mit dem die Frauen einem drohenden Konflikt zu entgehen hofften 221 . Anna Elisabeth Fischer (1655/56) sagte, sie habe noch nicht mit der Niederkunft gerechnet und "gedacht, die Leute würden es wohl früe genug erfahren" 222 . Sei es durch die soziale Isolation, sei es absichtlich, im Augenblick der Geburt waren die meisten Frauen allein. Zwölf Frauen gebaren im Bett oder in ihrer 219

220

221

222

FORSTER/ROPOHL, Rechtsmedizin, 157f. Falsche negative Befunde sind denkbar bei Resorption der Luft aus den Lungen, wenn das Kind vor der Atmung getötet wurde oder wenn es in Flüssigkeit hineingeboren wurde und diese dadurch in die Lungen gelangt ist. Darauf gibt es jedoch in diesem Fall keinen Hinweis. Dagegen spricht der "compacte" Zustand der Lunge eher für eine nichtbeatmete Lunge. ADEBAHR, Kindstötung, 94. Elisabeth Pein (1675), Anne Christine Ochsener (1727), Ilse Anne Margaretha Engel (1755/56). Laut FORSTER/ROPOHL, Rechtsmedizin, 161, kommt das Verbluten durch die Nabelschnur "normalerweise nicht vor", ähnlich ADEBAHR, Kindstötung, 96. Zur Einschätzung von Nabelverletzungen im 18. Jahrhundert FISCHER-HOMBERGER, Medizin vor Gericht, 284. Nach heutiger psychologischer Erklärung handelt es sich um eine Verdrängung, vgl. FAUST, Kindestötung, 45. NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 250, Verhörvom27.11.1655.

132

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

Kammer, vier im Hof oder Garten des Hauses, in dem sie lebten, j e eine auf dem Abtritt, im Schweinestall und auf dem Misthaufen. Viele Frauen begründeten dies damit, sie seien von der Geburt völlig überrascht worden. Einige hatten geglaubt, bei den Wehen habe es sich um Schmerzen gehandelt, die durch das Wiedereinsetzen der Menstruation hervorgerufen würden223, andere nahmen an, Harn- oder Stuhldrang zu haben 224 . Ilse Anne Margaretha Engel (1755/56), die auf dem Misthaufen geboren hatte, erklärte dies so: "Sie hätte in der Cammer wo sie geschlaffen, kein Nachtgeschirr gehabt, mithin seye sie weil ihr (...) das wasser stark zugedrungen, zu dessen lassung auf den Hoff gegangen, wo dan das Kindt gleich von ihr gegangen wäre" 225 . Mehrere Frauen behaupteten, während der Geburt von Sinnen gewesen zu sein. Christina Margaretha Ützmann (1737) "hätte den Verstand nicht gehabt" 226 , und Anne Elisabeth Ohnverzacht (1738/39) sagte aus, "ihr habe alles im kopffe gesauset und gebraußet" 227 . Anna Dorothea Biesters (1663) sagte, es "were ihr gewesen alß wan einer zu ihr sagte sie solte daß kind über seit bringen" 228 . Anna Margaretha Oelmann (1714) fühlte, "als wen sie es hette thun müssen" 229 . Maria Wedemeyer (1688) schließlich gab an, vom Teufel verführt worden zu sein. Teilweise werden solche Aussagen in der Forschung nicht mit Unwissenheit der Frauen erklärt, sondern damit, daß sie durch Verdrängung die Existenz des Kindes vor sich selbst bestritten hätten230. Hatte eine Frau schon einmal geboren, erscheint ihre Angabe, sie habe geglaubt "es wehren unformbiche [sie!] stücker und unflaht von ihr gangen, undt nichts lebendiges" 231 , sicherlich eher unglaubwürdig. Bei Erstgebärenden ist aber zumindest ein anfangliches Verkennen des Geburtsbeginns nicht auszuschließen232. Für eine falsche Einschätzung des Geburtsbeginns spricht ebenfalls, daß auch andere Leute die Anzeichen möglicherweise nicht ernst nahmen. Ilse Anne Margaretha Engel (1755/56) hatte einen Mann gebeten, 223 224

225 226 227 228

229 230 231 232

Anna Maria Höppner (1720), Anna Ilse Wöhlers (1732), Anna Ernst (1746/47). Margaretha Rappen (1671/72) gab an, auf dem Abort von der Geburt überrascht worden zu sein. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 10143, fol. 30. HOOF, Kindsmordvorgänge, 50. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 10148, fol. 261 v . NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 235, Verhör vom 28.10.1663. Ganz ähnlich war Anne Ochsener "als ob jemand immer zu ihr gesaget sie solte es wegbringen." NHStA Hann. 72 Einbeck Nr. 340, Verhör vom 9.10.1727. NHStA Hann. 72 Einbeck Nr. 569, Verhör vom 15.2.1714. SCHULTE, Dorf, 156f. Elisabeth Pein (1675). NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 771, Verhör vom 4.3.1675. FORSTER/ROPOHL, Rechtsmedizin, 161, schreiben dazu: "Es ist möglich, daß besonders sehr junge Mütter den Geburtsbeginn verkennen oder aber mit Stuhldrang oder Erbrechen (Reizung des Plexus solaris) verwechseln. Irgendwann aber wird die Geburt immer erkannt."

Kindsmord

133

"daß er ihr eine BahdeMutter hohlen möchte, weil sie starcke schmertzen im rücken undt im Leibe verspührete; allein dieser habe ihr geandtwortet: du bist nicht klug, dan so weith ist es noch wohl mit dir nicht" 233 . Ihre Dienstherrin war ebenfalls von einer anderen Frau informiert und aufgefordert worden, die Hebamme zu holen, "so dieselbe aber nicht getan hätte" 234 . Von einer gewissen Ignoranz zeugt auch, daß ein Gastwirt, bei dem Ilsabeth Heinemeier (1654/55) aus Einbeck, die im Amtbezirk Moringen unter freiem Himmel geboren hatte, nach der Geburt einkehrte, nicht auf die Blutspuren an ihrer Kleidung aufmerksam wurde. Vor Gericht gab der Mann zu Protokoll, "daß ihr tragendes Leinen geräth, sonderlich am Rücken, fast scheußlich anzusehen ja nicht änderst /:salva reverentia [i.e. mit Verlaub] /: tanquam pannum menstruale [i.e. als ein Menstruationstuch] zu erkennen welches er aber weiters nicht beachtet" 235 . Die Unwissenheit über den Geburtsvorgang und den Umgang mit dem Neugeborenen - Maria Gertrud Willy (1742/43) gab an, die Nabelschnur nicht zugebunden zu haben, "weil sie nicht gewust, daß solche wieder zugebunden werden müste" 236 - wurde zumindest von den Verteidigern zur Entlastung der Angeklagten vorgebracht. Im Fall Anna Ernst (1746/47) akzeptierte das Gericht diesen Einwand. "Ob ignorantiam et stupiditatem"237 wurde sie von Folter und Todesstrafe verschont; allerdings hatte in diesem Fall auch ein Pfarrer ihre Zurückgebliebenheit bestätigt. Einfalt und mangelnde Erziehung führten auch die Defensionsschriften für Ilsabe Catharina Maatsch (1731) und Catharina Elisabeth Erdmann (1781) zugunsten der Angeklagten ins Feld. Als weiterer mildernder Umstand wurden bei den beiden Genannten ebenso bei Maria Wedemeyer (1688) die Schmerzen bei der bevorstehenden Geburt vorgebracht. Eine vollständige Erklärung der Tat kann anhand des entwickelten Materials nicht geleistet werden. Der häufigste Weg zur Tat scheint die Verheimlichung der Schwangerschaft mit anschließender hilfloser Geburt gewesen zu sein. Da die Todesursachen der Kinder bzw. das vorherige Gelebthaben oft nicht überzeugend bewiesen sind, kann es sich in vielen Fällen um eine Tötung unter besonderen psychischen Bedingungen oder Fahrlässigkeit gehandelt haben. Dafür könnte auch sprechen, daß nur drei Kinder mit Hilfe eines Werkzeuges wie Messer oder Lichtschere 238 , die meisten aber mit den Händen, dem Körper oder der Wäsche 233 234 235 236 237 238

NHStA Hild Br. 1 Nr. 10143, fol. 32r. Ebd., fol. 31 v . NHStA Hann. 72 Einbeck Nr. 571, Schreiben vom 8.12.1654. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 10158, fol. 43. Ebd. Nr. 5700, fol. 45ff. Anna Dorothea Biesters (1663), [N.N] Hagemanns (1727), Lucie Sophie Albrecht (1750).

134

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

getötet wurden 239 . Denkbar ist aber auch, daß gerade eine Frau, die die Tötung schon vor der Geburt plante, eine möglichst unauffällige Art der Gewalt anwendete, um nicht entdeckt zu werden. Auf eine beabsichtigte Tötung weisen auch Abtreibungsversuche hin, die im Verlauf einiger Untersuchungen bekannt wurden 240 . Ein dritter möglicher Tatablauf waren die Anstiftung zur Tat oder sogar die Tötung durch andere, meist die Großmütter der getöteten Kinder. Wie es hinsichtlich der Person und der Paarbeziehung keine typische Kindsmörderin gab, waren sicher auch die Umstände der Tat nicht in allen Fällen gleich. Eine Verbindung eines besonderen Täterinnentyps zu einer bestimmten Paarbeziehung und einer Tatsituation kann aufgrund der lückenhaften Überlieferung nicht durchgeführt werden. In allen Fällen ist aber davon auszugehen, daß sich die Frauen durch Schwangerschaft und Geburt in einer extremen Konfliktsituation befanden. Das Problem, das Kind aus persönlichen, gesellschaftlichen oder materiellen Gründen nicht versorgen zu können, stand letztlich immer hinter der Tat. Zugleich wird deutlich, daß es sich beim Kindsmord um eine Tat handelte, die in unauflösbarem Zusammenhang mit dem häuslichen Leben und der Rolle vor allem der ledigen Frau innerhalb dieser Gemeinschaft stand. Nur drei Frauen hatten sich vor der Geburt an einen Ort zurückgezogen, wo sie hoffen konnten, daß die Geburt unbemerkt blieb. Auch bei der Beseitigung des Kindes brachte nur ein Drittel der Frauen die Kindesleichen aus ihrem engeren Lebensbereich fort. Dies spricht insgesamt für die Vermutung, daß der Kindsmord eher aus einem passiven, abwartenden Verhalten als aus einer von langer Hand geplanten Tötungsabsicht entstand241.

2.5.

Die Häufigkeit von Kindsmorden

Seit der Aufklärung ist die Häufigkeit von Kindsmorden immer wieder zur Erklärung der zeitgenössischen Sensibilität gegenüber dem Delikt angeführt worden242. Bis vor einiger Zeit herrschte in der Forschung die Auffassung, Tötungen von

239

240

241

242

Nach den Aussagen der Frauen bzw. den Gutachten wurden je sieben Kinder erstickt oder mit einem Körperteil erdrückt, je vier Kinder wurden erwürgt oder lebendig ins Wasser geworfen. Fünf andere starben durch Gewalteinwirkungen wie Genickbruch, eines wurde von Schweinen gefressen. Hinweise auf Abtreibungsversuche gab es im Verlauf der Untersuchungen der Fälle Margaretha Rappen (1671/72), [N.N.] (1725), Anna Ilse Wühlers (1732) und Anne Catharine Loges (1809). Genauer dazu unten Abschnitt 4. Vgl. aus heutiger Sicht FAUST, Kindestötung, 70; FORSTER/ROPOHL, Rechtsmedizin, 162. "Man fragt sich, ob damals der Kindsmord nur unter neuen Gesichtspunkten mit gesteigerter Aufmerksamkeit betrachtet wurde oder ob er in der Tat zahlenmäßig häufiger vorkam als in früherer und in späterer Zeit". RADBRUCH/GWINNER, Geschichte des Verbrechens, 303.

Kindsmord

135

Kindern seien in der frühen Neuzeit ein Massendelikt gewesen 243 . Diese Ansicht wurde jedoch im allgemeinen nicht belegt, sondern gründete beinahe ausschließlich auf der Annahme einer hohen Dunkelziffer von nicht entdeckten Fällen 244 . Wie Ulbricht nachgewiesen hat, basiert diese Vermutung auf einer weitgehend kritiklosen Übernahme zeitgenössischer und späterer Klischees von der "Seuche Kindsmord" 2 4 5 ; die Tatumstände - prompter Verdacht, Wissen der näheren Umgebung um die Schwangerschaft, VerÜbung der Tat im engeren Lebensbereich lassen es dagegen eher unglaubhaft erscheinen, daß eine große Zahl von Fällen unentdeckt blieb 246 . Aber auch Angaben über die Häufigkeit strafrechtlich verfolgter Kindestötungen sind mit großen Schwierigkeiten verbunden. Aufgrund der disparaten Quellenüberlieferung kann die Gesamtzahl von Prozessen in dem hier gewählten Gebiet und Zeitraum nicht festgestellt werden. Dies gilt besonders für den ländlichen Bereich: Bei einer Überprüfung der Aktennachlässe von insgesamt über 5 0 hannoverschen Amtsgerichten wurden nur in fünf Beständen Kindsmordfälle gefunden 247 . Andere Angaben bestätigen die lückenhafte Aktenüberlieferung, ohne aber ihrerseits alle Fälle über den gesamten Zeitraum zu erfassen 248 . Einzig für die beiden großen Städte Hannover und Hildesheim können relativ zuverlässige Angaben über einen längeren Zeitraum gemacht werden. In Hildesheim, wo die Prozesse mit einiger Regelmäßigkeit verzeichnet zu sein scheinen, 243 244

245

246 247

248

So z.B. ebd., 303; WÄCHTERSHÄUSER, Verbrechen, 110; F E L B E R , Unzucht, 95. WÄCHTERSHÄUSER, Verbrechen, 109, meint, daß "kein anderes schweres Delikt eine vergleichbare Dunkelziffer aufweist". ULBRICHT, Kindsmord, 176f. und 176 Anm. 690. So habe Wächtershäuser kritiklos Pestalozzis Ausspruch: "Zu lausenden werden meine Kinder von der Hand der Gebährenden erschlagen" übernommen. Die in der Forschung verbreitete Formel von der 'Seuche Kindsmord' stammt nach Ulbrichts Auffassung von Felber und sei von mehreren Autoren weitergetragen worden. Ein weiteres Beispiel für den spekulativen Umgang mit der Zahl der Kindsmorde ist das Bild von der 'Spitze des Eisbergs', das nicht nur von Wächtershäuser, sondern auch noch von van Dülmen bemüht wird. Vgl. WÄCHTERSHÄUSER, Verbrechen, 110, und van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 72. Ähnlich spekulativ auch R.W. MALCOLMSON, Infanticide, 190. Vgl. zu dieser Argumentation ULBRICHT, Kindsmord, 176. Dabei handelt es sich um die Amtsgerichte (NHStA Hann. 72), wie sie im 19. Jahrhundert vor der Abgabe der Akten eingeteilt waren. Die Fälle verteilen sich auf sieben althannoversche Ämter und ein adeliges Gericht im Hildesheimischen. Die Bestände der Amtsgerichte Hameln, Harburg und Münder sind wie andere Bestände des NHStA verbrannt. Die Prozeßakten des Hochstifts Hildesheim sind nur in den Beständen der Regierung (NHStA Hild. Br. 1) und des Domkapitels (NHStA Hild. Br. 2 A) Uberliefert, nicht jedoch bei den Gerichten. Zusätzlich konnten Prozeßakten in den Stadtarchiven Hannover und Hildesheim, im Universitätsarchiv Göttingen und in dem Bestand "Landesmuseum Hannover" unter der Abteilung "Rechtsaltertümer und Akten" (NHStA Hann. 152 acc. 34/80) ermittelt werden; außerdem bei Justus CLAPROTH, Nachtrag zu der Sammlung verschiedener gerichtlichen vollständigen Acten, welcher drey beträchtliche peinliche Untersuchungs-Processe enthält, zum Gebrauch practischer Vorlesungen, Göttingen 1782, und MEISTER, Rechtliche Erkenntniße. Dies gilt besonders für die Aufnahmelisten des Celler Zuchthauses (JVACe und NHStA Hann. 86 Celle Nr. 104), die eine große Zahl von Verurteilungen verzeichnen, von denen nur ein geringer Teil anderweitig nachgewiesen werden konnte.

136

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

w u r d e n in d e r zweiten Hälfte des 1 7 . Jahrhunderts drei und z w i s c h e n 1 7 0 1 und 1 7 7 6 f ü n f F ä l l e v o n K i n d s m o r d u n t e r s u c h t 2 4 9 . Ä h n l i c h die sehr wahrscheinlich z u v e r l ä s s i g e n Z a h l e n aus d e m Gerichtsbezirk d e r Altstadt H a n n o v e r : D o r t konnten für die z w e i t e H ä l f t e des 1 7 . Jahrhunderts ebenfalls drei U n t e r s u c h u n g e n und für das 1 8 . Jahrhundert a c h t F ä l l e n a c h g e w i e s e n w e r d e n 2 5 0 . A n h a n d dieser niedr i g e n Z a h l e n kann eine E n t w i c k l u n g in der K i n d s m o r d v e r f o l g u n g - v a n D ü l m e n glaubt, einen Höhepunkt u m die W e n d e v o m 1 7 . z u m 1 8 . J a h r h u n d e r t feststellen zu k ö n n e n 2 5 1 - nicht überprüft w e r d e n . D i e Häufigkeit v o n ungefähr e i n e m Fall alle 1 4 J a h r e in einer Stadt v o n c a . 1 0 0 0 0 E i n w o h n e r n w i d e r l e g t aber zumindest deutlich die V o r s t e l l u n g ,

K i n d s m o r d e seien w ä h r e n d des 1 8 . Jahrhunderts ein

M a s s e n d e l i k t g e w e s e n . F ü r eine g e r i n g e Häufigkeit v o n K i n d s m o r d e n s p r e c h e n a u c h die E i n t r ä g e in den Aufnahmelisten des C e l l e r Z u c h t h a u s e s . D a n a c h w u r d e n zur Z e i t d e r meisten V e r u r t e i l u n g e n ( 1 7 9 1 - 1 8 0 0 ) durchschnittlich p r o Jahr etwas w e n i g e r als f ü n f F r a u e n w e g e n K i n d s m o r d e s o d e r eines ähnlichen Deliktes in das Z u c h t h a u s überstellt.

249

250

251

Vgl. Anhang 3. Auch Hoof geht davon aus, daß die Prozeßakten wenigstens für die Altstadt bis 1799 vollständig sind; um so erstaunlicher ist es, daß er keine Kindsmordvorgänge hat feststellen können. HOOF, Pestalozzi, 207. Vgl. auch LESEMANN, Arbeit, Ehre, Geschlechterbeziehungen, 188, die filr den Zeitraum von 1588-1732 17 Kindsmordfälle in Hildesheim nachweist. Vgl. Anhang 3. In den Angaben sind bereits Untersuchungen wegen tot aufgefundener Kinder enthalten (4). Die hannoverschen Zahlen für das 18. Jahrhundert dürften zuverlässig sein, da mit einer Ausnahme die Angaben aus den Akten des Stadtarchivs und den Zuchthauslisten durch die Einträge in den Kämmereirechnungen der Altstadt (StAH B Nr. 6634ff.) bestätigt werden. HOOF, Kindsmordvorgänge, 50f., nennt dagegen insgesamt 12 Fälle für Hannover im 18. Jahrhundert, die er aus verschiedenen Quellen ermittelt hat. Die Folterprotokolle zweier Prozesse, die vor dem Oberappellationsgericht in Celle stattfanden, sind jedoch als 'Lehrfälle' für die Anwendung der Folter nach Hannover gelangt. Vgl. dazu KRAUSE, Strafrechtspflege, 108 Anm. 35. Weiter bezieht Hoof einen Fall aus dem nicht zu Hannover gehörenden Ahlem und zwei aus dem Gericht Langenhagen sowie verschiedene andere Tatbestände mit in die Rechnung ein (Kindesaussetzung mit Todesfolge: Marie Catharine Hagemeister, 69-71; Tötung eines schon älteren Kindes: Ilsa Lucia Siegmund, 64-66. Wie sich aus NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 265 ergibt, hatte die verheiratete Frau ihrem sieben bis achtjährigen Sohn die Kehle durchgeschnitten). Einen anderen Fall fuhrt Hoof gleich zweimal an: Bei der 'Vernehmung der Kindsmörderin [Vorname] Ziels" 1734 (Nr. 5, 50) und der undatierten Eingabe wegen der "Kindsmörderin Anne Marie Ziehten" (Nr. 8, 51) handelt es sich um dieselbe Frau, die 1734 hingerichtete Anna Maria Ziel(en). Vgl. StAH B Nr. 6685g, Rechnung der Kämmerei Ostern 1734-Ostern 1735. Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 75: "Die Jahre gegen Ende des 17. Jahrhunderts und zu Beginn des 18. Jahrhunderts bildeten einen unerreichten Höhepunkt, dann aber setzte eine sichtliche Abnahme ein, bis die Aufklärung die Kindsmorddiskussion auf eine neue Grundlage stellte." Neben Zahlen aus Danzig und Nürnberg führt er als Argument für eine Zunahme die Häufung von Verordnungen gegen den Kindsmord und Strafverschärfungen an. Letztere gab es allerdings auch in den hier untersuchten Gebieten, ohne daß gleichzeitig ein Anwachsen der verhandelten Kindsmorde nachzuweisen ist. Auch ULBRICHT, Kindsmord, 197, hält den Anstieg am Anfang des 18. Jahrhunderts für nicht hinreichend bewiesen.

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Kindsmord

Tabelle 4: Anzahl wegen Tötung ihres Kindes verurteilter Frauen im Celler Zuchthaus, 1761-1810 1 |

Jahre

| | | | |

1761-1770 1771-1780 1781-1790 1791-1800 1801-1810

| i

Summe

l 1 1 |Kindsmord* Verschulden am insgesamt |Schnitt | Tod des Kindes** |pro Jahr| 1 1 1 12 18 1 6 1 1.8 1 2 7 20 27 1 7 1 . 1 4 34 40 1 6 1 1 4 7 42 47 1 5 1 ' 1 4 34 40 1 6 1 1 j 1

142

30

172

1 i

3,4

| i

* einschl. versuchtem Kindsmord und Kindsmordverdacht ** Schuld, Vernachlässigung, Verschuldung, Verheimlichung (vgl. Tabelle 2) Quelle: wie Tabelle 2

Da das Zuchthaus in Celle die einzige hannoversche Strafanstalt für weibliche Häftlinge war 252 , verbüßten wahrscheinlich nahezu alle zu einer Zuchthausstrafe wegen Kindestötungen verurteilten Frauen ihre Strafe in dieser Anstalt 253 . Auch die Zuverlässigkeit der Aufnahmelisten darf zumindest für die Zeit ab ca. 1765 angenommen werden 254 . Allerdings fehlen in diesen Angaben die möglicherweise zum Tode verurteilten Frauen. Legt man die Angaben einer zeitgenössischen, von dem hannoverschen Oberappellationsrat von Rüling veröffentlichten Statistik zugrunde, müßte zu den fünf jährlichen Haftstrafen in den 1790er Jahren noch durchschnittlich eine Todesstrafe pro Jahr hinzugezählt werden 255 . Demnach wären in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im gesamten Kurfürstentum Hannover höchstens sechs Urteile pro Jahr wegen Kindsmord oder Verschulden am Tod des Kindes gefallt worden. Auch Ulbricht gelangt anhand seiner Untersuchungen über Schleswig-Holstein zu der Auffassung, daß Kindsmord kein übermäßig verbreitetes Delikt war. Für das gesamte 18. Jahrhundert hat er etwa drei Fälle pro Jahr festgestellt. Etwas 252 253

254

255

Vgl. von RÜLING, Beitrag, 553; OBERSCHELP, Niedersachsen 1760-1820, Bd. 2, 118. Denkbar ist allenfalls, daß Verurteilte aus entfernteren Landesteilen gegen Zahlung des Kostgeldes in fremden Zuchthäusern untergebracht wurden, etwa in Bremen oder Hamburg. Während in den Zuchthauslisten für die Jahre von 1731 bis etwa 1765 nur vereinzelte Aufnahmen verzeichnet sind - die eiste Kindsmörderin überhaupt erst 1756 , scheinen die Listen für die spätere Zeit zuverlässig zu sein. Dies ergibt die Überprüfung der in den hannoverschen Kämmereirechnungen und bei MEISTER, Rechtliche ErkenntniBe, aufgeführten Fälle. Auch die bei von RÜLING, Beitrag, 553, für das Jahr 1785 angegebene Zahl der in Celle einsitzenden Kindsmörderinnen (32) entspricht ungefähr der nach den Listen unter Berücksichtigung der Strafdauer ermittelten Zahl (35). Die geringfügige Abweichung zu Rülings Zahl könnte damit erklärt werden, daß in einigen Fällen die Angaben über Entlassung bzw. Begnadigung fehlen. Von RÜLING, Beitrag, 551f. Bei insgesamt 30 von der Justizkanzlei Hannover in den Jahren 1765-1773 und 1778-1780 geführten Kindsmorduntersuchungen wurde insgesamt sechsmal die Todesstrafe vollzogen.

138

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

höher lag die Zahl mit fünf Kindsmorden in den 1780er Jahren 2 5 6 . Die Herzogtümer Schleswig und Holstein waren mit 5 0 0 0 0 0 bis 6 0 0 0 0 0 Einwohnern allerdings wesentlich kleiner als das Kurfürstentum Hannover, das 8 0 0 0 0 0 bis 9 0 0 0 0 0 Bewohner hatte 2 5 7 . Eine deutlich größere Häufigkeit hat van Dülmen für Danzig festgestellt: Zur Zeit der meisten Kindsmordprozesse am Anfang des 18. Jahrhunderts soll es dort durchschnittlich etwas mehr als einen Kindsmordprozeß pro Jahr bei einer Bevölkerung von über 5 0 0 0 0 Einwohnern gegeben haben 2 5 8 . Die aus den Aufnahmelisten des Celler Zuchthauses ermittelten Zahlen legen den Schluß nahe, daß Verurteilungen wegen Kindsmord im Kurfürstentum Hannover generell noch etwas seltener vorkamen als andernorts. Allerdings sind in dieser Rechnung keine Fälle enthalten, die nicht zu einem Prozeß führten bzw. mit Freispruch endeten, während Ulbricht zumindest einige unaufgeklärte Fälle (tot aufgefundene Kinder) erfaßt hat 2 5 9 . Nach den Angaben des Oberappellationsrates von Rüling für den Sprengel der Justizkanzlei Hannover, zu dem die Landesteile Calenberg-Göttingen, Grubenhagen, Hoya und Diepholz gehörten 2 6 0 , war die Zahl aller in den Jahren 1765 bis 1773 und 1778 bis 1780 geführten Untersuchungen denn auch etwas höher:

256

257

258

259

260

ULBRICHT, Kindsmord, 205, 406-421. Dabei ist die schlechtere Quellenüberlieferung in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zu berücksichtigen. Die Einwohnerzahl Schleswig-Holsteins stieg zwischen 1769 und 1803 von 527 000 auf 604 000. ULBRICHT, Kindsmord, 204. Zu Hannover vgl. Kap. I, Abschnitt 3. Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 65, nimmt als Grundlage seiner Berechnung 77 000 Einwohner für die Mitte des 17. Jahrhunderts an. ULBRICHT, Kindsmord, 406-421. Unter den ausgewerteten Fällen befinden sich mindestens 16 tot gefundene Kinder; ob später eine Täterin ermittelt wurde, geht aus der Liste nicht hervor. Übersicht über die Bestände des Niedersächsischen Hauptstaatsarchivs in Hannover, Bd. 3.2, bearb. von Manfred HAMANN unter Mitwirkung von Jörg WALTER und Peter BARDEHLE, Hannover 1983, 667.

139

Kindsmord

Tabelle 5: Jährliche Untersuchungen der Justizkanzlei Hannover in Kindsmordfällen, 1765-1773 und 1778-1780 | Jahre

i Anzahl der Fälle|

| 1765 5 j | 1766 5 | | | 1767 | 1768 2 | | 1769 2 | | 1770 4 | | 1771 4 | | 1772 1 | j 1773 2 | |xxxxxxx XXXXXXXXXXXXXXXXI | 1778 2 | | 1779 1 | | 1780 2 j ¡Schnitt 1

2,5

| i

Quelle: G.E. von RÜLING, Beitrag zur Geschichte der Menschheit des laufenden Jahrhunderts, in Rücksicht auf Verbrechen u n d Strafen,in: Annalen der Braunschweig-Lüneburgischen Churlande 3 (1789), 551-560, hier 552 Tabelle

Demnach

wurden

im Gerichtssprengel

der Justizkanzlei

Hannover

durch-

schnittlich 2,5 Kindsmordfälle pro Jahr untersucht. Rechnet man diese auf die Einwohnerzahl um - im Sprengel lebten 200 000 bis 300 000 Menschen261 -, ergibt sich ungefähr ein Fall auf 100 000 Einwohner gegenüber einem Fall auf ISO 000 Menschen nach den Zuchthauslisten. Da es weder Anlaß gibt, an der Glaubwürdigkeit der von Rüling mitgeteilten Zahlen noch an der Zuverlässigkeit der Zuchthauslisten zu zweifeln 262 , bleiben nur zwei Erklärungsmöglichkeiten für die unterschiedlichen Zahlenangaben: Entweder war die Zahl der Untersuchungen im Sprengel der Justizkanzlei überdurchschnittlich hoch, oder - wahrscheinlicher - viele Untersuchungen führten nicht zur Anklage bzw. endeten mit dem Freispruch der Angeklagten 263 . Doch selbst wenn man Rülings Zahlen zugrundelegt, war Kindsmord nicht häufiger als in den Herzogtümern Schleswig und Holstein bzw. ebenso selten wie dort. 261

262

263

Von RÜLING, Beitrag, 556, gibt 200 000 Einwohner an. Folgt man den Angaben von OBERSCHELP, Niedersachsen 1760-1820, 8, dürfte die Einwohnerzahl des Justizkanzleisprengels bei wenigstens 300 000 gelegen haben. Von RÜLING, Beitrag, 557: "Für die Authenticität der Listen stehe ich, weil sie von mir sorgfältig aus den monatlichen Designationen gezogen sind." In der Tat zeigt eine Überprüfung der Zuchthauslisten nach Herkunftsorten der Verurteilten, daß nicht alle bei Rüling aufgeführten Fälle, die nicht mit der Hinrichtung endeten, mit einer Zuchthausstrafe ausgegangen sein können.

140

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

Eine weitere Frage, auf die die Zahlenangaben der beiden Tabellen wiederum eine unterschiedliche Antwort geben, ist die nach der Entwicklung der Kindsmordhäufigkeit zur Zeit der aufklärerischen Auseinandersetzung mit dem Thema. Rüling zog aus den von ihm angegebenen Zahlen den Schluß: "Es ist (...) unläugbar, obgleich das Gegentheil schon lange ziemlich allgemein geglaubt ist, daß der Kindermord in den hier aufgeführten Jahren abgenommen habe" 264 . Dem widersprechen wiederum eindeutig die Zuchthauslisten, die vielmehr in den Jahren von etwa 1770 bis 1800 eine Zunahme der Verurteilungen wegen Verschulden am Tod des Kindes erkennen lassen265. Dieser Widerspruch läßt sich auch nicht durch eine Abnahme von Todesurteilen, wie sie Rülings Angaben nahelegen, zugunsten von Haftstrafen hinreichend erklären 266 . Vielmehr liegt die Vermutung nahe, daß ein Teil der in den Zuchthauslisten aufgeführten Delikte wegen der abweichenden Bezeichnungen von Rüling nicht mehr als Kindsmord berücksichtigt wurde. So erscheint ein Anstieg aller Delikte, wie ihn die Zuchthauslisten ergeben, wahrscheinlich. Auch Ulbricht hat für Schleswig-Holstein einen Anstieg der Kindsmordfälle für die Zeit ab etwa 1775 festgestellt267, der nicht durch einen Bevölkerungsanstieg zu erklären ist. Seiner Ansicht nach handelt es sich um einen schleswig-holsteinischen Sonderweg 268 , den er mit einem Anstieg der Illegitimitätsquote zum gleichen Zeitpunkt zu erklären versucht, ohne allerdings selbst von diesem Erklärungsansatz völlig überzeugt zu sein 269 . Möglicherweise lag der Grund für den Anstieg der Verurteilungen in Schleswig-Holstein ebenso wie in Hannover an der Differenzierung der Tatbestände. Wie die Strafbemessungspraxis gezeigt hat, ging mit der Verringerung der an die verschiedenen Deliktbezeichnungen gebundenen Strafen eine Vereinfachung des 264 265 266

267 268 269

Von RÜLING, Beitrag, 557. Vgl. oben Tabelle 4. Bei einer Steigerung von 13 in den Jahren von 1766-1770 in Celle eingelieferten Frauen auf 24 Frauen in den Jahren 1791-1795 liegt die Zunahme bei einer angenommenen Zahl von durchschnittlich 4,5 Hinrichtungen in fünf Jahren insgesamt etwa zweieinhalbmal höher als die der Hinrichtungen, bei einer Abnahme der Hinrichtungen nach 1775 verschöbe sich das Verhältnis noch mehr. Zudem kamen wahrscheinlich auch nach der letzten von Rüling genannten (1779) noch Hinrichtungen vor, so wahrscheinlich 1809 in Hannover. NHStA Hann. 72 Nr. 314, Vollziehung der Todesstrafe an der zum Schwert verurteilten Kindesmörderin Anne Catharine Loges. Aus der Akte geht zwar nicht hervor, ob die Verurteilte wirklich hingerichtet wurde, die Justizkanzlei forderte aber das Amt Langenhagen wiederholt zur Vollstreckung des Urteils auf. ULBRICHT, Kindsmord, 204. Ebd., 199f. und 205. Ebd., 215: "steigende Unehelichkeitszahlen [könnten] bei gleichbleibender Bewertung der Illegitimität und unverändertem Umfeld der Unehelichkeit durchaus zu höheren Kindsmordzahlen führen (ohne jedoch die alleinige Ursache datur zu sein); veränderten sich jedoch die Bewertung der Unehelichkeit und ihr Umfeld, dann brauchten die Kindsmordzahlen nicht zu folgen. Langfristig mußte die immense Steigerung der Illegitimitätsrate an sich Auswirkungen auf die Beurteilung lediger Mutterschaft haben. Bezeichnenderweise hat das 19. Jahrhundert ausgesprochen hohe Illegitimitätsraten, doch ist es noch nie als eine Zeit massenhafter Kindsmorde hingestellt worden."

Aussetzung und Verlassen von Kindern

141

Beweisverfahrens einher. Bestraft wurden nun nicht mehr nur die absichtliche Tötung des Kindes, sondern auch Fahrlässigkeit bei der Geburt oder Verheimlichung der Schwangerschaft. Durch die Vermehrung der strafbaren Verhaltensweisen und die gleichzeitige Verbesserung medizinischer Beweisverfahren wurden dann möglicherweise auch solche Fälle gerichtsnotorisch, in denen noch 50 Jahre zuvor kein Kindsmord vermutet worden wäre. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß Kindsmord keineswegs ein Massendelikt war 270 , sondern der Grund für die große Aufmerksamkeit gegenüber der Tat eher in deren Bewertung gesehen werden muß. Dies gilt wohl für die frühere Zeit, als die Entrüstung über die Tötung des Kindes zu strengen Strafen führte, ebenso wie für das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts, das stärker vom Interesse an den Lebensbedingungen der Mütter geprägt war. Die für die Altstadt Hannover und das Kurfürstentum Hannover bzw. den Sprengel der Justizkanzlei ermittelten Zahlen entsprechen den Angaben für Schleswig-Holstein oder waren sogar noch geringer. Letztlich ist die absolute Zahl untersuchter Kindsmordfälle nur bedingt aufschlußreich. Trotz der eher geringen absoluten Häufigkeit war Kindsmord nach dem Abflauen der Hexenverfolgungen bis etwa 1770 das weibliche Gewaltverbrechen schlechthin271, sowohl bezogen auf die Zahl anderer Gewaltdelikte als auch auf die Härte der Strafen 272 . Die Bedeutung des Kindsmordes als Reaktion auf die Notlage einer gesellschaftlich oder materiell bedingten Versorgungsunfahigkeit kann dagegen nicht isoliert geklärt werden, sondern tritt erst im Vergleich zu anderen Reaktionen wie der Aussetzung zutage.

3.

Aussetzung und Verlassen von Kindern

Die Aussetzung eines Kindes unterscheidet sich in zweierlei Hinsicht grundlegend vom Kindsmord. Das Überleben des Kindes war in der Regel möglich, und die Aussetzung konnte sowohl gleich nach der Geburt als auch einige Zeit, manchmal sogar Jahre später geschehen. Diese unterschiedlichen Tatbedingungen lassen sowohl im Handeln der betroffenen Mütter oder Eltern als auch in der gesellschaftlichen Beurteilung Unterschiede zum Kindsmord erwarten. Aussetzungen scheinen in Europa seit jeher vorgekommen zu sein 273 . Seit dem Spätmittelalter entstanden vielerorts spezielle Häuser zur Aufnahme von Findel270 271 272

273

Dieser Auffassung ist ebenfalls BECK, Illegitimität, 131. Vgl. van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 109. Gleichzeitig wurde Kindsmord wiederum weit seltener abgestraft als Diebstahl. Van DÜLMEN, Frauen vor Gericht, 60; ULBRICHT, Kindsmord, 182f. In der antiken Welt hatte der Vater ebenso wie im germanischen Kulturkreis das Recht, die Annahme eines Kindes zu verweigern, so daß vor allem kranke Kinder sowie Mädchen ausge-

142

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

kindern 274 ; einen enormen Anstieg der Zahl ausgesetzter Kinder in Europa verzeichnete aber vor allem die Zeit von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, die daher als "Jahrhundert der Findelkinder" 275 bezeichnet worden ist.

3.1.

Häufigkeit

Kindesaussetzungen sind in den Quellen nur wenig zuverlässiger überliefert als Kindsmorde 276 . Verläßliche Aussagen über die Häufigkeit können daher für größere Gebiete nicht gemacht werden. Auch Angaben über die Verhältnisse in einzelnen Orten oder Amtsbezirken sind schwierig. Aus einigen Ämtern sind nur vereinzelte Fälle von Aussetzungen und Verlassungen (ein bis vier für den gesamten Untersuchungszeitraum) bekannt, die oft zeitlich sehr weit auseinanderliegen 277 . Für lediglich ein hannoversches Amt, die Burgvogtei Celle, verzeichnen die Akten eine größere Zahl von Kindesaussetzungen: dort wurden zwischen 1680 und 1798 29 von ihren Eltern verlassene oder ausgesetzte Kinder registriert. Von einer größeren Zahl von Kindern ist auch in zwei hildesheimischen Ämtern die Rede, nämlich in Ruthe (zehn Kinder zwischen 1666 und 1773) und Steuerwald (zehn Kinder von 1670 bis 1775). Mit einiger Wahrscheinlichkeit sind in diesen Ämterakten aber nicht alle tatsächlichen Fälle aufgezeichnet, da immer wieder Berichte über den Unterhalt schon älterer Findelkinder vorliegen, von deren Auffindung jede Nachricht fehlt. Eine weitere Quelle, die Aussagen über ausgesetzte Kinder im ländlichen Bereich enthält, sind die Rechnungen der kurfürstlichen Kammer in Hannover (vor 1706 der lüneburgischen Kammer in Celle und der calenbergischen Kammer in Hannover) 278 , in deren Zuständigkeitsbereich die Versorgung von Findelkindern

274

275 276

277

278

setzt wurden. Vgl. BOSWELL, Kindness, passim; HUNECKE, Findelkinder, 11; URBAN, Kindesaussetzung, 2ff. Ausgesetzte Kinder galten als rechtlos und wurden häufig versklavt. Ebenso wie im früheren Mittelalter wurden sie allenfalls von Einzelpersonen aufgenommen und versorgt. BOSWELL, Kindness, passim. BOSWELL, Kindness, 431; HUNECKE, Findelkinder, 11 f.; SCHUBERT, Soziale Randgruppen, 334f. HUNECKE, Findelkinder, 14. Wiederum enthielt nur etwa ein Fünftel der hannoverschen Ämterbestände Nachrichten über Kindesaussetzungen. Etwas breiter ist die Überlieferung wiederum für das Hochstift Hildesheim. Kurfürstentum Hannover: Beedenbostel (1 Fall), Burgdorf (1), Koldingen (1), Langenhagen (1) Lauenstein (2), Lemförde (2), Eicklingen (4) und Harste (4). Hochstift Hildesheim: Marienburg (1), Poppenburg (1), Hunnesrück (2), Wohldenberg (2), Gronau (3), Peine (3), Winzenburg (3). NHStA Hann. 76c A Nr. 109-125 und 215-348.

143

Aussetzung und Verlassen von Kindern

fiel279.

W ä h r e n d des 1 8 . Jahrhunderts w u r d e n 1 3 3 a u s g e s e t z t e o d e r v e r l a s s e n e

K i n d e r v e r s o r g t 2 8 0 . A u c h in diesen R e c h n u n g e n fehlen aber K i n d e r , d e r e n A n g e h ö r i g e ermittelt und z u r A u f n a h m e d e r K i n d e r verpflichtet w e r d e n konnten oder die a u f a n d e r e m

Weg

unterhalten

wurden.

Außerdem

erfaßten die

Kammer-

r e c h n u n g e n nur die landesherrliche Gerichtsbarkeit, nicht aber Städte und Patrim o n i a l g e r i c h t e mit e i g e n e r Jurisdiktion. Die Zahl d e r nicht in dieser Quelle e r s c h e i n e n d e n ausgesetzten o d e r verlassenen K i n d e r dürfte folglich r e c h t g r o ß g e w e s e n s e i n 2 8 1 . Z u m i n d e s t b e w e i s e n die R e c h n u n g e n a b e r , daß die Z a h l ländlicher Findelkinder w e i t g r ö ß e r w a r , als die Aktenüberlieferung a n n e h m e n ließe, d a die in den R e c h n u n g e n im Z u s a m m e n h a n g mit Findelkindern genannten A m t s b e z i r k e w e i t z a h l r e i c h e r sind als die Ä m t e r b e s t ä n d e , d e r e n A k t e n H i n w e i s e a u f Findelkinder enthalten. G e n a u e r e A n g a b e n können w i e d e r u m nur für die beiden g r o ß e n Städte Hildesh e i m und H a n n o v e r g e m a c h t w e r d e n . In Hildesheim einschließlich d e r Stadtwälle und Stadttore, die bereits zur Jurisdiktion der umliegenden Ä m t e r g e h ö r t e n , w u r den z w i s c h e n

1 6 8 9 und 1 8 1 5 mindestens 4 0 K i n d e r a u s g e s e t z t 2 8 2 .

D i e s e Zahl

dürfte aber w i e d e r u m zu niedrig sein, d a nicht alle relevanten Quellen für den g e s a m t e n Z e i t r a u m v o r l i e g e n 2 8 3 . Allein aus den 1 7 7 0 e r J a h r e n sind neun Kindesaus-

279

280

281

282

283

Die Findelkinderversorgung zählte ebenso wie die Gerichtskosten zu den landesherrlichen Ausgaben. Siehe dazu unten Kap. IV, Abschnitt 1.2. Darüber hinaus wurden auch Zigeuner- und Delinquentenkinder unterhalten, siehe unten Kap. IV, Abschnitt 3.4. Ein direkter Beweis dafür ist, daß zwei bei HOOF, Kindsmordvorgänge, 51, aus den Taufregistern von Döhren und Limmer ermittelte Findelkinder nicht in den Kammerrechnungen genannt sind. In den Akten verschiedener Provenienz sind zwölf Findelkinder bzw. Aussetzungen zwischen 1723 und 1803 überliefert. Fünf Fälle ermittelte der Altstädter Rat: StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 179a, Protokoll vom 17.10.1775; ebd., Schreiben des Amtes Steuerwald vom 13.10.1775; ebd., Protokoll vom 14.6.1802; ebd., Protokoll vom 9.8.1802; ebd., Protokoll vom 18.10.1803. Ein Fall ist beim Altstädter Waisenhaus überliefert: StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 7a, III, Auszug aus der Rechnung des Altstädter Waisenhauses vom 23.11.1723. Zwei Fälle betrafen das Domkapitel: NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 850, Protokoll vom 23.3.1746; ebd., Schreiben vom 7.12.1761. Die Domkapitelsprotokolle berichten von vier Findelkindern. DomBHi Hs Nr. 258, Excerpta ex protocollis Cathedralis Ecclesiae Hildeshemensis 1770-1787, Kapitel vom 24.7.1771, 14.12.1771, 2 2 . 5 . 1 7 7 5 , 1.12.1778. Acht weitere Findelkinder konnten in den Aufnahmeregistern des Altstädter Waisenhauses aus den Jahren 1684-1726 und 1743/44-1761/62 identifiziert werden. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 7b, Nr. 7a IV-VI und Nr. 26b, I-IV. Weitere 2 0 Kinder, die nicht mit den obengenannten identisch waren, wurden zwischen 1689 und 1815 im Dom getauft. Kirchenbucharchiv der Diözese Hildesheim, Dom, Taufregister 1689-1815. (Für die Zeit von 1750 bis 1780 wurden nach Durchführung einiger Stichproben die Feststellungen von HOOF, Pestalozzi, 119-122, übernommen.) Siehe vorhergehende Anm. HOOF, Pestalozzi, 209, nennt insgesamt zehn Fälle von Kindesaussetzung für die Zeit von 1757-1803; diese Zahl ist aber in jedem Fall zu gering, da Hoof nur die Akten des Altstädter Rates und die Kirchenbücher des Doms berücksichtigt hat, nicht aber die ebenfalls relevanten Domkapitelprotokolle und Waisenhausakten.

144

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

Setzungen verbürgt 284 , und im Dom wurden zwischen 1689 und 1815 20 Findelkinder getauft 285 . Die wohl verläßlichsten Zahlenangaben über die Häufigkeit von Kindesaussetzungen stammen aus der Altstadt Hannover. Die dort gefundenen Kinder wurden auf Kosten der Bürgerschaft versorgt und die Ausgaben von der Kämmerei vermerkt. Den Kämmereirechnungen zufolge wurden im 18. Jahrhundert in der hannoverschen Altstadt wenigstens 40 Kinder ausgesetzt oder verlassen, im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts noch einmal zwölf 286 . Allerdings ist auch hier wieder zu gewärtigen, daß ein Teil der Kinder wie in den Rechnungen der kurfürstlichen Kammer nicht erfaßt wurde. Absolut sind selbst die für die Altstadt Hannover ermittelten Zahlen ausgesetzter und versorgter Kinder im Vergleich zu anderen Gegenden außerordentlich gering. Nicht nur in Frankreich, wo in einer Stadt von 10 000 Einwohnern am Ende des 18. Jahrhunderts beinahe 50 Kinder jährlich ausgesetzt wurden 287 , sondern auch in anderen deutschen Städten waren Kindesaussetzungen wohl häufiger als in Hannover 288 . Allerdings ist zu berücksichtigen, daß in diesen Städten meist Findelhäuser bestanden, die die Kindesaussetzung erheblich begünstigten und sicherlich auch eine anziehende Wirkung auf aussetzungswillige Bewohner des Umlandes hatten. Daher müssen bei der Vorstellung von einer absoluten Zahl von Kindesaussetzungen in Hannover nicht nur die oben genannten Unzulänglichkeiten der Quellen bedacht, sondern auch Kindesaussetzungen in der Neustadt und den Vorstädten miteinbezogen werden. Nach den Kammerrechnungen wurden dort im Gegensatz zu ländlichen Gebieten verhältnismäßig viele Kinder versorgt, insgesamt etwa noch einmal so viele wie in der Altstadt289.

284 285

286 287

288

289

Vgl. Anm. 282. Kirchenbucharchiv der Diözese Hildesheim, Dom, Taufregister 1689-1815; HOOF, Pestalozzi, 119-122. StAH B Nr. 6634ff. In der ca. 10 000 Einwohner zählenden normannischen Stadt Lisieux (Département Calvados) wurden zwischen der Eröffnung des Findelhauses 1773 und 1800 jährlich im Durchschnitt 46 Kinder ausgesetzt, von 1801 bis 1815 jährlich etwa 55. Archives départementales du Calvados, Série H supplément Hôpital de Lisieux, fonds ancien Nr. 468-470, fonds moderne Q Nr. 61, 62, 64. Zur Einwohnerzahl René HER VAL, Lisieux, Caen 1948, 120. In Limoges, das ca. 25 000 Einwohner hatte, wurden 1773 359 und 1789 733 Kinder in das Findelhaus aufgenommen. Jean-Claude PEYRONNET, Les enfants abandonnés et leurs nourrices à Limoges au XVIIIe siècle, in: Revue d'histoire moderne et contemporaine 23 (1976), 418-441, hier 419. In Nürnberg wurden allein 1795-99 12 Kinder ausgesetzt. Siehe Anm. 293. Im Findelhaus in Kassel wurden 1780 46 'Säugfindlinge' und 30 'Kostfindlinge' versorgt, zwischen 1763 und 1781 insgesamt 740 Findelkinder. STEIN, Waisenhaus Kassel, 11, 117. Das Kölner Findelhaus nahm von 1777 bis 1788 104 Kinder auf. URBAN, Kindesaussetzung, 57. Gerichtsschulzenamt Hannover: 13 Kinder, Amt Koldingen: 10, Amt Calenberg: 7, Amt Langenhagen: 6. NHStA Hann. 76c A Nr. 109-125 und 215-348.

Aussetzung und Verlassen von Kindern

145

Wenn Kindesaussetzungen auch bei weitem nicht die Häufigkeit wie in anderen Gegenden erreichten, so stellten sie doch im Vergleich zum Kindsmord quantitativ ein deutlich größeres Problem dar. Vergleicht man die gesicherten Zahlen für die Altstadt Hannover, so waren Kindesaussetzungen etwa fünf- bis sechsmal häufiger als Kindsmordfälle 290 . Die für andere Orte wiederholt aufgestellte Behauptung, daß Kindesaussetzungen im Vergleich zu Kindsmorden seltener vorgekommen seien 291 , beruht auf einer selektiven Quellenauswahl, nämlich der ausschließlichen Berücksichtigung strafrechtlich verfolgter Aussetzungen. Wie unten gezeigt wird, kam eine gerichtliche Verfolgung bei Aussetzungen aber weitaus seltener zustande als bei Kindestötungen 292 . Daher beziehen sich nicht allein die oben dargelegten Zahlen nur zu einem verschwindend kleinen Anteil auf gerichtlich verfolgte Aussetzungen, sondern auch andernorts übersteigt die Zahl der Aussetzungen die der Kindestötungen und tot aufgefundenen Kinder bei weitem, wenn sie wie in Nürnberg auf regelrechten Findelkinderlisten basiert 293 .

3.2.

Äußere Tatumstande Regionale Verteilung - Aussetzungsorte - Mitteilungen der Täter - Zeitpunkte - lüngeifristige Verteilung

Die größere Verbreitung der Kindesaussetzung war möglicherweise im Charakter der Tat und der Lage der Täterin oder des Täters begründet. Da ausführliche Vorgeschichten nur in Einzelfallen ermittelt werden können, wird zunächst versucht, aus den äußeren Umständen der Aussetzungen ein Bild von den Hintergründen zu gewinnen.

290

291

292 293

Im 18. Jahrhundert 40 versorgte Kinder und eine Aussetzung mit Todesfolge gegenüber acht Kindsmorden und tot gefundenen Kindern. Berücksichtigt man, daß tot gefundene Kinder nicht unbedingt Indiz für eine Kindestötung sein müssen, sondern auch tot geboren oder infolge einer Aussetzung gestorben sein könnten, vergrößert sich der Abstand zwischen den beiden Delikten noch weiter. Würzburg, 1769-1788: 15 Aussetzungen, 25 Kindsmorde einschl. Kindsmordverdacht (WÄCHTERSHÄUSER, Verbrechen, 114-117); Herzogtum Schleswig 1715-1815 bzw. 1739-1815: 11 Aussetzungen, 44/23 Kindsmorde/verheimlichte Schwangerschaften (ULBRICHT, Kindsmord, 185). Vgl. ULBRICHT, Kindsmord, 185. ROETZER, Delikte, Anhang. Ein direkter Vergleich für einen größeren Zeitraum ist nicht möglich, da sich Roetzer aufgrund der großen Zahl von Aussetzungen auf die Dokumentation einiger Zeitabschnitte beschränkt hat. Ein auf diese Abschnitte beschränkter Vergleich zeigt aber, daß Aussetzungen deutlich häufiger waren als Kindestötungen. Aussetzungen Tötungen Jahre 14 1690-1699 58 10 1750-1759 23 12 8 1795-1799 32 Summe 93

146

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

Ersten Aufschluß über den Charakter und die Absichten einer Kindesaussetzung geben die Aussetzungsorte. Angesichts der Provenienz der Quellen fallt zunächst eine Häufung von Aussetzungen im städtischen Umfeld auf. Sofern die Kinder also nicht in der Gerichtshoheit des Magistrates ausgesetzt wurden, war die zuständige Behörde das angrenzende landesherrliche Amt, dem oft auch die Vorstädte unterstanden. Sowohl die Burgvogtei Celle als auch das hildesheimische Amt Steuerwald, in deren Aktennachlässen die meisten Kindesaussetzungen belegt sind, grenzten an eine größere Stadt. Daß diese Verteilung nicht auf die Quellenüberlieferung zurückzuführen ist, zeigt die Auswertung der kurfürstlichen Kammerrechnungen, die ebenfalls ein deutliches Übergewicht städtischer oder stadtnaher Gebiete bei der Findelkinderversorgung ergibt: Demnach wurden die meisten Kinder in der Burgvogtei Celle untergebracht (16), gefolgt vom Gerichtsschulzenamt Hannover (13) und den an das hannoversche Stadtgebiet grenzenden Ämtern Calenberg, Koldingen und Langenhagen (zusammen 23). Vier Kinder wurden in dem an Lüneburg grenzenden Amt Lüne und drei im Gerichtsschulzenamt Göttingen unterhalten 294 . Für die Verbindung der Aussetzung mit einem städtischen Umfeld sind mehrere Gründe denkbar. Erstens war möglicherweise die Zahl der Kinder, die für eine Aussetzung in Frage kamen, in den Städten größer als auf dem Land, parallel sowohl zur Bevölkerungszahl als auch zum Anteil unehelicher Geburten 295 . Zweitens eigneten sich größere Städte am ehesten dazu, ein Kind unbemerkt niederzulegen und anschließend in der Menge zu verschwinden 296 , und drittens wurden Kinder vom Land in die Städte oder wenigstens in deren Nähe gebracht, weil die Hoffnung bestand, daß die Kinder dort eher versorgt würden. Dies zeigen einige Beispiele aus Göttingen: Am 11. Juni 1709 morgens wurde "vor dasiger Stadt bey Eröffnung der Thore ein exponirtes Kind gefunden" 297 . Der Göttinger Magistrat ermittelte, konnte jedoch die Mutter nicht ausfindig machen. Wahrscheinlich war das Kind nachts von außen vor die Tore gebracht worden. Ein anderes Kind wurde 1760 vor dem Weender Tor gefunden, zwei weitere 1691 und 1700 auf den Wegen zwischen zwei Toren 298 . Daß solche Aussetzungen in Stadtnähe absichtlich gewählt wurden, zeigt ein weiterer Fall, der sich 1803 in Hildesheim ereignete. Als wegen eines Findelkindes Nachforschungen angestellt und die städtischen Hebammen vernommen 294

295 296 297

298

In den Ämterakten finden sich die meisten Fälle (nach der Burgvogtei) in der Amtsvogtei Eicklingen (4) und dem Amt Harste (3), die wiederum nahe bei Celle lagen bzw. an Göttingen grenzten. Vgl. Kap. VI, Abschnitt 1.4. Vgl. auch ULBRICHT, Kindsmord, 186. StAGö AA Recht Criminalia Nr. 79, Schreiben der Geheimen und Kloster-Räte an den Magistrat vom 8.10.1709. NHStA Hann. 74 Göttingen C Nr. 248 und K Nr. 507.

Aussetzung und Verlassen von Kindern

147

wurden, erinnerte sich eine der Befragten beiläufig an eine Frau, die möglicherweise im Begriff gewesen war, ihr Kind in Hildesheim auszusetzen: "Die Schlütern zeigte hierauf noch an, wie sie morgen vor 8 Tagen auf dem Marckte ausgestanden, habe ihr eine Bauersfrau erzählet, den vorhergehenden Sonnabend habe sie eine Frauens Person im Felde getroffen, welche ein kleines eben gebohrenes Kind getragen, und bey der alle Spuren einer eben geschehenen Entbindung sichtbar vorhanden gewesen, und wie sie selbige gefragt, wo sie mit dem Kinde hinwolle habe sie ihr geantwortet nach der Stadt. Indem das Wetter aber so äuserst schlecht gewesen, habe sie ihr Haus angeboten, welches sie auch angenommen und sey also bis Montag bey ihr geblieben, die Frau habe auch noch erzählet, daß des Kindes Beine nur in einen kleinen Leinen Klatern gewunden, übrigens unbedeckt gewesen" 299 .

Bevorzugte Aussetzungsorte waren neben den Städten vor allem Grenzgebiete. Alle anderen Ämter, in denen insgesamt drei oder mehr Kinder unterhalten wurden, lagen an der Grenze zu Nachbarstaaten, so Münden (von Hessen-Kassel beinahe eingeschlossen), Herzberg (an der Grenze zum kurmainzischen Eichsfeld), Gifhorn (nahe zu Braunschweig-Wolfenbüttel und Preußen), Diepholz (an der Grenze zum Bistum Münster) und Meinersen (angrenzend an BraunschweigWolfenbüttel) 300 . Ebenfalls an einer Grenze, der zum Kurfürstentum Hannover, lag das hildesheimische Amt Ruthe, in dem neben Steuerwald die meisten Findelkinder aktenkundig sind. An einigen Orten trafen Stadt- und grenznahe Lage zusammen, so in den Ämtern Harburg und Schwarzenbeck (Herzogtum Lauenburg), die jeweils eine Grenze mit Hamburg hatten, und im Amt Calenberg, das nicht nur an die stadthannoversche, sondern auch an die hildesheimische Grenze stieß. In den zentral und stadtfern gelegenen Gebieten konnten dagegen nur vereinzelt Kindesaussetzungen festgestellt werden. Grenznahe Aussetzungsorte erlaubten es, eine gerichtliche Verfolgung der Aussetzung zu erschweren, indem die aussetzende Person schnell über die Grenze entkam. Diese Beobachtung wird durch eine Eingabe der Untertanen des hildesheimischen Amtes Ruthe bestätigt, in der diese gegenüber der Regierung die Befürchtung äußerten, das Amt könne wegen seiner Grenzlage besonders häufig Ort von Kindesaussetzungen werden 301 . Ein weiterer Beleg für diese Praxis und ihre bewußte Wahrnehmung ist die Taufe eines Findelkindes auf den Namen "Grentzefund" im Amt Lauenstein 302 . Hier wird ein wesentlicher Unterschied zum Kindsmord sichtbar: Während dieser in den meisten Fällen in der Nähe der eigentlichen Lebensumgebung der 299 300 301 302

StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 180, Protokoll vom 18.10.1803. Münden: 5; Herzberg: 4; Gifhorn: 4; Diepholz: 3; Meinersen: 3. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9900, Schreiben der Amtseinwohner vom August 1720. NHStA Hann. 76c A Nr. 268, Rechnung der kurfürstlichen Kammer 1744/45.

148

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

Täterinnen stattfand und daher ihre Identifizierung und Ergreifung wesentlich erleichterte, wurden Kindesaussetzungen bewußt so ausgeführt, daß eine Ermittlung der Täter erschwert wurde. Dies trifft auch für das Verlassen älterer Kinder zu. Etwa ein Drittel von diesen wurde auf Reisen zurückgelassen, nachdem die Eltern oder Begleitpersonen mit dem Kind gemeinsam in einem Gasthaus oder privat übernachtet hatten. Ein weiteres Drittel wurde am Wohnort verlassen, indem sich die Eltern heimlich davonmachten. Die einfachste Möglichkeit ergab sich aber, wenn das Kind bereits bei einer anderen Frau oder Familie in Pflege war. Diese Fälle wurden oft erst nach einiger Zeit bekannt, wenn die Zahlungen an die Pflegeeltern ausblieben und die leiblichen Eltern nicht mehr ausfindig gemacht werden konnten. Bei den Eltern bestand wahrscheinlich die Hoffnung, daß sich die Pflegeeltern der Kinder weiterhin annehmen würden; zumindest solange die Pflegeeltern selbst nicht in wirtschaftlichen Nöten waren, war diese Erwartung in einigen Fällen realistisch 303 . Die Aussetzungsorte lassen auch Rückschlüsse auf die Absichten der aussetzenden Personen hinsichtlich der Kinder zu. Wurde ein Kind in einer einsamen Gegend niedergelegt, wurde sein Tod möglicherweise billigend in Kauf genommen; handelte es sich dagegen um einen belebten Ort, ist anzunehmen, daß das Überleben des Kindes beabsichtigt war. Eine genauere Betrachtung der Aussetzungsorte zeigt, daß diese meist so ausgewählt wurden, daß das Kind relativ bald gefunden werden sollte 304 . Von 69 Kindern, bei denen der Ort der Aussetzung eindeutig aus den Quellen hervorgeht, wurden nur zwei auf freiem Feld gefunden 305 . Weitere fünf wurden zwar außerhalb bewohnter Orte ausgesetzt, aber doch an Landstraßen, so daß die Entdeckung durch vorüberkommende Leute wahrscheinlich war. Zwölf Kinder wurden in unmittelbarer Nähe einer Stadt gefunden, etwa vor den Toren oder im Schutz eines Schilderhauses. Die übrigen 50 Kinder, also gut 70 Prozent, wurden an bewohnten Orten ausgesetzt, meist vor öffentlichen oder privaten Gebäuden. Zehn dieser Kinder wurden in Kirchen oder auf Kirchhöfen 306 , weitere fünf vor Klöstern ausgesetzt. Kirchen und Klöster versorgten seit dem Mittelalter häufig Findelkinder und verfügten in anderen Gegen303

304

305

306

Hans Dralle in Immensen z.B. hatte ein Kind zunächst ein Jahr versorgt, ehe er sich an die Obrigkeit wandte. NHStA Celle Br. 61a Nr. 2475, Protokoll vom 24.9.1694. Weitere Beispiele in NHStA Celle Br. 61a Nr. 359, Schreiben des Beedenbosteler Amtsvogtes an die Celler Regierung vom 7.3.1694, und NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Schreiben der herzoglichen Kammer vom 4.7.1694. Dies entspricht den Beobachtungen von ROETZER, Delikte, 97, und MALCOLMSON, Infanticide, 188. Ein Kind wurde von einem Kuhhirten in einem morastigen Graben abseits aller Wege endeckt. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9899, Schreiben des Amtes Steuerwald vom 17.5.1704. Allein sieben in Hannover, davon drei in der Marktkirche, zwei in der Ägidienkirche und j e eines auf dem Calenberger und dem Kreuzkirchhof. StAH B Nr. 6634ff., Kämmereirechnungen der Altstadt; NHStA Hann. 76c A Nr. 269, Rechnung der kurfürstlichen Kammer 1745/46.

Aussetzung und Verlassen von Kindern

149

den auch über eine sogenannte Drehlade. Es herrschte die Vorstellung, "die Pfaffen könnten [ein Kind] wohl ernähren" 307 . Eine Frau setzte ihr Kind daher in Hildesheim vor dem Tor des Klosters Sülte aus 308 , eine andere hängte 1761 ein Kind an den zusammengebundenen Händen und Füßen an die Klinke des Annunziatenklosters 309 . Drei Kinder wurden vor Gasthäusern oder Krügen niedergelegt, eines an einer Ziegelhütte und eines direkt vor der Tür des Celler Burgvogtes. Am häufigsten aber wurden die Kinder vor Privathäusern oder Höfen ausgesetzt. In drei Fällen gehörten die Häuser den mutmaßlichen Kindsvätern oder anderen Angehörigen, in der Regel aber Unbeteiligten. Die Wahl der Häuser war dennoch nicht allein vom Zufall bestimmt: Recht häufig waren die Hauseigentümer gesellschaftlich angesehene oder wohlhabende Persönlichkeiten 310 , auf deren Mildtätigkeit die aussetzenden Personen wahrscheinlich hofften. Direktes Zeugnis über die Motivlage von Kindesaussetzungen geben kurze handschriftliche Mitteilungen, die den Kindern beigegeben wurden, ein anscheinend recht verbreiteter Brauch 311 . Die häufigste Nachricht betraf die Taufe des Kindes und seinen Namen 312 . Dies belegt, daß dem Kind eine Identität zugesprochen wurde, die es beibehalten sollte. Möglicherweise stand auch der Wunsch dahinter, das Kind später einmal identifizieren zu können 313 . Gelegentlich wurden daher noch weitere Informationen gegeben. Bei einem 1706 an der Straße von Celle nach Nienhagen gefundenen Kind fand sich ein Zettel mit der Aufschrift: "Johan Hinrich Nolte bin Ich genant, Hameln ist mein Vatterland" 314 . Münzen, Schmuckstücke oder Bänder, die ebenfalls zur Identifizierung oder als Glücksbringer in anderen Gegenden den Kindern beigelegt wurden, konnten allerdings nicht nachgewiesen werden 315 . Einmal fand sich zusammen mit dem kleinen Zettel die Nabelschnur des Kindes 316 . 307 308 309 310

311

312

313

314 315

StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 179a, Protokoll vom 17.10.1775. Ebd. NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 850, Protokoll vom 7.12.1761. In Hannover ein Geheimer Kammersekretär, der Kammerherr v.d. Bussche und der Graf von Bülow, in Hildesheim der Weinhändler Holsch, Hofrat Werner und der Freiherr von Weichs. In Sarstedt wurde ebenfalls ein Kind vor einem Hof ausgesetzt, der einem Freiherm von Weichs gehörte. In Göttingen wurde 1736 ein Kind vor dem Haus des Professors Hollmann ausgesetzt. Darauf läßt die Bemerkung des Amtmannes von Harste schließen, der hervorhob, daß ein Kind keine Nachricht bei sich trug, "wie sonst in dergleichen Fällen woll geschehen." NHStA Hann. 74 Göttingen K Nr. 507, Protokoll vom 4.4.1691. StAH B Nr. 6697g, Rechnung der Kämmerei 1761/62 (Kind nicht getauft), StAGö AA Recht Criminalia Nr. 79, Schreiben der Sollingischen Unterhütte vom 6.8.1750 (Kind auf den Namen Maria Catharina getauft), NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9900, Schreiben vom 1.7.1720 (soll auf den Namen Anna Catharina getauft werden). Ebd., 1738-1740. Eine Frau, die 1737 ihr Kind in Sarstedt ausgesetzt hatte, äußerte zwei Jahre später aus Algermissen, wo sie sich aufhielt, den Wunsch, das Kind wieder zu sich zu nehmen. NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Schreiben vom 29.5.1706. Eine Sammlung von Miinzen und Schmuck ist in der Thomas Coram Foundation for Children in London zu besichtigen. Eine Abbildung dieser Gegenstände befindet sich bei MCCLURE,

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Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

Auch über die Beweggründe für die Aussetzung gibt es Hinweise. Die Person, die 1746 in Peine ein Kind aussetzte, entschuldigte sich mit dem Hinweis auf ihre ausweglose Lage und zeigte gleichzeitig den Vater des Kindes an, damit dieser für es aufkommen sollte: "dieses kind geheret stein zu, die große noth bringet mich dar zu den sie wollen mier nicht helffen, Joha Heirich Wilhelm Eerhart stein stein [sie!]" 3 1 7 . Ebenfalls mit einer Notlage entschuldigte sich ein Mann, der vom 22. bis zum 24. November 1670 im Krug in Harmsen (Amt Steuerwald) logiert und bei seiner Abreise ein Kind im Garten eines Einwohners ausgesetzt hatte: "Ich habe zu bitten umb Gottes willen, welcher ehrlicher Mann daß kindt auffnimmt für ein kindt, Sie wollen es doch auffziehen zur Gottesfurcht, das es ist ein ehrlich kindt, sein nähme heißet Johannes Ertmann, sein alter uf Weihnachten zwei jähr undt ein halbeß, das der man hatt eß anderthalbhundert Meile langes aus franckreich getragen, Ich bitte zehenmahl, Sie wollen sich doch deß armen kindes erbarmen, der liebe Gott wird der belohner sein, undt danck dafür bezahlen, daß eß ist mir nicht möglich daß arme kindt den Winter zuerhalten" 318 . Gleichzeitig werden hier noch einmal zwei Grundmotive der Aussetzung deutlich: die Hoffnung auf eine positive Zukunft für das Kind und das Vertrauen auf die Barmherzigkeit nicht nur der Obrigkeit, sondern der einzelnen Finder. Auch die Zeit der Aussetzung kann Aufschlüsse über die Hintergründe der Tat geben. Es überrascht nicht, daß die meisten Kinder nachts oder in der Abendoder Morgendämmerung ausgesetzt wurden, da so der beste Schutz für die aussetzenden Personen bestand319. Der Göttinger Professor Hollmann fand das Kind auf seiner Diele, "da die Laternen auff den Gaßen bereits überall gebrandt, und in deßen Hause ein besondere Lampe ebenfals angestecket gewesen" 320 ; womöglich hatte dieses Licht die Täterin oder den Täter angezogen.

316

317 318 319

320

Coram's Children, 84. In Frankreich waren die Kinder häufig mit farbigen Bändern an Fuß oder Hand gekennzeichnet, deren Farbe genau in den Aufnahmeregistern der Findelhäuser notiert wurde, um eine spätere Identifizierung zu erleichtem. Archives départementales du Calvados, Série H supplément Hôpital de Lisieux, fonds ancien Nr. 468-470, fonds moderne Q Nr. 61, 62, 64. NHStA Celle Br. 61a Nr. 3814. Der in den Zettel gewickelte Nabel wurde der Akte beigefügt, wo er sich noch heute befindet. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9905, Schreiben vom 5.7.1746. Ebd. Nr. 9899, Schreiben vom 9.12.1670. Andernorts konnte beobachtet werden, daß sich die Aussetzungszeiten j e nach Jahreszeit entsprechend der Abenddämmerung verschoben. Vgl. HUNECKE, Findelkinder, 221. UAGö 10a Nr. 2, Protokoll vom 6.2.1736.

151

Aussetzung und Verlassen von Kindern

Interessant wäre eine Untersuchung der Aussetzungszahlen nach saisonalen oder jährlichen Schwankungen, da ein Anstieg von Aussetzungen häufig als Indiz einer wirtschaftlichen Krise gedeutet worden ist321. Eine saisonale Analyse kann hier aber wegen der vergleichsweise geringen Aussetzungszahlen nicht vorgenommen werden. Für eine Verteilung über längere Zeiträume können die beiden seriellen Quellen, nämlich die Rechnungen der kurfürstlichen Kammer und der Kämmerei der Altstadt Hannover, jedoch herangezogen werden. In der Tat weisen beide Rechnungen erhebliche Schwankungen in der Zahl der versorgten ausgesetzten und verlassenen Kinder auf. Tabelle 6: Anzahl der ausgesetzten Kinder*, die von der kurfürstlichen Kammer und der Altstädter Kämmerei in Hannover unterhalten wurden (1691-1810) 1 Altstadt Hannover | Kämmerei |

1 |

Jahre

|

1 6 9 1 - 1 7 0 0

1 7

_

|

1 7 0 1 - 1 7 1 0

2 7

4

|

|

1 7 1 1 - 1 7 2 0

2 6

8

1

|

1 7 2 1 - 1 7 3 0

2 4

4

|

|

1 7 3 1 - 1 7 4 0

7

7

|

|

1 7 4 1 - 1 7 5 0

6

6

1

|

1 7 5 1 - 1 7 6 0

4

6

j

|

1 7 6 1 - 1 7 7 0

5

j

1 7 7 1 - 1 7 8 0

3

4

j

1

|

1 2

j

Kfstm. Hannover Kurfürstl. Kammer**

|

1 7 8 1 - 1 7 9 0

5

I

1 7 9 1 - 1 8 0 0

6

I

1 8 0 1 - 1 8 1 0

i

j

|

i

* Summe der Bezeichnungen "Findelkind", "ausgesetzt", "verlassen" ** vor 1706 getrennte Kammern in Celle und Hannover Quelle: NHStA Hann. 76c A Nr. 110-125 u n d 216-344; StAH B Nr. 6617m-6746g

Für eine Deutung im Zusammenhang mit Krisen oder Teuerungen ist die Zahl der versorgten Kinder wiederum zu gering. Deutlich wird aber, daß ab ca. 1730 auf Landesebene und ab 1760 im Stadtbereich deutlich weniger Kinder unterhalten wurden. Im und unmittelbar nach dem Siebenjährigen Krieg blieben sogar jegliche Unterstützungen von Findelkindern aus 322 . Da es keinen Grund zu der Annahme gibt, daß gerade in dieser von Not geprägten Zeit keine Kinder ausgesetzt wurden, geben die Rechnungen wahrscheinlich nicht die tatsächliche Abnahme von Kindesaussetzungen, sondern nur die Einstellung der Zahlungen 321 322

Vgl. HUNECKE, Findelkinder, 22; dort auch weitere Literaturangaben. Auch die kurfürstliche Kammer verzeichnete zwischen 17S9 und 1766 keine Neuaufnahmen von Kindern.

152

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

wieder. Die reale Entwicklung des Aussetzungsverhaltens läßt sich daher anhand dieser Quellen nicht nachweisen. Die von dem Großvogt von Bülow 1714 geäußerte Befürchtung, daß die Kindesaussetzung "bey den jetzigen theuren Zeiten mehr practisirt werden möchte"323, spricht aber für einen möglichen Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Krisenzeiten und der Zunahme von Kindesaussetzungen.

3.3.

Persönliche Lage und Beweggründe aussetzender Personen Lebensumstände aussetzender Mütter - Tätigkeit und Beziehung - die Herkunft älterer Kinder - Exkurs: die Tötung älterer Kinder

Da die meisten Aussetzungen anonym blieben, ist über die Herkunft der Kinder nur wenig bekannt. Vereinzelt finden sich Hinweise auf die Eltern, auch wenn diese nicht von den Behörden gefaßt wurden, z.B. in den bei den Kindern gefundenen Zetteln oder in Zeugenaussagen; danach ergibt sich ganz allgemein das Bild von Menschen in Not, die wahrscheinlich einer wirtschaftlich und sozial nicht abgesicherten Schicht angehörten und meist darüber hinaus noch spezifische Gründe für die Kindesaussetzung hatten. Eine der aussetzenden Mütter wurde als "dürftige Witwe eines Tabakspinners"324 bezeichnet. Bei fünf Kindern handelte es sich um Kinder von Soldaten; einer dieser Soldaten war kürzlich verstorben (Burgdorf 1694), ein anderer befand sich in Militärarrest (Peine 1746). Delinquenz war wohl auch in zwei weiteren Fällen der Grund für die Aussetzung, einmal bei einer Frau, die angeblich als Diebin verfolgt wurde (Winzenburg 1742), weiter bei einer anderen, die soeben aus dem Zuchthaus entlassen und des Landes verwiesen worden war (Burgvogtei Celle 1739). Heimatlos waren auch eine vertriebene Pfälzerin (Winzenburg 1691), eine ebenfalls vertriebene Frau aus Holstein (Burgvogtei Celle 1700) und ein umherziehender

Franzose

(Burgvogtei Celle 1698). Genauere Angaben zu aussetzenden Personen sind nur bekannt, wenn jemand festgenommen und eine gerichtliche Untersuchung in Gang gesetzt wurde. Da die Verfolgung von Kindesaussetzungen mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden war, waren solche Fälle allerdings rar. Zudem scheint es ratsam, die Personengruppen nach dem Zeitpunkt der Aussetzung zu unterscheiden, da die Beweggründe für eine Aussetzung in zeitlicher Nähe zur Geburt wahrscheinlich anders lagen als für das Verlassen älterer Kinder. Betrachtet man zunächst nur die Aussetzung von Neugeborenen oder Säuglingen, so stehen nur in zehn Fällen mehr oder weniger ausführliche Angaben über die Täter zur Verfügung. 323 324

StACe 20 B Nr. 2, II. StAH B Nr. 6742g, Kämmereirechnung 1806.

Aussetzung und Verlassen von Kindern

153

In allen zehn Fällen waren die Kinder von ihren Müttern selbst ausgesetzt worden. Diese waren zwischen 16 und 29 Jahren alt; im Durchschnitt etwas jünger als 25 325 . Sechs der zehn Frauen waren ledig und vier verheiratet, von denen wiederum zwei von ihren Männern getrennt lebten. Bei den ledigen Frauen handelte es sich ausschließlich um Dienstmägde; die Tätigkeit der verheirateten Frauen dagegen konnte nicht ermittelt werden. Die soziale Herkunft ist nur in vier Fällen bekannt. Es handelte sich um Töchter je eines Tagelöhners, Soldaten, Invaliden und verschuldeter 'Ackerleute'. Eine dieser Frauen war im hannoverschen Armenhaus aufgewachsen 326 . Die Kindsväter gehörten in der Regel einem ähnlichen sozialen Milieu an wie die Mütter. Es handelte sich um einen Knecht, einen Bauernsohn, der als Knecht gedient hatte, einen Kaufmannsdiener, einen Drechslergesellen und zwei Unteroffiziere 327 ; auffallende Ausnahme war ein Hildesheimer Kanoniker. Auch die Beziehungsmuster waren recht eindeutig: Im Falle der ledigen Dienstmädchen hatten die Kindsväter im selben Haus gedient oder als Geselle gearbeitet; dies traf möglicherweise auch auf den Kaufmannsdiener zu. Von den drei verheirateten Kindesaussetzerinnen hatten wenigstens zwei ihre Kinder außerehelich empfangen 328 . Bald nach der Geburt ausgesetzte Kinder waren also ebenso wie Kindsmordopfer nahezu ausschließlich nichteheliche Kinder. Auch die Situation aussetzender Frauen, Alter, Tätigkeit und Paarbeziehung, erinnert an das soziale Profil der Kindsmörderinnen. Dies bestätigt die Auffassung, daß die soziale Lage nur Bedingung, nicht aber Ursache oder auslösendes Moment einer Tat war, und wirft die Frage nach möglichen Unterschieden im Verhalten der Frauen auf. Ein erster Unterschied zu den Kindsmörderinnen könnte darin bestanden haben, daß keine der Frauen, die ihr Kind später aussetzten, durch Nötigung und Gewalt schwanger geworden war. Entscheidender scheint aber das Verhältnis der schwangeren Frauen zu ihrer Umgebung gewesen zu sein. Es fallt auf, daß im Gegensatz zu den Kindsmörderinnen keine der aussetzenden Frauen ihre Schwangerschaft verheimlicht zu haben scheint. In vielen Fällen hatten sich die Frauen Angehörigen anvertraut, die der Schwangeren auch mit Rat und Hilfe beistanden. Die 28jährige ledige Magd Maria Elisabeth Linnemann, die wegen ihrer Schwangerschaft "aus dem Dienst [ge]kommen" war, hatte sich darauf "bald hie bald da", vor allem aber bei ihrer verheirateten Schwester aufgehalten 329 . Die 16jährige Catharine Dorothee Behrens - auch sie 325 326 327

328 329

Genau 24,6 Jahre. NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 277, Protokoll vom 10.9.1755. In einem Fall gab die aussetzende Mutter ihren Ehemann als Vater an, eine andere Frau behauptet jedoch, in Wirklichkeit sei ein Unteroffizier der Hildesheimer Stadtmiliz Vater des Kindes. StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 179a, Protokoll vom 17.10.1775. StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 179a und 180. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9905, Protokoll vom 24.1.1732.

154

Defizite der Kindeiversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

ledig und Dienstmagd -, die ihr Kind auf der Heerstraße von Hannover nach Hildesheim bei Döhren ausgesetzt hatte, war nach eigener Angabe auf dem Rückweg von Celle, "wohin sie mit ihres Vaters Genehmigung sich begeben" hatte, um im Accouchirhaus entbunden zu werden 330 . Die 25jährige Johanne Catharine Zietsch begab sich mit dem Einverständnis ihrer Mutter für die Geburt von Hildesheim zu einer Hebamme nach Salzgitter331. Durch den Beistand der Angehörigen war es den Schwangeren überhaupt erst möglich, die gewohnte Umgebung zu verlassen und auswärts niederzukommen. Weit vorausgeplant hatte ein "ein frembdes wohlgekleidetes Weibsbild", das sich "um Jacobi [25. Juli] des 1761"" Jahres (...) unter dem verdeckten Nahmen Johanna Louise Schnurbaum" in einem Gasthaus im hildesheimischen Amt Steuerwald eingemietet hatte "und daselbst medio xbris [i.e. Mitte Dezember] 1761 mit einem unehligen Kinde niedergekommen" 332 war. Nach der Geburt gab die Mutter ihr Kind einer Soldatenfrau in Pflege, der sie 50 Rtlr. Kostgeld versprach, und verschwand. Ermöglicht wurde eine solche Handlungsweise durch ausreichende finanzielle Mittel, die vielleicht vom Vater des Kindes stammten, als welcher ihr Dienstherr, ein "lediger Kavalier" aus Hannover, vermutet wurde. Nach der Geburt sahen sich die Frauen mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie die Kindsmörderinnen. Die verheiratete, aber von ihrem Mann getrennt lebende Johanne Catharine Zietsch gab als Motiv "Furcht für die sie treffende Schande und väterliche Straffe" 333 an, da ihr wiederholter Ehebruch mit einem Kanoniker als besonders schwerwiegendes Vergehen galt. Sie setzte deshalb ihr Kind, gleich nachdem sie abends aus Salzgitter zurückgekehrt war, vor einem Privathaus aus. Als sie am nächsten Morgen nach Hause zurückkehrte, erzählte sie ihrer Mutter, das Kind sei bei der Geburt gestorben 334 . Auch einer anderen verheirateten Frau, die ein außereheliches Kind geboren hatte, ging es wohl darum, keinen sichtbaren Beweis für ihren Sittenverstoß bei sich zu haben. Die Frau des Kesselträgers Wolff aus dem Bergflecken Moritzberg bei Hildesheim, die anläßlich eines Aufenthaltes in Hannover mit einem ihr angeblich nicht näher bekannten Unteroffizier Beischlaf gehabt hatte, war ihrer Aussage nach auf dem Weg nach Lamspringe, wo sie gebären wollte, bei Ochtersum "in nöhten gefallen". Nachdem sie mit Hilfe einer vorbeikommenden Frau, der sie dafür 1 Rtlr. geben mußte, Zwillinge zur Welt gebracht hatte, setzte sie diese in einer Kiepe aus 335 . 330

331 332 333 334 335

StAHi Best. 100 Abt. 211 Nr. 81a, Schreiben des Amtes Koldingen an den Magistrat der Hildesheimer Neustadt vom 28.5.1794. StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 180, Protokoll vom 14.6.1802. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9899, 1763. StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 180, Protokoll vom 14.6.1802. Ebd. NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 850, Protokoll vom 20.9.1742.

Aussetzung und Verlassen von Kindern

155

Die Vertuschung einer kompromittierenden Beziehung, gleich ob eines Ehebruchs oder eines nichtehelichen Geschlechtsverkehrs, war nur in zeitlicher Nähe zur Geburt aussichtsreich. Viele Aussetzungen aber geschahen erst einige Zeit danach. In diesen Fällen waren die Probleme der aussetzenden Personen vorrangig materieller Art 3 3 6 . Magdalena Margaretha Casparus hatte gegenüber einer anderen Frau geklagt, "Sie wüßte nicht mehr, was sie für Armuth mit dem Kinde anfangen solle". Anna Catharina Meyers erklärte, seit ihrer Niederkunft in Hannover vor drei Wochen vergeblich Unterkunft und Auskommen gesucht zu haben. In ihrer Not habe sie keinen anderen Ausweg als die Aussetzung des Kindes gewußt: "Als es gestern Abends auf dem wege nach Stöcken schlecht Wetter geworden, und sie nichts zu zehren gehabt, auch befürchtet, das Kind möchte ihr verklomen, habe sie selbiges in der Noth zu Stöcken vor ein Hauß gelegt; sey aber nicht weit davon in das Gehöltze gesprungen, worinnen sie die gantze Nacht geblieben, weil sie von ferne gesehen, daß ihr Kind von den Leuten ins Hauß genommen" 3 3 7 . Anne Sophie Schulze, die vor der Aussetzung vergeblich versucht hatte, den Kindsvater zur Unterstützung bei der Versorgung des Kindes zu bewegen, setzte ihr Kind schließlich vor dem Haus seines Halbbruders aus 3 3 8 . Dieser Fall bestätigt die oben geäußerte Vermutung, daß die Last des unehelichen Kindes nahezu immer allein die Frau zu tragen hatte. Zwar bestand die Möglichkeit einer Alimentationsklage, die Frau mußte aber einen positiven Beweis für die Vaterschaft des Mannes erbringen, dem dieser leicht dadurch begegnen konnte, daß er der Frau weitere sexuelle Kontakte unterstellte. Der Erfolg einer solchen Klage war deshalb mehr als fraglich 339 : Einer Frau, die am 12. April 1744 bei dem Amtmann von Gronau einen dort lebenden Kleinschmied namens Kühne als Vater ihres Kindes angab, wurde von dem Amtmann bedeutet, "daß der angegebener [sie!] Kleinschmidt für sich keinen thaler zu geschweigen mehr in [sie!] vermögen hette, inmaßen derselbe mit der Wittwen voges daß zu brauchende Handwecks zeug, undt alle übrige wenige mobilien so vorhanden geheyrathet, folglich für sich nichts hette, mithin wan sie nicht hinlänglich beweisen könte, daß der Kühne würcklicher Vatter des Kindes wäre, sie auch wenig oder nichts zu hoffen haben würde, in so ferne Sie aber den Kühnen deß imputierte factum [i.e. der ihm zugeschriebenen Tat] rechts beständig und hinlänglich überführen undt demnechst media exe336 337 338

339

StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 179a, Protokoll vom 17.10.1775. NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 277, Protokoll vom 10.9.1755. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9900, Protokoll vom 29.5.1726 und Schreiben des Gerichtes Bolzum an die Regierung vom 31.7.1726. Vgl. dazu auch LESEMANN, Arbeit, Ehre, Geschlechterbeziehungen, 121, 126-135.

156

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht quendi [i.e. Mittel zur Ausführung] in Vorschlag bringen könte, so dann von Amtswegen ihr alle rechtliche hülff widerfahren solte" 3 4 0 .

Die Frau war durch die Auskunft des Amtmannes, der sie zudem darauf hingewiesen hatte, " . . . d a ß heut sontag, und dergleichen nicht examinirt [ w e r d e ] . . . " , offenbar von der Aussichtslosigkeit einer Klage überzeugt worden und griff daher zu dem nächstliegenden Mittel: S i e legte das Kind dem Kleinschmied Kühne vor die Haustür und verschwand. 3 4 1 Eine Verdienstmöglichkeit, die sich in dieser Lage für alleinstehende Mütter ergab, war die Tätigkeit als Säugamme in einer wohlhabenden Familie 3 4 2 . Das Ammenwesen

war

zwar

in

Nordwestdeutschland

-

anders

als

z.B.

in

Frankreich 3 4 3 - nicht allgemein verbreitet 3 4 4 . Die Beschäftigung von Ammen war aber doch üblich, wenn eine Mutter nicht selbst stillen konnte, in den Oberschichten teilweise auch zur Entlastung der Hausfrau 3 4 5 . Am Ende des 18. Jahrhunderts war die Ammentätigkeit zumindest so verbreitet, daß sie obrigkeitlicher Aufsicht unterstellt wurde. In Hamburg wurde die Eröffnung eines unter obrigkeitlicher Aufsicht stehenden Vermittlungsbüros erwogen 3 4 6 , und in Göttingen wurde 1795 öffentlich bekanntgemacht, daß sich Frauen, die sich als Ammen verdingen wollten, bei der Stadthebamme melden müßten 3 4 7 . Außerdem sollten die Frauen in ein Verzeichnis eingetragen und einmal jährlich untersucht werden, "wobey insbesondere das äußere Ansehen, die Beschaffenheit der Zähne, der Brust-Warzen, und der M i l c h " 3 4 8 überprüft werden sollten 3 4 9 . Die Ammentätigkeit bedeutete für eine ledige Mutter offensichtlich eine günstige Perspektive. S o versuchten Obrigkeiten und Mediziner, die Frauen mit dem Argument, sie würden durch die ärztliche Bestätigung ihrer Gesundheit leichter eine Anstellung als 340 341 342

343

344

345 346

347 348 349

NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9902, Protokoll vom 21.4.1744. Ebd. Vgl. dazu Johanna Louise BROCKMANN, Ammentätigkeit in Deutschland (1750-1925), in: Zeitschrift für Pädagogik 28 (1982), 695-714; dies., Die ambivalente Rolle der Amme - ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Familie in Deutschland, in: Jost von MAYDELL (Hg.), Bildungsforschung und Gesellschaftspolitik. W. Schulenberg zum 60. Geburtstag, Oldenburg 1982, 63-88; Mary LINDEMANN, Love for Hire: The Regulation of the Wet-Nursing Business in Eighteenth-Century Hamburg, in: Journal of Family History 6 (1981), 379-395. LINDEMANN, Love for Hire, 391. Vgl. dazu z.B. Jean GANIAGE, Nourrissons parisiens en Beauvaisis, in: Sur la population française au XVIII e et au XIX e siècles. Hommage à Marcel Reinhard, Paris 1973, 271-290. Einer der Gründe dafür war, daß die Beschäftigung von Ammen häufig, vor allem von Ärzten, als Unsitte bekämpft wurde. BROCKMANN, Rolle der Amme, 64f., 74-76; LINDEMANN, Love for Hire, 379-381. Ausfuhrlich dazu jetzt auch: FUES, Amme oder Muttermilch. Ebd., 66f. Vgl. BROCKMANN, Rolle der Amme, 78f.; LINDEMANN, Love for Hire, 385ff. Um 1790 wurden in Hamburg etwa 4000-5000 Ammen beschäftigt. LINDEMANN, Love for Hire, 385. NHStA Hann. 87 Göttingen Nr. 128, undatiert. Ebd., Schreiben vom 26.10.1795. Die gesundheitlichen Voraussetzungen beschreibt näher LINDEMANN, Love for Hire, 382.

Aussetzung und Verlassen von Kindern

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Amme finden, zur Entbindung in den Entbindungsanstalten zu überzeugen 350 , ein Versprechen, das sich zumindest in größeren Städten erfüllte 351 . Das eigene Kind war jedoch für eine Anstellung als Amme eher hinderlich 352 . Als besonders geeignet galten Frauen, die durch den Tod ihres Kindes sich ganz ihrem Milchkind widmen konnten. Die wiederholte Erwähnung der Ammentätigkeit in Verbindung mit der Kindesaussetzung ist kein Zufall: Nach der Aussetzung des eigenen Kindes glaubten die Frauen, gute Aussichten auf eine Anstellung als Amme zu haben. Maria Elisabeth Linnemann aus Braunschweig, die ihr Kind im Krug zu Sosmar aussetzte, begab sich danach nach Hildesheim, wo eine Hebamme sie als Amme vermitteln wollte 353 . Anne Sophie Schulze, die ihr Kind 1726 in Bolzum aussetzte, arbeitete in Hannover als Amme 354 . Magdalena Margaretha Casparus, die ihr Kind im Jahr 1775 in Hildesheim aussetzte, wollte mit einer Freundin nach Lüneburg gehen und sich dort als Amme verdingen 355 . Eine weitere Möglichkeit bestand darin, das eigene Kind anderen Leuten gegen ein geringes Entgelt in Verpflegung zu geben. Die Ammentätigkeit sicherte jedoch nur vorübergehend den Lebensunterhalt. Eine Frau in Celle, die ihr Kind für 10 Rtlr. im ersten und 9 Rtlr. im zweiten Jahr bei einer anderen Frau in Pflege gegeben hatte und zunächst bei einem Handschuhmacher und dann bei einem Sekretär als Amme diente, verschwand Weihnachten 1693 heimlich und ließ ihr Kind bei der Pflegemutter zurück, wahrscheinlich nachdem sie nicht weiter als Amme arbeiten und daher das Pflegegeld nicht mehr zahlen konnte 356 . Während in den obengenannten Fällen neben der materiellen Not immer auch die schwierige gesellschaftliche Lage alleinstehender Frauen von Gewicht war, war das Verlassen älterer Kinder, von denen viele ehelich geboren waren, vorrangig durch den Verlust der materiellen Versorgungsfähigkeit geprägt, der durch wirtschaftliche Notsituationen oder individuelle Probleme entstehen konnte. In Celle verschwand 1744 ein Leineweber und Häusling samt seiner Frau "nach 350

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UAGö 4 IVg Nr. 1, Schreiben der Landesregierung vom 14.5.1751. Zu den Entbindungsanstalten vgl. Kap. IV, Abschnitt 5.2. Für die hannoversche Anstalt behauptet dies Johann Heinrich JUGLER, Repertorium über das gesamte Medicinalwesen in den Braunschweig-Lüneburgischen Churlanden, Hannover 1790, 8; ähnlich für Hamburg LINDEMANN, Love for Hire, 390. SCHLUMBOHM, Ledige Mütter, 152, hält die Chance einer Vermittlung als Amme dagegen eher für gering. Als der Göttinger Superintendent Arnold Wagemann 1815 ein Säuglingsinstitut ins Leben rief, geschah dies vor allem aus Sorge um die Kinder von Ammen: "Die Ammen, welche fremde Kinder stillen müssen, würden über die Ihrigen ruhig und gewährten ihren Säuglingen gesundere Nahrung, und den Eltern, welche ihren Kindern Ammen miethen müssen, würde der schreckliche Vorwurf ersparet, daß die Freuden über das Gedeihen ihres Kindes, durch das Hinwelken eines Andern erkauft sey." NHStA Hann. 87 Göttingen Nr. 64, "An Mütter und Kinderfreunde in Göttingen" vom 15.5.1815. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9905, Protokoll vom 24.1.1732. Ebd. Nr. 9900, Protokoll vom 29.5.1726 und Schreiben des Gerichtes Bolzum an die Regierung vom 31.7.1726. StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 179a, Protokoll vom 17.10.1775. NHStA Celle Br. 61a Nr. 359, Schreiben des Amtsvogtes von Beedenbostel vom 7.3.1694.

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Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

vielen gemachten Schulden, mit Hinterlaßung 2 unmündiger Kinder heimlich von hier" 357 . Im Jahr 1750 gingen ein Tambour und seine Frau fort, vermutlich nach Neuschottland, und hinterließen das Kind, das darauf vier Jahre von einem Nachbarn verpflegt wurde 358 . Ebenfalls wegen Abwanderung waren im Amt Lemförde 1751 drei verlassene Kinder zu versorgen, deren Mütter, zwei ledige Frauen, sich abgesetzt hatten und "der Sage nach" nach Amsterdam gegangen waren 359 . Das Verlassen des Kindes erscheint hier als Teil einer Strategie, die den Müttern oder Eltern den Erhalt der eigenen Lebensperspektive sichern sollte. Dies gilt auch für den folgenden Fall, der sich 1784 in Göttingen zutrug 360 . Ein Maurergeselle namens Eismann verschwand mitsamt seiner Ehefrau; das uneheliche Kind der Frau ließen die beiden in Göttingen zurück. Der Grund dafür war, daß dem Mann seine bisherige Lebensgrundlage plötzlich entzogen worden war und er sich einen neuen Lebensunterhalt suchen mußte: "[Er] sey einer gewissen Dieberey wegen im verwichenen Sommer von der Arbeit gewiesen [worden], und habe sich darauf unter die kaiserlichen Truppen als Soldat annehmen lassen." Für die Frau, die augenscheinlich den Wunsch verspürte, ihrem Mann nachzufolgen, war ihr Kind dabei hinderlich. Sie entledigte sich jedoch nicht allein der Verantwortung für das Kind, sondern verschaffte sich mit einem Trick auch noch das Reisegeld auf Kosten ihres zurückgelassenen Sohnes. Der Göttinger Stadtsyndikus verwaltete für das Kind eine Summe von 30 Rtlr., die der Kindsvater als einmalige Unterhaltszahlung hinterlegt hatte. Mit der Angabe, daß sie mit ihrem Kind ihrem Mann folgen wolle, gelang es der Frau, den Restbetrag dieser Summe ausgezahlt zu bekommen. Darauf ging sie allein fort und ließ ihr Kind zurück, das vorübergehend von dem Bruder ihres Mannes unterhalten wurde. Ähnliche Fälle trugen sich immer wieder zu 361 . Die Analyse der vorhandenen Einzelfälle bestätigt die schon durch die den Kindern beigegebenen Zettel angeregte Vermutung, daß materielle Not bei der Aussetzung der wichtigste Beweggrund war. Je älter das Kind war, desto mehr traten gesellschaftliche Gründe in den Hintergrund. In Extremfällen konnten wirtschaftliche Not und individuelle Ausweglosigkeit zur Tötung älterer Kinder führen. Drei Beispiele verdeutlichen diesen Zu357 358 359 360 361

NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Schreiben der Burgvogtei vom 2.3.1744. Ebd., Schreiben des Großvogtes vom 4.11.1754. NHStA Hann. 74 Diepholz Nr. 899, Schreibendes Amtes Lemförde vom 5.2.1751. StAGö AA Wohlfahrt Annensachen und Stiftungen Nr. 229. Auch in Hildesheim verließ ein Ehepaar sein Kind, indem eist der Vater in die kaiserliche Armee eintrat und einige Zeit darauf die Mutter verschwand, nachdem sie zuvor noch ihrem Wirt 2 Rtlr. gestohlen hatte. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 8, undatiert (ca. 1755). Zu weiteren Beispielen siehe Kap. VI, Abschnitt 1.3.

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sammenhang 362 . Als in Celle ein Ehepaar verhaftet wurde, da es im Schloß ein Silberbecken gestohlen haben sollte, versuchte die Frau, ihr Kind zu töten, konnte aber gerade noch an der Tat gehindert werden: "nachdem diese ihr kleines Mägdchen ä 3/4 Jahr alt heute (...) zu ermorden Vorhabens gemacht, dem Kinde auch, wie Christian Krauel der Wächter berichtet, ein Band schon um den Halß gethan, und es in der wächterbude wo sie geseßen, erhencken wollen, ist solch kind ihr so fort abgenommen, und Johan dedens frauen auff der Blumlage 363 zur Pflege hingethan" 364 .

In den beiden folgenden Fällen dagegen wurde die Tat ausgeführt. 1734 ertränkte die 49jährige Ehefrau Catharina Elisabeth Koch ihre achtjährige nichteheliche Tochter. Mutter und Tochter befanden sich auf dem Rückweg vom Kloster Escherde, wo die Mutter die Oberin des Klosters, welche gleichzeitig Patin ('Muhme') des Kindsvaters war, um Unterstützung bitten wollte. Schon an der Klosterpforte war sie jedoch abgewiesen worden und darauf vollends verzweifelt. Als das Kind auf dem Rückweg trotz des Verbotes der Mutter aus einem Teich trank, "hätte sie [sc. die Mutter] es mitt der lincken handt vor den hinterleib geschlagen, undt also in den Teich geworffen" 365 . Ilsa Lucia Siegmund, eine verheiratete Frau von etwa 30 Jahren, deren Mann sie schon vor einigen Jahren verlassen hatte, wurde 1756 beschuldigt, ihren sieben bis acht Jahre alten Sohn getötet zu haben. Die Frau, die sich laut Zeugenaussagen hauptsächlich vom Betteln ernährte, hatte dem Kind die Kehle durchschnitten, aus Verzweiflung über ihre Armut, wie sie selbst sagte366. Beide Frauen wurden für schuldig befunden und hingerichtet.

362

363 364 365 366

Ein weiterer Fall, in dem eine Frau den Tod ihres dreijährigen Kindes verschuldet hatte, findet sich in den Celler Zuchthauslisten für das Jahr 1802. NHStA Hann. 86 Celle Nr. 104. Vorstadt von Celle. NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Schreiben des Burgvogtes vom 28.9.1700. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 10139, fol. 110. NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 265. Es handelt sich dabei um die Frau, die HOOF, Kindsmordvorgänge, 64f., fälschlich als Kindsmörderin angibt. Vier Jahre zuvor hatte die Frau sich schon einmal des Kindsmordes bezichtigt, um ihre Verhaftung herbeizuführen.

160 3.4.

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

Obrigkeitliche Gegenmaßnahmen Verfolgung der Angehörigen - Strafen - Überwachung und Präventivmaßnahmen

Sobald ein Findelkind entdeckt worden war, bemühten sich die Obrigkeiten unverzüglich um die Ergreifung der Täterin oder des Täters. In den wenigen Fällen, in denen dies gelang, hatten die Beamten es relativ leicht, entweder weil die Kinder in der Nähe der Heimatorte ihrer Mütter ausgesetzt worden waren und wie bei der Kindestötung die soziale Kontrolle, das Gerücht, funktionierte 367 , oder weil die Frauen unvorsichtig vorgegangen waren. In Hildesheim wurde die Obrigkeit 1775 auf eine Mutter aufmerksam, weil ein Taufpate die Kleidung des Kindes anhand einer veröffentlichten Beschreibung erkannt hatte 368 . In einem anderen Fall erkannten zwei Frauen in Hildesheim an der Kleidung ein Kind, das mit ihnen in der Postkutsche nach Hildesheim gekommen war, so daß nur noch der Name der Mutter ermittelt zu werden brauchte 369 . Andere Frauen hatten das Kind in einem Gasthof ausgesetzt, dessen Wirt sie zuvor gesehen hatte370, oder sich zu lange in der Nähe des Tatortes aufgehalten 371 . Leicht zu ermitteln waren eine Täterin oder ein Täter auch dann, wenn sie das Kind vor dem Haus des Vaters oder von dessen Angehörigen ausgesetzt hatten372. Diesen Verlauf nahm aber nur ein geringer Teil der vorkommenden Fälle. Meist hatten die Obrigkeiten erhebliche Probleme bei der Verfolgung von Kindesaussetzungen, da die Tat von auswärtigen Personen begangen worden war. Waren ältere Kinder verlassen worden, konnten diese nach ihren Eltern befragt werden und wenigstens ihren Namen angeben 373 . Handelte es sich aber um kleine Kinder, waren die Beamten auf Mithilfe weiterer Personen angewiesen. Das Nächstliegende war die Befragung der Personen, die normalerweise von allen Geburten Kenntnis erhielten: Hebammen und Pastoren. 1750 wandte sich der Schreiber der Sollingischen Unterhütte an den Göttinger Magistrat und berichtete, daß ein vier- bis sechswöchiges Kind gefunden worden war. Deshalb bat man die Beamten aller umliegenden Amtsbezirke, 367

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Die Frau des Kesselträgers Wolf wurde 1742 "Auff eingehohlte sichere und gegründete Kündtschafft" verhaftet, da sie wegen ihrer überraschenden Niederkunft ihre neugeborenen Zwillinge unweit ihres Wohnortes ausgesetzt hatte. NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 850, Protokoll vom 20.9.1742. StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 179a, Protokoll vom 17.10. 1775. Ebd. Nr. 180, Protokoll vom 14.6.1802. Die Frau behauptete zwar, das Kind nur kurzfristig zurückgelassen zu haben, um einige Sachen zu holen. Da sie aber anderen Leuten gegenüber vorgegeben hatte, das Kind sei tot, wurde ihr nicht geglaubt. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9905, Protokoll vom 24.1.1732. Ebd. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9900, Protokoll vom 29.5.1726 und Schreiben des Gerichtes Bolzum an die Regierung vom 31.7.1726. NHStA Celle Br. 61a Nr. 2475. Ein 1773 in Gleidingen verlassenes Kind gab an, Engel Münstermann zu heißen, NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9900, Schreiben des Amtes Ruthe vom 7.6.1773.

Aussetzung und Verlassen von Kindern

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"daß sie deßfalls Erkundigung einziehen möchten, ob gegen die eine oder andere Weibes Person ihrer Gerichte welche vor 4 oder 6 Wochen niedergekommen, Vermuthung zu faßen, ferner daß sie die Wehemutter deßfalls vernehmen, auch mit denen Predigern darüber communiciren und in denen Büchern nachsehen laßen möchten, ob um solche Zeit, da das Kind der Vermuthung nach zur Welt zur Welt gebohren, ein Kind unter dem Namen Maria Catharina /: Als welcher Nähme sich bey dem Kinde aufgeschrieben gefunden h a t : / getaufft worden" 374 .

Darauf wurden die drei städtischen Hebammen vernommen und - offenbar waren die Beamten zu ähnlichen Ergebnissen gelangt, was den Zusammenhang zwischen Beweggründen und dem Alter des Kindes betraf - ausschließlich nach unehelichen Geburten befragt; allerdings fiel die Befragung negativ aus, denn nur eine Hebamme hatte ein uneheliches Kind zur Welt geholt, das aber sofort gestorben war. Die Nachfrage bei den Pastoren der Pfarreien Johannis, Marien, Albani und Nicolai verlief ebenfalls erfolglos. Auch in St. Jacobi war in den letzten sechs Wochen kein uneheliches Kind dieses Namens getauft worden, "den 3ten Jun. aber dieses Jahres, und also vor Neun Wochen, [sei] ein unehliges Kind mit Nahmen Maria Catharina getauft [worden], welches den 2ten Jun: gebohren" 375 . Vater des Kindes war der Heeresmusiker (Tambour) Johann Georg Müller, Taufpatin die Großmutter des Kindes. Ob dieses Kind nun noch bei seiner Mutter lebte oder für zu alt gehalten wurde, jedenfalls teilte der Vizesyndikus Hannesen am 30. August den Sollingischen Beamten mit, daß in Göttingen kein in Frage kommendes Kind geboren worden sei 376 . Nachdem 1803 in Hildesheim ein Kind gefunden worden war, wurden vier Hebammen vorgeladen. Sie sagten alle aus, keine unehelichen Kinder entbunden zu haben 377 . Weiter hielten sie eine Aussetzung durch eine von einer Hebamme entbundene Frau für nicht wahrscheinlich, da jede Gebärende auch nach der Geburt noch einige Tage betreut werde 378 . Hatten die Ermittlungen bis dahin keinen Erfolg gebracht, waren die Behörden auf die Unterstützung von Bevölkerung und benachbarten Obrigkeiten angewiesen. Zunächst wurden alle Leute, die Fremde mit Kindern beherbergt hatten, befragt 379 . Hatten Zeugen die Begleitperson des Kindes gesehen, und hatte diese gar Angaben über ihre Reiseroute gemacht, konnte sie per Steckbrief ge-

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379

StAGö AA Recht Criminalia 79, Schreiben der Sollingischen Unterhütte vom 6.8.1750. Ebd., Protokoll vom 7./8. 8.1750. Ebd., 30.8.1750. StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 180, Protokoll vom 18.10.1803. Anders sei es, wenn ein Accoucheur, also ein männlicher Geburtshelfer, eine arme Frau entbinde. Diese Aussage war möglicherweise Ausdruck einer Rivalität zwischen Hebammen und männlichen Geburtshelfern. Am 23.3.1746 in Hildesheim. NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 850.

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Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

sucht werden 380 . War die Aussetzung jedoch unter Wahrung der Anonymität erfolgt, blieb den Beamten nur das Mittel, steckbriefartige Beschreibungen der Kinder und ihrer Kleidung zu verfassen und diese an die benachbarten Obrigkeiten zu senden 381 . Außerdem wurden solche Steckbriefe von den Kanzeln verlesen und in späterer Zeit auch in Zeitungen veröffentlicht 382 . Für die Anzeige der Begleitperson wurde "eine gute Belohnung" 383 ausgesetzt. Trotzdem blieb die Suche oft erfolglos 384 , selbst wenn das Kind "kurtz vorher müßte gebohren sein, in dem es vom Blute noch nicht gereiniget war" 385 . Die Bewohner des Kruges in Bockelskamp bei Eicklingen gaben 1697 an, trotz intensiver Suche gleich nach dem Fund des Kindes niemanden entdeckt zu haben 386 . Auch in Betheln im Amt Gronau suchten die Einwohner die ganze Nacht ohne Erfolg nach einer Frau 387 . Im Zusammenhang mit einer Aussetzung im Amt Steuerwald im Jahr 1725 wurde am Morgen der Aussetzung eine Frau mit einem Kind gesehen, und am folgenden Tag erkundigte sich ein "Kerl" nach dem Kind; trotzdem wurde niemand festgenommen 388 . 1807 konnte eine aus Weende entflohene Frau wohl nicht ergriffen werden, obwohl Zeugen aussagten, sie habe die Post nach Northeim genommen 389 . Aufgrund der Mobilität aussetzender Personen war eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen benachbarten Obrigkeiten unerläßlich. Als das Amt Koldingen 1794 in Hildesheim um eine Altersbescheinigung für Catharine Dorothee Behrens, die ihr Kind bei Döhren ausgesetzt hatte, nachsuchte, sicherten die Beamten sogleich für spätere Fälle Gegenleistungen zu 390 . Nicht immer aber hatten es die Obrigkeiten mit der Verfolgung einer Kindesaussetzung sehr eilig. In dem 380

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383 384 385

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Steckbriefe einer Frau, die 1738 in Celle zwei Kinder verlassen hatte, wurden nach Harburg und Lüneburg geschickt, da die Frau mit einer Gruppe von Fuhrleuten dorthin unterwegs gewesen sein sollte. NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Schreiben der Burgvogtei vom 7.5.1738. NHStA Hann. 74 Göttingen K Nr. 507, Brief des Amtes Brunstein an das Amt Harste vom 9.8.1805. 1759 wurde der Steckbrief eines in der Amtsvogtei Eicklingen gefundenen Kindes von den Kanzeln verlesen und außerdem an das 'Intelligenz-Comptoir' in Hannover gegeben. NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944. Die "Königlich-Preußische allergnädigst privilegierte Hildesheimische Zeitung" veröffentlichte am 13.8.1802 einen Steckbrief. StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 180. Ebd. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9902, Amt Gronau 10.4.1725. NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Schreiben der Burgvogtei vom 5.9.1768. Ein ähnlicher Fall einer Aussetzung sofort nach der Geburt wird berichtet ebd., Schreiben der Burgvogtei vom 3.10.1782. Ebd., Protokoll vom 14.1.1697. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9902, Protokoll des Amtes Gronau vom 3.7.1725. Ebd. Nr. 5222, Protokoll vom 28.9.1725, fol. 4-7. NHStA Hann. 74 Göttingen K Nr. 507, Protokoll vom 23.6.1807. "Es wird uns übrigens zum Vergnügen gereichen diese Rechts-beförderung in vorkommenden Fällen erwiedern zu können". StAHi Best. 100 Abt. 211 Nr. 81a, Brief des Koldinger Amtmannes vom 28.5.1794. Das Amt Brunstein wandte sich 1805 an das Amt Harste "unter Erbiethung zu allen ähnlichen Rechtsgefälligkeiten", NHStA Hann. 74 Göttingen K Nr. 507.

Aussetzung und Verlassen von Kindern

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bereits erwähnten Fall des am 6. Juni 1709 vor den Göttinger Stadttoren gefundenen Kindes, welches das Amt Harste zu versorgen hatte, wurde der Göttinger Magistrat erst beinahe vier Monate später, am 8. Oktober, aufgefordert, "den Thäter auszuforschen, und wann etwa gegen jemand genugsam iudicia vorhanden, davon an hiesige justitz-Cantzley ausführlichen Bericht" zu erstatten, "damit solche Boßheit nicht ohngestraffet bleiben möge" 391 . Der Grund für eine möglicherweise nicht sehr nachhaltige Verfolgung von Kindesaussetzungen beruhte auf dem Charakter der Tat. Die Ermittlung der Angehörigen lag vorrangig im Interesse derjenigen Obrigkeit oder Gemeinde, die das Kind versorgen mußte 392 . Die Tat als solche scheint nicht als sonderlich schwerwiegend beurteilt worden zu sein, wie die Bestrafung gefaßter Täterinnen und Täter zeigt. In den meisten der hier berücksichtigten Fälle wurden die Kinder von ihren Müttern ausgesetzt. In der Carolina wurde sogar wie beim Kindsmord die Mutter als einziges Tatsubjekt genannt 393 . Die vorgesehenen Strafen waren je nach der Schwere der Tat ganz unterschiedlich. Wurde das Kind lebendig gefunden, sollte die Mutter "nach gelegenheyt der sach vnnd radt der verstendigen gestrafft werden" 394 . Selbst wenn aber das Kind durch die Aussetzung ums Leben kam, mußte nicht unbedingt die Todesstrafe ausgesprochen werden, sondern es konnte auch, je nach der Gefährdung des Kindes durch die Aussetzung, eine Leibesstrafe verhängt werden 395 . Wenn aber schon die Regelungen der Carolina weniger eindeutig waren als bei der Kindestötung, so vereitelten die oben beschriebenen Begleitumstände bei der Aussetzung und die daraus resultierenden Schwierigkeiten, überhaupt einer Verdächtigen habhaft zu werden, erst recht eine durchgehende Bestrafung der Kindesaussetzung. Aus dem Untersuchungszeitraum ist nur ein einziges Todesurteil wegen einer Kindesaussetzung bekannt: Am 14. März 1741 wurde in Hannover eine Frau hingerichtet, deren Kind nach der Aussetzung in freiem Feld gestorben war 396 . Allerdings wurden der Frau auch Diebstahl und Unterschlagung vorgeworfen, was die Entscheidung für das Todesurteil möglicherweise nicht unerheblich beeinflußt hatte397. Ebensowenig wie weitere Todesurteile sind Leibesstrafen aus dem Untersuchungsgebiet überliefert. Wenn Kindesaussetzungen überhaupt geahndet wur-

391 392 393 394 393

396 397

StAGö AA Recht Criminalia Nr. 79, Schreiben der Klosterkammer vom 8.10.1709. Siehe unten Kap. IV, Abschnitt 2. Vgl. URBAN, Kindesaussetzung, 12. PGO, 88f., Art. 132. "Stürb aber das kind von solchem Hinlegen, so soll man die mutter, nach gelegenheyt des geuerlichen hinlegens am leib oder leben straffen." Ebd., 89. StAH B Nr. 6675g, Kämmereirechnung 1740/41. Hinrichtungsprotokoll bei HOOF, Kindsmordvorgänge, 69f.; daraus geht nicht eindeutig hervor, welche Rolle die anderen Vorwürfe spielten.

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Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

den, war seit etwa 1730 eine Haftstrafe üblich 398 . Das höchste Strafmaß wurde 1774 von der Lauenburgischen Regierung verhängt: lebenslängliche Zuchthaushaft wegen Kindesaussetzung und Diebstahl 399 . Wiederum dürfte aber der Diebstahlsvorwurf den Ausschlag für die harte Bestrafung gegeben haben. Die Sanktionen für Kindesaussetzung allein waren deutlich milder, die härteste Buße wurde einer Frau aus dem Amt Brunstein auferlegt, die 1791 zu zehn Jahren Zuchthaus in Celle verurteilt wurde 400 . Der Tod des Kindes wirkte nicht unbedingt strafverschärfend: Nur sechs Jahre Haft wegen Kindesaussetzung mit Todesfolge erhielt eine Frau aus der Amtsvogtei Eicklingen 1785 401 . Eine andere, die ihr Kind direkt vor der Tür der Celler Burgvogtei ausgesetzt hatte, kam mit nur sechs Monaten Zuchthaus davon, obwohl das Kind infolge der Aussetzung zu Tode gekommen war 4 0 2 . Die übrigen im Kurfürstentum Hannover verhängten Zuchthausstrafen bewegten sich zwischen drei Monaten und drei Jahren 403 . Aus dem Hochstift Hildesheim sind ausschließlich Spinnhausstrafen bekannt: 1732 wurde eine Frau für einige Zeit in das Peiner Spinnhaus verurteilt, und 1749 hatte im Amt Steuerwald "ein fremdes weibes mensch ein Kind gebohrn und abhanden gebracht, so aber noch lebendig wiedergefunden", worauf sie ebenfalls nach Peine verbracht wurde 404 . Obwohl einige Kinder auch von Männern ausgesetzt wurden, sind ausschließlich Bestrafungen von Frauen bekannt. Die Strafen waren allerdings nicht nur weit milder als bei der Kindestötung, sondern wurden vergleichsweise selten verhängt. In den Celler Zuchthauslisten finden sich nur elf Verurteilungen wegen Kindesaussetzungen, gegenüber beinahe 172 Kindestötungsdelikten. Bei einer weit größeren Häufigkeit von Kindesaussetzungen verdeutlicht diese Zahl noch einmal eindrücklich den geringen Erfolg und die eher geringe Intensität der strafrechtlichen Verfolgung von Aussetzungen. Der Grund dafür ist nicht allein darin zu suchen, daß oft kein Tatverdächtiger auszumachen war. Teilweise wurde auch bewußt von einer Strafe abgesehen. Als die Einwohner des hildesheimischen Amtes Bilderlahe 1677 die Versorgung eines ausgesetzten Kindes nicht weiter übernehmen wollten, zeigten sie die Mutter des Kindes, Ilsabeth Gieseke aus Sehlen im Amt Wohldenberg, bei der Regierung an. Um der Anzeige Nachdruck zu verleihen, behaupteten sie, die Frau habe ein weiteres Kind getötet, woraufhin die Beschuldigte sofort verhaftet wurde. Da ihr 398 399 400 401 402 403

404

StAH B Nr. 6693g, Kämmereirechnung 17757/58. JVACe, Verzeichnis der Züchtlinge 1731-1778. NHStA Hann. 86 Celle Nr. 104, Verzeichnis der Züchtlinge 1791-1804. JVACe, Verzeichnis der Züchtlinge 1778-1791. NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Schreiben der Burgvogtei vom 5.9.1768. JVACe, Verzeichnis der Züchtlinge 1731-1778, 1778-1791, 1804-1812 und 1812-1821; NHStA Hann. 86 Celle 104, Verzeichnis der Züchtlinge 1791-1804. NHStA Hild. Br. 6 Nr. 96, fol. 48f., Protokoll vom 9.1.1749.

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Aussetzung und Verlassen von Kindern

aber kein Kindsmord nachgewiesen werden konnte und sie das andere Kind nachweislich aus Not ausgesetzt hatte, wurde sie nicht bestraft, sondern mußte nur ihr Kind zu sich nehmen 405 . Die Motivation der Obrigkeiten für einen Strafverzicht lag in dem Wissen, daß eine Verurteilung aussetzender Frauen unvermeidlich die Versorgung der Kinder nach sich zog. Dies verdeutlicht der Fall einer 1732 zur Haft im Peiner Spinnhaus verurteilten Frau: Da keine andere Möglichkeit zur Versorgung des Kindes gefunden wurde, durfte die Mutter es mit in das Spinnhaus nehmen, was bedeutete, daß die Regierung einen Verpflegungszuschuß gewähren mußte. Nach nicht einmal drei Monaten beklagte sich der 'Auditor' (Verwalter) des Spinnhauses, daß die Frau keine Arbeit verrichten könne, da sie sich unablässig um ihr Kind kümmern müsse. Außerdem sei sie krank und bitte um ihre Entlassung, um in Braunschweig als Amme arbeiten zu können. Die Regierung verfügte daher ihre Entlassung und ließ ihr 12 Mgr. als Zehrgeld auszahlen, wahrscheinlich um sicherzugehen, daß sie wirklich bis nach Braunschweig gelangte 406 . In zwei weiteren Fällen aus Hannover und Hildesheim zogen es die städtischen Obrigkeiten vor, vollständig auf eine Strafe zu verzichten und die Frauen mit ihren Kindern gleich abzuschieben 407 . Aus den obigen Darlegungen könnte man schließen, daß ähnlich wie in katholischen

Staaten

auch

im

überwiegend

protestantisch

geprägten

Untersu-

chungsgebiet eine weitreichende Akzeptanz der Kindesaussetzung bestand 408 . Dies legt besonders der Fall der Ilsabeth Gieseke nahe, in dem die Notlage der Frau offenbar als Entschuldigung für die Aussetzung akzeptiert wurde. Die Akzeptanz ging jedoch nie so weit, daß ein ausgeprägtes Findelwesen mit anonymen Aussetzungsmöglichkeiten geschaffen wurde. Vielmehr war der Verzicht auf Strafen gerade durch den Wunsch nach Vermeidung einer öffentlichen Versorgung motiviert, die bei der Bestrafung der Mutter unausweichlich gewesen wäre. Folgerichtig verließen sich die Obrigkeiten bei der Bekämpfung von Kindesaussetzungen stärker auf vorbeugende Maßnahmen. Ziel dieser Maßnahmen war es, anonyme Aussetzungen oder das Verlassen von Kindern unmöglich zu machen. Nur so bestand die Aussicht, die Eltern zur Versorgung ihrer Kinder verpflichten zu können. Daher richteten sich die An405 406 407

408

NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9906, Schriftwechsel vom 2.10. bis 15.10.1677. Ebd. Nr. 9905, Schriftwechsel vom 24.1. bis 29.4.1732. 1723 wurde eine Frau, die ihr Kind in Hildesheim ausgesetzt und die Stadt dann verlassen hatte, von ihren Verfolgern eingeholt und zurückgebracht. Nachdem sie ihr Kind wieder zu sich genommen hatte, begnügte sich die Obrigkeit damit, beide aus der Stadt bringen zu lassen und gab der Frau als "Zehrpfennig" 9 Gr. aus der Kasse des altstädtischen Waisenhauses mit auf den Weg. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 7a, III, Rechnungslisten des Altstädter Waisenhauses 1719-1739, Eintrag vom 23.11.1723. Eine andere Frau, die sich 1709 in Hannover bereit fand, ihr Kind zurückzunehmen, ging völlig straffrei aus und erhielt eine einmalige Unterstützung von 22 Gr. StAH B Nr. 6644m, Kämmereirechnung 1709/10. Im Gegensatz zu den protestantischen Staaten verzichteten katholische Länder oft völlig auf die Ermittlung der Angehörigen. HUNECKE, Findelkinder, 27.

166

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

strengungen darauf, uneheliche Schwangerschaften und den Zuzug schwangerer Frauen sowie die private Aufnahme auswärtiger Pflegekinder obrigkeitlicher Aufsicht zu unterwerfen. Bei allen Delikten, die mit der Geburt eines Kindes in Verbindung standen, waren die Hebammen wichtige Informationsquellen der Obrigkeiten. Sie konnten nicht nur Hinweise geben, nachdem ein Kind gefunden wurde, sondern sie erschienen den Obrigkeiten als die geeignetste Instanz für eine Kontrolle unehelicher Schwangerer, die sie, wenn diese ihre Hilfe in Anspruch nahmen, gleich der Obrigkeit melden sollten. Auch nachdem keine Geldstrafen mehr erhoben wurden, wurden die Hebammen nochmals ausdrücklich zu dieser Maßnahme verpflichtet 409 . Besonders ausführlich sind die Bemühungen um eine Anmeldung lediger Schwangerer in der Celler Burgvogtei überliefert. Dies liegt daran, daß der Burgvogt in bestimmten Angelegenheiten die Rechtsprechung auch in der Stadt innehatte, sich aber gegen den Magistrat immer wieder durchsetzen mußte. Zu den beanspruchten Hoheitsaufgaben gehörte auch die Erhebung der 'Brüche' bei Unzuchtsdelikten. Im Jahre 1733 wandte sich der damalige Burgvogt Brüggemann an die Regierung in Hannover mit der Bitte um Unterstützung gegenüber dem Magistrat, dem die Regierung den Befehl erteilen sollte, eine Verordnung zu erlassen, daß künftig Leute, die schwangere Frauen beherbergten, davon Anzeige bei der Burgvogtei zu machen hätten410. Als Grund seiner Initiative gab er an, daß immer wieder Frauen gleich nach der Geburt verschwänden oder aber nicht bestraft werden könnten, solange sie das Kind noch säugten. Die Regierung wies darauf den Magistrat an, eine entsprechende Verordnung zu erlassen; zuwiderhandelnden Bürgern wurde angedroht, selbst die Geldstrafen für die Schwangeren bezahlen zu müssen. In der Folge kam es zu einem umfangreichen Briefwechsel zwischen Burgvogtei, Regierung und Magistrat, da letzterer sich offenbar weigerte, die Anordnungen zu befolgen. Nachdem es im folgenden Jahr nochmals zu einer Beschwerde des Burgvogtes gekommen war, wandte sich dieser im März 1736 wieder an die Regierung. Trotz deren Anweisung würden nicht nur der Burgvogtei die Schwangeren nicht gemeldet, sondern der Magistrat habe sogar eigenmächtig eine Meldepflicht bei den städtischen Organen verordnet - offenbar ein Versuch, die städtische Autonomie gegenüber dem landesherrlichen Burgvogt zu verteidigen. Da der Magistrat einer Aufforderung zur Stellungnahme nicht nachkam und der Burgvogt am 27. Juni erneut in Hannover auf Unterstützung drängte, forderte die Regierung die Stadt nachdrücklich auf, die Meldung der

409 410

StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 180, Protokoll vom 18.10.1803. StACe 2 A Nr. 8; der ganze Vorgang nach dieser Akte. Außer der Anmeldung von Schwangeren verlangte der Burgvogt weiter, daß die städtischen Chirurgen das Vorkommen von 'Blutwunden' melden müßten, da hier ebenfalls seine Jurisdiktion berührt war.

Aussetzung und Verlassen von Kindern

167

Schwangeren bei der Burgvogtei zu veranlassen und über das eigene Verhalten Rechenschaft abzulegen. Daran schloß sich eine unmißverständliche Rüge: "Wir können nicht umhin, wegen der in dieser Sache, und bey vielen andern Gelegenheiten angemerckten Saumseligkeit, in Befolgung Unserer befehle, Unser Mißfallen Euch hiedurch zu erkennen zu geben, und hiedurch nochmahlen zu erinnern, es daran hinkünftig in keinem Stück ermangeln zu lassen 411 ''. Am 31. Mai 1737 forderte die Regierung die städtischen Behörden nochmals auf, nur solche schwangeren Frauen in der Stadt aufzunehmen, die sich bei der Burgvogtei angemeldet hatten. In diesem Schreiben wurde erstmals explizit die Angst vor zurückgelassenen Kindern als Begründung angeführt, "..daher es dann öffters geschehen soll, daß solche liederliche Weibes Personen ihre Brüche nicht bezahlen, auch wohl gar heimlich davon gehen, und ihre Kinder hinterlaßen, welche so dann entweder der Herrschafft als Fündlinge, oder der Armen-Casse aufgebürdet worden" 412 . Als Strafe sollte den Bürgern nach diesem Reskript, das öffentlich bekannt gemacht werden sollte, angedroht werden, sie müßten nicht nur für die Unzuchtsstrafen der Frauen, sondern auch für den Unterhalt der Kinder aufkommen. Trotz dieser Aufforderung beklagte sich der Burgvogt ein Jahr darauf beim Magistrat, daß die Anordnung nicht ausreichend befolgt werde. Als Beweis führte er an, daß "noch neulich ein fremdes Mensch nahmens Eleonora Federcken in des Schwein Hirten Hause auf der Fritzen-Wiese eines unehligen Kindes genesen, und bis dato die Hurenbrüche bey der Burg Voigtey nicht erleget hat, daher denn die gemeine Folge entstehet, daß die Herrschaft wenn die Menschen mit dem Kinde niedergekommen sind, nicht allein um die Brüche komt, und die Weibsstücke, wenn sie erst das Kind am Halse haben, füglich nicht gestrafft werden können, sondern auch die Armen-Casse mit Huhr-Kindern und die Herrschaft mit Fündelingen überlästiget wird, wenn die Gottlosen Mütter offte davon gehen" 413 . Er appellierte an die Kooperationsbereitschaft der Stadt und drohte damit, sich wiederum an die Regierung zu wenden. Dies muß einige Zeit später geschehen sein, denn am 29. Dezember 1738 wandte sich die Regierung wieder an den Magistrat. Darauf entspann sich ein lebhafter Briefwechsel, in dem der Magistrat die Beschwerden des Burgvogtes als unbegründet abtat, da alle Schwangerschaften 411 412 413

Ebd. Ebd. Ebd.

168

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

dem Magistrat angezeigt und dann im Bedarfsfall an den Burgvogt gemeldet würden. Der Magistrat beharrte unter Berufung auf alte Rechte auf dieser Praxis, obwohl die Geheimen Räte eindeutig die Position des Burgvogtes einnahmen. Trotz weiterer Beschwerden des Burgvogtes wurden noch 1743 laut einem Ratsprotokoll die Amtsgeschworenen angewiesen, Schwangere direkt beim Magistrat zu melden. Letztes Zeugnis dieser dann schon beinahe 18 Jahre währenden Auseinandersetzung ist ein Schreiben des Burgvogtes vom 17. Februar 1751. Darin beklagte Brüggemann, daß die Schwangeren immer noch nicht ordentlich angemeldet würden, und stellte die Folgen in Aussicht: Erstens würden "alle solche liederliche Weibesbilder hieher gelockt", die im Falle ordnungsgemäßer Anmeldung vor der Niederkunft wieder in ihre Heimatorte gebracht werden könnten, zweitens fielen die Kinder beim Tod der Mütter der Armenkasse oder der Burgvogtei zur Last, drittens entgingen der Burgvogtei so die 'Unzuchtsbrüche' und viertens würden "die Stadt und Vorstädte (...) mit liederlichen Weibes Bildern /: davon es an beyden Orten ohnedem nicht fehlt :/ mehr und mehr, mithin auch mit Bettlern angefüllet, und waß dergleichen inconveniencen mehr sind." Der Magistrat sollte befehlen, daß Schwangere nicht länger als 72 Stunden ohne Meldung beherbergt werden dürften; Hebammen, bei denen sich fremde Schwangere meldeten, sollten diese nur nach Vorlage einer Meldebestätigung aufnehmen bzw. im Fall einer nahenden Geburt die Frauen erst dann aus dem Auge lassen, wenn sie sich bei der Burgvogtei angemeldet hätten. Als Strafe sollte den Hebammen angedroht werden, sie müßten die Geldstrafen für Frau und 'Schwängerer' und die Versorgung des Kindes übernehmen. Diesmal ließ der Magistrat den Inhalt des Schreibens bekannt machen und lud auch zwei Hebammen vor. Diese erklärten allerdings, daß die Frauen meist so kurz vor der Niederkunft ankämen, daß an eine Meldung nicht zu denken sei, und hinterher häufig heimlich verschwänden. Da Kinder oft auch bei Pflegeeltern zurückgelassen wurden, war auch die Aufnahme von Ziehkindern einer strengen Kontrolle unterworfen. Die Bitte des Tagelöhners Carsten Grelle, wohnhaft vor dem Hehlentor in Celle, um Unterstützung für die Versorgung eines Kindes, dessen Mutter ihm jährlich 12 Rtlr. versprochen, aber nie gezahlt hatte, war 1730 Anlaß für strenge Strafandrohungen. Zwar wurde dem Mann "seines schlechten Vermögens halber" eine Unterstützung von 8 Rtlr. zugesagt, gleichzeitig aber trug der Großvogt Grote dem Burgvogt auf, um "dergleichen zu behindern und auff die Arth die Ambts-Register mit

Aussetzung und Verlassen von Kindern

169

Unterhaltung noch mehrer Kinder nicht zu beschweren", in der Burgvogtei bekannt zu machen, "daß, wer künftighin ein solch Kind zur Kost, ohne ihm genugsahm Sicherheit machen zu laßen, von frembden Leuten annehmen wird, derselbe im Fall die Mutter davon gehen solte, das Kind ohne einige beyhülffe von allergnädigster Herrschafft veralimentiren, oder, da er solches zu thun nicht im Stande, am leibe bestrafft werden solle" 414 . 1732 wurde in einem ähnlichen Fall - eine Frau hatte ihr etwa zweijähriges Kind bei einer Witwe zurückgelassen - ermittelt, daß diese die Frau ohne obrigkeitliche Genehmigung aufgenommen hatte 415 . Am Ende des Jahrhunderts wurden auch in Hannover und Göttingen strenge Maßnahmen verordnet, um die öffentliche Versorgung fremder Kinder in den Städten zu vermeiden. 1787 wurde in der Altund Neustadt Hannover bekanntgegeben, daß künftig keine Unterstützungen mehr für Kinder gezahlt würden, die ohne obrigkeitliche Genehmigung in Pflege genommen worden waren 416 . 1797 dann sandten die Geheimen Räte den Stadtobrigkeiten eine Verordnung zu, die diese veröffentlichen sollten, damit "der Vermehrung der dürftigen Personen thunlichst vorgebeugt werde" 417 . Diese Verordnung, die am 19. August veröffentlicht wurde, enthielt mehrere Punkte. Der erste verpflichtete Hauswirte zur Anzeige, wenn Mieter ein Pflegekind, gleich ob dieses in der Stadt oder außerhalb geboren war, aufnahmen, der zweite schloß öffentliche Unterstützungen für den Fall aus, daß die Eltern illegal aufgenommener Kinder nicht mehr zahlen könnten. Der dritte Punkt bestimmte, daß Eltern, die ihre Kinder verließen, "als Stöhrer der öffentlichen Ordnung (...) verfolget" und "zu ihrer Pflicht zurückgeführet" werden sollten. Viertens schließlich wurden Hauswirte zur Anzeige unehelicher Schwangerer verpflichtet, damit die Alimente gesichert oder aber die Frau "an ihren Geburtsort zurückgewiesen werden könne" 418 . Dieselbe Verordnung war bereits im März 1795 von der Polizeikommission Göttingen erlassen worden, ebenfalls auf Veranlassung der Regierung 419 .

414 415 416 417 418 419

NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Schreiben des Großvogtes vom 28.8.1730. Ebd., Schreiben der Burgvogtei vom Juni 1732. StAH A Nr. 3988, Verordnungsentwurf vom 6.1.1787. Ebd., Schreiben der Regierung vom 3.8.1797. NHStA Cal. Br. 23b Nr. 326, Verordnung vom 19.8.1797. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Ordnungen der Stadt Göttingen, Verordnung vom 16.3.1795. Künftighin mußte die Aufnahme von Pflegekindern angezeigt und eine Erklärung über die Herkunft des Kindes sowie die Zahlung der Verpflegungskosten abgegeben werden. NHStA Hann. 87 Göttingen Nr. 128, undatiert.

170

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

Auch auf dem Land war die Aufnahme fremder Personen ohne Genehmigung generell untersagt 420 . Durchgesetzt wurden solche Verbote mit erheblichen Strafen: Als der Korporal Schimpf aus Weende am 13. Juli 1807 heimkam, hatte seine Ehefrau eine Fremde aufgenommen, die am nächsten Tag niederkam. Bald darauf verschwand diese Frau heimlich und entwendete ein Bettuch, eine Schürze und ein Halstuch, ließ aber ihr Kind in des Korporals Haus zurück. Darauf wurde dieser mit achttägiger Gefängnishaft und einer Geldstrafe von 10 Rtlr. bestraft. Zudem wurde ihm die Versorgung des Kindes auferlegt 421 . Diese Präventivmaßnahmen zeigen deutlich, daß die Obrigkeiten gegen Kindesaussetzungen trotz der vergleichsweise geringen Strafen mit großem Engagement vorgingen. Das eigentliche Problem, das die Obrigkeiten antrieb, war aber nicht so sehr die Straftat, sondern das Findelkinderproblem. Wie diese Kinder versorgt wurden und wer dafür aufzukommen hatte, wird in Kapitel IV dargestellt werden.

4.

Exkurs: Abtreibung

Abtreibung, die von einigen Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts für weit häufiger gehalten wurde als der Kindsmord 422 , wird in der Carolina erst nach diesem und der Aussetzung genannt. Im Gegensatz zu den beiden anderen Delikten scheint die Verfolgung von Abtreibungen in der Realität nur sehr vereinzelt vorgekommen zu sein. In den verschiedenen berücksichtigten Gerichtsakten konnten nur zwei Untersuchungen wegen Abtreibung nachgewiesen werden. Daß es sich dabei nicht einfach um ein Problem der Quellenüberlieferung handelt, zeigen ähnliche Feststellungen in der Forschung 423 und das seltene Vorkommen in Aufnahmebüchern des Celler Zuchthauses: Mit sechs Verurteilungen im Zusammenhang mit Abtreibung wurde dieses Delikt weit seltener verfolgt als Kindesaussetzungen, gegenüber Delikten in Verbindung mit dem Tode des Kindes während oder nach der Geburt war das Verhältnis 1:29!

420

421 422 423

Vgl. z.B. Ausschreiben und Postscriptum vom 21.5.1792. SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 3, 638-640. Auch in der westphälischen Zeit durften Fremde nur mit Genehmigung der Maires aufgenommen werden. Königliches Dekret vom 30.6.1810. Bulletin des Lois 1810, 121ff„ hier 127. NHStA Hann. 74 Göttingen K Nr. 507, Protokoll vom 23.6.1807. ULBRICHT, Kindsmord, 184. Auch Ulbricht hat für das Herzogtum Schleswig im 18. Jahrhundert ermittelt, daB Abtreibungen gegenüber Kindsmorden und Aussetzungen das am seltensten untersuchte Delikt waren. Ebd., 184f. Dies gilt ebenfalls für Würzburg 1769-1788. WÄCHTERSHÄUSER, Verbrechen, 114-117. Vgl. neuerdings auch Larissa LEIBROCK-PLEHN, Frühe Neuzeit. Hebammen, Kräuteimedizin und weltliche Justiz, in: Robert JÜTTE (Hg.), Geschichte der Abtreibung: von der Antike bis zur Gegenwart, München 1993, 68-90, hier 89.

Exkurs: Abtreibung

171

Die Seltenheit von bekanntgewordenen Abtreibungen ist um so überraschender, als sich bei einer genaueren Untersuchung zeigt, daß in nur der Hälfte der genannten acht Fälle die Schwangere selbst als Täterin genannt wurde und nur eine von diesen wegen vollendeter Abtreibung, die anderen drei aber wegen Abtreibungsversuchen verurteilt wurden. Die wegen vollendeter Abtreibung verurteilte Frau war verheiratet, die anderen drei waren wahrscheinlich ledig. Eine dieser Frauen hatte bereits vier uneheliche Kinder. Der Tatsache, daß keineswegs nur die Schwangere wegen Abtreibung verurteilt wurde, entspricht die Täterdefinition der Carolina, die die Abtreibung der eigenen Leibesfrucht erst an zweiter Stelle nennt 424 . Zunächst ist die Rede von "jhenen so schwangern weibßbildern kinder abtreiben" 425 . In den vorliegenden Fällen waren zwei Männer, nämlich die 'Schwängerer', dafür verurteilt worden, daß sie den Frauen die Frucht abgetrieben bzw. Mittel für eine Abtreibung gegeben hatten. In den anderen beiden Fällen wurden andere Frauen für die versuchte Abtreibung bestraft. Besonders Hebammen waren in den Augen der Obrigkeiten verdächtig, bei Abtreibungen behilflich zu sein. In Hebammenordnungen wurde daher immer wieder von den Frauen gefordert, keinesfalls Abtreibungen vorzunehmen oder abtreibende Mittel zu verabreichen 426 . Die in der Carolina vorgesehenen Todesstrafen deuten darauf hin, daß eine Abtreibung als ebenso schwerwiegend angesehen wurde wie Kindsmord. Voraussetzung dafür war aber, daß die Tat vorsätzlich geschah und das Kind "lebendig", d.h. beseelt war 427 . Ein Todesurteil ist allerdings aus dem Untersuchungsgebiet nicht belegt. Nur in einem der überlieferten Gerichtsfälle ist der Ausgang bekannt: Ilse Sabine Rathmanns wurde um 1700 in Celle "mit öffentlichen Staupenschlägen belegt" 428 und anschließend des Landes verwiesen. In anderen Fällen mußten die Verurteilten eine Zuchthausstrafe verbüßen. Eine Frau aus Grohnde wurde 1810 für zwölf Jahre in Celle eingeliefert, der Hauptanklagepunkt war aber nicht die versuchte Abtreibung, sondern das Verschulden am späteren Tod des Kindes. Die zweithöchste Strafe (zehn Jahre) erhielt ein Mann, die übrigen Frauen mußten eine Haftstrafe zwischen sechs Monaten und vier Jahren verbüßen, was unterhalb der durchschnittlichen Strafe für das leichteste Delikt im Zusammenhang mit dem Tod des neugeborenen Kindes blieb 429 . Eine mögliche Erklärung für die geringe Zahl von Abtreibungsuntersuchungen gleichermaßen wie für die vergleichsweise milden Strafen könnte in der Schwie424 425 426

427 428 429

PGO, 89, Art. 133: "die fraw so sie es auch an jr selbst thette". Ebd. Hildesheimische "Medicinal-Ordnung" vom 13.5.1782. HLO Bd. 2, 141-186, hier 186. Vgl. NÖTH, Hebammenordnungen, 19; LEIBROCK-PLEHN, Hebammen, 79-82. PGO, 89, Art. 133. Zum Zeitpunkt der Beseelung vgl. Anm. 5. StACe 12 B Nr. 63, II, undatiertes Konzept. Vgl. oben Tabelle 2.

172

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

rigkeit der Zeitgenossen begründet gewesen sein, eine Abtreibung nachzuweisen. Die Frage, ab welchem Zeitpunkt die Frucht als beseelt anzusehen sei, wurde in der Gerichtsmedizin außerordentlich lebhaft diskutiert, mußte aber meist nach dem äußeren Ansehen entschieden werden 430 . Darüber hinaus ist es fraglich, ob bei einer frühzeitig erfolgten Abtreibung überhaupt Indizien vorhanden waren, ausgenommen die Aussagen eventueller Mittäter. Grundsätzlich stellt sich auch die Frage, wie aussichtsreich Abtreibungen waren. Der Vermutung, es sei häufig zu Abtreibungen gekommen, wird allein durch die Zahl der Prozesse nicht widersprochen. Auffällig ist aber, daß fast ausnahmslos Versuche von Abtreibungen oder Hilfeleistungen verhandelt wurden; in nur einem Fall scheint eine erfolgte Abtreibung vorgelegen zu haben 431 . Die Zweifel am Erfolg von Abtreibungsversuchen werden dadurch verstärkt, daß gelegentlich solche Versuche im Lauf von Kindsmorduntersuchungen bekannt wurden 432 . Von den vier belegten Versuchen führte nur einer möglicherweise eine Frühgeburt herbei 433 , die anderen blieben wirkungslos 434 . Dies mag an den Abtreibungsmethoden gelegen haben 435 . Die Carolina nennt "bezwang, essen oder drincken" 436 als mögliche Mittel. In der Literatur ist meist von Tränken und Kräutern die Rede 437 , ebenso in den Gerichtsakten. Wilhelm Tammen hatte 1687 in Sarstedt einer von ihm schwangeren Frau 2 Rtlr. gegeben, um "dafür einen poculum abortionis [i.e. abtreibenden Trank] bereiten zu laßen" 438 , Ilse Sabine Rathmanns hatte "der Inquisitinn Marien Sophien Eggelings fruchtabtreibende undt sonst schädtliche medicamente gegeben" 439 . Eine der späteren Kindsmörderinnnen, die vergeblich eine Abtreibung versucht hatten, hatte ein Pulver (Margaretha Rappen 1671/72), eine andere eine Paste mit Taubeneierschalen (Anna Ilse Wöhlers, 1732) eingenommen. Margaretha Magdalena Casparus, die ihr Kind später aussetzte, hatte nach Aussage einer anderen Frau

430 431

432 433 434 435

436 437 438 439

Zu dieser Diskussion FISCHER-HOMBERGER, Medizin vor Gericht, 267-277. Von einem mißlungenen Abtreibungsversuch berichtet auch BECK, Illegitimität, 129. Vgl. ebenfalls Karin STUKENBROCK, Das Zeitalter der Aufklärung. Kindsmord, Fruchtabtreibung und medizinische Policey, in: JÜTTE (Hg.), Geschichte der Abtreibung, 91-119, hier 118. Vgl. auch ULBRICHT, Kindsmord, 160. (N.N.l 1725. Margaretha Rappen (1671/72), Anna Ilse Wöhlers (1732) und Anne Catharine Loges (1809). Über das Abtreibungs- und Verhütungswissen in der frühen Neuzeit herrscht weitgehend Unklarheit. Die Forschung beschränkt sich meist auf Spekulationen über ein obskures geheimes Wissen, das Frauen untereinander weitergegeben hätten, so erst jüngst WUNDER, Frauen, 165. Eingehender dazu jetzt Larissa LEIBROCK-PLEHN, Hexenkräuter oder Arznei: Die Abtreibungsmittel im 16. und 17. Jahrhundert ( = Heidelberger Schriften zur Pharmazie- und Naturwissenschftsgeschichte; 6), Stuttgart 1992. PGO, 89, Art. 133. JEROUSCHEK, Lebensschutz, 128f.; ROETZER, Delikte, 90. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5162, fol. 1. StACe 12 B Nr. 63, II, undatiertes Konzept.

173

Zusammenfassung

"etwas eingenommen in der Meinung daß selbige [sc. die Frucht] weggehen sollte, sie wäre aber sitzen geblieben. Sie hätte sich auch zur Ader gelassen, aber der Chirurgus, so bald er die Ader geschlagen, selbige wieder zugebunden, und gesagt, sie sollte das erst reif werden laßen, was da seße" 440 . Die oben erwähnte Frühgeburt wurde dagegen nicht mit Hilfe irgendwelcher Einnahmen, sondern durch schwere Arbeit herbeigeführt. Angesichts dieses Falles wird klar, daß gelungene Abtreibungen, sofern sie frühzeitig erfolgten, wohl nur nachgewiesen werden konnten, wenn die Frau sich ein Mittel verschafft oder ein solches von anderen erhalten hatte. Geschah die Abtreibung dagegen durch äußere Einwirkungen, dürfte sie selbst bei Bekanntwerden nur schwer von einer Früh- oder Fehlgeburt zu unterscheiden gewesen sein. Solche Fälle tauchen jedoch

ebensowenig

in

den

Quellen

auf

wie

"sterblichkeitserhöhende Praktiken" bei Kleinkindern

Geburtenkontrolle 441

oder

. Da solche Verfahrens-

weisen am ehesten im Rahmen einer bestehenden Ehe denkbar waren, wurden sie nicht zum Gegenstand der obrigkeitlichen Kontrolle der Kinderversorgung.

5.

Zusammenfassung

Im Gegensatz zur Abtreibung waren Kindsmord und Aussetzung im eigentlichen Sinne keine (postnatalen) Formen der Geburtenbeschränkung. Dies zeigt sich daran, daß Kindestötungen und Aussetzungen von Neugeborenen nicht in breiteren Bevölkerungsschichten vorkamen, sondern fast ausschließlich von ledigen oder zumindest alleinstehenden Frauen begangen wurden. Diese Delikte waren daher auf das engste mit den Lebensbedingungen solcher Frauen verknüpft. Strukturelle Bedingungen allein waren jedoch für die Tat nicht ausschlaggebend, vielmehr traten höchst individuelle Faktoren hinzu. Die Tötung eines neugeborenen Kindes kann mit materiellen Schwierigkeiten, die bei der Aussetzung eine sehr wichtige Rolle spielten, nicht erklärt werden, da diese meist erst einige Zeit nach der Geburt auftraten. Auch der Versuch, gesellschaftliche Schande zu verbergen oder Sittlichkeitsstrafen zu entgehen, taugt nicht zur universalen Erklärung. Wie die Aussetzungen zeigen, waren es in erster Linie Frauen mit besonders kompromittierenden Beziehungen, die sich sofort des Kindes entledigten. Die Schwierigkeiten einer ledigen Schwangeren ergaben sich dagegen aus dem 440 441

StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 179a, Protokoll vom 17.10.1775. Auf solche Praktiken verweist besonders Ulrich PFISTER, Die Anfinge von Geburtenbeschränkung in Europa: Wege zu einer umfassenden Analyse, in: BORSCHEID/TEUTEBERG (Hgg.), Ehe, Liebe, Tod, 313-232, hier 231. Vgl. auch Arthur E. IMHOF, Unterschiedliche Säuglingssterblichkeit in Deutschland, 18.-20. Jahrhundert - Warum?, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft und Demographie (1981), 343-382, hier 377-379.

174

Defizite der Kinderversorgung im Konflikt mit Ethik und Strafrecht

Verhalten ihrer nächsten Umgebung. Verwandte oder die Dienstherrschaft konnten einer Frau helfen oder ihr eine auswärtige Geburt ermöglichen, sie konnten ihr aber auch zur Tötung des Kindes raten oder die Frau in eine isolierte Situation bringen, die mit der hilflosen Geburt und dem Tod des Kindes endete. Dagegen war das Verlassen älterer Kinder meist Folge schwerer materieller Probleme und "Zeugnis einer Krise" 442 . Um "populär-unterschichtige Verhaltensweise[n]" (van Dülmen) handelte es sich insofern, als nur ein Teil der Bevölkerung von Kindsmord und Aussetzung betroffen war. Populär im Sinne einer häufig und bewußt angewandten Strategie war aber besonders der Kindsmord nicht. Die strafrechtliche Verfolgung galt daher nicht der Verbreitung des Deliktes, sondern der Natur der Tat an sich, die radikal die Normen der christlichen frühneuzeitlichen Gesellschaft verletzte. In der Bestrafung des Kindsmordes kommt deutlich der Anspruch der Obrigkeiten zum Ausdruck, die Verfügung über das Kind nicht allein der Mutter zu überlassen. Die Strafpraxis änderte sich folglich erst allmählich mit den sittlichen Fundamenten der Gesellschaft. Die Reaktion auf die Kindesaussetzung, die diese Normen weit geringer verletzte, war daher weniger von Strafen geprägt als von Versuchen, die aussetzenden Mütter oder Eltern durch vorbeugende oder nachträgliche Maßnahmen zur Versorgung der Kinder zu verpflichten. Gelang dies nicht, mußte sich die Gesellschaft der Kinder annehmen. Mit der Bereitschaft zu öffentlicher Kinderversorgung und deren Organisationsformen beschäftigt sich das nächste Kapitel.

442

Mireille LAGET, Naissances. L'accouchement avant l'âge de la clinique, Paris 1982, 116: "L'abandon d'enfant est un indicateur de désarroi, un témoignage de crise".

Kapitel IV

Armenpflege und öffentliche Ordnung: unversorgte Kinder als alltägliches Problem von Gesellschaft und Obrigkeit

Die Ausführungen in den vorhergehenden Kapiteln haben gezeigt, daß die Kinderversorgung eine wichtige Rolle innerhalb der obrigkeitlichen Sittenkontrolle spielte. Am unmittelbarsten wurden Obrigkeit und Gesellschaft mit dem Problem der Kinderversorgung durch die Präsenz unversorgter Kinder selbst konfrontiert. Mangelhafte Versorgung und Armut von Kindern waren in der frühneuzeitlichen Gesellschaft in verschiedener Gestalt sichtbar. Am deutlichsten traten sie in der Gestalt völlig hilfloser, alleinstehender Kinder zutage, zu denen Findelkinder, verwaiste oder von ihren Eltern verlassene Kinder gehörten. Darüber hinaus gab es zahlreiche Kinder, deren Eltern sie nicht ausreichend versorgen konnten, so daß sie verelendeten, in den Städten bettelten, teilweise auch allein oder mit ihren Eltern über Land zogen. Obrigkeit und Gesellschaft waren in zweierlei Weise durch dieses soziale Problem herausgefordert. Einerseits mußte ein Weg zur gemeinschaftlichen Versorgung alleinstehender Kinder gefunden werden, andererseits widersprachen bettelnde und umherziehende Kinder und Familien den obrigkeitlichen Ordnungsvorstellungen und wurden so zum Gegenstand polizeilicher Maßnahmen. Dies bedeutet freilich nicht, daß nicht auch andere Formen der Kinderversorgung, etwa durch Verwandte oder Nachbarn, bestanden. Die Bedingungen solcher nicht-obrigkeitlichen Versorgung und ihre Bedeutung im Verhältnis zur öffentlichen Fürsorge werden an späterer Stelle aufgegriffen. Im Vordergrund dieses Kapitels steht die Entwicklung öffentlich-obrigkeitlicher Maßnahmen1. Zuerst werden die Organisation der Kinderversorgung im Rahmen des frühneuzeitlichen Armenwesens und die Verteilung der Lasten auf Obrigkeiten und Bevölkerung beschrieben. Daran schließt sich die Darstellung der ordnungspolitischen Auseinandersetzung mit dem Problem unversorgter Kinder, von der auch die als Armutsverhütung

verstandene

Erziehung

der

Kinder

zu

Fleiß

und

einem

'ordentlichen' Lebenswandel geprägt war. Ein letzter Punkt ist den im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verstärkt aufkommenden Hilfsmaßnahmen für bestimmte Gruppen gewidmet. 1

Unter dieser Bezeichnung werden die unterschiedlichen überindividuellen Versorgungsmaßnahmen von Landesherr, Kommunen, Ständen sowie umfangreichere Stiftungen, die gewöhnlich unter obrigkeitlicher Aufsicht standen, zusammengefaßt. Zur Begründung dieser Definition vgl. HENNING, Raster, 117f.

176

Armenpflege und öffentliche Ordnung

1.

Kinderversorgung und allgemeines Armenwesen

1.1.

Heimatrecht und landesherrliche Aufsicht: die Organisation öffentlicher Armenpflege

Die Verpflichtung zur Versorgung der Hilflosen und Armen beruhte auf dem christlichen Gebot zur Nächstenliebe und Barmherzigkeit 2 . Diente die Unterstützung der Bedürftigen zunächst vorrangig dem Seelenheil des Spenders, setzte sich seit dem Spätmittelalter immer mehr die Auffassung durch, daß eine soziale Verantwortung zur Versorgung armer und hilfloser Personen bestehe 3 . Während die einzelnen Spenden in der früheren Zeit von der Kirche verwaltet und ausgeteilt worden waren, markierte die seit dem 14. Jahrhundert in den Städten voranschreitende Kommunalisierung der Armenpflege den Beginn einer öffentlich organisierten Armenversorgung 4 , neben der das kirchliche Armenwesen allerdings weiterbestand. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts begannen auch die Landesherren, ihren Anspruch auf Beaufsichtigung der Armenversorgung in Reichsabschieden und -polizeiordnungen anzumelden und - in den protestantischen Territorien vor allem mit Hilfe der neu eingeführten Kirchenordnungen auszudehnen 5 . Nachdem die Fürsten bis nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges in den untersuchten Territorien kaum weiteren Einfluß auf das Armenwesen genommen hatten 6 , wurde dessen Regelung seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts zumindest in den weifischen Territorien zu einem der vorrangigen Anliegen der landesherrlichen Obrigkeit 7 . Zunächst waren davon die Residenzstädte Celle und Han2

3

4

5

6

7

LThK, Bd. 1, 1253f., Art. "Barmherzigkeit des Menschen"; ebd., Bd. 2, 941-947, Art. "Caritas". Vgl. auch JÜTTE, Obrigkeitliche Armenfiirsorge, 32; Ernst SCHUBERT, Die Antwort niedersächsischer Kirchenordnungen auf das Armutsproblem des 16. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 89 (1991), 105-132, hier 106. Bernd ROECK, Eine Stadt in Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität ( = Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; 37), 2 Bde., Göttingen 1989, Bd. 2, 612; SCHUBERT, Kirchenordnungen, 115. JÜTTE, Obrigkeitliche Armenfiirsorge; ROECK, Augsburg, Bd. 2, 604-630; SCHUBERT, Kirchenordnungen, 106. Erstmals wurden Bettler im Reichsabschied von 1487 angesprochen, weiter dann in den Abschieden von 1498 und 1500 sowie in den Reichspolizeiordnungen von 1530. 1548 und 1577. Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Bd. 2, 32, 48f., 80, 343, 601 und Bd. 3, 393. Zu den Kirchenordnungen SCHUBERT, Kirchenordnungen, 109ff.; Johann Karl Fürchtegott SCHLEGEL, Von Armen- und Verpflegungsanstalten, auch milden Stiftungen unseres Landes, in: Neues Hannöverisches Magazin (im folgenden abgekürzt NHM) 13 (1803), 945-976, hier 949; BRÜGMANN, Armenpflege, 97. Die Polizeiordnung Herzog Christians für die Fürstentümer Lüneburg und Grubenhagen von 1618 beschäftigte sich u.a. auch mit der Armenfiirsorge. CCL, Bd. 3.1, Cap. IV, 1-136. Zur parallelen Entwicklung in anderen Territorien vgl. im einzelnen ENDRES, Armenproblem; FINZSCH, Obrigkeit und Unterschichten; FISCHER, Armut; HUBERTI, Armenwesen Trier; JÜTTE, Obrigkeitliche Armenfürsorge; Mary LINDEMANN, Patriots and Paupers. Hamburg, 1712-1830, New York und Oxford 1990; Werner von MELLE, Die Entwicklung

Kinderversorgung und altgemeines Armenwesen

177

nover betroffen. Für Celle erließ Herzog Georg Wilhelm am 14. September 1681 eine Armenordnung, die 1692 noch einmal erneuert wurde8. Hannover erhielt im Jahre 1700 eine Armenordnung9, die in leicht überarbeiteter Fassung 1702 auf das ganze Land ausgeweitet wurde10. Nachdem das lüneburgische Fürstentum an Hannover gefallen war, wurden auch dort neue Armenordnungen eingeführt, zunächst 1711 für die Stadt Celle und ein Jahr später - nach dem Vorbild der calenbergisch-grubenhagenschen Armenordnung von 1702 - für das gesamte Fürstentum mit Ausnahme einzelner Städte11. Leitgedanke dieser Armenordnungen war der sich immer stärker verfestigende Grundsatz, daß jede Gemeinde für die Versorgung der dort ansässigen Armen selbst aufzukommen habe12 - das sogenannte Heimatprinzip, das die frühneuzeitliche Armenfürsorge nicht nur im Reichsgebiet, sondern auch in anderen Ländern wie England und Frankreich prägte13. Wesentliches Ziel war die Schaffung einer obrigkeitlich kontrollierten Almosenverteilung14. Das individuelle Almosensammeln und -geben sollte mit Hilfe strenger Bettelverbote abgeschafft und durch die geregelte Verteilung von Armengeldern seitens der Obrigkeiten ersetzt werden. Zu diesem Zweck wurden die Armen in Klassen eingeteilt und erhielten der Einteilung entsprechend vierzehntäglich oder monatlich, in den Städten auch wöchentlich eine Zuwendung15. Gewöhnlich wurden diese sogenannten 'HausArmen' in eine Armenliste eingetragen ('enrollirt') und mußten zur Kenntlichmachung ein Zeichen auf der linken Brust tragen, meist mit den Buchstaben S.P.

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des öffentlichen Armenwesens in Hamburg, Hamburg 1883; METZ, Staatsräson; SACHSSE/TENNSTEDT, Geschichte der Armenfürsorge, Bd. 1. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1067-1077. CCC, Bd. 1, Cap. I, 963-970; vgl. auch BRÜGMANN, Armenpflege. CCC, Bd. 1, Cap. I, 943-963. Von der "Armen-Ordnung des Fürstenthums Zelle und derer Grafschaften Hoya" von 1712 blieben neben Celle, das bereits eine landesherrliche Armenordnung hatte, auch Lüneburg und Uelzen ausgenommen, da dort "zu Versorg- und Unterhaltung der Armen viele wol dotirte Armen-Häuser und Hospitalien, auch verschiedene durch Testamenten und sonsten gestiftete Fundationes, pia legata und andere Mittel vorhanden". CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1105. Z.B. ebd., 1116, Armenordnung Lüneburg 1712. Das Heimatprinzip war bereits in den Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts (SCHUBERT, Kirchenordnungen, 128) und der Reichspolizeiordnung von 1S30 (Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Bd. 2, 343) angelegt. In den weifischen Landen wurde es durch die Polizeiordnung von 1618 und den hannoverschen Landtagsabschied von 1639 verbindlich eingeführt. CCL, Bd. 3.1, Cap. IV, 24; SCHLEGEL, Armen- und Verpflegungsanstalten, 956. Vgl. METZ, Staatsräson, 14; zu Frankreich ebd. 2-11, zu England ebd., 18-26. Zur Entstehung des Heimatprinzips in Deutschland vgl. SCHUBERT, Arme Leute, 185f. Zu England außerdem FISCHER, Armut, 42ff. Zu den Zielen der Armenordnungen und ihrer Anwendung in den einzelnen Städten vgl. BRÜGMANN, Annenpflege, 97-99; CASSEL, Celle, Bd. 2, 98; ROHRBACH, "Gesindel", 191-194; SACHSE, Armenfuisorge, 226. CCC, Bd. 1, Cap. I, 947, Armenordnung Calenberg 1702; CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1120, Armenordnung Lüneburg 1712.

178

Armenpflege und öffentliche Ordnung

(signum pauperum) 16 . Personen von sozial höherstehender Herkunft konnten ihre Unterstützung auch heimlich entgegennehmen 17 . Die notwendigen Gelder sollten durch wöchentliche Sammlungen, das Umreichen des Klingelbeutels in den Kirchen und das Aufstellen von Opferstöcken in Kirchen, Armenhäusern und Gaststätten aufgebracht werden 18 . Auch auf dem Land wurde die Bildung dörflicher Armenkassen angeordnet, die ihre Einkünfte aus dem kirchlichen Armenkasten und dem Klingelbeutel sowie regelmäßigen Sammlungen, bei denen häufig auch Naturalien gegeben wurden, bezogen 19 . Die Verwaltung der Armengelder sollte in den Städten ein "christlicher, gewissenhafter, verständiger und fleißiger Mann", auf dem Land der Ortspfarrer übernehmen 20 . Zur Beurteilung der Bedürftigkeit und zur Überwachung der Gelder wurden in den Städten Armenkollegien gebildet, denen üblicherweise "ein Prediger, einer aus dem Mittel des Rahts, und einer von denen Kirchen-Vorstehern" angehören sollten 21 . In Hannover waren außerdem ein Mitglied der Regierung 22 , in Celle einer der Räte der (Justiz-) Kanzlei und der Burgvogt darin vertreten 23 . Auf dem Land wurde diese Aufgabe von Pfarrern und Kirchenvorstehern übernommen 24 . Die Einhaltung der Armenordnungen und die Korrektheit der Amtsführung sollte bei den jährlichen Kirchenvisitationen durch Superintendenten und weltliche Beamte überprüft werden; die darüber angefertigten Berichte aber mußten ebenso wie die jährlichen Abrechnungen der Armenkassen der Regierung eingeschickt werden 25 .

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CCC, Bd. 1, Cap. I, 966f., Armenordnung Hannover 1700; ebd., 959f., Armenordnung Calenberg 1702; CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1087, Armenordnung Celle 1711; ebd., 1122, Armenordnung Lüneburg 1712. CCC, Bd. 1, Cap. I, 966, Armenordnung Hannover 1700; ebd., 954, Armenordnung Calenberg 1702; CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1088, Annenordnung Celle 1711, ebd., 1140, Armenordnung Lüneburg 1712. CCC, Bd. 1, Cap. I, 965f., Armenordnung Hannover 1700; ebd., 944ff., Armenordnung Calenberg 1702; CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1126-1132, Armenordnung Lüneburg 1712. CCC, Bd. 1, Cap. I, 943-963, Armenordnung von 1702; CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1104-1144, Armenordnung 1712. Die in bar aufgebrachten Summen waren begrenzt. In dem Ort Settmarshausen bei Göttingen betrugen sie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts etwa zwischen 4 und 6 Rtlr. jährlich, dazu noch Naturalien. Evangelisch-lutherisches Pfarramt Settmarshausen, Kirchenrechnungen III Nr. 1, Armenrechnungen 1703-1775. Der Klingelbeutel bestand auch schon vor Einführung der Armenordnungen, in Parensen z.B. seit 1689. KKAGö Pfarrarchiv Parensen A Nr. 362, undatierte Notiz. CCC, Bd. 1, Cap. I, 949, Armenordnung Calenberg 1702; CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1118f., Armenordnung Lüneburg 1712. CCC, Bd. 1, Cap. I, 944, Armenordnung Calenberg 1702; CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1118, Armenordnung Lüneburg 1712. BRÜGMANN, Armenpflege, 98. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1083, Armenordnung Celle 1711. CCC, Bd. 1, Cap. I, 947, Armenordnung Calenberg 1702; CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1121, Armenordnung Lüneburg 1712. CCC, Bd. 1, Cap. I, 947, 950, Armenordnung Calenberg 1702; CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1125f., Armenordnung Lüneburg 1712.

Kinderversorgung und allgemeines Annenwesen

179

Allerdings sah sich die Regierung immer wieder genötigt, die Einhaltung der Armenordnung anzumahnen oder einzelne Veränderungen vorzuschlagen 26 . Zudem wurden im Lauf der Zeit in den einzelnen Orten verschiedene Reformen durchgeführt und zusätzliche Einrichtungen geschaffen, auf die z.T. noch einzugehen sein wird 27 . Dessenungeachtet bildeten diese Armenordnungen die rechtliche Grundlage für das hannoversche Armenwesen bis zum Beginn der westphälischen Zeit 28 . Das Armenwesen war damit verstärkt unter landesherrlichen Einfluß geraten und wurde von der Regierung kontrolliert. Zwar verblieb die Verwaltung des Armenwesens bei den Kommunen bzw. auf dem Land bei den Pfarrern, auch existierten weiterhin städtische, kirchliche und private Stiftungen, doch unterstanden auch diese spätestens seit 1732 der landesherrlichen Beaufsichtigung, als die Landesregierung Verzeichnisse aller im Lande bestehenden Armeneinrichtungen und Stiftungen anforderte 29 . Die Gestaltung der armenpflegerischen Maßnahmen folgte zunehmend landesweiten Erwägungen, lokale Gegebenheiten verloren zumindest in den normativen Vorgaben an Gewicht. Das hildesheimische Armenwesen beruhte nach der Polizeiordnung von 1665 ebenfalls auf dem Heimatprinzip 30 . Ähnlich wie im benachbarten Kurfürstentum ordnete der Landesherr 1784 regelmäßige Almosensammlungen in den Städten und Dörfern an 31 . Die Altstadt Hildesheim gab sich 1715 und 1771 eigene Armenordnungen 32 ; das Armenwesen zerfiel allerdings in eine Vielzahl unabhängig wirkender Stiftungen 33 . Eine einheitliche Verfassung des städtischen Armenwesens schufen erst die preußischen Behörden in einem Armenpflegeregulativ vom 17. Februar 180734. Wesentliche Punkte waren die Berufung eines Armenadministrationskollegiums, die zentrale Verwaltung der Armengelder und die Aufteilung

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NHStA Cal. Br. 23b Nr. 177, landesherrliches Mandat vom 13.1.1713; StAGö AA Wohlfahit Armensachen Nr. 1, Reskript vom 27.7.1716; CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1144-1146; Edikt vom 25.5.1718; ebd., 1146f., Ausschreiben vom 28.9.1722; NHStA Cal. Br. 23b Nr. 182, Ausschreiben vom 19.7.1723; CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1147f., Edikt vom 6.10.1728; SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 3, 138-145, Verordnung vom 7.11.1783. Vgl. auch BRÜGMANN, Annenpflege, 99ff., und ROHRBACH, "Gesindel", 198ff. Zu Reformen in Hannover am Ende des 18. Jahrhunderts vgl. BRÜGMANN, Armenpflege, 115-121, zu Göttingen ROHRBACH, "Gesindel", 195ff., und SACHSE, Annenfiirsorge, 227ff. Vgl. ebd., 226. CCC, Bd. 1, Cap. I, 996-998, Reskript vom 22.10.1732; NHStA Cal. Br. 23, Deklaration vom 13.12.1732. Vgl. auch SCHLEGEL, Armen- und Versorgungsanstalten, 953. Vgl. HLO, Bd. 1, 30-91, Polizeiordnung vom 20.10.1665; ebenso ebd., 306, Vagabundenedikt vom 8.12.1763. HLO, Bd. 2, 209-211, Verordnung vom 14.4.1784. HILLEBRANDT, Sammlung, 668-675, Verordnung vom 6.9.1771. Seit 1714 bestand ein städtisches Armenamt. GEBAUER, Hildesheim, Bd. 2, 192. Heinz-Jörg HEINRICH, Annenfiirsorge im Pauperismus: Das Hildesheimer Armenpflegeregulativ vom 17. Februar 1807, in: Alt-Hildesheim 60 (1989), 61-67, hier 61; GEBAUER, Hildesheim, Bd. 2, 191f. HEINRICH, Annenfiirsorge, 61.

180

Armenpflege und öffentliche Ordnung

der Armen in verschiedene Klassen35. Auf dem Land wurde das preußische Armenwesen gemäß der Verordnung vom 14. April 1784 eingeführt, das ebenfalls auf dem Heimatprinzip beruhte36. Die westphälischen Behörden schließlich nahmen, veranlaßt durch einen Ansturm von hilfesuchenden Armen bei der Regierung, mit einem königlichen Dekret vom 24. März 1809 eine landesweite Vereinheitlichung des Armenwesens vor 37 . Den Bedürftigen wurde angezeigt, an welche Stellen sie sich wegen einer Unterstützung zu wenden hätten und unter welchen Bedingungen sie diese erhalten würden. Das Grundprinzip, daß jede Gemeinde für ihre Armen zu sorgen habe, blieb erhalten; allerdings wurde als zur Gemeinde gehörig aufgefaßt, wer sich seit mindestens einem Jahr dort aufhielt. Andere Leute mußten von der Gemeinde ihres bisherigen Wohnortes oder ihres Geburtsortes unterhalten werden. Die Verwaltung des Armenwesens lag bei den Vorstehern der Städte und Gemeinden, den Maires, die zunächst die Bedürftigkeit der Bittsteller prüfen mußten, bevor sie geeignete Maßnahmen ergriffen, wobei Naturalien generell der Vorzug vor Geldleistungen eingeräumt wurde. Verbunden mit der Einführung eines einheitlichen Armenwesens war die Erwähnung armer und unversorgter Kinder als besonders hilfsbedürftigem Teil der Bevölkerung. Insbesondere "nohtleydende Weysen" 38 rückten in den Vordergrund der landesherrlichen Armenordnungen.

1.2.

Inbegriff der Hilflosigkeit: Waisen und Findelkinder

Waisen und Findelkinder galten im Christentum seit jeher als besonders schutzund hilfsbedürftig39. Zur Versorgung von Findelkindern bestanden daher seit dem Hochmittelalter vielerorts eigene Findelhäuser40. Auch für Waisen wurden in 35 36 37

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Ebd., 64f. NHStA Hild. Br. 10 Nr. 1548. Zum preußischen Annenwesen vgl. METZ, Staatsräson, 14f. NHStA Hann. 52 Nr. 1168, Kopie für den Präfekten des Leinedepartements; veröffentlicht im Bulletin des Lois 1809, 658-665: "Considérant que des particuliers réclamants des secours, s'adressent journellement à l'administration générale". CCC, Bd. 1, Cap. I, Armenordnung Hannover 1700. Zur Erwähnung in der Bibel LThK Bd. 10, 924f., Art. "Waisen". MUMMENHOFF, Waisenhaus Nürnberg, Teil 1, 97; Friedrich Franz ROEPER, Das verwaiste Kind in Anstalt und Heim. Ein Beitrag zur historischen Entwicklung der Fremderziehung, Göttingen 1976, 11-24. In der Antike dagegen galten ausgesetzte Kinder als rechtlos und wurden häufig versklavt. Vgl. BOSWELL, Kindness, passim; HÜGEL, Findelhäuser, 5-23. Zunächst entstanden diese Häuser vor allem in Italien, später dann auch in Deutschland (z.B. Köln 1341, Augsburg 1471, Leipzig 1556). Vgl. BOSWELL, Kindness, 431; HÜGEL, Findelhäuser, 24ff.; HUNECKE, Findelkinder, l l f . ; MUMMENHOFF, Waisenhaus Nürnberg, Teil 1, bes. 66-80; ROEPER, Das verwaiste Kind, 26-28; URBAN, Kindesaussetzung, 48. Schon im früheren Christentum existierten in den Kirchen Schalen zur Aufnahme der Kinder. LThK Bd. 4, 138, Art. "Findelhäuser"; MUMMENHOFF, Waisenhaus Nürnberg, Teil 1,

181

Kinderversorgung und allgemeines Armenwesen

vielen Städten schon im Mittelalter eigene Stuben oder Häuser eingerichtet, in denen sie auf Kosten der Bürgerschaft erzogen wurden41. Unter den hier berücksichtigten Städten verfügte aber nur Hannover vor 1680 über ein Waisenhaus, das von dem Kaufmann Johann Duve mit Unterstützung des Magistrats gestiftet und 1643 in der Nähe des Steintores eröffnet worden war42. Allerdings scheint der Wirkungskreis dieses Hauses vor 1700 eher begrenzt gewesen zu sein, da es die Regierung in der Armenordnung für Hannover von 1700 nötig befand anzuordnen, daß "zuvorderst das Armen-Haus (...) mit 22 Knaben und 22 Mädgens [sowie ebensovielen Armen] hinwieder besetzet"43 werden solle. Erst zwischen dem Ende des 17. Jahrhunderts und 1750 wurden auch in anderen Orten Waisenhäuser gegründet, die in zunehmenden Maße auch Kinder aus ländlichen Gebieten aufnahmen. Die Waisenhäuser, auf deren Geschichte im nächsten Kapitel

näher

eingegangen

wird,

waren

ein

wichtiges

Instrument

der

Kinderfürsorge, stellten aber wegen ihrer teilweise recht späten Gründung, ihrer begrenzten

Zahl

und

Kapazität

keineswegs

den

' Normalfall'

der

Waisenversorgung dar. Auch vorher verfügten die Städte über günstigere Möglichkeiten zur Waisenversorgung als ländliche Gemeinden, da teilweise institutionelle Möglichkeiten zur Unterbringung solcher Kinder in Armenhäusern oder Spitälern bestanden44; in Göttingen hatte das Heiligkreuz-Spital im 17. Jahrhundert eine eigene Kinderstube45. Außer diesen Anstalten gab es in den Städten bereits vor Einführung der landesherrlichen Armenordnungen Armenkästen, verschiedene private Stiftungen und kirchliche Vermögen (Spendenregister) zugunsten der Armen, aus denen auch Waisen versorgt werden konnten46. Nicht zuletzt verfügte die städtische Obrigkeit über einen eigenen Finanzhaushalt und konnte gegebenenfalls eine Unterstützung aus der Kämmerei bewilligen47.

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45 46

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67. Die Kinder waren aber auf die Barmherzigkeit von Einzelpersonen angewiesen, worauf der Titel von BOSWELL, Kindness, anspielt. Vgl. dazu Kap. V, Abschnitt 1. StAH A Nr. 3605, Bericht über das Armen- und Waisenhaus (um 1750); BRÜGMANN, Armenpflege, 96f. CCC, Bd. 1, Cap. I, 963-970, hier 968. Hervorhebung vom Verf. Vgl. SCHUBERT, Kirchenordnungen, 115; MUMMENHOFF, Waisenhaus Nürnberg, Teil 1, 97. StAGö AA Klostersachen St. Crucis Nr. 24. Zu Stiftungen und Kirchenregistern in der Altstadt Hannover siehe BRÜGMANN, Armenpflege, 95f. In Celle bestand mindestens seit 1604 ein städtischer Armenkasten. CASSEL, Celle, Bd. 1, 462. In Göttingen z.B. wurden 1703 "zween unmündiglen). Soldaten Kindern, wovon die Mutter gestorben und der Vater am Rhein in Kriegsdiensten stehet", auf Kosten der Kämmerei zwei Himten Roggen geschenkt. StAGö AB Verwaltung I Nr. 20, fol. 120v, Stadtratsprotokoll vom 23.4.1703. Eine Anspielung auf diese Praxis findet sich auch in der Annenordnung von 1712. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1134.

182

Annenpflege und öffentliche Ordnung

Nach den hannoverschen Armenordnungen sollten "arme Weysen (...), welche gar keine Eltern noch Mittel haben, auch in dem Stande nicht sind daß sie bey andern Leuten ihr Brod verdienen können", in die Armenhäuser aufgenommen und "der bey diesen Armen-Häusern sich findenden Einkünfften teilhafftig gemachet, auch davor gesorget werden, daß sie in ihrem Christenthum, im Catechismo und im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet werden mögen" 48 . Wo sich dies nicht bewerkstelligen ließ, sollten Waisen "aus der gemeinen Armen-Casse, soweit es derselben Zustand erleiden will, unterhalten und versorget" werden 49 . In diesem Fall wurden sie auf öffentliche Kosten in Pflegefamilien aufgezogen 50 . Uber die Waisenversorgung auf dem Land liegen aus der Zeit vor 1700 keine konkreten Informationen vor. Denkbar ist aber eine Teilung der Belastung durch Sammlungen unter den Dorfbewohnern oder die abwechselnde Aufnahme eines Kindes. Nach der Einführung der hannoverschen Armenordnungen sollten die Kinder aus den örtlichen Armenkassen unterhalten werden, was diese allerdings leicht an die Grenzen ihrer ohnehin beschränkten finanziellen Möglichkeiten bringen konnte. 1721 erinnerte die Landesregierung in einem "Edictum wegen alimentation ohnmündiger armer Weysen-Kinder" daran, daß jede Gemeinde nach dem Heimatprinzip ihre Waisen auf eigene Kosten zu versorgen habe. Für den Fall, daß die Armenkasse dafür nicht ausreichte, sollten die Gemeindeumlagen soweit erhöht werden, daß die Ernährung der Kinder davon bestritten werden konnte. Zur Garantie der Rechtmäßigkeit solcher Erhöhungen sollten die Rechnungen über den Unterhalt der Kinder bei Landgerichtssitzungen und Kirchenvisitationen überprüft werden 51 . Ein weiteres Problem für die Armenpflege war die Versorgung von Findelkindern. Im Gegensatz zu den romanischen Ländern gab es im deutschsprachigen Raum keine einheitlich organisierte Findelfürsorge 52 . Zwar entstanden nach dem Vorbild des durch den heiligen Vinzenz von Paul begündeten Hôpital des Enfants-Trouvés in Paris, das 1670 durch ein königliches Edikt mit dem Hôpital

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CCC, Bd. 1, Cap. I, 959, Armenordnung Calenberg 1702; beinahe textgleich CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1141, Annenordnung Lüneburg 1712. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1141, Armenordnung Lüneburg 1712. In Hildesheim versorgten mitunter auch die Klöster hilfsbedürftige Kinder. Nach der Aufhebung des Nonnenklosters in Wöltingerode durch die westphälischen Behörden mußten z.B. zwei Kinder von Konventualinnen und eines unbekannter Herkunft anderweitig untergebracht werden. NHStA Hann. 52 Nr. 373, Schreiben des Finanzministers vom 31.12.1809. CCC, Bd. 1, Cap. I, 983, 985. MUMMENHOFF, Waisenhaus Nürnberg, Teil 1, 96. Zum Findelwesen der europäischen Länder vgl. im einzelnen die umfassende Dokumentation von HÜGEL, Findelhäuser, bes. 73-178 (Frankreich), 179-240 (Österreich), 337ff. (deutsche Bundesstaaten). Zu Frankreich und Italien siehe Rachel Ginnis FUCHS, Abandoned Children, Foundlings and Child Weifare in Nineteenth-Century France, Albany 1984; TAEGER, Der Staat und die Findelkinder; HUNECKE, Findelkinder, 13; Giovanna DA MOLIN, Illegitimi ed esposti in Italia dal Seicento all' Ottocento, in: La demografia storica delle città italiane, Bologna 1982, 498-564.

Kinderversorgung und allgemeines Armenwesen

183

Général vereinigt und damit "gewissermaßen verstaatlicht" 53 wurde, sowohl in den katholischen Ländern des Reiches (Wien 1784) als auch in England (London 1739) und im protestantischen Norddeutschland (Hamburg 1709, Kassel 1763) zahlreiche Findelhäuser 54 . Das Kurfürstentum Hannover und das Hochstift Hildesheim blieben aber von dieser Entwicklung ausgenommen. Einzig die Gründung des 1750 eröffneten katholischen Waisenhauses in Hildesheim stand in direktem Zusammenhang mit der Findelkinderversorgung; die übrigen Waisenhäuser waren in der Regel für Findelkinder nicht zuständig, auch wenn dort von Zeit zu Zeit einzelne Findlinge versorgt wurden 55 . Gewöhnlich wurden diese aber gegen Bezahlung eines Kostgeldes von Ammen oder Pflegefamilien versorgt 56 . Während die Waisenversorgung eindeutig der Gemeinschaft auferlegt war, war die Versorgung von Findelkindern mit dem Heimatprinzip nicht recht vereinbar. Die Kosten wurden daher im allgemeinen von den Obrigkeiten getragen. Nach einer Verordnung des Kurfürsten vom 28. April 1711 bestand im Calenberger Teil des Kurfürstentums die Regelung, "daß die behuef Alimentirung derer in unsern Fürstenthümern Calenberg, Göttingen und Grubenhagen sich findender exponirter (...) Kinder benöhtigte Kosten, zur Hälffte aus unserer Rent-Kammer und zur Hälffte aus unserer Closter-Casse hergegeben werden sollen" 57 . In der Praxis bedeutete dies, daß der Unterhalt abwechselnd ein Jahr von der Kammer und ein Jahr von der Klosterkasse ausgezahlt wurde 58 . Diese Regelung, von der unabhängige Gerichtsobrigkeiten wie die Altstadt Hannover ausgenommen waren 59 , blieb stets auf die Fürstentümer Calenberg-Göttingen und Grubenhagen beschränkt, wo sie auch nach der westphälischen Zeit wieder eingeführt

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HUNECKE, Findelkinder, 13. Allgemein: HÜGEL, Findelhäuser, 52ff.; HUNECKE, Findelkinder, 12-18. Wien: HUNECKE, Findelkinder, 20; MUMMENHOFF, Waisenhaus Nürnberg, Teil 1, 93. Zu London: MCCLURE, Coram's Children, 27-51. Hamburg: 1709 wurde das Waisenhaus mit einer Drehlade ausgerüstet, die es Eltern ermöglichte, ihre Kinder ungesehen dort abzugeben. HUNECKE, Findelkinder, 17; von MELLE, Entwicklung des öffentlichen Armenwesens, 27ff.; Kassel: BROCKMANN, Ärgernis, 13; STEIN, Waisenhaus Kassel, passim. Zu den Waisenhäusern vgl. Kap. V. Siehe unten Abschnitt 2.2. CCC, Bd. 1, Cap. I, 976. Zehn Jahre später wurde diese Regelung bestätigt. Ebd., 983-985, Edikt vom 17.5.1721. NHStA Hann. 113 L Nr. 2, Schreiben der Kammer an das Kabinettsministerium von 21.6.1814. NHStA Hann. 52 Nr. 2987, Bericht über das hannoversche Armen- und Waisenhaus 1810: "Ein Findelhaus existiert allhier nicht, wenn ausgesetzte Kinder gefunden worden und die Eltern nicht auszumitteln gewesen sind solche auf Kosten der Cämmerey-Caße von Magistrats wegen in Verpflegung gegeben." Vgl. StAH B Nr. 6634gff., Rechnungen der Kämmerei 1700ff.

184

Armenpflege und öffentliche Ordnung

wurde 60 . In den lüneburgischen Landesteilen wurde die Findelkinderversorgung dagegen aus den 'onera iuris criminalis' bestritten, den Gebühren und Geldstrafen, die die Ämter und Gerichte einnahmen. In den landesherrlichen Ämtern kam die kurfürstliche Kammer in Hannover bzw. vor 1705 die herzogliche Kammer in Celle für die Kosten auf, in den Patrimonialgerichten und den Städten mit eigener Gerichtsbarkeit der Gutsherr bzw. die Bürgerschaft 61 . Auch im Hochstift Hildesheim oblag die Versorgung der Kinder den jeweiligen Gerichtsobrigkeiten 62 . In einigen landesherrlichen und domkapitularischen Ämtern allerdings bestand von alters her die Regelung, daß die Einwohner des Dorfes oder Amtes, in dem das Kind gefunden wurde, mittels Kollekten oder Umlagen für seinen Unterhalt aufkommen mußten 63 . Einen Grenzfall in der Zuständigkeit stellten ältere verlassene Kinder dar. Waren die Eltern nicht zu ermitteln, konnten die Kinder von den Behörden als Findelkinder behandelt werden 64 .

Dagegen mußten die Amtsdörfer des hildes-

heimischen Amtes Peine zwei Kinder auf ihre Kosten unterhalten, weil deren Vater häufig in verschiedenen Amtsdörfern die Gänse gehütet hatte 65 . In der westphälischen Zeit wurde das Heimatprinzip auf die Versorgung aller alleinstehenden Kinder ausgedehnt. Als Heimatort galt für uneheliche Kinder der Wohnort der Mutter, für eheliche der des Vaters und nachgeordnet derjenige der

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Ebd. NHStA Hann. 113 L Nr. 7, Schreiben des Kgl. Kabinettsministeriums an die Kammer vom 17.1.1820. Nach dem Pufendorfschen Landrechtsentwurf sollten Findelkinder von deijemgen Obrigkeit unterhalten werden, die an dem jeweiligen Ort das Schutzgeld erhielt. PUFENDORF, Landrecht, 160, Titul 75, § 9. NHStA Hann. 113 L Nr. 7, Schreiben des Kgl. Kabinettsministeriums an die Kammer vom 17.1.1820. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9902, Auskunft der Regierung an den Drosten zu Gronau vom 11.8.1725; NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9904, Schreiben der Regierung an das Amt Hunnesrück vom 3.2.1729; NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9907; NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9905, Schreiben der Regierung vom 20.3.1672. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9902, Schreiben der Regierung vom 11.8.1725, Schreiben des Amtes Winzenburg vom 18.12.1725. Dazu gehörten auch die domkapitularischen Ämter Steinbrück und Wiedelah. DomBHi Excerpta ex protocollis Cathedralis Ecclesiae Hildeshemensis. Abschrift, gefertigt von J.M. Kratz, 1744-1749, fol. 304r, Protokoll vom 3.12.1748, fol. 305r, Protokoll vom 9.12.1748. Nachdem das Fürstentum Hildesheim Teil des Königreiches Hannover geworden war, wurde die Findelkinderversorgung generell von den Gerichten übernommen. NHStA Hann. 113 L Nr. 7. Nachdem 1819 in Gleidingen ein Kind gefunden worden war, hatte sich die zuständige Provinzialregierung (vgl. dazu von MEIER, Verfassungsund Verwaltungsgeschichte, Bd. 2, 298) wegen der Kosten an die Kammer gewandt. Diese schlug in einem Schreiben an das Kgl. Kabinettsministerium vor, wegen der sonstigen Rechtsgleichheit auch im Fürstentum Hildesheim die calenbergische Regelung einzuführen, was das Ministerium jedoch am 17.1.1820 ablehnte. NHStA Celle Br. 61a Nr. 359, Schreiben der Celler Regierung an den Beedenbosteler Amtsvogt an vom 16.5.1694. NHStA Celle Br. 61a Nr. 2475, Schreiben des Burgdorfer Amtmannes vom 26.10.1694; NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Schreiben der herzoglichen Kammer vom 29.11.1688, Schreiben der Kammer vom 30.6.1698, Schreiben der Kammer vom 1.2.1700, Schreiben des Großvogtes vom 28.8.1730, Schreiben des Großvogtes vom 17.3.1736. In Hildesheim ein Fall 1763/64 in NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9899. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9905, Schreiben der Regierung vom 28.7.1741.

Kinderversorgung und allgemeines Armenwesen

185

Mutter. Findelkinder unbekannter Herkunft mußten von der Gemeinde, in der sie gefunden wurden, verpflegt werden 66 . In den 1810 an Frankreich angegliederten Gebieten wurde die Unterstützung armer Kinder dem seit 1811 geltenden französischen System angeglichen; Findelkinder, verlassene und verwaiste Kinder wurden danach gleich behandelt 67 . Der Staat übernahm die gesamten Kosten für die Erziehung der Kinder, beanspruchte aber im Gegenzug das alleinige Verfügungsrecht über ihre Zukunft 68 . Im Klartext bedeutete dies für Jungen den Dienst in der Marine oder dem 1811 gegründeten "Régiment des Pupilles de la Garde" 69 .

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"Le domicile de secours pour les enfants et les personnes au dessous de 21 ans, s'ils sont illégitimes, sera celui de la mère, s'ils sont légitimes celui du père, et subsidiairement celui de la mère, à défaut de l'un et de l'autre, leur domicile de secours sera la commune où ils se trouveront, i moins que la commune de leur naissance ne soit connue et que sur la décision du Sous-Préfet il ne paraisse préférable de les y renvoyer." NHStA Hann. 52 Nr. 1168, Kopie für den Präfekten des Leinedepartements. "1) Findelkinder /enfans trouvés/ sind solche, die ausgesetzt sind, und als von unbekannten Eltern gebohren durch die Gesetze so lange als uneheliche Kinder betrachtet werden bis das Gegentheil bewiesen ist, 2) Verlassene Kinder /enfans abandonnés/ sind solche die zwar ehrliche (sie!] Kinder sind, die aber wegen Gefangennehmung, Vemrtheilung oder Hinrichtung ihrer Eltern oder besondere Verfügungen der Eltern, durch die Gesetze den Findelkindern gleichgesetzt werden. 3) Unter armen Waisenkindern /orphelins pauvres/ sind alle diejenigen Kinder zu verstehen welche in einer rechtmäßigen Ehe gebohren und welche entweder wegen Absterben ihrer Eltern, oder wegen Armuth eines derselben, ebenfalls den verlassenen Kindern gleich gesetzt sind." NHStA Hann. 74 Stolzenau Nr. 1050, Schreiben des Unterpräfekten vom 15.3.1812. Diese Einteilung entsprach der des Dekretes vom 19.1.1811, vgl. TAEGER, Findelkinder, 27. Vgl. TAEGER, Findelkinder, 25-32. In dem Mündelregiment der kaiserlichen Garde mußten die aus öffentlichen Anstalten entlassenen Jungen über 15 Jahre Dienst tun, bevor sie mit 18 Jahren zum Militär eingezogen wurden. Die Ausrüstung fand in Versailles statt, eingesetzt wurden die Regimenter z.B. als Musiker. Solange BEGUE, Le Régiment des Pupilles de la Garde (1812-1814), in: Actes du 97 ème Congrès national des Sociétés Savantes, Nantes 1972, Section d'histoire moderne et contemporaine, Bd. 1, Paris 1977, 115-120. - Auch im vormals hannoverschen Amt Stolzenau mußten Verzeichnisse über die Zöglinge zwischen 11 und 25 Jahren angelegt werden; Jungen, "über welche der Kriegs- oder Marine Minister bereits verfügt hat", brauchten nicht mit aufgeführt zu werden. NHStA Hann. 74 Stolzenau Nr. 1050, Schreiben des Unterpräfekten vom 8.4.1812 und vom 11.1.1813. Allerdings taten sich die Maires der einzelnen Gemeinden sehr schwer mit der Erstellung dieser Verzeichnisse, die deshalb mehrfach angemahnt werden mußten, Ursache "einer großen Unordnung in dieser so wichtigen Sache*. Ebd., 11.1.1813. Am 16. Januar 1812 verfügte der Unterpräfekt des Arrondissements Nienburg, daß sich alle Waisenknaben zwischen 12 und 14 Jahren am 20. Januar mittags um 2 Uhr in Nienburg einfinden müßten. Dort sollten diejenigen ausgesucht werden, "welche von starker Constitution sind, damit selbige dem Regimente der Pupillen, der kayserlichen Garde einverleibt werden können." Im Sommer wurden dann die Knaben gemustert, die das 16. Lebensjahr vollendet hatten; aber auch Jüngere müssen nach Frankreich geschickt worden sein, denn am 7.10.1812 erließ der Unterpräfekt ein 'Circular', daß keine Jungen unter zehn Jahren und einer Größe von 1,54 Meter mehr angenommen werden sollten.

186 1.3.

Annenpflege und öffentliche Ordnung

Kinderarmut und Armut durch Kinder Kinder als Armutskriterium - Unterstützung der Eltern - Armengeld und Sachbeihilfen

Versorgungslosigkeit als soziales Problem äußerte sich nicht nur in der völligen Hilflosigkeit alleinstehender Kinder. Auch viele Kinder, die bei ihren Eltern oder einem Elternteil lebten, waren von mangelnder Versorgung betroffen. Für Menschen in einer unsicheren wirtschaftlichen Situation bedeutete die Versorgung von Kindern eine zusätzliche Belastung, durch die sie an die Grenzen der selbständigen Subsistenzfahigkeit gelangen konnten und auf öffentliche Unterstützung angewiesen waren. Bittschriften, mit denen Eltern oder alleinstehende Mütter um öffentliche Unterstützung nachsuchten, zeugen von diesem Problem. Die Witwe Catarina Margareta Breithaupt in Göttingen bat 1715 um einen Himten 70 Roggen für sich und ihre unmündigen Kinder 71 , 1718 und 1760 erklärten andere Witwen, ihre jeweils vier unmündigen Kinder nicht mehr allein versorgen zu können 72 . Die obrigkeitlichen Armenordnungen sahen auch Hilfen für arme Eltern bei der Versorgung ihrer Kinder vor: in Hannover sollten die Eltern, "wann sie dieselbe [sc. ihre Kinder] nicht erhalten können, dazu eine kleine Beyhülffe" 73 bekommen. In den Armenordnungen für Celle (1711) und die lüneburgischen Landesteile (1712) wurde bestimmt, daß die Anwärter auf Armengeld zur Feststellung ihrer Bedürftigkeit "nach ihrem und der ihrigen Zustand, der Anzahl ihrer unerwachsenen Kinder, auch Leben und Wandel" 74 befragt werden sollten. Je nach dem Grad ihrer Bedürftigkeit wurden sie in Klassen eingeteilt, "wobey auch nebst ihrer Dürftigkeit auf die Anzahl ihrer Kinder, welche noch nicht von dem Alter seyn, daß sie andern Leuten dienen, oder sonsten mit einiger Arbeit den Eltern zu Hilfe kommen können, zu sehen seyn wird" 75 . Präziser waren die Anweisungen in der calenbergischen Armenordnung von 1702: Leute, die "so arm seyn solten, daß sie, ungeachtet ihres Fleisses und ihrer Hände Arbeit, die Kinder nicht ernähren könten, [sollten] eine kleine Beyhülffe, etwan wöchentlich 3 Mgr. auf ein Kind" 76 erhalten. Listen von Hausarmen, wie sie das Göttinger Armenkollegium unter der Leitung des Pfarrers Ludwig Gerhard Wagemann ab 1785 veröffentlichte, zeigen, 70 71

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Hohlmaß. Ein hannoverscher Himten umfaßte ca. 31 Liter. StAGö AA Wohlfahrt Armensachen und Stiftungen Nr. 0, Schreiben vom 10.1.1715 (vorgelegt). Ebd., Bittschreiben vom 4.7.1718; ebd. Nr. 3, Schreiben vom 24.7.1760. CCC, Bd. 1, Cap. I, 970, Armenordnung der Stadt Hannover von 1700. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1085. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1086, Armenordnung Celle 1711; ähnlich in CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1120, 1123, Aimenordnung Lüneburg 1712. CCC, Bd. 1, Cap. I, 959, Armenordnung Calenberg 1702.

Kinderversorgung und allgemeines Annenwesen

187

daß als Armutsgrund neben Krankheit und Alter immer wieder der Eintrag "unversorgte Kinder" angeführt wurde 77 . Auch unter den etwa 100 Göttinger Armen, die 1808 eine kleinere Summe Bargeld erhielten, nachdem König Jérôme 220 Friedrichs d'or (ungefähr 1100 Rtlr.) gespendet hatte, befanden sich elf Personen, die die Zuwendung offenbar aufgrund ihrer Kinder erhielten: fünf Witwen mit je zwei bis vier Kindern, eine verlassene Soldatenfrau mit zwei Kindern, eine wahrscheinlich ledige Frau mit Kind und vier Familien mit Kindern 78 . Außer Geldzuwendungen zählten auch Naturalbeihilfen zu den festen Bestandteilen der üblichen Armenunterstützung. Neben den oben angesprochenen Lebensmitteln gehörte dazu vor allem Kleidung - ein Posten, der zum größten Teil an Kinder ging 79 . Mehr noch als der materielle Unterhalt der Kinder beschäftigte die Obrigkeiten allerdings ihre sittliche Erziehung. Daher sahen die Armenordnungen vor allem Zuschüsse für das Schulgeld und die notwendigen Bücher vor 80 . Mit der Vereinheitlichung der Armenpflege wurden nicht nur die prinzipielle Verpflichtung der Gesellschaft zur Fürsorge, sondern auch die Versorgung von Waisen und Findelkindern, Geld- und Sachbeihilfen für Witwen oder kinderreiche Familien sowie die Erziehung der Kinder landesweit festgeschrieben. Die normativen Vorgaben der Armenordnungen, die nur zu leicht den Eindruck erwecken, es habe sich um ein gut organisiertes Wohlfahrtssystem gehandelt 81 , dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die frühneuzeitliche Armengesetzgebung vor allem dazu diente, die Zahl der Unterstützungsempfänger gering zu halten und die Last der Versorgung von den Obrigkeiten auf die Gemeinden abzuwälzen.

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80 81

An die Wohlthäter der Göttingischen Annen, Göttingen 1785; ab 1787 u.d.T. Nachricht über die Versorgung der Armen in Göttingen, Güttingen 1787ff. Dasselbe berichtet MÜLLER, Karlsruhe, 53. NHStA Hann. 87 Göttingen Nr. 129, Abrechnung vom 27.5.1808. An die Wohlthäter der Göttingischen Armen; Nachricht über die Versorgung der Armen in Göttingen, passim; Uebersicht der allgemeinen Armenpflege des Königl. Churfüirstl. Aimencollegiums zu Hannover von Michaelis 1794 bis 1795, in: NHM 5 (1795), 1649-1662, hier 1651. Vgl. BRÜGMANN, Armenpflege, 117. Vgl. unten. Die tendenzielle Überschätzung normativer Quellen ist ein Grundproblem der Erforschung des frühneuzeitlichen Armenwesens. Beispiele dafür geben z.B. JÜTTE, Disziplinierungsmechanismen, 108, und STEKL, "Labore et fame". Zur Kritik vgl. DINGES, Armenfürsorge, 9f.

188

Armenpflege und öffentliche Ordnung

2.

Unversorgte Kinder als unerwünschte Last: Organisationsprobleme dezentraler Versorgung

2.1.

Ausweichstrategien von Obrigkeit und Bevölkerung

Die Obrigkeiten reagierten auf Unterstützungsgesuche für alleinstehende Kinder und Familien häufig abwartend, wenn nicht sogar ablehnend. Sofern noch Verwandte eines alleinstehenden Kindes auffindbar waren, versuchten die Obrigkeiten, diese zur Versorgung der Kinder zu verpflichten 82 . War die Unterbringung eines Kindes unumgänglich, wurden die Angehörigen nach Möglichkeit zur Erstattung der bereits angefallenen Kosten angehalten. Dies galt - wenigstens vor Einführung des französischen Rechts - auch für die Väter unehelicher Kinder 83 und sogar für Hauswirte, in deren Haus ein später verlassenes Kind geboren wurde 84 . Bei verwaisten Kindern wurde der von den Eltern hinterlassene Hausrat unter Hinzuziehung eines Kaufmannes geschätzt und der Erlös, sofern nach Begleichung der Schulden noch etwas übrig blieb, für die Ernährung des Kindes verwendet 85 . Die Dauer der Versorgung wurde möglichst eingeschränkt. Anläßlich von Anträgen auf die Verlängerung des Kostgeldes für Findelkinder wurde oft zunächst einmal erwogen, ob die Kinder nicht in ein Dienstverhältnis, eine Lehre oder die "Milice" eintreten könnten 86 , was sich allerdings bei zu geringem Alter verbot 87 . Infolge des Heimatprinzips suchte man den Kreis der Fürsorgeberechtigten möglichst klein zu halten. Stammten ein Kind oder die Mutter von außerhalb, 82

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85 86 87

Nach dem Pufendorfschen Landrechtsentwurf von 1772 sollten Eltern und Kinder "sich einander in ihrer Nothdurft zu unterhalten schuldig" sein. GroBeltern sollten verpflichtet sein, ihre Enkel nach Möglichkeit zu unterhalten; dies galt auch für uneheliche Kinder. PUFENDORF, Landrecht, 159, Titul 75. Die hildesheimische Regierung forderte 1696 in einem Amtshilfeersuchen die Celler Regierung auf, einen Schloßgärtner "durch geziemende Zwangsmittel dahin anzuhalten", daß er sein uneheliches Enkelkind aus dem hildesheimischen Weetzen abholen solle, wo die Mutter bei der Geburt verstorben war. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9900. NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944. Am 7.5.1740 bat der Celler Großvogt den Magistrat um Amtshilfe, um ein Urteil der Justizkanzlei an dem Schlachter Vorbrecht zu vollziehen, der zur Erstattung des Kostgeldes für ein von ihm gezeugtes uneheliches Kind in Höhe von 48 Rtlr. 10 Gr. 4 Pf. verurteilt worden war. Der Erfolg dieser Bemühungen ist allerdings fraglich, denn am 16.7.1740 wurde eine Wiederholung des Gesuches nötig. Der Peiner Magistrat ersuchte 1778 die Hildesheimer Regierung um Hilfe, einen Soldaten zum Unterhalt seiner zwei unehelichen Kinder zu zwingen. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9905. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5287. 1743 ließ der Amtmann von Steuerwald durch seinen Hausvogt einen schweren Kupferkessel im Haus des 'Schweinemeisters' des Klosters St. Michael pfänden, um damit die Verpflegungskosten für ein Kind, das eine fremde Frau in dessen Haus geboren hatte, zu bestreiten. In diesem Fall allerdings legte das Kloster mit Hilfe eines Anwaltes Beschwerde gegen das Vorgehen des Amtmannes ein. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9907. NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Schreiben der Celler Regierung vom 25.1.1696. Ebd., Schreiben des Celler Hofamtmannes vom 1.4.1692. Die fraglichen Kinder waren erst neun und elf Jahre alt.

Unversorgte Kinder als unerwünschte Last

189

bemühte man sich, die Behörden des Wohnortes zur Übernahme des Kindes zu bewegen, was allerdings deren Interessen zuwiderlief 88 . Das hildesheimische Gericht Bolzum ersuchte 1726 den hannoverschen Magistrat, eine dort lebende Frau festzunehmen und zur Rücknahme ihres in Bolzum ausgesetzten Kindes zu zwingen. Obwohl die Frau die Aussetzung gestand, weigerte sich der Magistrat auch nach Einschaltung der hildesheimischen Regierung, sie zur Rücknahme des Kindes zu zwingen, da man befürchtete, Mutter und Kind müßten dann womöglich von der hannoverschen Armenkasse unterhalten werden. Erst nachdem die hildesheimische Regierung sich an die hannoversche Justizkanzlei gewandt hatte, unternahm der Magistrat beinahe drei Jahre nach der Aussetzung einen Pfandungsversuch bei der Mutter, die unterdessen allerdings Hannover längst mit dem Ziel London verlassen hatte; für das Kind mußte schließlich das Gericht Bolzum aufkommen 89 . Angesichts der schwierigen Rechtslage versuchten die lokalen Behörden, die ihnen auferlegte Versorgungspflicht von Findelkindern auch auf nicht ordnungsgemäßen Wegen zu umgehen. Der Amtsvogt von Eicklingen verwies zwei Einwohner aus Nienhagen bei Celle, die 1706 ein Kind auf dem Weg von Celle nach ihrem zur Amtsvogtei gehörenden Heimatort gefunden hatten, an die Celler Burgvogtei, da das Kind in dessen Gerichtsbezirk gefunden worden sei. Der Burgvogt seinerseits schickte die Leute mitsamt dem Kind zurück nach Eicklingen, so daß die Angelegenheit in einen Streit der beiden Beamten vor dem Großvogt mündete 90 . Noch irregulärer gingen die Beamten des hildesheimischen Amtes Hunnesrück 17S9 vor. Da sie nach einer Kindesaussetzung der Mutter nicht mehr habhaft werden konnten, verhafteten sie an ihrer Stelle eine fremde Magd, die in ihrer Begleitung gereist war, und schickten diese samt dem Kind zu ihrem Dienstherrn, der im braunschweig-wolfenbüttelschen Amt Wickensen ansässig war. Auf Einspruch des Amtes Wickensen bei der hildesheimischen Regierung mußte das Kind allerdings nach Hunnesrück zurückgeholt werden, da nach Auffassung der Regierung weder die Magd noch gar deren Dienstherr für die Aussetzung verantwortlich gemacht werden konnten 91 . Am einfachsten für die Obrigkeiten war es freilich, die Versorgung hilfloser Kinder zunächst den Leuten zu überlassen, die das Kind oder zuvor die Eltern aufgenommen hatten. Einem Krüger im Amt Steuerwald, der 1696 ein kleines 88

89 90 91

Der Göttinger Magistrat versuchte 1784, ein angeblich in Münden geborenes und in Göttingen verlassenes Kind an sein "foro originis" zurückzugeben, wahrscheinlich aber ohne Erfolg. StAGö AA Wohlfahrt Armensachen und Stiftungen Nr. 229, Schreiben vom 16.12.1784 bis 25.4.1785. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9900, Schriftwechsel 29.5.1726-16.5.1729. NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Schreiben vom 29.5.1706. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9904.

190

Armenpflege und öffentliche Ordnung

Kind, das er vor seinem Hof gefunden hatte, wenn auch nur "sehr ungern" 92 in sein Haus genommen hatte, wurde bedeutet, er hätte dafür vorher eine Erlaubnis des Amtes einholen müssen. Bis auf weiteres wurde ihm daher die Verpflegung des Kindes auferlegt 93 . Ähnlich erging es der Gemeinde Betheln im Amt Gronau. Als dort ein Kind gefunden wurde, war "die Gemeinde genöthiget, und bewogen worden, sothanes Kind ins Dorff zu holen und es sogleich mitt der heiligen tauffe versehen zu lassen" 94 . Darauf wurde dem Dorf bis auf weiteres die alleinige Verpflegung des Kindes auferlegt; erst nach einer längeren Untersuchung durch die Regierung wurden die umliegenden Dörfer zum Unterhalt mit herangezogen 95 . Auf seiten der Bevölkerung ließ die Sorge, ein Kind womöglich auf eigene Kosten versorgen zu müssen, die Haltung entstehen, jegliche Hilfe zu verweigern und sich der Almosenempfänger möglichst schnell wieder zu entledigen. Ein gewisser Beizer Heinecken in Altenbostel bei Celle weigerte sich 1699, ein vor seinem Haus in der Nacht ausgesetztes Kind ins Haus zu nehmen; erst morgens um acht Uhr nahm sich schließlich eine Frau des Findlings an 96 . Der Krüger Pröve in Klein Eicklingen, der 1791 ordnungswidrig eine Frau mit ihrer elf- bis zwölfjährigen Tochter aufgenommen hatte, hatte, so das spätere Protokoll, das Kind nach dem Verschwinden der Mutter "in der erbärmlichsten Witterung ausgestoßen" 97 . In Hildesheim lag ein Findelkind 1778 "fast Tag & Nacht" auf dem großen Domhof, wo es "leicht von den vorüber passirenden Wagen übergefahren werden" konnte, bevor es endlich jemand aufnahm 98 . Nicht nur einzelne Einwohner, sondern auch ganze Dörfer versuchten, sich unliebsamer Kostgänger zu entledigen 99 . Dabei scheuten manche Gemeinden auch vor illegalen Mitteln nicht zurück: Im hildesheimischen Bolzum fand 1754 eine Frau nachts vor ihrem Haus ein etwa vierjähriges Kind, in dem sie sogleich das Kind ihres Bruders erkannte, welches nach dem Tod seiner Eltern von einer anderen Tante in Bledeln versorgt worden war. Als nun auch diese vor einigen Tagen verstorben war und ihr Mann, ein Schweinehirt, den Ort verlassen hatte, war das Kind von der Gemeinde Bledeln, die es nun hätte unterhalten müssen, vor dem Haus seiner Tante in Bolzum niedergelegt worden 100 . 92 93 94 95 96 97 98

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Ebd. Nr. 9899, Schreiben des Amtes Steuerwald vom 6.8.1696 (vorgelegt). Ebd., Regierungsreskript vom 8.6.1796. Ebd. Nr. 9902, Protokoll des Amtes Gronau vom 3.7.1725. Ebd., Schriftwechsel bis Feb. 1726. NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Protokoll der Burgvogtei vom 21.5.1699. Ebd., Protokoll der Amtsvogtei Eicklingen vom 6.12.1791. DomBHi Excerpta ex protocollis Cathedralis Ecclesiae Hildeshemensis. Abschrift, gefertigt von J.M. Kratz, 1770-17787, fol. 218v, Eintrag vom 1.12.1778. Die Bauerrichter dreier Bauerschafiten im Amt Lemförde legten 1760 Einspruch dagegen ein, daß sie sich per Kontribution am Unterhalt von zwei armen Kindern beteiligen sollten. NHStA Hann. 74 Diepholz Nr. 899, Schreiben vom Sept. 1760. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9900, Protokoll vom 20.2.1754 und Schreiben der Regierung vom 14.3.1754.

Unversorgte Kinder als unerwünschte Last

191

In manchen ländlichen Gegenden hatte die Abschiebung ungeliebter Almosenempfänger in der sogenannten Bettelfuhr eine feste Form gefunden. Ursprünglich eine Art dörflicher Bettlerversorgung, bei der umherziehende Bettler jeweils einige Zeit in einem Dorf versorgt und dann von der nächsten Gemeinde übernommen wurden, verkam die Bettelfuhr im 18. Jahrhundert zu einer reinen Ausweichstrategie und diente nunmehr nur noch dazu, unliebsame Fremde, vor allem Kinder, Kranke und Alte, an die benachbarten Dörfer weiterzugeben 101 . 1772 mußte sich das hildesheimische Amt Ruthe mit einer solchen Bettelfuhr befassen, nachdem der Bauermeister des Ortes Oesselse angezeigt hatte, daß ihm die benachbarte Gemeinde Ingeln einen Karren mit einer toten Frau und zwei Kindern im Alter von acht und zwei Jahren auf den Hof gebracht hatte. Nachforschungen des Amtsvogtes ergaben, daß es sich um die Frau eines preußischen Soldaten handelte, die auf dem Weg von oder nach Jülich gewesen und bereits von einer dritten Gemeinde nach Ingeln gebracht worden war. Die Gemeinden scheuten in diesem Fall vor allem die Versorgung der Kinder, aber auch die Begräbniskosten für die Mutter. In einem anderen Fall war ein toter Bettler aus dem hannoverschen Rethen über das hildesheimische Gleidingen nach Heisede gebracht worden 102 . Die hildesheimische Regierung, die nicht bereit war, die Bettelfuhren zu dulden, da "es so wohl gegen die Vernunfft, als das wahre Christenthum läufft, agonisirende Leute wegzufahren", verordnete, daß die Begräbniskosten der Frau von der Gemeinde Ingeln, die Versorgung der Kinder aber je zur Hälfte von Ingeln und Bledeln getragen werden sollten. Die Begräbniskosten für den Bettler in Heisede mußte die Gemeinde Gleidingen tragen, die sie ihrerseits bei der hannoverschen Ortschaft Rethen eintreiben sollte 103 . Die Versuche von Obrigkeiten und Gemeinden, sich der Verantwortung zu entledigen, gingen zumeist zu Lasten von Pflegefamilien und vor allem der Kinder selbst, wie die Geschichte von Heinrich Knollen aus Nienstedt im Hochstift Hildesheim zeigt. Knollen hatte 1725 eine hochschwangere Frau in Begleitung eines Mannes in hannoverscher Uniform beherbergt 104 . Nachdem zuerst der Mann die Frau als 'Mietling' bei Knollen zurückgelassen hatte, verschwand diese zwei Monate später nach einem Diebstahl und hinterließ zwei Kinder, ein zehnjähriges Mädchen und einen drei Wochen alten Jungen. Knollen wandte sich darauf im März an das Amt Gronau und bat, ihm die Kinder abzunehmen, die er seiner Armut wegen nicht ernähren könne. Auf den Bericht des Drosten, der Knollens Armut bestätigte, ordnete die Regierung an, die Kosten für die Versorgung der Kinder mittels einer Kollekte auf die benachbarten Dörfer umzulegen. 101 102 103 104

Vgl. SCHUBERT, Arme Leute, 216f. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9900, Schreiben des Amtes Ruthe an die Regierung vom 14.6.1772. Ebd., Schreiben der Regierung an das Amt Ruthe vom 15.6.1772. Der gesamte Vorgang befindet sich in NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9902.

192

Annenpflege und öffentliche Ordnung

Gleichzeitig sollten Nachforschungen nach der Mutter der Kinder und ihrem Begleiter angestellt und Knollen wegen der unerlaubten Beherbergung, die gegen die Polizeiordnung verstieß, verwarnt werden. Schon im Juni aber blieben die Zahlungen der Dörfer für den Unterhalt der Kinder aus; gleichzeitig endete die Stillzeit von Knollens Frau, die bisher das kleine Kind gesäugt hatte. Nachdem die Regierung davon erfahren hatte und noch ein Findelkind im Amt gefunden worden war, ordnete sie an, diese Kinder sollten aus den beim Amt anfallenden Gerichtsgebühren unterhalten werden. Gegen dieses Verfahren wandte sich nun aber ganz entschieden der Drost. Da er das Amt gepachtet hatte, kam diese Regelung einer Versorgung der Kinder auf seine Kosten gleich. Er stellte sich daher auf den Standpunkt, Knollen habe die Situation durch die ungenehmigte Aufnahme der Leute selbst verschuldet. Unterdessen versuchte Knollen verzweifelt, sich zumindest des jüngeren der beiden Kinder zu entledigen. Im November brachte er es zu dem Gut, wo der mutmaßliche Vater des Kinder leben sollte, fand es aber bereits fünf Tage später vor seiner eigenen Tür wieder. Deshalb begab er sich acht Tage darauf mit dem Kind nach Hildesheim, um es bei der Kanzlei vorzuzeigen und so seiner Bitte um Unterstützung mehr Nachdruck zu verleihen. Nachdem er am Dammtor abgewiesen worden war, versuchte er es am Almstor, wo man ihn nicht nur gleichfalls abwies, sondern "erbermlich abprügelte" 1 0 5 . In einem weiteren verzweifelten Schreiben stellte Knollen daraufhin vor, wenn man ihm das Kind nicht abnehme, werde er unausweichlich mit seinen "ohnmündigen Kindern selbst crepiren und unter gehen". Im Februar 1726 fand die Angelegenheit schließlich durch den Tod des Kindes ein Ende. Todesursache des Kindes war der "Mangel der nöhtigen Verpflegung" 1 0 6 . Dieses Beispiel zeigt, daß der Unwillen der Gemeinden und Obrigkeiten zur Übernahme der Versorgungskosten letztlich zu Lasten der Kinder ging; auch die Pflegeeltern zählten aber zu den Opfern dieser Haltung.

2.2.

Ein undankbares und riskantes Gewerbe: Pflegefamilien

Die von den Obrigkeiten oder Gemeinden für die Versorgung eines Kindes gezahlten Summen waren in der Regel sehr gering. Den niedrigsten Tarif handelte die Celler Burgvogtei im Jahr 1700 aus, als es gelang, drei Kinder für insgesamt 1 Rtlr. monatlich unterzubringen 107 . Ein Vergleich einer größeren Zahl von monatlichen Zahlungen in den Rechnungen der kurfürstlichen Kammer und der Kämmerei der Altstadt Hannover 105 106 107

Ebd., Schreiben Knollens an die Regierung vom 27.1.1725. Ebd., Schreiben der Regierung vom 25.2.1726. NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Notiz vom 3.7.1700.

Unversorgte Kinder als unerwünschte Last

193

zeigt, daB die durchschnittlichen Pflegesätze in Hannover bis in die 1780er Jahre höher waren als auf dem Land. Bewegten sich die Summen dort meist zwischen 1 Rtlr. 12 Mgr. und 1 Rtlr. 14 Mgr., waren auf dem Land zwischen 1 Rtlr. 7 Mgr. und 1 Rtlr. 12 Mgr. üblich 108 . Noch niedrigere Verpflegungssätze erhielten Mütter und Pflegeeltern 1788 in Göttingen: dort wurden von der Armenkasse zwischen 24 Mgr. und 1 Rtlr. monatlich gezahlt, die meisten Pflegeeltern erhielten 32 Mgr. 1 0 9 . Diese Summen dürften in den meisten Fällen gerade eben für die Ernährung eines Kindes ausgereicht haben. Versiegte einer Amme die Muttermilch, war das Kind für den ausgehandelten Preis nicht mehr zu ernähren110. Dies galt ebenso, wenn die Kinder älter wurden und neben Schulgeld auch mehr Kleidung brauchten 111 . Dazu gingen Pflegeeltern das Risiko ein, zeitweilig oder auch langfristig überhaupt kein Kostgeld zu bekommen. Jobst Hartwig und seine Frau erhielten Ende des 17. Jahrhunderts das ihnen für die Aufnahme eines Findelkindes versprochene jährliche Kostgeld von 16 Rtlr. nur ein- oder zweimal vollständig. Danach mußten sie sich mit dem zufriedengeben, was die Dörfer freiwillig ablieferten 112 . Auch wenn die Pflegeeltern das Kind auf obrigkeitliche Anweisung aufgenommen hatten, hatten sie bei Streitigkeiten um die Bezahlung Schwierigkeiten, ihren Zahlungsanspruch durchzusetzen, wenn wie in Celle weder Armenkasse noch Burgvogtei zahlen wollten 113 . Eine langfristige Betrachtung der Kostgelder läßt vermuten, daß sich die Bedingungen für Pflegeeltern im Laufe des 18. Jahrhunderts weiter verschlechterten. Bei einer deutlichen Steigerung der Lebensmittelpreise in der zweiten Jahrhunderthälfte, vor allem aber seit 1790, und dem daraus resultierenden Kaufkraftverfall 114 stagnierten die Kostgelder oder waren sogar rückläufig. Auf dem Land blieben die Summen mit Ausnahme einer Preisspitze am Anfang des Jahrhunderts annähernd gleich und steigerten sich erst leicht am Ende des Jahrhun-

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114

Siehe unten Tabelle 7. StAGö AA Wohlfahrt Armensachen und Stiftungen Nr. 233, Liste der Annenverwaltung 1788. NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Schreiben des Burgvogtes vom 15.4.1680. Die Amme hatte 1 Rtlr. 9 Mgr. eriialten. Ebd., Schreiben der Burgvogtei vom 26.1.1702; NHStA Dep. 7b Nr. 299, Schreiben des Christoph Hundertmarck vom 27.1.1807. H. verlangte monatlich 1 Rtlr. für die Ernährung des Kindes und weitere 12 Mgr. für Kleidung. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9902, Schreiben des Amtes Winzenburg an die Regierung vom 18.12.1725. NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Beschwerde des Celler Armenvogtes Heinrich Hartmann vom 10.7.1738. Ähnlich erging es dem Krüger im hildesheimischen Sosmar (NHStA Hild Br. 1 Nr. 9899, Schreiben vom 5.1.1646) und Cord Hinrich Thomoor aus Marl im Amt Lemförde, der 1807 über ein Jahr auf das ausstehende Kostgeld warten mußte (NHStA Hann. 74 Diepholz Nr. 899, Protokoll des Amtes Lemförde vom 27.9.1807). Siehe Kap. I, Abschnitt 3.

194

Armenpflege und öffentliche Ordnung

derts, in der Altstadt Hannover fielen die S u m m e n kontinuierlich von 1 Rtlr. 2 1 M g r . a u f 1 Rtlr. 3 M g r . , also um etwa ein Drittel.

Tabelle 7: Höhe des für Pflegekinder g e z a h l t e n Kostgeldes 1 1 | 1 1 1 | | | | 1 1 1 | | | j | i

Jahre

1691-1700 1701-1710 1711-1720 1721-1730 1731-1740 1741-1750 1751-1760 1761-1770 1771-1780 1781-1790 1791-1800 1801-1810

1691-1810

1 | durchschnittliche |Summe (Rtlr. Mgr., Pf.) Hannover | Land

1 1 | Anzahl der | | Pflegesatze | | Land Hannover |

1 1 1 1 | | I

I

I

1 1 I

1, 4,3 1, 9,1 1,17,3 1, 7,2 1,10,7 1, 12 1, 7,3 1,12 1, 6,5 1,13,4 1,16,4

i

1,21, 1,21, 1,16,4 1,14,4 1,13,1 1,12, 1,13,6 1,13,4 1,12,1,

-,

-

1, 3,2

-

21

1

20

2

|

I

8

i

I

33 43

4

j

I

16

4

|

3

5

|

I

9

9

I

I

2

4

I

I

9

4

I

4

I

4

1

1

i

Quelle: Land: N H S t A Hann. 76c A 110-125 u n d 216-344, Rechnungen kurfürstlichen Kammmer (vor 1706 trennte Kammern in Celle Hannover) ,- Stadt Hannover: StAH B 6617m-6746g, Kämmereirechnungen Altstadt

I

|

1

j

11

1

Nr. der geund Nr. der

Angesichts der geringen Bezahlung stellt sich die F r a g e , wer unter diesen Bedingungen Pflegekinder aufnahm.

In der Tat scheint es in manchen

Gegenden

schwierig gewesen zu sein, Pflegeeltern zu finden 1 1 5 . In einigen Fällen nahmen deshalb Amtspersonen die Kinder a u f 1 1 6 . Im hildesheimischen A m t Liebenburg wurden 1 7 3 7 vier Kinder versorgt, j e eines davon bei dem Bauermeister von Dorstadt, dem Amtmann, dem Amtsschreiber und einer armen Frau. Amtmann und Schreiber scheinen die Kinder a u f eigene Kosten versorgt zu haben, der Bauermeister und die Frau erhielten einen Zuschuß von j e 1 Rtlr. 12 M g r . monatl i c h 1 1 7 . 1 7 7 0 bot ein Pfarrer an, ein Mädchen ohne Entgelt aufzunehmen 1 1 8 .

115

116

117 118

Im Amt Ruthe konnte 1772 für zwei Kinder nur mit Mühe eine Pflegemutter gefunden werden, die zudem den hohen Preis von 20 Rtlr. pro Kind sowie zusätzliches Kleidergeld forderte. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9900, Schreiben des Amtes Ruthe vom 26.6.1772. Von einem Mangel an Pflegeeltern berichtet auch BLUM, Staatliche Armenfiirsorge, 105. In Hannover der Obervogt Schirmer im Mai 1780 und im Januar 1800 (StAH B Nr. 6716g u. Nr. 6735g), in Celle der 'Wilddiebenschließer' Holsten (NHStA Hann. 76c A Nr. 221, Celler Kammerregister 1695/96.) NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9907, Schreiben des Amtes vom 1.1.1737. Ebd. Nr. 9909, Schreiben des Amtes Liebenburg vom 30.1.1770.

Unversorgte Kinder als unerwünschte Last

195

Die wenigen näheren Angaben über Pflegepersonen bestätigen die Annahme, daß die Aufnahme von Pflegekindern vor allem für mittellose Personen interessant war; es handelte sich um Witwen 119 , Soldatenfrauen 120 und die Frau eines Gefängnisschließers 121 . Für diese Personen, meist wahrscheinlich alleinstehende Frauen, scheint die Aufnahme von Kindern trotz der geringen Pflegesätze ein willkommener Verdienst gewesen zu sein. Die Rechnungseinträge zeigen, daß verschiedene Leute nacheinander mehrere Kinder aufzogen, so Elisabeth Catharina Wiechmann in Hannover, die 1739 ein Findelkind namens Kirchmann und ein Jahr später eines namens Jakob aufnahm 122 . Möglicherweise suchten sich aber Pflegeeltern auch anderweitige Vorteile durch die Aufnahme von Kindern zu verschaffen, etwa indem sie die Kinder nicht ausreichend ernährten und damit Geld sparten oder sie zum Betteln ausschickten123.

2.3.

Die Belastung der Gemeinden

Die Versuche, sich unliebsamer Kostgänger auch mit fragwürdigen Mitteln zu entledigen, lassen die Frage nach der tatsächlichen Belastung der Gemeinden aufkommen. Nicht nur über Bedürftige, sondern auch über tatsächliche Unterstützungsempfänger sind verläßliche Zahlenangaben für ein größeres Gebiet jedoch aufgrund der fehlenden Quellengrundlage unmöglich. Dies gilt besonders für den ländlichen Bereich; Angaben über die Zahl der von einzelnen Ämtern oder Gemeinden zu versorgenden Kinder liegen nur in wenigen Fällen vor. Die Celler Burgvogtei unterhielt im Februar 1702 sechs Kinder im Alter zwischen zwei und 13 Jahren, im März mußten noch drei Kinder aufgenommen werden 124 . Vom Amt Lauenstein wurden 1743 elf alleinstehende Kinder versorgt, davon drei auf Kosten der Kammer, acht auf Kosten der Einwohner 125 . Die im Amt Lauenstein 119

120

121 122

123

124 125

StAH Nr. B 6682g, Rechnung der Kämmerei 1747/48, Witwe Rennekamp; ebd. Nr. 6735g, Rechnung 1799/1800, Witwe Störrien. Zwei weitere Witwen in NHStA Hann. 76c A Nr. 231, Rechnung der kurfürstlichen Kammer 1706/07. NHStA Hann. 76c A Nr. 220, Celler Kammerregister 1694/95 (zwei Frauen); NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Schreiben der herzoglichen Kammer vom 4.7.1694. Ebd., Schreiben des Burgvogtes vom 15.5.1680. StAH B Nr. 6673g und 6674g, Rechnungen der Kämmerei 1739/40 und 140/41. Weitere Beispiele in NHStA Hann. 76c A Nr. 215, Celler Kammerregister 1689/90, Hans Ebelings Frau; ebd., Nr. 218, 1692/93, Marie Scheffers; ebd., Nr. 221, 1695/96, Anne Behling. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9909. Der Schuster Andreas Pillmann erbot sich im November 1769, zwei Kinder für je 16 Rtlr. jährlich (1 Rtlr. 12 Mgr. monatlich) zu versorgen, die mit ihrer kürzlich verstorbenen Mutter in seinem Haus gelebt hatten. Der Amtmann von Liebenburg, von der Regierung um Auskunft über die Kinder und den Schuster Pillmann gebeten, äußerte am 30.1.1770 die Befürchtung, daß Pillmann nur auf das Geld spekuliere und zudem die Kinder zum Betteln schicken werde, wie er es mit einem Pflegekind schon früher getan habe. Vgl. zu diesem Problem auch KAPPL, Not, 21 lf. NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Berichte vom 2.2. und vom 29.3.1702. NHStA Hann. 74 Lauenstein Nr. 542, "Specificatio" 1743.

196

Armenpflege und öffentliche Ordnung

gelegene Gemeinde Eldagsen hatte 1746 acht Kinder auf ihre Kosten zu versorgen 126 . Legt man die Angaben aus mehreren Orten des ehemaligen Amtes Lemförde im Jahr 1811 zugrunde, scheinen Kinder den größten Teil der Unterstützungsempfänger auf dem Land ausgemacht zu haben: Die Gemeinde Lemförde unterhielt fünf alleinstehende und neun bei ihren Eltern lebende Kinder sowie eine Witwe. In Hüde, Lembruch und Marl waren es insgesamt vier bei ihren Eltern lebende Kinder, in Stemshorn sechs Kinder bei ihren Eltern und eine Witwe, in Brockum fünf bei ihren Eltern lebende Kinder und in Quernheim drei Kinder und eine Witwe 127 . Je nach Größe der Gemeinde war die Belastung durch die Kinder sehr unterschiedlich. Der nur aus 45 Häusern und 344 Einwohnern bestehende Ort Dedensen 128 mußte 1813 ebenso wie das fast dreimal so große Weende 129 für die Versorgung von sechs Waisen aufkommen 130 . Der Aussagewert solcher Zahlenangaben ist jedoch nicht allein in statistisch-methodischer Hinsicht begrenzt. Die Anzahl der Unterstützungsempfänger sagt nichts über die tatsächliche und erst recht nichts über die subjektiv empfundene Belastung einer Gemeinde aus 131 . Für diese spielten die Dauer des Unterhaltes und die wirtschaftliche Lage der Dorfbewohner eine erhebliche Rolle. Die hildesheimische Gemeinde Bledeln hob in einem Schreiben hervor, daß sie seit über 20 Jahren ständig zwei Kinder zu versorgen gehabt habe 132 . Die nur 16 Familien umfassende 'Brunnengemeinde' in Rehburg, deren Armenkasse nach Auskunft von Drost und Pfarrer schon 1806 "zum nothdürftigen Unterhalte der Orts Armen nicht hinreichte]" 133 , sah sich im folgenden Jahr damit konfrontiert, vier Kinder auf ihre Kosten zu versorgen 134 . Auch die Gemeinde Bokeloh war nach Angabe des Amtmannes "größtentheils selbst zu arm, um fremden [sie!] Kinder zu ernähren, und ein Armenblok [war] nicht vorhanden" 135 . Verschlimmert wurde die Situation, wenn ein Ort sehr arm und dort wie in Burgdorf im Amt Schladen "ziemlich viel in Verfall gerathene Hofe befindlich" waren 136 . 126 127 128 129

130 131

132 133 134 135 136

NHStA Dep. 7b Nr. 288, Bescheinigung vom 19.2.1746. NHStA Hann. 74 Diepholz Nr. 899. HASSEL, Statistisches Repertorium, 23. In Weende bei Göttingen, das 1038 Einwohner zählte, gab es 1812 zumindest sechs Waisen oder verlassene Kinder sowie neun erwachsene Arme. KKAGö Pfarrarchiv Weende KR II Nr. 1, Bericht vom 11.12.1812; HASSEL, Statistisches Repertorium, 116. NHStA Hann. 52 Nr. 3228, Bericht vom 6.5.1813. Vgl. die grundsätzlichen Überlegungen zum Stellenwert auch niedriger Zahlenangaben in der "überschaubar[en]" Welt des vorstatistischen Zeitalters bei SCHUBERT, Arme Leute, 4. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9900, Schreiben der Gemeinde Bledeln vom 8.11.1772. NHStA Dep. 7b Nr. 300, fol. 44f., Pro Memoria vom 16.1.1806. Ebd., fol. 17f., Schreiben des Drosten vom 26.1.1807. NHStA Hann. 93 Nr. 2916, fol. 238f., Schreiben des Amtes Bokeloh vom 7.6.1791. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9908, Bericht des Amtes vom 10.10.1774.

Unversorgte Kinder als unerwünschte Last

197

Auch den landesherrlichen Obrigkeiten konnte nicht verborgen bleiben, daß die Belastungen der Gemeinden infolge des Heimatprinzips je nach ihrer Größe sehr unterschiedlich waren. Für den Fall, daß "in einem Kirch-Spiele mehr Arme vorhanden, und an denen Grentz-Oertern an Fremde mehr gegeben werden müste, als die dasige Casse ertragen kann" 1 3 7 , befand die hannoversche Armenordnung von 1702, daß benachbarte Kirchspiele einen Zuschuß geben sollten 138 , was diese allerdings nicht ohne Widerstand hingenommen haben dürften. Auch in Hildesheim mußten immer wieder Ausnahmen vom Heimatprinzip zugelassen werden. 1774 genehmigte die Regierung dem Amt Schladen, "daß die fündlingsund andere Arme Kinder aus den Atzungs-Kosten gemeinschaftlich erhalten werden sollen", sofern "sämtliche Amtsdörfer sich gütlich dahin vereinbaren" 139 Auch im Amt Ruthe wurden die Kosten für ein verlassenes Kind ausnahmsweise auf das ganze Amt umgelegt, da die Gemeinde Gleidingen schon zwei Kinder unterhielt 140 . Noch unter der preußischen Verwaltung wurde 1805 eine Ausnahme vom Heimatprinzip gemacht: Zumindest im Justizamt Wohldenberg durften die Verpflegungskosten auf das ganze Amt umgelegt werden, was mit der geringen Einwohnerzahl mancher Dörfer begründet wurde 141 . Für die Städte sind teilweise genauere Angaben über die Zahl der unterstützten Kinder im Verhältnis zu allen Armen vorhanden. In Hannover wurden um 1800 ständig etwa 400 bis 600 Dauerarme versorgt, nicht eingerechnet Kranke und Durchreisende 142 . Darunter befanden sich in Durchschnitt jährlich ungefähr 90, 1801/02 sogar 124 Kinder 143 , für die die Armenkasse die volle Verpflegung bezahlte. Eine erhaltene Liste des Armenkollegiums von 1791 zeigt, daß es sich nicht ausschließlich um alleinstehende Kinder handelte: 58 Kinder lebten bei Pflegefamilien, für 24 Kinder erhielten die Eltern das volle Verpflegungsgeld 144 . Der Anteil dieser Kinder an den Dauerarmen lag in den 1790er Jahren bei etwa 20 Prozent, im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts bei 15 Prozent. Unklar ist allerdings, wie viele Kinder indirekt durch die Unterstützung an erwachsene Arme profitierten. 137 138

139 140

141 142

143

144

CCC, Bd. 1, Cap. I, 957, Almenordnung Calenberg 1702. Ein solcher Fall ist überliefert in NHStA Hann. 74 Lauenstein Nr. 542, Schriftwechsel 18081810. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9908, Reskript vom 6.12.1774. Ebd. Nr. 9900, Regierungsreskript vom 8.6.1773. Ein weiterer Fall aus dem Amt Liebenburg 1758 befindet sich in NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9907. NHStA Hild. Br. 10 Nr. 1548, Schriftwechsel vom 25.6. bis 16.8.1805. Uebersicht der allgemeinen Armenpflege des Königl. Churfiirstl. Armencollegiums zu Hannover, in: NHM 5-19 (1795-1808); Nachricht vom Zustande der Hannoverschen Armencasse von Michaelis 1808 bis dahin 1809, in: NHM 19 (1809), 1649-1662. Uebersicht der allgemeinen Armenpflege (...) Michaelis 1801 bis dahin 1802, in: NHM 12 (1802), 1663-1678. StAH A Nr. 3995, "Verzeichniss der Kinder welche zwar aus königl. Armenkafie eine Beyhülfe zur Erziehung erhalten, im eigentlichen Verstände aber nicht ausgethan sind" vom 5.7.1791.

198

Almenpflege und öffentliche Ordnung

In Göttingen, wo die Armenkasse jährlich zwischen 35 und 45 Kindern vollständig versorgte 145 , wurden außerdem Erziehungsbeihilfen an Witwen und Hausarme gezahlt. In den Jahren 1785 bis 1790 erhielten durchschnittlich 15 von 250 ständigen Hausarmen, also etwa sechs Prozent, eine Unterstützung wegen "unversorgter Kinder". Im Jahr 1791 wurden insgesamt 122 Kinder unterstützt, von denen 39, die als "völlig verlassen" bezeichnet wurden, bei Pflegeeltern lebten, 38 bei ihren alleinstehenden Müttern und 45 bei ihren Eltern 146 . Ein Jahr später waren es 129 Kinder: 29 lebten bei Pflegeeltern, 62 bei ihren Müttern und 38 bei ihren Eltern 147 . Angesichts von ungefähr 250 erwachsenen Hausarmen läßt sich festhalten, daß Kinder unter den dauerhaft versorgten Armen einen bedeutenden Anteil von mindestens einem Drittel stellten. In Wirklichkeit aber dürfte das Problem der Kinderversorgung eine noch wichtigere Rolle innerhalb der Armenunterstützung gespielt haben, da ja nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern aus diesem Grund arm waren. Nach Wagemanns Angaben von 1796 zählten zu dieser Gruppe insgesamt 241 Personen 148 . Angaben aus anderen Städten unterstreichen die Bedeutung der Kinderversorgung für das Armenwesen: In Celle waren 1810 von 163 unterstützten Armen 31, also 19 Prozent, 15 Jahre und jünger 149 . In Northeim machten Kinder bis 15 Jahre im Jahr 1808 sogar etwas mehr als die Hälfte aller von der Armenkasse unterstützen Armen aus 150 . Über die Belastung der Städte geben diese Zahlen allerdings wiederum nur begrenzt Auskunft. Aus zeitgenössischer Sicht war es unstreitig, daß Städte die Armen geradezu anzogen. Die Geheimen Räte äußerten 1769 gegenüber der Kriegskanzlei, Hannover als "die größeste, und die Residentz-Stadt des Landes" habe ein besonderes Armenproblem, da die "Armen alhier vorzüglich vor allen Städten des Landes sich samlen und häufen" 151 . Dem habe schon die Armenordnung von 1700 Rechnung zu tragen versucht. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde vor allem die Belastung der Armenkassen durch Kinder als besonders problematisch empfunden. Reaktion darauf waren die An die Wohlthäter der Göttingischen Armen; Nachricht über die Versorgung der Armen in Göttingen; Nachricht über die Armenpflege in Göttingen im Jahr 1812, Göttingen 1812. Eine handschriftliche Liste der Armenverwaltung von 1788 verzeichnet allerdings nur 24 Kinder. StAGö AA Wohlfahrt Armensachen und Stiftungen Nr. 233. 146 Nachricht über die Versorgung der Armen in Göttingen vom Januar 1791 bis dahin 1792, Göttingen 1792. 1 4 7 Nachricht über die Versorgung der Armen in Göttingen vom Januar 1792 bis dahin 1793, Göttingen 1793. 1 4 8 Nachricht über die Versorgung der Armen in Göttingen vom Jahr 1796, Göttingen 1796, 5-7. 1 4 9 NHStA Hann. 52 Nr. 2987. 1 5 0 StANom R VI Nr. 2, "Etat des Mendians de la Commune de Northeim", o. D. (Ende 1808). Danach gab es in Northeim 174 Arme, von denen 24 in den Spitälern St. Spiritus und St. Georg lebten. Die übrigen 150 Personen wurden von der Armenkasse unterhalten, darunter 39 Kinder unter zehn Jahren und 39 Kinder im Alter von zehn bis 15 Jahren. 1 5 1 NHStA Hann. 47 I Nr. 523, Schreiben der Geheimen Räte an die Kriegskanzlei vom 12.12. 1769. 145

Unversorgte Kinder als unerwünschte Last

199

in Göttingen 1795 und Hannover 1797 erlassenen Verordnungen, nach denen die Aufnahme von Pflegekindern und Schwangeren nur mit obrigkeitlicher Genehmigung erlaubt wurde 152 . Hintergrund war eine drastische Zunahme der zu versorgenden Kinder. In Göttingen hatte sich die Zahl der Kinder in Kostfamilien nach den Angaben von 1787 in den letzten Jahren vervierfacht 153 . In Hannover waren die Ausgaben für die Verpflegung von Kindern unter zwei Jahren von 37 Rtlr. 12 Mgr. im Jahr 1778 auf 180 Rtlr. 6 Mgr. im Jahr 1795 angestiegen. Parallel entwickelten sich die Kosten für die Kleidung armer Kinder, die von 298 Rtlr. 29 Mgr. 5 Pf. im Jahr 1785 kontinuierlich auf 1066 Rtlr. 25 Mgr. 7 Pf. im Rechnungsjahr 1799/1800 stiegen. Der Göttinger Pastor und Armenpfleger Ludwig Gerhard Wagemann hatte bereits 1790 darauf aufmerksam gemacht, daß die Zunahme der Bedürftigen und insbesondere der zu versorgenden Kinder die Armenkasse überlaste: "Ich weiß zwar wohl, daß die Versorgung verlassener Kinder einer der wichtigsten Gegenstände der Armenpflege ist, allein wenn die Anzahl zu groß wird, indem man zuviel thun will, [wird] gerade am wenigsten ausgerichtet" 154 . Die meisten Kinder gehörten nach Wagemanns Ansicht nicht wirklich zur Kommune. Vielmehr handele es sich um von ihren Eltern in der Stadt verlassene Kinder und vor allem um uneheliche Kinder, denn "geschwängerte Weibspersonen verzechten das Geld welches sie von dem Vater ihres Kindes zu seiner Versorgung erhalten hatten, starben hernach, oder gingen gar davon und ließen uns die Kinder zur Versorgung" 155 . Auch der Leiter der Göttinger Entbindungsanstalt, Friedrich Benjamin Osiander, machte in einer Stellungnahme von 1794 die Kinder auswärtiger Arbeiter, Dienstboten und zur Entbindung in die Stadt gekommener Frauen für die erhöhte Belastung der Armenkasse verantwortlich 156 .

152

153

154 155 156

Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Ordnungen der Stadt Göttingen, Verordnung vom 16.3.1795; NHStA Cal. Br. 23b Nr. 326, Verordnung für die Stadt Hannover vom 19.8.1797. Vgl. dazu auch Kap. III, Abschnitt 3.4. Nachricht über die Versorgung der Armen in Göttingen vom Januar 1786 bis dahin 1787, Göttingen 1787, 5. Vgl. auch Johanna-Luise BROCKMANN, Friedrich Benjamin Oslanders Bericht 'Über die Ursachen, warum so viele uneheliche und verlassene Kinder von Zeit zu Zeit der Stadt Göttingen zur Last fallen". Versuch einer sozialgeschichtlichen und biographischen Verortung, in: Göttinger Jahrbuch 30 (1982), 161-180, hier 172f. StAGö AA Wohlfahrt Armensachen Nr. 4, Schreiben Wagemanns vom 9.11.1790. Ebd. StAGö kleine Erwerbungen Nr. 66, "Bericht an Königl. Regierung, warum so viele uneheliche Kinder der Stadt Göttingen zur Last fallen". Zur Datierung und Zuschreibung vgl. HelgaMaria KÜHN, Ein Fund aus der Mülltonne. "Bericht an (die) Königl. Regierung, warum so viele uneheliche Kinder der Stadt Göttingen zur Last fallen" von Friedrich Benjamin Osiander, in: Göttinger Jahresblätter 1981, 45-51. Zur Entstehung des Berichtes vgl. BROCKMANN, Oslanders Bericht, bes. 174ff.

200

Armenpflege und öffentliche Ordnung

Er schlug deshalb eine bessere Zuzugskontrolle sowie eine amtliche Beaufsichtigung privater Vermittlungen von Pflegekindern und Ammen vor 157 . Die Aufnahme von Pflegekindern und fremden Schwangeren wurde in den obengenannten Verordnungen geregelt 158 . Eine weitere Verordnung von Ende 1795 unterwarf die Anstellung von Ammen in Göttingen der obrigkeitlichen Kontrolle 159 . Diese Maßnahmen hatten zunächst die gewünschte Wirkung: Die Verpflegungskosten für Kleinkinder fielen in Hannover nach 1800 auf ungefähr 50 Rtlr., die Kleidungskosten verzeichneten mit der zu erwartenden Verzögerung einen Rückgang ab 1804160. Auch in Göttingen ging die Zahl der bei Pflegefamilien lebenden Kinder vorübergehend leicht zurück. Trotz verschärfter Kontrollen bei der Aufnahme fremder Frauen in der Stadt161 und der rigorosen Ausweisung lediger Schwangerer, die nicht aus Göttingen stammten 162 , stieg die Zahl der zu versorgenden Kinder ab 1803 aber wieder auf über 30 pro Jahr an. Die Polizeikommission erwog deshalb ein härteres Vorgehen gegen Reisende und Studenten 163 , konnte aber nur eine Aufhebung der seit 1793 bestehenden Fristen für Alimentationsklagen gegen Studenten erreichen 164 . Über das Ausmaß der kindlichen Versorgungslosigkeit lassen die besprochenen Zahlen vorläufig noch keine Aussage zu. Einmal fehlen die Insassen der in den genannten Städten bestehenden Waisenhäuser und die nicht auf Kosten der Armenkasse versorgten Findelkinder, sodann wurden nur die Armen erfaßt, die den Definitionen der obrigkeitlichen Armenordnungen entsprachen. Kindernot und Kinderarmut aber äußerten sich auch in anderer Form.

157 158 159

160 161

162

163

164

Die Vorschläge sind im einzelnen zusammengefaßt bei KÜHN, Fund, 48ff. Vgl. Kap. III, Abschnitt 3.4. NHStA Hann. 87 Göttingen Nr. 128, undatierte Verordnung (wahrscheinlich Ende Oktober 1795). Uebersicht der allgemeinen Armenpflege (...) 1801ff. 1802 wies die Regierung die Polizeikommission an, den Zuzug fremder Frauen noch schärfer zu überwachen, da ein gewisser Dr. Gumbrecht Schwangere in die Stadt ziehe, um sie zu entbinden. UAGö 5a Nr. 55. Die konsequente Ausweisung fremder Schwangerer oder lediger Mütter belegt eine Liste der Polizeikommission von Ende 1805. NHStA Hann. 87 Göttingen Nr. 127. Ebd. Am 10.7.1805 schlug die Polizeikommission vor, Reisende, die als Väter unehelicher Kinder in Frage kämen, noch vor der Geburt zur finanziellen Verantwortung zu ziehen, sowie bei Studenten die Eltern und Vormünder Uber die mögliche Vaterschaft zu informieren. Dieses Vorgehen wurde allerdings von der Universiät am 12.10.1805 abgelehnt. Siehe dazu Kap. II, Abschnitt 2.

201

Kinderbettel und Randgruppenkinder

3.

Kinderbettel und Randgruppenkinder: Kinder im Zugriff obrigkeitlicher Ordnungspolitik

3.1.

Zur Abgrenzung von Bettlern, Vaganten und Hausarmen

Voraussetzung für die Bindung der Armenfürsorge an die Kommunen und das Heimatprinzip war, den Kreis der almosenberechtigten Armen möglichst eng zu begrenzen. Dies sollte mit ordnungspolitischen Mitteln durchgesetzt werden, der Bekämpfung des Bettels und der Ausgrenzung landfahrender Gruppen. Die Calenberger Armenordnung von 1712 verkündete die Absicht, daß die "Unterthanen von den beschwerlichen und muhtwilligen Gassen-betteln und unbescheidenen Land-Läuffern gleichfals befreyet" werden sollten165. Zur Kontrolle der Bettelverbote wurden

in den Städten eigens sogenannte Armen-,

Bettel- oder

'Prachervögte' eingestellt, die mit "starcken Peitschen (...) versehen" 166 in den Gassen patrouillieren sollten167; auf dem Land sollten die Einwohner auf fremde Bettler achten und diese festnehmen 168 . Gleichzeitig unterschieden die Obrigkeiten die Armen strikt in 'gute', also berechtigte, und 'schlechte', d.h. als gesellschaftsschädlich geltende Gruppen. Zu den ersten zählten neben alleinstehenden Kindern, Witwen und armen Familien vor allem Alte und Gebrechliche, der zweiten Gruppe wurden alle arbeitsfähigen Leute, sogenannte 'starke' Bettler, prinzipiell aber auch alle Randständigen und Nichtseßhaften mit ihren Familien zugerechnet 169 . Diese begriffliche Trennung suggeriert die Existenz zweier klar voneinander getrennter Gruppen: almosenberechtigte, seßhafte Arme hier, 'arbeitsunwillige' Randgruppen dort 170 . Tatsächlich aber spiegelt sich darin bloß einseitig der 'Blick von oben', die obrigkeitliche Ausgrenzung mißliebiger Verhaltensweisen; der Wirklichkeit der betroffenen Menschen wird diese Trennung nicht gerecht. Auch unter Bettlern und Vaganten fanden sich Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft, Abgrenzungen und Trennlinien zwischen den einzelnen Gruppen, aber auch Gemeinsamkeiten mit ansässigen Armen verliefen unabhängig von den obrigkeitlichen Kriterien. Diese unscharfen Abgrenzungen lassen es zweifelhaft er165 166 167

168 169

170

CCC, Bd. 1, Cap. I, 944. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1076, Armenordnung Stadt Celle 1691. Ebd., 1069, Armenordnung Stadt Celle 1681; CCC, Bd. 1, Cap. I, 967, Armenordnung 1700; ebd., 952, Armenordnung 1702. Zum Berufestand der Armenvögte vgl. Peter ALBRECHT, Die Armenvögte der Stadt Braunschweig um 1800, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 58 (1986), 55-75; zu den Celler Prachervögten auch CASSEL, Celle, Bd. 1, 462; zu Göttingen ROHRBACH, "Gesindel", 192-194. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1109, Armenordnung Lüneburg 1712. Siehe die verschiedenen Armenordnungen. Vgl. auch BRÜGMANN, Armenpflege, 97; METZ, Staatsraison, 13; SCHUBERT, Arme Leute, 186. So etwa bei BRÜGMANN, Armenpflege, 108.

202

Aimenpflege und öffentliche Ordnung

scheinen,

Hausarme,

Bettler

und

Vaganten pauschal

unter

dem

Begriff

'Unterschicht' zu subsumieren. Die Gruppen können aber auch nicht von vornherein definitorisch voneinander abgegrenzt werden 171 . Die obrigkeitlichen Kriterien müssen daher immer wieder im Einzelfall überprüft werden, um zu erfahren, welche Menschen aus welchem Grund von ordnungspolitischen Maßnahmen betroffen waren.

3.2.

Kinderbettel u n d Kinderkriminalität in den Städten

Das in der frühen Neuzeit so drängende Bettlerproblem war nicht zuletzt auch ein Problem bettelnder und streunender Kinder 172 . Dies deuten schon die Armenordnungen an. In Celle ist 1681 von Bettlern, "es seyn Kinder oder Alte, Auswärtige oder Einheimische" 173 die Rede, 1711 spricht die neue Ordnung von "Bettlern, so wol Erwachsenen als Kindern" 174 . Wie ausgeprägt der Kinderbettel in den größeren und Residenzstädten war, zeigt die Erwähnung in einem eigenen Punkt in der Celler Armenordnung von 1711: "Was aber die auf der Betteley ertappete Kinder betrift, sollen dieselben, wann es in der Stadt geschiehet, durch des Magistrats Armen-Voigte zu dem regierenden Bürgermeister, oder der in dessen Abwesenheit zu dem, ihm zu Beobachtung dieses Armen-Wesens substituirten Rahts-Verwandten, diejenigen Kinder aber, so in den Vorstädten oder auf dem Schloß-Platze bettelnd angetroffen, nach Unser Burg-Voigtey geführet, und daselbst um ihre Namen und wer ihre Eltern, oder was es sonst vor Leute seyn, bey denen sie sich aufhalten, befraget, und wann sie solches ausgesagt, sodann zwar mit der Bedrohung, daß, wenn sie wieder auf den betteln betroffen würden, mit Gefängnis oder sonsten castigiret [i.e. gezüchtigt] und bestraft werden sollen, dimittiret, deren Eltern, oder dieselbigen Kinder bey sich habende Leute aber, hernach vorgefordert, und als wenn sie selbst gebettelt hätten, auf die hier oben bedeutete massen, oder sonsten, nach Befinden bestraft werden" 175 . 171

172

173 174

175

Vgl. die im Ansatz richtigen Überlegungen bei FINZSCH, Obrigkeit und Unterschichten, 15, 23-26, 46. Die Problematik wird verdeutlicht durch Finzschs teilweise widersprüchliche Auseinandersetzung mit RÜTHER, Menschen auf der Straße, und SCHUBERT, Arme Leute. Einmal wirft er den genannten Arbeiten vor, die Unterschichten als "offene Liste" (15, 25) zu begreifen, Hann wieder moniert er die "Streckung [des Begriffs] in einem definitorischen Prokrustesbett" (45). Vgl. SCHUBERT, Soziale Randgruppen, 327; ders., Kirchenordnungen, 129. Für das 18. Jahrhundert am Beispiel Braunschweigs ALBRECHT, Armenvögte, 62; andeutungsweise am Beispiel Frankens auch SCHUBERT, Arme Leute, 136. Beispiele aus der zeitgenössischen Publizistik zitiert MAUL, Formen der sozialen Intervention, 187ff. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1069. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1079. Die fürstliche Armenordnung für Hannover von 1700 klagte, viele einheimische und fremde Bettler hätten es "zu einem straffbahren, und höchstschädlichen Müßiggänge und liederlichen sündhaften leben zu samt ihren Kindern gebracht". CCC, Bd. 1, Cap. I, 963-970, hier 964. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1081, Armenordnung Stadt Celle 1712.

Kinderbettel und Randgruppenkinder

203

Zehn Jahre später, 1721, wurde auch für die Stadt Hannover eigens eine Verordnung gegen den Straßenbettel erlassen, da "die bisherige Veranstaltung wegen des ohnleidlichen Gassen-Bettelns in Unserer Stadt Hannover nicht zulänglich gewesen" sei. Wiederum waren bettelnde Kinder als besonderes Problem explizit aufgeführt, gegen die mit derselben unerbittlichen Härte wie gegen Erwachsene vorgegangen werden sollte: "Die auf dem Gassen-Betteln betroffene Kinder von 10. Jahren und darunter/ welche zur Arbeit noch nicht zu gebrauchen/ sind mit Ruthen zu streichen/ und es ihrer Wegschaffung halber zu halten/ wie wegen anderer Gassenbettler verordnet worden" 176 . Eingehende Nachrichten über das Aufgreifen bettelnder Kinder liegen nur in Einzelfallen vor. Eine Ausnahme macht die Stadt Celle für die Jahre von 1697 bis 1699. Grund dafür ist eine Anordnung der Regierung vom Mai 1697, daß die Prachervögte besonderes Augenmerk auf bettelnde Kinder haben und diese "ohn Unterschied, ob sie noch Eltern oder keine mehr" hätten, im Waisenhaus abliefern sollten, wo sie "bey geringerer Kost und Unterhaltung [als die Waisenkinder] solcher gestalt zur Arbeit füglich angestrenget werden sollen, daß sie so viel als möglich die Kost verdienen können" 177 . Bereits einige Tage nach dieser Anordnung hatten die Vögte acht Kinder im Waisenhaus eingeliefert 178 . Im nächsten Monat Juni wurden drei 179 , in den folgenden Monaten dann sporadisch weitere Kinder aufgegriffen. Höhepunkte waren noch einmal die Monate Januar und Dezember des Jahres 1698, in denen zehn bzw. sechs Kinder beim Betteln erwischt wurden 180 . Der Zustand der Kinder war oft erbarmungswürdig und deutet auf bitterste Armut hin: Ein einähriger Junge hatte "den bösen Grindt aufm Kopffe" 181 , ein anderer war "Mit ungeziffer sehr überhäufft" 182 , da er im Stroh hatte schlafen müssen. Ein Mädchen war "schlecht bekleidet, und hat den Wolf im Hintern Schenckel, welcher zu zeiten aufbricht, kann deswegen nicht wohl gehen" 183 Über einen älteren Jungen, der "gantz nacket und bloes" 184 war, hieß es zudem,

176 177 178 179 180

181 182 183 184

NHStACal. Br. 23b Nr. 180, 21.5.1721. StACe L 3 Nr. 223, Schreiben der Regierung an die Stadt vom 11.5.1697. StACe ebd., Schreiben der Waisenhausprovisoren an die Regierung vom 20.5.1697. StACe ebd., 18.6. und 28.6.1697 und 20 B Nr. 2,1, 21.6.1697. StACe L 3 Nr. 223, passim. Im Januar 1698 wurden zwar nur vier Kinder im Waisenhaus eingeliefert, sechs weitere aber in der Jurisdiktion des Hofamtmannes aufgegriffen. Ebd., Protokoll vom 8.1.1698. Ebd., Protokoll vom 20.5.1697. Ebd., Protokoll vom 6.1.1698. Ebd., Protokoll vom 7.9.1698. Ebd., Protokoll vom 8.10.1698.

204

Aimenpflege und öffentliche Ordnung

er "Hette vor 5 Wochen einen scharffen Fluß im Halse bekommen", infolgedessen er "unordentlich" redete. Nach ihrer Einlieferung im Waisenhaus wurden die Kinder nach ihrer Herkunft befragt. Einige stammten von auswärts; die meisten aber lebten in Celle und häufiger noch in den Vorstädten. Meist waren sie von ihren Eltern zum Betteln gezwungen worden, manchmal unter Androhung von Schlägen 185 . Der zehnjährige Johann Mathias Grene sagte, "Er habe (...) täglich 2 g. [Groschen] schaffen, oder in deren manqu6ment [i.e. Ausbleiben] schläge gewärtig sein müßen" 186 . Die sechsjährige Anna Elisabeth Meinecke, die immer mittwochs, samstags und sonntags betteln ging, mußte 5 Mgr. bringen oder "schläge gewärtig sein" 187 . Angesichts der Tatsache, daß andere Kinder gewöhnlich nur 1 Mgr. bis 1 Ggr. täglich erbettelten 188 , waren die Forderungen der Eltern sicherlich nicht leicht zu erfüllen. Mehrere Kinder wünschten daher selbst die Aufnahme in das Waisenhaus, "mit dem gehorsamsten Versprechen, sich woll zu 'schicken, undt fleißig zu arbeiten" 189 . Auch viele Eltern waren mit der Aufnahme in das Waisenhaus nicht nur einverstanden, sondern hatten die Kinder mit eben diesem Ziel auf die Straße geschickt 190 . In einigen wenigen Fällen aber wurden die Kinder den Eltern zurückgegeben 191 . Waren die Kinder zu alt für das Waisenhaus, wurden sie verwarnt und entlassen, nicht ohne zuvor gezüchtigt oder mit eintägiger Haft bei Wasser und Brot bestraft worden zu sein 192 . Mehr als die Hälfte der Kinder lebte bei nur einem Elternteil oder den Großeltern: von 26 Kindern hatten vier beide Eltern verloren, drei die Mutter und acht den Vater. Ein Drittel der Kinder gab an, noch Geschwister zu haben, die zum Teil ebenfalls bettelten. Das soziale Milieu bettelnder Kinder unterschied sich nicht wesentlich von dem anderer armer oder verlassener Kinder: Die Eltern lebten sämtlich in Armut und waren kaum in die städtische Gesellschaft integriert, zumal sie oft nicht aus Celle stammten: ein Knabe war "von Gebührt ein Brisacker" [i.e. Breisacher] und hielt sich mit seiner Mutter in Celle auf 1 9 '. Viele Kinder waren durch das Militär nach Celle gekommen, 17 von 26 Kindern hatten Soldaten als Väter. Auf die Not vieler Soldatenkinder gibt es im Zusammenhang mit dem Kinderbettel weitere Hinweise. Eine hannoversche Verordnung von 1725 berichtet von 185 186 187 188 189 190 191 192 193

Ebd., Protokolle vom 20.7.1698 u. 1.10.1698. Ebd., Protokoll vom 20.5.1697. Ebd. Ebd., Protokolle vom 29.12.1698 und 4.2.1699. StACe 20 B Nr. 2,1, Protokoll vom 13.10.1698, weitere Fälle 21.6.1697 und 7.12.1698. StACe L 3 Nr. 223, Protokolle vom 12.6.1697, 28.6.1697 und 11.2.1699. Ebd., Gesuch vom 2.10. und Anweisung vom 22.10.1697. Ebd., Protokolle vom 21.12. und 23.12.1698. Ebd., Protokoll vom 8.1.1698.

Kinderbette! und Randgruppenkiiider

205

Behinderungen der hannoverschen Bettelvögte durch Passanten194, besonders aber durch Angehörige der Garnison: "insonderheit hätten sie [sc. die Bettelvögte] über die in Garnison daselbst liegende gemeine Soldaten gar sehr geklaget/ daß dieselbe/ weil sie ihre zum Betteln ausgeschickte Kinder zur Straffe an die Obrigkeit extradiret, vornemlich diejenige seyn/ so ihnen am meisten hinderlich/ und ihnen die meisten insultes erwiesen, sie schölten/ drohen/ stosseten/ auch wol gar den Degen auf sie zöhen [sie!]/ und so oft sie einen Bettler durch die Wache führeten/ vor dem Anfall derer Mousquetiers kaum mehr durchkommen könten"195. Die Hinweise auf den Kinderbettel sind kontinuierlich. Im Jahr 1700 befahl die Celler Regierung dem Hofamtmann, die Eltern bettelnder Kinder vorzuladen und gegebenenfalls mit Gefängnis zu bestrafen196. 1701 erfährt man von Jungen, die vor den Toren Celles bettelten197. 1766 wurden drei Brüder verhaftet, die beiden jüngeren, weil sie gebettelt, der älteste, weil er die Bettelvögte bei der Ausübung ihrer Pflichten behindert hatte. Die Kinder waren offenbar bekannt, denn von einer Gefängnisstrafe für die Eltern wurde mit der Begründung abgesehen: "Gefangniß Strafe hilft bei den Eltern nicht, weil ihr Wohnung und ein Gefangniß von einerlei Art ist." Statt dessen sollten die beiden jüngeren Kinder zu einer Pflegefamilie gegeben werden, wozu sich auch schon eine Familie gefunden hatte, "wenn sie gegen die Anfalle und Stöhrungen der Eltern obrigkeitlich gesichert würde"198. Zu dieser Zeit ging auch die Landesregierung in mehreren Anordnungen bezüglich des Celler Armenwesens auf den Kinderbettel ein199. Auch aus anderen Städten sind Nachrichten von bettelnden Kindern bekannt200. Gerhard Ludwig Wagemann berichtete, daß Einwohner und Durchreisende in Göttingen "fast die ganze Woche durch, besonders aber am Sonnabend

194

195

196 197 198 199

200

Daß Bettel- und Annenvögte bei ihrer Tätigkeit keineswegs immer mit der Sympathie der Bevölkerung rechnen konnten, berichtet auch ALBRECHT, Armenvögte, 94. NHStA Cal. Br. 23b Nr. 185, vom 30.7.1725. Auch in anderen Zusammenhängen wird von der Behinderung der Bettelvögte durch Militärangehörige berichtet. Ein Tambour der 'Stttckkompanie' (Artillerieeinheit) in Celle drohte 1698, sein Kind mit Gewalt aus dem Waisenhaus holen zu wollen, und stellte den Bettelvögten Schläge in Aussicht. StACe L 3 Nr. 223, Protokoll vom 7.9.1697. Ebenfalls in Celle kam es 1789 zu einer Schlägerei zwischen Soldaten und Bettelvögten, nachdem sich ein Bettler in die Wache geflüchtet hatte. StACe 20 A Nr. 10, Schreiben vom 27.2.1789 nebst zahlreicher Beilagen. StACe 2 D Nr. 1, Schreiben der Regierung vom 24.12.1700. Ebd., Schreiben der Regierung vom 12.4.1701. Ebd., Schreiben vom 31.10.1766. StACe 20 A Nr. 8, Schreiben der hannoverschen Regierung vom 7.11.1766. StACe 2 D Nr. 1, Schreiben der Landesregierung vom 6.2.1769. 1776 hieß es in einer "Nachricht von der Einrichtung der Zellischen Armenanstalten": "Bettelnde Kinder werden auf vorgängige Genehmigung des Armen Collegii von den Armen Voigten gezüchtiget". StACe 20 A Nr. 9. Vgl. GEBAUER, Hildesheim, Bd. 2, 191.

206

Armenpflege und öffentliche Ordnung

von den armen Kindern mit Betteley geplagt wurden" 201 . In der "Nachricht über die Versorgung der Armen" für 1794 bedauerte er, daß es immer noch nicht gelungen sei, den Kinderbettel abzuschaffen, und nannte mehrere bettelnde Kinder und Jugendliche namentlich202.

Darunter befand sich angeblich auch ein

14jähriger, der für den Kauf von Branntwein bettelte, nach dessen Genuß er "an der fallenden Sucht" litt203. Aus Hildesheim berichtete der dortige Waisenkantor Voges um 1760 ein Beispiel eines Straßenkindes: Das jüngste Kind seiner verstorbenen Stiefmutter, dessen Geschwister bereits ins Waisenhaus aufgenommen worden waren, suchte "auf der Gaßen, baldt außerhalb baldt innerhalb der Stadt sein Nachtlager" 204 . Mangelnde Erziehung und Beaufsichtigung, aber auch die beengten Wohnverhältnisse in der Stadt führten dazu, daß viele Kinder einen großen Teil des Tages auf den Straßen verbrachten 205 . Der hannoversche Magistrat wandte sich 1765 in einer Verordnung gegen "allerhand böse und ungeschlachtete Jungen", die "nicht nur grosses Geschrei und Auflauf erreget, sondern auch Dienstmägde und andere Leute angefallen" und allerhand Unfug getrieben hätten 206 . Die Verordnung verbot daher streng allen Jungen das Betteln und Herumlaufen in der Stadt; Eltern und Lehrmeister sollten auf die Kinder acht geben und sie zu Schulbesuch und Arbeit anhalten. Für den Übertretungsfall wurde den Jungen angedroht, sie würden "öffentlich am Rathhause mit der Peitsche gezüchtiget"; Eltern, die ihre Kinder zum Betteln ausschickten, mußten beim ersten Mal mit achttägigem Gefängnis, im Wiederholungsfall mit der Ausweisung aus der Stadt rechnen. Ähnliche Verordnungen "gegen die muthwillige Jugend" wurden in Hannover 1789, 1796, 1797, 1800 und 1805 veröffentlicht 207 . In den Zusammenhang der Konflikte mit der obrigkeitlichen Ordnungspolitik gehört auch die Kinderkriminalität 208 . Die Kämmereirechnungen der hannoverschen Altstadt verzeichnen in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts mehrfach Gerichtsausgaben für straffällig gewordene Kinder, in der Regel wegen Eigentumsdelikten. Im Jahr 1700 wurde ein Junge an den Pranger gestellt, der die 201

202

203 204 205

206 207

208

Pastor Wagemann von Industrieschulen, in: Göttingisches Magazin für Industrie und Armenpflege 2 (1791), 2. Abt., 1-37, hier 22. Nachricht über die Versorgung der Armen in Göttingen vom Januar 1794 bis dahin 1795, Göttingen 1795, 17f. Ebd., 18. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 8, Schreiben Voges' (undatiert). Die Straße war für die Mehrzahl der Kinder, nicht nur die der Annen, der bevorzugte Aufenthaltsort. Dort wurde gespielt, es kam aber auch zur Bildung von Kinderhorden und zu Raufereien. SCHLUMBOHM, Kinderstuben, 220-222; ders., Traditionale' Kollektivität, 273-277. Zu Kinderbanden vgl. KAPPL, Not, 217ff. NHStACal. Br. 23b Nr. 326, Verordnung vom 23.1.1765. Ebd. Nr. 248, Verordnung vom 21.3.1789; ebd. Nr. 255, Verordnung vom 7.11.1796; ebd. Nr. 326, Verordnung vom 19.8.1797; Hannöverische Anzeigen 1800, 33. St., 996f„ und ebd., 1805, 12. St., 2268f. Vgl. KAPPL, Not, 214-217.

207

Kinderbettel und Randgruppenkinder

Pfundstücke von der Ratswaage gestohlen hatte, in den folgenden Jahren wurden weitere fünf Kinder wegen Diebstählen verhaftet 209 . 1806 wurde ein Junge aus (St.)

Andreasberg

im

Harz

zu

einer

sechswöchigen

Gefängnisstrafe

mit

"dreymaliger scharfen Züchtigung" verurteilt, drei andere Jugendliche, Brüder zwischen 16 und 18 Jahren, wurden wegen mehrerer Diebstähle in das hannoversche Arbeitshaus aufgenommen 210 . Einem Jungen in Göttingen wurde 1788 sogar gerüchteweise vorgeworfen, "daß er liederliches Gesindel zusammenführt" 211 . Die Maßnahmen gegen den Kinderbettel betrafen meist die Kinder ortsansässiger Eltern. Andere Maßnahmen dagegen bezogen sich gezielt auf umherziehende Arme, Vertriebene, Bettler und Randgruppen.

3.3.

Vagantenfamilien und jugendliche Bettler - Kinder am Rand der Gesellschaft Obrigkeitliche Bettelmandate und Randgruppenbekämpfung - Kinder unter privilegierten Almosenempflngern - umherziehende Kinder - vagierende Familien und alleinstehende Frauen mit Kindern

Die Verfolgung und Vertreibung fremder Bettler und Vaganten war das vorrangige ordnungspolizeiliche Anliegen der frühneuzeitlichen Territorialobrigkeiten 212 . Bereits im 16. Jahrhundert wurde die Abweisung fremder Bettler in den Kirchenordnungen postuliert und in den Reichspolizeiordnungen reichsweit zum politischen Ziel erklärt 213 . Die Polizeiordnung Herzog Christians von 1618 sah vor, fremde Bettler in ihre Heimatdörfer zurückzuschicken, und drohte ihnen bei wiederholtem Antreffen mit Gefängnis und Leibesstrafen 214 . Ähnliche Bestimmungen finden sich in den Celler Armenordnungen von 1681 und 1692 sowie denen für das Kurfürstentum Hannover von 1702 und 1712 215 . 209

210 211 212

213

214 215

1701 ist nochmals von einem "diebischen Jungen* die Rede, und in den folgenden Jahren wurden zwei Mädchen wegen Diebstahls verhaftet. 1707 gerieten nochmals ein Mädchen und 1710 ein 14jähriger Junge wegen Diebstahls in Haft. StAH B Nr. 6634m, 6636m, 6637m, 6642m und 6646m, Rechnungen der Kämmerei 1700, 1701/02, 1702/03, 1707/08 und 1710/11. NHStA Hann. 50 B Nr. 105. StAGö AA Wohlfahrtsamt Annensachen und Stiftungen Nr. 233. Vgl. dazu Carsten KÜTHER, Räuber und Gauner in Deutschland. Das organisierte Bandenwesen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, 2. Aufl., Göttingen 1987, 17; SCHUBERT, Arme Leute, 185f. und 284ff.; ders., Mobilität, 113ff.; Ingeborg TITZ-MATUSZAK, Mobilität der Armut. Das Almosenwesen im 17. und 18. Jahrhundert im südniedersächsischen Raum, in: Plesse-Archiv 24 (1988), 7-338, bes. 36-42. SCHUBERT, Kirchenordnungen, 126; Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Bd. 2, 332-345, hier 243, Polizeiordnung 1530; 587-606, hier 601, Polizeiordnung 1548; Bd. 3, 379-398, hier 393, Polizeiordnung 1577. CCL, Bd. 3.1, Cap. IV, 1-136, hier25f. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1072 und 1074; CCC, Bd. 1, Cap. I, 952f.; CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1107-1109.

208

Armenpflege und öffentliche Ordnung

A m Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts häuften sich die Mandate gegen auswärtige Bettler. Zwischen 1680 und 1740 wurden allein in Hannover und Celle beinahe dreißig solcher Verordnungen gegen fremde Bettler erlassen 2 1 6 , in der zweiten Jahrhunderthälfte dann etwas weniger 2 1 7 . In Hildesheim waren die Mandate gegen Vaganten zwar seltener, die Bestimmungen aber ähnlich: D i e Ausweisung von Bettlern, 'Zigeunern', 'Tartarn' und 'Schalksnarren' wurde in der Polizeiordnung von 1665 verfügt und während des folgenden Jahrhunderts in einigen Verordnungen bestätigt 2 ". A b etwa 1710 wurden die angeordneten Maßnahmen in den hannoverschen Gesetzen erheblich verschärft: Gebrechliche sollten nach viertägigem Gefängnis ausgewiesen, Arbeitsfähige dagegen zur Arbeit gezwungen werden, die Männner im Festungsbau und die Frauen in Spinn- oder Werkhäusern 219 . Eine weitere Verordnung setzte zwei Jahre später die Gefängnishaft für Gebrechliche auf acht Tage hinauf 2 2 0 . Besonders brutal war das Vorgehen gegen 'Betteljuden', die von jedermann ohne Furcht vor Strafen mißhandelt werden konnten 2 2 1 . Zur Ergreifung von Bettlern und anderen Vagierenden wurden regelmäßige Streifzüge, sogenannte Visitationen, angeordnet, oft auch in Absprache mit benachbarten Obrigkeiten 222 . Gegen Ende des 18. Jahrhunderts und vor allem in der preußisch-

216

217

218

219

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221

222

In Celle: 10.6.1684, 16.12.1685, 27.8.1689, 3.10.1691, 20.8.1692, 22.4.1693, 12.11.1697, 26.8.1698, 25.9.1698, 26.2.1701. CCL, Bd. 3.1, Cap. IV, 990ff.; in Hannover 28.1.1697, 28.7.1700, 13.11.1709, 20.1.1710, 12.8.1710, 27.8.1711, 11.8.1712, 26.8.1712, 14.8.1714, 28.10.1718, 13.9.1719, 11.2.1723, 6.10.1728, 7.10.1733, 8.3.1734, 27.10.1735, 3.5.1738, 16.8.1738. CCC, Bd. 3, Cap. IV, 146ff.; CCL, Bd. 3.1, Cap. IV, 1030ff.; StAGö AB Ms 14 Nr. 1,1. Verordnungen gegen Zigeuner vom 1.9.1770 und 3.8.1801, gegen Vagabunden vom 6.7.1796, 8.3.1798, 20.2.1802. Dazu kamen aber noch etliche Ausschreiben, also Anweisungen an nachgeordnete Behörden. Siehe SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 2-4, passim. NHStA Cal. Br. 23b Nr. 319, hildesheimische Verordnung gegen Zigeuner vom 29.11.1737; HLO, Bd. 1, 304-308, Vagabunden-Edikt vom 8.12.1763; HLO, Bd. 2, 100-103, BettlerEdikt vom 14.4.1784. CCL Bd. 3.2, Cap. IV, 1108, Armenordnung 1712; ähnlich CCL, Bd. 3.1, 1030-1032, Edikt vom 28.8.1710. CCC, Bd. 3, Cap. IV, 159-161, "Edictum wegen der fremden Bettler, Landstreicher, BettelJuden und Ziegeuqer" vom 14.8.1714. Ebd. Zu ähnlich harten Strafen für sogenannte Zigeuner vgl. Hermann ARNOLD, Die Zigeuner. Herkunft und Leben der Stämme im deutschen Sprachgebiet, Ölten und Freiburg 1965, 43f.; Michael FRANK, "...Dass Hochdero Lande und Untertanen davon rein und unbeschwert bleiben sollen" - Lippische Obrigkeit und Sinti in der frühen Neuzeit, in: Karin BOTT-BODENHAUSEN (Hg.), Sinti in der Grafschaft Lippe. Studien zur Geschichte der "Zigeuner" im 18. Jahrhundert, München 1988, 43-65; RÜTHER, Räuber und Gauner, 25; SCHUBERT, Arme Leute, 247f. CCC, Bd. 1, Cap. I, 952f., Armenordnung 1702; Ebd., 159-161, Edikt vom 14.8.1714. Zu den Visitationen vgl. auch unten, passim; außerdem Andrea FLASPÖHLER, "...Genügsam bekannt, daß die bisherigen Zigeuneijagden von keinem Effect sind* - Visitationen in Lippe, in: BOTT-BODENHAUSEN (Hg.), Sinti, 67-93; SCHUBERT, Arme Leute, 313ff. und passim.

Kinderbettel und Randgiuppenkinder

209

französischen Zeit kam es zu einer neuerlichen Intensivierung der Bettlerverfolgung und einer effizienteren Gestaltung der polizeilichen Maßnahmen 223 . Allerdings wurden auch Ausnahmen von diesen harten Maßnahmen gemacht. In den Celler Armenordnungen vom Ende des 17. und den kurhannoverschen Armenordnungen vom Beginn des 18. Jahrhunderts wurden ausdrücklich bestimmte ausländische Almosensucher privilegiert, etwa Kriegsvertriebene, Brandgeschädigte ('Abgebrannte'), aus türkischer Gefangenschaft entlassene Geiseln, Konvertiten und 'Exulanten' 224 . Diesen war zwar ebenfalls das Betteln untersagt, sie konnten aber aus den Armenkassen eine Beihilfe erhalten. Da diese Privilegien zum Teil von den aktuellen politischen Verhältnissen abhingen, unterlagen sie auch deren Wandel. So wurde nach dem Nachlassen der Bedrohung durch die Osmanen 1745 das Sammeln für in türkischer Gefangenschaft befindliche Christen in Hannover untersagt 225 . In der zweiten Jahrhunderthälfte schließlich wurden die Zahlungen an durchreisende Almosensuchende allmählich eingestellt 226 . Genauere Angaben über die Zahl der vagierenden Population 227 können für das Untersuchungsgebiet nicht gemacht werden, da die Quellenlage noch weit unzulänglicher ist als im Falle der sogenannten Hausarmen 228 . Allenfalls beiläufige Erwähnung findet in der Forschung, daß sich unter diesen Vaganten nicht selten ganze Familien und alleinreisende Kinder befanden 229 . Die Erfassung vagierender Personen ist ausgesprochen schwierig, da sie nur selten in den Quellen 223

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227

228 229

SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 4, passim. Ein Beispiel für die Ausweitung polizeilicher Maßnahmen ist eine Visitation, die am 15.2.1808 um 9 Uhr abends in Zusammenarbeit der preußischen Behörden für Hildesheim, der hannoverschen Exekutivkommission und der französischen Gendarmerie durchgeführt wurde. NHStA Hann. 51 Nr. 1484. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1072, Annenordnung Stadt Celle 1681; ebd. 1074f., Aimenordnung Stadt Celle 1692. Die hannoversche Aimenordnung von 1700 nennt arme Schüler und Studenten, Konvertiten und durch Reichskriege Geschädigte, CCC, Bd. 1, Cap. I, 967 und 969. Präziser die Celler Armenordnung von 1711, in der folgenden Gruppen das Almosensammeln erlaubt wird: Kriegsgeschädigte ohne Unterschied der Religion, protestantische Glaubensflüchtlinge, zum Christentum übergetretene Juden, zum Protestantismus übergetretene Katholiken, arme Schüler und Studenten, unverschuldet in Not geratene Reisende und Lösegeldsammler für in der Türkei gefangene Christen. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1098f., Armenordnung Celle 1711. Ähnlich ebd., l l l l f . , Armenordnung Lüneburg 1712. Eingehend mit solchen legitimierten Bettlern beschäftigt sich am Beispiel mehrerer südniedersächsischer Städte TITZ-MATUSZAK, Mobilität der Armut. SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 1, 99, Verordnung vom 10.9.1745. In den Armenrechnungen des bei Göttingen gelegenen Ortes Settmarshausen nahm die Zahl der fremden Almosenempfänger bereits seit den dreißiger Jahren kontinuierlich ab, ebenso in den städtischen Kämmereiregistern. Evangelisch-lutherisches Pfarramt Settmarshausen, Kirchenrechnungen III Nr. 1, Armenrechnungen 1703-1775; TITZ-MATUSZAK, Mobilität der Armut, 210-324. Eine Erklärung für die Häufung umherziehender Almosenempfänger vor allem um 1700 liegt in den Reichskriegen gegen Frankreich und das Osmanische Reich. Vgl. dazu FINZSCH, Obrigkeit und Unterschichten, bes. 156-198; KAPPL, Not, 229-260; RÜTHER, Menschen auf der Straße; ders., Räuber und Gauner; SCHUBERT, Arme Leute; TITZ-MATUSZAK, Mobilität der Armut. Zur Problematik solcher Zahlenangaben vgl. SCHUBERT, Arme Leute, 3-5. COMMICHAU, Geschichte der Hamburgischen Jugendfürsorge, 6ff. RÜTHER, Menschen auf der Straße, passim; TITZ-MATUSZAK, Mobilität der Armut, passim.

210

Armenpflege und öffentliche Ordnung

auftauchen. Am leichtesten greifbar sind solche Personen, denen das bettelnde Umherziehen ausnahmsweise aufgrund besonderer Umstände erlaubt war. Auch unter diesen befanden sich häufig ganze Familien, Frauen mit Kindern und auch alleinreisende Kinder. In den von Ingeborg Titz-Matuszak gesammelten Einträgen über umher 1 ziehende Bettler, die von der Göttinger Kämmerei ein Almosen erhielten, finden sich zwischen 1682 und 1698 über 20 Einträge, die Kinder betreffen. Die Gründe, warum diese betteln mußten, waren äußerliche Gebrechen, Epilepsie, andere Krankheiten und (in elf Fällen) die Vertreibung aus der kriegsgeplagten und verwüsteten Pfalz 230 . Auch in den anderen von Titz-Matuszak berücksichtigten Kämmereiregistern tauchen immer wieder alleinstehende Kinder unter den Almosenempfängern auf 231 . Die ausgewerteten Kämmereiregister spiegeln jedoch nur begrenzt das Ausmaß frühneuzeitlichen Vagantentums 232 . Die Ursache dafür liegt in der Anlage dieser Quellen. Einmal geben Kämmereiregister nur Auskunft über die städtischen Verhältnisse, so daß keine Vergleiche zwischen der Belastung von Stadt und Land möglich sind; für ländliche Gebiete müßten kirchliche Armenrechnungen als Pendant zu den Kämmereiregistern herangezogen werden 233 . Zudem enthalten die Kämmereiregister ausschließlich Hinweise auf privilegierte Arme, die eine Notlage glaubhaft machen konnten und deshalb eine Unterstützung erhielten. Umherziehende Bettler und Fahrende, die von den Obrigkeiten nicht unterstützt, sondern im Gegenteil verfolgt wurden, erfassen die Kämmereirechnungen nicht. Und schließlich handelte es sich mitnichten bei allen von der Kämmerei unterstützen Bedürftigen um Wohnsitzlose: die Herkunft besonders von Kranken und Gebrechlichen ist oft ungewiß, wenn sie nicht von den Schreibern sogar deutlich als Einheimische, die eine irreguläre Unterstützung erhielten, kenntlich gemacht wurden 234 . Daher können mit Bestimmtheit nur die aus der Pfalz stammenden Kinder als Fahrende gelten. Es waren dies vier einzelne Kinder sowie drei Geschwistergruppen von zwei bzw. drei Kindern. Andere Quellen enthalten aber unabhängig von den privilegierten Almosenempfängern Nachrichten über umherziehende Kinder. Einige der in Celle zwi230 231 232

233

234

Ebd., 212f., 221, 223f., 227 und 267-282. Vgl. ebd., 210-324, Anhang. Diese Beschränkung der Quellen wird von Titz-Matuszak allerdings nicht ausreichend berücksichtigt, vgl. ebd., 25-28. Parallel zu den Kämmereiregistern lassen sich in den kirchlichen Annenrechnungen fahrende Almosenempfänger in großer Zahl nachweisen. In Settmarshausen erhielten in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts jährlich etwa 80-100 Personen eine irreguläre Unterstützung. Evangelisch-lutherisches Pfarramt Settmarshausen, Kirchenrechnungen III Nr. 1, Armenrechnungen 1703-1775. So ein "krankes Kind in Göttingen", das am 19.1.1682 eine Unterstützung erhielt. TITZMATUSZAK, Mobilität der Armut, 223.

Kinderbettel und Randgruppenkinder

211

sehen 1697 und 1699 aufgegriffenen Kinder stammten von auswärts: 1697 wurde ein Junge zur Aufnahme ins Waisenhaus vorgeschlagen, der offenbar von den herzoglichen Truppen aus Brabant mit "heruntergebracht" worden war 235 . Der "erwachsene" Knabe Heinrich Schiffmann, der im Oktober 1698 aufgegriffen wurde, befand sich auf dem Weg von Hamburg, wo er zuletzt mit seiner im Vorjahr verstorbenen Mutter gelebt hatte, an seinen Geburtsort Halberstadt. In Celle hatte die Not ihn und ein Mädchen, welches den gleichen Weg verfolgte, zum Halt gezwungen 236 . Zwei arme Waisenmädchen aus Göttingen erhielten in Celle 1705/06 von der herzoglichen Kammer ein Almosen von zusammen 2 Rtlr. 237 . In Hannover wurden 1700 "einem armen, aber gleich woll bösen Metgen", das aus der Stadt gewiesen wurde, 29 Mgr. als Zehrgeld mitgegeben 238 . In wenigen Fällen sind die Quellen so umfangreich, daß sie weiterführende Aussagen über das bisherige Leben der Kinder enthalten. Ein elfjähriges Mädchen aus Hannover, das 1698 in Celle beim Betteln festgenommen wurde, war von seiner Mutter fortgeschickt worden, um sich selbst den Lebensunterhalt zu verdienen. Es gab an, "das selbige ihr nicht mehr ernehren und kein Brodt verschaffen können, dahero aus Noht von sich laßen müßen, und gesagt, das sie nunmehro von ihr groß gemacht undt erzogen were, müste also hingehen, bey Leuhten sich ümthun, undt ihr Brodt selber verdienen" 239 . Die 13jährige Johanne Hennen aus Göttingen verließ 1788 ihren Vormund und machte sich in Begleitung eines Schneidergesellen auf den Weg nach Braunschweig, wo sie einen Onkel vermutete 240 . Ein zwölfjähriger Junge, der 1754 in Isenbüttel (Amt Gifhorn) beim Betteln angetroffen und vorläufig festgenommen wurde, gab an, von seiner Stiefmutter in Braunschweig verlassen worden zu sein 241 . Da der Junge aus Wernigerode gebürtig war, wandte sich das Amt zwecks Übergabe des Jungen dorthin. Für die Zwischenzeit wurde er bei einer Familie in Verpflegung gegeben. Besonders gefährlich war die Lage der Kinder, wenn sie auf der Reise erkrankten wie

235 236 237 238 239 240

241

StACe L 3 Nr. 223, Protokoll vom 18.12.1697. Ebd., Protokoll vom 8.10.1698. NHStA Hann. 76c A Nr. 230, Celler Kammeregister 1705/06. StAH B Nr. 6634m, Rechnung der Kämmerei 1.1. bis Ostern 1700. StACe L 3 Nr. 224. StAGö AA Wohlfahrt Armensachen und Stiftungen Nr. 4, Schreiben des braunschweigischen Armendirektoriums vom 8.12.1788. NHStA Hann. 74 Gifhorn Nr. 731, Bericht des Amtes vom 4.3.1754. Vgl. Anhang 4.

212

Armenpflege und öffentliche Ordnung

"Charlotte Cathrine Gehrbrechten aus Braunschweig, ein Soldaten Kind, welches in elenden Gesundheits Umständen ist, und so bald es ohne Gefahr ihres Lebens geschehen kann nach Braunschweig wieder transportiert werden soll" 2 4 2 . Ein Bild des Elends gaben auch zwei Jungen, die im Winter 1804 das Amt Gifhorn durchreisten: "da einer deren kranck wurde auch beyde der wenigen Kleidung wegen fast erstarret waren" 2 4 3 , wurden sie im Ort Wedesbüttel bis auf weiteres verpflegt. Das Amt versuchte derweilen, die Jungen an ihre Herkunftsorte zurückzubringen. Im Verlauf dieser Bemühungen ergaben sich einige interessante Details aus dem Leben der Kinder: Die Knaben gaben zunächst an, "aus Gittelde gebürtig und resp[ective]. 10 und 12 Jahr alt zu seyn, Heinrich und Wilhelm Wagener zu heißen und keine Angehörige mehr zu haben". Das Amt wandte sich daraufhin an das braunschweigische Amt Stauffenburg, erfuhr jedoch, daß in Gittelde kein Häusling namens Wagener gewohnt habe, "einer der Jungen aber wahrscheinlich der entlaufenen Sohn des mit hölzernen Waaren handelnden Häusling Wagener zur teichhütte" sei, der ihn abholen würde. Unterdessen aber war dieser, der gesunde Junge, heimlich entlaufen, so daß eine Verwandte Wageners, die ihn abholen wollte, unverrichteter Dinge wieder heimkehren mußte. Der kranke Junge gab darauf bei einer erneuten Vernehmung an, der Sohn eines verstorbenen braunschweigischen Soldaten zu sein. Das Amt wandte sich nun an den Braunschweiger Magistrat, mit der Begründung, daß "es der Menschlichkeit entgegen zu seyn scheint diesen jungen der sich doch schlechterdings nicht ernähren kan bloß über die Grenze zu bringen, wir aber auch nicht verbunden zu seyn glauben, einen dortigen Soldaten Sohn ernähren zu müssen." Wie die Braunschweiger Behörden, die sich um den Jungen kümmern wollten, einige Tage später berichteten, war der Junge nach dem Tod seiner Eltern auf Kosten der Armenanstalten bei verschiedenen Handwerkern in Kost gewesen, diesen aber immer wieder entlaufen 244 . Weit häufiger noch als allein befanden sich Kinder in Begleitung Erwachsener, ihrer Mütter, Eltern oder anderer Verwandter, unter den Fahrenden. In der Gruppe der fremden Almosenempfänger waren es besonders die Kriegsvertriebenen und Glaubensflüchtlinge, unter denen sich oft ganze Familien befanden: Krieg und Vertreibung waren die legitimen Verarmungsgründe, von denen am 242 243

244

Ebd., Bericht des Amtes vom 2.4.1773. NHStA Hann. 74 Gifhorn Nr. 732, Schreiben des Amtes an den Braunschweiger Magistrat vom 20.3.1804. Ebd., Schreiben des Magistrates vom 13.4.1804.

Kinderbettel und Randgruppenkinder

213

ehesten größere Menschengruppen betroffen werden konnten; die anderen Kriterien für die Almosenvergabe wie körperliche Gebrechen, Krankheit und Gefangenschaft waren dagegen individuell245. In Göttingen erhielten daher vor allem Pfälzer Familien Almosen: 1694 eine vertriebene Frau mit fünf Kindern 246 , 1695 "eine Witwe mit ihren Kindern, deren Mann in französischer Gefangenschaft gestorben ist" 2 4 7 , 1696 "Maria Schreinerin mit 4 Kindern und Barbara Langin mit 1 Kind aus der Pfalz" und "Ambrosia Seigers mit 4 Kindern aus Rohrbach" 248 . Die wohl größte Familie ist in Einbeck vermerkt: dort erhielt 1694 eine Witwe mit sieben Kindern Unterstützung249. Auch andere Familien erregten das Mitleid der Armenverwaltung: In Settmarshausen bei Göttingen bat 1704 ein herumziehender epileptischer Soldat mit seiner Familie erfolgreich um ein Almosen 250 . Nicht allein bei den anerkannten Almosenempfängern aber waren Familien vertreten. Auch zu anderen Wohnungslosen, sozusagen illegalen Vagierenden, gehörten selbstverständlich Frauen und Kinder. Über die Arretierung solcher Bettler und die Durchführung obrigkeitlicher Bettelmandate geben die Quellen aber fast immer nur in Einzelfallen Auskunft. In Otze im Amt Burgdorf wurde 1712 eine Frau, die weder gehen noch stehen konnte, in Begleitung eines zwölfjährigen Mädchens auf offener Straße ausgesetzt, wohl von einem Wagen. Obgleich man die Frau, die 44 Jahre alt war und während der letzten zwölf Jahre in Celle gelebt hatte, auf den Weg nach Ilten gebracht hatte und sie laut ihrem Paß sogar bis nach Peine gekommen war, wurde sie einige Wochen später wieder im Amt gefunden. Aufgrund ihrer Behinderung fürchtete der Amtmann, "daß solche Mensch von Schweinen oder Hunden gefreßen werden möchte" und fragte bei der Celler Justizkanzlei an, was er mit der Frau machen sollte; diese aber verwies das Amt an die Regierung in Hannover251. Besonders für den ländlichen Bereich fehlen häufig die entsprechenden Festnahmeprotokolle. Eine Ausnahme ist das Amt Gifhorn. Dort ist aus der Mitte des 18. Jahrhunderts eine umfangreiche Sammlung von Berichten über die Arretierung von Bettlern überliefert 252 . Aus diesen Berichten, die das Amt monatlich an die Regierung in Hannover sandte, geht hervor, daß nach 1760 jeden Monat vorher etwas unregelmäßiger - Bettler aufgegriffen und nach einer mehrtägigen 245 TITZ-MATUSZAK, Mobilität der Armut, 102-108, 266-297. 246 247 248 249 250

251 252

Ebd., 275. Ebd., 277. Ebd., 279. Ebd., 294. Evangelisch-lutherisches Pfarramt Settmarshausen, Kirchenrechnungen III Nr. 1, Armenrechnungen 1703-1775. NHStA Celle Br. 61a Nr. 2516, Schreiben des Amtes Burgdorf vom 24.10.1712. NHStA Hann. 74 Gifhorn Nr. 731. Eine vollständige Auflistung der darin enthaltenen Vermerke Uber Kinder befindet sich in Anhang 4.

214

Armenpflege und öffentliche Ordnung

Gefängnishaft über die nahe braunschweigische oder die ebenfalls nicht weit entfernte hildesheimische oder brandenburgische Grenze gebracht wurden. Aufgegriffen wurden die Leute bei regelmäßigen Visitationen, die von mehreren Ämtern gleichzeitig an einem in geheimer Absprache festgelegten Termin durchgeführt wurden. Diese Berichte zeigen, daß sich recht oft ganze Familien unter den Bettlern befanden. Im Juli 1753 wurden zwei Bettler angehalten, von denen einer in Begleitung seiner Frau und seiner vier Kinder war. Da der Mann aus Hildesheim stammen sollte, wurde die ganze Familie an die Stiftsgrenze transportiert 253 . In den nächsten Jahren wurden immer wieder ganze Familien, darunter einige Juden, sowie mehrere alleinreisende Frauen mit Kindern angehalten 254 . Auch in Göttingen zahlte die Kämmerei 1808 für den Transport "einer kranken Vagabondin mit 2 Kindern am 2ten Nov. nach Ellershausen" 1 Rtlr. 255 . In Northeim wurden zwei Frauen verhaftet, die sich durch Absprachen mit einem Mann verdächtig gemacht hatten. Die eine hatte ein kleines Kind, das sie "draußen vor der Stadt, bey der alten Frau so Elisabeth heiße, gelaßen" 256 hatte. Die Gründe, warum diese Personen, meist in kleineren Gruppen oder allein, vagierten, lassen sich im einzelnen nicht genau rekonstruieren. Häufig scheint es sich um Menschen gehandelt zu haben, die nur vorübergehend herumzogen, durch eine akute wirtschaftliche Notlage ihren Wohnsitz verloren hatten, sich auf der Suche nach einem Erwerb oder der Reise zu Verwandten oder - bei alleinstehenden Frauen den Vätern ihrer Kinder befanden 257 . Aber auch unter Vaganten, die dieses Leben auf Dauer führten, in den von den Obrigkeiten so gefürchteten Räuberbanden 258 , befanden sich Familien mit Kindern. Bei der Kammer fielen 1742/43 die Kosten für neun Kinder an, die man bei der sogenannten "herzbergischen Räuberbande" vorgefunden hatte 259 . Von einer Bande, die 1752 im nordwestdeutschen Raum vermutet wurde und aus 36 Juden und 19 Christen bestehen sollte, hatten zehn Mitglieder Frauen und je bis zu vier Kinder bei sich; weitere der Gesuchten, die mit einer Frau zusammenlebten, mochten seit dem letzten, zwei Jahre zurückliegenden Kenntnisstand noch Kinder bekommen haben 260 . Zu anderen großen Banden, die von der hannoverschen Re-

253 254 255 256 257 258

259 260

Ebd., Bericht des Amtes vom 3.7.1758. Vgl. Anhang 4. StAGö AA Sicherheitswesen Gefängnisse Nr. 12,1. StANom R X e Nr. 1, Protokoll vom 6.12.1780. Vgl. Anhang 4. Zum Bandenwesen vgl. Uwe DANKER, Räuberbanden im Alten Reich um 1700. Ein Beitrag zur Geschichte von Herschaft und Kriminalität in der frühen Neuzeit, Frankfun a.M. 1988; FINZSCH, Obrigkeit und Unterschichten, 241-279; KAPPL, Not, 260-280; RÜTHER, Räuber und Gauner; SCHUBERT, Arme Leute, 254ff. NHStA Hann. 76c A Nr. 266, Rechnung der kurfürstlichen Kammer 1742/43. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 3501, Gaunerliste der Münsterschen Regierung vom 6.4.1752.

215

Kinderbettel und Randgruppenkinder

gierung gesucht wurden, gehörten ebenfalls immer einige Familien mit Kindern 261 . Die vagierende Lebensweise betraf also nicht nur Erwachsene oder gar nur Männer, sondern es handelte sich um eine parallel zur seßhaften Bevölkerung mit der sie sich zumindest teilweise überschnitt - existierende Population, innerhalb derer Frauen und Kinder durchaus ihren Platz hatten 262 . Genauere quantitative Schätzungen allerdings verbieten sich angesichts der Quellenüberlieferung 263 .

3.4.

Die Schaffung unversorgter Kinder durch repressive Ordnungspolitik und Pönalisierung Kinder von Bettlerinnen - Kinder von lnhaßerten im Celler Zuchthaus - Geburten im Zuchthaus - die Versorgung von Delinquentenkindern - Umerziehungsprogramme flir Bettler- und Zigeunerkinder - Bekehrung Andersgläubiger

Wenn wie in den oben genannten Fällen die Bettler und Vaganten mit einer zur Verwarnung

dienenden

Gefängnisstrafe

und

der

anschließenden

Landes-

verweisung - die für die Obrigkeiten den einfachsten Weg darstellte - davonkamen, teilten die Kinder das Schicksal ihrer Eltern. Die in den verschiedenen Edikten vorgesehenen Arbeitsverpflichtungen aber erforderten angesichts der großen Zahl von Kindern unter den aufgegriffenen Bettlern besondere Maßnahmen. Nach einer Verordnung von 1721 sollten in Hannover ergriffene Bettlerinnen eine Zeitlang im Werk- und Spinnhaus arbeiten müssen. Kleine Kinder, die sie bei sich führten, sollten für die Dauer dieser Strafe "nach Veranstaltung des Armen-Collegii aus der Armen-Casse verpfleget" und nachher mit den Müttern an ihre Geburtsorte oder außer Landes gebracht werden 264 . Nicht nur bei der Verurteilung von Bettlerinnen, sondern überhaupt bei jeder strafrechtlichen Maßnahme gegen Delinquenten mit Kindern wurden diese oft in den Zustand akuter Versorgungslosigkeit versetzt. In diesen Fällen sahen sich die Obrigkeiten vor der Aufgabe, ihrerseits für diese Kinder zu sorgen. Diese Aufgabe fiel derjenigen Obrigkeit zu, die das Urteil über die Delinquenten ge261

262

263

264

NHStA Cal. Br. 23b Nr. 231, Gaunerliste vom 7.12.1773; ebd. Nr. 239, Gaunerliste vom 26.10.1780; ebd. Nr. 247, Gaunerliste vom 20.6.1788. Vgl. dazu auch KAPPL, Not, 133f.; Sabine KIENITZ, Unterwegs - Frauen zwischen Not und Normen. Lebensweise und Mentalität vagierender Frauen um 1800 in Württemberg (= Studien & Materialien des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen; 3), Tübingen 1989. Während für das Untersuchungsgebiet keine Zahlen zu ermitteln sind, wurden in Bayern zwischen 1806 und 1815 269 592 Personen vom sogenannten Militärkordon aufgegriffen, darunter 42 743 weibliche Vaganten und Kinder. Weitere 67 244 Personen wurden 1813/14 bis 1815/16 von der Gendarmerie festgenommen; von diesen waren 10 647 weibliche Vaganten und Kinder. Angaben bei KÜTHER, Räuber und Gauner, 20. NHStA Cal. Br. 23b Nr. 180, Verordnung vom 21.5.1721.

216

Armenpflege und öffentliche Ordnung

sprachen hatte 263 . Eigenständige Gerichtsbarkeiten wie einige Städte und Inhaber von Patrimonialgerichten hatten die Kinder auf ihre Kosten zu versorgen, in den übrigen Städten und Ämtern wurden die Ausgaben zu den Gerichtskosten gezählt. Die Versorgung von Kindern, deren Mütter oder Eltern eine Strafe verbüßten, lassen sich daher sowohl in den Akten der Ämter, den Rechnungen der kurfürstlichen Kammer in Hannover als auch der dortigen Altstadt nachweisen 266 . Bis etwa 1720 waren nur vereinzelt Kinder von Delinquenten zu versorgen. In den kurfürstlichen Kammerrechnungen sind vor 1720 acht Kinder verzeichnet, in den Kämmereirechnungen der hannoverschen Altstadt drei. Soweit dies angegeben ist, waren die Mütter in der Altstadt Hannover inhaftiert, die übrigen des Landes verwiesen oder hingerichtet worden. In den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunders aber stieg die Zahl der von der kurfürstlichen Kammer zu versorgenden Kinder vorübergehend sprunghaft an. Tabelle 8: Anzahl unterhaltener Delinquentenkinder 1 |

Jahre

Kfstm. Hannover Kurfürstl. Kammer*

1691-1800

1 1 | Altstadt Hannover | | Kämmerei | I

I

1 1 6 9 1 - 1 7 0 0

|

1 7 0 1 - 1 7 1 0

3

|

1 7 1 1 - 1 7 2 0

4

j

1 7 2 1 - 1 7 3 0

4 2

j

1 7 3 1 - 1 7 4 0

6

j

1 7 4 1 - 1 7 5 0

1 1

j

1 7 5 1 - 1 7 6 0

9

|

1 7 6 1 - 1 7 7 0

-

|

1 7 7 1 - 1 7 8 0

6

|

1 7 8 1 - 1 7 9 0

2

|

1 7 9 1 - 1 8 0 0

1

i

1

2

|

1 1 I I 1 I 1 I I 1 i

3 3 6

2

1 5

8

2 1

1

1 | | I 1 1 | 1 1 i

* vor 1706 getrennte Karamern in Celle und Hannover Quelle: NHStA Hann. 76c A Nr. 110-125 und 216-344; StAH B Nr. 6617m-6746g

Diese überraschende Zunahme steht zumindest zum Teil im Zusammenhang mit der Fertigstellung des Zuchthauses in Celle im Jahr 1724267. Zwar wurde nur bei zehn von den 42 Kindern ausdrücklich vermerkt, daß die Mutter in Celle eine 265

266

267

Dies geht hervor aus einem Schreiben der Justizkanzlei Celle an das Amt Knesebeck vom 25.4.1726, zusammengefaßt in Friedrich Esajas PUFENDORF, Introductio in processum criminalem Luneburgicum, editio altera annotationibus aucta a Conrado Friderico a Pufendorf, Hannoverae 1768, 176; ebenso aus einem Kammerausschreiben vom 6.2.1790. SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 3, 447-460, hier 457. NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Schreibendes Burgvogtes vom 3.6.1735; NHStA Hann. 76c A Nr. 110-125 und 216-344; StAH B Nr. 6617ff. Zum Celler Zuchthaus CASSEL, Celle, Bd. 2, 27f.; KRAUSE, Strafrechtspflege, 41-54, 227-233. Die ersten Insassen wurden 1717 aufgenommen, der Bau allerdings erst 1732 abgeschlossen. Ebd., 44.

Kinderbettel und Randgruppenkinder

217

Strafe verbüßte, für eine stärkere Verbindung mit der Zuchthausgründung spricht aber, daß allein 40 von den 42 Kindern dieses Zeitraumes nach 1724 in die Versorgung aufgenommen wurden. Allerdings löste das Zuchthaus die übrigen Strafen nicht vollständig ab: wenigstens fünf Mütter oder Väter waren des Landes verwiesen oder hingerichtet worden; in einigen weiteren Fällen konnte die verhängte Strafe nicht ermittelt werden. Das Celler Zuchthaus war zwar nicht die einzige Haftanstalt im Kurfürstentum; im Gegensatz zu den anderen hannoverschen und auswärtigen Anstalten, die häufig vor allem Korrektionsanstalten für Bettler waren 268 , diente sie aber als einzige vorrangig dem Strafvollzug. Das Zuchthaus, in dem während des gesamten 18. Jahrhunderts hauptsächlich Frauen inhaftiert waren 269 , bot den lokalen Behörden einen willkommenen Anlaß, Delinquentenkinder, die sie auf eigene Kosten hätten versorgen müssen, abzuschieben, indem sie sie mit ihren verurteilten Müttern nach Celle bringen ließen270. 1726 bezahlte die Kammer für die Ernährung dreier Kinder im Celler Zuchthaus, deren Mütter dort in Haft waren 271 . Das Zuchthaus war auf die Aufnahme der Kinder jedoch nicht eingerichtet, so daß diese unter erheblichen Mühen in der Stadt untergebracht werden mußten 272 . Nachdem die Celler Justizkanzlei schon im April 1726 das Amt Knesebeck darauf hingewiesen hatte, daß Kinder von Delinquenten von der jeweils zuständigen Gerichtsobrigkeit versorgt werden müßten, beklagte die Regierung am 11. März 1727 in einem Ausschreiben, die Zuchthausverwaltung habe angezeigt, "daß kleine ja gar säugende Kinder mitgegeben worden" seien. Sie wies die örtlichen Obrigkeiten daher an, dafür Sorge zu tragen, "daß solche Kinder bey guten Leu-

268

269

270

271 272

Ebd., 53. Zu den anderen Anstalten, dem Liineburger Zuchtbaus und dem hannoverschen Werk- und Spinnhaus siehe ebd., 54ff. Zur Geschichte der Zuchthäuser und ihrer Ausbreitung im Reich vgl. vor allem Hannes STEKL, Österreichs Zucht- und Arbeitshäuser 1671-1920. Institutionen zwischen Fürsorge und Strafvollzug ( = Sozial- und wirtschaftshistorische Studien; 12), München 1978, besonders 53-87; Bernhard STIER, Fürsorge und Disziplinierung im Zeitalter des Absolutismus. Das Pforzheimer Zucht- und Waisenhaus und die badische Sozialpolitik im 18. Jahrhundert ( = Quellen und Studien zur Geschichte der Stadt Pforzheim; 1), Sigmaringen 1991; WEBER, Zucht- und Arbeitshäuser. Erst ab etwa 1770 stellten Männer einen größeren Teil der Insassen. Zuvor waren allenfalls alte und gebrechliche Männer zu einer Zuchthausstrafe, arbeitsfähige Straftäter aber zum Festungsbau verurteilt worden. JVACe, Verzeichnis der Züchtlinge 1731-1778, 1778-1791, 1804-1812 und 1812-1821; NHStA Hann. 86 Celle Nr. 104, Verzeichnis der Züchtlinge 1791-1804; zu den Karrenanstalten und Stockhäusern in Hameln und Lüneburg sowie weiteren Orten siehe KRAUSE, Strafrechtspflege, 60-68; zu Göttingen auch PRÖVE, Stehendes Heer, 222f. In Kaiserswerth am Niederrhein war das Zuchthaus zunächst verpflichtet, die Kinder von Verurteilten mit aufzunehmen. Nachdem die Kosten des Zuchthauses zu sehr gestiegen waren, wurden ab 1779 aber keine Kinder unter zehn Jahren mehr aufgenommen. WEBER, Zuchtund Arbeitshäuser, 89. Zur Einweisung von Kindern in Zuchthäuser vgl. auch KAPPL, Not, 307f. NHStA Hann. 76c A Nr. 250. So das Ausschreiben von 1727, siehe folgende Anm.

218

Armenpflege und öffentliche Ordnung

ten gegen Erlegung des gewöhnlichen Kost-Geldes (...) untergebracht werden" 2 7 3 . Trotzdem scheinen immer wieder Kinder nach Celle gebracht worden zu sein. Das Ausschreiben vom März 1727 wurde im Dezember 1728 wortgleich noch einmal versandt 274 , und auch in der Zuchthausordnung von 1732 wurde dieses Problem ausdrücklich erwähnt. Das Einlieferungsverbot wurde dabei auch auf schwangere Frauen ausgeweitet, die künftig erst einige Wochen nach der Niederkunft nach Celle gebracht werden sollten 275 . Da offenbar von Zeit zu Zeit immer noch Frauen mit Säuglingen nach Celle kamen, wurde zuwiderhandelnden Beamten 1734 angedroht, sie müßten die gesamten Transportkosten tragen und außerdem eine Strafe von 50 Rtlr. zahlen 276 . Dennoch war das Problem keineswegs gelöst. Die Aufnahmelisten berichten, daß noch 1769 eine Frau mitsamt ihrem Kind drei Monate auf Kosten der Kammer im Zuchthaus verbracht hatte und dann "zwecks Landesverweisung" 277 an die Burgvogtei übergeben wurde. Wiederholt geschah es, daß Frauen im Zuchthaus niederkamen. Nach den Zuchthauslisten hatten drei Frauen dort uneheliche Geburten; mindestens sechs weitere im Zuchthaus geborene Kinder sind in den Kammerrechnungen vermerkt. Damit machten sie etwa 10 Prozent der von der Kammer unterhaltenen Delinquenteninder aus. In der Altstadt Hannover waren sogar beinahe 40 Prozent (18) der versorgten Delinquentenkinder im Ratsgefangnis oder im Werk- und Spinnhaus geboren worden, nicht gerechnet sechs Kinder, die tot zur Welt gekommen oder gleich nach der Geburt gestorben waren und für die die Kämmerei die Beerdigungskosten übernahm. Während die Mütter der in Hannover geborenen Kinder schon vor ihrer Festnahme schwanger gewesen sein könnten, hatten die drei in den Celler Aufnahmelisten geführten Frauen ihre Kinder erst einige Jahre nach ihrer Einlieferung empfangen 278 . Väter der Kinder waren Mithäftlinge oder Aufseher: ein Problem des Zuchthausalltags, das im Kontext von Haft und Anstaltsleben nicht unbekannt war 2 7 9 . 273 274 275 276 277 278

279

CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1210f. Ebd. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1211-1269, hier 1123. CCC, Bd. 2, Cap. II, 777-779. JVACe, Verzeichnis der Züchtlinge 1731-1778. Anne Catharine Harms 1782, Marie Scheidemanns 1786, eine ungenannte Frau 1799. JVACe, Verzeichnis der Züchtlinge 1778-1791 und 1804-1812; NHStA Hann. 86 Celle Nr. 104, Verzeichnis der Züchtlinge 1791-1804. Womöglich waren noch weitere Fälle vorgekommen, denn ein anonymer Zeitschriftenartikel berichtete 1786, drei nacheinander erfolgte Geburten hätten dem Celler Zuchthaus Tadel eingebracht. Brief eines Reisenden Uber Zelle, in: Journal von und für Deutschland 1786, 351-356, hier 354. 1 793 wurde der Fall einer Frau publiziert, die wegen Kindsmord inhaftiert und im Gefängnis vom Wärter ein weiteres Mal schwanger wurde. Gutachten (...) in Untersuchungssachen wieder die Louise Sandow wegen Tödtung ihres Kindes, in: Annalen der Gesetzgebung 10 (1793), 337-364. Verschiedene Fälle, in denen Häftlinge, darunter verurteilte Kindsmörderinnen, im Zuchthaus erneut schwanger wurden, berichtet auch ULBRICHT, Kindsmord,

Kinderbettel und Randgruppenkinder

219

Unabhängig von den Verhältnissen im Celler Zuchthaus gewann mit der zunehmenden Pönalisierung und der häufigeren Verhängung von Freiheitsstrafen auch die Versorgung von Delinquentenkindern an Bedeutung. In der Altstadt Hannover waren beständig ein oder mehrere Kinder 'ausgetan'. Dabei handelte es sich nicht nur um Kinder inhaftierter Frauen: 1753/54 wurde im Amt Diepenau ein Ehepaar mit zwei Kindern verhaftet und nach Hannover gebracht, wo die Kinder versorgt werden mußten 280 . Wie groß die Zahl der infolge der Bestrafung ihrer Eltern versorgten Kinder tatsächlich war, geht aus diesen Rechnungen allein allerdings nicht hervor. Auch in anderen Quellen haben die Kinder angeklagter oder verurteilter Personen vereinzelte Spuren hinterlassen. Wie aus einem Schriftwechsel zwischen der Regierung und dem Amt Münden von 1792 hervorgeht, waren dort die Kinder von Delinquenten immer aus der Armenkasse, niemals aber auf herrschaftliche Kosten versorgt worden 281 . Die Göttinger Armenkasse versorgte immer wieder Kinder von Delinquenten: 1791 waren drei, 1797 fünf und 1798 wieder drei Kinder aus diesem Grund bei einer Pflegefamilie untergebracht 282 . Es ist aber keineswegs auszuschließen, daß weit häufiger Delinquentenkinder versorgt werden mußten; in anderen Jahren ist der unmittelbare Anlaß für die Versorgung in den Berichten über die Arbeit der Armenkasse nicht angegeben. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß nur solche Kinder versorgt wurden, die keine weiteren Angehörigen hatten, vor allem Kinder alleinstehender Frauen 283 . Über die notwendige Versorgung der Kinder verurteilter Straftäter hinaus beabsichtigte die hannoversche Regierung, fremden Bettlern die Kinder abzunehmen und erziehen zu lassen284. In einem Edikt gegen fremde Landstreicher und Bettler vom 28.10.1710 ordnete sie an, die Kinder sollten "wo es sich thun lassen will in die Armenhäuser eines jeden Ortes zur Unterhalt- und Erziehung untergebracht" werden. Im Fall, "wo aber solches nicht practicabel", hatten die örtlichen Behörden Zahl, Alter und Geschlecht der Kinder an die Regierung zu berichten, damit diese weitere Anordnungen treffen könnte 285 . Auch in die Armenordnung von 1712 wurde eine Bestimmung aufgenommen,

280 281 282

283

284 285

388f. Der Zuchthausalltag erwies sich als gegenläufig zu der mit der Strafe intendierten "SexualUnterdrückung" (Ulbricht). Dies belegen auch Vorkommnisse aus anderen Zuchthäusern, vgl. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 10179 (Spinnhaus Peine 1736); STIER, Fürsorge und Disziplinierung, 153. Zu sexuellen Übergriffen in Waisenhäusern vgl. auch unten Kap. V, Abschnitt 3.2. StAH B Nr. 6689g, Rechnung der Kämmerei 1753/54. NHStA Hann 74 Münden K Nr. 1299. Nachricht über die Versorgung der Armen in Göttingen vom Januar 1791 bis dahin 1792, 8; dass. vom Jahr 1797, Göttingen 1798, 7; dass. vom Jahr 1798, Göttingen 1799, 12. Die drei Kinder der ledigen Kindsmörderin Lampe, die bei ihrer Großmutter lebten, blieben dort vermutlich auch nach der Verurteilung ihrer Mutter. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 10148. Zu ähnlichen Maßnahmen anderer Obrigkeiten vgl. RÜTHER, Räuber und Gauner, 17. CCL, Bd. 3.1, Cap. IV, 1030, Edikt vom 28.8.1710.

220

Armenpflege und öffentliche Ordnung

"daß denen umlaufenden Bettlern die mit sich führende Kinder abgenommen, und in die allda befindliche Armen-Zucht-Spinn-auch Waisenhäuser gethan und solche vom Müßiggange und liederlichen Leben abgezogen, hergegen aber zur Arbeit und Gottesfurcht geführet werden mögen" 286 . 1714 wurde diese Bestimmung in einem erneuten Edikt wörtlich wiederholt 287 . Eine solche Unterbringung von Bettlerkindern ist allerdings nur vereinzelt nachzuweisen. Kinder von Bettlerinnen werden beispielsweise in den Rechnungen der hannoverschen Kämmerei nicht ausdrücklich genannt, bei den zu einer Werkoder Spinnhausstrafe verurteilten Frauen kann es sich aber mit einiger Wahrscheinlichkeit um Bettlerinnen gehandelt haben. In den Rechnungen der kurfürstlichen Kammer finden sich 1773/74 vier Bettler- und Vagabundenkinder, die gegen Bezahlung im Celler Waisenhaus erzogen wurden 288 . Einem regelrechten Umerziehungsprogramm wurden dagegen die Kinder sogenannter Zigeuner 289 unterworfen. Bei diesen handelte es sich wahrscheinlich meist um Angehörige der Volksgruppe der Sinti, teilweise aber auch um Vagierende anderer Volksgruppen, die sich den Sinti angeschlossen hatten 290 . Die Einwanderung von Sinti nach Deutschland und Westeuropa ist seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts urkundlich belegt 291 . Bereits seit dem Ende des 15. Jahrhunderts wurden sie verfolgt und schon 1500 im Augsburger Reichsabschied für vogelfrei erklärt 292 . Nach dem Dreißigjährigen Krieg nahmen die Mandate gegen Zigeuner zu 293 ; fortan waren im Reich, aber auch in Frankreich Zigeuner ebenso wie andere Vagierende unnachgiebiger Verfolgung und harten Strafen ausgesetzt294. Dies gilt auch für die Gesetzgebung der weifischen Territorien: 1657 kam eine gemeinsame Verordnung der Herzöge Christian Ludwig in Hannover und Georg 286 287 288 289

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CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1108. CCL, Bd. 3.1, Cap. IV, 1043, vom 14.8.1714. NHStA Hann. 76c A Nr. 299. Da eine eindeutige Begriffsabgrenzung nicht möglich ist, erscheint es unumgänglich, den zeitgenössischen Begriff 'Zigeuner' im Kontext der frühneuzeitlichen Randgruppenverfolgungen trotz des heutigen pejorativen Beiklangs zu verwenden. Vgl. dazu Karin BOTT-BODENHAUSEN, Einleitung, in: dies. (Hg.), Sinti, 13-17, hier 13. ARNOLD, Zigeuner, 40f. und 42; Christoph FREESE, Zur Geschichte und Gegenwart der Zigeuner und Landfahrer in Deutschland. Versuch einer subkulturtheoretischen Erklärung, Diss. rer. pol. Erlangen 1980, 20-22, 45f.; SCHUBERT, Arme Leute, 246f. ARNOLD, Zigeuner, 33-35; Jean-Paul CLEBERT, Les Tziganes ( = Signes des temps; 10), Paris 1961, 48 und 102f.; FREESE, Zigeuner und Landfahrer, 18-20. Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Bd. 2, 80f.; SCHUBERT, Arme Leute, 247. ARNOLD, Zigeuner, 39. Zu Mandaten und Zigeunerverfolgungen in anderen Teilen des Reiches vgl. ARNOLD, Zigeuner, 38-63; RÜTHER, Räuber und Gauner, 24f.; FRANK, Lippische Obrigkeit und Sinti; ders., Obrigkeitliche Anordnungen zur Abwehr der Sinti und deren Realisierung im Alltag, in: BOTT-BODENHAUSEN, Sinti, 95-124; SCHUBERT, Arme Leute, 247-249, und ders., Mobilität, 130-138. Zu Frankreich: ARNOLD, Zigeuner, 42; vgl. CLEBERT, Tziganes, 85f.

Kinderbettel und Randgruppenkinder

221

Wilhelm in Celle zustande 295 . Georg Wilhelm erließ zudem 1685 ein "Edict und Verordnung (...) wegen Ausschaf- und nicht Geduldung der Zigeuner und andern solchen Gesindes" und 1697 eine "renovirte allgemeine Verordnung (...) wegen der Zigeuner" 296 , während im selben Jahr auch in Hannover ein Mandat erging 297 . Weitere Verordnungen folgten nach der Vereinigung Lüneburg-Celles mit Hannover 298 . 1710 wurden wie andernorts Zigeunerpfähle 299 eingeführt, die die Zigeuner an der Grenze bereits vom Betreten des Territoriums abschrecken sollten, indem den Einreisenden darauf schwere Strafen angekündigt wurden 300 . Auch in Hildesheim wurden Zigeuner verfolgt 301 , die hannoversche Regierung war aber in ihrem Vorgehen gegen die Zigeuner besonders aktiv und brachte 1736 einen Vertrag mit Hessen-Kassel, Paderborn, Waldeck und Lippe-Detmold über das gemeinsame Vorgehen gegen Zigeuner und Banden zustande 302 . Allerdings zeigen vielfaltige Beispiele aus anderen Territorien, daß die obrigkeitlichen Anordnungen mit wenigen Ausnahmen 303 keineswegs immer so ausgeführt wurden, wie es sich die Fürsten und ihre Regierungen vorstellten 304 . Rechtfertigung dieser Verfolgung waren mannigfache Verbrechen, die den Zigeunern zur Last gelegt wurden, darunter Diebstahl, Raub und Mord, sowie der Vorwurf, Seuchen ins Land zu bringen 305 . In einer hannoverschen Verordnung von 1709 heißt es, Zigeuner hätten Diebstähle und Betrügereien begangen, Menschen bedroht und Heerstraßen und Dörfer unsicher gemacht. 1739 wurde vom Amt Koldingen nach einer Bande von 15 Zigeunern gefahndet, die "in denen hiesigen und benachbarten Landen, Zeithero verschiedene Mordthaten, mördliche Einbrüche und Diebstähle verübet" haben sollten306. Die Glaubhaftigkeit dieser

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NHStA Ca). Br. 23b Nr. 53, Verordnung vom 19.11.1657. CCL, Bd. 3.1, Cap. IV, 991-993 und 1000-1005. StAGö AB Ms 14 Nr. 1,1, Verordnung vom 28.1.1697. 13.11.1709, 14.8.1714, 3.5.1738. CCC, Bd. 1, Cap. I, 148ff„ 159ff. und 182ff. Zu diesen teils bildlichen, teils schriftlichen Warnungen siehe ARNOLD, Zigeuner, 51; FRANK, Obrigkeitliche Anordnungen, 98f. CCC, Bd. 3, Cap. IV, 153f., "Ausschreiben, wegen Setzung der Zigeuner-Pfähle. Vom 20. Jan. 1710." HLO, Bd. 1, 304-308, Polizeiordnung vom 20.10.1665. FRANK, Lippische Obrigkeit und Sinti, 53. Von einer unrechtmäßigen Massenhinrichtung von 17 Zigeunerinnen im fränkischen Berneck im Jahr 1724 berichten SCHUBERT, Anne Leute, 249, und RÜTHER, Räuber und Gauner, 25. FRANK, Obrigkeitliche Anordnungen, bes. 109-114; ders., Sozialdisziplinierung und Überlebensstrategien - Kategorien einer abschließenden Interpretation, in: BOTT-BODENHAUSEN (Hg.), Sinti, 219-228. Die oft besonders hart angedrohten Strafen entsprachen meist dem für Bettler und Vaganten Üblichen Strafkatalog. SCHUBERT, Arme Leute, 248. ARNOLD, Zigeuner, 41; FRANK, Lippische Obrigkeit und Sinti, 44-48 NHStA Cal. Br. 23b Nr. 198, Fahndungsliste vom 14.2.1739.

222

Armenpflege und öffentliche Ordnung

Beschuldigungen ist allerdings fragwürdig307; auch bei der Größe der Banden war wohl oft Übertreibung im Spiel 308 . Die Zigeuner lebten meist in kleineren Gruppen, in denen Frauen und Kinder die Überzahl stellten309. Wahrscheinlich aus diesem Grund änderte die hannoversche Regierung Anfang des 18. Jahrhunderts ihr Vorgehen. Während im 17. Jahrhundert alle Zigeuner unterschiedslos und im Verband des Landes verwiesen wurden - 1655 wurde eine größere Gruppe einschließlich Frauen und Kindern vertrieben 310 , und nach der hannoverschen Verordnung von 1697 sollten weiterhin alle "Zigeuner/ deren Weiber/ Kinder und gantzer Anhang" aus dem calenbergischen Teil ausgewiesen werden 311 -, setzten die Obrigkeiten in einer "geschärfte[n] Verordnung" von 1709 darauf, das Problem durch Trennung der Familienverbände sowie Straf- und Umerziehungsmaßnahmen zu lösen312. Nur noch alte Männer sowie Frauen über 25 sollten ausgewiesen werden; arbeitsfähige Männer und jüngere Frauen dagegen sollten zu öffentlichen Arbeiten ('ad operas publicas') herangezogen werden. Davon versprachen sich die Geheimen Räte neben der wirtschaftlichen Ausbeutung der Zigeuner wohl auch eine Änderung ihres Verhaltens. Dies galt vor allem für die Kinder: "Alle Kinder unter zehen Jahren sind ihnen abzunehmen und bey guten christlichen Leuten unter zu bringen, damit sie daselbst erzogen und in Ihrem Christenthum begründet werden mögten" 313 . Außer der Christianisierung 314 war das langfristige Ziel, daß die Kinder "ein Handwerck" erlernten "oder sonst in Dienste gethan" 315 wurden. Nicht nur in Hannover waren solche Umerziehungsmaßnahmen üblich 316 . Die Regierung betrieb diese jedoch ausgesprochen nachhaltig und versuchte, auch die Nachbarstaaten für ihr Programm zu gewinnen. Bereits 1705 hatten die hannoverschen Geheimen Räte in einem Schreiben an die lippische Regierung in Detmold vorgeschlagen, Zigeunerkinder von ihren Eltern zu trennen und in Ar307

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Nach SCHUBERT, Arme Leute, 247, waren Zigeuner weitaus öfter Diebe als Gewaltverbrecher und nur selten an Bandenaktivitäten beteiligt. ARNOLD, Zigeuner, 43; FLASPÖHLER, Visitationen, 71f.; SCHUBERT, Arme Leute, 246. Dies belegen nicht nur die unten angeführten Beispiele, sondern auch FLASPÖHLER, Visitationen, 71-74, und SCHUBERT, Arme Leute, 246f. NHStA Cal. Br. 23b Nr. 53. StAGö AB Ms 14 Nr. 1,1, Verordnung vom 28.1.1697. CCL, Bd. 3, Cap. IV, 1021-1025. Ebd., 1022. Häufig wurde die Taufe auch von den Zigeunern selbst angenommen, weil dabei immer einige Geschenke oder etwas Geld zu erhalten waren. SCHUBERT, Arme Leute, 250. CCL, Bd. 3, Cap. IV, 1022. Auch im oberrheinischen Reichskreis wurde die Unterbringung von Zigeunerkindern verhandelt. ARNOLD, Zigeuner, 49.

Kindeibettel und Randgruppenkinder

223

menhäuser einzuweisen. Ziel dieser Maßnahme war es, die Eltern abzuschrecken und die Kinder der vagierenden Lebensweise zu entfremden 317 . Die ersten Nachrichten über eine konkrete Aktion stammen von Anfang des Jahres 1707, als eine aus elf Männern, einer nicht genannten Zahl von Frauen und 18 Kindern bestehende Zigeunergruppe festgenommen wurde 318 . Der Kurfürst verfügte daraufhin, die Frauen außer Landes bringen zu lassen, die Männer aber nach Hameln in das dortige Werkhaus und die Kinder in das Celler Waisenhaus einzuweisen. Dies gelang nur teilweise; zwar wurden alle Frauen ausgewiesen, aber sechs Männern und zwei Knaben gelang in der Nähe von Celle die Flucht. Die übrigen 16 Kinder, neun Jungen und sieben Mädchen im Alter von drei bis elf Jahren, wurden nach Celle transportiert und zunächst in einem städtischen Gefängnis, dem Weißen Haus, untergebracht, da der Celler Magistrat entgegen der Anweisung aus Hannover die Aufnahme der Kinder in das Waisenhaus verweigerte. Die Regierung mußte schließlich dem Widerstand des Magistrats, der mittlerweile von der Celler Kanzlei unterstützt wurde, nachgeben, so daß im Juni und Juli 1707 einige Zigeunerkinder in der Celler Burgvogtei untergebracht wurden. Die Unterbringung war recht kostspielig und wurde aus den Amtsregistern vorfinanziert; pro Kind und Jahr mußten 15 Rtlr. aufgewendet werden, außerdem noch 58 Rtlr. für Kleidung 31 '. 1708 wurde beschlossen, die Unterhaltskosten künftig von den Einnahmen der Burgvogtei zu bestreiten. Sobald die Kinder ein arbeitsfähiges Alter erreicht hätten, sollten sie an Werk- oder Waisenhäuser übergeben werden 320 . Als der Celler Magistrat von diesem Vorhaben erfuhr, erklärte er dem Burgvogt erneut seine Ablehnung und verwies auf die Begebenheiten des Vorjahres 321 . Am 23. Mai 1708 teilte der Geheime Rat und Celler Großvogt v. Bülow dem Burgvogt mit, daß die Kinder wegen des städtischen Widerstands nicht in das Waisenhaus aufgenommen werden könnten 322 . Trotz der gescheiterten Waisenhausaufnahme wurde die Unterbringung von Zigeunerkindern fortgesetzt. Im August übernahm die Burgvogtei vier Kinder, die bisher auf Kosten der Kanzlei unterhalten worden waren 323 , 1709 kamen noch einmal drei Kinder von festgenommenen Zigeunern hinzu 324 . Auch in anderen Ämtern wurden nun Kinder untergebracht. Die Rechnungen der kurfürstlichen 317 318 319 320 321 322 323 324

FRANK, Lippische Obrigkeit und Sinti, 55. StACe 20 B Nr. 47. NHStA Hann. 74 Celle 944. Ebd. StACe 20 B Nr. 2,1. NHStA Hann. 74 Celle 944. Ebd. Ebd., Anweisung des Kurfürsten an den Großvogt v. Bülow vom 22.11.1709.

224

Armenpflege und öffentliche Ordnung

Kammer 325 verzeichnen an Neuaufnahmen 1708/09 ein Zigeunerkind in Ahlden und 1710/11 noch einmal 21 Kinder in mehreren Ämtern 326 . Innerhalb der nächsten 20 Jahre wurden wiederholt einige Kinder versorgt 327 . Höhepunkt war das Rechnungsjahr 1729/30 mit zwei Kindern in Winsen und 15 weiteren in Neuhaus (Bremen). Mit der Aufnahme von neun Kindern im Amt Koldingen bei Hannover 1739/40 brechen die Eintragungen in den Kammerrechnungen ab. Die Gesamtzahl der unterhaltenen Zigeunerkinder stieg sehr schnell auf etwa 50 um das Jahr 1711. Danach nahm sie bis 1729 kontinuierlich ab, stieg dann wieder etwas und verlor sich schließlich ab Mitte der 1740er Jahre. Die Kosten für den Unterhalt der Zigeunerkinder waren beachtlich. Nach der Aufnahme der ersten Kinder im Rechnungsjahr 1708/09 stiegen die Ausgaben der kurfürstlichen Kammer für die Kinderversorgung von 214 auf 704 Rtlr., 1710/11 überstiegen sie erstmals 1000 Rtlr. Höhepunkt war das Rechnungsjahr 1711/12, in dem die Kinderversorgungskosten insgesamt 1187 Rtlr. betrugen, davon allein 800 für Zigeunerkinder! Danach gingen mit der Zahl der neu aufgenommenen Kinder allerdings auch die Unterhaltskosten zurück. Die Kammerrechnungen verzeichnen aber offenbar nicht alle von der Umerziehung betroffenen Kinder. 1729 versuchte die Landesregierung, insgesamt 40 Kinder, darunter 25 Zigeunermädchen und acht -jungen, die auf Kosten des verstorbenen Königs in Melle im Fürstbistum Osnabrück unterhalten worden waren, "in hiesigen Landen, bey denen fabriquen, und in denen Waysenhäusern" unterzubringen328. Als anläßlich der Erstbelegung des Moringer Waisenhauses alle Ämter des Fürstentums Calenberg-Göttingen Kinder zur Aufnahme vorschlagen konnten, versuchte das Amt Polle mit Unterstützung der Kammer und der Regierung 329 , 19 Zigeunerkinder, die bis dahin auf Kosten der Kammer im Amt versorgt wurden, abzugeben330. Die für das Waisenhaus zuständige Calenbergische Landschaft lehnte die Aufnahme der Kinder jedoch ebenso wie das Einbecker Waisenhaus ab, so daß die Kinder in Polle bleiben mußten331.

325 326

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NHStA Hann. 76c A Nr. 233ff. 1710/11 insgesamt 20: Koldingen acht, Westerhof vier, Herzberg, Ratzeburg, Katlenburg und Celle je zwei, Elbingerode eins. 1711/12 insgesamt fünf (Amt Moisburg), 1714/15 drei in Wildeshausen, 1722/23 eines im Amt Bodenteich, 124/25 eines in Neustadt a. R., 1726/27 eines in Heizberg und zwei in Winsen/Luhe. StACe 20 B Nr. 49, Schreiben der Landesregierung vom 27.4.1729. Der Ausgang der Bemühungen geht aus den Akten nicht hervor. NHStA Hann. 93 Nr. 2631, Schreiben vom 16.5.1746. NHStA Dep. 7b Nr. 288, Schreiben des Amtes Lauenau vom 11.2.1746. Ebd., Mitteilung der Regierung an die Kammer vom 20.6.1746.

Armutsverhütung und Erziehung zum gottgefälligen Leben

225

Die Umerziehung im Sinne der christlichen, d.h. für Hannover lutherischen Lehre, betraf in Einzelfällen auch seßhafte Andersgläubige 332 . In Celle beschwerte sich 1764 der katholische Priester Kindermann, daß der Burgvogt eine katholische Waise gegen ihren Willen lutherisch erziehen lasse 333 , und in Nienburg wurde 1766 ein zehnjähriges jüdisches Kind seinen Eltern fortgenommen, das zuvor angeblich freiwillig bei dem Nienburger Superintendenten Rathlef um Aufnahme gebeten hatte, "um eine Christin zu werden" 334 . In Hildesheim versuchten die Obrigkeiten des sogenannten kleinen Stiftes, Kinder in jedem Fall "bey gute[n] Catholische[n] leutefn]" unterzubringen 335 . Die obrigkeitliche Intervention im Bereich der Kinderversorgung ging weit über die Fürsorge für elternlose Kinder hinaus. Durch die repressive Handhabung von Strafrecht und Ordnungspolitik wurden teilweise elternlose Kinder erst geschaffen, um deren Versorgung sich dann ebenfalls Gesellschaft und Obrigkeit bemühen mußten. Doch war die Kinderversorgung nicht nur Folge des obrigkeitlichen Vorgehens, sondern Teil desselben. Durch die gezielte Erziehung nach obrigkeitlichen Idealen sollten bettelnde Kinder und die Nachkommen von Randgruppen zwangsweise in die Gesellschaft integriert und die Reproduktion dieser Bevölkerungsteile verhindert werden. Der Anspruch der Obrigkeiten, in die familiale Kindererziehung zugunsten von Herrschafitsinteressen einzugreifen, trat am deutlichsten in der Zwangserziehung der Kinder von Zigeunern und religiösen Minderheiten zutage; die dahinterstehenden Ideale von Frömmigkeit und Arbeitsamkeit prägten aber die öffentliche Kinderversorgung insgesamt.

4.

Armutsverhütung und Erziehung zum gottgefälligen Leben

4.1.

Erziehung und Arbeit in den Annenordnungen Erziehung als Mittel gegen den Müßiggang - Schulgeld und Bücher für Armenkinder Schulpflicht - Förderung des Arbeitseinstiegs

Die obrigkeitliche Armenfürsorge beschränkte sich nicht allein auf materielle Hilfe, sondern hatte das Ziel, die Ursachen der Armut zu bekämpfen. Deren Wurzel sahen die Obrigkeiten in einem "straffbahren, und höchstschädlichen 332

333

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Ludwig XIV. setzte die Umerziehung der Kinder zwischen 1686 und 1704 als Repressalie gegen französische Protestanten ein. Jean MARTEILHE, Galeerensträfling unter dem Sonnenkönig. Memoiren, hg. von Eberhard WESEMANN, München 1989, 345 Anm. 62. NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Schreiben Kindermanns vom 9.8.1764. 1723 wurde ein Kind in der Befürchtung im Celler Waisenhaus aufgenommen, der katholische Vater werde das Kind "verführen". StACe L 3 Nr. 106, Protokoll vom 7.4.1723. NHStA Hann. 93 Nr. 418, Bericht des Superintendenten vom 8.4.1768. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9905, Schreiben vom 24.5.1645; ebenso ebd., Vorgang von April/Mai 1732.

226

Armenpflege und öffentliche Ordnung

Müßiggange und liederlichen sündhafften Leben" 336 . Wesentliches Ziel frühneuzeitlicher Armenordnungen war deshalb, arbeitsfähige Arme zur Arbeit anzuhalten: wenn "der nohtdürffitigen Kinder, als erwachsenen Leute sich welche finden solten, welche annoch vermögend wären zu arbeiten: sollen dieselben, insonderheit von denen Predigern ermahnet werden, daß sie ihrer Hände Arbeit sich nähren, und den Müßiggang meyden sollen" 337 . Gleichzeitig sollten Unterstützungsempfänger "ihre veranstaltete Unterhaltung einigermaßen verdienen" 338 . In der Forschung wird häufig der autoritäre Charakter der Armenpolitik, die Arbeitsverpflichtung für Bettler und Randgruppen und die Ausbeutung dieser Personen durch obrigkeitliche Anstalten hervorgehoben 339 . Wenngleich das obrigkeitliche Vorgehen durchaus häufig repressive Züge trug, so lag doch die Motivation dafür zugleich in der Auffassung, daß nur ein tätiges und christliches Leben gottgefällig sei, das damit auch Heilsbedeutung hatte340. Insofern war Arbeit durchaus auch Teil der eigenen 'Würde' 341 . Dies wird besonders in der Kinderfürsorge deutlich: Die Kinder sollten auch zur Arbeit gebracht werden, "damit sie sich zu dem Bettelstab und dem in Gottes Wort verbotenen Müßiggang nicht gewehnen, und darinnen, zu ihrem eigenen Verderb und der Welt Spott, verbleiben" 342 . Als ebenso wichtig für die Vermeidung von Armut wurde die Bedeutung sittlicher Erziehung eingeschätzt. Dies wird besonders deutlich in einer hildesheimischen Konsistorialverordnung von 1769: "Kein Uebel kann das Christenthum und gemeine Wesen so sehr zu Grunde richten, als (...) die (...) unverantwortliche Versäumnis der Kinderzucht. Wird ein Kind in Betracht der Erziehung zur Gottesfurcht so sehr vernachläßiget; so macht es sich gewisse Regeln daraus, in künftigen Zeiten mit seinen Kindern eben so zu verfahren, 336

337 338 339

340

341 342

CCC, Bd. 1, Cap. I, 964, Annenordnung Hannover 1700. Zur "schon topischen" obrigkeitlichen Behauptung vom verbreiteten Müßiggang vgl. SCHUBERT, Anne Leute, 201f.; METZ, Staatsraison, 2 und 11; Paul MÜNCH (Hg.), Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit, München 1984, 35f. CCC, Bd. 1, Cap. I, 958, Aimenordnung 1702. Ebd., 969. JÜTTE, Disziplinienmgsmechanismen; ders.. Obrigkeitliche Armenfürsorge; SACHSSE/TENNSTEDT, Geschichte der Armenfiirsorge, Bd. 1; STEKL, "Labore et fame". Vgl. MÜNCH, Ordnung, 36; JÜTTE, Disziplinierungsmechanismen, 112. Zur Entstehung dieser Auffassung im Christentum und ihrer Aufwertung im Spätmittelalter vgl. Otto Gerhard OEXLE, Armut, Almutsbegriff und Armenfiirsorge im Mittelalter, in: SACHSSE/TENNSTEDT (Hgg.), Soziale Sicherheit, 73-100. METZ, Staatsraison, 4. CCL, Bd. 3.1, Cap. IV, 25, Polizeiordnung 1618.

227

Armutsverhütung und Erziehung zum gottgefälligen Leben

und so erleben wir (...) Heiden, die von Gott nichts wissen, folglich auch lasterhafte Menschen die dem Reiche Gottes zur Aergerniß und Zerrüttung und dem gemeinen Wesen zur Plage sind" 343 . Der schulischen und religiösen Erziehung der Kinder wurde daher großer Wert beigemessen. Die Calenbergische Armenordnung von 1702 setzte zum Ziel, daß Waisen nicht nur versorgt, sondern "zum Christenthum angeführet" 344 werden sollten. Letztlich dienten Arbeit und Erziehung gemeinsam demselben Ziel: einem selbständigen, von öffentlichen Unterstützungen unabhängigen Leben: "So viel in specie besagte Kinder, in deren Ansehen und Dürftigkeit denen Eltern etwas aus der Armen-Casse gegeben wird, betrift, sollen solche Eltern in specie von ihren Seel-Sorgern ernstlich ermahnet werden, daß sie dieselben nicht allein zur Schule gehen, und in ihrem Christentum unterrichten lassen, sondern auch sie daneben von Jugend auf, vom Müßiggang ab- hingegen zur Arbeit anhalten, damit sie nach erreichten 14. oder auch, wann sie alsdann zur Arbeit noch nicht die Kräfte haben, im 16. Jahre ihres Alters (weil alsdann auf sie nichts mehr gegeben wird,) andern Leuten dienen oder sonst mit ihrer Hand-Arbeit ihr Brod erwerben kön-

Daher war die Zuteilung von Armengeld für kinderreiche Familien oder Witwen an den regelmäßigen Schulbesuch der Kinder gebunden. Die lüneburgische Armenordnung drohte für den Fall des Zuwiderhandelns den "Verlust solcher Beyhülfe"

an 346 .

Auch

Pflegeeltern

Schützlinge die Schule versäumten

347

sollten

bestraft werden,

wenn

ihre

.

Das Schulgeld war neben dem eigentlichen Unterhalt die wichtigste Unterstützung. Dieses sollten auch Kinder erhalten, "welche ihre Eltern noch haben, von denenselben aber aus Dürfftigkeit nicht können zur Schule gehalten werden, ob sie schon aus der Armen-Casse zu ihrer Unterhaltung nichts bekommen" 348 . Es war dabei gleichgültig, ob die Kinder "Soldaten, Bürgern oder andern zugehören" 349 und "dieselben in der Stadt und in denen Vorstädten wohnen oder zur

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HLO, Bd. 1, 399-411, hier 400, Erneuerte und vermehrte Konsistorial-Verordnung von 1769. CCC, Bd. 1, Cap. I, 944, Armenordnung 1702. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1086f., Aimenordnung Celle 1711; vgl. ebd., 1141f., Annenordnung Lüneburg 1712. Ebd., 1141, Annenordnung Lüneburg 1712. HLO, Bd. 1, 345-349, hier 347, Verordnung für die katholischen Schulen vom 24.9.1763. CCC, Bd. 1, Cap. I, 958f., Armenordnung 1702; CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1089, Armenordnung Celle 1711: "Kindern, deren Eltern zwar sonsten ihr Brod erwerben können, aber so viel Mittel nicht haben, dafi sie dieselben in die Schule gehen lassen können'' CCC, Bd. 1, Cap. I, 958f., Annenordnung Calenberg 1702; CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1140, Armenordnung Lüneburg 1712.

228

Armenpflege und öffentliche Ordnung

Guarnison-Gemeinde [sie!] gehören" 350 . Das protestantische Konsistorium für Hildesheim beabsichtigte, "wohlvermögende Einwohner, so selbst keine Schul-Kinder zu versorgen haben, auf eine Christliche Weise um das Schul-Geld für solche arme Kinder anzusprechen, oder (...) nach vermögen, aus dem Armen-Kasten oder dem Kirchen-Vorrath zu sothanem SchulGelde etwas herzugeben. Wie denn überhaupt das Armen-Geld nicht besser, als zum Schul-Lohn für bedürftige Kinder, angewandt werden kann" 351 . Nach der katholischen Schulordnung von 1763 sollten arme und elternlose Kinder "von den Schulmeistern ohnentgeltlich unterwiesen" 352 werden. Zu den Beihilfen gehörten auch die notwendigen Unterrichtsbücher, "ein planirter Catechismus, und ein Buch darinnen die sonntägliche Evangelia und Episteln stehen, auch, wenn sie so weit kommen, ein hannoversches Gesangbuch" 353 . Um Mißbräuche von vornherein zu unterbinden, wurde das Schulgeld direkt an die Schulmeister bezahlt 354 . Die Bücher wurden mit der Aufschrift "Armen-Buch" gekennzeichnet und der Handel damit unter Strafe gestellt355. Diese Leistungen standen im Zusammenhang mit dem Bemühen der Obrigkeiten um eine breite Durchsetzung der Schulpflicht 356 . Sowohl in den weifischen Gebieten als auch im Hochstift Hildesheim bestand die Schulpflicht für Kinder im Winter 357 . In Calenberg erließ Herzog Ernst August 1691 eine "Verordnung, wie es mit der Catechismus-Lehre in Kirchen und Schulen, und mit deren Visitation gehalten werden soll" 358 . Darin wurden verschiedene Zwangsmaßnahmen angeordnet, mit denen der Schulbesuch der Kinder überprüft werden sollte: Anfertigung von Listen schulpflichtiger Kinder, Weiterzahlung des 350 351 352 353

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CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1089, Armenordnung Celle 1711. HLO, Bd. 1, 270-278, Konsistorial-Verordmmg von 1735. Ebd., 345-349, hier 347. Verordnung für die katholischen Schulen vom 24.9.1763. CCC, Bd. 1, Cap. I, 958f., Armenordnung Calenberg 1702. Ähnlich CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1140, Armenordnung Lüneburg 1712; beinahe wortgleich ebd., 1089, Armenordnung Celle 1711. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1089, Armenordnung Celle 1711. CCC, Bd. 1, Cap. I, 946f., Armenordnung Calenberg 1702; CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1089, Armenordnung Celle 1711; CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1140, Armenordnung Lüneburg 1712. Zum Schulwesen im Kurfürstentum Hannover vgl. Dierk KUNST, Die Entwicklung der allgemeinbildenden Schulen in Göttingen von der Universitätsgründung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (1734-1877) ( = Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; 225), Frankfurt a.M. 1984. In Calenberg bestand eine eingeschränkte Schulpflicht seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, vgl. KUNST, Schulen, 147f.; SCHNATH, Geschichte Hannovers, Bd. 2, 369; ähnlich in Hildesheim: HLO, Bd. 1, 30-91, hier 33f. Policey-Ordnung vom 20.10.1665; ebd., 280-282, Schul-Ordnung für die katholische Jugend vom 30.4.1736; ebd., 321ff., Des General-Vikariats Erneuerung der Schul-Ordnung vom 12.10.1744; ebd., 325ff., Des General-Vikariats Erlaß (...) die Befolgung der Schul-Ordnung (...) einschärfend vom 29.10.1749. CCC, Bd. 1, Cap. I, 863-868, Verordnung vom 9.10.1681.

Armutsverhütung und Erziehung zum gottgefälligen Leben

229

Schulgeldes durch die Eltern auch bei Versäumnissen, eventuelle Geldstrafen für die Eltern. Für Arme sollte das Schulgeld aus den Kirchengütern oder der Armenkasse gezahlt werden. Eine ganz ähnliche Verordnung für die Stadt Celle war bereits 1689 erlassen worden 359 . Die Schulpflicht betraf Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren und dauerte von Michaelis bis Ostern. Im Sommer bestand wegen der Erntearbeiten nur an zwei Tagen Schulpflicht. 1734 wurde das schulpflichtige Alter um zwei Jahre bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres verlängert; "Häußlinge(n) und andere(n), welche kundbarlich unvermögend sind," mußten für diese zusätzlichen Jahre nur die Hälfte des gewöhnlichen Schulgeldes bezahlen 360 . In Hildesheim bestand in den katholischen Schulen sogar schon ab dem vierten Lebensjahr Schulpflicht, sofern sich eine Schule im Dorf befand, sonst ebenfalls ab dem sechsten Jahr 361 . Im Jahr 1736 wurde im Kurfürstentum Hannover die Schulvisitation durch Pfarrer eingeführt, die in den folgenden Jahren mehrfach zur Überwachung der Schulpflicht ermahnt wurden 362 . Dennoch versuchten immer wieder ganze Dörfer, ihre Kinder wenigstens zeitweise der Schule fernzuhalten, was wiederum die Schulmeister wegen ihrer geringen Einkünfte in Existenznot brachte 363 . 18 1 5 wurden die hannoverschen Regeln auch auf die protestantischen Einwohner des ehemaligen Hochstiftes Hildesheim ausgeweitet364. Auch die westphälischen Behörden waren um die Förderung der schulischen Erziehung armer Kinder bemüht. Einem königlichen Dekret vom 24. März 1809 zufolge sollten Armenkinder auf öffentliche Kosten zur Schule oder in eine Arbeitsanstalt ('Atelier') geschickt werden 365 . Im Leinedepartement wurde per Präfekturbeschluß vom 14. Februar 1811 verordnet, daß alle wirklich armen, d.h. mit einem Attest der Mai-

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CCL, Bd. 1, Cap. I, 448-459, Verordnung den Gottesdienst un das Schul-Wesen der Stadt Zelle betreffend, de dato 22ten Mart. 1689. CCC, Bd. 1, Cap. I, 882-888, Zitat 887. Dazu KUNST, Schulen, 149f. HLO, Bd. 1, 345-349, hier 346, Verordnung für die katholischen Schulen vom 24.9.1763. Vgl. dazu BERTRAM, Hildesheim, Bd. 3, 177f., 195. CCC, Bd. 1, Cap. I, 907-909, Consistorial-Ausschreiben, wegen der wöchentlichen Schul-Visitation und öffentlichen Catechismus-Lehre, vom 31.8.1736; ebd., 911-924, acht weitere Consistorial-Ausschreiben die Schulordnung betreffend vom 31.8.1736; ebd., 924-926, Geschärftes Monitorium, das über die Schul-Ordnung mit Emst gehalten, auch von denen Pastoribus alle Monate davon an die Superintendenten, von diesen aber alle Quartal an das Consistorium Bericht erstattet werden solle, vom 23.11.1737; SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 2, 585-595, Konsistorialausschreiben vom 30.1.1776. NHStA Cal. Br. 23b Nr. 229, Konsistorialreskript an den Superintendenten der Inspektion Ronnenberg die Bezahlung des Schulgeldes betreffend vom 30.2.1770; ebd., Konsistorialreskript an den Superintendenten der Inspektion Wunstorf und den Amtmann von Blumenau vom 25.10.1771. Beide Schreiben sind abgedruckt bei Johann Karl Fürchtegott SCHLEGEL, Churhannoversches Kirchenrecht, Bd. 3, Hannover 1805, 548-552. HAGEMANN, Sammlung 1815, 764-766. NHStA Hann. 52 Nr. 1168, Kopie für den Präfekten des Leinedepartements; veröffentlicht im Bulletin des Lois Nr. 17; ebd., Schreiben an den Päfekten des Leinedepartements vom 22.4.1809.

230

Armenpflege und öffentliche Ordnung

res versehenen Kinder das Schulgeld aus den kommunalen Kassen erhalten sollten 366 . Abgesehen von den höheren Schulen existierten ganz verschiedene Einrichtungen, an denen der Elementarunterricht erteilt wurde, insbesondere die sogenannten Opferschulen der Gemeinden, die von den Küstern ('Opfermännern') geführt wurden, und private 'Winkel-' oder 'Nebenschulen' 367 . 1736/37 wurde in Göttingen von Studenten eine Armenschule gegründet, die später im Waisenhaus aufging 368 . Neben Waisen wurden dort aber auch andere arme Kinder unterrichtet. 1753 besuchten 100 Kinder die Schule, darunter 24 Waisen, 1759 waren es schon 171 Kinder 369 . In Hannover entstand 1800 eine eigene Schule für die Kinder der Militärbevölkerung 370 . Die Zahl der Kinder, die aus den Armenkassen Schulgeld erhielten, war erheblich größer als die der versorgten Kinder. In Göttingen wurde 1723 ein von der Zahl der Kinder unabhängiger Festbetrag mit den Schulmeistern vereinbart, da die Ausgaben für Schulgeld die Armenkasse überlastet hatten 371 . In Celle erhielten 1732 200 Kinder Schulgeld, ebensoviele wie Arme unterstützt wurden 372 . In Hannover wurde 1794 Schulgeld für 371 Kinder gezahlt 373 , im folgenden Jahrzehnt schwankte die Zahl zwischen 250 und 350 Kindern 374 . In Göttingen bekamen 1795 312 Kinder Schulgeld 375 , 1800 waren es 316 Kinder 376 . Auch auf dem Land erhielt eine ansehnliche Zahl von Kindern Schulgeld aus den Armenkassen: In Landolfshausen bei Göttingen waren es 1744/45 19 Kinder 377 , in Weende zwischen 1770 und 1811 jährlich zwischen 23 und 27 Kinder 378 . In Hämelnschenburg machte das Schulgeld für neun Kinder mit 6 Rtlr. pro Jahr mehr als ein Drittel der Ausgaben der Armenkasse aus (16 Rtlr. 23 Mgr.) 379 . Um von öffentlicher Unterstützung unabhängig zu werden, sollten die Kinder im Anschluß an die Schule eine Tätigkeit erlernen. Zur Verwirklichung dieses Ziels beabsichtigten die Obrigkeiten, die Kinder notfalls gewaltsam ihren Eltern 366 367

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NHStA Cal. Br. 23b Nr. 170. KUNST, Schulen, bes. 152-166. Die privaten Schulen bestanden trotz der Beschwerden der 'Opfermänner' weiter. Ebd., 160. KUNST, Schulen, 153f.; zum Waisenhaus unten Kap. V, Abschnitt 1.1. UAGö Waisenhaus Nr. 73. Siehe unten Abschnitt 5.1. KKAGö Superintendentur Göttingen A Nr. 362,1, Reskript vom 30.9.1723. CASSEL, Celle, 99. Uebersicht der allgemeinen Armenpflege (...) von Michaelis 1794 bis dahin 1795, in: NHM 5 (1795), 1649-1662, hier 1661f. Uebersicht der allgemeinen Armenpflege (...) 1795ff. Nachricht über die Versorgung der Armen in Göttingen vom Januar 1794 bis dahin 1795, 21. Nachricht über die Versorgung der Armen in Göttingen vom Jahr 1800, 6. KKAGö Pfarrarchiv Landolfshausen A Nr. 362, "Specificatio der armen Schul Kinder" 1744/45. KKAGö Pfarrarchiv Weende KR II Nr. 1, verschiedene Aufstellungen. Landeskirchenarchiv Hannover D 9 Nr. 629, Rechnung des Armenstockes 1779.

Armutsverhütung und Erziehung zum gottgefälligen Leben

231

abzunehmen. Diese Maßnahme war schon von den Reichstagen des 16. Jahrhunderts beschlossen worden 380 und wurde auch in der Polizeiordnung Herzog Christians von Lüneburg von 1618 angekündigt: "Es sollen auch der armen Leute unmangelhafte, zur Arbeit taugliche Kinder, so bald sie ihr Brod zu verdienen geschickt seyn, von ihren Eltern genommen und zu Dienste oder Handwercken gethan, ihnen auch dero Behuf, wann es nöthig, aus dem Armen-Kasten, nach Gelegenheit zu ihrem Unterhalte etwas gegeben werden" 381 . Gleichzeitig wurden hier materielle Hilfen zur Erleichterung für den Einstieg in das Arbeitsleben vorgesehen. Konkrete Hilfen stellten dann die kurhannoverschen Armenordnungen von 1702 und 1712 in Aussicht: "Oder da ein Knabe zum Handwerck Lust hat, soll demselben aus der Armen-Casse geholffen, und er bey einem feinen und Christlichen Meister eingedungen werden. Denen armen Mädgens, welche, aus Mangel nohtdürfftiger Kleidung bey niemanden in Dienst ziehen können, andern Leuten zu dienen, dennoch Lust bezeugen, soll auch hierzu aus der Armen-Casse etwas gegeben werden" 382 . Die Vermittlung an Handwerksmeister stand jedoch wegen der Zunftorganisation allenfalls einem kleinen Kreis von Kindern offen. Die Obrigkeiten suchten daher nach geeigneten Möglichkeiten, eine größere Zahl auch jüngerer Kinder, die noch bei ihren Eltern lebten, einer Beschäftigung zuzuführen.

4.2.

Kinder in Arbeits- und Werkhäusern

Als Lösung erschienen den Obrigkeiten Arbeitshäuser, in denen nicht nur erwachsene Arme und die Kinder von Bettlern, wie oben gezeigt wurde, sondern arme Kinder im allgemeinen zur Arbeit angehalten werden sollten. In der Armenordnung von 1702 wurden die lokalen Armenregistratoren angewiesen, Verzeichnisse von arbeitsfähigen Kindern und Erwachsenen aus den ländlichen Gebieten nach Hannover zu senden, "damit man dieselbe allhier oder zu Hameln im Werkhause occupiren, und ihnen ihren Lebens-Unterhalt geben könne" 383 . Auch in der lüneburgischen Armenordnung von 1712 wurden die Ortsobrigkeiten auf380

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383

Schon im Reichsabschied von 1497 wurde beschlossen, Bettlern die Kinder abzunehmen und diese zur Arbeit erziehen zu lassen. Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Bd. 2, 32. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1-126, hier 25. CCC, Bd. 1, Cap. I, 958, Armenordnung 1702; beinahe textidentisch CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1142, Armenordnung 1712. CCC, Bd. 1, Cap. I, 958, Annenordnung 1702.

232

Armenpflege und öffentliche Ordnung

gefordert, sich im Falle von Arbeitsmangel an das Geheime Ratskollegium zu wenden, damit in Werkhäusern und Manufakturen Arbeit für die Armen bereitgestellt werden könne 384 . Mit der Einrichtung von Arbeits- und Werkhäusern wurden verschiedene Absichten verfolgt. Während das Celler Zuchthaus vor allem dem Strafvollzug vorbehalten war, dienten diese vorrangig als Korrektionsanstalten für Bettler und andere, die sich kleinerer Vergehen schuldig gemacht hatten. Außerdem bestand für Arme die Möglichkeit, auf freiwilliger Basis in den Werkhäusern zu arbeiten, wofür sie einen geringen Verdienst erhielten. Darüber hinaus spielten Arbeitshäuser - wie in geringerem Maße auch Waisenhäuser sowie andere Armenanstalten 385 - in den obrigkeitlichen Vorstellungen zur merkantilistischen Wirtschaftsförderung eine wichtige Rolle, indem den entstehenden Manufakturbetrieben billige Arbeitskräfte zugeführt und eine größere Zahl von Arbeitern mit den entsprechenden Tätigkeiten vertraut gemacht werden sollten386. Dies wird besonders deutlich bei den Überlegungen für die Einrichtung eines Werkhauses in Hameln, die im Zusammenhang mit der Ansiedlung französischer Manufakturisten stand 387 . Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Einrichtung der Manufakturen war die ausreichende Versorgung mit einheimischen Arbeitskräften. Schon im Februar 1691 wurde daher der Kommissar der französischen Manufakturen, Meyer, ermächtigt, bei allen Obrigkeiten "tüchtige arme Kinder auch erwachsene müßige Leute" zur Arbeit in Hameln anzufordern. Diese Erlaubnis wurde bald darauf auf den Leinenfabrikanten Kleinschmidt ausgedehnt 388 . In der hannoverschen Armenordnung von 1700 wurde diese Absicht von der Regierung aufgegriffen; es war beabsichtigt, daß arme Kinder und Erwachsene, "da sie eines christlichen Lebens und Wandels seyn, und fleißig zu arbeiten angeloben, nach Hameln in das dazu aptirte Armen Haus aufgenommen (...) und ihnen entweder von denen französischen Manufacturiers oder denen privilegirten Toback-Spinnern etwas zu arbeiten gegeben werden solle" 389 .

384 385

386

387 388 389

CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1142. Zu den Produktionsaktivitäten in Waisenhäusern Kap. VI, zum hannoverschen Armenhaus vgl. BRÜGMANN, Armenpflege, 104. Vgl. allgemein zu dieser Entwicklung und anderen Territorien METZ, Staatsräson, 12; STEKL, Österreichs Zucht- und Arbeitshäuser, 298ff. Speziell zur Beschäftigung von Kindern: Arno HERZIG, Kinderarbeit in Deutschland in Manufaktur und Protofabrik (17591850), in: Archiv für Sozialgeschichte 23 (1983), 311-375, bes. 313-325. Zur Ansiedlung von Hugenotten in Hameln vgl. KLINGEBIEL, Weserftanzosen, bes. 57-67. NHStA Cal. Br. 8 Nr. 572, V, Schreiben der Landesregierung vom 19.12.1691. CCC, Bd. 1, Cap. I, 969.

Armutsverhütung und Erziehung zum gottgefälligen Leben

233

Trotz dieser Absichtsbekundungen läßt sich aber die Beschäftigung armer Kinder in Hameln nicht nachweisen 390 . In der Folgezeit wurden auch in anderen Städten verschiedentlich Versuche zur Einrichtung von Werkhäusern gemacht. In Hannover kam es um 1720 zur Anlegung eines Werk- und Zuchthauses, das als Straf- und Korrektionsanstalt für Bettler dienen sollte391. Zur Klientel gehörten aber fast ausschließlich Erwachsene 392 ; Kinder wurden wohl nur in Ausnahmefallen aufgenommen: 1722/23 zahlte die Kämmerei für einen Knaben, 1741/42 für ein Mädchen den Unterhalt im Werkhaus 393 . In dem 1759 angelegten Manufakturhaus wurden wahrscheinlich überhaupt keine Kinder beschäftigt 394 . Zu einer weitreichenden Beschäftigung von Kindern kam es erst Ende des 18. Jahrhunderts 395 in Hannover mit der Gründung des 1779 "vor hiesigem SteinThore belegene[n] Werck- und Arbeits-Hauß[es]" 396 ; zu den Aufgaben zählte ausdrücklich die "Erziehung armer und verlaßner Kinder, welche bis sie confirmiret sind, in diesem Hause erzogen, und zu verschiedenen Arbeiten welche einem jeden nach seinem Alter angemeßen, angeführet werden" 397 . In Celle sollte nach einem Vorschlag der Landesregierung von 1766 ein Spinnhaus eingerichtet werden, in dem Arme zur Arbeit angehalten werden sollten; eines der Ziele war, daß "der das Gassenbetteln treibenden Jugend, Unterricht zur Wollenspinnerey, mithin Gelegenheit zu einigem Verdienst gegeben werden könne" 398 . Die Einrichtung eines solchen Hauses wurde jedoch verzögert, unter anderem durch unterschiedliche Bewertung des Armenproblems durch Teile des Armenkollegiums einerseits und den Magistrat andererseits 399 . Erst 1783 wurde

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Nach einer Auskunft des Stadtarchivs Hameln vom 9.1.1990 sind dort keine diesbezüglichen Archivalien vorhanden. - Möglicherweise beabsichtigte man auch die Gründung eines Waisenhauses, die jedoch am Widerstand des Magistrates und des Stadtsuperintendenten Harding scheiterte. Vgl. dazu KLINGEBIEL, Weserfranzosen, 59 und 265 Anm. 190; F.G.H. VILLARET, Die Gründung der Colonie Hameln und die Manufacturen, in: Geschichtsblätter des deutschen Hugenottenvereins, Zehnt X, Magdeburg 1900, Heft 3 und 4, 24. BRÜGMANN, Armenpflege, 99ff.; KRAUSE, Strafrechtspflege, 225 Anm. 109. Vgl. BRÜGMANN, Armenpflege, 100. StAH B Nr. 6658g, Rechnung der Kämmerei 1722/23, und Nr. 6676g, Rechnung 1741/42. Vgl. BRÜGMANN, Armenpflege, 103-107. Zu ähnlichen Einrichtungen in München und Wien vgl. BAUMANN, Vorindustrieller Pauperismus, 290-296; FELDBAUER, Kinderelend, 74f. StAH B Nr. 4933g, Register des Arbeitshauses vom 1.9.1784 bis zum 1.9.1785. Ebd. StACe 20 A Nr. 8, Schreiben der Landesregierung an Armenkollegium und Magistrat vom 7.11.1766. Ebd., Stellungnahme des Hofrates Berger vom 30.6.1768, Stellungnahme des Bürgermeisters Carstens vom 30.7.1768.

234

Annenpflege und öffentliche Ordnung

eine neue Armenordnung verfaßt und ein Arbeitshaus eingerichtet 400 . Zu den Zielen des Arbeitshauses gehörte es unter anderem, "die Kinder der Armen von allem Müßiggang und denen daraus entstehenden höchst nachtheiligen Folgen zu entwöhnen, und selbige dagegen zur Ordnung und Arbeit anzuhalten, und darin unterrichten zu lassen" 401 . Die Kinder wurden "außer den Schul-Stunden in der Arbeit unterrichtet, und ihnen ein billiger Verdienst dafür gereicht" 402 . In Göttingen wurde 1759 auf Drängen der Landesregierung ein Arbeitshaus angelegt 403 , das wahrscheinlich nicht für Kinder gedacht war. Erst in dem 1772 eingerichteten Werkhaus sollten ausdrücklich auch Kinder untergebracht werden 404 . 1787 wohnten neun Kinder im Celler Werkhaus; insgesamt 23 waren bis dahin unterrichtet worden 405 . 1810 hielten sich dort 31 Kinder (21 Jungen und zehn Mädchen) auf. Es handelte sich um uneheliche Kinder, solche 'ohne Erziehung' und Armenkinder, zum Teil auch um Nachkommen kinderreicher Familien 406 . Die Rechnungsbücher des hannoverschen Arbeitshauses enthalten Angaben über Einnahme und Ausgabe sowie über die Produktionsleistung, geben aber keine Auskunft über die genaue Zahl der dort arbeitenden Kinder 407 . In den Jahren 1789 und 1805 wurden aber die im Arbeitshaus konfirmierten Kinder einem interessierten Publikum im "Hannöverischen Magazin" vorgestellt 408 . Die Zahl der Konfirmanden schwankte zwischen zehn und 24 409 . Vor ihrer Entlassung waren diese Kinder, deren Eltern zum Teil gestorben, zum Teil verarmt waren, mit verschiedenen Arbeiten beschäftigt gewesen: vor allem mit dem Spinnen und Spulen von Flachs, Heede 410 , Wolle und Baumwolle, dem Weben von 'Hauszeug', dem 'Gurten' von Matratzen und dem Herstellen von Schuhen. Neben der Finanzierung des Arbeitshauses dienten diese Arbeiten auch der Ausbildung der Kinder. Durch die Bindung dieser Tätigkeiten an wenige Anstalten blieb die Ausübung 400

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Ebd., Annenordnung vom 7.11.1783, auch bei SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 3, 138145. Vgl. dazu CASSEL, Celle, Bd. 2, 99f. SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 3, 139. Ebd., 141. UAGö 10a Nr. 14, Schreiben der Landesregierung vom 9.2.1759; ausführlich bei ROHRBACH, "Gesindel", 203-205. Ebd., 207; ZAHN, Annenanstalt, 120. Annalen der Braunschweig-Lüneburgischen Churlande 1 (1787), 1. St., 49-57, hier 52. NHStA Hann. 52 Nr. 2987. StAH B Nr. 4927m^963m. Verzeichnis der Kinder, welche den 29 ten Jun. 1789 auf hiesigem Arbeitshause confirmiret worden, in: Hannöverisches Magazin (im folgenden abgekürzt HM) 27 (1789), 919-926; dass. 17"® Mai 1790, in: HM 28 (1790), 743-746; dass. 22 ten Junius 1791, in: NHM 1 (1791), 1027-1034; dass. 4 ten Julius 1792, in: NHM 2 (1792), 1579-1682; dass. 5 ten Junius 1801, in: NHM 11 (1801), 871-874; dass. 31 sttn März 1805, in: NHM 15 (1805), 453-458; L.F.H. Falcke, Nachricht von denen in den hiesigen Arbeits- und Erziehungs-Anstalten vor dem Steinthore in diesem Jahre confirmirten Kindern, in: NHM 17 (1807), 1505-1510. 1798 wurden 20 Kinder konfirmiert, 1790 14, 1791 24, 1792 14, 1801 17, 1805 11 und 1807 10 Kinder. Niederdeutsch für Werg.

Armutsverhütung und Erziehung zum gottgefälligen Leben

235

der Arbeit aber auf eine begrenzte Zahl von Kindern beschränkt. Zu einer Arbeitserziehung breiterer Massen waren indes andere Unterrichtsformen notwendig.

4.3.

Die Industrieschulbewegung

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gewann die Arbeitserziehung als Inhalt einer pädagogisch-reformerischen Bewegung überall in Deutschland und auch darüber hinaus weite Verbreitung 411 . Die Ziele dieser sogenannten Industrieschulbewegung 412 gingen über den Bereich der öffentlichen Kinderfürsorge weit hinaus; vielmehr wurde die Arbeitserziehung als notwendige Ausbildung für die Kinder der gesamten ärmeren Schichten angesehen, die in den Stand versetzt werden sollten, sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen zu können. Die dahinterstehende pädagogische Auffassung war, die Kinder zu einem neuen Verhalten erziehen zu können, dessen Kern eine erlernbare, umfassende Fähigkeit zu eigenständiger Arbeit in Verbindung mit einer aktiven und positiven Einstellung war und das mit den Begriffen 'Industrie' bzw. 'Industriosität' umschrieben wurde 413 . Der Göttinger Superintendent Heinrich Philipp Sextroh, einer der theoretischen Begründer der Industrieschulbewegung, definierte 1785,

"Industrie sei überhaupt anhaltende Tätigkeit, möglichste Übung und schnelle Anwendung der Kräfte der Seele und des Körpers nicht an einem allein, sondern an mehreren und verschiedenen Gegenständen, zur wirklichen, mannigfaltigen, dauerhaften und edelsten Produktion, nicht bloß zur Befriedigung der nötigsten Lebensbedürfnisse, sondern auch in der Ansicht, zur Bequemlichkeit und Annehmlichkeit des Lebens, zur Mitteilung und zum frohen Genuß etwas über zu gewinnen" 414 .

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Zu den pädagogischen Reformströmungen vgl. HERRMANN (Hg.), "Das pädagogische Jahrhundert". Zur Geschichte der Industrieschule vgl. vor allem die materialreiche, geradezu enzyklopädisch um ein vollständiges Verzeichnis aller Industrieschulen bemühte Arbeit von MARQUARDT, Industrieschule. Allgemein Ulrich HERRMANN, Armut Annenversorgung - Annenerziehung an der Wende zum 19. Jahrhundert, in: ders., Volksaufklärung, 194-218; Heide KALLERT, Waisenhaus und Arbeitserziehung im 17. und 18. Jahrhundert, Diss. phil. Frankfurt a.M. 1964, 98ff.; SCHERPNER, Jugendfürsorge, 98106. Über die Göttinger Schule informiert umfassend Fritz TROST, Die Göttingische Industrieschule ( = Arbeiten aus dem Forschungsintsitut für Fürsorgewesen in Frankfurt a.M.; 4), Berlin 1930. Vgl. MARQUARDT, Industrieschule, 740ff. KALLERT, Waisenhaus, 106f., definiert Industriosität als Brauchbarkeit, die Fleiß und Emsigkeit umfaßte und zugleich darüber hinausging. Vgl. auch Paul MÜNCH, Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit, München 1984, 34, und den dort, 284-309, abgedruckten Art. "Industrie" aus Kriinitz' oekonomischer Enzyklopädie. Heinrich Philipp SEXTROH, Über die Bildung der Jugend zur Industrie, Göttingen 1785, 34; zitiert nach KALLERT, Waisenhaus, 107.

236

Armenpflege und öffentliche Ordnung

Die Diskussion der pädagogischen Inhalte des Industrieschulgedankens und seiner Verbreitung in der Publizistik des ausgehenden 18. Jahrhunderts überstiege bei weitem den Rahmen dieser Untersuchung und ist in anderen Arbeiten bereits ausführlich behandelt worden415. Die Einrichtung der Schulen und ihre weitere Entwicklung während der letzten 30 Jahre des Untersuchungszeitraumes müssen aber etwas eingehender behandelt werden, da die Industrieschulbewegung trotz ihrer weiterführenden Konzeption zugleich in enger Beziehung zur Entwicklung der Kinderfürsorge stand. Dies gilt um so mehr für das Untersuchungsgebiet, als die Industrieschulbewegung eines ihrer Zentren im Kurfürstentum Hannover, vor allem in Göttingen und Umgebung, hatte416. Zum Vorbild der Industrieschulbewegung nicht nur im Untersuchungsgebiet wurde - nachdem eine frühere Arbeitsschule im Fürstentum Grubenhagen gescheitert war417 - die Schule, die 1784 von dem Pastor Gerhard Ludwig Wagemann in der Göttinger Marienpfarre gegründet wurde418. Wagemann, der ab 178S auch den Vorsitz des Göttinger Armenkollegiums übernahm, hatte aus seiner Beschäftigung mit der Armenpflege die Erkenntnis gewonnen, daß "[diese] vorzüglich (...) dahin sorgen [müsse], daß die ihrer Aufsicht anvertraute Kinder, Religions-Erkenntniß erhalten, und thätige Menschen werden"419. Dies gelte nicht nur für Kinder, die gänzlich von der Armenpflege unterhalten, sondern auch für eine große Zahl solcher Kinder, die von ihren Eltern nur unzureichend erzogen würden420. Wegen der mangelnden Kapazitäten - allein in Göttingen schätzte Wagemann die Zahl der Kinder, die eine solche Arbeitserziehung benötigten, auf 250 - seien folglich nicht nur Waisenhäuser, sondern auch Werkund Arbeitshäuser nicht ausreichend für die angestrebte Arbeitserziehung der Kinder geeignet. Wagemann startete daher an der Marienschule mit zunächst nur sechs Kindern den Versuch einer Arbeitsschule, dessen Ergebnis so sehr überzeugte, daß die Zahl der Schüler bald sprunghaft anstieg: Ende 1784 waren es 60, 1786 über 100 und 1788 bereits 180 Kinder421. Das Prinzip dieser Schule war, daß durch die 415

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MARQUARDT, Industrieschule; HERRMANN, Armut; Helmuth ALBRECHT, Kinderarbeit und Industrieschule im 18. Jahrhundert, in: Johannes OEHME, Das Kind im 18. Jahrhundert ( = Documenta Paediatrica; 16), Lübeck 1988. Weitere Zentren waren vor allem Böhmen und Würzburg. MARQUARDT, Industrieschule, 44. Diese 1770 in Elbingerode gegründete Schule, die auch von der Kammer unterstützt wurde, bestand nur bis 1774. MARQUARDT, Industrieschule, 52. Ebd., 53ff.; KUNST, Schulen, 182-202; TROST, Industrieschule, 41ff.; ZAHN, Annenanstalt, 144. Ludwig Gerhard WAGEMANN, Nachricht von den in der Stadt Göttingen, zum Besten der armen Jugend gemachten Anstalten, in: Annalen der Braunschweig-Lüneburgischen Churlande 1 (1787), 2. St., 36-48, hier 37f.; Hervorhebung im Original. Ebd., 39f. Ebd., 41; MARQUARDT, Industrieschule, 53. Vgl. auch ZAHN, Armenanstalt, 134ff.

Armutsverhütung und Erziehung zum gottgefälligen Leben

237

Einrichtung von drei verschiedenen Klassen Arbeit und schulische Inhalte miteinander abwechselten. Dazu kamen Gesang und Gebet 422 . Der Unterricht dauerte im Winterhalbjahr von acht Uhr morgens bis zwölf Uhr und von 12.30 Uhr bis vier Uhr nachmittags, im Sommer wurde um sieben Uhr begonnen. Nach Schulschluß wurden "in hohem Grade verdorbene Kinder" noch bis acht Uhr abends zu weiterer Arbeit ins Werkhaus geführt 423 . Während der Arbeitszeit wurden hauptsächlich Textilarbeiten ausgeführt, besonders Spinnen; daneben wurden die Kinder in der Gartenarbeit unterwiesen424. Die fertigen Produkte wurden anfangs bei Auktionen verkauft; später dann produzierte die Schule vornehmlich Auftragsarbeiten für verschiedene Fabrikanten in Göttingen und außerhalb 425 . Die Kinder erhielten einen Teil des Erlöses in Kleidung oder auch in bar 426 . Als ab Ostern 1789 alle Kinder der Marienpfarre am Unterricht teilnahmen, stieg die Zahl der Schüler bald auf ungefähr 300 427 . In den folgenden Jahren entstanden an allen Stellen des Reiches Industrie- oder Arbeitsschulen 428 . Im Kurfürstentum Hannover breitete sich die Idee nach dem Göttinger Vorbild zunächst in der näheren Umgebung der Stadt aus. Binnen weniger Jahre entstand ein knappes Dutzend Schulen, bis zum Ende des Jahrhunderts waren es im Göttingischen insgesamt 37 429 . Zu den ersten gehörten Waake 1785 und Rosdorf 1786. Die Anstalten hatten allerdings längst nicht das Ausmaß der Göttinger Schule. Neben einigen größeren Schulen wie denen in Grone oder Rosdorf, die jeweils etwa 100 Schüler hatten 430 , gab es auch sehr kleine, in denen nur wenige Schüler beschäftigt waren. In Hannover wurde 1788 der Seminarschule eine Arbeitsklasse angegliedert 431 . Eigens für Mädchen wurden 1790 und 1791 weitere Industrieschulen gegründet 432 . 1801 schließlich wurde eine Industrieschule mit der Garnisonschule verbunden 433 . 422 423 424 425

426 427

428 429

430

431 432

433

WAGEMANN, Nachricht von den (...) Anstalten, 42f. Ebd., 41, 45. Vgl. MARQUARDT, Industrieschule, 54. Ebd., 55ff. Ebenso lieferte die Groner Schule, die sich in den ersten Jahren beständig vergrößerte, 1791 Garn an den Göttinger Tuchfabrikanten Grätzel. NHStA Hann. 74 Göttingen H Nr. 296. WAGEMANN, Nachricht von den (..) Anstalten, 44; MARQUARDT, Industrieschule, 58ff. Nachricht über die Versorgung der Armen in Göttingen vom Januar 1791 bis dahin 1792, 17. 1795 waren es 277, 1797 275 Kinder. Nachricht über die Versorgung der Armen in Göttingen vom Jahr 1795, Göttingen 1796, 9; dass. vom Jahr 1797, Göttingen 1798, 10. Vgl. MARQUARDT, Industrieschulen, bes. 162-730. Gründungsinitiativen in Ellershausen, Grone, Holtensen, Obernjesa, Settmarshausen und Volkerode sind in NHStA Hann. 784 Göttingen H Nr. 296 überliefert. Zu weiteren Schulen vgl. MARQUARDT, Industrieschule, 61-67. In Rosdorf wurden im Mai 1787 94 Kinder angelernt. NHStA Hann. 784 Göttingen H Nr. 296. MARQUARDT, Industrieschule, 68. Ebd., 69; M.J. LEISE, Das Frühlingsfest der weiblichen Industrieschule zu Hannover, den 6ten May 1792, in: Annalen der Braunschweig-lüneburgischen Churlande 6 (1792), 546-558, hier 546. MARQUARDT, Industrieschule, 70.

238

Armenpflege und öffentliche Ordnung

Die hannoversche Regierung förderte die Anlegung der Industrieschulen recht bald mit finanzieller Unterstützung. In Rosdorf hatte das Konsistorium 1786 zunächst 60 Rtlr. für ein Probejahr bewilligt, von 1788 an wurde dann mit Genehmigung der Regierung ein Zuschuß für weitere sechs Jahre gewährt 434 . Auch in Grone gab es ab 1791 für sechs Jahre eine jährliche Beihilfe in Höhe von 49 Rtlr. 435 Der Holtensener Schule stellte das Kommerzkollegium ein Kapital von 60 Rtlr. zur Verfügung, das zu einem Zinssatz von fünf Prozent bei einem Göttinger Schutzjuden angelegt wurde 436 . Ab 1790 bemühten sich die hannoverschen Behörden um eine breitere Förderung der Schulen. In einem Ausschreiben forderte das Konsistorium im Namen des Kommerzkollegiums alle Pfarrer auf, "mit der Einrichtung einer Arbeitsschule ein [sie!] Versuch" zu machen 437 . Der Grund für das Interesse des Kommerzkollegiums, das erneut finanzielle Unterstützung in Aussicht stellte, war die Hoffnung auf umfassende Wirtschaftsförderung, "als es von diesen Instituten für den Sinn und die Angewöhnung des Volks zu solchen Nebengewerben, die für Fabriken und Handlungsanstalten unentbehrlich sind, gute Folgen erwarte." Vor allem das Wollspinnen sollte erlernt und verbreitet werden. Dies führte zu weiteren Gründungen in anderen Landesteilen, so daß im Kurfürstentum Hannover am Ende des 18. Jahrhunderts 78 Industrie- oder Arbeitsschulen bestanden haben sollen, davon allein 37 im Fürstentum Göttingen, 18 in Calenberg, elf in Grubenhagen und zwölf in Lüneburg-Hoya 438 . Deutlich erkennbar ist der Schwerpunkt in Calenberg-Göttingen. Wenngleich auch in den nördlichen Landesteilen eigene Initiativen zur Anlegung von Arbeitsschulen aufkamen 439 , fand die Idee dort aufgrund der geringeren Bevölkerungsdichte und der stark agrarisch geprägten Struktur längst nicht solchen Anklang wie im Göttingischen. Aber auch dort konnten sich nicht alle Schulen auf Dauer etablieren. Da die Unterstützung aus Hannover nur punktuell war, fehlte es an einer gesicherten Finanzierung. In Dahlenrode im Klosteramt Mariengarten drohte die Industrieschule daran zu scheitern, daß die Schulmeisterin nicht bezahlt werden konnte 440 . Einige andere Einrichtungen mußten schon bald nach ihrer Gründung wieder auf-

434 435 436

437 438 439

440

NHStA Hann. 74 Göttingen H Nr. 296. Ebd. Ebd.; zur Gründung des Kommerzkollegiums vgl. OBERSCHELP, Niedersachsen 17601820, Bd. 1, 158. NHStA Hann. 74 Göttingen H Nr. 296, Konsistorialausschreiben vom 14.12.1790. MARQUARDT, Industrieschule, 67. So in Scharnebeck, vgl. [N.N.] Müller, Schreiben aus dem Lüneburgischen vom November 1792 die Industrieschule betreifend, in: Annalen der Braunschweig-Lüneburgischen Churlande 7 (1793), 93-97. NHStA Hann. 113 L Nr. 608, Schreiben des Klosteramtes vom 19.6.1801.

239

Armutsverhütung und Erziehung zum gottgefälligen Leben

geben 441 . Selbst die Göttinger Schule geriet in die Gefahr der Auflösung, da Wagemann 1793 schon 750 Rtlr. für die Industrieschule vorgeschossen hatte 442 . Erst nach mehr als zwei Jahren und mehreren Bittbriefen stimmte die Landesregierung zu, daß Wagemann das Geld vom Kommerzkollegium erstattet wurde 443 . Die Anweisung der Regierung vom Mai 1800, daß die Industrieschulen aus den Kirchenvermögen unterhalten werden sollten, so diese denn dafür ausreichten, konnte der mangelnden finanziellen Absicherung nicht abhelfen 444 . Auch in der Bevölkerung gab es Widerstände gegen die Industrieschulen. In Weende etwa konnte die Schule im Winter 1792/93 nicht fortgesetzt werden, da sich die Gemeinde auf den Standpunkt stellte, daß die Kinder ebensogut zuhause zur Handarbeit angelernt werden könnten; einige Leute hatten "sogar geäußert, daß [sich] dergleichen Handarbeiten, besonders bey den Knaben nur für ganz arme Kinder gehöreten, die auf keine andere Weise ihr Brod verdienen könnten" 445 . In der französisch-westphälischen Zeit gab es zunächst noch einige Neugründungen von Industrieschulen, etwa 1810 in Hildesheim 446 und 1811 in Geismar bei Göttingen, die allerdings noch während der westphälischen Herrschaft wieder schloß 447 . Mehrere Schulen mußten wegen Finanzmangels aufgeben 448 , andere konnten offenbar die ganze Zeit über den Lehrbetrieb aufrechterhalten 449 . Nach dem Ende der westphälischen Zeit wurden einige Schulen wiederbelebt, bis die Industrieschulbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Interesse verlor und schließlich auch die Göttinger wurde

450

Industrieschule

1854 aufgelöst

.

Die Industrieschulbewegung war die konsequente Weiterentwicklung des schon in den Armenordnungen des frühen 18. Jahrhunderts ausformulierten Gedankens, daß ein arbeitsames Leben, welches allein zur Vermeidung der Armut geeignet sei, in möglichst frühen Jahren eingeübt werden müsse. Die pädagogischen Ambitionen traten in der Regel bald hinter der Arbeit zurück. Je stärker der Verdienst der Kinder und die Rentabilität der Schulen in den Vordergrund 441

442 443 444

445 446 447 448 449

450

Harste schon 1795, vgl. MARQARDT, Industrieschule, 63; Parensen nach Beendigung der sechsjährigen Unterstützung. NHStA Hann. 74 Göttingen H Nr. 294. NHStA Cal. Br. 8 Nr. 408, Schreiben des Kommerzkollegiums vom 13.2.1793. Ebd., Schreiben der Landesregierung vom 19.12.1795. Vgl. ZAHN, Armenanstalt, 141. NHStA Cal. Br. 23b Nr. 259, Ausschreiben vom 17.5.1800. Auch bei SCHLEGEL, Kirchenrecht, Bd. 1, Beylage V, 497. NHStA Hann. 74 Göttingen H Nr. 296, Schreiben vom 18.1.1793. MARQUARDT, Industrieschule, 94. Ebd., 88. Ebd., 82. Dahlenrode, Gladebeck, Grone, Lenglern, Marienstein. NHStA Hann. 113 L Nr. 608, Schreiben des Klosteramtes Mariengarten vom 24.11.1814, und MARQUARDT, Industrieschule, 88f. MARQARDT, Industrieschule, 87ff.; ZAHN, Annenanstalt, 142f.

240

Armenpflege und öffentliche Ordnung

traten, wie gerade in Göttingen, "um so mehr wurden diese zu Manufakturen" 451 . Statt der angestrebten Vielseitigkeit erlernten die Kinder vor allem die monotonen Handgriffe der Manufakturarbeit. Als Mittel gegen die mangelhafte Versorgung von Kindern waren die Industrieschulen daher nur bedingt geeignet, wenn sie auch Ausdruck eines generellen Wandels der Armenpflege waren.

5.

Die Hinwendung zu vorbeugenden und gruppenspezifischen Maßnahmen nach dem Siebenjährigen Krieg

Die Ausdehnung armutsverhütender Ziele in der Kinderfürsorge, die in der Industrieschulbewegung weite Verbreitung fand, bewirkte am Ende des 18. Jahrhunderts eine generelle Veränderung der Unterstützungsangebote in Richtung auf gruppenorientierte und vorbeugende Maßnahmen. Im Vordergrund neugeschaffener Hilfeleistungen standen mit Soldaten und ledigen Müttern zwei Bevölkerungsgruppen, die besonders auf öffentliche Unterstützung bei der Kinderversorgung angewiesen waren.

5.1.

Unterstützungen für Militärangehörige Stiftungen - Torsperrkasse Hannover - Zuständigkeit ziviler Armenfürsorge - Gamisonschule Hannover - Krieg

Militärangehörige und vor allem ihre Familien zählten oftmals zur festen Klientel der Armenpflege 452 . Soldatenkinder wurden häufig aus den Armenfonds unterstützt und stellten in einigen Waisenhäusern eine beachtliche Gruppe unter den Insassen 453 . Aufgrund des besonders ausgeprägten landesherrlichen Interesses am Militär wurden Soldatenwitwen mit Kindern eigens in der Celler Armenordnung von 1711 hervorgehoben und in die armenpflegerischen Maßnahmen einbezogen:

"Unter solche aus denen Armen-Geldern ordinarie participirende Personen sollen auch (...) nohtleidende Soldaten Witwen, welche dasebst gebürtig seyn, oder doch deren Männer bey ihrem Leben und seit ihres Absterbens allda einquartiret gewesen, (...) mit aufgenommen werden, wann dieselben zuvorderst von dem jedesmaligen Guarnison-Prediger ein Attestatum wegen ihres Zustandes, Dürftigkeit, Leben und Wandels, Wissenschaft in ihrem Christen-

451 452 453

Arno HERZIG, Kinderarbeit in Deutschland in Manufaktur und Protofabrik (1759-1850), in: Archiv für Sozialgeschichte 23 (1983), 311-375, 325. Vgl. dazu ENDRES, Almenproblem, 228. Siehe unten Kap. VI, Abschnitt 1.1.

Die Hinwendung zu vorbeugenden und gruppenspezifischen Maßnahmen

241

thum, auch der Anzahl ihrer noch unerwachsenen Kinder vorzeigen" 454 . In Göttingen z.B. hatten Familien von Militärangehörigen einen erheblichen Anteil an den Leistungen der kommunalen Armenpflege: Von den 1796 unterstützten Familien und Frauen mit Kindern - insgesamt 215 Personen - waren 53, also etwa ein Viertel, Soldatenfrauen oder -witwen inklusive ihrer Kinder 455 . Auch in der Armenschule nahmen Militärkinder am Unterricht teil und stellten etwa ein Viertel der Schüler 456 . In Hannover wurden zwischen 1795 und 1811 ständig etwa 40 bis 80 Arme dem Militär zugerechnet 457 . Die Versorgung der Militärangehörigen im Rahmen des kommunalen Armenwesens war jedoch umstritten. Da das Militär nicht zur städtischen Rechtsgemeinschaft zählte und keine städtischen Steuern zahlte, übernahmen die Kommunen die Fürsorge für Garnisonsangehörige nur widerwillig 458 . Im Gegensatz etwa zu Preußen existierten im Kurfürstentum Hannover aber vor dem Siebenjährigen Krieg kaum zielgerichtete Maßnahmen zur Unterstützung von Soldatenfamilien oder -kindern 459 . Zwar zahlte die Kriegskanzlei nach 20jährigem Dienst eine Pension für entlassene oder Versehrte Militärs sowie geringe Beihilfen für kranke Soldaten; diese wurden jedoch nur einem kleinen Kreis dieser Invaliden zuteil und nach deren Tod eingestellt460. Die hannoversche Invalidenkasse verfügte jährlich über 50 Rtlr., von denen "arme Soldatenkinder und kranke Soldatenfrauen" unterstützt werden sollten, die Celler Kasse über 40 Rtlr. 461 . Daneben bestand vor dem Siebenjährigen Krieg für Soldatenkinder nur das sogenannte Meinhelfsche Legat. Diese von dem 'Rentamtmann' Meinhelf 1722 eingerichtete Stiftung wurde von der Kriegskanzlei verwaltet und diente der Versorgung von Soldatenwaisen462. 454

CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1086, Annenordnung Stadt Celle 1711. Nachricht über die Versorgung der Armen in Göttingen vom Jahr 1796, 5-7. 456 UAGö Waisenhaus Nr. 73, Aufstellung vom 1.11.1753. 457 Uebersicht der allgemeinen Armenpflege (...) 1795ff. 458 Die Stadt Celle weigerte sich 1754, die Unterhaltskosten für das von seinem Vater verlassene Kind eines Tambours zu übernehmen. NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Schreiben des Großvogtes von 4.11.1754. 459 Der preußische König stiftete in Potsdam ein besonderes Militärwaisenhaus, das 1724 eröffnet wurde. Bernhard R. KROENER, Bellona und Caritas. Das Königlich-Potsdamsche Große Militär-Waisenhaus. Lebensbedingungen der Militärbevölkerung in Preußen im 18. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Potsdam - Staat, Armee, Residenz in der preußisch-deutschen Militärgeschichte, Berlin 1993, 231-252; Detlef KOTSCH, Potsdam: die preußische Garnisonstadt, Braunschweig 1992, 27-29; FISCHER, Armut, 45. 460 PRÖVE, Stehendes Heer, 203. In Celle bestand zudem seit den 1680er Jahren ein Invalidenhospital. Carl-Hermann COLSHORN, Die Hospitalkassen der hannoverschen Armee. Ein Vorläufer der Sozialversicherung seit 1680 ( = Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens; 77), Hildesheim 1970, 13-17. Witwen und Waisen erhielten noch einen Monat nach dem Tod des Empfängers das sogenannte Gnadengeld. Ebd., 69. 461 COLSHORN, Hospitalkassen, 17 und 70. 462 Ebd., 1. 455

242

Armenpflege und öffentliche Ordnung

Darüber hinaus zahlte die Hospitalkasse der Armee verschiedene Zuschüsse an Armenkassen und Waisenhäuser, nämlich 280 Rtlr. aus der hannoverschen Kasse und 130 Rtlr. aus der Celler Kasse 463 , wovon erstere zum größten Teil das hannoversche Armenkollegium erhielt; diese Summen entsprachen jedoch bei weitem nicht der tatsächlichen Belastung der Kommunen durch Soldaten. Der Göttinger Superintendent Berkelmann wies zu Beginn des 18. Jahrhunderts mehrfach auf die Überforderung des Armenwesens durch die nach Garnisonswechseln zurückbleibenden Soldatenwitwen und deren Kinder hin: "So ist deren Anzahl sehr groß, und doch von der milice oder KriegsCantzeley keine ordentliche beysteur dem behueff geschehen" 464 . Gegen Ende des Siebenjährigen Krieges wurde das Problem unversorgter Familien und Kinder von aktiven Soldaten aufgrund der Rekrutierungen auch für die Regierung

offensichtlich465.

Bei

der

Rekrutierung

von

1761 466

waren

"verschiedene Leute angenommen worden, welche Frau und Kinder unversorget zurücklassen müssen"467. In Reskripten vom 26. und 27. Januar 1762 468 forderte die Landesregierung daher die Ortsobrigkeiten auf, sich besonders dieser verlassenen Angehörigen anzunehmen und vor allem darauf zu sehen, "daß wenn diese Leute einige Brinck-Kohten, oder andere Höfe besitzen, solche in Abwesenheit des Wirtes, nicht wüste werden mögen, sondern durch alle hiezu erforderliche Mittel in Cultur erhalten werden" 469 . Daher sollten solchen Leuten die öffentlichen Abgaben möglichst erlassen werden, wofür die Beamten bei den entsprechenden Stellen und Kassen sorgen sollten. Waren Mütter und Kinder "wegen notorischer Armuht, Kranckheit, oder der Kinder unmündigen Alters" erwerbsunfähig oder "die Mütter wohl gar verstorben" 470 , sollten die Kinder nach Maßgabe des Ediktes von 1721 von den je463 464

465

466 467 468 469 470

Ebd., 69, 153 (Rechnung 1731), 155ff. (Rechnungen 1790 bis 1792). KKAGö Superintendent« Göttingen A Nr. 362, I, "Pro Memoria was bey durchgegangener Annenordnung vom 6. Dec: 1702, angewendet worden" vom 16.3.1718 und nochmals in einem undatierten Bericht. 1718/19 fand gerade ein Regimentswechsel in Göttingen statt, vgl. PRÖVE, Stehendes Heer, 97 Anm. 25. Auch in Wien wurde im selben Jahr eine Sonderstiftung für Soldatenkinder eingerichtet. FELDBAUER, Kinderelend, 46. NHStA Cal. Br. 23b Nr. 220, Verordnung vom 10.12.1761. Ebd. Nr. 221, Regierungsreskript vom 26.1.1762. Ebd. Ebd., Regierungsreskript vom 27.1.1762. Ebd.

Die Hinwendung zu vorbeugenden und giuppenspezifischen Maßnahmen

243

weiligen Ortsobrigkeiten bzw. aus den Armenkassen unterhalten werden. Notfalls sollte dies wieder über die Erhöhung der sogenannten Nebenanlagen finanziert werden, allerdings nur nach vorheriger Genehmigung durch die Landesregierung. Während hier die Sorge für die Angehörigen der Soldaten weiterhin den Ortsobrigkeiten überlassen war, wurden wenige Jahre darauf besondere Mittel für die Versorgung von Soldatenwaisen bereitgestellt. Dem waren Verhandlungen über eine private Spende zugunsten armer Soldatenkinder im Jahr 1762 vorausgegangen. Der jüdische Proviantmeister Isaac Israel erbot sich gegenüber der Kriegskanzlei, ein Kapital zu stiften, von dessen Zinsen jährlich 200 Rtlr. für die Versorgung von Soldatenkindern verwendet werden sollten 471 . Da Israel an dieses Geschenk einige die Verzinsung des Kapitals betreffende Bedingungen knüpfte, bestanden auf Seiten der Regierung Bedenken gegen die Stiftung. Die Kriegskanzlei allerdings befürwortete Israels Vorschlag nachhaltig, "als es gar zu sehr an Mitteln feiet, der Menge hülfloser Soldatenkinder unter die Arme zu greifen" 4 7 2 . Mit 200 Rtlr. könnten dagegen etwa zehn Kinder unterstützt werden. Trotzdem kam es schließlich auf Betreiben der königlichen Kammer nicht zu einer Einigung über die Stiftungsbedingungen473. Diese Verhandlungen aber hatten das Bewußtsein für die Lage von Soldatenkindern geschärft. 1765 forderte der Geheime Rat in London, Burchard Christian von Behr, die Regierung im Namen des Königs auf, ein Verzeichnis bedürftiger Kinder zu erstellen, um gezielt Mittel bereitstellen zu können474. Nach einem Briefwechsel zwischen der Kriegskanzlei und der Regierung wurde auf die Erhebung einer solchen Liste aber schließlich verzichtet, da man eine nicht zu bewältigende Flut von Unterstützungsgesuchen befürchtete;

Hilfsmaßnahmen

sollten auf Anordnung des Königs jeweils im Einzelfall erfolgen. Da die Finanzierung der königlichen Kammer übertragen worden war, verfiel der Kammersekretär Scheele auf die Idee, einen Kapitalfonds für den Unterhalt von Soldatenkindern durch die Erhebung eines sogenannten Torsperrgeldes in Hannover, "bey zween oder dreyen Thoren, nach dem Beyspiel auswärtiger großen Städte" zu schaffen 475 . Eine solche Torsperre, bei der einige Tore nicht bei Einbruch der Dunkelheit geschlossen wurden, sondern je nach Jahreszeit bis neun oder elf Uhr abends gegen Entrichtung eines Wegegeldes passiert werden konnten, war bereits 1738 in Göttingen und 1750 in Hameln eingeführt worden; der Erlös diente dort aber an-

471 472 473 474 475

NHStA Hann. 47 I Nr. 397, Promemoria der Kriegskanzlei vom 16.8.1762. Ebd., Promemoria vom 8.11.1762. Ebd., Königliches Reskript vom 3.12.1762. NHStA Hann. 47 I Nr. 521, Schreiben vom 1.1.1765. Ebd, Schreiben vom 15.3.1765.

244

Aimenpflege und öffentliche Ordnung

deren Zwecken 476 . Nachdem auch die Armeeführung und der König dem Vorschlag zugestimmt hatten 477 , verfügten die Geheimen Räte per Verordnung vom 21. Mai 1765 Torsperren am Calenberger und am Steintor, die am 1. Juli begannen 478 . Im Jahr 1766 wurden die Mittel für die Versorgung von Soldatenkindern noch einmal aufgestockt, indem auf die Verleihung von Ehrentiteln wie Hofrat oder Kommissar eine Gebühr eingeführt wurde 479 . Diese sollte von den Geheimen Räten erhoben und "zu demjenigen Fond mit bestimmet [werden], welcher mittelst des dorten ohnlängst eingeführten Sperr-Geldes, behuef Unterhaltung armer Unter-Officiers- und Soldaten-Witwen und Kinder, aufkommt", also ebenfalls von der Kriegskanzlei verwaltet werden. 1792 endlich wurde das bestehende Meinhelfsche Legat durch eine private Stiftung um 10 000 Rtlr. aufgestockt 480 . Dennoch blieb die Zahl der von diesen Mitteln unterstützten Kindern im Vergleich zur allgemeinen Armenfürsorge gering. Aus der Meinhelfschen Stiftung wurden 1764 59 Kinder unterhalten, wofür inklusive 'extraordinairer' Ausgaben 1556 Rtlr. aufgewendet wurden. Die Empfänger verteilten sich auf die Städte Hannover, Göttingen, Harburg, Nienburg, Hameln und Lüneburg. Die meisten Kinder lebten in Hannover (25) und Harburg (11), in Göttingen und Hameln gab es jeweils nur drei Unterstützungsempfänger. Das Ausmaß der Bedürftigkeit, so vermutete auch die Kriegskanzlei, dürfte jedoch weitaus größer gewesen sein. Bei einer Aufstellung aller notleidenden Soldatenkinder, wie sie der König gefordert hatte, befürchtete der Kanzleisekretär Haltermann, "daß von Stunde an die elterlosen Soldaten und Invaliden-Kinder, die bislang entweder noch an den öffentlichen Armen-Anstalten Theil haben, oder von gutwilligen Leuten unterhalten werden, allenthalben verlassen seyn würden, in der Hoffnung oder festen Voraussetzung daß künftighin aus den herrschafftlichen Cassen für sie werde gesorget werden" 4 8 1 .

476

477

478

479 480

481

Göttingen: NHStA Hann. 47 I Nr. 523, Verordnung vom 16.5.1738. Von den Einnahmen erhielt ein Drittel die Garnison, der Rest abzüglich einer Entschädigung für die Torschreiber und Einnehmer ging an die Stadt. Vgl. auch PRÖVE, Stehendes Heer, 251f.; Hameln: SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 1, 681f., Verordnung vom 15.5.1750. NHStA Hann. 47 I Nr. 523, Schreiben des Feldmarschalls von Spörcken vom 3.4. und 19.4.1765, königliches Reskript vom 21.5.1765. SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 2, 119-122; NHStA Hann 47 I Nr. 523, Promemoria der Kriegskanzlei vom 17.6.1765. NHStA Hann. 47 I Nr. 522, Verordnung vom 18.7.1766. NHStA Hann. 93 Nr. 338, Schreiben der Justizkanzlei Celle an die Regierung vom 22.9.1792. Frau von Schilden und ihre Tochter hatten insgesamt über 50 000 Rtlr. gestiftet, die - teilweise im Anschluß an einen Nießbrauch durch Verwandte - verschiedenen Annenanstalten zugutekommen sollten. NHStA Hann. 47 I Nr. 521, Schreiben an die Regierung vom 17.1.1765.

Die Hinwendung zu vorbeugenden und gruppenspezifischen Maßnahmen

245

Auch der Verwendungszweck der aus der Sperrkasse erhobenen Gelder sollte auf Wunsch der Kriegskanzlei ganz allgemein 'ad pios usus' lauten, damit nicht Magistrate und Spender glauben sollten, Soldatenkinder seien nun ausreichend versorgt 482 . Die Regierung folgte diesem Wunsch und benutzte in der endgültigen Verordnung die Formulierung "zu einem gewissen milden Behuf" 483 . Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen wurde der Verwendungszweck der Torsperrgelder bekannt, und 1769 kam es zu einem offenen Streit zwischen der Kriegskanzlei und dem hannoverschen Armenkollegium. Dieses verlangte, entweder einen Zuschuß aus der Torsperrkasse zu bekommen oder von der Versorgung von Militärpersonen entbunden zu werden. Der Einnahme von 240 Rtlr. aus der Hospitalkasse und 200 Rtlr. aus der Kriegskasse - wobei letztere, ein Geschenk Georgs I., nach Ansicht des Armenkollegiums für die Bezahlung der Bediensteten verwendet werden sollten - stünden weitaus höherere Ausgaben für Soldaten und ihre Familien gegenüber. Tabelle 9: Ausgaben des hannoverschen Armenkollegiums für Militärangehörige und deren Familien 1764-1768 Jahre 1764 1765 1766 1767 1768

l Summe in Rtlr. | 1112 1241 1211 1023 1044

| | | | | i

Quelle: NHStA Hann. 47 Nr. 523

Diese Ausgaben machten durchschnittlich 60 bis 70 Prozent der Gesamteinnahme des Armenkollegiums, die sich auf 1740 Rtlr. 484 belief, aus. Der Streit wurde jedoch von den Geheimen Räten beendet, die eine Trennung von Zivil- und Militärarmenwesen wegen der daraus folgenden Überlastung der Kriegskanzlei befürchteten und daher jegliche Änderung der bisherigen Aufgabenverteilung ablehnten. Welchen Effekt die mehrfache Aufstockung der Gelder für die Versorgung von armen Soldatenkindern hatte, läßt sich nicht genau sagen. Die Rechnungen der Hospitalkasse von 1790 bis 1792 verzeichnen jeweils ungefähr 3500 Rtlr. "Beysteuern für arme und gebrechliche Invaliden, auch deren Witwen und Way-

482 483 484

Ebd. Nr. 523, Schreiben der Kriegskanzlei an die Regierung vom 17.4.1765. Ebd., Verordnung vom 21.5.1765. 600 Rtlr. von der Kammer, 600 RÜr. von der Klosterkasse, 440 Rtlr. aus der Kriegs- und Hospitalkasse, 50 Rtlr. aus der Lizentkasse und 50 Rtlr. aus der Kümmerei der Altstadt.

246

Armenpflege und öffentliche Ordnung

sen", ohne daß sich diese Ausgaben jedoch genauer aufschlüsseln lassen485. Aus den Geldern der Torsperrkasse wurde später hauptsächlich die im Jahre 1800 gegründete Garnisonschule finanziert, in der Soldatenkinder freien Unterricht erhielten 486 . Allerdings wurden auch weiterhin Unterstützungen an Einzelpersonen gezahlt 487 . Einen neuen Anschub in der Versorgung von Soldatenwitwen und -waisen brachten die Koalitionskriege. Nach einem Plan vom 2. November 1793 wurde eine Kasse gegründet, die sogenannte "Societät für Militair-Witwen und Waisen zu Hannover", aus der die Hinterbliebenen der in den Kriegen gefallenen Soldaten Zuschüsse für ihren Lebensunterhalt bekommen sollten. Die Witwe eines Unteroffiziers sollte monatlich 1 Rtlr. erhalten, die Witwe eines einfachen Soldaten 24 Mgr. Dazu kamen für alle Frauen noch einmal 6 Mgr. monatlich für jedes Kind. Für die Versorgung von Vollwaisen im Alter unter einem Jahr wurden monatlich 1 Rtlr., bis zum Alter von 14 Jahren dann 24 Mgr. bezahlt. Waren mehrere Geschwister gleichzeitig zu versorgen, verringerte sich der Betrag auf 18 Mgr. pro Kind und Monat 488 . Das Geld für die Kasse wurde durch Sammlungen und Spenden, auch des Königs, aufgebracht. Die Einnahmen waren ausgesprochen hoch, allein in den ersten drei Monaten kamen ungefähr 10 000 Rtlr. zusammen. Verzeichnisse der Einnahmen und der Empfanger der Unterstützungen wurden in den Jahren 1794 und 1795 im "Hannöverischen Magazin" veröffentlicht489. Die Zahl der zu versorgenden Witwen und Waisen - bei denen es sich meist um Halbwaisen handelte - stieg nach diesen Listen rapide an. Tabelle 10: Anzahl versorgter Soldatenwitwen und -waisen 1794/95 1 | | | | | | | | 1

Witwen

Monate Jan.-März April-Juni Juli-Sept. Okt.-Dez. Jan.-März April-Juni Juli-Sept.

1794 1794 1794 1794 1795 1795 1795

56 109 146 217 237 320 434

Kinder 101 190 261 398 504 646 845

1 davon Vollwaisen | 1 1 ? 9 9 ? 13 23 30

1 1 1 1 | | | 1

Quelle: HM 4 (1794), 5 (1795)

485 486

487

488 489

COLSHORN, Hospitalkassen, 71 und 155ff. Ebd., 1. Zur Gründung der Schule Hannöverische Anzeigen 1800, 2408f., auch in NHStA Cal. Br. 23b Nr. 259. StANom R VI Nr. 2. Auf Anweisung der Kriegskanzlei begutachtete der Northeimer Magistrat das Gesuch einer Witwe um Aufnahme eines ihrer Kinder in die Zahlung des Meinhelfschen Legates oder der Torsperrkasse. NHM 5 (1795), ungezählte Seiten am Ende des Bandes. NHM 4 (1794) und 5 (1785), passim.

Die Hinwendung zu vorbeugenden und gruppenspezifischen Maßnahmen

247

Daher wurden die Sätze ab dem 1. Oktober 1795 gesenkt; Witwen sollten fortan nur noch 18 Mgr. monatlich erhalten490. Anlaß war jedoch nicht allein der sprunghafte Anstieg der Zahl der Versorgungsberechtigten: Auch die Spendenbereitschaft war nach anfänglichem Enthusiasmus deutlich abgeflaut.

T a b e l l e 11: E i n n a h m e n d e r M i l i t ä r v e r s o r g u n g s k a s s e (Spendenaufkommen) 1793/94 1 |

Monate

1 1 | R t l r . M g r . Pf. |

| |

Nov. Dez. Jan. Feb. März

1 | | |

April| Mai | Juni | Juli j

|

1 7 9 3

| |

1 | | | |

1 7 9 4

| | | | j

1 4 1 8 , 2 7 , 6

j

5 2 1 1 , 1 6 , 2

1

2 2 1 8 , 2 8

| |

| i

Gesamt

| i

1

6 0 3 , 1 1 , 5

1

3 2 1 , 3 4 , 7

j

1 , 7

j

2 9 0 , 2 7 , 2

1

1 7 1 , 2 3 , 5

1

4 0 9 , 1 2 , 1

1

2 3 3 ,

9 , 2

2 6 4 , 2 5 ,

1 6

1 7

j 1

5 9 9 , 3 1 , 1

2 9 4 ,

9• 1 Sept. | Okt. | Nov. | Dez. |

Summe Zinsen

1

1 4 3 9 , 2 8 , 2

Au

| |

1

3 3 6 9 , 2 8 ,

1 1

8 4 7 , 1 7 , 1

1

4 6 6 , 2 3 , 4

1

3 1 4 ,

1

Quelle: wie Tabelle

4 , 5

1

10

Nach dem dritten Quartal 1795 wurden keine weiteren Listen mehr veröffentlicht. Die finanzielle Überlastung der Kasse aber verschärfte sich. Im November 1797 wurde die Zulassung deshalb erheblich eingeschränkt: Witwen unter 50 Jahren, die kein oder nur ein Kind versorgen mußten, wurden künftig nur noch aufgenommen, wenn sie neben dem Armutszeugnis auch eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorweisen konnten491. In der Zeit der französischen Besetzung wurden die hannoverschen Militärkassen aufgelöst bzw. zu anderen Zwecken bestimmt. Im Königreich Westphalen sollten Witwen und Waisen von Militärangehörigen, die in der Schlacht gefallen oder binnen sechs Monaten danach an ihren Wunden gestorben waren, einen Teil der Pension (Rückzugsgeld) als 'Hülfsgeld' erhalten, und zwar bei Offizieren ein Viertel des höchstmöglichen Rückzugsgehaltes, bei Soldaten und Unteroffizieren ein Drittel. Jedes Kind sollte bis zum 18. Geburtstag die gleiche 490 491

NHM 5 (1795), hinter 1248. KKAGö Superintendentur Göttingen A Nr. 363, Anweisung vom 20.11.1797.

248

Annenpflege und öffentliche Ordnung

Summe erhalten wie die Mutter, jedoch nur bis zu einer Gesamtsumme in Höhe des ganzen Rückzugsgehaltes. Voraussetzung war außerdem die rechtmäßige Ehe 492 . Im April 1813 wurde diese Regelung auf die mittellosen Angehörigen verschollener Soldaten ausgeweitet493. Nach dem Zusammenbruch des westphälischen Staates unternahmen es die hannoverschen Behörden, die Sperrkasse und das Meinhelfsche Legat wiederherzustellen und "den Unterofficiers- und Soldaten-Kindern vom hannoverschen Truppen-Corps (...) hinwieder angedeihen zu lassen" 494 . Da die Kassen jedoch durch die Besetzung zweckentfremdet worden waren, sollte die Unterstützung zunächst auf solche Kinder beschränkt bleiben, "welche vor der feindlichen Usurpation von königl. Kriegs-Canzlei zu Hannover, als der rechtmäßigen Oberbehörde, zum Beneficiai Genuß recipirt sind" 495 . Um zu ermitteln, welche von diesen Kindern noch am Leben waren, sollten die Pfarrer Zertifikate ausstellen, aus denen die Herkunft der Kinder und die Art der derzeitigen Versorgung ("ob das Kind aus einer anderen öffentlichen Kasse etwas erhalte? oder ob es in einem Armeninstitute oder Waisenhause aufgenommen sei?"496) hervorgehen sollten. Als 1815 nochmals hannoversche Truppen ausrückten, nahm sich die Regierung, ähnlich wie am Ende des Siebenjährigen Krieges, der zurückgelassenen Familien an. In einem Ausschreiben wurden sämtliche nachgeordneten Obrigkeiten angewiesen, zusätzlich zu dem halben 'Service', also der Einquartierungsleistung der Untertanen, die die Soldatenfamilien erhalten hatten, "für die zurückgebliebenen Familien der ausmarschirten Soldaten und Landwehrmänner zu sorgen (...) und denjenigen, welche einer Unterstützung bedürfen, solche in der Maaße zukommen zu lassen, als deren Umstände, die Zahl der zu ernährenden Kinder und sonstige individuelle Verhältnisse solches erfordern" 497 . Diese Anordnung sollte auch für die Angehörigen derjenigen ehemaligen Soldaten gelten, die nun wieder in die Garnisonen einberufen worden waren; wenige Wochen später wurde sie auch auf alte Eltern und jüngere Geschwister von einberufenen Soldaten ausgedehnt 498 . Die Ausdehnung der Unterstützungen für die Angehörigen von Soldaten seit 1761 war wesentlich durch die kriegerischen Ereignisse und die dadurch bedingte Verschärfung der Lage dieser Menschen motiviert. Kinder von Militäran492 493 494 495 496 497

498

Gesetz-Bülletin 1808, 451ff., hier 469-471, Königliches Dekret vom 10.11.1808. Gesetz-Bülletin 1813, 333-335, Königliches Dekret vom 27.4.1813. HAGEMANN, Sammlung, 1814, 544-546, Ausschreiben der Kriegskanzlei vom 18.6.1814. Ebd. Ebd. NHStA Cai. Br. 23b Nr. 274 I, Ausschreiben der provisorischen Regierungs-Kommission vom 19.5.1815. Ebd., Ausschreiben vom 8.6.1815.

Die Hinwendung zu vorbeugenden und gruppenspezifischen Maßnahmen

249

gehörigen waren jedoch nur eine der durch Versorgungslosigkeit besonders gefährdeten Gruppen, die am am Ende des 18. Jahrhunderts in den Mittelpunkt der Armenpflege traten.

5.2.

Entbindungsanstalten: Zufluchtsorte für ledige Mütter Gründungen in Göttingen, Hannover, Celle und Hildesheim - verschiedene Motive und Zielsetzungen - Zahl entbundener Frauen - Kinderversorgungsaufgaben

Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts rückte die Lage lediger Mütter vermehrt in den Mittelpunkt öffentlichen Interesses, bedingt durch die Auseinandersetzungen über den Kindsmord und einer an manchen Orten konstatierten Zunahme unehelicher Geburten 499 . Ungefähr zur selben Zeit entstanden in vielen Orten Deutschlands neuartige Institutionen: die zeitgenössisch als Accouchirhäuser oder hospitäler bezeichneten Entbindungsanstalten, aus denen später die Frauenkliniken hervorgingen 500 . Zur Klientel dieser Anstalten zählten beinahe ausschließlich ledige Schwangere 501 . Die Gründe für die Einrichtung der Anstalten waren vielfaltig: Neben ärztlichem Lehrinteresse bestand vor allem der Wunsch nach einer besseren Hebammenausbildung, aber auch die Erleichterung der Lage lediger Schwangerer und die Verhütung von Kindsmorden spielten eine Rolle 502 . Welche Gründe überwogen, muß im Einzelfall genau geprüft werden. Im Untersuchungsgebiet existierten vier solcher Anstalten, in - nach der Reihenfolge ihrer Gründung - Göttingen, Hannover, Celle und Hildesheim 503 . Die 499 500

501

502 503

Vgl. zum Anstieg unehelicher Geburten Kap. VI, Abschnitt 1.4. Vgl. dazu Uta HAKEMEYER und Günther KEDING, Zum Aufbau der Hebammenschulen in Deutschland im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Lutwin BECK (Hg.), Zur Geschichte der Gynäkologie und Geburtshilfe. Aus Anlaß des 100jährigen Bestehens der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Berlin usw. 1986, 63-88, bes. 7Öff. In Göttingen waren von 232 Frauen, die zwischen 1751 und 1762 im Accouchirhospital entbunden wurden, 229 (98,7 Prozent) ledig. Tabellarisches Verzeichnis aller in der Königl. Entbindungsanstalt zu Göttingen seit ihrer Einrichtung am Ende des Jahres 1751 bis zum Ende des Jahres 1762 vorgefallenen Geburten nebst ihrem Erfolg für Mutter und Kind, Göttingen 1795. Vgl. Jürgen SCHLUMBOHM, Ledige Mütter als "lebendige Phantome" oder: Wie aus einer Weibersache eine Wissenschaft wurde. Die ehemalige Entbindungsanstalt der Universität Göttingen am Geismar Tor, in: Kornelia DUWE, Carola GOTTSCHALK und Marianne KÖRNER (Hgg.), Göttingen ohne Gänseliesel. Texte und Bilder zur Stadtgeschichte, Göttingen 1988, 150-163, hier 152. Im Celler Accouchirhospital waren von 1772 in den Jahren 1784-1815 entbundenen Frauen 1674 (94,5 Prozent) ledig. NHStA Hann. 156 Celle Akz. 104/79 Nr. 4-6. In Hannover waren 1811-1815 von 780 Frauen 771 (98,8 Prozent) ledig. StAH B Nr. 8623m und 8624m, Aufnahmebücher 1811-1815. HAKEMEYER/KEDING, Aufbau, 76f. Vgl. dazu JUGLER, Repertorium, 3-8; Heinrich DEICHERT, Geschichte des Medizinalwesens im Gebiet des ehemaligen Königreichs Hannover. Ein Beitrag zur vaterländischen Kulturgeschichte (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens; 26), Hannover und Leipzig 1908, 100-108; HAKEMEYER/KEDING, Aufbau, 74-76; Zum Aufbau der Hebammenschulen in Niedersachsen im 18. und 19. Jahrhundert. Darstellungen und Instrumente. Katalog der Ausstellung im Landtagsgebäude Hannover 1981 (später in Osnabrück

250

Armenpflege und öffentliche Ordnung

erste deutsche Entbindungsanstalt wurde nach dem Vorbild Straßburgs 1751 in Berlin eingerichtet, w o zuvor allerdings schon ein Entbindungssaal in der Charité existiert hatte 504 . Bald darauf begannen in Göttingen auf Vorschlag des dort lehrenden Mediziners Albrecht von Haller die Planungen für die Gründung einer universitären Entbindungsanstalt 505 . Auf Hallers Anregung forderte der Geheime Rat von Münchhausen die Stadt auf, sich mit Haller in Verbindung zu setzen, und schlug einige Räume im Hospital St. Crucis als Standort vor 506 . Obgleich sich die Stadt prinzipiell mit dem Vorhaben einverstanden erklärte 507 , verzögerten Auseinandersetzungen über die Finanzierung, in deren Verlauf es zu Verstimmungen zwischen der Regierung und der Stadt kam, die Fertigstellung der Räume bis in den Frühsommer 1752 508 . Erster Leiter der Entbindungsanstalt wurde der Straßburger Professor Roederer, der schon seit Ende 1751 in Göttingen lehrte und ungeduldig auf die Nutzung der Räume wartete 509 . 1784 wurde mit Unterstützung des Königs mit der Errichtung eines eindrucksvollen Neubaus für das Hospital begonnen, der 1791 bezogen werden konnte 510 . 1792 übernahm Friedrich Benjamin Osiander die Leitung der Anstalt. Bei der Gründung überwog deutlich das medizinische Interesse 511 . Die Anstalt war ausschließlich der Ausbildung von Medizinstudenten und Hebammen gewidmet, denen die aufgenommenen Frauen als "lebendige Phantome" (Osiander) 512 dienten 513 . Totgeburten und mißgebildete Föten wurden seziert oder "in Weingeist aufbewahrt" 514 . Osiander, dessen Sammlung von geburtshilflichen Instru-

504

505

506 507 508

509

510

511 512 513 514

und Braunschweig). Mit einem Geleitwort des Präsidenten des Niedersächsischen Landtags; Heinrich MARTIUS (Hg.), Die Universitätsfrauenklinik in Göttingen, 1751-1951, Stuttgart 1951; SCHLUMBOHM, Ledige Mütter; Wilhelm POTEN, Festschrift zur Eröffnung der neuen Provinzial-Hebammenlehranstalt zu Hannover am 1. April 1803, Hannover 1903; Waither RÜGE und Uta HAKEMEYER, Zur Geschichte der Niedersächsischen Landesfrauenklinik Hannover, in: Niedersächsische Landesfrauenklinik Hannover, hg. vom Niedersächsischen Sozialminister, Hameln 1981; Konrad TIETZE, Vom Accouchir-Hospital zur Landesfrauenklinik, Celle 1959. HAKEMEYER/KEDING, Aufbau, 73; zu der 1728 in Straßburg gegründeten Entbindungsstation vgl. ebd., 71f. Zur Gründung SCHLUMBOHM, Ledige Mütter, 150-152; ZAHN, Armenanstalt, 145ff. Vgl. auch MARTIUS (Hg.), Universitätsfrauenklinik, 11 f. und 51. StAGö AA Gesundheit Hebammen Nr. 1, Schreiben der Landesregierung vom 26.4.1751. UAGö 4 IVg Nr. 1, Schreiben der Geheimen Räte vom 13.5.1751. StAGö AA Gesundheit Hebammen Nr. 1, Schriftwechsel Januar bis Juni 1752. Vgl. auch HAKEMEYER/KEDING, Aufbau, 76. HAKEMEYER/KEDING, Aufbau, 76. Am 10.1.1752 drängte Roederer auf die baldige Fertigstellung der Accouchirstuben. StAGö AA Gesundheit Hebammen Nr. 1. NHStA Hann. 92 XXXIV, II Nr. 3i; DEICHERT, Medizinalwesen, 101; HAKEMEYER/KEDING, Aufbau, 79; SCHLUMBOHM, Ledige Mütter, 150f. StAGö AA Gesundheit Hebammen Nr. 1, Schreiben der Landesregierung vom 26.4.1751. SCHLUMBOHM, Ledige Mütter, 157. HAKEMEYER/KEDING, Aufbau, 77; SCHLUMBOHM, Ledige Mütter, 153-157. Friedrich Benjamin OSIANDER, Denkwürdigkeiten für die Heilkunde und Geburtshülfe, Bd. 1, Göttingen 1794, LXVIII. Vgl. SCHLUMBOHM, Ledige Mütter, 158.

Die Hinwendung zu vorbeugenden und gruppenspezifischen Maßnahmen

251

menten schon bei den Zeitgenossen berühmt war 515 , war zugleich wegen seines ausgiebigen Einsatzes eben dieser Instrumente berüchtigt 516 . Die Aufnahme vor allem lediger Frauen entsprang nicht sozialen Motiven, sondern schlicht der Tatsache, daß die Entbindung in der Anstalt als nicht ehrenhaft angesehen wurde und verheiratete Frauen die Hausgeburt vorzogen 517 . Um über genügend Patientinnen für den Lehrbetrieb zu verfügen, wurde bewußt mit verschiedenen Vergünstigungen um ledige Schwangere geworben. Der wichtigste Anreiz war die Befreiung von den sonst bei unhelichen Geburten angedrohten Strafen 518 . Bereits im Vorfeld der Anlegung hatte die Regierung beschlossen, "denjenigen Weibs-Personen, welche sich in Unehren schwängern lassen, die bräche auf den Fall zu erlassen" 519 , daß sie im Accouchirhaus niederkämen. Auch von der Kirchenbuße waren die Frauen in soweit befreit, als sie sie nichtöffentlich in der Anstalt ablegen konnten 520 . Ein weiterer Anreiz für die gewöhnlich mittellosen Schwangeren war die kostenlose Unterkunft schon einige Zeit vor der Geburt 521 . Anders verhielt es sich bei der Einrichtung einer Entbindungsanstalt in Hannover, mit der die Regierung den hannoverschen Bürgermeister Alemann 1780 beauftragte 522 . Zwar war auch hier die Ausbildung von Hebammen ein wichtiges Ziel der Anstalt, gleichzeitig aber sollten "arme verlaßene Weibes-Personen welche sonst ohne Gefahr ihrer selbst und ihrer Leibesfrucht, nirgends unterkommen können, in dem Accouchier-Hause aufgenommen, daselbst nothdürftig verpflegt und entbunden werden" 523 . 1781 konnte Alemann berichten, daß er "an einem schicklichen Ort" ein Haus gemietet habe und die ersten Frauen aufgenommen seien 524 . Finanziert wurde die Anstalt mit Überschüssen aus der Landeslotterie und einem Beitrag der Calenber-

515

516 517 518

519 520 521 522

523 524

Walter KUHN und Ulrich TROEHLER, Annamentarium obstreticium Goettingense: Eine historische Sammlung zur Geburtsmedizin, Göttingen 1987. DEICHERT, Medizinalwesen, 102; SCHLUMBOHM, Ledige Mütter, 156. SCHLUMBOHM, Ledige Mütter, 152. NHStA Hann. 93 Nr. 1111, Schreiben vom 12.2.1788. Ebenso wurde in Hessen-Kassel verfahren, vgl. BROCKMANN, Ärgernis, 25. UAGö 4 IVg Nr. 1, Schreiben der Geheimen Räte vom 14.5.1751. Ebd. Nr. 7, Schreiben der Regierung vom 11.1.1788; SCHLUMBOHM, Ledige Mütter, 153. SCHLUMBOHM, Ledige Mütter, 152. Vgl. DEICHERT, Medizinalwesen, 102f.; HAKEMEYER/KEDING; Aufbau, 77; POTEN, Festschrift, 18f. NHStA Hann. 80 Hannover I Cd Nr. 737, Regierungsreskript vom 21.9.1780 (Auszug). NHStA Hann. 93 Nr. 1632, Schreiben Alemanns vom 10.8.1781.

252

Armenpflege und öffentliche Ordnung

gischen Landschaft 525 . Ebenso wie in Göttingen war der Aufenthalt für die Frauen kostenlos 526 . Bei der Gründung der Entbindungsanstalt in Celle 1784 stand dagegen wiederum die Hebammenausbildung eindeutig im Vordergrund 527 . Seit 1780 erwog die lüneburgische Landschaft die Anlegung einer solchen Anstalt, um "dem sich mit jedem Jahre vervielfältigenden Verlust an nützlichen Einwohnern, (...) die durch Ungeschicklichkeit kenntnißloser Bademütter, in der Geburt umkommen", Einhalt zu gebieten 528 . Eine Befragung aller ländlichen Obrigkeiten im selben Jahr ergab, daß es nur wenige ausgebildete Hebammen im Fürstentum gab 529 . 1782 machte die Landschaft dann konkrete Vorschläge für die Anlegung einer Hebammenlehranstalt in Celle, in der sowohl praktizierende Hebammen als auch Berufsanfangerinnen aus dem Fürstentum Lüneburg unentgeltlich unterrichtet werden sollten 530 . Befördert wurde das Vorhaben dadurch, daß bald darauf bei der Niederkunft der Frau des Oberappellationsgerichtsrats von Schlepegrell Mutter und Kind durch einen Hebammenfehler ums Leben kamen: "das allgemeyne Geschrey ist: Ein Geburtshelfer!" 531 . Nach wiederholtem Drängen der Landschaft wurde schließlich 1784 ein Haus angekauft und bald darauf die Anstalt eröffnet 532 . Mit freier Unterbringung für vier Monate sowie einer geringen Barzahlung wurden wiederum vor allem ledige Schwangere als Lehrobjekte gewonnen 533 . In Hildesheim wurde 1782 eine Hebammenlehranstalt gegründet, an der jedoch zunächst kein praktischer Unterricht stattfand 534 . Erst unter der preußischen Verwaltung 1803 wurde ein Haus für die Aufnahme von Schwangeren eingerichtet, das aber während der westphälischen Zeit vorübergehend wieder geschlossen werden mußte535. Wie in den anderen Anstalten erhielten die aufgenommenen Schwangeren verschiedene Vergünstigungen536.

525

526 527

528 529 530 531 532

533 534

535 536

NHStA Hann. 80 Hannover I Cd Nr. 737, Schreiben Alemanns vom 5.12.1781; NHStA Hann. 93 Nr. 2150, Reskript vom 22.6.1786. Vgl. DEICHERT, Medizinalwesen, 103; POTEN, Festschrift, 18. HAKEMEYER/KEDING, Aufbau, 77. SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 3, 168-171, Verordnung wegen des künftigen Unterrichts der für das Fürstenthum Lüneburg bestimmten Hebammen vom 6.8.1784. Vgl. DEICHERT, Medizinalwesen, 104-106; TIETZE, Accouchir-Hospital, 9. NHStA Hann. 93 Nr. 2918, I, Schreiben der Landschaft vom 10.1.1780. Ebd. Ebd., Schreiben der Landschaft vom 29.1.1782. Ebd., Schreiben des 'Hofinedicus' Thaer vom 23.10.1782. Ebd., Schreiben der Regierung vom 29.7.1784. Vgl. DEICHERT, Medizinalwesen, 104f.; TIETZE, Accouchir-Hospital, 10. SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 3, 170, Verordnung vom 6.8.1784. NHStA Hild. Br. 10 Nr. 1513, Vorschlag des Medizinalrates Püttmann für die Einrichtung einer Entbindungsanstalt, Anlage zu einem Schreiben vom 19.8.1803. Ebd.; DEICHERT, Medizinalwesen, 107. NHStA Hild. Br. 10 Nr. 1513, Vorschlag des Medizinalrates Püttmann fiir die Einrichtung einer Entbindungsanstalt.

Die Hinwendung zu vorbeugenden und gruppenspezifischen Maßnahmen

253

Die Zahl der aufgenommenen Frauen stieg zumindest in den hannoverschen Anstalten rasch. In Göttingen, wo zunächst etwa 20 Frauen jährlich entbunden wurden 537 , kamen seit dem Ende der 1770er Jahre etwa 40, ab 1792 jährlich über 70 Kinder zur Welt 538 . In Celle wurden bald jährlich etwa 50, 1805 sogar 90 Frauen aufgenommen 539 . Die größte Anstalt war aber die in Hannover. Dort stieg die Zahl der Geburten von 61 (1789) auf 161 (1805)540. 1811 wurden 186 und 1812 197 Frauen aufgenommen, danach ging die Zahl der Aufnahmen leicht zurück 541 . Der Andrang der Schwangeren in Hannover war so groß, daß der damalige Leiter der Anstalt, Heine, den Präfekten 1811 bat, eine Polizeiverfügung zu erlassen, daß Frauen, die ohne den einige Zeit vorher einzuholenden Aufnahmeschein in die Anstalt kämen, bestraft würden. Es geschehe nämlich häufig, daß Schwangere, "wenn bereits Wehen eingetreten sind, oder wohl gar die Niederkunft schon erfolgt ist, auf eine ungestüme Weise, gewöhnlich im großen Gefolge von Menschen" ankämen oder gar "auf öffentlicher Straße am hellen Tage niederkommen" 542 . Obgleich die unentgeltliche Entbindung lediger Schwangerer in der Regel nur ein Nebeneffekt bei der Anlegung von Accouchiranstalten war, boten die Anstalten doch mittellosen Schwangeren Zuflucht nicht nur für die Entbindung, sondern zum Teil auch für einen gewissen Zeitraum vor und nach der Geburt. Denkt man an die oft verzweifelte Lage lediger Schwangerer vor und bei der Niederkunft, wie sie in der Vorgeschichte von Kindsmorden eine wichtige Rolle spielte 543 , bedeutete die Aufnahme in einer solchen Anstalt sicherlich zumindest vorübergehend eine deutliche Verbesserung ihrer Lage. Ob durch die Anstalten tatsächlich Kindsmorde verhütet werden konnten, läßt sich allerdings nicht beurteilen; die Hoffnung aber bestand bei den Zeitgenossen. Der Hildesheimer Medizinalrat Püttmann nahm an, "die Errichtung einer solchen Anstalt [werde] manchen Kindermord verhindern, den doch wohl blos Furcht vor Mangel in einer Periode, wo die Mutter so sehr der Unterstützung bedarf, hervorbringt" 544 . Im Jahr 1800 bat das Amt Brunstein den Göttinger Anstaltsleiter Osiander darum, "ein gantz armes verwaistes und blödsinniges Hirtenmädchen" im Accouchirhospital aufzunehmen, da es "Reden äusere, welche es nothwendig machten, daß sie unter beständige Aufsicht gebracht werde, damit sie sich und ihrer Leibesfrucht keinen Schaden zufüge" 545 . 537 538 539 540 541 542 543 544 545

Tabellarisches Verzeichnis aller (...) zu Göttingen vorgefallenen Geburten. OSIANDER, Denkwürdigkeiten, Bd. 2.2., Göttingen 1795, 360 und 365. NHStA Hann. 156 Celle Akz. 104/79 Nr. 4-6. NHStA Hann. 93 Nr. 2197-2201, Rechnungen der Accouchiranstalt 1781-1805. StAH B Nr. 8623m und 8624m, Aufhahmebücher 1811-1815. NHStA Hann. 52 Nr. 2978, Schreiben Heines vom 22.11.1811. Vgl. Kap. III, Abschnitt 2.4. NHStA Hild. Br. 10 Nr. 1513, Anlage zu einem Schreiben vom 19.8.1803. UAGö 4 IVg Nr. 21, Schreiben Oslanders vom 26.1.1800.

254

Armenpflege und öffentliche Ordnung

Zumindest die Göttinger Anstalt berührte das Thema Kinderversorgung noch auf andere Weise. Während Kinder, deren Mütter in der hannoverschen Anstalt bei der Geburt gestorben waren, nach Möglichkeit an die Heimatorte der Frauen zurückgebracht wurden 546 , wurde Osiander 1807 von der Landesregierung "autorisirt, die Kinder der in dem Hospital entbundenen und verstorbenen Personen, deren Verwandte nicht anzuhalten stehen, gedachte Kinder zu versorgen, auf Kosten des Hospitals ohne weitere Anfrage, in die Pflege austhun zu können" 547 . Im selben Jahr unterhielt das Accouchirhaus in Göttingen vier Kinder, deren Mütter im Hospital gestorben waren 548 . Schon 1801 war ein Junge, dessen Mutter kurz nach der Geburt verstorben war, auf Kosten des Hospitals in Holtensen bei Göttingen in Pflege gegeben worden. Zu seiner Konfirmation erhielt er 1815 noch einmal Kleidung im Wert von 13 Rtlr. 14 Mgr. und 4 Pf. 549 Die Wirkung der Entbindungsanstalten lag insgesamt jedoch weniger in der Kinderversorgung als in der Erleichterung der für ledige Mütter besonders schwierigen Zeit vor und unmittelbar nach der Niederkunft. Allerdings waren die Mütter danach wiederum auf sich gestellt; für die langfristige Sicherung der mütterlichen Kinderversorgung bestanden weiterhin nur die Zuwendungen der lokalen Armenkassen. Allerdings gab es auf anderem Gebiet Ansätze für eine wirklich präventive Bekämpfung kindlicher Versorgungslosigkeit: bei den Hinterbliebenenversicherungen.

5.3.

Exkurs: Hinterbliebenenversicherungen

Am Ende des 18. Jahrhunderts kamen vielerorts Vorsorgekassen für bestimmte Berufsgruppen und schließlich auch allgemeine Personenversicherungen auf, die eine Versorgung der Hinterbliebenen beim Tod des Familienernährers vorsahen 550 . Vorläufer dieser Versicherungen waren genossenschaftliche Sterbekassen

546

547 548 549 550

1795 forderten die Geheimen Räte den Hamelner Magistrat auf, ein Kind aus Hannover abzuholen. NHStA Hann. 80 Hannover I Cd Nr. 740, Reskript vom 28.1.1795. Im Januar 1812 mußte die Gemeinde Wilkenburg ein Kind abholen. NHStA Hann. 52 Nr. 2978. UAGö 4 IVg Nr. 22, Schreiben der Regierung vom 15.8.1807. NHStA Hann. 52 Nr. 16, "Etat indicatif des hôpitaux, maisons de charité." UAGö 4 IVg Nr. 24. William BOEHART, ...nicht brothlos und nohtleidend zu hinterlassen. Untersuchungen zur Entwicklung des Versicherungsgedankens in Hamburg, insbesondere zur Entstehung der Hamburgischen Allgemeinen Versorgungsanstalt von 1778 ( = Schriftenreihe der Patriotischen Gesellschaft; 1), Hamburg 1985, 4f., 32-76.

255

Die Hinwendung zu vorbeugenden und gmppenspezifischen Maßnahmen

einzelner Berufsgruppen 551 . Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden dann in zunehmender Zahl Witwen- und Waisenkassen; die meisten wurden auf obrigkeitliche Anregung gegründet und waren den landesherrlichen Bediensteten vorbehalten 552 . Im Kurfürstentum Hannover entstanden Kassen u.a. für die Angehörigen des Oberappellationsgerichtes (1746), eine Professorenwitwenkasse, eine Pfarrwitwenkasse und eine Offizierswitwen- und -waisenkasse (1762) 5 5 3 ; in Hildesheim wurde 1770 eine Witwenkasse "für die weltliche Dienerschaft des Hochstifts Hildesheim" ins Leben gerufen 554 . In Hannover "Calenbergische

wurde

1766 schließlich

mit Zustimmung

Wittwen-Verpflegungs-Gesellschaft"

des

Königs

gegründet 555 .

die

Diese

"weitaus größte Witwenkasse des 18. Jahrhunderts"556, die von der Calenbergischen Landschaft verwaltet wurde, war nicht beruflich gebunden und stand prinzipiell jedermann offen 5 5 7 . Obwohl die Kasse 1780 über 3700 Interessenten hatte, war ihre Bedeutung für den Bereich der Witwen- und Waisenversorgung begrenzt. Abgesehen davon, daß der Großteil der Bevölkerung auch die anfänglichen Versicherungsbeiträge nicht hätte aufbringen können, beruhte die versicherungstechnische Grundlage auf schon von Zeitgenossen kritisierten fehlerhaften Berechnungen, die zunächst zu einer ständigen Erhöhung der Beiträge und schließlich zur Zahlungsunfähigkeit führten 558 . Der Versuch einer allgemeinen Witwenkasse war damit vorerst gescheitert, die Witwen- und Waisenvorsorge blieb auf kleine privilegierte Kreise beschränkt 559 .

551

552

553

554

555

556 557

558

559

BOEHART, Entwicklung des Versicherungsgedankens, 32-3S. In Hannover z.B. entstanden 1703 eine Begräbnis- und Witwenkasse für wohlhabende Bürger, 1728 eine Sterbekasse des Schneideramtes. HAUPTMEYER, 1636-1802, 72 und 84. BOEHART, Entwicklung des Versicherungsgedankens, 36; J.F. von UNGER, Von Witwen Cassen, in: Hannoverische gelehrte Anzeigen 1753, Bd. 3, 1281-1296. OBERSCHELP, Niedersachsen, Bd. 1, 230-237; Wilhelm EBEL, Über die Professoren-Witwen- und Waisenkasse zu Göttingen, in: Göttinger Jahrbuch 14 (1966), 145-162. Stellvertretend für das lebhafte Interesse an diesen Kassen in der zeitgenössischen Publizistik seien hier genannt das Göttingische Historische Magazin 2 (1788), 372f., Supplément der Nachrichten von der Göttinger Professoren-Witwen-Casse; ebd., 548-552, Vorschläge für eine allgemeine Pfarrwitwenkasse; NHM 24 (1814), hinter 1088, Bericht über die Offiziers-Witwen- und Waisenkasse. Hochfürstlich-Hildesheimische Landes-Verordnungen, 3 Bde., Hildesheim 1782-1791, Bd. 2, 24-41, Ordnung vom 24.3.1770. Verordnung, behuef der von Calenbergischer Landschaft anzulegender Witwen-VerpflegungsGesellschaft, in: HM 4 (1766), 1409-1424, im Anhang die Berechnungstabelle. BOEHART, Entwicklung des Versicherungsgedankens, 37. Gewisse Ausnahmen waren an das Alter und Beruf geknüpft, vgl. BOEHART, Entwicklung des Versicherungsgedankens, 37. Genauer BOEHART, Entwicklung des Versicherungsgedankens, 37-40. Die zeitgenössische Kritik wurde vor allem von dem Göttinger Kämmerer Johann August Kritter geübt. Erneute Überlegungen zu einer Witwen- und Waisenversorgungsgesellschaft gab es im Königreich Westphalen. NHStA Hann. 52 Nr. 366.

256 6.

Armenpflege und öffentliche Ordnung

Zusammenfassung

Die Versorgung armer und unversorgter Kinder war eine der wichtigsten Aufgaben des frühneuzeitlichen Armenwesens, das seit dem Ende des 17. Jahrhunderts zusehends unter landesherrliche Kontrolle geriet. Die Fürsten und ihre Regierungen bemühten sich in mehreren Armenordnungen um eine einheitliche Organisation des Armenwesens; sie machten Vorgaben für die Finanzierung und Verwaltung der Armenkassen und versuchten zugleich, den Kreis der Hilfsberechtigten einzugrenzen. Die Leistungen der Armenpflege waren daher mit wenigen Ausnahmen ausschließlich Einheimischen vorbehalten. Doch auch unter diesen wurde nochmals

zwischen

'wirklichen',

d.h.

erwerbsunfähigen,

und

'selbstver-

schuldeten', d.h. arbeitsfähigen Armen unterschieden. Körperlich unversehrte Männer und Frauen sollten fortan keine Almosen erhalten, sondern zur Arbeit verpflichtet werden. Zu den berechtigten Armen zählten neben Armen und Kranken vor allem Kinder. Nicht nur Waisen und Findelkinder, wie in der Forschung häufig behauptet 560 , wurden versorgt, sondern auch arme Witwen und kinderreiche Familien erhielten öffentliche Unterstützung zur Versorgung ihrer Nachkommen. Infolge des Prinzips, daß jede Gemeinde selbst für ihre Armen zu sorgen habe, war die Belastung der Kommunen je nach Größe, Anzahl der zu versorgenden Armen und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit sehr unterschiedlich. Prinzipiell mußte jede Kommune ein Interesse daran haben, die Zahl der Unterstützungsberechtigten möglichst gering zu halten. Besonders umstritten war daher die Findelkinderversorgung. Zwar gehörte diese im weitaus größten Teil des Untersuchungsgebietes zu den obrigkeitlichen Aufgaben, doch hatten auch die jeweiligen Behörden ein Interesse daran, sich der Versorgung dieser Kinder zu entziehen. Vor allem fremde alleinstehende Kinder wurden deshalb zwischen verschiedenen Instanzen hin- und hergereicht, oder die Sorge für ihre Zukunft wurde denjenigen überlassen, die durch Zufall die Kinder aufgenommen hatten. Auch Pflegeeltern gingen das Risiko ein, letzten Endes für ihre Ziehkinder aufkommen zu müssen. Im Endeffekt gingen die Versuche von Obrigkeiten und Gemeinden, sich ihrer Versorgungspflicht zu entziehen, aber vor allem zu Lasten der Kinder. Mit der Beschränkung der Armenpflege auf die ortsansässige Bevölkerung korrespondierten die ordnungspolizeiliche Bekämpfung jeglicher Formen des Bettels und die Vertreibung nichtseßhafter Bevölkerungsgruppen. Auch von diesen Maßnahmen waren Kinder in mannigfacher Weise betroffen, da sie häufig zum Betteln ausgeschickt wurden und auch fester Bestandteil der Vagantenbevölkerung waren. Die Versorgung und Erziehung der Kinder erschien den Obrigkeiten zu560

SCHERPNER, Kinderfürsorge, 9.

Zusammenfassung

257

dem als probates Mittel zur Bekämpfung von Bettel und vagierender Lebensweise. Bettelnde Kinder wurden ihren Eltern abgenommen und in Waisenund Armenhäuser eingewiesen, Bettler ihrer Kinder beraubt. Einem regelrechten Umerziehungsprogramm wurden die Kinder von Zigeunern unterworfen, die dadurch der Lebensweise ihrer Eltern entfremdet und in die seßhafte Gesellschaft integriert werden sollten. Insofern trugen ordnungspolizeiliche

Maßnahmen

ebenso wie die zunehmende Kriminalisierung abweichenden Verhaltens überhaupt zur Schaffung elternloser, unversorgter Kinder bei. Ziel der obrigkeitlichen Kinderversorgung war es, die Kinder vor Armut zu bewahren und zu arbeitsamen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Wichtiger Bestandteil der Armenunterstützungen waren daher Förderung des Schulbesuchs und die Anleitung der Kinder zur Arbeit in Arbeits- und Werkhäusern. Der Erfolg dieser Versuche muß allerdings ebenso wie derjenige der sich am Ende des 18. Jahrhunderts rasch ausbreitenden Industrieschulbewegung bezweifelt werden, da die Kinder meist kaum zukunftsträchtige Fähigkeiten erwarben, sondern die kurzfristige Ausbeutung ihrer Arbeitskraft im Vordergrund stand. Der in der Industrieschulbewegung wichtige Gedanke der präventiven Armutsbekämpfung führte nach dem Siebenjährigen Krieg zur Einrichtung von Witwen- und Waisenkassen, die allerdings in der Hauptsache landesherrlichen Bediensteten vorbehalten waren. Gleichzeitig kam es zu einer Differenzierung der öffentlichen Kinderversorgung. In den Vordergrund der neugeschaffenen Maßnahmen rückten Soldaten und ledige Mütter, deren Kinder besonders häufig von Versorgungslosigkeit betroffen waren. Die Versorgung armer und alleinstehender Kinder sowie die Sorge um ihre Erziehung wurden also keineswegs erst in der Industrieschulbewegung oder der Hamburger Armenreform von 1788 virulent, sondern gehörten zu den wichtigsten Teilen des Armenwesens im 18. Jahrhundert. Zwar kam es am Ende des Jahrhunderts zu einer Vermehrung und Differenzierung der Maßnahmen sowie zu einer Ausweitung vorbeugender Ansätze, der Gedanke der präventiven Armutsbekämpfung stand aber gerade in der Kinderfürsorge schon länger im Vordergrund der armenpflegerischen Ziele. Bestes Beispiel dafür ist die Anwendung der Zwangserziehung im Rahmen ordnungspolitischer Gewalt. Der angesichts der Trennung der Bedürftigen in 'gute' und 'schlechte' Arme naheliegende Schluß, das frühneuzeitliche Armenwesen sei durch "Kriminalisierung und Repression auf der einen Seite, Erziehung und Integration auf der anderen Seite" 561 charakterisiert worden, läßt sich für die Kinderfürsorge so nicht aufrechterhalten; Erziehung stand in diesem Fall nicht im Gegensatz zu Repression, sondern war durchaus Mittel derselben. Die Veränderung der öffentlichen Kinderversorgungsmaß561 JÜTTE, Disziplinierungsmechanismen, 103.

258

Armenpflege und öffentliche Ordnung

nahmen betraf also nicht allein ihre Ziele, sondern mindestens ebenso sehr die verfügbaren Mittel. Bevor dieser Wandel noch weiter analysiert werden kann, bedarf es jedoch einer Beschäftigung mit einem weiteren Instrument der Kinderversorgung - den Waisenhäusern.

Kapitel V

Waisenhäuser: Symbol frühneuzeitlicher Kinderfürsorge und Streitfrage der Aufklärung

In Ergänzung zu den oben beschriebenen Formen öffentlicher Kinderversorgung im Rahmen der allgemeinen Armenpflege bestanden mit den Waisenhäusern Einrichtungen, die ausschließlich der Versorgung und Erziehung von Kindern gewidmet waren. Als aufwendigste und von den Zeitgenossen besonders aufmerkam wahrgenommene Form der Kinderversorgung kommt den Waisenhäusern Symbolcharakter für den Umgang mit dem Problem unversorgter Kinder zu. Zwischen 1680 und ungefähr 1750 als geeignetste Maßnahme gegen kindliche Versorgungslosigkeit angesehen und daher in größerer Zahl entstanden, gerieten die Waisenhäuser nach dem Siebenjährigen Krieg zunehmend ins Blickfeld öffentlicher Kritik, was zur Auflösung einiger Anstalten führte. Im vorliegenden Kapitel wird diese Entwicklung verfolgt und zugleich das Wirken der Anstalten nachgezeichnet.

1.

Das Waisenhaus als Patentlösung: Neugründungen vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zum Siebenjährigen Krieg

Wenn die Jahre von 1750 bis 1850 als "Jahrhundert der Findelkinder"1 charakterisiert werden können, so dürfen die Jahre von 1650 bis 1750 im Reich mit dem gleichen Recht als Zeit der Waisenhäuser gelten. Zwar hatten das 15. und 16. Jahrhundert eine erste Phase von Waisenhausgründungen erlebt2, erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges erreichten diese aber eine bis dahin nicht gekannte quantitative und geographische Verbreitung. Während die Entwicklung in den ersten Jahrzehnten noch zögernd verlief, nahmen Waisenhausgründungen seit dem Ende des 17. Jahrhunderts im ganzen Reichsgebiet zu: eine Bewegung, die gleichermaßen katholische wie protestantische Reichstände, kleine wie größere Territorien, Flächenstaaten wie Reichsstädte erfaßte 3 . 1 2

3

HUNECKE, Findelkinder, 14. So in StraBburg (Ersterwähnung des Waisenhauses 1481), München (Kinder- und Gebäranstalt 1489), Lübeck (Waisenhaus 1546), Speyer (Waisenhaus 1573), Würzburg (Kinderhaus im Juliusspital 1579) und Münster (Waisenhaus 1592). KALLERT, Waisenhaus, 6; MUMMENHOFF, Waisenhaus Nürnberg, Teil 1, bes. 69-72; Josef JACOBS, Der Waisenhausstreit. Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik des 18. und 19. Jahrhunderts, Diss. phil. Freiburg 1931, Quakenbrück 1931, 15f.; ROEPER, Das verwaiste Kind, 50-81. Um nur einige Beispiele zu nennen: Würzburg (neues Waisenhaus 1659), Regensburg (Waisenhaus 1666, kath. Waisenhaus 1731), Altenburg (1671), Frankfurt (Armen-, Waisen-

260

Waisenhäuser

Auch im Untersuchungsgebiet entstanden abgesehen von dem schon 1643 gegründeten hannoverschen Armen- und Waisenhaus in dieser Zeit allein neun Waisenhäuser. Im späteren Kurfürstentum Hannover fand die früheste Gründung in Celle statt (1696), es folgten Einbeck (1713), Clausthal (1719), Nörten (1735), Moringen (1746) und Göttingen (1746). In Hildesheim wurde das erste, altstädtische Waisenhaus 1694 eingerichtet, später kamen die katholische (1750) und die Neustädter Anstalt (1754) hinzu 4 . Auch in den an das Untersuchungsgebiet angrenzenden Staaten entstand eine Reihe von Waisenhäusern, so in Hessen-Kassel (Kassel 1690), in der Reichsstadt Goslar (1693), im Eichsfeld (Duderstadt 1685) und im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel (Wolfenbüttel 1704, Helmstedt 1752) 5 . Neben Zucht- und Arbeitshäusern 6 waren Waisenhäuser eines der wesentlichsten Merkmale der Armenfürsorge in den hundert Jahren nach dem Dreißigjährigen Krieg und rein zahlenmäßig wohl ebenso bedeutend wie jene 7 . Teilweise waren beide Anstaltsarten auch institutionell verbunden 8 . Die hier untersuchten Anstalten aber waren fast ausnahmslos der Kinderversorgung gewidmet: Indiz für die Begründung einer gezielten Kinderfürsorge schon weit vor dem 19. Jahrhundert 9 . Dafür spricht neben der zahlenmäßigen Vermehrung der Waisenhäuser auch eine Ausdehnung

4

5

6

7

8 9

ihrer Bedeutung.

Zum einen weiteten viele

dieser

und Arbeitsbaus 1679), Bremen ("blaues" Waisenhaus 1684, Petri-Waisenhaus 1692), Dresden (Waisenzuchtanstalt 1687); Darmstadt (1697); Halle (1698), Berlin (1702), Pforzheim (Waisen-, Zucht- und Tollhaus 1718), Stuttgart (1710), Wiesbaden (Hallisches Waisenhaus 1725), Augsburg (katholisches Waisenhaus 1737) und Zürich (neues Waisenhaus 1771). Quellen: MUMMENHOFF, Waisenhaus Nürnberg, Teil 1, bes. 82-91 (dort auch weitere Orte); GERLACH, Waisenhaus Darmstadt; KALLERT, Waisenhaus, 35-37; KUHN, Sozialfürsorge, bes. 32; ROEPER, Das verwaiste Kind, 103-119; STIER, Fürsorge und Disziplinierung, 42. Genaueres siehe unten Abschnitt 1. Der genaue Zeitpunkt einiger Waisenhausgründungen ist schwierig zu bestimmen, weil oft ein recht großer Zeitraum zwischen den ersten Planungen und der schließlichen Inbetriebnahme lag. Daher wird hier das Jahr des Erstbezugs als entscheidender Zeitpunkt für die Kinderfürsorge angegeben. STEIN, Waisenhaus Kassel; Ralf TAPPE, Zur Armen- und Waisenpflege der Stadt Goslar im 18. und 19. Jahrhundert, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 59 (1987), 281-298, hier 282; Joseph KÖNIG, Zur Geschichte des Waisenhauses in Wolfenbüttel, in: Der Freundeskreis des Großen Waisenhauses 89 (1981), 15-19; Robert SCHAPER, Das Waisenhaus zu Helmstedt, in: Der Freundeskreis des Großen Waisenhauses 86 (1980), 12-14; über Duderstadt NHStA Hann. 52 Nr. 371. Zu Zucht- und Arbeitshäusern und ihrer charakteristischen Bedeutung vgl. STIER, Fürsorge und Disziplinierung, bes. 15-26; STEKL, "Labore et fame"; ders., Zucht- und Arbeitshäuser; WEBER, Zucht- und Arbeitshäuser; SACHSSE/TENNSTEDT, Geschichte der Armenfürsorge, Bd. 1, 122. Eine Zusammenstellung der Zuchthausgründungen findet sich bei STIER, Fürsorge und Disziplinierung, 218-221. So in Pforzheim. Ebd. Die falsche Auffassung von der Entstehung der Kinderfursorge am Ende des 18. oder im 19. Jahrhundert wird am konsequentesten vertreten von SACHSSE/TENNSTEDT, Geschichte der Annenfürsorge, Bd. 1, 244, die davon ausgehen, Waisenhäuser hätten sich erst im 19. Jahrhundert aus dem "Hospitaltyp" der Armenpflege herausgebildet.

Das Waisenhaus als Patentlösung

261

Neugründungen ihren Wirkungskreis gegenüber früheren Waisenhäusern deutlich aus: nicht nur Waisen aus den Städten, in denen die Anstalten eingerichtet waren, wurden aufgenommen, sondern auch Waisen aus ländlichen Gebieten. Zum anderen ging damit eine Ausweitung in der gesellschaftlich-administrativen Verankerung einher; Träger der Anstalten waren nunmehr nicht allein die Städte, sondern auch der Landesherr und andere Verfassungsorgane wie die Stände. Um Aufschluß über die Vielfältigkeit der Initiativen und Motive zu erhalten und den Stellenwert von Waisenhäusern in der frühneuzeitlichen Armenpflege beurteilen zu können, müssen die teilweise langwierigen und unübersichtlichen Gründungsprozesse der einzelnen Anstalten etwas ausführlicher rekonstruiert werden.

1.1.

Die kurhannoverschen Waisenhäuser Celle - Clausthal - Einbeck - Moringen - Göttingen - Nörten - Northeim

Das Waisenhaus in Celle entstand aus der Zusammenarbeit zwischen der Stadt und der zu dieser Zeit noch dort residierenden landesherrlichen Regierung 10 . Der entscheidende Anstoß kam aber von einer Privatperson: 1674 erklärte der Hofprediger Horst, der eine größere Geldsumme an die Stadt Braunschweig ausgeliehen hatte, diese für die Einrichtung eines Waisenhauses zur Verfügung stellen zu wollen, wenn es der Celler Regierung nur gelänge, das Kapital, mit dessen Rückzahlung Horst wegen der katastrophalen Finanzlage Braunschweigs nicht rechnete, einzutreiben 11 . Doch auch die Regierung konnte trotz großer Anstrengungen und unter Einsatz diplomatischer Mittel nur die Auszahlung eines Teilbetrages erreichen: 1676 einigte man sich mit der Stadt Braunschweig darauf, daß 1500 Rtlr. erstattet werden sollten 12 . Wahrscheinlich wurde die Summe aber nicht sogleich ausgezahlt, denn das Vorhaben ruhte zunächst längere Zeit 13 . Die nächste Nachricht über den Fortgang der Planungen stammt von 1692. Nachdem vorgeschlagen worden war, das Hospital St. Jürgen (Georg) zu einem Waisenhaus umzubauen, forderte die Regierung im Februar Bürgermeister und Rat auf, unverzüglich einen Weg zur Durch-

10

11

12

13

Vgl. zu den Gründungsvorgängen CASSEL, Celle, Bd. 2, 460f., sowie neuerdings Reinhard ROHDE, Das Celler Waisenhaus. Zur Geschichte einer 300 Jahre alten Stiftung ( = Schriftenreihe des Stadtarchivs Celle und des Bomann-Museums. Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte; 24), Celle 1994, 17ff. StACe L 3 Nr. 98, Schreiben Horsts vom 21.7.1671 und Protokoll der Regierung vom 17.12.1674. Zur Person Horsts siehe ROHDE, Celler Waisenhaus, 17. StACe 20 B Nr. 4a, Theodor Hagemann, Gesammelte Nachrichten von dem Ursprünge, der Einrichtung, Verfassung u.s.w. des Zelleschen Waisenhauses (...) 1797, 1. 1694 fehlten von den ausgehandelten 1500 Rtlr. immer noch 75 Rtlr. - StACe 20 B Nr. 2, I, Schreiben des Rates vom 1.1.1694.

262

Waisenhäuser

führung dieses Planes ausfindig zu machen 14 . Dabei entstand zwischenzeitlich die Idee, das Waisenhaus mit einem Werkhaus zu verbinden 15 . Ein halbes Jahr später wurden die Städte Hamburg, Bremen, Lübeck, Braunschweig und Lüneburg um Auskünfte über die dort bestehenden Waisen- und Werkhäuser gebeten, die fast ausnahmslos umgehend antworteten 16 . Die folgenden eineinhalb Jahre waren wiederum von weitgehender Tatenlosigkeit geprägt 17 , bis sich der Geheime Rat von Fabrice stärker für das Projekt zu interessieren begann und es fortan zu beschleunigen suchte 18 . Ende 1693 bestellte er ein Ratsmitglied zu sich und forderte den Rat zu konkreten Überlegungen über die Finanzierungsmöglichkeiten auf 19 . Daraufhin legten Bürgermeister und Rat am 1. Januar 1694 einen detaillierten Vorschlag zur Einrichtung eines Waisenhauses vor 20 . Auf das Werkhaus allerdings sollte vorerst verzichtet werden, da der mittlerweile verstorbene Hofprediger Horst seine Stiftung ausdrücklich der Jugend gewidmet habe. Die Anstalt sollte vorerst nur wenige Kinder aufnehmen und mit zunehmendem Kapital erweitert werden. Innere Einrichtung und Waisenhausordnung sollten nach dem Vorbild der eingeholten Informationen gestaltet werden. Wichtigster Punkt dieses Vorschlages war aber die Finanzierung: Neben dem von Horst geschenkten Kapital standen die Zinsen verschiedener Legate und der Überschuß aus dem Hospital St. Georg, dessen Auflösung erwogen wurde, zur Verfügung. Da diese Gelder aber nicht ausreichten, schlugen Bürgermeister und Rat vor, sich mit Hilfe von Kollekten und anderen Mitteln die Wohltätigkeit von Privatpersonen nutzbar zu machen. Konkrete Formen nahm die Planung an, als Fabrice diesen Vorschlag bearbeitete und der Regierung und dem Herzog vorlegte 21 . Aufgrund dieser Vorstellungen ließ der Herzog am 25. Januar 1694 eine Stiftungsurkunde ausfertigen. Nach einer allgemeinen Einleitung, in der des Herzogs "Mitleiden und Erbarmen gegen die in dieser Dero Stadt und Landen sich befindliche viele arme WaysenKinder" 22 verkündet wurde, beschäftigte sich auch die Stiftungsurkunde vorrangig mit der Finanzierung und sprach dem Waisenhaus Einkünfte aus einer Reihe 14 13 16

17

18

19 20 21 22

Ebd., Protokoll der fürstlichen Regierung vom 20.2.1692. Ebd. Nr. 4a, Hagemami, Gesammelte Nachrichten, 2. Ebd. Nr. 2, I, Entwurf für ein Schreiben an die fünf genannten Städte vom 17.8.1692. Die Antworten in ebd. Nr. 2, II, aus Lüneburg vom 27.8.1692, aus Bremen vom 25.8.1692, aus Hamburg von Ende August 1692 und aus Lübeck vom 5.9.1692. Die Braunschweiger Antwort wurde erst am 24.12.1694 abgefaßt. Der Rat bat in dieser Zeit lediglich in einer Bittschrift an den Herzog um Überlassung der Strafgelder aus einer Verurteilung. StACe 20 B Nr. 2,1, Schreiben vom 24.1.1693. Vgl. Theodor HAGEMANN, Miscellaneen zur Erläuterung des Cellischen Stadt- und Bürgerrechts, Celle 1798, 58-64, hier 58. StACe L 3 Nr. 7, Protokoll vom 28.12.1693. StACe 20 B Nr. 2, I. Ebd. Nr. 4a, Hagemann, Gesammelte Nachrichten, 2. Ebd.

Das Waisenhaus als Patentlösung

263

von Gebühren und Sammlungen zu. Zusätzlich wurden weitere Schritte zur EinWerbung von Spenden unternommen: Die umliegenden Reichsstände wurden gebeten, Sammlungen zugunsten des Waisenhauses zu genehmigen, und alle Stifte und Klöster zu freiwilligen Spenden ermuntert 23 . Der Stadtrat ernannte zwei seiner Mitglieder zu Sonderbeauftragten für den Waisenhausbau, die bald darauf nach Hamburg und Lüneburg reisten, um sich selbst ein Bild von den dortigen Anstalten zu machen 24 . Das Gebäude sollte zunächst mit dem Hospital St. Georg oder St. Annen verbunden werden, dann entschied man sich aber doch für einen Neubau auf dem Gelände des ehemaligen sogenannten Kleinen Jägerhofes an der Fritzenwiese. Mit Hilfe von Spenden und kostenfreien Bewilligungen von Holz und Steinen durch den Herzog konnte mit dem auf 4000 Rtlr. veranschlagten Neubau begonnen werden, der im Jahr 1696 fertiggestellt wurde. Genauere Nachrichten über den Erstbezug fehlen, doch dürfte dieser bald darauf erfolgt sein 25 . Die Gründung der Waisenversorgungsanstalt in Clausthal ging dagegen auf die Initiative eines landesherrlichen Beamten zurück und stand in engem Zusammenhang mit der Prägung der Stadt durch den Bergbau 26 . Der Berghauptmann Heinrich Albert von dem Bussche regte im Jahr 1706 in einem Brief an die kurfürstliche Regierung in Hannover an, ein Waisenhaus zu errichten. Darin sollten die Kinder verstorbener oder arbeitsunfähiger Bergleute erzogen werden, die häufig durch zu frühe Arbeit in den Pochwerken ohne Unterricht aufwüchsen und gesundheitlichen Schaden nähmen 27 . Trotz wohlwollender Aufnahme in Hannover ruhte der Plan einige Jahre, unter anderem wegen des Umzuges von dem Bussches, der selbst Regierungsmitglied geworden war, nach Hannover. Ab 1716 wurde der Plan dann wieder aufgenommen und ein Haus angekauft, das bis 1718 umgebaut wurde. Nachdem der König den Entwurf für die künftige Arbeitsweise und Verwaltung der Anstalt, den eine Kommission erarbeitet hatte, im Dezember 1718 genehmigt hatte, wurden im Frühjahr 1719 die ersten Kinder aufgenommen. Neben dem Berghauptmann setzte sich auch der Superintendent des Herzogtums Grubenhagen, Calvör, für die Einrichtung eines Waisenhauses ein. Sein Vorschlag aus dem Jahr 1715, 23

24

25 26

27

StACe L 3 Nr. 7, Entwurf eines Schreibens vom 25.1.1694 und Ausschreiben an alle Stifte und Klöster vom 12.3.1694. Ebd. Nr. 7, Aufforderung zur Benennung der Beauftragten vom 11.1.1694, Schreiben an die Rate von Hamburg und Lüneburg vom 26.3.1694. Vgl. auch StACe 20 B Nr. 2, I und ebd. Nr. 4a, Hagemann, Gesammelte Nachrichten, 3. Ebd., 4-6; HAGEMANN, Miscellaneen, 58. Über die Gründung des Clausthaler Waisenhauses berichtet REIFF, Waisenhaus Clausthal, 9f. In den Pochwerken, in denen das Erz zerschlagen wurde, arbeiteten hauptsächlich Kinder. Siehe Dieter BROSIUS, Geschichte des Harzraums, in: Der Harz ( = Schriftenreihen der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung: Niedersachsen - vom Grenzland zur Mitte; 1), 79-111, hier 100.

264

Waisenhäuser

zunächst sechs Waisen bei einer Witwe unterzubringen, wurde jedoch nicht weiterverfolgt, wahrscheinlich weil das obige Projekt sich bereits in der Planung befand. Im Gegensatz zu diesen beiden Beispielen scheint der Anstoß für die Anlegung eines Waisenhauses in Einbeck nicht vor Ort erfolgt zu sein; vielmehr handelte es sich um eine Initiative des Geheimen Ratskollegiums in Hannover, das am 26. Juli 1712 den Bürgermeister anwies, ein passendes Gebäude zu erwerben und entsprechend

umbauen zu lassen28.

Ganz im Sinne merkantilistischer

Wirt-

schaftsförderung sollte das Waisenhaus, ähnlich wie das Hamelner Arbeitshaus, die gewerbliche Textilproduktion unterstützen29. Die Kinder sollten in erster Linie im Spinnen unterrichtet werden, um hernach in der drei Jahre zuvor gegründeten "Wand-, Flanell- und Zeugfabrik" der Gebrüder Borcholt 30 zu arbeiten. Dementsprechend wurden für die Anstalt zwei Häuser angekauft, die der Fabrik direkt gegenüber lagen31 und in die zu Beginn des Jahres 1713 die ersten Kinder einzogen. Im Jahr 1731 dann wurde das Interesse des Geheimen Ratskollegiums in Hannover eindringlich auf die Lage armer Kinder und Waisen gelenkt: Man habe bemerkt, daß "vohr die erzieh- undt anweisung der Jugendt nicht genüchsahme sorge geführet worden, sondern Gemeiner Leute Kinder offte wie das Vieh ohne von Gott undt seinem Worte das geringste zu wissen, auffwachßen, undt von denen Eltern und angehörigen entweder auß ohnvermögen oder auch boßheit, zu keinem handtwerck oder anderer Arbeit angewiesen (...) werden" 32 . Aus diesem Anlaß richtete die Regierung am 27. November 1731 ein Schreiben an die Landschaften der Fürstentümer Calenberg, Grubenhagen und Lüneburg sowie der Grafschaft Hoya und forderte diese auf, auf den nächsten Landtagen über die Anlegung von Waisenhäusern zu beraten 33 . Einzig die Calenbergische Landschaft griff diese Anregung auf 34 , die drei anderen Ständeversammlungen lehnten den Vorschlag ab oder verloren ihn mit der Zeit aus den Augen 35 . 28 29 30

31 32 33 34 35

LESCH, Waisenhaus Einbeck, 96. Vgl. dazu oben Kap. IV, Abschnitt 4.2. StAEin LC VI 2c Nr. 4a, Waisenhausiechnung 1799, 1; siehe auch LESCH, Waisenhaus Einbeck, 96. Die aus Sachsen stammenden Brüder Borcholt gründeten ihre Manufaktur 1709, vgl. BURSCHEL, Erstarrung und Wandel, 198; HÜLSE, Vom Dreißigjährigen Krieg, 252. LESCH, Waisenhaus Einbeck, 97. NHStA Hann. 93 Nr. 2630, fol. 2 r . Ebd., fol. 2 r -4 v . Die drei Kammern der Landschaft berieten vom 1.-8.12.1731. NHStA Dep. 7b Nr. 264. NHStA Hann. 93 Nr. 2630, Schreiben der Lüneburgischen Landschaft vom 6.12.1731 und der Hoyaschen Landschaft vom 27.3.1732, erneutes Schreiben der Lüneburgischen Landschaft vom 3.5.1732.

Das Waisenhaus als Patentlösung

265

Das Schatzkollegiuni als ausführendes Gremium der Calenbergischen Landschaft faßte am 16. Februar 1732 den Beschluß, drei Waisenhäuser für je 120130 Kinder zu errichten. Sogleich wurden detaillierte Pläne für die Ausführung der Häuser gemacht und ein Baumeister mit der Anfertigung von Bauplänen beauftragt. Als Standorte wurden die drei kleineren Städte Moringen, Münder und Springe in Vorschlag gebracht und noch am selben Tag angeschrieben 36 . Zwei Tage später wurde die Regierung von diesen Vorstellungen in Kenntnis gesetzt und um verschiedene finanzielle Zuschüsse gebeten 37 . Bedingung für das Engagement der Landschaft war aber, daß sie die Oberaufsicht über die Anstalten beibehalten würde, was die Regierung zu prüfen versprach 38 . Nachdem Münder und Springe die Errichtung eines Waisenhauses in ihren Mauern abgelehnt hatten39, blieb schließlich nur der Plan zur Gründung einer Anstalt in Moringen übrig. Das Schatzkollegium widmete sich nunmehr ungebrochen und zielstrebig der Verwirklichung wenigstens dieses einen Waisenhauses. Zur Überprüfung und Konkretisierung seines Vorhabens forderte es einen Bericht über das Celler Waisenhaus an, der am 26. Juni 1732 verhandelt wurde. Dem Schreiben beigegeben waren die Stiftungsurkunde, eine "Specification derer im Waisenhause allhier befindlichen Waysen-Kinder", ein "Reglement, wie die Kinder im Waysenhause sich zu verhalten", und eine Schulordnung 40 . Im Juli wurden erneut die Geheimen Räte angeschrieben und die Bitte um Finanzierungshilfen vorgetragen. Zum Nachweis der eigenen Tätigkeit wurden bereits die Baupläne mit übergeben. Die Geheimen Räte ihrerseits bemühten sich, die erbetenen Unterstützungen von der Kammer und dem Klosterfonds zu erhalten. Seit Ende 1732 traten jedoch verschiedene Verzögerungen und Hindernisse ein, die die Errichtung des Waisenhauses schließlich um mehr als zehn Jahre hinausschoben: Zunächst einmal sahen sich die Geheimen Räte dazu veranlaßt, Verzeichnisse aller im Lande zugunsten der Armen existierenden Legate, Stiftungen und Einrichtungen anzufordern, um sich einen genauen Eindruck über das bestehende Armenwesen im Land zu verschaffen 41 . Weiter mußte der König um Ge-

36

37 38 39

40 41

NHStA Dep. 7b Nr. 264, Protokoll und Schreiben an die drei Städte vom 16.2.1732. Die Sitzung ist ausführlicher geschildert in Markus MEUMANN und Ralf PRÖVE, '...nicht Palatia, sondern Waysenhäußer...". Pläne und zeitgenössische Vorstellungen zur Anlegung eines Waisenhauses in Moringen 1731-1733, in: Plesse-Archiv 27 (1991), 33-48, hier 34-40. NHStA Dep. 7b Nr. 264, Schreiben vom 18.2.1732. NHStA Hann. 93 Nr. 2630, Schreiben vom 31.3.1732. Ebd., Protokoll einer Sitzung der Springer Bürgerschaft vom 4.3.1732, Schreiben des Springer Magistrates an die Landschaft vom 10.3.1732; NHStA Dep. 7b Nr. 264, Schreiben des Miindener Magistrates an die Landschaft von 13.5.1732. Ausführlicher in MEUMANN/PRÖVE, "Palatia", 40-43. NHStA Dep. 7b Nr. 264, Exemplar für die Landschaft vom 22.10.1732, fol. 39r-46v; NHStA Hann. 93 Nr. 2630, Begleitschreiben an die Landschaft vom selben Tag; auch CCC, Bd. 1, Cap. I, 996-998, CCL, Bd. 1, Cap. I, 572-575.

266

Waisenhäuser

nehmigung einiger der erbetenen Privilegien gefragt werden, die er jedoch erst nach ausführlichen Nachfragen im Januar 1733 gab 42 . Nachdem im Laufe des Jahres 1733 dann noch verschiedene Vorschläge zur Einrichtung des Waisenhauses gemacht wurden 43 , blockierte eine für die Stadt Moringen schwerwiegende Katastrophe das Vorhaben auf drei Jahre. Am 23. Mai 1734 brach ein verheerender Brand aus, dem neben anderen Gebäuden allein 110 Wohnhäuser zum Opfer fielen44. Erst 1737 konnte wieder über den Bau nachgedacht werden. Nun stellte jedoch die Stadt neue Bedingungen 45 . Nachdem die Landschaft daraufhin neue Zeichnungen anfertigen lassen und den Moringer Oberhauptmann Börries v. Münchhausen als Beauftragten gewonnen hatte46, sollte 1738 endlich mit dem Bau begonnen werden. Im Januar übergab die Landschaft die neuen Zeichnungen der Regierung; diese ließ die Pläne ihrerseits von einem ortsansässigen Baumeister prüfen, der einige Verbesserungen forderte 47 . Trotz der sich daraus ergebenden Debatte wurde im März ein Bauplatz angekauft 48 . Obwohl sich das Schatzkollegium im September noch zuversichtlich über eine baldige Fertigstellung des Hauses äußerte 49 , ergaben sich weitere Schwierigkeiten mit dem Bau, da verschiedene vom König zugesagte Privilegien nicht eingehalten werden konnten. Im Jahr 1738 scheiterte eine angeordnete Landfolge am Widerstand der betroffenen Landbevölkerung 50 , und gleichzeitig weigerte sich der königliche Oberforst- und -Jägermeister v. Oeynhausen aus forstwirtschaftlichen Erwägungen, das vom König zugesagte Bauholz zu liefern 51 . Diese Widerstände werfen ein Licht auf strukturelle Probleme des frühneuzeitlichen Staates, die an späterer Stelle noch eingehender untersucht werden 52 . Das Gebäude wurde erst 1743 fertiggestellt 53 . Die Aufnahme der ersten Kinder wurde durch erneute Auseinandersetzungen mit v. Oeynhausen um das nun benötigte Brennholz und vor allem das Fehlen eines Kapitalfonds für den laufenden Unterhalt noch bis Ostern 1746 verzögert 54 . 42 43 44 45

46

47 48 49 50 51 52 53 54

NHStA Hann. 93 Nr. 2630, mehrere Schreiben von Oktober 1732 bis Januar 1733. MEUMANN/PRÖVE, "Palatia", 43. Walter OHLMER, Chronik. 1000 Jahre Moringen 983-1983, Hildesheim 1983, 144-145. NHStA Dep. 7b Nr. 264, Gutachten und Pro Memoria des Moringer Bürgermeisters Cellarius vom 24.11.1737 und 28.11.1737. Ebd., Protokolle des Deputationskollegiums vom 29.11. und 3.12.1737; NHStA Hann. 93 Nr. 2631, Schreiben der Landschaft an die Regierung vom 17.1.1738. Ebd., passim. NHStA Dep. 7b Nr. 266, Kaufvertrag vom 17.3.1738. NHStA Hann. 93 Nr. 2631, Schreiben des Schatzkollegiums an die Regierung vom 1.9.1738. NHStA Cal. Br. 8 Nr. 1198 und Hann. 93 Nr. 2631, passim. Ebd. Vgl. unten Kap. VII, Abschnitt 1. NHStA Hann. 93 Nr. 2631, Schreiben der Landschaft an die Regierung vom 28.11.1743. Ebd., passim. Probleme mit dem Kapital gehen hervor aus dem Briefwechsel des Geheimen Rates von Münchhausen mit dem Göttinger Professor Ribow in UAGö 10a Nr. 14, Brief Ribows vom 11.11.1745.

Das Waisenhaus als Patentlösung

267

Ebenfalls über einen längeren Zeitraum erstreckte sich die parallele Einrichtung des Göttinger Waisenhauses. Ausgangspunkt war eine von Studenten gegründete Armenschule, die der Reichsgraf Heinrich XI. von Reuß während seines Studiums 1737 in Göttingen mit einer Stiftung bedacht hatte und auch später noch mit Geld unterstützte; diese Schule war 1738 von der Regierung in Hannover als mildtätig anerkannt und der Aufsicht der theologischen Fakultät der neugegründeten Universität unterstellt worden 55 . 1743 veranlaßte einer der in dieser Schule unterrichtenden Theologiestudenten einige Einwohner zu einer Spende für die Einrichtung einer Waisenstube, in der bald sechs bis acht Waisenknaben unter der Aufsicht einer Waisenmutter lebten. Dadurch sollten Kinder zum Schulbesuch angehalten werden, die zuvor ihren Unterhalt durch Straßenbettel erwarben. Wohl durch die Nachrichten über den nunmehr fertiggestellten Bau in Moringen angeregt, boten verschiedene, auch auswärtige Personen Spenden für den Fall an, daß ein größeres Waisenhaus errichtet werden würde; die Mitglieder der theologischen Fakultät erbaten daher die Unterstützung des Universitätsgründers und Geheimen Rates Gerlach Adolph v. Münchhausen, und übergaben ihren Vorschlag zur Errichtung eines Waisenhauses. Münchhausen wandte sich darauf zu einem nicht genau zu bestimmenden Zeitpunkt an Vertreter der Stadt. Im Juli 1745 forderte er den Vorsitzenden Bürgermeister Insinger auf, einige Vorstellungen über die Einrichtung eines Waisenhauses, die er diesem privat übermittelt zu haben glaubte, mit einem Kommentar an ihn zurückzugeben56. Es handelte sich dabei um einen von dem Theologieprofessor Georg Heinrich Ribow angefertigten Vorschlag zur Einrichtung eines Waisenhauses in einem an das Hospital St. Crucis grenzenden, leerstehenden Gebäude. Insinger hatte diesen Entwurf aber offenbar verlegt, und auch Ribow besaß keine Kopie mehr, wie er Münchhausen am 23. August mitteilte57. Ribow formulierte sogleich einen neuen Entwurf, nach dem nun allerdings ein Haus an der Allee angekauft werden sollte. Diesen Standort favorisierte er aus mehreren Gründen, zu denen unter anderem die Nähe zur Grätzelschen Tuchfabrik zählte, in der die Kinder leicht Arbeit finden könnten. Daneben beschäftigte sich der Vorschlag hauptsächlich mit den Finanzierungsmöglichkeiten: Nach Ribows Ansicht sollte das Waisenhaus durch eine Lotterie und verschiedene landesherrliche, vor allem aber städtische Abgaben unterhalten werden. Gleichwohl plädierte er 55

56 57

Zusammenfassende Berichte über die Gründung sind enthalten in: Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause, Göttingen 1748, 16-25, und UAGö 10a Nr. 14, "Extract aus dem Kundebuche für die Georg-August-Universität Ilr Theil L - Z \ o.J. (nach 1840). Vgl. auch Wilhelm EBEL, Wie in Göttingen einmal ein Waisenhaus eingerichtet und auch unterhalten wurde, in: Göttinger Monatsblätter 1977, Juni, 6-7, M i 6-7, sowie zur Annenschule KUNST, Schulen, 154f. StAGö AA Wohlfahrt Waisenamt Nr. 2, Schreiben Münchhausens vom 16. Juli 1745. UAGö 10a Nr. 14. Aus diesem Brief Ribows geht auch hervor, daß er den obengenannten Vorschlag im Laufe des Jahres 1743 an Münchhausen geschickt hatte.

268

Waisenhäuser

dafür, das Waisenhaus der Aufsicht der Universität zu unterstellen; es solle "als ein Annexum derselben anzusehen seyn" 58 . Münchhausen reagierte auf diesen Vorstoß zunächst sehr zurückhaltend und erinnerte Ribow an die außerordentlich hohen Kosten für das Moringer Waisenhaus. Ribow gelang es jedoch, diese Bedenken zu zerstreuen 59 , und Münchhausen gab den Vorschlag an die Stadt weiter, die er zur Zusammenarbeit mit Ribow aufforderte 60 . Der Rat stimmte dem Ankauf des Hauses zu, behielt sich aber eine Entscheidung über die gewünschten Zuschüsse vor. Zu einer Zusammenkunft zwischen Ribow und Insinger kam es jedoch in der nächsten Zeit entgegen wiederholter Absichtsbekundungen nicht 61 . Der Magistrat stand dem Waisenhaus sehr reserviert gegenüber, weil er trotz Ribows gegenteiliger Versicherungen um seinen Einfluß auf das Projekt fürchtete. Ribow seinerseits übermittelte seine Vorstellungen dem Magistrat und bat um die kostenfreie Überlassung eines Hauses, die Auszahlung von 360 Rtlr. Lotteriegeldern, einen Zuschuß von den Gilden, Befreiung von den öffentlichen Abgaben und einen Anteil an den städtischen Strafgeldern 62 . Als nach über zwei Monaten weder Magistrat noch Insinger auf Ribows Vorstoß geantwortet hatten, bat dieser den leitenden Minister, den Magistrat per Reskript zu einer Zusammenkunft aufzufordern 63 , was Münchhausen auch umgehend tat64. In den folgenden Monaten entstanden immer größere Bedenken auf seiten der Stadt, die die spätere Verwaltung der Anstalt für sich beanspruchte und nur Bürgerkinder aufgenommen sehen wollte 65 . Ribow beharrte dagegen auf der Aufnahme auch auswärtiger Kinder, um von außerhalb Spenden zu erhalten, und bot eine gemeinsame Verwaltung von Stadt und Universität in Gestalt eines Kollegiums an. Er erreichte bei Münchhausen, daß dieser sich ebenfalls für die Aufnahme auswärtiger Kinder aussprach und den Magistrat aufforderte, die Entscheidung über die Verwaltung zurückzustellen66. Während nun einerseits der Magistrat die Sache verschleppte, andererseits die Professoren der theologischen Fakultät bei Münchhausen auf Verwirklichung ihrer Vorschläge drängten, kam es 1747 zu nachhaltigen Störungen des Verhältnisses zwischen Münchhausen und dem Magistrat, die nach scharfen verbalen 58 59 60

61

62 63 64 65 66

Ebd. Ebd., Brief Ribows vom 11.11.1745. StAGö AA Wohlfahrt Waisenamt Nr. 2, Schreiben Münchhausens vom 12.11.1745 und 29.11.1745. Ebd. Am 7.12.1745 und am 14.3.1746 forderte der Schreiber Pfister Ribow auf, mit Insinger zusammenzukommen. Ebd., Schreiben Ribows an Insinger und den Magistrat vom 12.2.1746. UAGö 10a Nr. 14, Schreiben Ribows vom 28.4.1746. StAGö AA Wohlfahrt Waisenamt Nr. 2, Reskript vom 3.5.1746. Ebd., Mai/Juni. Ebd., Pro Memoria Willigs vom 20.6.1746; UAGö 10a Nr. 14, Schreiben Ribows vom 20.6.1746 und Reskript Münchhausens vom 29.6.1746.

269

Das Waisenhaus als Patentlösung

Auseinandersetzungen schließlich damit endeten, daß die theologische Fakultät im Oktober die Erlaubnis erhielt, ein Waisenhaus als Privatangelegenheit, das heißt ohne öffentliche Unterstützung, zustande zu bringen 67 . Mit Hilfe erheblicher Privatspenden und der Erteilung des Bürgerrechts durch die Stadt sah sich die Fakultät in der Lage, am 8. November 1747 ein Haus und bald darauf auch einen angrenzenden Garten zu erwerben 68 . 1750 konnte das umgebaute Haus schließlich bezogen werden 69 . Wäre die Gründung des Göttinger Waisenhauses trotz großer privater Beteiligung zumindest ohne die Protektion der Landesregierung nicht denkbar gewesen, handelte es sich bei dem vor den Toren des nördlich von Göttingen gelegenen Fleckens Nörten errichteten Waisenhaus um eine private Initiative, eine Stiftung der örtlichen Gerichtsherren, der Grafen von Hardenberg 70 . 1725 hatte der General Hildebrand Christoph v. Hardenberg 500 Rtlr. für die Errichtung eines Waisenhauses und einer gräflichen Hauskapelle gestiftet 71 . 1732 wurde unter der Leitung seines Bruders, des Gerichtsherrn Fritz Dieterich v. Hardenberg, mit dem Bau des Waisenhauses begonnen, das zu Michaelis 1735 bezogen werden konnte. Dieses Waisenhaus wurde ausschließlich als Privatangelegenheit des Hauses Hardenberg betrachtet und unterlag keinerlei landesherrlicher Aufsicht 72 . Ein weiterer

Versuch zur Gründung eines Waisenhauses

im

Untersu-

chungsgebiet wurde in Northeim unternommen, wo sich der Bürgermeister Frost um die Unterstützung der Klosterkammer für ein solches Vorhaben bemühte 73 . Von 1719 bis 1739 ließ die Regierung monatlich 6 Rtlr. aus der Kasse des Blasiusstiftes auszahlen, und 1723 konnte Frost berichten, daß "[einige] Waisenkinder und neben denselben auch andere Leute, welche wegen Leibes-Gebrechlichkeit zu starker Arbeit nicht fähig seien, in einer mit 4 Stühlen für Halbseide und 4 dsgl. für wollene Zeuge arbeitenden Spinnerei des Fabrikanten Heidenreich beschäftigt würden" 74 .

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71 72 73

74

StAGö AA Wohlfahrt Waisenamt Nr. 2, Reskript vom 13.10.1747. UAGö Waisenhaus Nr. 4, Kaufvertrag vom 8.11.1747 und vom 20.2.1748 (Bestätigung des Magistrates); StAGö AA Wohlfahrt Waisenamt Nr. 2, Ratsprotokoll vom 4.12.1747 und Schreiben Ribows vom 12.12.1747. UAGö 10a Nr. 14, "Extract aus dem Kundebuche für die Georg-August-Universität Ilr Theil L-Z", o.J. (nach 1840). Theodor ECKART, Geschichte des Gräflichen von Hardenbergschen Waisenhauses in Nörten, Göttingen 1894. Ebd., 2. Dies galt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Ebd., 6f. G.J. VENNIGERHOLZ, Beschreibung der Stadt Northeim in Hannover und ihrer nächsten Umgebung, T. 2, Northeim 1894, 223. Ebd.

270

Waisenhäuser

Allerdings scheint die Regierung erhebliche Zweifel am Nutzen dieser Einrichtung gehabt zu haben. Ab 1729 wurden die Gelder jeweils nur noch für die Dauer von zwei Jahren bewilligt 75 , ab 1732 nur noch für ein Jahr 76 . Am 7. September des folgenden Jahres untersagte die Regierung die Neuaufnahme von Kindern, und am 9. Oktober 1733 wurde angeordnet, die verbliebenen Kinder nach und nach auf Pflegefamilien aufzuteilen. Die Zahlung der monatlichen Unterstützung wurde auf die nächsten sechs Monate begrenzt 77 . Die definitiv letzte Zahlung und damit zugleich die letzte Nachricht von einem Waisenhaus in Northeim 78 datiert aus dem Februar 1736 79 .

1.2.

Die Hildesheimer Gründlingen Altstadt - Neustadt - Domkapitel

Am 7. Juni 1687 beschloß der Rat der Hildesheimer Altstadt, Mitglieder für einen Ausschuß zu wählen, der über die Einrichtung eines Waisenhauses beraten sollte 80 . Zwei Jahre später wurden Vorschläge gemacht, die Gebäude der Hospitäler St. Trinitatis und Martini dafür zu verwenden. Darauf allerdings scheint die Angelegenheit vorübergehend in Vergessenheit geraten zu sein, bis 1690 ein Geschenk von 50 Rtlr. "das gantze eingeschlaffene Werck wieder Rege" 81 machte. Im Oktober wurde der Beschluß gefaßt, die bisherigen Bewohner des Martinihospitals auszuquartieren und das Haus anhand eines "nach dem Braunschweigischen Wayßen hauße" 82 gezeichneten Planes umzubauen. Die Martinskirche, der das Klostergebäude gehörte, wurde mit verschiedenen anderen Häusern entschädigt 83 .

75 76 77 78

79 80

81 82 83

Ebd. NHStA Hann. 81 Nr. 2951, Reskript der Geheimen Räte vom 27.10.1732. Ebd., Reskript der Geheimen Räte an den Rat vom 9.10.1733. Schon VENNIGERHOLZ, Northeim, stellt fest, daß ältere Stadtgeschichten überhaupt kein Waisenhaus erwähnen; Akten sind im Stadtarchiv Northeim nicht vorhanden. Ebd., 223. Die folgenden Ausfuhrungen stützen sich auf die anläßlich der Einrichtung des Neustädter Waisenhauses gemachten Aktenabschriften in StAHi Best. 100 Abt. 215 Nr. la. Nicht ganz so detailliert, aber übereinstimmend die Darstellung aus dem 19. Jahrhundert in StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten über die beiden Waisenhäuser in Hildesheim, Hildesheim o.J. (1867?), lf. Ein Kurzabriß auch in StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 30: "Nachweisung und Nachricht das Altstädter Waisenhaus betreffend", angefertigt vom Riedmeister Stahl im Jahr 1803 für die preußischen Behörden. GEBAUER, Hildesheim, Bd. 2, 192, zufolge bestand allerdings möglicherweise schon 1649 die Absicht zur Einrichtung eines Waisenhauses. StAHi Best. 100 Abt. 215 Nr. la, Eintrag unter dem 16.5.1690. Ebd., Eintrag unter dem 21.6.1690. Die bedürftigen Einwohner dieser Häuser, darunter "neun alte Weiber", wurden auf andere Gebäude verteilt.

Das Waisenhaus als Patentlösung

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Am 24. August 1693 waren die Arbeiten so weit gediehen, daß die ersten Kinder hätten aufgenommen werden können. Da aber Unstimmigkeiten darüber herrschten, aus welchen Mitteln der Unterhalt zu bestreiten sein würde, wurde zunächst beschlossen, das Eintreffen der aus Hamburg und Braunschweig angeforderten Waisenhausordnungen abzuwarten und die Aufnahme der Kinder auf Ostern 1694 zu verschieben. Im März 1694 wurden die Beratungen wieder aufgenommen, in deren Verlauf sich aber weitere Schwierigkeiten ergaben. Im September wurde schließlich die Bestimmung des Waisenhauses dahingehend verändert, daß diesem die gesamte Armenfürsorge übertragen werden sollte 84 . Das Betteln auf den Straßen wurde verboten; Hausarme sowie anerkannte fremde Bettler wie Vertriebene oder Brandgeschädigte sollten sich an das Waisenhaus um Almosen wenden. Zur Bewältigung dieser Aufgaben sollte das Waisenhaus sämtliche bisher für die Armenpflege verwendeten Gelder verwalten 85 . Gleichzeitig wurde beschlossen, 16 Kinder aufzunehmen und das notwendige Personal anzustellen. Der benötigte Geldbedarf sollte mit Hilfe von Spenden der Ämter und Gilden, einer Hauskollekte und dem Inhalt des Armenkastens gedeckt werden. Einige Tage später wurden dem Waisenhaus verschiedene Einnahmen zugesprochen und das Recht erteilt, auch in anderen Städten Sammlungen durchzuführen. Am 8. Oktober wurden schließlich einige Waisenkinder präsentiert 86 , am 22. November verabschiedete der Rat die Waisenhausordnung und die Eidesformeln für die Angestellten. Damit hatte das erste Hildesheimer Waisenhaus seine Tätigkeit aufgenommen. Etwa fünfzig Jahre nach der Gründung des Altstädter Waisenhauses entstanden in Hildesheim zwei weitere Anstalten, eine für katholische Kinder, eine für die Waisen der Neustadt. Erste Schritte zur Gründung eines Neustädter Waisenhauses wurden bereits 1741 mit der Ausrichtung einer Lotterie zu diesem Zweck gemacht 87 . Bis ein Haus erworben werden konnte, vergingen jedoch noch vier Jahre, während derer sich der Neustädter Rat ausführlich über die Anlegung des Waisenhauses der Altstadt informierte 88 . In den Jahren 1746/47 wurde das angekaufte Haus dann umgebaut und am 16. Juni 1746 öffentlich der Grundstein 84

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86

87 88

Eine solche Funktionsausweitung des Waisenhauses als Mittelpunkt der Hausaimenpflege gab es z.B. auch in Frankfurt. SCHERPRNER, Jugendfürsorge, 65. Hospitalfonds, Stiftungen, Zuwendungen der Ämter und Gilden, verschiedene Sammlungen, vgl. dazu StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 2. Einige Gelder verblieben aber bei den Kirchen, so die Unterstützungen für ausländische Glaubensflüchtlinge, von denen das Waisenhaus nur eine Beihilfe erhielt. StAHi Best. 100 Abt. 21S Nr. la, Eintrag unter dem 25.10.1694. Laut Johannes Gebauer handelte es sich um je 11 Knaben und Mädchen. GEBAUER, Hildesheim, Bd. 2, 193. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 4. Das Archiv der Neustadt enthält eine Zusammenstellung aller Vorgänge bei der Gründung des Altstädter Waisenhauses; daran anschließend sind die der Neustädter Anstalt protokolliert. StAHi Best. 100 Abt. 215 Nr. la.

272

Waisenhäuser

für einen Altar im Waisenhaus gelegt; dabei zogen Arbeiter und Amtsträger vom Rathaus zum Waisenhaus, anschließend wurden feierliche Reden gehalten 89 . Erst im September 1752 jedoch konnten einige Kinder in das Haus aufgenommen werden 90 ; die förmliche Einweihung fand erst 1756 statt91. Den Vorschlag zur Gründung eines katholischen Waisenhauses brachte der damalige Domdechant Jobst Edmund v. Weichs im Domkapitel am 11. Januar 1749 vor 92 . Offensichtlicher Anlaß für diesen Vorstoß war eine zuvor behandelte Beschwerde aller Gemeinden des Amtes Marienburg, die über die unrechtmäßige und untragbare Belastung durch die Unterhaltskosten für mehrere Findelkinder und eine Insassin des Peiner Spinnhauses klagten: "Als darauf occasione deren Fündlingen der Herr Dom-Dechandten Hochw. den Vortrag thaten, wie nützlich und diensahm, auch pro bono religionis [i.e. zum geistlichen Nutzen] es seyn würde, wan zu deren Verpflegung ein Waisenhaus angelegt werden könnte" 93 . Möglicherweise bestand die Idee zur Anlegung eines Waisenhauses auch schon länger oder war bereits inoffiziell besprochen worden, denn das Domkapitel hatte sich regelmäßig mit Findelkindern, die auf der Domfreiheit oder in den kapitularischen Ämtern gefunden wurden, zu beschäftigen. Erst im Vormonat war in zwei Fällen verfugt worden, daß die jeweiligen Amtseinwohner die Kosten für ein Findelkind bzw. für eine arme Waise in Form einer Amtskollekte aufzubringen hätten 94 . Wichtig war sicherlich das in dem Zitat angesprochene religiöse Moment: Da kein katholisches Waisenhaus existierte, kam es von Zeit zu Zeit vor, daß ein katholisches Kind in das lutherische Waisenhaus der Altstadt gegeben werden mußte, was seitens des Domkapitels Befürchtungen hinsichtlich der religiösen Erziehung des Kindes nach sich zog 95 . Jedenfalls fand v. Weichs mit seinem Vorhaben sofortige Zustimmung. Nachdem die Finanzierung angesprochen worden war, vertagte man die Entscheidung auf das nächste Generalkapitel, welches am 25. Februar 1749 stattfand. In diesem 89 90 91 92 93

94

95

Ebd. Ebd. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 4. Vgl. auch BERTRAM, Hildesheim, Bd. 3, 149. DomBHi Hs. Nr. 255, Excerpta ex protocollis Cathedralis Ecclesiae Hildeshemensis 17441749. Abschrift, gefertigt von J.M. Kratz, fol. 319, Kapitel vom 11.1.1749. Ebd., fol. 304r, Kapitel vom 3.12.1748 (Amt Steuerwald), und fol. 305r, Kapitel vom 9.12.1748 (Amt Wiedelah). In einem Bericht aus dem 19. Jahrhundert heißt es, die Ämter Marienburg, Steinbrück und Wiedelah hätten "oft Streitigkeiten erhoben"; da es naheliegt, daß sich der Autor auf die angegebenen Fälle bezog, muß eine solche Interpretation allerdings in Frage gestellt werden. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 9. Ebd., 9. In der Tat finden sich in den Büchern des Altstädter Waisenhauses mehrere Findelkinder, allerdings ohne Angabe der Konfession. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 7b, Waisenhaus-Copialbuch 1694-1748.

Die Anstalt als ökonomischer und sozialer Kosmos

273

wurden verschiedene Wege zur Finanzierung, vor allem Zuschüsse aus bereits bestehenden Hospitälern und Stiftungen, ausfindig gemacht und Spenden für die Bildung eines eigenen Kapitalfonds gegeben. Außerdem wurde ein Gelände für die Errichtung eines Hauses ausersehen 96 . Dieser Standort wurde jedoch ebenso wie andere wieder verworfen, da es Widerstand anderer kirchlicher Würdenträger gegen eine solche Verwendung gab 97 . Schließlich stellte der Domvikar Heinemann sein Wohnhaus samt Garten für eine jährliche Zahlung von 80 Rtlr. dem Waisenhaus zur Verfügung. Nachdem diese Lösung vom Generalkapitel angenommen und vom Fürstbischof bestätigt worden war, konnten im Oktober 1750 die ersten Kinder das Waisenhaus beziehen 98 . Die verschiedenen Gründungsvorgänge zeigen, daß die Motive für die Anlegung von Waisenhäusern im Einzelfall durchaus unterschiedlich waren. Merkantilistische Interessen mischten sich mit der Sorge um die Eingrenzung von Armut und Bettel und religiös-philanthropischen Erwägungen. Im Kurfürstentum Hannover ging die Initiative keinesfalls immer allein von den landesherrlichen oder städtischen Obrigkeiten aus. Sehr wichtig war oft vielmehr das Engagement einzelner Personen vor Ort, wenngleich durch die Beteiligung einzelner hoher Beamter immer eine gewisse Konformität mit landesherrlichen Vorstellungen gesichert war. In Hildesheim dagegen waren die Waisenhäuser das Werk der in der Stadt konkurrierenden Obrigkeiten. Entsprechend den Gründungszusammenhängen wichen auch die räumlichen und finanziellen Grundlagen der Waisenhäuser sowie ihre Aufgaben teilweise erheblich voneinander ab.

2.

Die Anstalt als ökonomischer und sozialer Kosmos

2.1.

Ausstattung und Prinzipien Finanzielle Absicherung - Gebäude - Personal und Verwaltung - Aufnahme und Entlassung der Kinder - Kinderzahl

Das größte Problem, das es bei der Gründung eines Waisenhauses zu bewältigen galt, war die finanzielle Absicherung. Nicht nur das Geld für den Bau oder Kauf eines Hauses sowie die notwendige Einrichtung mußten zusammengebracht werden, sondern es kam vor allem darauf an, der Anstalt zur Deckung der Betriebskosten laufende Einnahmen zu verschaffen. War bereits die Finanzierung der ei96 97 98

DomBHi Hs. Nr. 255, Excerpta, fol. 325v und 326', Kapitel vom 25.2.1749. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 9. DomBHi Hs. Nr. 256, Excerpta ex protocollis Cathedralis Ecclesiae Hildeshemensis 17501759, fol. 25r, Kapitel vom 19.6.1750 (Annahme der Verfügung), und fol. 401", Kapitel vom 18.11.1750 (Beschluß, die mit Heinemann getroffene Verfügung zu archivieren); vgl. auch StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 9.

274

Waisenhäuser

gentlichen Anlegung - mit Hilfe von Spenden, Testamenten und Zuschüssen des Fürsten oder der Stadt, kostenloser Materiallieferungen wie Holz aus fürstlichen oder städtischen Wäldern oder angeordneter Arbeitsleistungen der Landbevölkerung - nicht ohne Probleme zu bewältigen, stieß die Bereitstellung der laufenden Kosten meist auf noch größere Schwierigkeiten. Das Hauptproblem war, daß die Waisenhäuser in der Regel keinen festen Etat aus öffentlichen Kassen erhielten, sondern darauf angewiesen waren, ihren Unterhalt selbst zu erwirtschaften. Für die Beschaffung der Einnahmen gab es prinzipiell mehrere Wege: erstens die Überlassung verschiedener Steuern, Kollekten, Armenstiftungen, Privilegien und Strafgelder, zweitens Miet-, Pacht- oder Zinseinkünfte aus Häusern, Grundstücken und eigenem Kapital, und drittens Erträge aus der Arbeit der Kinder. Ausnahmen waren sicherlich die Nörtener Anstalt, für die die Familie Hardenberg als Stifter einstand", und das Göttinger Waisenhaus, dem es gelang, aufgrund sehr großzügiger Privatspenden ein so großes Vermögen zusammenzubringen, daß von den anfallenden Zinseinkünften die Ausgaben bestritten werden konnten. Auch die katholische Anstalt in Hildesheim konnte nach anfanglichen Schwierigkeiten einen soliden Kapitalfonds aufbauen 100 . Die anderen Waisenhäuser aber waren auf eine Kombination verschiedener Finanzierungsmöglichkeiten angewiesen: Das Einbecker Waisenhaus bezog seine Einnahmen vorwiegend aus Steuern: dem 'Tabakimpost', einer Zusatzsteuer auf nicht im Lande hergestellten Tabak 101 , und der königlichen Lizentkasse. Dazu kamen Zinseinkünfte und Erträge aus der Arbeit der Kinder 102 . Das Moringer Waisenhaus war in der Hauptsache auf regelmäßige Zahlungen aus den Kassen der Calenbergischen Landschaft angewiesen. Ergänzend kamen der dem Waisenhaus zugesprochene Tabakimpost, Kapitalzinsen und das Verlagsprivileg für den hannoverschen Staatskalender, das Gesangbuch und den Katechismus im Fürstentum Calenberg-Göttingen hinzu, die z.T. in der eigenen Druckerei hergestellt wurden 103 . Das entsprechende Verlagsprivileg für das Fürstentum Lüneburg lag beim Celler Waisenhaus. Wie viele Waisenhäuser verfügte auch das Altstädter Haus in Hildesheim über eine Drucke-

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ECKART, Geschichte des Waisenhauses Nörten, 7. StAHi Best. 100 Abt. 178 Nr. la, Schreiben (Konzept) des Domkapitels vom 29.1.1760. Ebd., Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 10. Anläßlich der Verleihung eines Privilegs zur Tabakverarbeitung an den Hamelner Kaufmann Stöcken wurde auf die Einfuhr 'ausländischen' Tabaks eine Zusatzsteuer in Höhe des Lizents eingeführt. Auch nach der Aufhebung des Privilegs 1725 blieb der Impost bestehen und kam weiterhin dem Einbecker Waisenhaus zugute. NHStA Cal. Br. 23b Nr. 175, Verordnung vom 20.1.1717; StAGö AB Ms 14 Nr. 4, Verordnung vom 10.12.1725. NHStA Dep. 7b Nr. 263 und 264; ebd. Hann. 72 Einbeck Nr. 771; LESCH, Waisenhaus Einbeck, 103. NHStA Hann. 93 Nr. 1374, Abrechnungen 1742-1750; NHStA Hann. 92 IX A Nr. 9c.

Die Anstalt als ökonomischer und sozialer Kosmos

275

rei; weitere Einnahmen bezog es aus Sammlungen, Zinsen, Miete und Pacht 104 . Die Clausthaler Anstalt finanzierte sich mit Zuschüssen aus öffentlichen Kassen, dazu kamen verschiedene Gebühren, Strafgelder, Sammlungen und Pachteinnahmen 105 . In besonderem Maße aber war das Celler Waisenhaus auf eine Ansammlung unterschiedlicher Privilegien, Abgaben und Sammlungen angewiesen, deren Höhe und Zuverlässigkeit im Lauf der Zeit stark schwankte. Die Sorge um die laufende Finanzierung des Anstaltshaushaltes spielte für die langfristige Entwicklung aller Waisenhäuser eine entscheidende Rolle; von der Tragfähigkeit des jeweiligen Finanzierungsmodells hing im Einzelfall das Fortbestehen der Anstalt ab. Die Waisenhäuser waren daher bemüht, aus eigener Anstrengung die Kosten zu senken und die Einnahmen zu erhöhen. Folglich wurde versucht, einen Teil der benötigten Lebensmittel und Textilien in Eigenarbeit zu produzieren oder durch gewerbliche Arbeit einen Verdienst zu erzielen. Da von einer ausreichenden finanziellen Absicherung letztlich der Erfolg der Waisenhäuser abhing, wird die Finanzwirtschaft einzelner Anstalten mit den sich aus ihrer spezifischen Situation ergebenden Problemen an anderer Stelle noch einmal angesprochen 106 . Die von den Waisenhäusern genutzten Gebäude waren je nach Zahl der versorgten Kinder von sehr unterschiedlicher Größe. Meist wurden ältere Häuser zu diesem Zweck umgebaut, in Clausthal, Einbeck, Göttingen und der Hildesheimer Neustadt angekaufte Privathäuser 107 , für das katholische Waisenhaus in Hildesheim ein Kanonikatshof und für das altstädtische Waisenhaus das frühere Martinikloster 108 . Neubauten waren eher eine Ausnahme und wurden außer für die großen Anstalten in Celle und Moringen nur für das Gräfliche Waisenhaus in Nörten errichtet 109 . Nichtsdestoweniger handelte es sich oft um durchaus ansehnliche bis repräsentative Gebäude, meistens größere Fachwerkbauten, die teilweise mit Uhr- oder Glockentürmen 110 versehen waren und damit ihr wohltätiges Wir-

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StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 7a, Rechnungen des Altstädter Waisenhauses. Vgl. auch GEBAUER, Hildesheim, Bd. 2, 192f. Druckereien gab es zum Beispiel auch in Halle und Braunschweig. NHStA Hann. 84 Nr. 884, Bericht über das Waisenhaus 1803. Vgl. Kap. VII, Abschnitt 1.2. REIFF, Waisenhaus Clausthal, 10; LESCH, Waisenhaus Einbeck, 96; UAGö Waisenhaus Nr. 4, Kaufvertrag vom 8.11.1747; StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 4. Ebd., 1 und 9. StACe 20 B Nr. 4a, Hagemann, Gesammelte Nachrichten, 4-6; MEUMANN/PRÖVE, "Palatia"; ECKART, Geschichte des Waisenhauses Nörten, 3. ECKART, Geschichte des Waisenhauses Nörten, 3. Für das Celler Waisenhaus wurde im Jahr 1774 aus privaten Spenden ein Uhrenturm errichtet, nachdem die Kammer dem Waisenhaus eine Uhr geschenkt hatte. StACe 20 B Nr. 4a, Hagemann, Gesammelte Nachrichten, 10. Vgl. auch KÖNIG, Waisenhaus Wolfenbüttel, 17 (Abb.).

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Waisenhäuser

ken deutlich bemerkbar nach außen kundtaten 111 . Eine Ausnahmestellung nahmen die Nörtener Einrichtung, die die gräfliche Hauskapelle beherbergte, und das Moringer Waisenhaus ein, das trotz der Absicht der Landschaft, keine "Palatia, sondern Waisenhäußer" 112 bauen zu wollen, geradezu als Prachtbau gelten kann. Beide waren aus Haltbarkeits-, aber auch aus Prestigegründen in massivem Stein gehalten 113 . Genauere Auskunft über die innere Aufteilung des Moringer Waisenhauses geben Pläne, die zwar einen früheren Entwurf darstellen, aber der späteren Ausführung sehr ähnlich sind 114 . Danach sollte das Haus 16 Räume erhalten, im Erdgeschoß Küche und Speisekammer, Schulräume, Speisesaal sowie Dienstmädchenkammern und Verwalterwohnung, im ersten Geschoß Schlafsäle für die Kinder und das übrige Personal. Dazu kamen noch ein Keller, ein Backofen sowie Ställe für Vieh und Holz 115 . Ähnlich dürften auch die anderen Häuser aufgeteilt gewesen sein 116 . In Göttingen waren neben Küche, Speisekammer und Wohnräumen für das Personal eine Schul- und eine Arbeitsstube, ein großer Schlafsaal und eine Krankenstube geplant 117 . Außer dem eigentlichen Gebäude gehörten zu den meisten Waisenhäusern auch mehrere Stücke Gartenland. Diese wurden teils verpachtet, teils für den Anbau von Obst und Gemüse genutzt, um in der Lebensmittelversorgung möglichst autark zu sein. Zum Altstädter Waisenhaus in Hildesheim gehörten zunächst zwei, später drei Gärten und eine Wiese 118 , das Einbecker Waisenhaus besaß 1726 vier Gärten von knapp anderthalb Morgen Land 119 . Wegen der größeren Unabhängigkeit trieben einige Häuser auch Viehhaltung: Dem Altstädter Waisenhaus in Hildesheim wurde 1704 Weideland für sechs, später dann für vier Kühe bewilligt 120 , das Moringer Waisenhaus hatte das Recht, sechs Rinder und zwölf

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In Clausthal wurde das Haus des verstorbenen Bürgermeisters Reiche angekauft. REIFF, Waisenhaus Clausthal, 10. Die ehemaligen Waisenhäuser in Clausthal, Einbeck und Moringen sind noch heute zu besichtigen; Photos sind abgebildet bei REIFF, Waisenhaus Clausthal, 11, und LESCH, Waisenhaus Einbeck, 99. Das ehemalige Waisenhaus in Moringen ist heute Teil des Niedersächsischen Landeskrankenhauses. MEUMANN/PRÖVE, "Palatia", 34. Ebd., 34; ECKART, Geschichte des Waisenhauses Nörten, 3. Eine weitgehende Übereinstimmung mit den zeitgenössischen Plänen zeigt nicht nur die Außenansicht des Hauses, sondern auch eine Begehung des Inneren. Eine ausfuhrliche Beschreibung der Pläne nebst Abbildung bei MEUMANN/PRÖVE, "Palatia", 35-40, 47. MEUMANN/PRÖVE, "Palatia", 35-40. Zur Inneneinrichtung des Einbecker Hauses vgl. LESCH, Waisenhaus Einbeck, 101. Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause, 25. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 2. Beiträge zur Hildesheimischen Geschichte enthaltend die darauf Bezug habenden Aufsätze der Hildesheimischen Wochen- und einiger kleinen Gelegenheitsschrifiten bis zum Jahre 1828, Bd. 2, Hildesheim 1829, 351. LESCH, Waisenhaus Einbeck, 97. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 2.

Die Anstalt als ökonomischer und sozialer Kosmos

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Schweine auf der Gemeine (Allmende) zu halten121. In Einbeck wurde nach 1726 ein Kuh- und Schweinestall angelegt 122 . Auch die personelle Besetzung der Waisenhäuser schwankte von Fall zu Fall. In größeren Anstalten hatte meist ein Verwalter die Leitung, dem verschiedene Personen für Beaufsichtigung und Unterricht der Kinder sowie Gesinde beistanden. In Celle waren 1732 neben dem Verwalter ('Ökonom'), dem die Gesamtleitung und der Unterricht der älteren Jungen oblagen, noch dessen Frau für den Handarbeitsunterricht, ein Lehrer ('Informator') für die jüngeren Kinder, ein Werkmeister, der die Arbeitserziehung überwachte, und drei Dienstmägde beschäftigt 123 . Später muß noch ein Knecht eingestellt worden sein 124 . Ähnlich war die personelle Ausstattung in Moringen: Hier waren außer dem Verwalter ein Lehrer, dessen Frau als 'Waisenmutter' fungierte, eine Haushälterin sowie ein Hausknecht und vier Mägde tätig125. Im größten Hildesheimer Waisenhaus, dem Altstädter, bestand das Personal aus 'Cantor', Schulmeister, Pförtner, Köchin und Bettelvogt126. In den kleineren Häusern beschränkten sich die Bediensteten auf die 'Waiseneltern' und eine oder zwei Mägde. In Clausthal kam 1720 noch ein Strumpfstrickermeister hinzu, der die Kinder in seinem Beruf unterwies127, die beiden kleineren Hildesheimer Anstalten beschäftigten zusätzlich je noch einen Lehrer oder Cantor 128 . In Einbeck lebten 1767 der Waisenvater mit seiner Familie (sieben Personen) und zwei Mägde im Haus 129 . Im Göttinger Waisenhaus fungierten aufgrund der Verbindung mit der theologischen Fakultät Studenten als Lehrer, die dafür zum Teil freies Logis im Haus erhielten. 1751 führte ein "alter Studiosus" 130 die Aufsicht im Haus; außerdem lebten dort noch eine Waisenmutter und zwei angehende Schulmeister. Sechs weitere Studenten lebten nicht im Hause, unterrichteten aber in der an das Waisenhaus angeschlossenen Armenschule. Später wurde dann auch in Göttingen eigens ein Verwalter angestellt131.

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NHStA Hann 93 Nr. 2630, Schreiben der Stadt Moringen an das Schatzkollegium vom 5.1.1733. LESCH, Waisenhaus Einbeck, 97. NHStA Dep. 7b Nr. 264, fol. 94f.; vgl. auch MEUMANN/PRÖVE, "Palatia", 40f., sowie ROHDE, Celler Waisenhaus, 27-31. StACe L 3 Nr. 30. Auf Bitten dieses Knechtes, eines gewissen Reinecke, wurde sein Gehalt 1795 von 6 auf 10 Rtlr. erhöht. Dies geht hervor aus verschiedenen Schriftstücken in NHStA Dep. 7b Nr. 288. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 2. REIFF, Waisenhaus Clausthal, 11. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 2. LESCH, Waisenhaus Einbeck, 99. Vgl. auch ECKART, Geschichte des Waisenhauses Nörten, 13-19. Fortgesetzte Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause, Göttingen 1751. UAGö Waisenhaus Nr. 65.

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Waisenhäuser

Alle diese Personen mußten einen Eid ablegen und wurden auf eine ehrliche und sorgfältige Ausübung ihrer Ämter eingeschworen 132 . Gleichzeitig wurden sie auf jede einzelne Tätigkeit verpflichtet, um spätere Differenzen zu vermeiden. Der Eid des Göttinger Waiseninspektors Schulze schloß z.B. Hilfeleistungen bei den jährlichen Schlachtungen und der Gartenarbeit sowie die Bewachung der außerhalb der Stadt gelegenen Gärten im Sommer und Herbst mit ein; außerdem hatte der Inspektor streng auf Reinlichkeit der Räume und Aborte und auf Sorgfalt bei der Holzverwahrung zu achten 133 . In besonderen Fällen wurden Ärzte und Handwerker ins Haus gerufen, in Celle etwa ein Schneider 134 . Die Stelle als Waisenhausarzt war beispielsweise in Moringen sehr begehrt, wie mehrere Gesuche von Ärzten um eine Bestallung zeigen 135 . Auch eine Stellung als Waisenhausverwalter und Waisenmutter war recht gut bezahlt 136 . Für ein gewisses Prestige einer solchen Stellung spricht auch die Tatsache, daß der Moringer Waisenhausverwalter ein großes Selbstbewußtsein gegenüber den städtischen Behörden entwickelte137. Dem Waisenhauspersonal waren Aufsichtspersonen übergeordnet, meist als 'Provisoren' bezeichnet, die die Rechnungen führten oder zumindest prüften und bei schwerwiegenden Entscheidungen befragt werden mußten 138 . Auch diese gewöhnlich ehrenamtlich tätigen Bürger waren aber nur Zwischeninstanz, die Oberaufsicht über die Anstalten lag bei den Trägern, in Moringen etwa beim Schatzkollegium der Calenbergischen Landschaft, in Nörten beim Gerichtsherrn v. Hardenberg 139 und in Göttingen beim jeweiligen Dekan der theologischen Fakultät. In den Städten hatten die Magistrate bzw. die für die Armenpflege zustän-

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Ebd.; REIFF, Waisenhaus Clausthal, 11. UAGö Waisenhaus Nr. 66. MEUMANN/PRÖVE, "Palada", 41. 1747 bat ein Dr. Martini aus Northeim darum, Hausarzt des Waisenhauses zu werden, NHStA Dep. 7b Nr. 293. Ein anderer Mediziner ersuchte im folgenden Jahr darum, ihn gegen ein Gehalt von 60 Rtlr. zum ständigen Arzt des Hauses zu machen; zu diesem Zweck widmete er eigens den Geheimen Räten seine Dissertation. NHStA Hann. 93 Nr. 2631. 1789 bewarb sich wiederum ein Dr. Vogelsang aus Nörten um den Posten als Waisenhausaizt. NHStA Dep. 7b Nr. 293. MEUMANN/PRÖVE, "Palatia", 41. In Clausthal erhielt der Waisenvater 50 Rtlr., die Waisenmutter noch einmal 20 Rtlr. Dazu kamen freie Kost und Logis. REIFF, Waisenhaus Clausthal, 12. Der Göttinger Waiseninspektor Jahdo erhielt jährlich 92 Rtlr. (40 Rtlr. Lohn plus wöchentlich 1 Rtlr. Kostgeld). Markus MEUMANN, Willkommener Wirtschaftsfaktor oder Störenfried in der städtischen Gesellschaft? Moringen und sein Waisenhaus im 18. Jahrhundert, in: Northeimer Jahrbuch 57 (1992), 75-85. StAH A Nr. 3605, Bericht über das Armen- und Waisenhaus (um 1750). ECKART, Geschichte des Waisenhauses Nörten, 5. In Clausthal wurde dieser 'Administrator', der zunächst die Aufsicht geführt hatte, in den 1750er Jahren abgelöst, so daß der Waisenvater fortan selbst die Rechnungen führte. REIFF, Waisenhaus Clausthal, 12. ECKART, Geschichte des Waisenhauses Nörten, 4.

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digen Armenkollegien diese Funktion inne140, oder es wurden besondere Waisenhauskollegien ins Leben gerufen 141 . Unstimmigkeiten über die Verwaltung gab es in Celle, weil sowohl der Stadtrat als auch die Justizkanzlei als Nachfolgebehörde der fürstlichen Regierung die Oberaufsicht über das Waisenhaus beanspruchten. Nachdem es zwischen den Repräsentanten beider Seiten wiederholt zu Streitigkeiten gekommen war, wurde diese Auseinandersetzung 1714 der Regierung in Hannover vorgetragen. Diese entschied schließlich am 20. Februar 1715, daß das Waisenhaus künftig von einem eigens zu bildenden Kollegium verwaltet werden solle 142 . Diesem sollten zwei Justizräte und ein Kanzleisekretär als Repräsentanten der Justizkanzlei, einer der beiden Bürgermeister und ein Ratsmitglied von seiten der Stadt und der Ober- oder Generalsuperintendent sowie die jeweiligen Provisoren angehören. Die Justizkanzlei hatte sich insofern durchzusetzen vermocht, als der erste der beiden Justizräte den Vorsitz des Kollegiums innehaben sollte. Rivalitäten und Interessenkonflikte zwischen den beiden Institutionen führten allerdings später auch innerhalb des Kollegiums zu Auseinandersetzungen, besonders in der Wiederaufbauphase nach dem Siebenjährigen Krieg 143 . Bei den meisten hier vorgestellten Anstalten handelt es sich um Waisenhäuser im Wortsinn. Vermischte Waisen-, Arbeits-, Zucht- und Tollhäuser existierten weder im Kurfürstentum Hannover noch in Hildesheim. Nur das hannoversche Armen- und Waisenhaus von 1643 versorgte neben Waisen auch Arme, und dem Altstädter Waisenhaus in Hildesheim waren einige Versorgungsstellen für Geisteskranke angegliedert. Das Neustädter Waisenhaus in Hildesheim war mit einem Spital, dem sogenannten Dreizehn-Armen-Hospital, verbunden; die Verbindung beschränkte sich jedoch auf den Finanzhaushalt, Kinder und Arme lebten getrennt voneinander. In Einzelfällen allerdings konnten auch andere Personen in Waisenhäusern untergebracht werden 144 . Die Waisenhäuser dienten also fast ausschließlich der Aufnahme bedürftiger Kinder. Die Auswahlkriterien waren bei aller Verschiedenheit so festgelegt, daß sie von vornherein einen Teil der bedürftigen Kinder von der Aufnahme in ein Waisenhaus ausschlössen.

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In der Hildesheimer Altstadt wurde das Waisenhaus dem 1715 gegründeten Armenkollegium unterstellt, StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 2. In Hannover waren der zweite Bürgermeister, der älteste Pfarrer der Marktkirche und der jüngere Kämmerer 'Patrone' des Armen- und Waisenhauses. StAH A Nr. 3605, Bericht über das Armen- und Waisenhaus (um 1750). Das siebenköpfige Kollegium der Hildesheimer Neustadt bestand aus Mitgliedern von Rat und Bürgerschaft und einem Pfarrer, StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 2. NHStA Hann. 93 Nr. 2916, Verordnung vom 20.2.1715. Siehe unten Abschnitt 3.1. In einem Steckbrief vom 29.6.1780 heißt es, "daß der wegen verschiedener zum Theil mittelst Einsteigens verübter Diebstähle, im Waysenhause zu Zelle aufbewahrter Inquisit, Namens Johann Heinrich Spange, aus Fallingbostel gebürtig, 23 Jahr alt, (...) zu entspringen Gelegenheit gefunden." NHStA Cal. Br. 23b Nr. 239.

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Die erste Aufnahmebeschränkung war das Alter. Alle Waisenhäuser nahmen ausschließlich Kinder im Mindestalter von fünf bis acht Jahren auf. Die Begründung dafür, keine Säuglinge und Kleinkinder anzunehmen, lag in dem größeren Aufwand für deren Versorgung, "weilen sonst die Verpflegung so vielmehr Kosten erfordern würde" 145 , wie die Calenbergische Landschaft in ihren Überlegungen zur Errichtung des Moringer Waisenhauses formulierte. Im Armen- und Waisenhaus in Hannover betrug das Mindestalter fünf bis sechs Jahre 146 , in Moringen und Nörten sechs Jahre 147 . Am höchsten lag es mit acht Jahren in Celle 148 und Göttingen 149 . Kleinere Kinder erforderten außer höheren Kosten auch die Einzelbetreuung durch eine Amme, die aber einfacher außerhalb einer Anstalt erreicht werden konnte; das Neustädter Waisenhaus in Hildesheim versorgte daher 1755 einige "noch ganz unmündige (...) [Kinder] außerhalb des Waysen Haußes..." 150 . Im Alter von ungefähr 14 Jahren wurden die Kinder aus dem Waisenhaus entlassen; der entscheidende Termin war in den mit nur einer Ausnahme protestantischen Waisenhäusern die Konfirmation. Die Jungen wurden gewöhnlich zu einem Handwerksmeister in die Lehre gegeben, die Mädchen kamen als Dienstmägde zu anderen Leuten. Die Waisenhäuser gaben meist noch eine Starthilfe, etwa Kleidung, Wäsche und etwas Geld. Für die Jungen wurden die Zunftgebühren und das Lehrgeld übernommen 151 . Ein zweites Kriterium war der Familienstand der Kinder. Manche Häuser nahmen vorrangig Vollwaisen auf, so das Neustädter Waisenhaus in Hildesheim, die Clausthaler und die Nörtener Anstalt 152 . In der Definition des Celler Waisenhauses galt dagegen bereits als 'wirkliche Waise' jedes Kind, dessen Vater verstorben war 153 . Nach den Überlegungen der Calenbergischen Landschaft sollten ausdrücklich "in diese Häuser (...) nicht nur Waysen- sondern auch Armen-Kinder, welche noch Vatter u. Mutter hätten, aufzunehmen seyn" 154 . Als dann das

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NHStA Dep. 7b Nr. 264, "Actum im Schatz-Collegio d. 16.2.1732". Armenordnung für die Stadt Hannover vom 4.12.1700, CCC, Bd.l, Cap. I, 963-970, hier 968; StAH A Nr. 3605, Bericht über das Armen- und Waisenhaus (um 1750). NHStA Dep. 7b Nr. 280, Protokoll einer Sitzung im Deputationskollegium vom 20.11.1745; ECKART, Geschichte des Waisenhauses Nörten, 19. StACe 20 B Nr. 4a, Hagemann, Gesammelte Nachrichten, 65. UAGö 10a Nr. 14, "Extract aus dem Kundebuche für die Georg-August-Universität Ilr Theil L-Z", o.J. (nach 1840). StAHi Best. 100 Abt. 177a Nr. 1, Protokoll der Neustädter Bürgerschaft vom 18.8.1755. ECKART, Geschichte des Waisenhauses Nörten, 21f. StAHi Best. 100 Abt. 215 Nr. la, Zusammenstellung verschiedener Protokolle anläßlich der Anlegung des Neustädter Waisenhauses, o.J., Eintrag unter dem 16.6.1746. Zu Clausthal und Nörten, wo z.T. auch Halbwaisen aufgenommen wurden, vgl. REIFF, Waisenhaus Clausthal, 11, und ECKART, Geschichte des Waisenhauses Nörten, 19. StACe 20 B Nr. 4a, Hagemann, Gesammelte Nachrichten, 65. NHStA Dep. 7b Nr. 264, "Actum im Schatz-Collegio d. 16.2.1732".

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Moringer Waisenhaus endlich eröffnet wurde, sollten nun doch Waisen bevorzugt werden werden. "Indeß sey eine exceptio a Regula zu statuiren, wenn die Eltern oder nächsten Verwanten eines Kindes so arm wären, daß sie das Vermögen nicht hätten, ein solch Kind im Christenthum lesen und aus ihren Mitteln unterrichten zu lassen" 1 5 5 . Abgesehen von der Elternlosigkeit gab es eine Reihe weiterer Auswahlkriterien und -beschränkungen, darunter die Herkunft. Kinder, die in Celle Aufnahme finden wollten, mußten im Fürstentum Lüneburg geboren sein 156 . In Moringen galt dies für Calenberg-Göttingen. Überdies waren dort Kinder aus den vier großen Städten Hannover, Göttingen, Hameln und Northeim von der Aufnahme ausgeschlossen, da diese sich nicht an der Finanzierung des Waisenhauses beteiligten 157 . In den Städten drangen Magistrate oder Bürgerschaften darauf, daß bevorzugt Bürgerkinder aufgenommen würden 158 . In Göttingen verpflichtete sich die theologische Fakultät als Gegenleistung für die Bewilligung steuerlicher Vergünstigungen durch die Bürgerschaft sogar, ausschließlich Bürgerkinder aufzunehmen 159 . In Nörten wurden nur Kinder aus den zum Gericht Hardenberg gehörenden Dörfern angenommen 160 . Mit diesen Einschränkungen verbunden war häufig die strikte Ablehnung unehelicher und - außer in Celle - von Soldaten gezeugter Kinder 161 . Der Grund für diese Beschränkungen lag wiederum in der Kostenersparnis: Den Städten war vor allem daran gelegen, mit Hilfe der Waisenhäuser die Kinder zu versorgen, für 155 156 157 158

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Ebd. Nr. 280, Protokoll einer Sitzung im Deputationskollegium vom 20.11.1745. StACe 20 B Nr. 4a, Hagemami, Gesammelte Nachrichten, 65. NHStA Dep. 7b Nr. 280, Protokoll einer Sitzung im Deputationskollegium vom 20.11.1745. Hannover: NHStA Hann. 52 Nr. 2987, 1810. Hildesheim Altstadt: StAHi Best. 100 Abt. 215 Nr. la, Zusammenstellung verschiedener Protokolle anläßlich der Anlegung des Neustädter Waisenhauses, o.J., Eintrag unter dem 8.10.1694; ebd. Abt. 177 Nr. 30, Bericht des Riedmeisters Stahl über das Waisenhaus vom 11.3.1803; Neustadt: ebd. Abt. 215 Nr. 3, Verordnung für das Waisenhauskollegium vom 19.12.1755. Auch in Celle machte der Magistrat immer wieder dahingehende Ansprüche geltend. StACe 20 B Nr. 4a, Hagemann, Gesammelte Nachrichten, 66. StAGö AA Wohlfahrt Waisenamt Nr. 2, Ratsprotokolle vom 18. und 19.12.1747. NHStA Hann. 84 Nr. 884, Bericht vom 21.2.1803; ECKART, Geschichte des Waisenhauses Nörten, 19. Über die eheliche Geburt als Voraussetzung in Celle StACe 20 B Nr. 4a, Hagemann, Gesammelte Nachrichten, 65; zum Ausschluß von unehelichen und Soldatenkindern in Göttingen UAGö Waisenhaus Nr. 78, Protokoll vom 11.10.1761 und Vorschlagliste des Prof. Planck vom 12.3.1788; zum katholischen Waisenhaus Hildesheim Diözesanarchiv Hildesheim B XIII Nr. 4d, Waisenhausrechnung 1837, 2. In der Altstadt Hildesheim lautete die wörtliche Bestimmung, daß "Huhren und Soldaten Kinder (...) a u s g e s t o ß e n bleiben müßten". StAHi Best. 100 Abt. 215 Nr. la, Zusammenstellung verschiedener Protokolle anläßlich der Anlegung des Neustädter Waisenhauses, o.J., Eintrag unter dem 8.10.1694. In Moringen sollte im Einzelfall über "Kinder der einländischen Invaliden" entschieden werden. NHStA Dep. 7b Nr. 280, Protokoll einer Sitzung im Deputationskollegium vom 20.11.1745.

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deren Unterhalt sie ohnehin aufkommen mußten. Auswärtige, uneheliche und Soldatenkinder galten als zusätzliche Last oder unliebsame Konkurrenz für die einheimischen Bürgerkinder. Das Celler Waisenhaus freilich konnte sich Soldatenkindern nicht verschliessen, weil es einen Zuschuß aus dem Invalidenhospital St. Wilhelm erhielt 162 . Aber auch dort wurden "Fremde und Bettelkinder" ausgeschlossen, "weil solche aus dem Armen-Aerario jedes Orts, oder sonst auf öffentliche Kosten unterhalten werden müßen" 163 . Generell von der Aufnahme ausgeschlossen waren in allen Waisenhäusern kranke und behinderte Kinder 164 ; die Calenbergische Landschaft stellte gleich zu Beginn der Planungen für Moringen fest: "Preshaffte [i.e. bresthafte] Kinder gehörten in ein Hospital, und wären daher in das Waysen Hauß (...) nicht zu recipiren" 165 . Eine nicht unbedeutende Rolle spielte außerdem die Konfession. In Moringen wurde beschlossen, "keine anderen Kinder aufzunehmen, als welche EvangelischLutherscher Religion wären" 166 . Besonders virulent war die konfessionelle Frage in Hildesheim: Das Neustädter Waisenhaus nahm bewußt nur evangelische Waisen auf 167 , wogegen die Gründung des domkapitularischen Waisenhauses auch auf die bereits erwähnte Sorge des Kapitels zurückging, daß katholische Kinder im Altstädter Waisenhaus eine unkatholische Erziehung erhalten könnten 168 . Dies hing mit der konfessionellen Spaltung des Hochstiftes und dem daraus resultierenden ständigen Ringen um den Vorrang zusammen, der schon bei den Bekehrungsversuchen verurteilter Kindsmörderinnen beobachtet werden konnte 169 . Allerdings waren die Kriterien nicht nur von Ort zu Ort verschieden, sondern wechselten auch im Laufe der Jahre. Darüber hinaus wurden manchmal, meist gegen Bezahlung, auch Kinder aufgenommen, denen der Zugang sonst verwehrt wurde; das Altstädter Waisenhaus in Hildesheim nahm z.B. gegen ein Kostgeld katholische Findelkinder auf 170 . Besonders die Ablehnung von Soldatenkindern war keineswegs unumstritten. Die hannoversche Landesregierung, die an der Öffnung der allgemeinen Für162

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"Stiftungsurkunde des Zelleschen Waisenhauses", in: HAGEMANN, Miscellaneen, 58-64, hier 64. Diese Hilfsmaßnahme für Soldatenkinder ist im Zusammenhang mit der in Celle ausgeprägten Invalidenversorgung zu verstehen. Über das nach dem Vorbild des Hötel des Invalides in Paris errichtete Wilhelmshospital COLSHORN, Hospitalkassen, 13-19. StACe 20 B Nr. 4a, Hagemann, Gesammelte Nachrichten, 67. Vgl. auch die Ablehnung der Zigeunerkinder oben Kap. IV, Abschnitt 3.4. Ebd., 65; aus Moringen sind verschiedene Ablehnungen kranker Kinder überliefert in NHStA Dep. 7b Nr. 288, 289 und 292. Ebd. Nr. 280, Protokoll einer Sitzung im Deputationskollegium vom 20.11.1745. Ebd. StAHi Best. 100 Abt. 215 Nr. 3, Verordnung für das Waisenhauskollegium vom 19.12.1755. Ebd. Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 9. Vgl. Kap. III, Abschnitt 2.2. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 9.

Die Anstalt als ökonomischer und sozialer Kosmos

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sorgeinstitutionen für Soldaten interessiert war, forderte 1749 die Calenbergische Landschaft zu einer großzügigeren Aufnahme von Soldatenkindern auf: "Nachdem aber die aus rechtmäßiger Ehe erzeugte arme Kinder, deren Väter in hiesigen Kriegs-Diensten gestanden, wohl den favorem verdienen, daß sie ohne Unterschied, sie seyen in oder außer Landes gebohren, bei vorfallenden vacanzen im Moringischen Waysen-hauß gleich anderen Waysen aufgenommen [würden, sollten alle Kinder,] deren Väter in denen Fürstentümern Calenberg und Göttingen in Garnison gelegen [aufgenommen werden]" 171 . Die Landschaft behielt sich dennoch vor, diese Kinder nur "befundenen Umständen nach" ins Waisenhaus aufzunehmen 172 . Trotzdem gehörte Moringen wie die anderen überstädtischen Anstalten in Celle und Einbeck zu den 'offensten' Häusern. Gleichzeitig waren diese auch die größten Anstalten. Die Zahl der aufgenommenen Kinder lag in den ersten Jahren des Bestehens in Celle 173 bei ca. 80, in Einbeck 174 nach einer geringeren Zahl im ersten Jahr bald bei ca. 45 und in Moringen 175 bei ca. 40. Ebenfalls zu den größeren Häusern zählte das hannoversche Armen- und Waisenhaus, das nach 1700 bald über 60 Kinder versorgte 176 . Darauf folgte eine mittlere Kategorie mit etwas mehr als 20 Kindern pro Haus. Dazu gehörten Clausthal177 (24), Göttingen 178 (22) und das Waisenhaus der Altstadt Hildesheim 179 (22). Zu den kleinen Anstalten zählten das Nörtener Waisenhaus mit 12-14 Kindern 180 und die beiden anderen Hildesheimer Waisenhäuser;

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NHStA Hann. 93 Nr. 2631 und Dep. 7b Nr. 294, Schreiben der Landesregierung vom 22.3.1749. Ebd., Schreiben der Landschaft vom 4.12.1749. Nach StACe 20 B Nr. 4a, Hagemann, Gesammelte Nachrichten, 67, hielten sich im Jahr 1710 84 Kinder im Haus auf. Vgl. auch ROHDE, Celler Waisenhaus, 34. Begonnen wurde 1713 mit 15 Kindern; 1721 lebten schon 40 und 1723 50 Kinder im Haus. LESCH, Waisenhaus Einbeck, 96; NHStA 72 Einbeck Nr. 766 und 767, Rechnungsbücher 1721 und 1723. 1745 standen 42 Stellen zur Verfügung; davon waren 1746 39 und 1747 40 besetzt. 1748 waren 43 Kinder im Haus. NHStA Dep. 7b Nr. 280, Protokoll einer Sitzung im Deputationskollegium vom 20.11.1745, und Nr. 288, Berichte des Verwalters vom 18.7.1746, 20.2.1747 und 15.1.1748. Vgl. CCC, Bd. 1, Cap. I, 968, Armenordnung Hannover 1700. 1728 versorgte das Haus 63 Kinder. StAH B Nr. 18541m, Register 1728. REIFF, Waisenhaus Clausthal, 10. Fortgesetzte Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause, 1. Begonnen worden war zunächst mit acht Kindern, UAGö 10a Nr. 14. "Extract aus dem Kundebuche für die GeorgAugust-Universität Ilr Theil L-Z", o.J. (nach 1840). StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 2. ECKART, Geschichte des Waisenhauses Nörten, 19.

284

Waisenhäuser

das katholische wurde allerdings nach dem Siebenjährigen Krieg stark erweitert181. Verglichen mit dem Anteil von Kindern am allgemeinen Armenwesen war die Gesamtzahl der in Waisenhäusern versorgten Kinder sicherlich gering, auch wenn genaue Vergleichszahlen fehlen. Die Bedeutung der Waisenhäuser lag daher weniger in ihrer quantitativen Reichweite als vielmehr in dem erheblichen finanziellen und personellen Aufwand und in der 'Verdichtung' der auch in der offenen Armenpflege wirksamen Erziehungsvorstellungen im Anstaltsalltag.

2.2.

Disziplin und Frömmigkeit als Lebenswelt Tagesablauf- Arbeit und Erziehung - Ernährung - Kleidung

Das Leben in den Waisenhäusern war wie in anderen Anstalten streng reglementiert182. "Um die Kinder an eine regelmässige Ordnung im Aufstehen zu gewöhnen" 183 , wurden sie im Winter um sechs, im Sommer schon um fünf Uhr geweckt184. Der Tag war dann mit Arbeit, Unterricht, Instandhaltung der Keidung und Essen voll ausgefüllt, bis um neun Uhr zu Bett gegangen wurde. Nur sonnund feiertags wurde nicht gearbeitet, der Tag war dem Kirchgang und religiöser Unterweisung gewidmet. Die Kinder waren strenger Disziplin unterworfen und mußten dem Personal "allen schuldigen Gehorsam und Respect erweisen (...). Fluchen, schweren, zanken, hadern oder sich untereinander schlagen, oder sonsten einigen Muthwillen u. Boßheit treiben" waren streng verboten. Verstöße gegen die Disziplin oder unerlaubtes Verlassen der Anstalt sollten "nach Befinden ernstlfich], gestraffet" und die Kinder gegebenenfalls "auß dem Weisen Hause gestoßen werden" 185 .

181

182

183 184

185

Das Neustädter Waisenhaus versorgte sieben Kinder. StAHi Best. 100 Abt. 215 Nr. la, Zusammenstellung verschiedener Protokolle anläßlich der Anlegung des Neustädter Waisenhauses, o.J., Eintrag unter dem 22.9.1752. Zum Tagesablauf in anderen Waisenhäusern vgl. z.B. MUMMENHOFF, Waisenhaus Nürnberg, Teil 1, 164-169; KALLERT, Waisenhaus, 28; KUHN, Sozialfürsorge, 33ff.; ROEPER, Das verwaiste Kind, 122-136. Die Reglementierung des Alltags unterschied sich nicht wesentlich von Arbeits- oder Zuchthäusern. Vgl. dazu STEKL, 'Labore et fame'; ders., Zucht- und Arbeitshäuser, 203-283; STIER, Fürsorge und Disziplinierung, 97-126; WEBER, Zucht- und Arbeitshäuser, 86ff.; Michel FOUCAULT, Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses, 9. Aufl., Frankfurt a.M. 1991 (Orig.: Surveiller et punir. La naissance de laprison, Paris 1975), 173ff. UAGö Waisenhaus Nr. 72, "Tages Ordnung des Göttingischen Waisenhauses". Ebd; außerdem NHStA Dep. 7b Nr. 264, fol. 98, "Reglement wie die Kinder sich im Waisenhause zu verhalten", Celle 1732. Vgl. ECKART, Geschichte des Waisenhauses Nörten, 11-13. NHStA Dep. 7b Nr. 264, fol. 98, "Reglement" 1732.

Die Anstalt als ökonomischer und sozialer Kosmos

285

Wie sehr der Alltag der Waisenkinder von Ordnung und Disziplin durchdrungen war, veranschaulicht ein detaillierter Entwurf für den Tagesablauf im Göttinger Waisenhaus aus der Zeit um 1740186: "Algemeiner Plan der Arbeits- und Unterrichtsstunden von

Anwendung der Morgenstunden

5-6 Müßen alle auffstehen, sich anziehen, zusammen beten, und an ihre Arbeit, welches ordinair die Spinnerey ist, gehen. Wobey ein Morgengesang gesungen, und ein Kapittel aus der Bibel vorgelesen werden kann. 6-7 Wird in dieser Arbeit fortgefahren, und was ein jeder aus dem vorgelesenen Kapittel behalten nachgefraget; auch sonsten zu ihrer Erbauung und Unterricht hierüber von dem Praeponenten geredet. 7-8 Werden diese Arbeiten annoch fortgesetzt; und dabey kan denen Kindern eine biblische Geschichte fürgelesen, durchgefragt und nach bewandten Umständen nutzbahr gemacht werden. 8-1

Gehen ihre Schul-Unterweisungen fort (...)

11-12 Wird gegeßen. Die Kinder speisen an einer großen Taffei, und die Praeparanden, Waysen-Mutter und übrige Erwachsenen einen neben Tische und haben auf Ordnung und Reinlichkeit bey den Kindern zu sehen. Während dem Eßen, Wehrden 1 od[er], 2 aus Rambachs187 Geschichten von Christl[ichen]. und gutartigen Kindern vorgelesen. von

Anwendung der Nachmittagsstunden

12Können sich die Kinder eine Veränderung machen. Damit aber die dabey sonst leicht vorfallenden Ausschweiffungen verhütet werden, muß der 2te Praeparande sie in beständiger Obacht haben. 1-4

Werden die Kinder in der Schule (...) unterhalten

4-5 Werden die Geschaffte in der Spinnerey oder sonsten nöthigen Haushaltungs-Sachen fortgesetzt; wobey ein Gesang gesungen und ein Capit[el]. aus dem N[euen], Testamfent]. von dem Praeparanden vorgelesen wird. 5-6 Werden die von 4-5 angefangenen Arbeiten fortgesetzt, und was ein jeder von den Kindern von dem Vorgelesenen behalten, gefraget, und auf sie angewendet. 6-7 Wird mit den angefangenen Arbeiten noch fortgefahren; eine geschichte aus dem Nfeuen]. Testament], fürgelesen, zergliedert, und selbige nach ihrere Beschaffenheit auf der Kinder Umstände angewandt, und so noch Zeit übrig, noch ein Gesang gesungen. 7-8 Wird gegeßen, undt dabey wie bey der Mittagsmahlzeit verfahren 186 187

UAGö Waisenhaus Nr. 72. Johann Jacob Rambach, geboren 1693 in Halle, gestorben 1735 in Gießen. Evangelischer Theologe, Professor in Halle und Gießen, war mehrfach am Halleschen Waisenhaus tätig. Schrieb zahlreiche Abhandlungen, darunter Erbauungsbüchlein für Kinder und eine Leidensgeschichte Jesu. Dazu Allgemeines Gelehrten Lexicon, hg. von Christian Gottlieb JÖCHER, 3. Teil, Leipzig 1751, Sp. 1185-1189. Die jeweiligen Auflagen, aus denen den Kindern vorgelesen worden sein könnte, konnten nicht ermittelt werden.

286

Waisenhäuser

8-9 Werden sie wiederum zur Spinnerey oder sonsten nöthigen Haushaltungsarbeiten angehalten. Sind sie bey der Spinnerey kan ihnen aus Rambachs erbaulichen Leydens-Geschichten ein Pensum vorgelesen werden. Nach Abschließung dieser Stunde werden Abengebether gebetet, ein Abendlied gesungen, worauf sie dann in guter Ordnung zu Bette geführt werden." In diesem Plan sind die wesentlichen Elemente der Waisenhauserziehung enthalten: neben der reinen Versorgung vor allem Arbeit und religiös-schulischer Unterricht. Diese Inhalte wurden aber nicht getrennt voneinander vermittelt, sondern waren eng miteinander verwoben. Geistliche und erbauliche Lesungen begleiteten Mahlzeiten und Arbeitsstunden und bildeten deren ständigen Hintergrund. Die Spiel- oder Freizeit war dagegen mit einer Stunde ausgesprochen kurz bemessen 188 . Gin bedeutender Erziehungsaspekt und geradezu die Grundvoraussetzung für eine positive Auffassung obrigkeitlicher Fürsorge war die Gewöhnung der Kinder an körperliche Arbeit. Dies wurzelte in der schon aus den Armenordnungen bekannten Auffassung, daß Arbeit die Voraussetzung eines gottgefälligen Lebens und Müßiggang der Beginn aller Laster sei 189 . In den Waisenhäusern sollten die Kinder "zur Gottesfurcht unterwiesen undt zeitig zur Arbeit angewehnet" 190 werden. Ohne den erzieherischen Wert von Arbeit bestand nach Ansicht der hannoverschen Regierung die Gefahr, daß "diese Kinder sich dehm müßiggang undt betteln ganz ergeben, bey zunehmenden Jahren darzu in Uhnzucht, dieberey undt allerhand Laster verfallen, undt worauß ein Seminarum deß bettelnß, undt alles üblen wirdt" 191 . In allen Waisenhäusern nahm körperliche Arbeit daher einen großen Teil des Tages in Anspruch, in Celle z.B. fünf Stunden 192 . Jenseits des erzieherischen Wertes sollten die Kinder damit auch zu ihrem eigenen Unterhalt beitragen; aus eben diesem Grunde mußten sie auch die Sammlungen für die Finanzierung der Anstalten selbst durchführen 193 . Der Gewinn sollte jedoch im allgemeinen hinter den Unterrichtszwecken zurückstehen 194 . Zunächst stand die Vorbereitung der Kinder auf eine spätere Tätigkeit, Handwerk oder Gesindedienst, im Vordergrund. In Clausthal war die Arbeitserziehung vom Bergbau beeinflußt; die Jungen sollten 188 189 190

191 192 193 194

Dies galt z.B. auch in Halle, vgl. KALLERT, Waisenhaus, 28. Vgl. Kap. IV, Abschnitt 4.1. NHStA Hann. 93 Nr. 2630, fol. 3V, Schreiben der Regierung an die Landschaften vom 27.11.1731. Ebd., fol. 3 M r . NHStA Dep. 7b Nr. 264, fol. 98, "Reglement" 1732. Z.B. CCC, Bd. 1, Cap. I, 968, Armenordnung Hannover 1700. REIFF, Waisenhaus Clausthal, 13.

Die Anstalt als ökonomischer und sozialer Kosmos

287

an harte Arbeit gewöhnt werden, um für die Arbeit in den Gruben und Pochwerken tauglich zu sein. Für den Fall, daß sie später nicht in den Gruben würden arbeiten können, lernten sie allerdings wie die Mädchen verschiedene Handarbeiten" 5 . In den größeren Waisenhäusern versuchte man wie in anderen Anstalten, eigene gewerbliche Produktionen aufzubauen 196 . In Celle wurde gestrickt und gesponnen 197 , im hannoverschen Armenhaus betrieben die Kinder 'Strümpffknütten' und Baumwollspinnerei 198 . In Moringen sollten eine Knüppelschule und später eine Spinnerei eingerichtet werden 199 . In Einbeck stand die Gründung des Waisenhauses bekanntlich direkt in Verbindung mit der Errichtung einer Wollfabrik, für die die Kinder spinnen sollten200. Ein weiterer wichtiger Tagesinhalt war die religiös-schulische Unterweisung. In Celle erhielten die Kinder nach einer Beschreibung von 1732 täglich fünf Stunden Unterricht 201 . Wahrscheinlich wegen der Verbindung mit der theologischen Fakultät wurde die schulische Erziehung in Göttingen besonders ernst genommen. Sie hatte, zumindest in den öffentlichen Rechenschaftsberichten der Fakultät 202 , eindeutig Vorrang vor der Arbeitserziehung: Der geringe Ertrag der Spinnarbeit wurde ausdrücklich in Kauf genommen, da dem "nicht abgeholfen werden kann, ohne von Hauptzweken des Waisenhauses, welche vor die Kinder andere und wichtigere Beschäftigung erfordern, sich zu sehr entfernen" 203 . Das Wissen der Kinder wurde in öffentlichen Schulprüfungen abgefragt und zugleich einer bestimmten Öffentlichkeit präsentiert. 1768/69 sprachen bei einer solchen Prüfung je ein Waisenknabe über Gottes Fürsorge für die Tiere und die Vögel. Anschließend "unterredeten sich zwey Waysenmädchen von der Flachsund Spinnearbeit und ein Waysenknabe dankte der vornehmen und ansehnlichen Versammlung für ihre geneigte Gegenwart in Versen" 204 . Sehr detaillierte Auskunft über eine solche Prüfung gab der damalige Dekan Zachariä im Jahr 1772:

195

Ebd., 12. Vgl. dazu MUMMENHOFF, Waisenhaus Nürnberg, Teil 1, 168; STEKL, Zucht- und Arbeitshäuser, 224-240; STIER, Fürsorge und Disziplinierung, 112-118. 197 StACe L 3 Nr. 222 und 226; NHStA Dep. 7b Nr. 264. 198 CCC, Bd. 1, 969; NHStA Dep. 7b Nr. 296, Schreiben des Schatzkollegiums vom 10.2.1765. 199 NHStA Dep. 7b Nr. 287 und 291. 200 LESCH, Waisenhaus Einbeck, 96. 201 NHStA Dep. 7b Nr. 264, fol. 98. 202 Zum Zweck dieser Berichte vgl. Kap. VII, Abschnitt 2.2. 203 Die zwei und zwanzigste Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause, Göttingen 1771, 14. 204 j)i e e j n und zwanzigste Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause, Göttingen 1769, 17. 196

288

Waisenhäuser

"Lectionen, welche das vorige Examen in der Waisenhausschule abgehandelt worden Vormittag 1. Wurde die Charte von Europa überhaupt, und einige Reiche desselben besonders durchgegangen. 2. Ein Französisches Gespräch zwischen zwey jungen Frauenzimmern. 3. Die Geschichte der Himmelfahrt Jesu. 4. Aus der Geometrie die Lehre vom Triangel. 5. Hielte ein Knabe eine Rede von den Vortheilen, die man aus der Betrachtung der Natur ziehen kann. Nachmittag 6. Wurde über den 103 Psalm catechisiert. 7. Aus der Naturhistorie die Merkwürdigkeiten der Inseckten. 8. Ein Gespräch zwischen zwey Knaben von dem Nutzen der Kräuterkenntniß bey der Haushaltungskunst. 9. Wurde von den zwey Ständen Jesu gehandelt. 10. Machten die Kinder einige Exempel aus der Rechenkunst. 11. Wurde die Lehre vom Gebete durchgegegangen. 12. Hielte ein Waisenknabe eine Danksagungs- und Abschiedsrede." Auch in anderen Waisenhäusern gab es Lernkontrollen: In Moringen überprüfte ein Pfarrer den Kenntnisstand der Kinder 205 , in Celle wurde 1797 eine öffentliche Schulprüfung der Waisenkinder eingeführt 206 . Die Lerninhalte in Göttingen dürften allerdings eine deutliche Ausnahme gewesen sein; in anderen Anstalten sah der Lehrplan vorwiegend Lesen, Rechnen und religiöse Erziehung vor 207 . Letztere durchdrang das Leben in allen Waisenhäusern. Selbst bei den Mahlzeiten wurde "etwas Erbauliches gelesen oder von einem Studioso mündlich

205 206 207

NHStA Dep. 7b Nr. 289. StACe L 3 Nr. 254. Ebd. Nr. 230, Tabellarische Auflistung vom 5.1.1742. Die Kinder lasen aus der Bibel und dem Katechismus, nicht alle jedoch konnten schreiben und nur die älteren Jungen lernten Bruchrechnung. Von 21 Mädchen beherrschten 16 nicht einmal die Grundrechenarten.

Die Anstalt als ökonomischer und sozialer Kosmos

289

proponiret, da indeßen niemandem laut zu reden erlaubet ist, sondern alle und jede sich stille halten müßen" 208 . Während über die Ernährung einzelner Angehöriger unterer Schichten im 17. und 18. Jahrhundert kaum Aussagen vorliegen, sind die Speisepläne von Anstalten eine bedeutende Quelle für die Erforschung froherer Nahrungsgewohnheiten 209 . Aus den hier vorgestellten Waisenhäusern sind mehrere Speisepläne erhalten, je einer aus Göttingen, Hannover und Moringen sowie zwei aus Celle 210 . Diese geben einigen Aufschluß über Menge und Qualität der Nahrung; allerdings muß davon ausgegangen werden, daß es sich um schematische Richtlinien füir die Ernährung handelt, die die Einhaltung eines bestimmten Standards durch das Personal sichern sollten 211 . Abweichungen waren je nach Jahreszeit sicherlich möglich. Das Frühstück war gewöhnlich sehr karg und bestand oft nur aus einem Stück Brot; in Celle gab es sonntags nach dem Plan von 1697 überhaupt kein Frühstück. In Moringen war das Frühstück etwas reichhaltiger, da es Käse zum Brot gab, ebenso in Göttingen, wo eine Suppe dazugehörte. Die Hauptmahlzeit war das Mittagessen. Auch hier spielte das Brot eine wichtige Rolle, daneben gab es Breie und Grützen aus Gerste, Buchweizen oder Hafer sowie eine Suppe aus Dünnbier und Brot, die im Winter als 'Warmbier' und im Sommer als 'Kaltschale' gegessen wurde 212 . Das Gemüse bestand vorwiegend aus Hülsenfrüchten und Kohl, weiterhin Rüben und Möhren. Auch Äpfel und Birnen wurden geschmort, außerdem gab es eine Art Salat mit Essig und Speck 213 . Fleisch wurde außer an Sonn- und Feiertagen höchstens noch ein weiteres Mal aufgetragen 214 . Fisch, d.h. gesalzenen Hering, gab es nur in Celle (1697) und Hannover 208

209

210

211

212 2,3 214

NHStA Hann. 93 Nr. 2630, fol. 177r, Schreiben des Moringer Bürgermeisters Cellarius vom 8.6.1733. Vgl. Günther WIEGELMANN, Volkskundliche Studien zum Wandel der Speisen und Mahlzeiten, in: Hans Jürgen TEUTEBERG und Günther WIEGELMANN, Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluß der Industrialisierung, ( = Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im 19. Jahrhundert; 3), Göttingen 1972, 223-368, hier 252. UAGö Waisenhaus Nr. 72, "Tages Ordnung des Göttingischen Waisenhauses*; Hannover 1745 und Moringen 1745: NHStA Dep. 7b Nr. 288, fol. 6-8, Anlage zu einem Schreiben vom 21.12.1745; Celle 1696: StACe L 3 Nr. 222; Celle 1732: NHStA Dep. 7b Nr. 264, Anlage zu einem Schreiben vom 20.5.1732. Für die Kinderstube des Göttinger St. Crucis-Hospitals wurde 1674 eigens ein Speiseplan vom Konsistorium erstellt, weil die Insassen "der gebühr nach nicht wahren verpfleget noch gespeiset worden". Dem Verwalter wurde befohlen, den Plan "auf eine Taffei verzeichnen, undt in der Speise Stuben offendtlich anhangen zu laßen." StAGö AA Klostersachen St. Crucis Nr. 24. Auch im Braunschweiger Waisenhaus sollten die Speiseregelements ausgehängt werden, so Mechthild WISWE, Die Speisung der Waisenkinder im Großen Waisenhaus Braunschweig im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Der Freundeskreis des Großen Waisenhauses 90 (1982), 33-37, hier 36. Vgl. dazu ebd., 36. Celle 1732. In Moringen gab es donnerstags Fleisch, in Celle und Hannover wurde mittwochs Braunkohl mit Wurst oder Speck aufgetischt.

290

Waisenhäuser

einmal pro Woche. Das Abendessen war wiederum deutlich einfacher. Es bestand aus Brot, dicker Milch, Breien und Käse. Nur in Göttingen gab es auch Wurst; außerdem erhielt dort jedes Kind zusätzlich am Nachmittag um vier Uhr ein Stück Brot. Das übliche Getränk war allerorten ein Dünnbier oder Kofent 215 , das z.B. in Moringen im Waisenhaus selbst gebraut wurde und im Unterschied zum Broyhan nur wenig Alkohol enthielt. Abgesehen von einzelnen lokalen Besonderheiten war die Ernährungsweise nicht sehr unterschiedlich; offenbar entsprach dies dem zeitgenössischen Anstaltsstandard 216 . Über die Menge der Speisen ist kaum etwas bekannt. Nur in dem Celler Plan von 1697 sind Mengenangaben gemacht: Danach erhielt jedes Kind pro Woche je ein halbes Pfund Fleisch und Speck, einen halben Hering und neun Pfund Brot, was mit dem dazugehörigen Gemüse eine ausreichende Menge gewesen sein dürfte. Betreffend die Qualität der Nahrung fallen vor allem das Fehlen von frischem Obst und Gemüse und die relativ geringe Menge von Milchprodukten auf, was negative Folgen für den Gesundheitszustand der Kinder gehabt haben könnte; allerdings handelt es sich dabei um einen Mangel, der häufig unter der ärmeren Bevölkerung herrschte 217 . Interessant ist, wie die Waisenhausnahrung gegen die Ernährung anderer Gruppen bzw. außerhalb der Anstalten abgegrenzt war. Ein Speiseplan für das Personal in Moringen - nur der Hausknecht und die Mägde mußten mit den Kindern essen - zeigt, daß nicht nur Adlige oder wohlhabende Bürger eine weitaus üppigere Ernährung gewohnt waren. Die Bediensteten in Moringen erhielten täglich eine Suppe, gefolgt von einem Gemüsegericht und Fleisch, dazu abends Eier, Pfannkuchen und kaltes Fleisch 218 . Es wurde also ein klarer Unterschied zwischen diesen angeseheneren Bediensteten einerseits und den gewöhnlich den ärmeren Schichten angehörenden Kindern und den Dienstboten andererseits gemacht 219 . Unmutsäußerungen der Kinder über das Essen, wie sie aus Braunschweig berichtet werden 220 , sind aus den besprochenen Anstalten allerdings nicht überliefert. Glaubt man zeitgenössischen Berichten, war die Ernährung in den

215

216

217

218 219 220

Beim Kofent handelte es sich um einen Aufguß, der nach dem eigentlichen Brauen erzeugt wurde. Vgl. WISWE, Speisung; KALLERT, Waisenhaus, 28; ROEPER, Das verwaiste Kind, 135f.; STEKL, Zucht- und Arbeitshäuser; 267-269; STIER, Fürsorge und Disziplinierung, 118f. Ein zeitgenössischer Arzt berichtet, daB im Harz z.B. nur selten (ab August) frisches "Zugemüse" verzehrt wurde. J.W.G. KLINGE, Einige physisch-medicinische Bemerkungen über die Gegend und das Klima der Kurhannoverschen freyen Bergstadt St. Andreasberg, so wie über die Lebensweise und Krankheiten der Bewohner derselben, in: Journal der Arzneikunde und practischen Wundarzneikunst 6 (1798), 4. St., 880-904. NHStA Dep. 7b Nr. 288, fol. 6, Anlage zu einem Schreiben vom 21.12.1745. Vgl. STIER, Fürsorge und Disziplinierung, 118f. WISWE, Speisung, 36.

291

Die Anstalt als ökonomischer und sozialer Kosmos

Waisenhäusern, zumindest solange sie ordnungsgemäß zubereitet wurde, immer noch besser als das, was die Kinder aus der Zeit vor dem Waisenhaus kannten221. Auch vor der Kleidung machte die strenge Reglementierung des Alltags nicht halt. Diese bestand bei Jungen normalerweise aus Jacke, Hemd ('Camisol'), Hut, Lederhose und Strümpfen, bei Mädchen aus Rock, Hemd, Mütze, Halstuch, Schürze und Strümpfen. Durch bestimmte Farbkombinationen waren die Kinder uniformiert: Im katholischen Waisenhaus zu Hildesheim trugen sie die Farben des

Hochstiftes:

rote Kleider

mit gelben

Aufschlägen222.

Im

Altstädter

Waisenhaus in Hildesheim und in Nörten war die Kleidung grau-rot223, in Moringen

grau-blau224.

hannoverschen

Kinder

Insgesamt wurden

herrschte

deshalb

blaue

Farbe

im Volksmund

auch

vor225; als

die

"blaue

Waysenkinder"226 bezeichnet. Am Ende des Jahrhunderts trat vielerorten graues an die Stelle des farbigen Tuches; Grund waren die hohen Kosten für die Färbemittel, besonders Indigo227. Der Grund für eine solche Uniformierung lag - neben möglichen ästhetischen Aspekten - in der Absicht, die Kinder sogleich durch ihre Kleidung als arm und bedürftig kenntlich zu machen. Als die Kleidung der Celler Kinder 1798 geändert werden sollte, beharrte der Hofrat Berger darauf, "daß die gelben Aufschläge beybehalten werden mögten, indem sie sich ganz gut ausnähmen, es ihm auch ganz zweckmäßig zu seyn

221

222

223

224

223

226

227

Ebd., 37. 1757 wurde in Braunschweig Brotaufstrich mit der Bemerkung gestrichen, "Soldaten und anderer Leute Kinder, die nicht viel übrig haben', bekämen das 'gewiß auch n i c h t ' E b d . , 34. Nach KLINGE, Bemerkungen, 891-894, afien die ärmeren Leute im Harz nur einige Tage in der Woche warm, ansonsten mußten sie sich vorwiegend mit Brot und Schmalz begnügen. Besonders stark sei der Branntweinkonsum gewesen, auch die Kinder hätten zumindest darin getränktes Brot erhalten. DomBHi Hs. Nr. 259, Excerpta ex Protocollis Cathedralis Ecclesiae Hildeshemensis 17881810, fol. 342r, Kapitel vom 15.6.1808; Diözesanarchiv Hildesheim B XIII Nr. 4d, Waisenhausrechnung 1837, 2. StAHi Best. 100 Abt. 215 Nr. la, Eintrag unter dem 13.9.1694; auch ebd. Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 2. Nach einer Nachricht aus dem Wochenblatt von 1821 sei die Kleidung im 18. Jahrhundert blau-rot gewesen; dabei handelt es sich offenbar um einen Fehler: Beiträge zur Hildesheimischen Geschichte, Bd. 2, Hildesheim 1829. Möglicherweise handelt es sich um die Kleidung der Kinder des Neustädter Waisenhauses. Vgl. auch ECKART, Geschichte des Waisenhauses Nörten, 20. NHStA Dep. 7b Nr. 288, Protokoll des Schatzkollegiums vom 21.12.1745. Zu grauer Kleidung gehörten blaue Schürzen und blau-weiß bedruckte Halstücher. In Celle, Göttingen und in der Altstadt Hannover trugen die Kinder rein blaue Kleidung. StACe L 3 Nr. 234; UAGö Waisenhaus Nr. 72. So in dem Testament des hannoverschen Pastors Scholvin vom 6.11.1799, in StAH A Nr. 3916. StACe L 3 Nr. 234. Dies dürfte auch der Grund für die Änderung in Göttingen gewesen sein. UAGö 10a Nr. 14, "Extract aus dem Kundebuche für die Georg-August-Universität Ilr Theil L-Z", o.J. (nach 1840). Ebenfalls aus Kostengründen wurden im katholischen Waisenhaus Hildesheim 1808 die roten Kleider abgeschafft, DomBHi Hs. Nr. 259, Excerpta 1788-1810, fol. 342r, Kapitel vom 15.6.1808.

292

Waisenhäuser

scheine, daß die Waysenkinder durch ein Abzeichen in der Kleidung von anderen Kindern sich etwas unterschieden" 228 .

In Göttingen trugen die Kinder sogar zur Kenntlichmachung auf dem Ärmel ein rotes "W" 229 . Diese Uniformierung entsprach der Kennzeichnung sämtlicher Almosenempfänger

von

Anstaltsinsassen

bis

zu

Hausarmen 230 .

Durch

Uni-

formierung oder Kennzeichnung wiesen sich Arme gleichsam als almosenberechtigt aus, die Waisenkinder etwa bei den vielerorts üblichen Hauskollekten oder Sammlungen vor den Kirchtüren. In Göttingen wurde besonders großer Wert darauf gelegt, daß die Kinder Schuhe und Strümpfe trugen, um der Öffentlichkeit einen guten Eindruck zu vermitteln und sie von den in der Stadt herumlaufenden oder bettelnden Armenkindern abzugrenzen 231 . Allerdings konnte die Uniformierung auch von den anderen Armen als Abgrenzung verstanden werden oder umgekehrt Anlaß für Diskriminierungen und Spott bieten 232 . Als am Ende des Jahrhunderts einige Waisenhäuser aufgelöst und die Kinder auf dem Land untergebracht wurden, legten die Aufsichtspersonen nunmehr Wert darauf, daß "die Kinder gegen andere Kinder des Orts durch ihre Kleidung nicht ausgezeichnet werden dürfen" 2 3 3 .

3.

Anstalts- oder Familienerziehung? Der Waisenhausstreit und die allmähliche Abkehr von der Waisenhausidee nach dem Siebenjährigen Krieg

3.1.

Erste Schwierigkeiten: Die Entwicklung der Waisenhäuser bis 1770 Vorkriegsstand - Kriegsauswirkungen - Wiederaußau in Celle und erste Zweifel an der Anstaltserziehung

Bis ungefähr zur Mitte des 18. Jahrhunderts konnten die Waisenhäuser ihre Tätigkeit ausweiten und ihre wirtschaftliche Basis konsolidieren. In Clausthal wurde 228 229

230

231

232

233

StACe L 3 Nr. 234. UAGö 10a Nr. 14, "Extract aus dem Kundebuche für die Georg-August-Universität Ilr Theil L-Z", o.J. (nach 1840). Eine Vorstellung von einer Waisenuniform vermitteln MUMMENHOFF, Waisenhaus Nürnberg, Teil 1, Abbildung vor Seite 57, und MCCLURE, Coram's Children, 196 Abbildung. Zur Kenntlichmachung der Hausarmen vgl. oben Kap. IV, Abschnitt 1.1. UAGö Waisenhaus Nr. 72, "Tages Ordnung des Göttingischen Waisenhauses". Schuhe waren "das Kleidungsmerkmal, dessen Fehlen wirkliche Armut bedeutet". WEBER-KELLERMANN, Kindheit, 87. Zwar ist dies nicht an Fällen konkret belegbar, aber in Bezug auf französische Findelkinder des 19. Jahrhunderts ist dieses Problem sogar Gegenstand politischer Karikatur geworden, vgl. FUCHS, Abandoned children, 252. NHStA Hann. 52 Nr. 375, Schreiben des Präfekten der Aller vom 25.10.1810, Anlage: Abschrift des Protokolls der Sitzung des Schatzkollegiums vom 14.7.1795. Auch in Nörten wurde die Uniformierung aufgegeben. ECKART, Geschichte des Waisenhauses Nörten, 20.

Anstalts- oder Familienerziehung?

293

14 Jahre nach der Eröffnung die Zahl der Kinder von 24 auf 36 erhöht, da der Waisenhausgründer von dem Bussche der Anstalt bei seinem Tode 10 000 Rtlr. vermacht hatte. In der Hildesheimer Altstadt konnte 1748 ein Neubau errichtet werden, der am 19.11.1750 eingeweiht wurde 234 . Infolgedessen geriet das Waisenhaus allerdings noch 1750 in einen finanziellen Engpaß 235 . Auch in Einbeck kündigten sich erste Anzeichen für eine Krise der Waisenhäuser an. Nachdem bis 1746 ein ständiger finanzieller Zuwachs erreicht werden konnte, begann nach 1750 ein erster Rückgang der Einnahmen, da die dem Waisenhaus zugestandenen 30 Rtlr. aus dem Lizentüberschuß seit Jahren ausblieben 236 . Durch die Verlust des Tabakimpostes 1766 entstand dem Waisenhaus ein jährlicher Fehlbetrag vom 700 bis 800 Rtlr. 237 . Infolge dieser Entwicklung sank die Kinderzahl, die in den zwanziger Jahren bei 45 gelegen hatte, schon vor dem Siebenjährigen Krieg auf 40 ab 238 . Ebenfalls einen Rückgang der Kinderzahl erlebte die Celler Anstalt 239 . Die angespannte Lage der Waisenhäuser wurde durch den Siebenjährigen Krieg verschärft, mehrere Waisenhäuser auch direkt in Mitleidenschaft gezogen. Wegen ihrer Größe und Ausrüstung erschienen die Häuser als besonders geeignet für die Einrichtung von Militärhospitälern. Das Altstädter Waisenhaus in Hildesheim mußte von den Kindern 1758 vorübergehend geräumt werden, da es von den in die Stadt eingerückten Franzosen als Lazarett beansprucht wurde 240 . Auch in Moringen wurde 1761 ein französisches Militärhospital eingerichtet. Wie der Verwalter Milenhausen berichtete, habe er "sehr vieles erdulden und ausstehen müßen" 241 ; die erlittenen Verluste beschränkten sich jedoch auf einige beschädigte Fenster und erhöhten Holzverbrauch sowie ein Schwein, das die abrückenden Truppen mitnahmen. Durch die lange Anwesenheit kranker Soldaten ergaben sich hygienische Probleme, derer der Verwalter mit Lüften und Ausräuchern der Räume Herr zu werden gedachte. Am 16. November 1761 wurde das Lazarett wegen des Vordringens preußischer Truppen aus Moringen fort "und vermutlich nach Göttingen" 242 gebracht,

234 235 236 237

238

239 240

241 242

StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 3. Ebd. Nr. 16, Schreiben vom 4.9.1750. NHStA Dep. 7b Nr. 263, Schreiben der Grabenhagenschen Landschaft vom 28.9.1758. StAEin LC VI 2c Nr. 4a, Waisenhausrechnung 1799, 3. Vgl. LESCH, Waisenhaus Einbeck, 97. 1740, 1751-54: je 40; 1755: 41; 1756 und 1759: je 40. NHStA Hann. 72 Einbeck Nr. 771777. ROHDE, Celler Waisenhaus, 34. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 3. In Wolfenbüttel wurde gleichfalls ein französisches Lazarett eingerichtet. KÖNIG, Waisenhaus Wolfenbuttel, 18. NHStA Dep. 7b Nr. 276, fol. lf., Schreiben des Waisenhausverwalters vom 19.11.1761. Ebd.

294

Waisenhäuser

das wiederholt von den Franzosen besetzt war 243 . Das dortige Waisenhaus war den französischen Truppen schon Pfingsten 1761 als Lazarett und Magazin zugewiesen worden 244 . Auch nach dem Abzug der Franzosen konnten die Göttinger Waisenkinder, die in ein anderes, allerdings nur behelfsmäßiges Haus umgezogen waren, nicht sogleich in ihr angestammtes Quartier zurückkehren, das unter der Verwendung als Hospital, Mehllager und Stall für Pferde und Zugvieh gelitten hatte. Da das Gebäude den Franzosen von den städtischen Behörden übergeben worden war, verlangte die theologische Fakultät im August 1760 vom Magistrat seine Wiederherstellung. Dieser erklärte jedoch, von den Reparaturkosten von insgesamt 172 Rtlr. nur 50 Rtlr. übernehmen zu können, womit sich die Fakultät trotz Einspruchs bei den Geheimen Räten zufrieden geben mußte 245 . Am schlimmsten wurde jedoch das Celler Waisenhaus vom Krieg betroffen, das am 13. Dezember 1757, nachdem die französischen Truppen beim Anrücken der Alliierten ungefähr 40 Häuser mit Pechkränzen in Brand gesteckt hatten, dem Feuer zum Opfer fiel 246 . Die Kinder mußten darauf in ein Privathaus verlegt werden, in dem sie zunächst nur eine Stube erhielten, weil außerdem zwölf französische Soldaten im Hause einquartiert waren. Dieser Zustand war um so prekärer, als einige Kinder an Durchfallerkrankungen (möglicherweise Ruhr) litten und eine Auseinanderlegung von Kranken und Gesunden dringend geboten war. Immerhin konnte binnen kurzem die Verlegung der Soldaten und damit eine Verbesserung der Hygiene erreicht werden 247 . Sehr bald wurde der Plan gefaßt, das Waisenhaus wiederaufzubauen. Das Waisenhauskollegium bat im April 1758 die Geheimen Räte um Unterstützung und Überlassung eines dem König gehörenden Gebäudekomplexes, des ehemaligen sogenannten französischen Jägerhofes 248 . Nach einer Besichtigung durch einen Beauftragten, den Oberappellationsgerichtssekretär Elderhorst, erklärte sich die königliche Kammer zur Abtretung des Geländes bereit; Bedingung war allerdings, daß das Waisenhaus im Gegenzug sein bisheriges, abgebranntes Gelände abtreten sollte. Bevor nun dieser Handel dem König vorgetragen würde, ver243

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Nach kurzen Besetzungen in den ersten Kriegsjahren hatte die Stadt von 1760-62 eine dauerhafte französische Garnison. BOLLE, Göttinger Magistrat, 103 (Grafik). StAGö AA Wohlfahrt Waisenamt Nr. 2, Schriftwechsel zwischen der theologischen Fakultät, dem Magistrat und der Landesregierung vom 30.8. bis 27.9.1762. Ebd. Der Magistrat führte an, daß man das Waisenhaus auf Befehl des französischen Kommandanten de Vaux an dessen Armee übergeben habe und außerdem generell weder ein Anspruch auf die Wiederherstellung von Privathäusern bestehe noch Geld für eine solche Maßnahme vorhanden sei. Mit dieser Auskunft des Magistrates vom 27.9.1762 bricht der Schriftwechsel ab. StACe 20 B Nr. 4a, Hagemann, Gesammelte Nachrichten, 7. Vgl. auch ROHDE, Celler Waisenhaus, 47f. StACe L 3 Nr. 231, Protokoll des Waisenhauskollegiums, 28.1.1758, und Zusatz über den Auszug der Soldaten vom 30.1.1758. StACe L 3 Nr. 204, Schreiben des Waisenhauskollegiums vom 15.4.1758.

Ausfalls- oder Familienerziehung?

295

langten die Geheimen Räte ein detailliertes Gutachten mit den entsprechenden Umbauplänen, welches die Eignung des Geländes beweisen sollte249. Diese Zeichnungen, mit deren Herstellung der Baumeister Pfister beauftragt worden war, wurden im Mai 1759 der Regierung in Hannover übergeben 250 . Bald darauf kamen im Kollegium selbst Zweifel auf, ob der Grundstückstausch für das Waisenhaus wirklich empfehlenswert sei. Nachdem der Baumeister Pfister alternativ einen Neubau auf dem noch bestehenden Fundament des abgebrannten Waisenhauses vorgeschlagen hatte, entschieden sich die Mitglieder des Waisenhauses für diese Möglichkeit und setzten die Geheimen Räte im Januar 1760 davon in Kenntnis 251 . Sie begründeten ihren Sinneswandel damit, das abgebrannte Grundstück sei "wo nicht mehr, doch würcklich eben so viel werth als die Parforce Jagd-Gebäude". Zu den weiteren Vorteilen eines Neubaus auf dem alten Grundstück gehörten die Nähe zur Kirche und ein "zu einem Waisenhause völlig eingerichtetes gantz neues und dauerhaftes Gebäude (...), welches in vielen Jahren keiner Reparation unterworfen seyn würde." Allerdings müßten für einen solchen Neubau etwa 2000 Rtlr. mehr aufgewendet werden, die durch eine Kollekte gesammmelt werden sollten. Die Geheimen Räte reagierten jedoch sehr zurückhaltend auf diesen Vorschlag 252 ; offenbar wegen der Kriegsereignisse wurde der ganze Vorgang ohnehin für beinahe fünf Jahre zurückgestellt. Erst Ende 1764 griff das Waisenhauskollegium den Vorschlag für eine Kollekte zur Finanzierung des Neubaus wieder auf, der jedoch von der Regierung abgelehnt wurde. Diese erinnerte vielmehr daran, daß sie bereits zweimal (1759 und 1760) ein ausführliches Gutachten über das Waisenhaus angefordert habe253, das schließlich im Januar 1766 abgeschickt wurde. Daraufhin stimmten die Geheimen Räte prinzipiell einem Wiederaufbau des Waisenhauses zu, behielten sich aber die endgültige Entscheidung bis nach der Überprüfung der Waisenhausrechnungen vor 254 . Im Februar 1767 drängte das Kollegium erneut auf eine schnelle Entschließung, da das Haus, in dem die Kinder vorübergehend untergekommen wa-

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NHStA Hann. 93 Nr. 2917, Schreiben des Waisenhauskollegiums vom 14.3.1759. Ebd., Mappe mit Kostenaufstellungen und Bauzeichnungen vom 19.5.1759. Danach sollte das Waisenhaus auf drei Gebäude verteilt werden: Schlafsäle, Unterrichts- und Arbeitsstube, Küche und Verwalterwohnung sollten im Jägerhaus, Vorratskammern und Krankenstube im "Piquierhaus" und der Backofen und das Brauhaus in einem ehemaligen Hundezwinger untergebracht werden. Ebd., Schreiben des Waisenhauskollegiums vom 9.1.1760. Ebd., Reskript vom 26.1.1760. Ebd., Schreiben des Waisenhauskollegiums vom 3.12.1764 und Antwort der Landesregierung vom 7.1.1765. Ebd., Schreiben des Waisenhauskollegiums vom 29.1.1766 und Antwort der Landesregierung vom 11.3.1766.

296

Waisenhäuser

ren, gekündigt worden sei 255 . Einer Aufforderung, die Zahl der Waisenkinder und damit die Kosten zu senken, begegnete das Kollegium zugleich ablehnend: "So gern wir übrigens die Anzahl der Kinder, folglich auch die Ausgaben des Waysenhauses, vermindert hätten; so ist es uns dennoch nicht möglich gewesen, ohne viel unglückliche Kinder hilflos zu lassen" 256 . Die Geheimen Räte lehnten die vorgeschlagenen Finanzierungswege jedoch ab. Mehr noch, am 29. April 1767 teilten sie dem Waisenhauskollegium mit, daß im "Hannöverischen Magazin" eine Abhandlung über den Nutzen von Waisenhäusern erschienen sei 257 , deren Autor starke Zweifel an der Anstaltserziehung äußere, und forderten eine umfassende Stellungnahme zu diesen Vorwürfen 258 . Die Mitglieder

des Waisenhauskollegiums

beeilten sich,

in einem fünf-

unddreißigseitigen Schreiben die Vorzüge der Anstaltserziehung darzulegen 259 , von dem sich die Regierung überzeugen ließ: Am 13. Juni 1767 erklärte sie, nie gegen den Neubau des Waisenhauses eingenommen gewesen zu sein, und stellte den Baubeginn für das Frühjahr 1768 in Aussicht 260 . Am 9. September 1767 teilte sie dem Waisenhauskollegium mit, daß dessen Vorschläge für die Überlassung von Bauholz und eine Kollekte im Fürstentum Lüneburg angenommen seien und "der bau des neuen hauses, in einer mäßigen Größe unter beobachtung aller ersinnlichen menage vorgenommen werden möge" 261 . Gleichzeitig wurde durch eine gedruckte Verordnung eine Hauskollekte im Fürstentum Lüneburg bekanntgegeben und den Predigern befohlen, diese Verordnung von den Kanzeln zu verlesen 262 . Die Ausführung des Baus wurde allerdings noch weiter verzögert, da es zwischen den Mitgliedern des Waisenhauskollegiums zu einem Zerwürfnis kam, das sich an der Entscheidung entzündet hatte, welchem von zwei Zimmerleuten man den Auftrag erteilen solle 263 . Erst im Juli 1770 konnten die Kinder das neue Haus beziehen 264 .

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Eine Kündigung drohte seit 1766. StACe L 3 Nr. 231, Protokoll des Waisenhauskollegiums vom 24.7.1766. NHStA Hann. 93 Nr. 2917, Schreiben des Waisenhauskollegiums vom 5.2.1767. Es handelte sich dabei um einen Beitrag im S. Jahrgang (1767) des Hannöverischen Magazins, 417-426, der unter dem Pseudonym 'Aristipp' erschien. NHStA Hann. 93 Nr. 2917, Schreiben der Regierung vom 29.4.1767. Ebd., Schreiben des Waisenhauskollegiums vom 30.5.1767. Ebd. Ebd. NHStA Cal. Br. 23b Nr. 226. Die Verordnung ist auch bei SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 2, 202 aufgeführt, jedoch ohne Text. NHStA Hann. 93 Nr. 2917. Vgl. Kap. VII, Abschnitt 1.1. StACe 20 B Nr. 4a, Hagemann, Gesammelte Nachrichten, 9.

Anstalts- oder Familienerziehung?

3.2.

297

Die geschlossene Anstalt im Zwielicht: Probleme des Anstaltlebens und Waisenhausstreit Der Waisenhausstreit - Probleme der Anstaltserziehung: Gesundheit - Disziplin - Übergriffe des Personals - Produktion

Erste Zweifel am Nutzen eines geschlossenen Waisenhauses waren bereits 1759 durch den Celler Polizeikommissar Rode in einem Entwurf für die "Einrichtung eines allgemeinen Werckhauses oder Einer so zu nennenden Wollen- und LeinenFabrique zur Verbeßerung der Armen- und Waisen-Anstalten" vorgebracht worden 265 . Nach Rodes Vorstellung sollten die Kinder bei Pflegefamilien untergebracht werden, um die Kosten für einen Neubau zu sparen. Dieser Vorschlag hatte die Geheimen Räte schon 1760 zu der Überlegung veranlaßt, ob nicht die Verteilung der Kinder auf Familien grundsätzlich die bessere Lösung sei. Allerdings hatte das Waisenhauskollegium, das bereits kurz nach dem Brand selbst eine Unterbringung der Kinder in Familien erwogen hatte, diese Lösung verworfen 266 . Auch in Einbeck, wo die Zahl der Kinder wegen der Teuerungen direkt nach dem Krieg auf nur noch 15 abgesunken war, hatte die Regierung 1760 einen Vorstoß zur Auflösung des Haushaltes unternommen, der allerdings vorerst nicht verwirklicht wurde, so daß sich 1765 wieder 31 Personen im Haus befanden 267 . Bei den Zweifeln an der bisherigen Anstaltserziehung handelte es sich um den Ausdruck einer verbreiteten Meinungsströmung, die mit dem Ende des Siebenjährigen Krieges aufkam und einige Zeit später im sogenannten Waisenhausstreit ihren publizistischen Höhepunkt finden sollte268. Darin standen sich Befürworter und Kritiker von Waisenhäusern gegenüber, deren letztere die Auflösung der Anstalten und die Unterbringung der Kinder in Pflegefamilien propagierten. Die Gegner der geschlossenen Waisenfürsorge kritisierten vor allem die hygienischen Zustände in den Waisenhäusern, ihren fehlenden pädagogischen und zum Teil auch volkswirtschaftlichen Nutzen 269 . Der anonyme Autor des besagten Artikels im "Hannöverischen Magazin" störte sich vor allem am Gesundheitszustand der Kinder und an ihrer Erziehung 270 .

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StACe L 3 Nr. 204, Reskript vom 15.12.1759. Ebd. Nr. 231, Protokoll des Waisenbauskollegiums vom 3.3.1758. Unter anderem wurde dem Rodeschen Vorschlag entgegengehalten, Pflegeeltern nähmen die Kinder ausschließlich wegen des Geldes auf und seien moralisch nicht für die Erziehung der Kinder geeignet. Ebd., Schreiben des Waisenhauskollegiums von Jan. 1760. StAEin LC VI 2c Nr. 4a, Waisenhausrechnung 1799, 2; zur geplanten Auflösung ebd. Nr. 1 und LESCH, Waisenhaus Einbeck, 104. Vgl. JACOBS, Waisenhausstreit. Ein Verzeichnis der Streitliteratur ebd., 17. Ebd., 20-27; BERGENTHAL, Waisenhausstreit, passim; ROEPER, Das verwaiste Kind, 140-160. ARISTIPP, Sind Waysenhäuser nützlich?, in: HM 5 (1767), 418-426.

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Waisenhäuser

Tatsächlich gaben die Verhältnisse in einigen der angesprochenen Waisenhäuser Anlaß zur Kritik. Die Gesundheit der Kinder stand dabei nicht so sehr im Vordergrund. Zwar bestand prinzipiell die Gefahr der epidemischen Ausbreitung von Krankheiten, doch in den Quellen finden sich kaum Hinweise darauf. In Moringen wurden 1750 binnen zwei Tagen "24 Waysen Kinder mit der Brustkrankheit befallen"; aufgrund sofortiger ärztlicher Behandlung aber konnte die Krankheit begrenzt werden 271 . Gegen die Blattern wurden zumindest in Celle ab ungefähr 1760 Impfungen eingeführt, schon 1756 gehörten die Celler Waisenkinder zu den ersten Versuchsgruppen 272 . Trotzdem kam es immer wieder zu krankheitsbedingten Todesfallen unter den Kindern, inwiefern diese aber das in der Zeit übliche Maß überstiegen, soll an späterer Stelle noch einmal erörtert werden 273 . Bei einer Untersuchung der 50 Celler Waisenkinder im Jahr 1742 wurden fast alle Kinder für gesund befunden, nur je ein Kind fiel durch eine Behinderung und einen Augenfehler auf 274 . Das größte gesundheitliche Problem der Anstalten, das mit mangelnder Hygiene zusammenhing und auch immer wieder von den Waisenhausgegnern ins Feld geführt wurde, war die Krätze 275 . Andere, durch die Organisation der Anstalten bedingte Funktionsstörungen nehmen in den Quellen breiteren Raum ein. Dazu zählten die mangelnde Disziplin der Kinder und noch mehr die Verfehlungen des Personals. Wiederholt kam es vor, daß Waisenkinder kleinere Beträge aus den Sammelbüchsen entwendeten 276 . Für das Geld kauften sie Lebensmittel, was die Waisenhausernährung in keinem günstigen Licht erscheinen läßt, und einige unterstützten damit ihre Mütter 277 . In Göttingen stahl 1783 ein Junge Hemden aus der Kleiderkammer des Waisenhauses 278 . Außerdem entzogen sich immer wieder einzelne Kinder, meist Jungen, durch Flucht dem streng geregelten Anstaltsalltag279. Schwerer wogen Übergriffe des Personals. In Göttingen wurden in den siebziger Jahren die im Hause lebenden 'Präparanden' der Unterschlagung bezichtigt 280 . 1774 wurden sie verwarnt, weil sie das Waisenhaus nachts heimlich 271 272

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NHStA Dep. 7b Nr. 289, Bericht des Waisenhausverwalters vom 5.2.1750. StACe L 3 Nr. 261, Schreiben der Landesregierung von 24.4.1756. Ab 1761 wurden anscheinend regelmäßige Impfungen durchgeführt. Vgl. unten Kap. VI, Abschnitt 3.1. StACe L 3 Nr. 230, Tabellarische Auflistung vom 5.1.1742. Nachrichten darüber liegen vor allem aus Celle vor: Ebd. Nr. 208, Protokoll vom 31.3.1796; weitere Vorgänge 1801 und 1802. Vgl. JACOBS, Waisenhausstreit, 20-22. UAGö Waisenhaus Nr. 79, Protokoll vom 13.12.1773. StAHi Best. 100 Abt. 177a Nr. 5, Schreiben des Rates vom 8.9.1785. StACe L 3 Nr. 229, Protokoll vom 20.11.1731. UAGö Waisenhaus Nr. 79, Schreiben des Dekans vom 17.3.1783. Zu Hildesheim vgl. unten Kap. VI, Tabelle 14. Einzelne Fälle in StACe L 3 Nr. 223, Protokoll vom 7.4.1723; ebd., Nr. 230, Schreiben der Justizkanzlei vom 8.9.1806; StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 7a, IV, 1750. UAGö Waisenhaus Nr. 67. 1773 richtete sich der Verdacht gegen beide Präparanden, 1774 und 1775 gegen den Präparanden Schulze.

Anstalts- oder Familienerziehung?

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verlassen hatten und durch ein Fenster wieder eingestiegen waren 281 . Ebenfalls in Göttingen brach 1775 ein Streit zwischen dem Waisenhausinspektor und dem als Lehrer dort wirkenden Theologiestudenten Raff aus, in dessen Verlauf "es fast zu Gewaltthätigkeiten gekommen" wäre 282 . Die erheblichsten Vorwürfe wurden aber im Jahre 1808 gegen den Inspektor Schwiening laut; es hieß, "daß er sich täglich betrinke und eine unzüchtige Weibsperson zu sich ins Haus kommen lasse, mit welcher er sich skandalös aufführe." Eine anonyme Anzeige erhob schwere Klagen: Das Waisenhaus sei eine "mörder grübe", die Kinder würden "alle Tage gepeitschet", der Verwalter sei "des tages 6 mahl besoffen und ein mahl nüchtern" und "wenn er besoffen ist so sagt er so gar [dem] Konsteljahlrath [i.e. Konsistorialrat] scheise er was" 283 . Auch im Altstädter Waisenhaus in Hildesheim wurden mehrfach Untersuchungen gegen Bedienstete angestrengt, die in den Verdacht der Unterschlagung und der Mißhandlung der Kinder geraten waren. 1750 wurde der Waisenmutter neben Versäumnissen in der Haushaltsführung vorgeworfen, sie behandele die Kinder mit übertriebener Härte. Die Frau sollte ein Waisenkind, das sich verunreinigt hatte, im Garten des Waisenhauses geschlagen und in die Innerste getaucht haben - eine Mißhandlung, deren Härte sich angesichts der Jahreszeit verschärfte: die Untersuchung fand Ende November bis Anfang Dezember statt 284 . Ähnliche Vorwürfe wurden einige Jahre später gegen den Waisenhausverwalter erhoben: Nachdem sich herausgestellt hatte, daß eine ertrunkene Insassin des mit dem Waisenhaus verbundenen Zuchthauses sich möglicherweise das Leben genommen hatte, ergaben weitere Vernehmungen der übrigen Bediensteten, daß der Verwalter sich gegen die Gefangenen übermäßig hart erweise, die Kinder schlecht ernährt würden und der Mann sich unerlaubte Vorteile verschaffe - unter anderem habe er die Seife, die für die Reinigung der Kleidung der Kinder angeschafft worden war, für seine eigene Wäsche verbraucht 285 . Über die Mißhandlungen hinaus kam es in den gemischten Anstalten zu sexuellen Übergriffen des männlichen Personals 286 . In Celle beschuldigte ein Mädchen 1711 den verheirateten Werkmeister des Waisenhauses, sie belästigt und dreimal zum Beischlaf gezwungen zu haben 287 . Der Beschuldigte leugnete anfänglich, nachdem sich aber herausgestellt hatte, daß er schon einmal acht Jahre zuvor ein Waisenmädchen in seine Wohnung mitgenommen und dort bedrängt 281 282 283 284 285 286

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Ebd. Ebd. Ebd., Nr. 68, anonymes, undatiertes Schreiben. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 5. Ebd. Nr. 20. ROEPER, Das verwaiste Kind, 128. Vgl. zu diesem in vielen Anstalten auftretenden Problem auch Kap. IV, Abschnitt 3.4. StACe L 3 Nr. 22, Verhörprotokoll vom 14.12.1711.

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Waisenhäuser

hatte, entzog er sich der weiteren Untersuchung durch Flucht 288 . Auch in Göttingen wurde der Waisenlehrer 1779 entlassen, da er verschiedentlich die Magd und die größeren Mädchen "umhalst" hatte 289 . Auch wenn es sich bei den angeführten Beipielen um Einzelfalle gehandelt haben mag: mangelnde Disziplin der Insassen, Unterschlagungen, Fehlverhalten und übermäßiger Alkoholkonsum des Personals waren auch andernorts bekannt und nährten die Zweifel am Sinn solcher Anstalten290. Verschiedene Elemente der Anstaltskonzepte erwiesen sich im Alltag als unvereinbar. Vor allem das Streben nach Rentabilität der Waisenhäuser lief den pädagogischen Absichten oft zuwider 291 . Eine Verpachtung des Haushaltes an den Verwalter gegen eine festgesetzte Summe, wie sie in Celle einige Jahre erprobt wurde, zwang den Pächter bei Preissteigerungen unweigerlich zu einer Verschlechterung der Nahrung und öffnete der Ausbeutung der Kinder zumindest prinzipiell Tür und Tor 292 . Die gegenläufigen Interessen wirkten bis in den Aufgabenbereich einzelner Bediensteter hinein. So erklärte sich der häufige Unterrichtsausfall in Celle, von dem 1738 selbst die Geheimen Räte in Hannover Kenntnis erhielten, daher, daß der Schulmeister vorwiegend mit der Sammlung der diversen Kollekten, einer wichtigen Einnahmequelle, beschäftigt war 293 . Vor allem aber zeigte sich, daß die so geförderte und mit Hoffnungen bedachte Textilproduktion oft nicht in Gang kam oder wieder eingestellt werden mußte, weil die Arbeit für Kinder ungeeignet war 294 . In Göttingen arbeiteten die Kinder zum Ärger der Landesregierung "wenig und die meisten nichts" 295 . Versuche, die Kinder ähnlich wie in Einbeck für Unternehmer arbeiten zu lassen, scheiterten häufig daran, daß sich Unternehmer und Waisenhausverwaltung nicht einigen konnten 296 . Ein Grund dafür war, daß sich die Anstellung der Kinder für die Unternehmer als nicht rentabel erwies, weil ausschließlich ältere Kinder beschäftigt werden konnten, deren Anlernzeit im Verhältnis zu der anschließenden Produktionsphase zu lang und somit zu teuer war 297 .

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Ebd., Protokoll vom 15.12.1711. UAGö Waisenhaus Nr. 67, Vorgänge Juni/Juli 1779. Vgl. ROEPER, Das verwaiste Kind, 128; STIER, Fürsorge und Disziplinierung, 150-158. Vgl. KALLERT, Waisenhaus, 48. StACe L 3 Nr. 222, Vorgänge 1770-1772. Ebd. Nr. 251, Vorgänge Mai bis August 1738. Vgl. HERZIG, Kinderarbeit, 314-319. UAGö Waisenhaus Nr. 65, Schreiben vom 4.12.1774. 1746 lehnte die Calenbergische Landschaft eine Zusammenarbeit mit dem Göttinger Fabrikanten Funke ab, weil "derselbe solche conditiones sich zu stipulieren suchte, die gar nicht annehmlich waren". NHStA Dep. 7b Nr. 291, Protokoll des Schatzkollegiums vom 7.12.1746. In Celle kam ein solcher Vertrag nicht zustande, weil die Textiluntemehmer vorher liquidieren mußten. StACe L 3 Nr. 222, Schieiben des Waisenhauskollegiums vom 13.1.1777. NHStA Dep. 7b Nr. 296, Schreiben des Schatzkollegiums vom 10.2.1765.

Anstalts- oder Familieneiziebung?

301

Zudem schadete die Arbeit teilweise der Gesundheit der Kinder. In Celle wurde 1717 sehr zum Unwillen der Landesregierung 298 das Wollspinnen zugunsten des Flachsspinnens aufgegeben, weil, so der Magistrat in seiner Rechtfertigung,

"man in Erfahrung gebracht, daß die annoch gar junge und zarte Kinder, da selbige insonderheit bey Winterszeit desfals zusammen in einem Gemach sitzen müßen, durch den Subtilen und sonderlich penetranten Staub der Wolle, auch den quälen der Krüsel an den Augen sehr flüßig und fast blind, ja durch das stetige umdrehen der räder bey ihrer unvermögsamkeit in denen zarten Jahren fast krum u. lahm geworden, so, daß man dieselbe hernach bey anderen Leuten zu dienen oder ein Handwerck zu erlernen nicht unterbringen können" 299 .

Der 'Preis' für die Rücksicht auf die Kinder war eine Halbierung der Einnahmen aus der Textilproduktion 300 . 1770 stieß ein erneuter Versuch zur Beschäftigung der Kinder in einer Spinnerei auf Kritik in der Bevölkerung; der Bürgermeister Hurlebusch wurde "mehr als einmahl gefraget: ob wir aus unserem Waisen Hause ein Zucht Haus machen wollten?" 301 Auch wenn es den Mitgliedern des Celler Waisenhauskollegiums nach dem Siebenjährigen Krieg noch gelungen war, das Waisenhaus in seiner früheren Form wieder ins Leben zu rufen, blieben die Probleme der Anstaltserziehung und die öffentliche Kritk daran auf Dauer nicht ohne Folgen für die meisten Waisenhäuser.

3.3.

Umwandlung in Verpflegungsinstitute und Krise der institutionellen Waisenversorgung Wirtschaftliche Schwierigkeiten - Umwandlung in Verpflegungsinstitute - die Familienerziehung - die preußisch-französisch-westphäüsche Zeit

Zu der Kritik an der Erziehung der Kinder trat verschärfend eine durch Einnahmeverluste bei gleichzeitigen Preissteigerungen bedingte wirtschaftliche Misere der meisten Häuser hinzu 302 , in deren Folge die Zahl der Kinder um 1800 vieler-

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StACe L 3 Nr. 222, Schreiben der Landesregierung vom 25.10.1717. Der Unmut der Räte war daher besonders groß, weil in Celle Mangel an Wollspinnern für die dortige Fabrik der Brüder Borcholt herrschte. Ebd., Schreiben des Magistrates vom 15.11.1717. Ebd. Nr. 226, Schreiben der Landesregierung vom 11.4.1718. Ebd. Nr. 222, Schreiben des Bürgermeisters Hurlebusch vom 21.11.1770. Klagen über Preissteigerungen finden sich immer wieder in den Akten aus der zweiten Jahrhunderthälfte. Zu ersten Preisspitzen kam es zu Beginn des Siebenjährigen Krieges. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 6, Schreiben des Waisenhausvorstehers vom 15.4.1757. Zwischen

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Waisenhäuser

orts deutlich verringert werden mußte. In Celle befanden sich 1799 noch 38 Kinder, 1800 nur noch 33, und 1801 verlangte die Landesregierung eine Verringerung auf 30 Kinder 303 . Die Ursache dafür war, daß das Kapitalvermögen in den Jahren 1799 und 1800 um 300 Rtlr. geschrumpft war. Die Regierung forderte deshalb drastische Einsparungen, "insbesondere ob es nicht rahtsam sey, keine Butter auf das Brodt zu geben" 304 . Auch in Einbeck, wo sich die Finanzlage des Waisenhauses seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges permanent verschlechtert hatte 305 , sank die Zahl der Kinder von 40 im Jahr 1759 und 31 im Jahr 1765 auf 23 in den Jahren 1799 und 1801306. In der Hoffnung auf Kosteneinsparungen wurden deshalb um 1800 mehrere Anstalten aufgelöst, die Kinder auf Familien verteilt und die Gebäude verkauft oder anderweitig genutzt 307 . Als erstes war das Moringer Waisenhaus betroffen. Nachdem schon einmal im Jahr 1786 über die Haushaltsauflösung diskutiert worden war, beschloß das Schatzkollegium der Calenbergischen Landschaft am 25. November 1794, mit Hilfe verschiedener Landpastoren nachforschen zu lassen, ob sich genügend geeignete Familien fänden, um die Waisenkinder aufzunehmen 308 . Am 14. Juli 1795 wurde beschlossen, versuchsweise einige Kinder in Pflegefamilien zu geben 309 , und ein Jahr darauf erhielt der Waisenhausverwalter die Nachricht, daß der Haushalt zu Michaelis aufgelöst werde 310 . Tatsächlich scheinen alle Kinder das Haus zum 31. Oktober 1796 verlassen zu haben; die Auflösung des Haushaltes, also der Verkauf von Vieh und Vorräten, die Abfindung des Personals und die Neuverwendung des Hauses, nahmen noch einige Zeit in Anspruch 311 . 1792 machte der seit 1787 mit der Aufsicht betraute Moringer Hauptpastor Abich den Vorschlag, die Schule des Waisenhauses in eine Werkschule umzuwandeln 312 . 1799 wurde das Gebäude für 1200 Rtlr. jährlich auf drei Jahre an den Moringer Oberhauptmann von Oldershausen verpachtet, der dort "eine Runckel-Rüben Zucker Siederei anzulegen [beabsichtigte], ohne jedoch Miethlinge, als dadurch das haus sehr verwohnet werden könnte, darinnen aufzu-

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1770 und 1772 verdoppelten sich z.B. im Celler Waisenhaus die Ausgaben für Lebensmittel, StACe L 3 Nr. 222, verschiedene Schreiben 1771/72. StACe 20 B Nr. 4, Reskript vom 20.7.1801. Ebd. LESCH, Waisenhaus Einbeck, 103. NHSTA Hann. 72 Einbeck Nr. 777 und StAEin LC VI 2c Nr. 4a; vgl. auch LESCH, Waisenhaus Einbeck, lOlf. Zu dieser verbreiteten Praxis vgl. auch BLUM, Staatliche Armenfursorge, 99. Dies geht hervor aus dem Protokoll einer Sitzung vom 14.7.1795; eine Abschrift befindet sich in NHStA Hann. 52 Nr. 375, Schreiben des Präfekten der Aller vom 25.10.1810. Ebd. NHStA Dep. 7b Nr. 280, Schreiben des Schatzkollegiums vom 6.7.1796. Ebd. Ebd. Nr. 297.

Anstalts- oder Familienerziehung?

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nehmen" 313 . Ein im Jahr 1800 angestrebter Verkauf für 16 000 Rtlr. kam nicht zustande, sondern das Haus wurde weiter von Oldershausen benutzt. Die Regierung in Hannover hatte die Umgestaltung in Moringen 1798 ausdrücklich begrüßt 314 ; zwei Jahre darauf beschloß sie auch die Auflösung der Anstalt in Einbeck 315 . Zunächst wurde der dem Waisenhaus gehörende Garten an die Stadt verschenkt, die darauf eine Industrieschule errichten sollte, wozu die Geheimen Räte überdies 500 Rtlr. zur Verfügung stellten. Im folgenden Jahr wurde auch der Haushalt aufgelöst und die Kinder in Familien untergebracht. Aufgrund der Zweifel an der Anstaltsführung kamen Waisenhausneugründungen nur noch in der Form von Verpflegungsinstituten vor. Sie waren zudem nicht nur weit weniger zahlreich als vor dem Siebenjährigen Krieg, sondern gingen ausschließlich auf private Inititativen zurück, ohne daß die Obrigkeiten wie in der ersten Jahrhunderthälfte solche Vorhaben anzureizen versucht hätten. Eine kleinere Stiftung dieser Art wurde von der Witwe des Geheimen Rates von Schwicheldt 1772 ins Leben gerufen. Sie beabsichtigte, bei ihren Gütern in Weyhe im Amt Syke (Herzogtum Bremen) ein Haus für arme Witwen einzurichten, zu dessen Aufgaben auch die externe Versorgung einiger Waisen gehören sollte: "Außer diesen Aufgaben sollen von dem zur Zeit vorhandenen Fond sechs arme vaterlose Kinder, weiblichen Geschlechts bis zu ihrer Zulaßung zu dem heiligen Abendmahle zur Schule frey gehalten, auch ihnen die nöhtigen Bücher und in so weit noch etwas überschießet, nohtdürftige Kleidungs-Stücke gereichet werden, so daß sie allemahl bey ihren Angehörigen in Verpflegung bleiben, und sich nur Sonn- und Fest-Tages vor der Frühpredigt in dem Armen-Hause einfinden, und mit den Hospitalisten zur Kirche gehen" 316 . Viel größeren Umfang dagegen hatte die Stiftung des hannoverschen Pastors Gerhard Philipp Scholvin. In seinem Testament vom 6. November 1799 setzte Scholvin die "Waysenkinder der Altstadt (...) zu Haupterben meines nachbleibenden Vermögens ein" 3 1 7 . Scholvin wollte jedoch ausdrücklich nicht das Armen- und Waisenhaus in der bisherigen Form fördern, weil er von den Erfolgen der Anstaltserziehung wenig überzeugt war.

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Ebd. Nr. 282, Vertrag vom 12.8.1799. Aus einem Pro Memoria des Schatzsekretärs Hansing vom 29.3.1800 geht hervor, daB die Regierung sich in einem Schreiben vom 12.2.1798 dahingehend geäußert hatte. NHStA Dep. 7b Nr. 283. Dazu LESCH, Waisenhaus Einbeck, 103f. NHStA Hann. 93 Nr. 331, Stiftungsstatuten von 1772. StAH A Nr. 3916.

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Waisenhäuser

"Daher verlange ich, daß Knaben und Mädgen von meinem Gelde in umliegende ordentliche Landhaushaltungen in die Kost und Unterweisung nach Art des Moringischen Waysenhauses gegeben würden" 3 1 8 . Die Verwaltung seiner Stiftung sollte deshalb bewußt nicht beim Magistrat oder dem Armenkollegium, sondern beim Konsistorium liegen 319 . Nach Scholvins Tod im Jahre 1803 fiel sein gesamtes Vermögen von etwa 80 000 Rtlr. - mit Ausnahme der Renten für einige Verwandte und Bedienstete - an das nach dem Stifter benannte Institut. Dieses verfügte bald über ein Kapital von über 100 000 Rtlr., von dessen Zinserträgen knapp 100 Kinder versorgt wurden 320 . Auch in der hannoverschen Neustadt bestand Anfang des 19. Jahrhunderts ein Fonds zur Armenunterstützung unter dem Titel eines Armen- und Waisenhauses. Es verfügte über die Zinsen eines Kapitals von etwa 1200 Rtlr., das aus Vermächtnissen zusammengekommen war, und Spenden, die der Totengräber in einer Büchse sammelte; die Sammlungen gingen ebenso wie die ersten Vermächtnisse in die vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zurück 321 . Von diesen Einnahmen wurden Armengelder in Höhe von etwa 140 Rtlr. jährlich ausgeteilt, die möglicherweise auch armen Kindern zugute kamen. Während die geschlossenen Anstalten auch über den Alltag eine dichte Überlieferung normativer wie ereignishafter Quellen produzierten, sind die Lebensverhältnisse der Waisenkinder in ihren Pflegefamilien weitgehend unbekannt. Einzig über die Organisation der Verteilung der Kinder sind schriftliche Zeugnisse vorhanden. Das Schatzkollegium der Calenbergischen Landschaft verabschiedete in seiner Sitzung vom 14. Juli 1795 Regeln für die Familienunterbringung der Kinder 3 2 2 . Die Auswahl der Kinder betreffend wurden dabei die von 1745 stammenden Prinzipien des Waisenhauses beibehalten, d.h. die Versorgung war gesunden, ehelich geborenen, aus dem Fürstentum Calenberg-Göttingen mit Ausnahme der großen Städte stammenden und lutherisch erzogenen Waisen vorbehalten; in Ausnahmefallen konnten auch Halbwaisen, arme, Findel- und Soldatenkinder aufgenommen werden. Die Altersgrenzen blieben bei sieben Jahren für die Aufnahme und 14-15 Jahren für die Entlassung bestehen. Die Unterbringung in Familien erforderte jedoch einige Änderungen in der Organisation. S o wurden Pfarrer als Distriktskorrespondenten und Administratoren eingesetzt, die nicht nur für die Auswahl der Kinder in ihrem Gebiet zustän318 319 320

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Ebd. Ebd., Erläuterungen Scholvins zu seinem Testament vom 4.11.1800. 1803/04: 88 Kinder, 1805: 89 Kinder, 1806: 93 Kinder, 1807: 97 Kinder. StAH A 3965, Rechnungen des Scholvinschen Instituts 1803/04-1807. NHStA Hann. 51 Nr. 256,1-III, Rechnungen der Jahre 1806 bis 1809. NHStA Hann. 52 Nr. 375, Schreiben des Präfekten der Aller vom 25.10.1810, Anlage: Abschrift des Protokolls der Sitzung des Schatzkollegiums.

Anstalts- oder Familienerziehung?

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dig, sondern auch mit der Suche nach Pflegeeltern betraut waren. Diese sollten "Leute von vorzüglicher Rechtschaffenheit [sein], (...) die dadurch im Dorfe eine ausgezeichnete Achtung erhalten". Die Pflegefamilien mußten auf dem Land wohnen, "da man, wenn sie [sc. die Kinder] auf dem platten Lande erzogen sind, erwarten darf, daß sie sich nachmals am Besten in jede Lage zu finden wissen"; Ziel der Waisenerziehung war die Anleitung zu "Ackerbau und Landhaushalt." Darüber hinaus mußten die Dörfer über eine Kirche und eine Industrieschule verfügen 323 . Für jedes Kind waren Verpflegungskosten in Höhe von 26 Rtlr. in Kassenmünze pro Jahr vorgesehen. Davon erhielten die Pflegeeltern allerdings nur 12 Rtlr. "für Beköstigung, Bette, Wäsche und nöthige(r) Reinigung". Die übrigen 14 Rtlr. waren für Kleidung, Unterricht, Schulbücher und Arznei reserviert. Bei schweren Krankheiten übernahm das Institut zusätzlich die Kosten für längere Behandlungen und gegebenenfalls das Begräbnis. Ein etwas höheres Kostgeld zahlte das Einbecker Institut; dort erhielten die Pflegeeltern zwischen einem und eineinhalb Rtlr. monatlich zuzüglich Kleidergeld324. Aufgrund dieser niedrigen Tarife - vor allem die des Moringer Institutes lagen noch unterhalb des andernorts üblichen Kostgeldes325 - war man sich der Gefahr bewußt, daß die Pflegeeltern vor allem die Arbeitskraft ihrer Schützlinge ausbeuten könnten 326 . Die Kontrakte mit den Pflegeeltern konnten daher von den Instituten jederzeit einseitig gekündigt werden 327 . Das Befinden der Waisenkinder wurde von den Moringer Distriktskorrespondenten jährlich überprüft 328 , in Einbeck mußten die Pflegefamilien die Waisen sogar jeden Sonntag einem Inspektor vorführen 329 . Außerdem akzeptierte die Calenbergische Landschaft keine Pflegefamilien, bei denen die Möglichkeit bestand, daß die Waisen zum Hüten der eigenen, kleineren Kinder mißbraucht würden. Vielmehr sollten Ehepaare bevorzugt werden, "die durch den Verlust gehabter Kinder, Kinder-los geworden

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Auch in Einbeck gingen die Waisen mit den anderen armen Kindern zur Schule. NHStA Hann. 52 Nr. 89, Bericht des Bürgermeisters Ernst vom 21.7.1808. LESCH, Waisenhaus Einbeck, 104. Vgl. Kap. IV, Abschnitt 2.2. Dies zählte auch zu den Hauptargumenten der Befürworter der Anstaltserziehung: Oer Celler Hofrat Willich führte gegen die Auflösung des Haushaltes an, daB die Kinder "nur bey dürftigen Leuten, die zur niedrigsten Classe des Volkes gerechnet werden können, bey Leuten von den verdorbensten Sitten, von unmoralischem Wandel, denen es nur um das für solche Kinder zu zahlende Kostgeld zu thun sey", unterkommen würden. StACe L 3 Nr. 236, Stellungnahme Willichs vom 1.9.1801. KKAGö Pfanarchiv Klein Schneen A Nr. 363, verschiedene Verpflegungskontrakte und Abrechnungen. NHStA Hann. 52 Nr. 375, Schreiben des Präfekten der Aller vom 25.10.1810, Anlage: Abschrift des Protokolls der Sitzung des Schatzkollegiums. Ebd. Nr. 89, Bericht des Bürgermeisters Ernst vom 21.7.1808.

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Waisenhäuser

sind" 330 . Eingesparte Verpflegungskosten gingen nicht an das Institut zurück, sondern wurden von den Distriktskorrespondenten zugunsten des jeweiligen Kindes angelegt, "damit falts etwa hie und da die Pflege-Eltern, die ein aufgenommenes Waisen-Kind lieb gewinnen, für dasselbe etwas aus dem ihrigen thun, wissen, daß dies ihrer Absicht gemäß allein dem Kinde und nicht der Administration zu gute komme" 331 . Das Scholvinsche Institut in Hannover übernahm ausdrücklich "im Ganzen dieselben Einrichtungen, die in Betreff des landschaftlichen Calenbergischen Waisenpflege-Instituts (...) bestehen" 332 . Die einzelnen Bestimmungen wurden teilweise etwas spezifiziert, so sollten "Küster, Schullehrer, Altaristen, Gemeinevorsteher" als Pflegeväter bevorzugt werden, da diesen am ehesten eine pflichtmäßige Erziehung zugetraut wurde. Ausgeschlossen wurde dagegen neben Familien mit vielen kleinen Kindern nun auch allgemein "jeder Ort, der keinen gemeinen Hirten hält", da man fürchtete, die Waisenkinder würden "zu beständigem Viehhüten" mißbraucht werden 333 . Eine wichtige Erweiterung der Aufgaben war dagegen, daß das Scholvinsche Institut auch Kinder "von noch zartem Alter", "in welchem sie (...) am meisten zur Last sind", vermitteln wollte 334 . Bei der Entlassung wurden die Kinder, die ja teilweise in einiger Entfernung von ihrem Heimatort verpflegt worden waren, an ihre jeweilige Heimatobrigkeit zurückverwiesen 335 . Diese sollte darauf achten, daß "das Kind in eine zweckmäßige Thätigkeit komme, und seine kleine Aussteuer" - als Starthilfe erhielten die Kinder des landschaftlichen Instituts etwas Kleidung sowie vier Rtlr. in barem Geld - "nicht in der Eltern Hände gerathe, sondern bloß zu seinem Fortkommen und nützlich verwendet werde" 336 . Um die nähere Zukunft der Kinder besser überprüfen zu können, behielt der jeweilige Distriktskorrespondent noch zwei Jahre nach Auslaufen der Verpflegung die Vormundschaft. Die Unterbringung der Kinder in Pflegefamilien war erheblich kostengünstiger als ihre Erziehung in einer Anstalt. Eingespart wurden vor allem Personal kosten und Ausgaben für die Instandhaltung der Gebäude. Die Unterhaltung des Ein-

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Ebd. Nr. 375, Schreiben des Präfekten der Aller vom 25.10.1810, Anlage: Abschrift des Protokolls der Sitzung des Schatzkollegiums. Ebd. Konsistorialausschreiben vom 10.1.1804, in: SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 4, 469-476, hier 470. Ebd., 472. Ebd., 470. NHStA Hann. 52 Nr. 375, Schreiben des Präfekten der Aller vom 25.10.1810, Anlage: Abschrift des Protokolls der Sitzung des Schatzkollegiums. KKAGö Pfarrarchiv Sieboldshausen A Nr. 363, II, Reskript vom 24.6.1800.

Ans tal ts- oder Familienerziehung?

307

becker Waisenhauses kostete 1799 pro Kind ungefähr 60 Rtlr. 337 . Die Familienunterbringung eines Kindes war dagegen mit 26 Rtlr. beim landschaftlichen Waiseninstitut oder etwas höheren Tarifen in Einbeck nur etwa halb so teuer 338 . Trotz dieses Vorteils der Familienerziehung blieben einige Waisenhäuser in der alten Form bestehen. In Celle wurde zwar nochmals die Auflösung des Waisenhauses erwogen, aber nicht in die Tat umgesetzt339. Auch in Clausthal gab es Befürworter einer Aufhebung, die aber erst 1836 durchgeführt wurde 340 . Die privaten Einrichtungen in Göttingen und Nörten, die keine Finanznöte kannten, waren von den Auflösungsplänen nicht betroffen. Auch in Hildesheim blieben zunächst alle Waisenhäuser bestehen; erst die preußische Verwaltung plante aufgrund zahlreicher Mißstände in der Verwaltung die Auflösung des Altstädter Waisenhauses 341 . Als Gründe führte der mit der Untersuchung der Vorfälle betraute Stadtdirektor Lohde neben der unübersichtlichen Rechnungsführung (es fehlten alle Rechnungen ab 1792) vor allem gesundheitliche Bedenken gegen die Waisenhauserziehung an: "[die Lage des Hauses] ist bei weitem nicht die gesundeste, indem es gerade in der tiefsten und feuchtesten gegend der Stadt liegt". Dazu traten weitere, aus dem Waisenhausstreit bekannte Argumente. Lohdes Vorschlag war, das Waisenhaus als Versorgungsanstalt beizubehalten, also den Fonds für die Unterbringung der Kinder in Familien oder in dem seiner Ansicht nach gesünder gelegenen Neustädter Waisenhaus unterzubringen. Das Waisenhaus sollte als eigenständige Anstalt, aber unter Aufsicht des städtischen 'Armenadministrationskollegiums'

weiterbestehen.

Da

sich

die

preußische

Kriegs- und Domänenkammer Lohdes Ansichten und Vorschlägen weitgehend anschloß 342 , wurde 1806 die Waisenhauskasse der allgemeinen Armenkasse angeschlossen. Die Auflösung wurde allerdings durch den Widerstand der Verwaltung 337

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In Einbeck betrugen die Ausgaben 1799 rund 1390 Rtlr. bei 23 versorgten Kindern. LESCH, Waisenhaus Einbeck, 103. Dies entspricht den Berechnungen des Celler Hofrates von Willich, der dennoch eine Auflösung des Waisenhauses ablehnte. StACe L 3 Nr. 236, Stellungnahme Willichs vom 1.9.1801. Im Juli 1801 forderte die Regierung das Waisenhauskollegium zu drastischen Einsparungen und einer Verringerung der Kinderzahl auf. Außerdem sollte das Kollegium gutachtlich berichten, ob es nicht günstiger sei, wenigstens einen Teil der Kinder "nach Art des aufgehobenen Moringer Waisenhauses" bei Pflegefamilien in Kost zu geben. StACe 20 B Nr. 4, Reskript vom 20.7.1801. REIFF, Das Waisenhaus Clausthal, 14. NHStA Hild. Br. 10 Nr. 1555, Gutachten des Stadtdirektors Lohde vom 23.7.1805. Bis 1790 hatte der Riedmeister Stahl die Rechnungen geführt und dabei dem Waisenhaus Vorschüsse gemacht. Der Umfang eines dazu angeforderten Sachverständigengutachtens sollte etwa 1000 Seiten betragen. Ebd., Brief der Stadt vom 7.6.1805. Vgl. auch StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 3. Ebd., Schreiben vom 5.8.1805.

308

Waisenhäuser

des Waisenhauses verhindert 343 ; statt dessen wurde der Haushalt gegen einen festen Preis an den neu eingestellten Waisenlehrer vergeben 344 . Eine 1807 eingerichtete 'freiwillige Arbeitsanstalt' mußte wegen zu hoher Kosten bald wieder geschlossen werden 345 . Die politisch-administrativen Umwälzungen der napoleonischen Zeit und die kriegerischen Ereignisse betrafen auch die übrigen noch bestehenden Waisenhäuser schwer. Wie schon im Siebenjährigen Krieg waren sie von der kriegsbedingten Auflösung bedroht, da sich ihre Räumlichkeiten für die Einrichtung militärischer Lazarette geradezu anboten. Das Celler Waisenhaus wurde schon im März 1795 auf dringendes Ersuchen des Magistrates geräumt und als Hospital für die französische Emigrantenarmee eingerichtet. Die Waisenkinder mußten in das ziemlich baufällige sogenannte Generalsuperintendentenhaus umziehen 346 . Nachdem nur noch wenige Kranke versorgt werden mußten, wurde im September die Räumung des Hospitals veranlaßt und das Waisenhaus mit 228 Rtlr. 33 Mgr. aus der Kriegskasse entschädigt347. 1803 wurde das Waisenhaus, das zuvor einer Umfunktionierung gerade noch einmal entgangen war, wieder als Standort für ein französisches Hospital vorgeschlagen 348 . Allerdings konnte das Waisenhauskollegium, das vor gesundheitlichen Gefahren für die Kinder gewarnt worden war 349 , dieses Vorhaben in letzter Minute durch ein Schreiben an den Oberkommandierenden General Mortier zu vereiteln. Dieser versicherte in einem persönlichen Brief an den Vorsitzenden des Waisenhauskollegiums, Hofrat v. Willich, daß das Waisenhaus verschont bleiben solle: "Je sens, Monsieur, toute l'utilité de l'établissement que vous administrez, et je m'empresse a vous tranquiliser sur les craintes que vous paraissez éprouver; on ne disposera d'aucune maniéré a la maison des orphelins" 350 .

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Nach einer Beschwerde vom 29.4.1805 wurde die Kriegs- und Domänenkammer in Hildesheini am 27.5.1805 vom Niedersächsischen Departement des Generaldirektoriums beauftragt, einen ausführlichen Bericht über das Waisenhaus anzufertigen. NHStA Hild. Br. 10 Nr. 1555. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 3. Ebd. StACe L 3 Nr. 207, Schreiben des Waisenhauskollegiums an die Landesregierung vom 20.8.1795. Ebd., Schreiben der Landesregierung von 2.9.1795 und Empfangsbestätigung über die Entschädigung vom 27.4.1796. Ebd. Nr. 207, Schreiben des 'Hofinedicus' Dr. Koeler vom 13. Juli 1803. Daraus geht auch hervor, daß das Waisenhaus schon vorher von französischen Gesundheitsbeamten besichtigt und als Hospital in Betracht gezogen worden war; dann war aber doch eine ehemalige Kaserne umgebaut worden. Ebd. Ebd., Schreiben Genetal Mörders vom 2. Thermidor an 11 (21.7.1803).

Anstalts- oder Familienerziehung?

309

Willich hatte ein Bittschreiben an General Mortier gerichtet, obwohl der dem Kollegium angehörende Stadtsyndikus Schmersahl dies für aussichtslos und sogar schädlich hielt 3 5 1 . Im Mai 1804 konnte ein erneuter Versuch zur Umwandlung des Waisenhauses mit dem Verweis auf Mörders 'Freiheitsbrief' abgewehrt werden. Als wiederum einige Monate später nach Ablösung Mortiers eine Besichtigung des Waisenhauses durch französische Kommissare stattfand, beschloß das Kollegium aufgrund der guten Erfahrungen, sich direkt an Marschall Bernadotte zu wenden 352 . 1805 wurden die Pläne zur Einrichtung eines Hospitals im Waisenhaus dann endgültig aufgegeben 3 5 3 . Die administrativen Veränderungen betrafen vor allem die Finanzen der Waisenanstalten. Während die Waisenhäuser in Göttingen und Nörten von der neuen Herrschaft weitgehend unberührt blieben 3 5 4 , da sie nicht auf öffentliche Unterstützung angewiesen waren 3 5 5 , gerieten die Verpflegungsinstitute in Einbeck und Moringen in existenzielle Schwierigkeiten, da ihre bisherigen Einnahmen aus halböffentlichen Kassen fortfielen 3 5 6 . Die Zuschüsse aus der Lizentkasse für das Einbecker Waiseninstitut blieben aus, da die Steuereinnehmer der nunmehrigen 'caisse des accises' Anweisung hatten, keine Auszahlungen ohne Zustimmung des Finanzministers zu machen 3 5 7 . Erschwert wurde die Lage dadurch, daß in den letzten Jahren vor der Besetzung die Höhe der Ausgaben die der Einnahmen überstiegen hatte 358 . Infolge der Finanznot mußte die Zahl der Kinder deutlich reduziert werden: Nachdem bei einem Stand von 45 Kindern im Jahr 1807 die Neuaufnahmen für zwei Jahre ausgesetzt worden waren, wurden 1809 nur noch 2 9 Kinder verpflegt 3 5 9 . Der Göttinger Präfekt Franz machte daher, nachdem er eine umfassende Bestandsaufnahme aller Anstalten vorliegen hatte 360 , in einem im April 1809 vorgelegten Entwurf zur Vereinfachung des Armenwesens den

351 352 353 354

355

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357 358 359 360

Ebd., Protokoll einer Sizung des Waisenbauskollegiums vom 17.7.1803. Ebd., Protokolle vom 14.5.1804 und 29.8.1804. Ebd., Schreiben der Lüneburgischen Landschaft vom 24.7.1805. Das Hardenbergsche Waisenhaus blieb bis 1812 wie bisher bestehen. Dann sollte es im Zusammenhang mit der Senkung der öffentlichen Schuld staatlicher Aufsicht unterstellt werden. Der Graf jedoch scheint sich dem widersetzt zu haben, indem er die verlangten Rechnungen nicht ablieferte. NHStA Hann. 52 Nr. 376. Die Waisenhäuser in Göttingen und Nörten kosteten die öffentlichen Kassen nichts, da das erste vollständig aus Spenden und das zweite von der Familie Hardenberg getragen wurde. NHStA Hann. 52 Nr. 16, "Etat indicatif des hôpitaux, maisons de charité". Über das Hardenbergsche Waisenhaus auch ebd., Bericht des Gräfl. Gerichtes Hardenberg vom 4.12.1807. Vgl. außerdem oben Abschnitt 2.2. Dieses Problem betraf ebenso die Anstalten anderer Landesteile. Das Waisenhaus in Duderstadt im ehemals kurmainzischen Eichsfeld, das vor allem aus Lieferungen der dortigen Domäne finanziert worden war, hatte bis Ende 1812 ebenfalls ein Defizit von über 1500 Rtlr. NHStA Hann. 52 Nr. 371. Ebd. Nr. 89, Schreiben des Einbecker Maires vom 29.6.1808. Ebd. Nr. 16, "Etat indicatif des hôpitaux, maisons de charité". Ebd. Nr. 2263,1-III, Rechnungen 1807-1809. StAGö AA Klostersachen Allgemeines Nr. 48, Bericht des Prof. Planck vom 26.3.1809.

310

Waisenhäuser

Vorschlag, das Waiseninstitut in Einbeck aufzulösen und unter Verwendung der freiwerdenden

Einkünfte das Moringer Institut zur zentralen Waisenversorgung

für das ganze Departement auszuweiten. Nur das Göttinger Haus sollte daneben bestehen bleiben, weil es dem Staat keine Kosten verursachte 361 . Trotzdem blieb das Einbecker Waiseninstitut während der westphälischen Zeit bestehen 362 . Das Moringer Institut befand sich jedoch in mindestens ebenso großen Schwierigkeiten. Da die landschaftlichen Kassen von der französischen Besatzung in Hannover beschlagnahmt und die Stände selbst 1807 aufgelöst worden waren, mußten die Zahlungen der Landschaft eingestellt werden 363 . Auch die Pacht für das ehemalige Gebäude in Moringen, das seit 1807 ebenso wie ein Teil des Einzugsgebietes zum Königreich Westphalen gehörte, blieben ebenso aus wie die Einkünfte aus der Druckerei 364 . Die finanziellen Rückstände waren so groß, daß die Pflegeeltern nur einen Teil der Verpflegungskosten erhielten; 1812 war das Waisenhaus "durch die Zeitumstände in eine Lage gerathen (...), welche bereits die Zurückgabe der Zöglinge an ihre Kommunen nothwendig zu machen angefangen hat" 365 . Auch für das Waisenhaus in Clausthal brachte die französischwestphälische Zeit schwere Probleme 366 . Gerade noch der drohenden Auflösung entgangen, blieben geschlossene Anstalten und Verpflegungsinstitute nach der Wiedererrichtung der hannoverschen Herrschaft zunächst in der alten Gestalt erhalten und konnten sich nach einigen Veränderungen allmählich wieder konsolidieren 367 .

4.

Zusammenfassung

Waisenhäuser gehörten zu den charakteristischen Institutionen des Armenwesens im 18. Jahrhundert. In der Regel vorrangig oder ausschließlich der Versorgung und Erziehung unversorgter Kinder gewidmet, symbolisierten sie am sichtbarsten 361 362 363 364

365 366 367

NHStA Hann. 52 Nr. 340, Schreiben des Präfekten vom 20.4.1809. LESCH, Waisenhaus Einbeck, 104. NHStA Hann. 51 Nr. 2, Dekret des Generalgouverneurs Lasalcette vom 20.9.1807. Der Oberhauptmann von Oldershausen zahlte seit 1805 keine Pacht mehr, was wahrscheinlich durch die administrativen Veränderungen erleichtert wurde. NHStA Dep. 7b Nr. 282, Schreiben der Provisorischen Regierungskommission vom 3.8.1814. Auch der Druckereiüberschuß konnte nicht bezahlt werden, da der Buchdrucker seinerseits auf Zahlungen der Calenbergischen Landschaft wartete. NHStA Dep. 7b Nr. 301, Pro Memoria vom 18.3.1808. Ebd. Nr. 284, Schreiben des Präfekten vom 25.10.1812. REIFF, Waisenhaus Clausthal, 14. BRÜGMANN, Armenpflege, 125f.; ECKART, Geschichte des Waisenhauses Nörten, 6ff., 14ff., 25ff.; LESCH, Waisenhaus Einbeck, 105; REIFF, Waisenhaus Clausthal, 14. Günther A. RUDLOFF, Das Moringer Waiseninstitut, in: Der Freundeskreis des Großen Waisenhauses 88 (1981), 4-7. In Hildesheim wurden die beiden städtischen Waisenhäuser 1816 vereinigt, das katholische Waisenhaus bezog 1847 einen Neubau. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 20, Geschichtliche Nachrichten, 3-10.

Zusammenfassung

311

die Entstehung einer gezielten Kinderfürsorge. Deren Stellenwert in der Armenpflege belegen eindrucksvoll die zahlreichen Neugründungen in der Zeit vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zum Siebenjährigen Krieg. Wie die genaue Rekonstruktion der einzelnen Waisenhausgründungen zeigt, kamen die entscheidenden Anstöße jedoch keineswegs allein von den absolutistischen Fürsten und ihren Regierungen, sondern sowohl bei der Initiative als auch deren Umsetzung spielten andere Institutionen des frühneuzeitlichen Staates wie Städte und Stände und nicht zuletzt das persönliche Engagement Einzelner eine ebenso wichtige Rolle. Was die Erziehungskonzepte betrifft, verkörperten die Waisenhäuser ebenso wie andere Anstalten die konsequente Umsetzung der in der gesamten Armenpflege gültigen Grundsätze, daß Armut nur durch Arbeit, Frömmigkeit und Disziplin überwunden werden könne. Der Alltag in den Waisenhäusern war daher bis ins letzte von diesen Prinzipien durchdrungen. Allerdings waren in der Konzeption der Anstalten auch schon die späteren Probleme des Alltags angelegt: Disziplinverstöße, Übergriffe des Personals, mangelnde Eignung und Rentabilität der Arbeitserziehung. Seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges gerieten die Waisenhäuser immer stärker in den Mittelpunkt publizistischer Kritik, die sich vor allem gegen die Anstaltserziehung richtete. Diese Diskussion war der Anstoß für die Auflösung mehrerer Waisenhäuser am Ende des 18. Jahrhunderts und ihre Umwandlung in Verpflegungsinstitute, die die Kinder gegen Bezahlung an Pflegefamilien vermittelten. Ebenso wichtig wie eine veränderte Auffassung von den Zielen der Kinderfürsorge und die Kritik an den in diesen Anstalten herrschenden Zuständen dürften wirtschaftliche Probleme gewesen sein: Konnten die Finanzen der Waisenhäuser in den ersten Jahren und Jahrzehnten nach der Gründung noch konsolidiert werden, gerieten die meisten Anstalten nach dem Siebenjährigen Krieg, unter dem sie zum Teil schwer gelitten hatten, zunehmend in finanzielle Bedrängnis. Die Ursache dafür ist einerseits im Verfall der bisherigen Einnahmen, andererseits in einem teuerungsbedingten Anstieg der Ausgaben zu suchen. Auf die Abhängigkeit einzelner Formen der Kinderfürsorge und insbesondere der Waisenhäuser von den administrativen und finanziellen Ressourcen und deren Wandel muß daher später nochmals eingegangen werden 368 . Die Annahme, daß hier der eigentliche Grund für die Umwandlung in die mit wesentlich weniger Kosten verbundenen Verpflegungsinstitute liegt, wird auch dadurch bestätigt, daß die finanziell abgesicherten Waisenhäuser in Göttingen und Nörten nicht von der Auflösung bedroht waren. Aus eben diesem Grund überstanden diese beiden Anstalten auch die französisch-westphälische Zeit wesentlich leichter als die öffentlichen Institute. Zu einer klaren Entscheidung zwischen An368

Vgl. Kap. VII.

312

Waisenhäuser

stalts- und Familienerziehung war es allerdings nicht gekommen, beide Formen bestanden im 19. Jahrhundert fort. Der Wirkungsgrad der Waisenhäuser war trotz der ansehnlichen Zahl von Anstaltsgründungen begrenzt. Rein zahlenmäßig konnten Waisenhäuser sicherlich nur einen geringen Teil der bedürftigen Kinder erreichen, und auch im Verhältnis zur offenen Armenpflege war die Zahl ihrer Klientel eher bescheiden. Zudem erscheint es fraglich, ob die Waisenhauserziehung wirklich geeignet war, über die reine Versorgung - die ohnehin allenfalls im Vergleich zur Lage der außerhalb lebenden armen Kinder positiv bewertet werden kann - hinaus einen Beitrag zur Bekämpfung von kindlicher Armut und Kinderbettel zu leisten. Die Schwächen der Anstaltserziehung lassen hier eher Skepsis geraten erscheinen. Die Bedeutung der Waisenhäuser für das Armenwesen des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts lag daher insgesamt weniger in ihrer tatsächlichen Wirkung als vielmehr in ihrer zentralen Stellung in der obrigkeitlichen und gesellschaftlichen Beschäftigung mit dem Problem der Kinderversorgung.

Kapitel VI

Soziale Probleme und institutionelles Handeln: Reichweite und Wirkung öffentlich-obrigkeitlicher Hilfsmaßnahmen am Beispiel der Kinderversorgung

Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, daß die Kinderversorgung eines der wichtigsten Anliegen sowohl der obrigkeitlichen Sitten- und Ordnungspolitik als auch der öffentlichen Armenpflege war. Zugleich zeigte sich aber, daß die einzelnen Maßnahmen oft unzureichend oder mit erheblichen Umsetzungsschwierigkeiten verbunden waren. Dieses Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit frühneuzeitlicher, 'absolutistischer' Staatlichkeit im sozialen Bereich hat in der Forschung zu einer widersprüchlichen Einschätzung hinsichtlich Reichweite und Durchsetzungskraft obrigkeitlicher Maßnahmen geführt; dies betrifft sowohl die Ordnungspolitik als auch das Armenwesen1. Da die Durchsetzung der frühneuzeitlichen Ordnungspolitik aufgrund der Quellenlage kaum zu ermessen ist, steht im Vordergrund dieses Kapitels die Kinderversorgung: ihre Reichweite in der Bevölkerung, ihre möglichen Alternativen und ihre Erfolge. Aus methodischen Erwägungen rücken dabei alleinstehende bzw. vollständig auf öffentliche Kosten versorgte Kinder in den Mittelpunkt der Darstellung2.

1.

Die Entstehung elterlicher Versorgungsunfähigkeit

Eines der wichtigsten Kriterien für die Beurteilung der öffentlichen Kinderversorgung ist die Relation zwischen den Hilfsangeboten und dem bestehenden Bedarf, d.h. der Häufigkeit unzureichender Versorgung von Kindern in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Zwar lassen die vorhandenen Quellen keine verläßlichen Zahlenangaben über unversorgte oder von Versorgungsausfall bedrohte Kinder zu, eine gezielte Analyse der Ursachen elterlicher Versorgungsunfahigkeit und des sozialen Profils unversorgter Kinder kann aber zumindest Aufschlüsse über die potentielle Ausdehnung der Versorgungsprobleme und ihre Verbreitung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen vermitteln.

1 2

Vgl. dazu unten Abschnitt 4. Nur im Bereich der vollständigen Versorgung erlauben die Quellen ausreichende Aufschlüsse über Herkunft und Zukunft der Kinder. Daniber hinaus lassen sich öffentliche und nicht-öffentliche Versorgungsformen am ehesten am Beispiel alleinstehender Kinder vergleichen.

314

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

1.1.

Die Herkunft öffentlich versorgter Kinder: Versuch einer quantifizierenden Annäherung Möglichkeiten quantifizierender Quelleruwswertung - Berußangaben der Väter - Vergleich mit der Gesamtbevölkerung

Bei der Darstellung der öffentlichen Kinderfürsorge wurden bereits spezifische soziale Probleme im Zusammenhang mit einzelnen Maßnahmen sichtbar. Die Entstehungsbedingungen der Quellen bedingen allerdings möglicherweise eine übersensible Wahrnehmung vorübergehender oder besonders krasser Erscheinungsformen

kindlicher

Versorgungslosigkeit:

Kinderbettel,

umherziehende

Randgruppenfamilien, Kindesaussetzung oder - im extremsten Fall - Kindsmord liefen den obrigkeitlichen Ordnungsbestrebungen zuwider und beschäftigten die verschiedenen Ebenen der Verwaltung daher punktuell besonders eingehend; in Kriegszeiten beanspruchten Soldatenfamilien besondere Aufmerksamkeit. Dagegen spielten 'alltägliche', weniger spektakuläre Formen unzureichender Versorgung in Akten und Einzelnachrichten eine eher untergeordnete Rolle. Deshalb bedarf es weiterer, möglichst quantifizierbarer Informationen über die Eltern unversorgter Kinder und ihre Lebensumstände. Demographisch orientierte Analysen des sozialen Umfeldes ausgesetzter Kinder wurden vor allem im Rahmen der Arbeiten über west- und südeuropäische Findelhäuser durchgeführt 3 . Diese Auswertungen basieren hauptsächlich auf den Aufnahmebüchern, anhand derer sich einerseits die Zahl ausgesetzter Kinder, andererseits ein mehr oder weniger vollständiges und repräsentatives soziales Profil der Eltern, etwa Tätigkeit, wirtschaftliche Lage und Familiengröße, herauskristallisieren lassen4. Vergleichbare Quellen stehen für diese Untersuchung nur sehr eingeschränkt zur Verfügung. Zwar gab es mit den Waisenhäusern auch im Untersuchungsgebiet Institutionen, die registerförmige Quellen produzierten; dabei handelt es sich jedoch mit einer Ausnahme 5 nicht um Aufnahmebücher, sondern um jährliche Rechnungen, denen im günstigsten Fall zu Anfang oder Ende ein Verzeichnis der jeweils versorgten Kinder vorangestellt wurde. Oft sind nur die Namen der Kinder angegeben, manchmal gesellen sich eher zufällig weitere Informationen hinzu 6 . In den wenigsten Fällen sind die Herkunft eines Kindes und die Lebens3

4 3

6

Jean-Pierre BARDET, Enfants abandonnés et enfants assistés à Rouen, in: Sur la population française, 19-47; Claude DELASSELLE, Les enfants abandonnés à Paris au XVIIIe siècle, in: Annales. Economie, Sociétés, Civilisations 1975, 187-218; HUNECKE, Findelkinder; PEYRONNET, Enfants abandonnés. Vgl. vor allem die Ausführungen bei HUNECKE, Findelkinder, 81-86. "Waisenhaus-Copialbuch" der Hildesheimer Altstadt für die Jahre 1694-1748 in StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 7b. Die Eintragungen sind allerdings lückenhaft. Ausschließlich Namen enthalten die Rechnungsbücher der Jahre 1761/62-1803/06 des katholischen Waisenhauses in Hildesheim. StAHi Best. 100 Abt. 178 Nr. 2a, 4-39 und 1799/18001805/06.

Die Entstehung elterlicher Versorgungsunfähigkeit

315

Situation seiner Eltern zu erkennen. Eine weitere Schwierigkeit hängt mit den Aufnahmebedingungen der Waisenhäuser zusammen: Während die meisten Findelhäuser durch die Einrichtung einer Drehlade die Aussetzung anonymisierten und somit erleichterten und zumindest vorübergehend beliebig viele Kinder aufnahmen, waren die Aufnahmekapazitäten der Waisenhäuser sowohl quantitativ als auch bezüglich der Zielgruppen beschränkt. Bestimmte Bereiche kindlicher Versorgungslosigkeit wurden also in diesen Quellen möglicherweise systematisch nicht erfaßt. Darüber hinaus sind bei manchen Anstalten überhaupt keine oder nur einzelne Register erhalten. Zwei Beispiele veranschaulichen die Quellenproblematik. Ein 1803 angefertigtes Verzeichnis von 71 Kindern (35 Jungen und 36 Mädchen), die zwischen 1792 und 1802 im Clausthaler Waisenhaus aufgenommen wurden, enthält neben den Namen der Kinder auch Angaben über die Tätigkeiten der Väter. Es handelt sich ausschließlich um Berufe aus dem Bergbau: "Bergarbeiter", "Grubensteiger" und "Pucharbeiter" 7 . Dies ist nicht allein mit der wirtschaftlichen Struktur der Bergbaustadt Clausthal zu erklären, sondern auch mit dem Entstehungszusammenhang der Liste: Ihrem Verfasser ging es keineswegs darum, eine Statistik über die Herkunft sämtlicher Kinder anzufertigen, sondern er wollte die Berechtigung einer wegen der finanziellen Misere des Waisenhauses geforderten Unterstützung aus der Knappschaftskasse belegen 8 . Ein deutlich breiteres Spektrum sozialer Herkunft überliefern dagegen die Bücher des Altstädter Waisenhauses in Hildesheim: Neben ehelichen Kindern, die aus unterschiedlichen Gründen als unversorgt galten und deren Väter verschiedenen Tätigkeiten nachgegangen waren, finden sich auch Kinder lediger Mütter und Findelkinder®. Die Aussagefähigkeit ist aber dadurch stark beschränkt, daß sich für nur 37 von insgesamt 284 Kindern, die in den Jahren 1694-1726 und 1744/45-1777/78 aufgenommen wurden, Angaben über den familiären Hintergrund finden. Die vorhandenen Register können daher nicht einfach summarisch ausgewertet werden, sondern müssen einander unter Berücksichtigung der jeweiligen Entstehungsbedingungen gegenübergestellt werden. Im Gegensatz zu den Methoden der Findelhausforschung, die zumindest bei der Untersuchung von großstädtischen Bewahranstalten des 19. Jahrhunderts über eine schier überwältigende Anzahl von Daten verfügt 10 , muß die Quellenkritik hier nicht der statistisch sinnvollen Eingrenzung des Materials, sondern der Auswahl einer Anstalt gelten, die

7 8 9 10

Ebd. Bei letzteren handelte es sich um die Arbeiter der Pochwerke. NHStA Hann. 84 Nr. 884, Schreiben vom 21.2.1803. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 7a, IV-VI, und ebd. Nr. 7b. HUNECKE, Findelkinder, 34-37, 77; Bernd WEISBROD, How to Become a Good Foundling in Early Victorian London, in: Social History 10 (1985), 193-209, bes. 195ff.

316

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

gleichermaßen durch möglichst offene Aufnahmekriterien und eine regelmäßige Überlieferung gekennzeichnet ist. Als sinnvoller Ausgangspunkt für eine quantifizierende Auswertung bieten sich die Rechnungen des Einbecker Waisenhauses an. Aus den 15 überlieferten Bänden konnten zahlreiche Aufnahmen der Jahre 1713 bis 1759 und 1792 bis 1803 rekonstruiert und Einträge zu 308 Kindern zusammengetragen werden 11 . Die Informationen über die Herkunft der Kinder sind relativ konstant: In nur elf Fällen (3,6 Prozent) liegen keinerlei Hinweise auf den Familienstand des Kindes oder die Eltern vor. Hinsichtlich der Zielgruppen der Anstalt sind keine Beschränkungen erkennbar: Außer Waisen wurden auch arme, verlassene und uneheliche Kinder sowie einige Findelkinder versorgt. Die Angaben zu den Tätigkeiten der Väter schließen mehr als 50 verschiedene Bezeichnungen ein. Ausgehend von den Einbecker Rechnungen können dann weitere Quellen dieser Art zum Vergleich herangezogen werden. Dazu zählen Aufnahmen des Waisenhauses

bzw.

der

Versorgungsanstalt

in Moringen

1746/47,

1799

und

1806/07 1 2 , verschiedene Aufnahmen des Celler Waisenhauses 13 , veröffentlichte Verzeichnisse von Konfirmanden des hannoverschen Arbeitshauses 14 sowie Listen von Kindern und Müttern, die 1786 und 1788 in Göttingen von der Armenkasse unterstützt wurden 15 . In einem dritten Schritt werden dann die aus diesen seriellen Quellen gewonnenen Aussagen durch eingehende Fallschilderungen in obrigkeitlichen Einzelakten und den - oft auch abgelehnten - Unterstützungsgesuchen Betroffener ergänzt und möglicherweise erweitert. Nur so können über die Perspektive einzelner Quellen hinaus allgemeinere Erkenntnisse über die Entstehung kindlicher Versorgungslosigkeit gewonnen werden; zugleich wird durch dieses Vorgehen die soziale Reichweite einzelner Maßnahmen deutlich. Ein Blick auf den Familienstand der Einbecker Kinder zeigt, daß die Gründe für die Aufnahme der Kinder im Waisenhaus durchaus unterschiedlich waren. Es überrascht nicht, daß die am häufigsten genannte Ursache der Tod eines oder beider Elternteile war (insgesamt 140 Kinder). Bei einer beachtlichen Anzahl von Kindern lagen aber auch andere Gründe vor. So konnten 61 Kinder von ihren Eltern wegen materieller Not nicht unterhalten werden. Neun Männer hatten ihre 11

12 13

14

15

Es handelt sich um die Jahre 1721, 1723-26, 1740, 1751-55, 1759 (NHStA Hann. 72 Einbeck Nr. 766-777), 1799, 1801 (StAEin 2c Nr. 4a) und 1807-09 (NHStA Hann. 52 Nr. 2263, IIII). Da alle im Hause lebenden Kinder am Anfang der Register aufgeführt wurden, befanden sich darunter auch Kinder der jeweils vorhergehenden Aufhahmejahrgänge, die in die Auswertung einbezogen werden konnten. NHStA Dep. 7b Nr. 288, 298, 300. StACe 20 B Nr. 2, I-II; ebd., Nr. 47, 48, 49; StACe L 3 Nr. 23, 106, 201, 223, 224, 225, 227, 232, 233, 235. HM 27 (1789), 919-926; HM 28 (1790), 743-746; NHM 1 (1791), 1027-1034; NHM 2 (1792), 1579-1582; NHM 11 (1801), 871-874; NHM 15 (1805), 453-458; NHM 17 (1807), 1505-1510. StAGö AA Wohlfahrt Armensachen und Stiftungen Nr. 233.

Die Entstehung elterlicher Versorgungsunfähigkeit

317

Familien verlassen und damit die Versorgung der Kinder gefährdet. Drei Findelkinder waren gänzlich verlassen, ebenso wahrscheinlich die 23 als unehelich bezeichneten Kinder. Ähnlich waren die Verhältnisse in Moringen: Von den Kindern, die anläßlich der Erstbelegung 1746/47 aufgenommen wurden, hatten 25 einen oder beide Elternteile verloren. Die Eltern von vier Kindern wurden als arm eingestuft, ein Kind war von beiden Eltern, ein anderes vom Vater verlassen worden. Von den Frauen, die in Göttingen 1788 Armenunterstützung für die Erziehung ihrer eigenen Kinder erhielten, waren sieben verwitwet, vier von ihrem Mann verlassen worden und drei ledig. Auch von den 110 im hannoverschen Armenhaus aufgenommenen Kindern hatten 77 ihre Eltern verloren; der Vater eines Kindes war fortgegangen, die Eltern der anderen 32 Kinder waren wahrscheinlich noch am Leben. Die Unterschiedlichkeit der aufgeführten Gründe legt die Vermutung nahe, daß auch die soziale Herkunft der Kinder nicht homogen war. Wie aber läßt sich diese genauer bestimmen? Zur Differenzierung der frühneuzeitlichen Gesellschaft werden in der historischen Forschung gewöhnlich auf verschiedenen Kriterien basierende soziale Schichtungsmodelle verwendet 16 . Ein solches Verfahren läßt sich zur Herkunftsbestimmung unversorgter Kinder allerdings nicht anwenden, da die verfügbaren Quellen über entscheidende Dimensionen von Schichtung wie ständisch-rechtliche Kriterien und soziales Prestige keine Auskunft geben 17 . Zudem verstellt das übereinstimmende Merkmal der Versorgungsunfähigkeit eventuell den Blick auf bestehende Unterschiede in der derzeitigen oder früheren ökonomischen Lage der Eltern. Die einzigen Informationen, die einen gewissen Aussagewert für die gesellschaftliche Stellung der Eltern besitzen, sind die Angaben über die Erwerbstätigkeit der Eltern, d.h. in der Regel der Väter. Zwar kann aus diesen Angaben allein keine zuverlässige Zuordnung nach sozialen Schichten erfolgen 18 , das Überwiegen oder Fehlen einzelner Berufe oder Tätigkeiten könnte aber zumindest auf bestimmte Problemgruppen hinweisen.

16

17

18

Eine Zusammenfassung der mittlerweile "uferlos gewordenen" theoretischen Auseinandersetzung um Sinn und Gestalt solcher Schichtungsmodelle gibt ROECK, Augsburg, Bd. 1, 355ff. Umfassende Kritik daran übt FINZSCH, Obrigkeit und Unterschichten, 14f. Zur praktischen Anwendung vgl. ebd., 481-484; SACHSE, Göttingen, bes. 161ff.; WINNIGE, Krise und Aufschwung, 123-129. Zu den auf Max Weber zurückgehenden Schichtungskriterien vgl. ausführlich Erdmann WEYRAUCH, Über soziale Schichtung, in: Ingrid BATORI (Hg.), Städtische Gesellschaft und Reformation ( = Spätmittelalter und Reformation; 12. Kleine Schriften; 2), Stuttgart 1980, 5-57, sowie ROECK, Augsburg, Bd., 1, 396. Die Bedeutung gesellschaftlicher Werturteile für die Erstellung der Kriterien hebt hervor FINZSCH, Obrigkeit und Unterschichten, 14. Die Schichtungsmodelle von SACHSE, Göttingen, und WINNIGE, Krise und Aufschwung, zeigen, daß Angehörige einzelner Berufe zu mehreren Schichten gehören konnten und in Ausnahmefällen in allen Schichten vertreten waren. Dennoch fließt das Kriterium 'Beruf teilweise in Schichtungsmodelle ein. SACHSE, Göttingen, 137.

318

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

Die Rechnungen des Einbecker Waisenhauses enthalten für über 200 von 303 eingetragenen Kindern Angaben über die (früheren) Tätigkeiten der Väter. Sieht man

von

allgemeinen

Angaben

wie

'Bürger'

ab,

bei

denen

es

sich

möglicherweise um in der Landwirtschaft tätige Stadtbewohner, sogenannte Ackerbürger, gehandelt haben mag, liegen über 180 auswertbare Berufsangaben vor, die nach Identifizierung mehrerer Geschwister 175 verschiedenen Vätern zugeordnet werden konnten. Um die Auswertung der über 50 verschiedenen Bezeichnungen zu vereinfachen, wurden diese zunächst in vier Berufsgruppen aufgeteilt19.

Tabelle 12: Tätigkeiten der Väter von vollständig auf öffentliche Kosten versorgten Kindern (in Prozent, absolute Zahlen in Klammem) 1 |

1

1

Gesamt

1 | Einbeck

1 |

175

|Hannover

|

|Celle

|

104 60

|Moringen 1 |

15

1

|Moringen 2 |

53

1

| Hildesheim |

21

1

|Göttingen

11

1

|

1 1 1

Erläuterungen:

N

Militär 4« 6 (78) 31 7 (33) 53 3 (32)

1 | Handwerk

1 1 | Hilfstätigk. •ienstleist.{

| |

29 1 (51) 33 7 (35)

1 |

« 4 (34) 28 8 (30)

|

21 7 (13)

1 |

11 7 ( 7) (0 0 ( 9) 41 5 (22)

« 7 ( 4) | « 5 (22) | 2» 6 ( 6) !» 2 ( 2)

--

-

--

5 7 ( 3) | 57 1 (12) | 45 4 ( 5)

- Gesamtanzahl

der

1 1 1 1

f

9 S ( 2) 36 4 ( 4)

auswertbaren

9 (12)

|

5 8 ( 6) 13 3 ( 8) 13 3 ( 2)

|

11 3 ( 6) 4 8 ( 1)

|

| | |

"

Berufangaben;

Einbeck - Waisenhaus, Aufnahmen 1713-1759, 1792-1803; Hannover = Arbeitshaus, Konfirmationen 1789-1792, 1801, 1805, 1807; Celle = Waisenhaus, Aufnahmen

Aufnahmen 1746/47;

Ablehnungen

1746/47,

1696-1804;

Moringen 1799,

2

1806,

Moringen -

1

Waisenhaus,



Waisenhaus,

Aufnahmen

1807; Hildesheim

und

« Altstädter

Waisenhaus, Aufnahmen 1694-1726, 1744/45-1777/78; Göttingen - von der Armenkasse unterstützte,

bei

ihren Müttern

lebende

Kinder,

1788 Quellen: Einbeck: NHStA Hann. 72 Einbeck Nr. 766-777, NHStA Hann. 52 Nr. 2263, I-III, StAEin 2c Nr. 4a; Hannover: HM 27 (1789), 919926; HM 28 (1790), 743-746; NHM 1 (1791), 1027-1034; NHM 2 (1792), 1579-1582; NHM 11 (1801), 871-874; NHM 15 (1805), 453-458, NHM 17 (1807), 1505-1510; Celle: StACe 20 B Nr. 2, Bd. I-II; ebd., Nr. 47, 48, 49; StACe L 3 Nr. 23, 106, 201, 223, 224, 225, 227, 232, 233, 235; Moringen: NHStA Dep. 7b Nr. 288, 298, 300; Hildesheim: StAHi

Best.

100

Abt.

177

Nr.

7a,

IV-VI,

und

ebd.

Nr.

7b;

Göttingen: StAGö AA Wohlfahrt, Armensachen und Stiftungen Nr. 233

Die größte Gruppe bildeten aktive und ehemalige Militärangehörige, gefolgt von Handwerkern, Beschäftigten in minder qualifizierten Dienstleistungen, die hier im weiteren als Hilfstätigkeiten bezeichnet werden20, und schließlich den Ange-

19

20

Ein Beispiel für eine solche Klassifizierung, von der im einzelnen allerdings abgewichen wurde, findet sich in WELLENREUTHER (Hg.), Göttingen 1690-1755, 410-412. Tagelöhner, nichtzünftige Arbeiter, niedere öffentliche und private Dienste.

Die Entstehung elterlicher Versorgungsunfähigkeit

319

hörigen qualifizierter Dienstleistungsberufe 2 1 . Ähnlich war die Berufsgliederung bei den Vätern der im hannoverschen Arbeitshaus und im Celler Waisenhaus versorgten Kinder. Eine unterschiedliche Verteilung bestand dagegen anläßlich der Erstbelegung des Moringer Waisenhauses 1 7 4 6 / 4 7 : Dort hatten die meisten Väter Hilfstätigkeiten ausgeübt, gefolgt von Militär und Dienstleistungen. Berücksichtigt man jedoch die gleichzeitig abgelehnten Aufnahmegesuche sowie weitere Aufnahmen und Ablehnungen aus den Jahren 1799, 1806 und 1 8 0 7 , ergibt sich eine den oben genannten Ergebnissen ähnlichere Reihenfolge: Es führten Hilfstätigkeiten und Militär, gefolgt von Dienstleistungen und zuletzt dem Handwerk. Unter den wenigen Angaben, die aus dem Altstädter Waisenhaus in Hildesheim überliefert sind, überwog dagegen deutlich das Handwerk, während die Väter der Kinder, für deren Erziehung die Mütter 1788 in Göttingen eine monatliche Unterstützung bekamen, hauptsächlich im Handwerk und in den Hilfstätigkeiten beschäftigt waren. Die Gründe für die ungleiche Verteilung sind vielschichtig und hängen sowohl mit der beruflichen Gliederung der Gesamtbevölkerung als auch mit spezifischen Auswahlkriterien der einzelnen Institutionen zusammen. Die relativ meisten Kinder stammten von Militärangehörigen. In den Waisenhäusern von Einbeck und Celle stellten sie die größte, im Arbeitshaus Hannover, in Moringen und Hildesheim immerhin die zweitgrößte Gruppe. Der etwas geringere Anteil in Hildesheim läßt sich damit erklären, daß es dort nur wenig Militär gab 2 2 , während in Moringen vor allem die restriktiven Aufnahmebedingungen dafür verantwortlich waren, wie die Hinzuziehung der abgelehnten Gesuche bezeugt. Ähnlich ist der geringe Anteil von Militärkindern in Göttingen zu erklären: Die Stadt besaß zwar sehr wohl eine größere Garnison, das Armenkollegium fühlte sich aber für Militärangehörige erst in zweiter Linie verantwortlich 2 3 . Der insgesamt beachtliche Anteil von Soldatenkindern an der öffentlichen Fürsorge ist jedoch bemerkenswert und läßt eine eingehendere Beschäftigung mit den Lebensbedingungen des Militärs an späterer Stelle geraten erscheinen. Zunächst aber sollen die übrigen Tätigkeiten weiter differenziert werden. Am zweithäufigsten war in Einbeck, Celle, Hannover, Hildesheim und Göttingen das Handwerk vertreten. An dritter Stelle folgten insgesamt die Hilfstätigkeiten, an letzter Stelle die qualifizierten Dienstleistungen. Die unterschiedliche lokale Verteilung ist zu einem gewissen Grad wiederum mit den Standorten und den besonderen Zielsetzungen dieser Anstalten zu erklären. W o , wie in Hannover, Hildes-

21

22 23

Dazu wurden alle geistigen Tätigkeiten, die mittleren und höheren öffentlichen Dienste sowie der Handel gerechnet. Vgl. dazu Kap. I, Abschnitt 3. Zu Größe der Garnison vgl. Kap. I, Abschnitt 3, zur Ablehnung von Soldatenkindern durch die Armenkasse Kap. IV, Abschnitt S.l.

320

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

heim oder Göttingen, die städtischen Magistrate an der Verwaltung einer Fürsorgeeinrichtung beteiligt waren oder sie gar vollständig finanzierten,

wurden

Kinder aus dem städtischen Handwerk oft bevorzugt. In Moringen indes sollten vor allem Bestimmung

Kinder vom der

Land aufgenommen

sozialen

Herkunft

werden 24 .

unversorgter

Für eine

Kinder

genauere

müssen

die

Berufsangaben weiter aufgeschlüsselt und mit der Gesamtbevölkerung verglichen werden. Dafür wurden wiederum die Angaben aus Einbeck gewählt, die nicht nur die dichteste Überlieferung aufweisen, sondern auch in der relativen Verteilung nach Berufsgruppen ungefähr dem Gesamtergebnis aller Anstalten entsprechen.

Tabelle 13: Tätigkeiten von Vätern der Kinder im Einbecker Waisenhaus

(ohne

Militär)

Waisenhaus Einbeck | Berufsgruppe

Anzahl

in V

1 |

Vergleiche zahlen

| Göttingen 1689 in i |

| Hilfetätigkeiten

34

|

35, 0

1

16-3

| Textil- und Bekleidungsgewerbe

30

|

30,1

1

22,6

| Dienstleistungen

12

|

12,4

1

2

| Holz-, Metall-, Bauhandwerk

11

1

11,3

1

15

| lederverarbeitendes Gewerbe

8

1

8,2

1

13,0

| Nahrungsgewerbe «

2

1 1

2,1

1

11,5

Quelle: NHStA Hann 52 Nr.

2263,

Calenberg-Göttingen

| 1

-3

1 | |

i

i

1-3; ebd. Hann 72 Einbeck Nr.

und

1

l-°

777; StAEin 2 c Nr. 4a. Für Göttingen: Die KopfBteuerbeBchreibung Fstm.

1 |

Grubenhagen

von

766der 1689

( = Veröffentlichungen der hiatorischen Kommission für Niedereachsen), Teil 8, Hannover

196S2S

Mehr als die Hälfte der Handwerker (gleichzeitig ein knappes Drittel aller Väter) waren im Textilgewerbe tätig. Vergleicht man die Einbecker Berufsverteilung mit derjenigen Göttingens im Jahr 1689 - dessen Wirtschaftsstruktur vor der Universitätsgründung derjenigen von Einbeck nicht unähnlich gewesen sein dürfte 26 24 25

26

Vgl. Kap. V, Abschnitt 2.1. Die Angaben stützen sich auf die Auswertung der Kopfsteuerbeschreibung bei WINNIGE, Krise und Aufschwung. Während Winnige selbst seine Prozentangaben auf die Gesamtheit aller Haushalte bezieht, erschien es hier sinnvoll, parallel zu der Auswertung der Einbecker Register eine Umrechnung auf die Gesamtzahl der ermittelten Berufe vorzunehmen, was durch die freundliche Überlassung des Datenmaterials ermöglicht wurde. Die Prozentangaben wurden errechnet auf der Grundlage von 563 ermittelten Berufen (von insgesamt 801 Haushaltsvorständen wurden 190 Fülle, in denen keine Angaben vorliegen, abgezogen, außerdem drei nicht näher bezeichnete Bürger und 45 Arme bzw. Erwerbsunfähige). Die verbleibenden Angaben wurden wie folgt zugeordnet: Textil- und Bekleidung 127, Dienstleistungsbereich 118, Hilfetätigkeiten 92, Leder 73, Nahrung 65, übrige Handwerke 86, keine Zuordnung ("Handwerksmeister") 2. Vgl. auch KAUFHOLD, Handwerk, 20, der für Hildesheim 1811 ähnliche Verhältnisse festgestellt hat. Göttingen war 1689 ebenso wie Einbeck eine kleinere Landstadt, die von Landwirtschaft, Handwerk und Textilproduktion geprägt war. Beide waren zudem Garnisonstädte. Zu Göttingen vgl. SACHSE, Göttingen, 58; WINNIGE, Krise und Aufschwung, passim; zur Garnison

Die Entstehung elterlicher Versorgungsunfähigkeit

321

ergibt sich eine merkliche Überrepräsentierung des Textil- und Bekleidungsgewerbes 27 . Kinder aus anderen Handwerksberufen waren unter den Vätern der Einbecker Waisenkinder dagegen vergleichsweise selten anzutreffen; besonders auffällig ist die geringe Präsenz des Nahrungsgewerbes. Ebenfalls unterrepräsentiert waren in Einbeck Väter aus Dienstleistungsberufen, während die ungelernten Hilfstätigkeiten überproportional stark vertreten waren. Zwar vergrößerte sich die Zahl ungelernter Arbeitskräfte wie Tagelöhner oder Manufakturarbeiter im 18. Jahrhundert, doch auch 1763 gingen in Göttingen, das durch den Aufschwung im Gefolge der Universitätsgründung in dieser Hinsicht eine grundlegendere Veränderung erlebt haben dürfte als Einbeck, nur 18,6 Prozent der Haushaltsvorstände minderqualifizierten Hilfstätigkeiten nach 28 . Auch im hannoverschen Arbeitshaus waren Kinder von Vätern, die Hilfstätigkeiten ausübten, um 1800 wahrscheinlich überrepräsentiert: Unter 71 nichtmilitärischen Berufen überwogen die Hilfstätigkeiten mit 30, gefolgt von den verschiedenen Handwerken (19), dem Textil- und Bekleidungsgewerbe (10), den Dienstleistungen (6) und zuletzt dem Leder- und Nahrungsgewerbe (je 3). Genauere Vergleichszahlen über die Berufsgliederung der hannoverschen Bevölkerung liegen allerdings nicht vor. Mit der überproportionalen Vertretung von Textilgewerbe und Hilfstätigkeiten korrespondiert die beinahe vollständige Abwesenheit anderer, einkommensstärkerer Berufsgruppen unter den Eltern unversorgter Kinder. So fehlt in der Kategorie 'Dienstleistungen' völlig der Handel, obwohl dieser z.B. in Göttingen einen starken Anteil innerhalb dieser Gruppe hatte 29 . Ebenfalls auffällig ist, daß sich unter den Vätern öffentlich versorgter Kinder nur vereinzelte Angehörige der traditionell einträglichen Handwerksberufe Bäcker und Fleischer befanden 30 , die ihren Angehörigen meist einen Platz in der Oberschicht sicherten 31 . Vor allem

27

28

29 30

31

PRÖVE, Stehendes Heer, bes. 256ff. Zu Einbeck siehe BURSCHEL, Erstarrung und Wandel, 198f.; HÜLSE, Vom Dreißigjährigen Krieg, 249-252. 1763, nachdem sich die Wirtschaftsstruktur Göttingens durch die Universitätsgründung von 1734/37 stark zugunsten des tertiären Sektors verändert hatte, lag der Anteil des Textilgewerbes in Göttingen noch bei 15,4 Prozent, nicht eingerechnet die unzünftigen Textil- und Heimarbeiter (errechnet nach SACHSE, Göttingen, 280-284). Sachse führt die "Berufe" von 1469 Haushaltsvorständen an. Für die Umrechnung wurden davon 65 Personen, die von Pensionen, Mieten oder Armengeld lebten, zwei aktive und 30 pensionierte Militärangehörige sowie ein "Fremder" abgezogen, was eine Berechnungsgrundlage von 1371 ermittelten Tätigkeiten ergibt. Im Textil- und Bekleidungsgewerbe arbeiteten 211 Haushaltsvorstände. 255 bzw. 386 Haushalte. SACHSE, Göttingen, 280-84. Selbst unter Einrechnung der wahrscheinlich häufig weiblichen Haushaltsvorstände, die sich ihren Unterhalt mit Nähen und Stricken verdienten, überschritt dieser Anteil nicht 28,2 Prozent. Vgl. dazu WINNIGE, Krise und Aufschwung, 116 Tabelle II. 15 und 118 Tabelle II. 16. In Einbeck waren weder Bäcker noch Fleischer vertreten, in Hannover zwei Bäcker, in Göttingen, Hildesheim und Moringen je ein Bäcker und in Hildesheim ein Fleischer. Vgl. SACHSE, Göttingen, 166; zur Verbreitung dieser Handwerke in Göttingen 1763 ebd., 156. Auch in Hildesheim zählten Bäcker 1811 zu den vermögendsten Handwerkern. KAUFHOLD, Handwerk, 265.

322

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

Kinder aus ländlichen Gegenden gehörten beinahe ausnahmslos den ärmeren, unterbäuerlichen Schichten an32. Trotzdem entstammten unversorgte Kinder keineswegs ausschließlich den Unterschichten. Vielmehr waren durchaus auch Kinder aus der selbständigen städtischen Mittelschicht, dem Handwerk, von mangelnder Versorgung betroffen33. Einzelne Väter wie der Superintendent von Wildeshausen, dessen beide Kinder 1745 im Einbecker Waisenhaus aufgenommen wurden, dürfen wohl gar der Oberschicht zugerechnet werden34. Insgesamt deutet das Übergewicht einkommensschwacher Erwerbszweige wie den ungelernten Hilfstätigkeiten und dem Textilgewerbe aber darauf hin, daß Kinder aus den Unterschichten - und hier wiederum vornehmlich aus dem städtischen Bereich - sowie die Kinder von Militärangehörigen überproportional häufig auf öffentliche Unterstützung angewiesen waren. Die unterschiedlichen Tätigkeitsangaben der Väter lassen freilich vermuten, daß die Kinder je nach ihrer sozialen Stellung aus ganz unterschiedlichen Gründen der öffentlichen Versorgung anheimfielen. Um diesen Möglichkeiten nachzugehen, müssen daher die quantifizierenden Auswertungen stärker differenziert und durch individuelle Fallgeschichten ergänzt werden.

1.2.

Plötzlicher Versorgungsausfall und langsamer ökonomischer Niedergang: die Folgen von Todesfällen in der Familie Tod beider Eltern - ökonomische Auswirkungen beim Tod des Ernährers - Lebensbedingungen von Witwen und Witwern

Der frühzeitige Tod eines oder beider Eiternteile war unzweifelhaft eine der häufigsten Gefährdungen elterlicher Kinderversorgung. Daß Ehen häufig vorzeitig, d.h. bevor das jüngste Kind das Erwachsenenalter erreicht hatte, durch den Tod aufgelöst wurden, belegen neben der Auswertung der Waisenhausrechnungen auch mehrere demographische Studien35. Ein Bericht aus dem Ort Obernjesa bei Göttingen illustriert diese Beobachtung: 1820 hatten insgesamt 34 Kinder (aus 21

32

33

34 35

Kinder von Bauern waren in den ausgewerteten Waisenhausregistern so gut wie nicht vertreten und spielten auch in den entsprechenden Ämterakten kaum eine Rolle. Allein in Moringen wurde ein Kötter als Vater geführt, ein Kuhhirt und ein Tagelöhner waren ehemals Landwirte gewesen und unterdessen verarmt. Handwerkerhaushalte stellten in Göttingen 1763 "in der Mittelschicht eindeutig das Kernstück" dar. SACHSE, Göttingen, 165. So rechnet auch SACHSE, Göttingen, 166, den Göttinger Superintendenten zur Oberschicht. John KNODEL, Demographic Behaviour in the Past. A study of Fourteen German Village Populations in the Eighteenth and Nineteenth Centuries ( = Cambridge Studies in Population, Economy and Society in Past Time; 6), Cambridge/MA 1988, 153-184, bes. 158; Arthur E. IMHOF, Unsere Lebensuhr. Phasenverschiebungen im Verlaufe der Neuzeit, in: BORSCHEID/TEUTEBERG (Hgg.), Ehe, Liebe, Tod, 170-198, hier 175.

Die Entstehung elterlicher Versorgungsuniähigkeit

323

Familien) einen oder beide Elternteile verloren 3 6 , was etwa einem Drittel aller Kinder des Ortes entsprochen haben dürfte 37 . In den Quellen der Armenpflege wird der Tod der Eltern meist nur lakonisch erwähnt; vereinzelte Hinweise künden von der generellen Unsicherheit des Lebens in der frühen Neuzeit 3 8 , von epidemischen Krankheiten 39 , tödlichen Arbeitsunfällen 4 0 , der Unzulänglichkeit der Medizin und Gewalt 4 1 . Andere Fälle erinnern daran, daß für Frauen zusätzlich das Risiko bestand, bei der Geburt selbst oder an ihren Folgen zu sterben 42 . Auch wenn der Tod durch ansteckende Krankheiten prinzipiell Schichten vorkam und das "Leben ( . . . ) für alle unsicher"

43

in allen

war, hatte die öko-

nomische Situation der Verstorbenen doch sehr unterschiedliche Auswirkungen auf das Schicksal der Hinterbliebenen. Völlig mittellos waren solche Kinder, deren Eltern zu Lebzeiten schon arm gewesen waren. Dazu zählten von den in Mo36 37

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KKAGö Pferrarchiv Obernjesa A Nr. 363, undatiert. Bei einem Kinderanteil von ca. einem Drittel an der Gesamtbevölkerung und 326 Einwohnern in Obernjesa (1812). HASSEL, Repertorium, 82. Vgl. dazu die Einleitung bei Arthur E. IMHOF, Lebenserwartungen in Deutschland vom 17. bis 19. Jahrhundert, Weinheim 1990, bes. 21-24, und ders., Lebensuhr, passim. Siehe dazu allgemein Manfred VASOLD, Pest, Not und schwere Plagen. Seuchen und Epidemien vom Mittelalter bis heute, München 1991, 160, 180-185. 1752 erlagen der roten Ruhr nacheinander die Eltern und weitere Verwandte eines Mädchens aus Peine. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 8, Schreiben des Peiner Bürgerboten vom 18.9.1752 (vorgelegt). 1772 "grassirten (...) die ansteckenden Kranckheiten" im hildesheimischen Amt Schladen. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9908, Bericht des Amtes vom 10.10.1774. Auf den Tod durch epidemische Krankheiten deutet auch das gleichzeitige Ableben beider Eltern. NHStA Hann. 93 Nr. 2631, Schreiben der Landesregierung vom 27.4.1746. StACe L 3 Nr. 201, Schreiben des Heinrich Sommer vom 14.9.1763 (Sommers Schwester und ihr Mann waren beide 1761 verstorben). Eine Obersicht Uber die in Göttingen während des 18. Jahrhunderts ausgebrochenen Epidemien gibt SACHSE, Göttingen, 95. Ein Soldat aus Celle z.B. ertrank 1724 bei der Arbeit an einem Steg. StACe L 3 Nr. 227, Schreiben der Landesregierung vom 30.6.1724. Weitere typische Berufsunfälle von Soldaten berichtet PRÖVE, Stehendes Heer, 189. Der Sattler Lutze aus Celle hatte 1698 einen alten Bruchschaden von einem reisenden 'Bruchschneider' beheben lassen wollen; dann aber war "solche Cure dahin gelanget, daß ermelter [Lutze] sein Lebent einbüßen müßen" und eine Witwe mit vier kleinen Kindern zurückließ. StACe 20 B Nr. 2, I, Schreiben der Witwe Lutze vom 14.1.1699. Eine schwangere Frau in Göttingen verlor ihren Mann, weil dieser von einem Studenten erstochen wurde. StAGö AA Wohlfahrt Armensachen und Stiftungen Nr. 0, Schreiben der Witwe Kasten vom 27.2.1736. Vgl. zur Müttersterblichkeit KNODEL, Demographie Behaviour, 102-115. Ein Beispiel befindet sich in StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 8, undatiert (ca. 1755): Der Schreiber konnte, nachdem seine Frau im Kindbett gestorben war, seine beiden älteren Kinder nicht mehr ernähren, weil der Lohn für die Amme seinen gesamten Verdienst verschlang. Ein weiteres Beispiel ist der am 22.4.1746 in Moringen aufgenommene Johann Christian Wellmann. NHStA Dep. 7b Nr. 288. Vgl. auch WUNDER, Frauen, 156ff. IMHOF, Lebenserwartungen, 22. Vgl. auch ders., Lebensuhr, 185. Soziale Ungleichheit in der Mortalität beschränkte sich in der vorindustriellen Zeit nahezu ausschließlich auf die Kindersterblichkeit. Vgl. dazu Helga SCHULTZ, Social Differences in Mortality in the Eighteenth Century. An Analysis of Berlin Church Registers, in: International Review of Social History 36 (1991), 232-248, bes. 248. Belege für soziale Unterschiede in der Mortalität im späten 19. Jahrhundert liefert Reinhard SPREE, Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod. Zur Sozialgeschichte des Gesundheitsbereichs im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1981.

324

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

ringen 1746 aufgenommenen Kindern der Sohn eines "bettelarmen" Mannes, zwei Mädchen, deren Eltern beide als Tagelöhner gearbeitet hatten, und ein Geschwisterpaar, dessen Eltern vom Gänsehüten gelebt hatten. Ein Inventar aus dem hildesheimischen Amt Liebenburg von 1758 zeigt, wie wenig beim Tod besitzloser Eltern, in diesem Fall armer Häuslinge, zur Versorgung des Kindes übrigblieb. Der ganze Nachlaß, bestehend aus Hausrat - darunter ein Kessel, eine Pfanne und ein altes Butterfaß -, etwas Kleidung sowie einer Halleschen Bibel und einem Gebetbuch, wurde auf 28 Rtlr. 18 Gr. und 4 Pf. geschätzt44. Selbst wenn davon nicht die Hausmiete und verschiedene Gläubiger hätten bezahlt werden müssen, hätte das vierjährige Kind mit dieser Summe allenfalls zwei Jahre unterhalten werden können 45 . Als die Leitung des Hildesheimer Waisenhauses verlangte, daß zwei Kinder eigene Betten mitbringen sollten, erklärten die Vormünder, die verstorbenen Eltern hätten weder Betten noch Geld dafür hinterlassen 46 . Als krasseste Form des Versorgungsausfalls gefährdete der Tod beider Eltern vermutlich auch Kinder aus ansonsten subsistenzfahigen Familien. In den Quellen jedenfalls wurde die soziale Herkunft von Vollwaisen nur sehr selten vermerkt - wahrscheinlich stand die Versorgungslosigkeit der Kinder in den meisten dieser Fälle ohnehin außer Frage. Allerdings war die Versorgung des Kindes bereits beim Tod eines Elternteils, vor allem des Ernährers, nachhaltig gefährdet. Zwar blieben nach dem Tod eines Ehepartners die Kinder in der Regel bei dem überlebenden Elternteil 47 , gerade Witwen waren aber mit der Versorgung der Kinder oft überlastet. So hatten von den 140 Waisen in Einbeck nur 26 Kinder beide Eltern verloren, bei 113 Kindern war der Vater und bei einem die Mutter verstorben. »Auch bei den Kindern des hannoverschen Arbeitshauses handelte es sich in der Mehrzahl wahrscheinlich um Halbwaisen 48 . Von den 1746 in Moringen aufgenommenen Kindern hatten 13 beide Eltern, acht den Vater und vier die Mutter verloren. Die wirtschaftliche Stellung von Witwen war freilich wiederum entsprechend der Erwerbstätigkeit des Mannes sehr unterschiedlich49. In Göttingen gehörten 1689 etwa gleichviele 44 45 46 47

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NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9907, Juni 1758. Zur Höhe der Pflegesätze vgl. Kap. IV, Abschnitt 2.2. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 8, undatiert (um 1700). Vgl. SCHLUMBOHM, Familie, 143. Von den oben genannten Kindern in Obernjesa lebten die meisten bei ihren Müttern, einige auch bei den wiederverheirateten Eltern. Wieviele der Witwen Armengeld erhielten, ist unbekannt. KKAGö Pfarrarchiv Obernjesa A Nr. 363, undatiert. Der Umstand, daß beide Eltern verstorben waren, wurde nur in den ersten beiden Listen von 1789 und 1790 erwähnt. Dort standen sieben Vollwaisen 13 Halbwaisen gegenüber. Eine zusammenfassende Darstellung der Lage von Witwen gibt WUNDER, Frauen, 180-188. Ausführlich beschäftigen sich damit Bridget HILL, Women, Work, and Sexual Politics in Eighteenth-Century England, Oxford 1989, 240-258; Patrice BOURDELAIS, Femmes isolées en France XVIIe-XXe siècles, in: Ariette FARGE und Christiane KLAPISCH-ZUBER (Hg.), Madame ou Mademoiselle? Itinéraires de la solitude féminine, XVIIIe-XXe siècle, Mayenne

Die Entstehung elterlicher Versorgungsunfähigkeit

325

Witwen zur Unter- und Mittelschicht; im Vergleich zur Gesamtbevölkerung allerdings standen sich Witwen deutlich schlechter, was auf einen ökonomischen Abstieg nach dem Tod des Mannes hinweist50. Vor allem ein langfristiges Witwendasein bedeutete oft eine sichtliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage 51 , was die Klage der Witwe eines Hildesheimer Lohmüllers, die seit vier Jahren allein für zwei Kinder sorgen mußte, verständlich macht: "Doch ich fange an, die Wahrheit des Sprichwortes zu erfahren, daß die Länge der Zeit die Last erschwere" 52 . Besonders für Witwen aus der Unterschicht drohte durch den Tod des Mannes die endgültige Verarmung 53 . Viele dieser Frauen waren völlig mittellos. In den Einbecker Waisenhausbüchern wurden sechs Witwen ausdrücklich als arm bezeichnet. Sechs von 31 verstorbenen Handwerkern, deren Kinder in Einbeck aufgenommen wurden, waren bereits vor ihrem Tod arm gewesen, ebenso fünf 'Bürger', ein Verwalter und ein Salzburger Emigrant (1750) 54 . Besonders hart vom Tod des Ernährers waren auch Familien betroffen, die von den Einkünften des Mannes im Dienstleistungsbereich lebten und wahrscheinlich nur über wenig Eigentum verfügten 55 . Ein Rektor aus Neustadt und der ehemalige Kantor des Stiftes Wunstorf, von denen je ein Kind 1746 in Moringen aufgenommen wurde, waren bereits vor ihrem Tod verarmt. Auch der Schullehrer von Dehmke im Amt Aerzen hinterließ bei seinem Tod seine Witwe mit fünf Kindern "ohne alle Einnahme" 56 . Selbst für die Kinder eines gut verdienenden Beamten konnte der Tod des Vaters das Ende der familialen Versorgung bedeuten: In Einbeck wurden 1745 zwei Kinder des Superintendenten von Wildeshausen aufgenommen, 1756 ein Pfarrerssohn, dessen Vater sich das Leben genommen hatte, und 1797 zwei Kinder eines verstorbenen Osteroder Notars. War dem Tod des Mannes eine län-

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51 52 53

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55

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1984, 61-74; sowie mehrere Beitrüge in Démographie historique et condition féminine ( = Annales de démographie historique 1981), Paris 1981. WINNIGE, Krise und Aufschwung, 138 Tabelle 11.23. 42,5 Prozent aller Witwen gehörten der Unterschicht, 43,3 Prozent der Mittelschicht an. In der Gesamtbevölkerung betrug der Anteil der Unterschicht dagegen nur 39,8 Prozent, deijenige der Mittelschicht SO,2 Prozent. Ebd. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 8, Schreiben der Witwe Rudolf vom 5.9.1766. Vgl. Angelika BAUMANN, "Armut muß verächtlich bleiben...". Verwaltete Armut und Lebenssituation verarmter Unterschichten um 1800 in Bayern, in: van DÜLMEN (Hg.), Kultur der einfachen Leute, 151-179, hier 158f. Zur Durchreise und Aufnahme der 1731 aus Salzburg ausgewiesenen Protestanten im südlichen Niedersachsen vgl. TITZ-MATUSZAK, Mobilität der Armut, 102-106. Ausdruck dieser Tatsache ist die Zielrichtung der "Ordnung der Witwenkasse für die weltliche Dienerschaft des Hochstifts Hildesheim* vom 24.3.1770. In der VorTede heißt es, "unter denen betrübten Zufällen, welche einer Familie oder Haushaltung begegnen können, [sei] einer der härtesten (...), wann der Mann oder Vater, mithin deijenige, von dessen Händen Frau und Kinder ihr tägliches Brod zu erwarten gehabt, ohne Hinterlassung einigen Vermögens, vom Tode hingerissen wird". HochfUrstlich-Hildesheimische LandesVerordnungen, Bd. 2, 141. NHStA Dep. 7b Nr. 300, Aufnahmen 1807.

326

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

gere Krankheit vorausgegangen, verschärfte dies die Lage. Zusätzlich zu dem schon länger dauernden Verdienstausfall hatte die Witwe eines Weißbinders in Hildesheim zur Bezahlung hoher Arzneikosten "vieles von dem Meinigen veräusern müssen" 57 und war daher nicht in der Lage, "ohne Unterstützung mich und meine drei Kinder bey der gegenwärtigen teuren Zeit (...) zu ernähren". Eine der wenigen Verdienstmöglichkeiten für alleinstehende Frauen, der auch mehrere verwitwete Mütter unversorgter Kinder nachgingen, war das Spinnen58. Die Mutter eines Kindes im Moringer Waisenhaus arbeitete als Tagelöhnerin 59 , eine andere Witwe im Amt Nienover konnte ihre sechs Kinder nur mit Hilfe des Verdienstes des ältesten Sohnes unterhalten. Als dieser heiratete und ihr daher kein Geld mehr geben konnte, sah sie sich zu einer weiteren Versorgung der Kinder nicht in der Lage. Der Amtmann bat daraufhin bei den Geheimen Räten um Aufnahme der zwei jüngsten Kinder in Einbeck oder Moringen 60 . In Hildesheim hatte eine Witwe schon Teile ihres Hausrates verkauft, weil sie mit täglich 9 Mgr., die ihr für Brot zur Verfügung standen, ihre vier Kinder nicht ernähren konnte 61 . Manchen Frauen blieb schließlich als letzter Ausweg nur das Betteln. Die Witwe des Hildesheimer Stadtkuhhirten hatte ebenso "den Bettel Orden angenommen" 62 wie eine Witwe aus Linden, die fünf Kinder zu versorgen hatte 63 . Aber auch für alleinstehende Väter bedeutete die Kinderversorgung eine große Belastung: Der Hufschmiedegeselle Koch in Hildesheim bat um die Aufnahme seines Kindes in das Altstädter Waisenhaus, da sein Lohn nur für ihn selbst reiche 64 , der Schneider Bleckmann war nach dem Tod seiner Frau lange Zeit krank gewesen, wodurch er die meisten seiner Kunden und damit die finanzielle Basis für die Ernährung seiner Kinder verloren hatte 65 . Der verwitwete Tagelöhner Hempel aus Weende, der vier Kinder zu versorgen hatte, verdiente nur 6 Mgr. am Tag, weshalb "er und seine Kinder, wie auch der Augenschein lehret, Hunger und Blöße leiden müssen, zumal da er oft in vielen Tagen gar keinen Verdienst hat" 66 . Allerdings sind Witwer als Eltern unversorgter Kinder weit seltener anzutreffen als Witwen, was darauf zurückzuführen ist, daß Männer im allgemeinen bessere Verdienstchancen hatten und sich in der Regel schneller und häufiger

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59 60 61 62 63 64 65 66

StAHi Best. 100 Abt. 177a Nr. 5, Schreiben der Witwe Siede vom 4.5.1801 (vorgelegt). NHStA Dep. 7b Nr. 288, abgelehntes Gesuch 1746, und Nr. 300, Aufnahme 1807. Vgl. dazu auch SACHSE, Göttingen, 281, und BAUMANN, Verwaltete Armut, 160. Beides NHStA Dep. 7b Nr. 288. Ebd., Schreiben der Landesregierung vom 18.4.1743. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 8, Schreiben der Witwe Seegers vom 16.2.1761. Ebd., Schreiben vom 11.7.1766. NHStA Dep. 7b Nr. 300. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 6, Schreiben Kochs vom 16.2.1761 (vorgelegt) Ebd., Abt. 177a Nr. 10, Schreiben Bleckmanns vom 29.11.1791. NHStA Dep. 7b Nr. 300, Aufnahmen 1806.

Die Entstehung elterlicher Versorgungsunfähigkeit

327

wiederverheiraten konnten 67 . Neben dem Tod eines Elternteils bestanden jedoch zahlreiche weitere Gefährdungen der elterlichen Kinderversorgung.

1.3.

Armut und Not: Zerreißprobe für die Familie Armut - Bruch der Familie durch Fortgang eines Elternteils - Delinquenz - Alkohol

Wirtschaftliche Not kennzeichnete nicht allein die Lebenssituation zahlreicher Witwen, sondern war überhaupt eine der wichtigsten Ursachen elterlicher Versorgungsunfähigkeit. Armengeld für bedürftige und kinderreiche Familien zeugt ebenso von den materiellen Belastungen durch die Kinderversorgung wie die große Zahl von Kindern armer Eltern in Waisenhäusern. Unter den Aufnahmebegründungen der Kinder im Einbecker Waisenhaus folgte die wirtschaftliche Not vieler Familien an zweiter Stelle nach dem Tod eines Elternteils, jedoch noch vor dem Tod beider Eltern. Von den aufgenommenen Kindern waren bei mindestens 101 (32,8 Prozent) beide Eltern am Leben. Darunter waren 18 Kinder, deren Eltern, und weitere zwölf, deren Väter ohne Angabe näherer Berufsangaben als arm bezeichnet wurden. 1736 wurden vier Geschwister aufgenommen, deren Vater zu den emigrierten Berchtesgadener Protestanten gehörte 68 . Von den übrigen konnten nach Abzug von zwei fehlenden Angaben und fünf Doppelnennungen bei Geschwisterpaaren die Tätigkeiten von 60 Vätern festgestellt werden. Läßt man vorerst die Militärangehörigen beiseite, die unter den materiell nicht versorgungsfähigen Eltern überproportional stark vertreten waren, so bleibt die Verteilung der Berufsgruppen weitgehend unverändert 69 . Interessant ist jedoch, daß von 16 verarmten Handwerkern allein zehn (62,5 Prozent) im Textilgewerbe tätig waren Hinweis auf die nicht nur in Einbeck virulente Krise des Textilhandwerks 70 . Auch bei den übrigen Handwerkern - je ein Müller, Branntweinbrenner, Tischler, Zimmermann, Schuster - wurde mit einer Ausnahme explizit Verarmung als 67

68

69

70

Vgl. KNODEL, Demographic Bebaviour, 165: Innerhalb eines Jahres lag die Wiederverheiratungsquote bei Minnern zwei- bis dreimal, nach zehn Jahren noch annähernd doppelt so hoch wie bei Frauen. In Reims war der Bevölkerungsanteil von Witwen mehr als doppelt so hoch wie der von Witwern. Antoinette FAUVE-CHAMOUX, La femme seule, une réalité urbaine: l'exemple de Reims au début du XIXe siècle, in: Mémoires de la société d'agriculture, commerce, sciences et art du département de la Marne SI (1986), 295-305, hier 296. Vgl. weiter BREIT, "Leichtfertigkeit", 67; BOURDELAIS, Femmes isolées, 63, der sich allerdings auf Zahlen aus dem Jahr 1851 stützt; schließlich auch WUNDER, Frauen, 180f. Ein großer Teil der 1733 aus Berchtesgaden vertriebenen Protestanten fend Aufnahme im Kurfürstentum Hannover. Fritz KLEIN, Die Einwanderung der "Berchtoldsgadener Exulanten" in Kurhannover 1733, in: Hannoversche Geschichtsblätter N.F. 34 (1980), 159-174, bes. 168ff.; TITZ-MATUSZAK, Mobilität der Armut, 106-108. Handwerk 26,7 Prozent (insgesamt 29,1), Hilfetätigkeiten 16,6 Prozent (insgesamt 19,4), Dienstleistungen 5 Prozent (insgesamt 6,9). BURSCHEL, Erstarrung und Wandel, 199. Zum Göttinger Textilhandwerk vgl. BRÜCKNER u.a., Vom Fremden zum Bürger, 149ff.

328

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

Grund für die Versorgungsunfahigkeit angegeben. Die Angehörigen der übrigen Erwerbsgruppen wurden teilweise ebenfalls als arm bezeichnet, ein Tagelöhner war zudem "lahm", ein Schäfer "arm und sehr alt". Krankheiten und körperliche Gebrechen spielten eine wichtige Rolle für die Versorgungsunfahigkeit, sie konnten Ausgangspunkt für Arbeitsunfähigkeit und Verarmung sein oder diese weiter verschärfen. Immer wieder ist in Gesuchen, die um finanzielle Unterstützung oder Aufnahme eines Kindes in eine Anstalt baten, von Krankheiten die Rede, von Blutstürzen und Fieberanfällen 71 , Gicht72 und Lähmungen. 73 Die Eindringlichkeit einer durch Krankheit hervorgerufenen Notlage schilderte Johann Ernst Bodenberg aus der Burgvogtei Celle 1695. Seine Frau sei so krank, "daß sich die Leute vor ihr scheuen und meine Wirtin sie nicht mehr im Hause dulden will, auch des wegen mir schon das Zeug auff die Gaße geworffen, ja gar Hand an mich geleget daß ich ihr Hauß räumen soll" 74 . Ebenso wie Krankheiten und Gebrechen der Eltern erschwerten auch Behinderungen der Kinder die Versorgung mitunter erheblich, da die Kinder nicht zum Unterhalt der Familie beitragen konnten und zudem oft besondere Pflege beanspruchten. Der Häusler Henning Michaels in Dorfmark (Amt Fallingbostel) erhielt 1674 Unterstützung für seine beiden Töchter, da die Ältere "verwirrt" und die Jüngere "contract" 75 , also verkrümmt oder gelähmt war. Eine Witwe in Hildesheim hatte ihre zwei Kinder drei Jahre lang ernähren können, bis das eine "lahm" wurde und so die Versorgung erschwerte, weshalb sie das andere Kind gern ins Waisenhaus geben wollte 76 . In Göttingen bat 1724 ein Ehepaar um die Aufnahme seines Sohnes in das Spital St. Crucis, weil der Junge "mit einer handt zur Welt gebohren worden, alßo, daß er nicht capable werden kann, sein stückgen Brots Ehrlich zu verdienen" 77 . Drei von zehn Kindern, die 1759 in der Göttinger 'Armenrolle' geführt wurden, waren krank, lahm oder gebrechlich 78 , 71

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73

74 75 76 77

78

StAHi Best. 100 Abt. 177a Nr. 5, Schreiben der Witwe Brinckmann vom 1.11.1802 (vorgelegt). Ebd., Abt. 177 Nr. 8, Schreiben der Frau des Conrad Daniel Ritter vom 19.5.1760 und Schreiben der ältesten Tochter des Stadtsoldaten Ackermann vom 5. 12.1763. Ein gewisser Krüger aus dem Klosteramt Loccum, der selbst einen schweren Beinschaden und zudem eine seit langen Jahren kranke Frau hatte, war in einen Garten nach Hannover gezogen, da er sich in Loccum vom Tagelohn nicht mehr ernähren konnte. NHStA Oep. 7b Nr. 288, Schreiben des Loccumer Abtes vom 14.3.1746. Ein ehemaliger Ackerknecht aus Hachmühlen war "völlig gelähmt", seine Frau krank. NHStA Dep. 7b Nr. 300, Aufnahmen 1805. NHStA Celle Br. 61a Nr. 2936, 1695. Ebd. Nr. 4263. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 8, Schreiben der Witwe Jordan vom 18.9.1767. StAGö AA Klostersachen St. Crucis Nr. 40, Schreiben des Johann Dietrich Müller vom 21.9.1724. StAGö AA Wohlfahrt Annensachen und Stiftungen Nr. 3, Annenrolle vom 4.10.1759.

Die Entstehung elterlicher Versorgungsunfähigkei t

329

ebenso wie drei elternlose Kinder, die 1788 in Göttingen in Kost gegeben wurden 79 . Materielle Not und die Auflösung der für die Kinderversorgung so wichtigen Familie standen in einer engen Wechselbeziehung. Ebenso wie das Auseinanderfallen der Familie durch den Tod eines Elternteils oft den ökonomischen Abstieg oder gar die völlige Verarmung nach sich zog, folgte auf ökonomische Krisen häufig der Zerfall der familialen Bindungen80. Bei der Beschäftigung mit der Aussetzung älterer Kinder wurde bereits deutlich, daß familiale Bindungen oftmals ausgesprochen brüchig waren und dem Druck materieller Krisen oder anderer Konflikte nicht standhielten81. Die Anzeichen für eine solche Unbeständigkeit der Familie sind zahlreich, wenn es auch nicht immer zu einer aufsehenerregenden Zurücklassung des Kindes kam. Im Einbecker Waisenhaus wurden neun Kinder aufgenommen, deren Väter ihre Familie verlassen hatten, darunter ein "armutshalber entwichener" Schuster (1794), von dessen Kindern sogar zwei im Waisenhaus versorgt werden mußten. Im Jahr 1800 wurde ein neunjähriges Mädchen aufgenommen, dessen Eltern beide fortgegangen waren. Grund für das Verlassen der Familie waren akute Notlagen oder aber Hoffnungen auf einen neuen Anfang und eine bessere Zukunft. Ein Schumacher aus Hildesheim verließ seine Familie in den 1750er Jahren, um nach Ostindien zu gehen 82 . Ein gewisser Christoph Kulp hatte seine "ungesunde, lahme Frau mit 4 unglücklichen unerzogenen Kindern" zurückgelassen und war, so das Amt Hardegsen am 3. März 1806, "vor länger als einem Jahre mit eines ander [sie!] Frau von da entwichen, nachdem er alle das seinige verkauft und das Geld dafür zu sich genommen hatte, und (...) dem verlaute nach, nach America gegangen" 83 . Wirtschaftliche Not, Tod und der Zerfall der Familie trafen immer wieder zusammen: Im Amt Bokeloh blieben drei Kinder im Alter zwischen einem und fünf Jahren unversorgt zurück, nachdem ihre Mutter verstorben war. Diese hatte "eine auf sie vererbete herrschaftl. brinksitzerey alhier bis zu ihrem Absterben cultiviret." Nach ihrem Tode war "es bey dem verschuldeten Zustande des kleinen Wesens in der zügellosen Lebens Art des Mannes erforderlich geworden nach gehörig geschehener Convocation der Gläubiger, sämtliche bewegliche fehrniß öffentlich zum besten der Gläubiger zu verkaufen." Der Mann, ein ehemaliger 'Fourier' (Unteroffzier), hatte "sich seit einem Viertel jähre wegbegeben, um angeblich in Holland oder zur See sein brod zu verdienen" 84 . Als nach dem Tod des 79 80 81 82

83 84

Ebd. Nr. 233. Vgl. weitere Beispiele bei KAPPL, Not, 104ff. Vgl. dazu Kap. III, Abschnitt 3.3. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 8, Schreiben der Frau des Conrad Daniel Ritter vom 19.5.1760. NHStA Dep. 7b Nr. 300. NHStA Hann. 93 Nr. 2916, fol. 238f., Schreiben des Amtes Bokeloh vom 7.6.1791.

330

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

Krügers von Edesheim im Amt Brunstein sein Vermögen im Konkurs aufging, setzte die Witwe sich ab und hinterließ drei unmündige Töchter 85 . Einzelne Fälle zeigen immer neue Variationen von Unglück und Not, die zur Auflösung der Familie führten. Ein gewisser Karl Geissei, der 1804 einen Gasthof am Rehburger Gesundbrunnen gepachtet hatte, konnte bald darauf seine hohen Kredite nicht zurückzahlen, weil die Gäste ausblieben und "er selbst, Frau und Kinder oft krank waren, und seine Frau auch zweimal in Wochen kam". Zwei Jahre später wurde daher "Concurs gegen ihn erkannt, nachdem vorher schon seine Sachen sämtlich versiegelt worden [waren]. Bald [darauf] starb die Frau und hinterließ ihrem Mann vier unmündige Kinder, von welchem das älteste 7 Jahr, das jüngste aber 16 Wochen alt war." Wenig später wurde Geissei selbst verhaftet, "indem bei dem inventiren der Sachen sich ergab, daß er alle Siegel der Zimmer geöffnet und alle Sachen von einigem Werthe, j a auch alle gemiethete Sachen, unter anderem Silberzeug, eine große Menge Betten, Leinen und Drell versetzt" 86 hatte. Straffälligkeit eines oder gar beider Eiternteile bedeutete meist das Ende der familialen Kinderversorgung, sei es durch die Flucht der Eltern, sei es durch eine Todes- oder Haftstrafe87. In Celle verloren 1730 drei Kinder ihre Eltern, weil der Vater "wegen seiner liederlichen Aufführung heimlich ausgetreten, seine Frau aber wegen Colludirens mit denen hiesigen Soldaten in Hafft und Inquisition gerathen" 88 . In Moringen lebten 1793 zwei Kinder völlig hilflos, da der Vater die Familie schon vor einigen Jahren verlassen hatte und nun die Mutter "wegen grober betrügerei" ins Gefängnis gebracht worden war 89 . Neben einigen spektakulären Verbrechen wie Gattenmord90 und Landesverrat91 waren es fast immer Eigentumsdelikte und sittliche Vergehen 92 , die zur Straffalligkeit führten. Ähnli85 86 87 88 89 90

91

92

NHStA Hann. 52 Nr. 1165, Schreiben des Northeimer Kantonsmaires vom 25.3.1809. NHStA Dep. 7b Nr. 300, fol. 17f., Schreiben des Drosten von Rehburg vom 26.1.1807. Vgl. KAPPL, Not, 105. NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Schreiben des Großvogtes vom 25.8.1730. Moringer Magistrats-Archiv Nr. 3048, Schreiben des Moringer Magistrates vom 19.12.1793. In Koldingen waren fünf Kinder plötzlich alleinstehend, da der Vater wegen des Verdachts, seine Frau ermordet zu haben, inhaftiert worden war. Zwei der Kinder wurden in die landschaftliche Waisenverpflegung aufgenommen. NHStA Dep. 7b Nr. 300, Aufnahmen 1806. In Einbeck wurde 1759 der Sohn eines von auswärts stammenden 'Exerzitienmeisters' aufgenommen, dessen Vater wegen Verrates inhaftiert worden war. Schon 1746 war in Einbeck ein anderer Junge aufgenommen worden, dessen Vater zu Gifhorn "justificirt" worden war. Die Einträge über Delinquentenkinder, die auf Kosten der kurfürstlichen Kammer und der Kämmerei der Altstadt Hannover unterstützt wurden, geben nur in wenigen Fällen die Vergehen der Eltern an. Nach den Kammerrechnungen waren die meisten Mütter wegen Kindsmord (3), Ehebruch (2) und Blutschande verurteilt worden, zwei Väter wegen Kirchendiebstahl und Falschmünzerei. NHStA Hann. 76c A Nr. 110-125 und 216-344. Für die Altstadt Hannover sind keine Delikte angegeben. StAH B Nr. 6617m-6746g. Nach den Aufnahmebüchem des Celler Zuchthauses jedoch, wohin vor allem die weiblichen Verurteilten häufig gebracht wurden, war Diebstahl vor Kindsmord und Sittendelikten das häufigste Vergehen. JVACe, Verzeichnis der Züchtlinge 1731-1778, 1778-1791, 1804-1812 und 1812-1821; NHStA Hann. 86

331

Die Entstehung elterlicher Versorgungsunfähigkeit

che Auswirkungen auf die familiale Kinderversorgung hatten auch andere Konflikte mit den Gesetzen wie die ordnungspolitische Verfolgung und Bestrafung von Bettlern und Vaganten. Die angeführten Gründe kindlicher Versorgungslosigkeit und das Elend der Kinder und Familien bleiben jedoch in den Quellen schematisch. Die Zuordnung der einzelnen Ursachen läßt die tägliche Lebenssituation außer acht. Nur selten tauchen einmal konkrete Eindrücke des Alltags auf, etwa wenn Kinder über den Alkoholmißbrauch

in

ihren

Familien

berichten.

Maria

Elisabeth

Garnes,

14jährige Tochter eines Zimmermanns, gab an, "Ihrer außage nach, were der Vater ein versoffenener Kerl, welcher seiner Handthierung nicht nachlebte, sondern mit Stühlebinden sich behülffe, und was er verdiente in brantewein wieder durch die Gürgel jagte" 9 3 . Der 1698 beim Betteln aufgegriffene Matthias Dannehl, jüngstes von sieben Kindern, sagte: "Wann er dann des Abents etwas gesammlet so were solches von seiner Mutter versoffen, hette er aber nichts eingebracht, so were er von derselben geprügelt worden" 94 . Anläßlich eines Gesuchs um Aufnahme von zwei der sechs Kinder einer Schneiderwitwe in das Moringer Waisenhaus schilderte der Amtsschreiber zu Rehburg 1794 deren Lage: "Die Mutter dieser sechs unmündigen Kinder vernachläßigt selbige, da sie dem hitzigen Geträncke ergeben, gäntzlich, indem sie ihnen nicht allein die Nahrung entzieht (...), sondern auch nicht den nöhtigen Unterricht in der Religion erteilen läßt" 95 . Diese Beispiele lassen ein wenig von der täglichen Not erahnen, in der viele Kinder aufwuchsen. Über das allgemeine Elend hinaus gab es aber noch weitere Faktoren, die die Kinderversorgung speziell für besondere Gruppen erschwerten.

1.4.

Kinderversorgung unter erschwerten Bedingungen: Soldatenfamilien und ledige Mütter Entlassene und aktive Soldaten - Invaliden - Soldatenfamilien und 'wilde Ehen' - Lebensbedingungen lediger Mütter - Zunahme unehelicher Geburten

Kinder von aktiven oder ehemaligen Militärangehörigen waren in der öffentlichen Kinderversorgung eindeutig überrepräsentiert. Dies galt nicht erst, seit zusätzliche Einrichtungen eigens für Soldatenkinder und -familien geschaffen wurden, sondern diese Kinder stellten auch in der kommunalen Armenpflege und in beinahe allen oben in Tabelle 12 aufgeführten Versorgungseinrichtungen ein

93 94 95

Celle Nr. 104, Verzeichnis der Züchtlinge 1791-1804. Vgl. dazu auch van DÜLMEN, Theater des Schreckens, 190f. StACe L 3 Nr. 223, Protokoll vom 13.10.1698. Ebd., Protokoll vom 20.7.1698. NHStA Hann. 74 Stolzenau Nr. 1051, Schreiben des Amtmannes vom 20.1.1794.

332

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

selbst in Garnisonstädten oft weit über ihrem Bevölkerungsanteil liegendes Kontingent 96 . Die soeben geschilderten Gefährdungen elterlicher Kinderversorgung, die Soldatenfamilien ebenso wie andere Teile der frühneuzeitlichen Bevölkerung betrafen, reichen zur Erklärung dieser Beobachtung allein nicht aus. Vielmehr sind die Ursachen dafür in den besonderen Lebensbedingungen des Militärs zu suchen. Dies wird noch deutlicher, nimmt man eine Differenzierung der Ginbecker Soldatenkinder nach vaterlosen Kindern und solchen, deren Väter noch lebten, vor. Während der Anteil verstorbener Väter unter den aktiven und ehemaligen Militärangehörigen um sechs Prozentpunkte niedriger war als unter der Gesamtheit der Väter, wurden überproportional viele Soldatenkinder wegen der Armut ihrer Eltern aufgenommen 97 . Die Beobachtung, daß Soldaten und ihre Familien besonders häufig unter der Klientel der Armenfürsorge vertreten waren, hat in der Forschung, vor allem in Studien über das Armen- und Bettlerwesen, zu der Auffassung geführt, Soldaten seien ausnahmslos "arme Teufel" 98 gewesen und müßten den klassischen Armutsgruppen zugerechnet werden 99 . Dagegen zeichnen Arbeiten, die sich unmittelbar mit den Lebensbedingungen des Militärs beschäftigen, ein kontrastives Bild vom Alltag der Soldaten 100 . Ralf Pröve hat in seiner Studie über die Göttinger Militärbevölkerung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nachweisen können, daß der Soldatenberuf häufig eine zumindest zeitweilige Alternative zu zivilen Tätigkeiten bot und eine akute Notlage überbrücken helfen konnte 101 . Einigen Soldaten gelang auch nach der Entlassung durchaus die Gründung einer wirtschaftlichen Existenz und die anschließende Integration in die städtische Gesellschaft 102 . Eine Erklärung für die widersprüchliche Bewertung des Soldatendaseins liegt in der jeweiligen Quellenperspektive und in der meist nicht vollzogenen Tren96

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Der Bevölkerungsanteil des Militärs einschließlich der Garnisonsangehörigen und aller Familien (rund 65 000 Personen) betrug im Kurfürstentum Hannover in der Mitte des 18. Jahrhunderts ca. acht Prozent. PRÖVE, Stehendes Heer, 79. In Göttingen schwankte der Anteil des Militärs zwischen 27 und 14,2 Prozent, mit sinkender Tendenz, da die Garnison nicht mit dem Wachstum der Zivilbevölkerung Schritt hielt. Ebd., 226. Die Diskrepanz zwischen dem Bevölkerungsanteil und dem Stellenwert von Soldatenkindern in der öffentlichen Kinderversorgung vergrößert sich noch, wenn man bedenkt, daß nur etwa ein Drittel aller Soldaten Familie hatte. Ebd., 129. Der Anteil von Militärangehörigen an allen auswertbaren Berufsangaben betrug 44,6 Prozent, an den Verstorbenen aber nur 38,3 Prozent und an den Annen 51,7 Prozent. SCHUBERT, Arme Leute, 138. Vgl. KAPPL, Not, 349; TITZ-MATUSZAK, Mobilität der Armut, 155-163. Am Beispiel reichsstädtischen Militärs, das allerdings eine etwas andere Stellung einnahm als landesherrliche Truppen, beschreiben dies Jürgen KRAUS, Das Militärwesen der Reichsstadt Augsburg 1548-1806. Vergleichende Untersuchung über städtische Militäreinrichtungen in Deutschland vom 16.-18. Jahrhundert, Augsburg 1980, bes. 210-217, und Thomas SCHWARK, Lübecks Stadtmilitär im 17. und 18. Jahrhundert. Untersuchungen zur Sozialgeschichte einer reichsstädtischen Berufsgruppe ( = Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck, Reihe B; 18), Lübeck 1990, bes. 240-354, 321-324. PRÖVE, Stehendes Heer, 394f. Ebd., 356-371; zusammenfassend auch SCHWARK, Lübecks Stadtmilitär, 324f.

Die Entstehung elterlicher Versorgungsunfähigkeit

333

nung zwischen aktiven und entlassenen Militärangehörigen, sogenannten Invaliden 103 . So rücken in den Arbeiten über Unterschichten oder Armenwesen vor allem Deserteure und nach ihrer Entlassung gescheiterte ehemalige Soldaten in den Vordergrund. Ehemalige Soldaten, denen es gelang, nach der Entlassung in einer zivilen Tätigkeit Fuß zu fassen, sind dagegen in den Quellen meist gar nicht mehr als ehemalige Soldaten erkennbar, sondern wurden unter ihrem neuen Beruf geführt 104 . Die Einbecker Waisenhausregister bestätigen, daß zwischen ehemaligen und aktiven Soldaten unterschieden werden muß. Von den Vätern der aufgenommenen (Halb-) Waisen waren etwa drei Viertel zum Zeitpunkt ihres Todes aktive Soldaten gewesen, darunter sechs Unteroffiziere. Die noch lebenden Väter hingegen waren zu drei Vierteln abwesend - in 'Campagne' oder desertiert -, oder es handelte sich um entlassene Soldaten105. Nur ein Viertel dieser Väter könnte eventuell noch im aktiven Dienst gestanden haben. Dies macht deutlich, daß nicht generell alle Soldaten, sondern vor allem zurückbleibende Angehörige 106 und entlassene Männer mit ihren Familien der Unterstützung bedurften, wie schon im Kontext der armenpflegerischen Unterstützungen angedeutet wurde 107 . In der Tat waren die Lebensbedingungen der Invaliden im allgemeinen miserabel 108 . Sofern entlassene Soldaten nicht einen handwerklichen Beruf erlernt hatten oder durch private Beziehungen Eingang in die städtische Gesellschaft fanden, lebten sie zwischen den beiden Rechtsgemeinschaften und mußten sich meist mit schlecht bezahlten Handlangerdiensten oder Gelegenheitsarbeiten durchschlagen 109 . Ein in (Bad) Münder lebender ehemaliger Soldat, dessen Kind im Einbecker Waisenhaus Aufnahme fand, ernährte sich vom Lumpensammeln, ein anderer Mann war in Springe Chausseewärter geworden 110 . Am übelsten erging es wahrhaft Versehrten Invaliden, deren Kinder allerdings auch bei der Aufnahme in das Meinhelfsche Legat Vorrang hatten. 1812 wurden zwei der fünf Kinder des Soldaten Bornemann aus Hameln, der "seit längerer Zeit an Beingeschwüren" litt und keine Pension, sondern nur Armengeld erhielt 111 , zur Aufnahme in das Legat vorgeschlagen; eines wurde schließlich aufgenommen. Ein anderer Soldat aus Hameln, der 19 Jahre in der Armee gedient hatte, konnte "wegen gänzlicher Lähmung der lin103

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Als Invaliden wurden nicht nur Versehrte, sondern auch entlassene Soldaten im allgemeinen bezeichnet. PRÖVE, Stehendes Heer, 203. Vgl. ebd., 202 Anm. 3. Von 39 verstorbenen Vätern wurden nur zehn, also etwa ein Viertel, als Invaliden oder 'gewesene Soldaten' bezeichnet. Von 38 Vätern, die dem Anschein nach noch am Leben waren, waren sieben abwesend, vier desertiert und 16 aus dem aktiven Dienst ausgeschieden. Vgl. SCHUBERT, Arme Leute, 145. Vgl. Kap. IV, Abschnitt 5.1. Vgl. auch SCHUBERT, Arme Leute, 143ff. PRÖVE, Stehendes Heer, 210. NHStA Dep 7b Nr. 298. NHStA Hann. 52 Nr. 1175, Schreiben der Unterpräfektur Rinteln vom 26.6.1812.

334

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

ken Hand" seine Familie nicht ernähren112. Wieder ein anderer Mann, der 15 Jahre gedient hatte, litt an einem schweren Bruch 1 1 3 . Ein weiterer möglicher Grund für den großen Anteil ehemaliger Soldaten und ihrer Familien an der Armenfürsorge wird allerdings meist vergessen: Die öffentliche Versorgung dieses Personenkreises könnte auch Ausdruck einer besonderen landesherrlichen Fürsorgepflicht gegenüber dem fürstlichen Militär gewesen sein 114 , wofür die besonders hohe Zahl von Soldatenkindern in den unter Beteiligung des Landesherrn geführten Waisenhäusern in Celle und Einbeck spräche. Insofern könnte es für einen ehemaligen Soldaten durchaus von Vorteil gewesen sein, auf seinen Militärdienst zu verweisen; Invaliden wären dann womöglich gegenüber anderen Bedürftigen privilegiert gewesen. Das Überwiegen entlassener Soldaten unter den Vätern unversorgter Kinder heißt freilich nicht, daß der Sold eines aktiven einfachen Soldaten ohne weiteres zur Versorgung von Frau und Kindern ausreichte. Verheiratete Soldaten - in Göttingen ca. 30 Prozent115 - mußten sich daher ebenso wie ihre Frauen um Nebenverdienste bemühen 116 . Folglich überwogen bei den Göttinger Soldaten kleine Familien mit einem oder zwei Kindern; größere Familien hatten Seltenheitswert 117 . Nicht nur die Kinder einfacher Soldaten, sondern auch die von Unteroffizieren galten als so arm, daß sie in Göttingen das Schulgeld für den Besuch der Armenschule erhielten 118 . Für bereits bestehende Familien schließlich bot der Eintritt in das Militär im Gegensatz zu alleinstehenden Männern kaum einen Ausweg aus einer wirtschaftlichen Misere: Im Einbecker Waisenhaus wurden 1747 der Sohn eines früheren Pförtners, der ins Militär eingetreten war, und vier Jahre später zwei Kinder eines verarmten Bürgers namens Leonhardt, der den selben Weg gewählt hatte, aufgenommen119. Weit unsicherer war die Versorgung von Soldatenkindern, wenn die Eltern ihr Verhältnis nicht legalisieren konnten. 'Wilde Ehen' waren unter Soldaten keine Seltenheit und wurden meist auch von den Behörden geduldet120. Da diese Lebensgemeinschaften jedoch einseitig - und für den Mann folgenlos - auflösbar 112 113 114 115 116 117

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Ebd., Schreiben der Unteipräfektur Rinteln vom 6.11.1812. Ebd., Schreiben der Unterpräfektur Rinteln vom 1.6.1813. Zur Fürsorgepflicht des Fürsten vgl. PRÖVE, Stehendes Heer, 35. Ebd., 129. Ebd., 171ff„ 316ff.; MÜLLER, Karlsruhe, 390. PRÖVE, Stehendes Heer, 149f. Nach Beförderungen dagegen stieg die Zahl der Eheschließungen bzw. nahm die Kinderzahl bestehender Familien zu. Ebd., 169f. In Preußen betrug die durchschnittliche Kinderzahl bei Soldatenfamilien 1,4. KROENER, Bellona und Caritas, 234. Von 100 Kindern, die 1753 die Waisenhausschule besuchten, gehörten 24 zur Militärbevölkerung. Unter den 13 Vätern, deren Dienstgrad mit Hilfe der von Ralf Pröve ausgewerteten Kompanielisten identifiziert werden konnte, befanden sich vier Unteroffiziere. NHStA Hann 72 Einbeck Nr. 772. PRÖVE, Stehendes Heer, 136-140; MÜLLER, Karlsruhe, 387, 391.

Die Entstehung elterlicher Versorgungsunfähigkei t

335

waren, war die Versorgung der Kinder aus solchen Beziehungen sicher gefährdeter als die ehelicher Kinder 1 2 1 . Dies gilt erst recht, wenn überhaupt keine längerfristige Beziehung zustande kam. Insgesamt stellten Soldaten einen erheblichen Anteil an den Vätern unehelicher Kinder 1 2 2 : Von 2 5 unehelichen Kindern, die im Einbecker Waisenhaus aufgenommen wurden, stammten mindestens acht von Militärangehörigen 1 2 3 , und auch die Frauen, die im Celler Accouchirhaus niederkamen, gaben als größte Gruppe unter den Kindsvätern Soldaten an 1 2 4 . In Göttingen hatten sogar über 7 0 Prozent der zwischen 1721 und 1755 geborenen unehelichen Kinder einen Soldaten zum Vater 1 2 5 - wenigstens zum Teil sicherlich eine Folge der rigiden Heiratsbeschränkungen. Die Versorgung unehelicher Kinder blieb wahrscheinlich fast immer den Müttern überlassen 1 2 6 , während die Väter oft nicht einmal finanziell dazu beitrugen 1 2 7 . Gerade Soldaten hatten durch Garnisonswechsel und die obrigkeitliche Gesetzgebung gute Aussichten, der Verantwortung für uneheliche Kinder zu entgehen. Allein an eine einzige Person gebunden, war die Versorgung unehelicher Kinder durch Tod, Krankheit, materielle Not oder Delinquenz noch gefährdeter als die ehelicher Kinder 1 2 8 . Erschwerend kam die Kriminalisierung lediger Mütter infolge der sexuellen 'Verfehlung' hinzu, die oftmals die Versorgung der Kinder auf öffentliche Kosten überhaupt erst notwendig machte 1 2 9 .

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128

129

PRÖVE, Stehendes Heer, 141. Vgl. WUNDER, Frauen, 169; MÜLLER, Karlsruhe, 294. Bei der Mehrzahl der anderen Fälle fehlt die Angabe. In Celle waren 1785 14 von 25 (56 Prozent), 1790 24 von 57 (42,1 Prozent) und 1800 19 von 58 (32,8 Prozent) Kindsvätern Militärangehörige. NHStA Hann. 156 Celle Akz. 104/79 Nr. 4. PRÖVE, Stehendes Heer, 146. Vgl. ELLRICHSHAUSEN, Mutterschaft, 119; MITTERAUER; Ledige Mütter, 71. Eine Liste der Göttinger Polizeikommission berichtet von insgesamt 54 Frauen, deren uneheliche Schwangerschaft oder Geburt in der Zeit vom 28.3. bis zum 19.10.1805 bekannt wurde. Nur bei acht Kindern war die Versorgung ausreichend gesichert, in nur drei Fällen durch gerichtlich verbürgte Alimente. NHStA Hann. 87 Göttingen Nr. 127, Liste der Polizeikommission Ende 1805. Siehe dazu auch Kap. II, Abschnitt 3 und 4. Von den in der vorhergehenden Anm. genannten 46 Kindern, deren Versorgung nicht gesichert war, mußte eines bereits von der Annenkasse versorgt werden, nachdem die Mutter "entlaufen" war, elf weitere wurden als potentielle Klientel der Armenkasse eingestuft. Die Zahl der möglicherweise zu versorgenden Kinder wäre noch höher gewesen, wäre nicht ein Teil der Fälle durch den frühzeitigen Tod des Kindes oder die Abschiebung von Mutter und Kind entschieden worden. NHStA Hann. 87 Nr. 127, Liste der Polizeikommission Ende 1805. Die Celler Burgvogtei mußte 1735 das Kind einer Frau versorgen, die wegen dreimaliger unehelicher Schwangerschaft zu einem Jahr Zuchthausstrafe verurteilt wurde. NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Schreiben der Burgvogtei vom 3.6.1735. Weitere Beispiele siehe Kap. II, Abschnitt 3. Die Kinder der später als Kindsmörderin verurteilten Dorothea Elisabeth Lampe lebten bei ihren Verwandten, da die Frau selbst wegen dreimaliger unehelicher Schwangerschaft aus dem hannoverschen Amt Lauenstein verwiesen war. Für die Versorgung der Kinder zahlte die Kriegskasse 2 Rtlr. monatlich. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 10148, fol. 62 r , Verhör vom 21.5.1737.

336

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

Da ledige Mütter vor ihrer Schwangerschaft oft als Dienstboten gearbeitet hatten 130 , nach der Geburt aber vermutlich entlassen wurden 131 , mußten sie sich nach einem anderen Lebensunterhalt umsehen. Abgesehen von der bereits angesprochenen Möglichkeit, eine Anstellung als Säugamme zu finden 132 - die allerdings auch nur eine Perspektive für die erste Zeit nach der Geburt darstellte -, waren die Erwerbsmöglichkeiten lediger Mütter ebenso eingeschränkt wie die von Witwen 133 . Eine Frau aus Münder, selbst Tochter eines Soldaten, die ein uneheliches Kind von einem Musketier hatte, arbeitete als Tagelöhnerin 134 . Von den alleinstehenden Müttern, deren Kinder in das Einbecker Waisenhaus gelangten, arbeiteten zwei als Viehhirtinnen und eine als Färberin. Die übrigen ledigen Mütter wurden ausnahmslos als arm bezeichnet. Auch eine spätere Ehe hatte nicht immer positive Auswirkungen auf die Versorgung des unehelichen Kindes; im Gegenteil kam es vor, daß sich die Mutter vollständig ihrer neuen Familie zuwandte 135 . Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Versorgung unehelicher Kinder zusehends zu einem öffentlichen Problem, wenigstens an solchen Orten, die eine deutliche Zunahme unehelicher Geburten zu verzeichnen hatten. Besonders davon betroffen war, wie schon erwähnt 136 , die Stadt Göttingen. Die Möglichkeit, daß eine wachsende Zahl unehelicher Kinder auf Kosten der Stadt unterhalten werden mußte, gewinnt einige Wahrscheinlichkeit angesichts einer stark ansteigenden Rate illegitimer Geburten in der Stadt. Hatte diese in der ersten Jahrhunderthälfte noch 8,5 Prozent betragen 137 , wuchs sie am Ende des Jahrhunderts auf über 25 Prozent an 138 ; verantwortlich dafür waren allerdings nahezu ausschließlich die Geburten des Accouchirhauses. Doch auch in anderen Städten gab es deutliche Zunahmen unehelicher Geburten: In Northeim stieg der Anteil von unter zwei 130

131 132 133 134 135

136 137 138

Von 41 ledigen Frauen, die 1784 in der hannoverschen Entbindungsanstalt niederkamen, waren 32 Mägde und eine Näherin. (Bei den übrigen Frauen fehlen die Tätigkeitsangaben). NHStA Hann. 93 Nr. 2197, Rechnung der Entbindungsanstalt 1784; ebd., Nr. 2199, Beilagen. Auch bei den in Celle entbundenen Frauen handelte es sich in der Mehrheit um Dienstmägde. NHStA Hann. 156 Celle Akz. 104/79 Nr. 4-6. MITTERAUER, Ledige Mütter, 71. Vgl. dazu auch Kap. III, Abschnitt 2.3. Vgl. Kap. III, Abschnitt 3.3. Vgl. KAPPL, Not, 135f. NHStA Dep. 7b Nr. 288. 1806 schlug der Göttinger Superintendent Wagemann ein uneheliches Kind aus Weende zur Aufnahme in das Moringer Waisenverpflegungsinstitut vor, das im Göttinger Accouchirhaus geboren war. Dieses Kind sei "vollkommen verlassen. Die Mutter desselben hat einen Mann Namens Degenhard geheirathet, mit ihm mehrere Kinder gezeugt, welche mit ihrem boshaften Vater der epileptisch zu seyn vorgiebt betteln". NHStA Dep. 7b Nr. 300, Schreiben Wagemanns vom 31.3.1806. Vgl. Kap. IV, Abschnitt 2.3. PRÖVE, Stehendes Heer, 146. Ludwig Gerhard WAGEMANN, Summe der unehelichen Geburten in Göttingen, in: StatsAnzeigen 6 (1784), Heft 21-24, 398-400, hier 400. Es handelt sich um eine Aufstellung der unehelichen Geburten der Jahre 1777-1783. Christoph MEINERS, Kurze Geschichte und Beschreibung der Stadt Göttingen ( = Kleinere Länder- und Reisebeschreibungen; 3), Berlin 1801, 212, Liste der unehelichen Geburten 1787-1799.

Die Entstehung elterlicher Versorgungsunfähigkeit

337

Prozent im 17. Jahrhundert zeitweilig auf über sieben Prozent in der Mitte des 18. Jahrhunderts 139 , in Hannover von neun Prozent im Jahr 1778 1 4 0 auf 22,1 Prozent im Jahr 1810 141 . Die genauere Entwicklung unehelicher Geburten über einen längeren Zeitraum und für ein größeres Gebiet kann indes nicht ohne weiteres bestimmt werden, da die Verhältnisse von Ort zu Ort außerordentlich unterschiedlich waren und von einer Vielzahl von Faktoren abhingen. Dies zeigt sich anhand einer Bevölkerungsstatistik für das Königreich Westphalen. Die Rate unehelicher Geburten lag im ganzen Staat zwischen acht Prozent im Jahr 1810 und 10,3 Prozent im Jahr 1812. Die ehemals zu Hannover gehörenden Gebiete nahmen eine durchschnittliche Stellung ein: Der Anteil lag im Allerdepartement zwischen 7 , 6 (1810) und 10,5 Prozent (1811), im Leinedepartement im selben Zeitraum zwischen 9 , 9 und 13,2 Prozent 142 . Die hohe Unehelichenziffer des Stadtkantons Hannover wurde von verschiedenen ländlichen Gegenden ausgeglichen, in denen der Anteil unehelicher Geburten bei nur fünf Prozent oder noch darunter lag 143 , wobei allerdings auch in ländlichen Gebieten oder auch nur innerhalb einer Stadt große Differenzen zwischen den Kirchspielen bestanden 144 . Dennoch sprechen die verfügbaren Statistiken insgesamt für einen Anstieg unehelicher Geburten am Ende des 18. und vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts145 und damit auch für eine wachsende Bedeutung dieser Kinder für die öffentliche Kinderversorgung 146 . Im Einbecker Waisenhaus vervierfachte sich ihr Anteil im 18. Jahrhundert: Während unter 257 Aufnahmen aus den Jahren 1714 bis 1759 nur 13 Kinder unehe-

139

140 141 142

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Johann Philipp RÜHLING, Physikalisch-Medicinisch-Oekonomische Beschreibung der zum Fürstenthum Göttingen gehörigen Stadt Northeim, und ihrer umliegenden Gegend, Göttingen 1779, II. Tabelle hinter 223, Anzahl der von 1619-1775 in Northeim Geborenen. KLOCKENBRING, Einige Resultate, 55. NHStA Hann. 52 Nr. 2959,1, Ehe-, Geburts- und Sterbelisten 1810. Die Berechnung erfolgte auf Grundlage der Angaben bei HASSEL, Statistisches Repertorium, 2, 4, 16. NHStA Hann. 52 Nr. 2959, I, Ehe-, Geburts- und Sterbelisten 1810. Osterwald hatte einen Unehelichenanteil von 5,9 Prozent. Verschiedene Orte im Distrikt Celle des Allerdepartements kamen sogar nur auf zwei Prozent unehelicher Geburten. NHStA Hann. 52 Nr. 3252, Ehe-, Geburts- und Sterbelisten 1810. Dies zeigen Auswertungen von Kirchenbüchern. Bei jeweils drei ausgewerteten Kirchspielen schwankte die Unehelichenrate in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Hannover zwischen 6,0 und 11,7 Prozent und in Hildesheim zwischen 1,9 und 9,9 Prozent. HOOF, Pestalozzi, 148. Auch in Göttingen bewegte sich der Anteil unehelicher Geburten im Zeitraum von 1721 bis 1755 zwischen 3,2 Prozent in St. Johannis (70 uneheliche auf 2217 Geburten) und 16,0 Prozent in St. Marien (231 uneheliche auf 1448 Geburten). Ev.-luth. Kirchenbuchamt Göttingen, Taufregister der Pfarrei St. Johannis 1721-1755, Taufregister der Pfarrei St. Marien 1721-1755. (Für die freundliche Überlassung dieser Zahlen danke ich Ralf Pröve). Nach Klockenbring betrug der Anteil unehelicher Geburten im Kurfürstentum Hannover im Zeitraum von 1778-1785 durchschnitlich 5,7 Prozent. Am höchsten war er in Calenberg mit 8,5 Prozent und in Grubenhagen mit 6,8 Prozent. KLOCKENBRING, Einige Resultate, 20. Die oben zitierten Ergebnisse der westphälischen Bevölkerungsstatistiken für das ehemals hannoversche Gebiet lassen also auf einen klaren Anstieg unehelicher Geburten schließen, wenn auch ein direkter Vergleich aufgrund territorialer Veränderungen nicht möglich ist. Dies hat auch MÜLLER, Karlsruhe, 376f., beobachtet.

338

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

lieh waren (5,1 Prozent), stammten im Zeitraum von 1792 bis 1803 zehn von 51 aufgenommen Kindern (19,6 Prozent) aus einer illegitimen Beziehung.

1.5.

Zusammenfassung: Unsicherheit des Lebens, materielle Not und Instabilität familialer Bindungen - die Gefährdungen elterlicher Kinderversorgung

Die unzureichende Versorgung von Kindern betraf nicht nur das Armutspotential der klassischen Unterschichten, zu dem in der Literatur neben Bettlern und Fahrenden die Angehörigen unterbürgerlicher und unterbäuerlicher Schichten, Häuslinge, Dienstboten und Tagelöhner, gezählt werden147. Wenigstens im Falle eines frühzeitigen Todes beider Eltern oder des Familienernährers stellte die Versorgungslosigkeit der (unterbliebenen Kinder auch für besser gestellte Gruppen der Bevölkerung eine mögliche Bedrohung dar. Insofern waren unversorgte Kinder eine typische Folge der biologischen und sozialen Unsicherheit des Lebens in der frühneuzeitlichen Gesellschaft: "Der Tod eines Ernährers ist an sich schon eine wirtschaftliche Katastrophe. Die größere Anfälligkeit der Familie für solche Katastrophen ist eines der Merkmale, die die vorindustrielle von der industriellen, die rückständige von der fortschrittlichen Gesellschaft unterscheidet"148. Entsprechend den jeweiligen Lebens- und Erwerbsbedingungen waren die Chancen des Kindes auf eine familiale Weiterversorgung beim Tod der Eltern sehr unterschiedlich. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, daß es in der städtischen Gesellschaft offenbar weit häufiger zum Fortfall der familialen Versorgung kam als auf dem Land. Dafür sind mehrere Erklärungen denkbar. Ein Grund dafür, daß Kinder aus städtischen und stadtnahen Gebieten in den verwendeten Quellen überproportional vertreten waren, mag in der weit dichteren Quellenüberlieferung für den städtischen Bereich liegen. Eine weitere Ursache ist in der Arbeitsorganisation des bäuerlichen Haushaltes zu sehen, der im Gegensatz zum städtischen und unterschichtigen Haushalt wesentlich problemloser ein familienfremdes Kind aufnehmen konnte, da auch kleine Kinder, z.B. durch Viehhüten, ohne weiteres zum Arbeitsprozeß beitragen konnten149. Kinder aus ländlichen Gebieten, die auf 147 148 149

Vgl. beispielsweise BAUMANN, Verwaltete Armut, 156 und 243 Anm. 25. LASLETT, Familiale Unabhängigkeit, 152. MITTERAUER, Ledige Mütter, 71, vertritt diese Auffassung bezüglich unehelicher Kinder. Auch Klaus Lorenzen-Schmidt meint, daB die Bedingungen zur Beherbergung von Familienangehörigen (hauptsächlich Enkel und Geschwister) am ehesten bei den Besitzern voller und geminderter Bauernstellen gegeben waren. Klaus J. LORENZEN-SCHMIDT, Untersuchun-

Die Entstehung elterlicher Versorgungsunfähigkeit

339

öffentliche Kosten unterhalten wurden, stammten daher beinahe ausschließlich aus den Unterschichten, die wenig oder gar kein Land besaßen 150 . Selbst in diesen Schichten bestanden aber für Witwen mit der Garnspinnerei bessere Möglichkeiten, den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder zu verdienen 151 . In der städtischen Gesellschaft dagegen waren selbst Kinder aus der Mittelschicht, dem Handwerk, beim Tod des Ernähres vom Fortfall der familialen Versorgung bedroht;

dasselbe

gilt

für

die

Familien,

deren

Ernährer

qualifizierten

Dienstleistungsberufen nachgingen. Neben dem Tod der Eltern war die elterliche Kinderversorgung weiteren Gefährdungen ausgesetzt. Als schwächste Glieder der Gesellschaft waren Kinder von deren Problemen besonders hart betroffen: Je instabiler und bedrängter die Lage der Eltern, desto leichter war auch das Kind von Armut und fehlender Versorgung bedroht. Wichtigste Voraussetzung für eine sichere Kinderversorgung war das Bestehen einer festen familialen Bindung. Vor allem kleinere Kinder waren zum Überleben auf die "Anerkennung und Beibehaltung ihrer Mitgliedschaft [in der Familie] abhängig" 152 . Zerbrach diese, sanken die Chancen der Kinder auf Versorgung erheblich. Die Gründe für den Verlust der familialen Sicherheit waren wiederum entsprechend der Ausgangssituation unterschiedlich. Während Kinder aus besser gestellten Schichten eigentlich nur beim Tod der Eltern von akutem Versorgungsausfall bedroht waren, wurde die Versorgung von Kindern aus ökonomisch nicht gesicherten Verhältnissen schon von 'geringeren' Belastungen der Eltern wie Krankheiten und materiellen Notlagen gefährdet. Zur Klientel der öffentlichen Kinderversorgung zählten daher vor allem Kinder aus den Unterschichten, deren Lebensverhältnisse sozial und materiell nicht oder unzureichend abgesichert waren und unter denen der Anteil unvollständiger Familien besonders hoch war 153 . Besonders leicht vom Ausfall der elterlichen Versorgung konnten jene Kinder betroffen werden, deren Eltern aus wirtschaftlichen und rechtlichen Ursachen nur unter großen Schwierigkeiten eine Familie gründen oder überhaupt keine legitime Beziehung eingehen konnten. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß es sich bei den dargestellten Ursachen kindlicher Versorgungslosigkeit um Faktoren handelte, die zur öffentlichen Versorgung des Kindes führen konnten, es aber nicht in jedem Fall mußten. Nicht

150

151 152 153

gen zum Wandel der Familienstiuktuien in der Nordwestdeutschen Küstenregion (1700-1870) ( = Archiv für Agrargeschichte der holsteinischen Elbmarschen, Beihefte; 3), Engelbrechtsche Wildnis 1987, 65. NHStA Hann. 93 Nr. 2631, Schreiben der Landesregierung vom 27.4.1746. In diesem Schreiben wurde der Amtmann von Polle aufgefordert, die Verhältnisse von fünf Vollwaisen zu überprüfen, deren Eltern ihnen eine Beibauernstelle mit einem Morgen Land hinterlassen hatten. ACHILLES, Flachsanbau, 110. L A S L E T T , Famiiiale Unabhängigkeit, 166. KIENITZ, Unterwegs, 89; KOCKA, Weder Stand noch Klasse, 137.

340

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

nur für Kinder aus materiell gesicherten Verhältnissen bestand die Möglichkeit einer Versorgung in der Verwandtschaft; auch uneheliche oder verwaiste Kinder aus ärmeren Verhältnissen fielen wahrscheinlich nicht in jedem Fall der öffentlichen Fürsorge anheim.

2.

Die Reichweite öffentlicher Kinderversorgung

2.1.

Selbsthilfe und öffentliche Versorgung Alternativen zur öffentlichen Versorgung - verwandtschaftliche und private Hilfe - die Aneignung öffentlicher Fürsorgeangebote

Zur Überprüfung der bisherigen Ergebnisse muß daher nach möglichen Alternativen zur öffentlichen Kinderfürsorge wie Formen von verwandtschaftlicher oder nachbarschaftlicher Hilfe gefragt werden. Am zuverlässigsten läßt sich dies für den Fall der totalen Versorgungslosigkeit überprüfen. Welche Versorgungsmöglichkeiten gab es für ein Kind beim Tod beider Eltern, wenn es nicht auf öffentliche Fürsorge angewiesen war oder diese nicht erhielt? Starben die Eltern eines Kindes, so wurden von Amts wegen Verwandte oder andere geeignete Personen zu Vormündern bestellt, die für die Erziehung der Kinder zu sorgen und ihr eventuell vorhandenes Vermögen zu verwalten hatten 154 . In Göttingen z.B. wurden Vormundschaftssachen vor dem städtischen Waisenamt verhandelt, das auch die Übernahme von Vormundschaften beglaubigte 155 . Die Akten des Waisenamtes enthalten jedoch im allgemeinen keine Angaben über die Versorgung der Kinder. Nur in einem, 1779 verhandelten Fall wurde im Zusammenhang mit späteren Rechtsstreitigkeiten erwähnt, daß der Metzger Johann Christoph Krische die Tochter seiner Schwester, zu deren Vormund er gemeinsam mit seinem Bruder Georg Andreas, ebenfalls Metzger, bestellt worden war, unentgeltlich bei sich aufgenommen und verköstigt hatte 156 . In anderen Fällen mögen Kinder auf Kosten des Vormunds oder ihres eigenen Vermögens zu Pflegeeltern gegeben worden sein. Hinweise auf solche Kinder könnten am ehesten in Volkszählungs- oder Steuerlisten enthalten sein. Anläßlich der Kopfsteuerbeschreibung der Fürstentümer Calenberg und Göttingen, bei der 1689 sämtliche Haushalte besucht und verzeichnet wurden, wurden in Göttingen etwa ein Dutzend nicht bei ihren Eltern 154

155 156

Auch das Vormundschaftsrecht unterlag landesherrlicher Reglementierung, so z.B. NHStA Celle Br. 65 Nr. 236, Reskript der Celler Regierung vom 16.8.1692; SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 4.1, 131f., Verordnung vom 1.5.1801. Für Hildesheim HLO, Bd. 1, 30-91, Polizeiordnung von 1665, hier 46. StAGö AA Wohlfahrt Waisenamt Nr. 0. Ebd., Protokoll vom 17.8.1779.

341

Die Reichweite öffentlicher Kinderversorgung

lebende Kinder gezählt 1 5 7 . Nur ein Mädchen, Catrine Margarete Ebels, lebte bei ihrem Vormund Daniel Kelling 1 5 8 . Andere Kinder bewohnten anscheinend allein oder mit ihren Geschwistern die von ihnen geerbten Häuser 1 5 9 . In einigen Fällen war zumindest eines der Geschwister in fortgeschrittenem Alter, so die 18jährige Judith Heisen, die mit ihrer achtjährigen Schwester Margarethe ein Haus in der Jakobigemeinde

bewohnte 1 6 0 .

Erstaunlicherweise

wohnten

aber

auch

die

13jährige Catrine Lischen Hüttemann und die vier und neun Jahre alten Töchter von Hans Boening allein in ihren ererbten Häusern 1 6 1 . Außer den genannten Kindern lebten noch drei Kinder bei ihrer verwitweten Großmutter; über das Schicksal der Eltern ist in diesem Fall nichts bekannt 1 6 2 . Alle genannten Kinder bzw. ihre Angehörigen verfügten über Eigentum, das den Kindern zumindest Wohnung

und

vielleicht

auch

Unterhalt

bot.

Unter

den

ärmeren

Bevöl-

kerungsgruppen wurden dagegen überhaupt keine elternlosen Kinder aufgeführt. Obwohl

dies

zumindest ungewöhnlich

erscheint und die Möglichkeit

einer

quellenspezifischen Verzerrung nicht vollständig ausgeschlossen werden kann 1 6 3 , wird es doch durch die Tatsache bestätigt,

daß auch die familiale

Alten-

versorgung ausgesprochen selten war 1 6 4 . Doch sind auch aus ärmeren Schichten vereinzelte Beispiele für verwandtschaftliche oder nachbarschaftliche Hilfe bekannt. S o hatte eine alte Frau in Wittingen bis zu ihrem Tod ihre verwaiste Enkelin sowie ein fremdes Waisenmädchen ernährt. Nach dem Tod der Großmutter versorgte die Enkelin das zweite Kind noch eine Zeitlang, bis sie sich selbst in Dienst begeben wollte 1 6 5 . Die Kinder, die am Ende des 17. Jahrhunderts in Celle beim Betteln aufgegriffen und ins Waisenhaus verbracht wurden, hatten zuvor z . T . bei ihren Großeltern gelebt. Auch unter den in Hildesheim und Moringen aufgenommenen Kindern waren einige zumindest vorübergehend von Verwandten oder auch Fremden versorgt worden, bevor sie in die öffentliche Fürsorge aufgenommen wurden 1 6 6 . Die drei 157 158

159

160 161 162 163

164 165 166

Die genaue Anzahl läßt sich wegen teilweise fehlender Altersangaben nicht ermitteln. Die Kopfsteuerbeschreibung der Fstm. Calenberg-Göttingen und Grubenhagen von 1689 ( = Veröffentlichungen der historischen Kommission für Niedersachsen), Teil 8, Hannover 1965, 86. In der Quellenedition wird fälschlicherweise angenommen, das Mädchen habe allein gewohnt. (Den Hinweis auf diesen Fall ebenso wie die übrigen auf der Kopfsteuerbeschreibung basierenden Daten verdanke ich Norbert Winnige). Es bandelte sich um insgesamt acht Häuser. WINNIGE, Krise und Aufschwung, 111 Anm. 109. Kopfsteuerbeschreibung 1689, Teil 8, 91. Ebd., lOlf. Ebd., 71. Möglicherweise wurde in einzelnen Fällen darauf verzichtet, familienfremde Kinder in der Zählung gesondert aufzunehmen. Ein Grund für ein bewußtes Verschweigen bestand jedoch nicht, da Kinder bis zwölf Jahre in keinem Fall besteuert wurden. Vgl. WINNIGE, Krise und Aufschwung, 84 Anm. 24. Ebd. StACe 20 B Nr. 2, II, Schreiben des Celler Magistrates vom 13.9.1717. NHStA Dep. 7b Nr. 300; StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 8.

342

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

Kinder der später als Kindsmörderin verurteilten Dorothea Elisabeth Lampe lebten bei deren Mutter und Bruder; für zwei der Kinder zahlte allerdings die hannoversche Kriegskanzlei j e 1 Rtlr. Unterhaltsgeld im Monat, da der Vater der Kinder Dragoner gewesen war 1 6 7 . Daneben sind Beispiele privater Wohltätigkeit bekannt, die langfristig oder zumindest vorübergehend zum Unterhalt eines Kindes beitrugen. So wurde die aus Hannover kommende elfjährige Anne Marie Sage, wohl nicht zuletzt wegen ihrer französischen Abstammung, vorübergehend von verschiedenen Mitgliedern der französischen Kolonie in Celle aufgenommen und beköstigt 1 6 8 . Im Amt Lauenstein konnten 1810 sogar zwei Kinder langfristig kostenlos untergebracht werden 1 6 9 . In anderen Fällen trugen vermögende Wohltäter mit finanziellen Hilfen zur Versorgung oder Erziehung eines Kindes bei. Der Regierungsrat von Seelhorst in Oldenburg schenkte 1789 die Summe von 3 Louis d'Or für den Unterhalt von drei alleinstehenden Kindern, die er schon bei Lebzeiten der Eltern unterstützt hatte 170 . In Celle konnte ein Bettelmädchen, dessen Vater, ein Soldat, vor Jahren desertiert war, zur Schule gehen, "wofür des Herrn Chappedon seine Liebste bezahlt" 1 7 1 . In welchem Verhältnis standen nun diese Formen der Hilfe zur öffentlichen Fürsorge? Waren familiale und nachbarschaftliche Hilfe, "private Wohltätigkeit und Gemeindearmenfürsorge" für die "frühneuzeitlichen ( . . . ) Selbsthilfegesellschaften" 1 7 2 womöglich weit charakteristischer als öffentliches Armenwesen und die obrigkeitliche Armenpolitik, wie es unlängst Martin Dinges formulierte? Möglichkeiten und Bedingungen solcher Hilfe in der Kinderversorgung müssen also eingehender geprüft werden. Was die Gemeindearmenfürsorge angeht, so konnte oben gezeigt werden, daß diese keineswegs komplementär zum öffentlichobrigkeitlichen Armenwesen existierte, sondern integraler Bestandteil desselben war und daher von den Obrigkeiten geregelt und kontrolliert wurde. Für die Gemeinden bedeutete die Versorgung eines Kindes indes häufig eine schwere Belastung, die ihnen von den Obrigkeiten aufgezwungen wurde und der sie sich gelegentlich zu entziehen suchten 173 . Um so schwieriger dürfte die Versorgung eines fremden Kindes für Einzelpersonen oder Familien gewesen sein, sofern diese nicht über ein überdurchschnittliches Einkommen oder Vermögen verfügten oder aber die Kinder durch die Teilnahme am Arbeitsalltag - beispielsweise im land-

167 168 169 170 171 172 173

NHStA Hild. Br. 1 Nr. 10148, fol. 62f., Verhör vom 21.5.1737. StACe L 3 Nr. 224. NHStA Hann. 74 Lauenstein Nr. 542, Schreiben des Amtes Lauenstein vom 15.6.1810. Ebd., April 1789. StACe 2 0 B Nr. 2 , 1 , Protokoll vom 21.6.1697. DINGES, Armenfursorge, 11. Siehe Kap. IV, Abschnitt 2.1.

Die Reichweite öffentlicher Kinderversorgung

343

wirtschaftlichen Bereich - die Kosten für ihre Versorgung wenigstens teilweise aufwogen 174 . Die angeführten Fälle bestätigen eher die Beobachtung Peter Lasletts, daß verwandtschaftliche Hilfe in Notlagen zwar üblich war und häufig gebraucht wurde, diese Hilfe aber eher punktuellen denn längerfristigen Charakter hatte175. Mehrere Aufnahmegesuche für die landschaftliche Waisenverpflegung 1806-1807 zeigen, daß sich Verwandte zwar beim Tod der Eltern eines Kindes seiner annahmen, mit der Zeit aber die Belastung zu groß wurde176. Auch eine Veränderung der eigenen Lebenssituation konnte die Versorgung fremder Kinder zunehmend schwieriger werden lassen. Der in der Celler Neustadt wohnhafte Schneider Christian Strumpf berichtete am 16. Oktober 1692, daß er seit einiger Zeit einen mit ihm entfernt verwandten zwölfjährigen Jungen unterhielt, dessen Eltern beide kurz nacheinander gestorben waren und "nichts nachgelaßen als ein Hauffen kleine Kinder". Nun wurde ihm die Versorgung des Jungen zuviel, da er "in die ander Ehe getreten [sei] und also selber kleine Kinder zeuge, und (...) auch nun mehro alt und schwach werde" 177 . Auf Fürsprache des Burgvogtes erhielt er Armengeld für die Erziehung des Jungen. Von den vier Geschwistern des Jungen standen zwei in Dienst und zwei lebten bei den Brüdern ihres Vaters, die deswegen ebenfalls Armengeld erhielten. Waren mehrere Kinder zu versorgen, war die Aufgabe wohl auch für wohlhabendere Personen auf Dauer zu groß. Der Bürger Johann Heinrich Spangenberg aus Uslar z.B. sorgte vier Jahre lang für die vier Kinder seines verstorbenen Bruders, sah sich aber schließlich gezwungen, 1764 um die Aufnahme zweier Kinder in Moringen zu bitten 178 . Dasselbe galt für die Versorgung lediger Mütter und unehelicher Kinder durch die Eltern oder andere Verwandte der Frau: Der Göttinger Armenpfleger Arnold Wagemann behauptete, er "könnte aus seiner Erfahrung mehr als zehn Fälle namentlich anführen wo sich die völlige Armuth sonst wohlhabender Familien fast allein oder doch größtentheils so erklären läßt" 179 . Aufgrund der geringen Zahl von im Haushalt lebenden Verwandten muß davon ausgegangen werden, daß überhaupt nur wenige Haushaltsvorstände zu einer langfristigen Versorgung von Familienangehörigen oder Fremden ökonomisch in

174

175 176 177

178 179

Darin mag auch die Erklärung für die Beobachtung Jürgen Schlumbohms liegen, daß uneheliche Kinder in einem ländlichen Gebiet des Fürstentums Osnabrück oft bei der Familie ihrer Mutter aufwuchsen. SCHLUMBOHM, Familie, 143. LASLETT, Familiale Unabhängigkeit, 153f. NHStA Dep. 7b Nr. 300. NHStA Celle Br. 61a Nr. 2917; NHStA Hann. 74 Celle Nr. 944, Schreiben der herzoglichen Kammer vom 4.7.1694. NHStA Hann. 93 Nr. 2631, Schreiben der Landesregierung vom 22.5.1764. NHStA Hann. 87 Göttingen Nr. 127, Pro Memoria vom 10.7.1805.

344

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

der Lage waren 180 . Das angehäufte "SozialkapitaP 181 , aufgrund dessen die Kinder auf die Hilfe von Verwandten oder Nachbarn rechnen durften, war ebenso wie die elterliche Versorgung von der sozialen Stellung abhängig. Lebten bereits die Eltern des Kindes in Armut, dürfte das Sozialkapital parallel zur materiellen Lebensgrundlage ausgesprochen gering gewesen sein. Der Onkel von vier Kindern, die 1696 in das Waisenhaus der Hildesheimer Altstadt aufgenommen wurden, entschuldigte sich unter Hinweis auf seine schlechte wirtschaftliche Lage, daß er nicht ein oder zwei Kinder zu sich genommen habe 182 . Die Kinder eines fortgelaufenen Musketiers aus Celle wurden nach dem Tod ihrer Mutter, die im Kindbett verstorben war, zwar von ihrem Großvater aufgenommen; da dieser Mann, der als Katzenfänger sein Leben fristete und für seine Armut weithin bekannt war, aber selbst noch acht Kinder zu versorgen hatte, lebten die Kinder vom Betteln auf der Straße 183 . In diesem und ähnlichen Fällen war Selbsthilfe in der Familie oder der Nachbarschaft überhaupt keine oder zumindest keine dauerhafte Alternative zur öffentlichen Fürsorge. Die Bedeutung der öffentlichen Kinderversorgung darf jedoch nicht allein an der Zahl alternativer Versorgungsmöglichkeiten gemessen werden. Ebenso wichtig war die Aneignung der bestehenden Fürsorgeangebote durch die Bevölkerung. Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, daß durchaus nicht alle Kinder auf das öffentliche Armenwesen angewiesen waren. Die Verpflichtung zur familialen Kinderversorgung im weiteren Sinn wurde ebenso wie die elterliche Versorgungspflicht nicht nur von den frühneuzeitlichen Obrigkeiten immer wieder betont, sondern war auch unter schwierigen Bedingungen wie dem Tod eines oder beider Elternteile in der Bevölkerung durchaus akzeptiert, sofern die notwendigen materiellen Voraussetzungen dafür bestanden184. Gleichzeitig aber wurden die Möglichkeiten der öffentlichen Kinderversorgung von Leuten, denen die Mittel zur Versorgung ihrer eigenen oder ihnen anvertrauter Kinder fehlten, bewußt genutzt185. Dies zeigen die vielfältigen Hilfsgesuche von Witwen oder armen Familien an die Obrigkeit ebenso wie die Strategie von Eltern, die ihre Kinder in Celle absichtlich zum Betteln ausschickten, damit sie von den Bettelvögten aufgegriffen

180 wiNNIGE, Krise und Aufschwung, 111 Tabelle 11.12. Durchschnittlich kamen im Jahr 1689 0,03 Verwandte auf einen Haushalt, 1763 waren es 0,16 Personen. Zum ländlichen Bereich vgl. LORENZEN-SCHMIDT, Wandel der Familienstrukturen, 65-76. 181

182 183 184

185

Martin Dinges versteht darunter die Gesamtheit der "Strukturen und Beziehungen (...), die es gestatten, jenseits der kurzfristigen ökonomischen Rationalität marktförmiger Beziehungen zu überleben". DINGES, Armenfürsorge, 20. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 8, Schreiben vom 15.11.1696. StACe L 3 Nr. 223, Protokolle vom 11.2.1699 und 25.5.1699. Vgl. dazu auch Bernard VOGLER, Die Familie im Strafiburg des 18. Jahrhunderts, in: BORSCHEID/TEUTEBERG (Hgg.), Ehe, Liebe, Tod, 264-275, hier 265. Dies zeigt auch das Beispiel des Potsdamer Militärwaisenhauses. Vgl. KROENER, Bellona und Caritas, 246.

Die Reichweite öffentlicher Killderversorgung

345

und ins Waisenhaus gebracht würden 186 . Mit der zunehmenden Zahl von Hilfsangeboten stieg wahrscheinlich auch das Wissen der Bevölkerung und der zuständigen Behörden um deren Vorhandensein, wie etwa die große Nachfrage nach Stellen in der Waisenversorgung der Calenbergischen Landschaft zeigt, die das Angebot bei weitem überstieg und immer wieder zu Ablehnungen und Zurückstellungen von Aufnahmegesuchen zwang 187 . Ein besonders eindrückliches Beispiel für die Aneignung der öffentlichen Maßnahmen ist der Fall eines verlassenen Kindes in Hildesheim: Der Onkel, ein Apotheker, kam zwar für das Kind auf, nahm es aber nicht etwa zu sich oder brachte es bei einer Pflegefamilie unter, sondern zahlte ein Kostgeld in Höhe von 20 Rtlr. jährlich sowie die Ausstattung mit Kleidung, damit das Kind in das Altstädter Waisenhaus aufgenommen wurde 188 . Letztlich aber waren die Aneignung der Maßnahmen, das Verhältnis von öffentlicher und privater Versorgung und die Reichweite der Maßnahmen insgesamt von der Zahl tatsächlich unversorgter Kinder abhängig.

2.2.

Zunahme unterstützungsbedürftiger Kinder Gleichzeitige Zunahme von Pflegekindern und Fürsorgekindem - das zahlenmäßige Verhältnis am Beispiel Göttingens im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts

Wie in den vorhergehenden Kapiteln deutlich wurde, nahm die Zahl der auf öffentliche Kosten unterstützten Kinder im Zeitraum der Untersuchung zu. Mehrere Anzeichen sprechen dafür, daß es sich nicht um eine einseitige Ausweitung der öffentlichen Maßnahmen handelte, sondern daß der Bedarf, also die Zahl der unterstützungsbedürftigen Familien und Kinder, ebenfalls anstieg. Zu den Faktoren, die eine solche Entwicklung wahrscheinlich machen, gehören das starke Wachstum der Gesamtbevölkerung, die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lebensgrundlage vor allem nach dem Siebenjährigen Krieg und die Zunahme unehelicher Geburten am Ende des 18. Jahrhunderts. Wenngleich nicht jedes uneheliche Kind auf öffentliche Unterstützung angewiesen war, sahen doch zeitgenössische Kenner des Armenwesens wie der Göttinger Armenpfleger Wagemann und der Leiter der Entbindungsanstalt Osiander in den häufiger werdenden illegitimen Geburten den Hauptgrund für die zunehmende Zahl völlig unversorgter Kinder 189 .

186 187

188 189

Vgl. Kap. IV, Abschnitt 3.2. NHStA Dep. 7b Nr. 300. Zu einer Liste von sechs Kindern, die der Göttinger Superintendent Wagemann am 31.3.1806 zur Aufnahme vorschlug, äußerte sich der zuständige Schatzdeputierte Zwicker in einem Promemoria vom 10.4.1806 in allen Fällen ablehnend. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 8, Vertrag vom 15.3.1757. Vgl. Kap. IV, Abschnitt 2.3.

346

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

Darüber hinaus gibt es weitere Indizien für eine steigende Zahl unterstützungsbedürftiger Kinder. Michael Mitterauer hat für Österreich hervorgehoben, daß nicht nur unvollständige Familien, sondern auch die Zahl der Zieh- und Pflegekinder im Lauf des 18. Jahrhunderts zunahmen 190 . Dies wird für Göttingen dadurch bestätigt, daß anläßlich der Volkszählung von 1763 40 familienfremde Kinder ermittelt wurden 191 , also etwa dreieinhalbmal soviele wie 1689, während sich Bevölkerung und Zahl der Haushalte in diesem Zeitraum ungefähr verdoppelten 192 . Zugleich erlauben diese Zahlen, das Verhältnis von öffentlicher und privater Versorgung auch quantitativ genauer zu fassen. Berücksichtigt man, daß die 16 Insassen des Waisenhauses und zwölf wahrscheinlich auf Kosten der Armenkasse 'ausgetane', d.h. gegen Bezahlung an ihre Pflegefamilien vermittelte Kinder 193 ebenfalls zu der Gruppe der nicht direkt zu einer Familie gehörenden Kinder zählten, bleiben nur zwölf Kinder, die wirklich als private Kostgänger in fremden Familien lebten. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelte es sich dabei zum größten Teil um sozial besser plazierte Haushalte 194 . Darüber hinaus ist letztlich nicht bekannt, ob es sich bei all diesen familienfremden Kindern wirklich um Ziehkinder handelte; möglicherweise befanden sich darunter auch Kinder aus der Verwandtschaft, die als Lehrlinge oder Mägde im Hause dienten. Die Ergebnisse der Göttinger Zählungen zeigen, daß öffentliche Maßnahmen bei der Versorgung alleinstehender Kinder zumindest in der städtischen Gesellschaft insgesamt eine größere Bedeutung besaßen als private Hilfeleistungen. Dies wird noch deutlicher, ruft man sich noch einmal in Erinnerung, daß die Göttinger Armenkasse am Ende des 18. Jahrhunderts jährlich ca. 120-130 Kinder vollständig oder teilweise versorgte 195 , nicht gerechnet die ca. 20 im Waisenhaus lebenden Kinder. Die Zahl der armen Kinder, die eine Erziehungsbeihilfe benötigten, schätzte Gerhard Ludwig Wagemann im Jahr 1787 auf über 300 196 , wiederum ohne daß Waisenkinder und kleinere Kinder mitgezählt worden wären. Aus dem ländlichen Bereich liegen dagegen keine genaueren Zahlenangaben über eine mögliche Zunahme unversorgter Kinder und das Verhältnis von öffentlicher und privater Hilfe vor. Um die Reichweite öffentlicher Kinderversorgung wenigstens am Beispiel eines Ortes wirklich zuverlässig bestimmen zu können, 190 191

192 193 194 195 196

MITTERAUER, Vorindustrielle Familienfonnen, 176. StAGö AA Zählungen Nr. 6a. Zu den nicht eindeutigen Zahlenangaben bei SACHSE, Göttingen, vgl. Markus MEUMANN, Unversorgte Kinder als Indiz für die Unbeständigkeit familialer Bindungen im 18. Jahrhundert. Beispiele aus dem mittleren und südlichen Niedersachsen, in: Jürgen SCHLUMBOHM (Hg.), Familie und Familienlosigkeit. Fallstudien aus Niedersachsen und Bremen vom 15. bis 20. Jahrhundert, Hannover 1993, 133-145, hier 144. WINNIGE, Krise und Aufschwung, 140 Tabelle 11.24. Vgl. MEUMANN, Unversorgte Kinder als Indiz, 144. SACHSE, Göttingen, 202f. Vgl. Kap. IV, Abschnitt 2.3. Nachricht über die Versorgung der Armen in Göttingen vom Januar 1787 bis dahin 1788, Göttingen 1788, 6.

Gradmesser des Erfolgs: die Zukunft der Kinder

347

wäre es notwendig, das Domizil aller Kinder, ihre Beziehung zum Haushalt, den Familienstand der Haushaltsvorstände und die Empfänger von Armenunterstützung zu kennen. In Anbetracht der Quellenlage ist dies jedoch zumindest für den Untersuchungszeitraum nicht möglich. Die Zahlenangaben über unversorgte Kinder bleiben daher immer von den öffentlichen Leistungen abhängig - und somit vom obrigkeitlichen Angebot.

3.

Gradmesser des Erfolgs: die Zukunft der Kinder

Ein weiterer Gradmesser für die Beurteilung der öffentlichen Kinderversorgung ist die Verwirklichung der selbstgesetzten Ziele. Die Kinder sollten entsprechend den obrigkeitlichen Vorstellungen zu Arbeitsamkeit, Gottesfurcht und Konformität, "mithin zu nützlichen Mitgliedern der Republic angezogen werden"197. Damit sollte verhindert werden, daß sie "der menschlichen Gesellschaft entbehrliche und lästige Tagediebe, oder wohl gar, dem rächenden Arme der gerechtigkeit entgegen eylende Bösewichter" 198 würden. Voraussetzung für die Verwirklichung dieses Ziels war die spätere gesellschaftliche Integration der Kinder. Die Aussagefagigkeit der Quellen auf diesem Gebiet ist allerdings begrenzt. Nur in Ausnahmefällen liegen Nachrichten über den späteren Lebensweg eines Kindes vor, die wir zudem meist dem Zufall verdanken, indem etwa in einem anderen Zusammenhang erwähnt wird, daß eine Person in früheren Zeiten einmal zur Klientel der öffentlichen Kinderversorgung gehört hatte. Eine weitere Einschränkung resultiert aus der Quellenperspektive: Es besteht die Gefahr, daß vorrangig sozial auffallige Personen als Beispiele gescheiterter Fürsorgeerziehung erfaßt wurden, solche Personen, denen die Integration gelang, jedoch nicht auftauchen. Um einer möglichen Verzerrung zu begegnen, müssen daher zunächst die Integrationschancen der Kinder in einem allgemeineren Rahmen geprüft werden. Neben Einzelfällen und normativen Quellen steht dafür eine größere Zahl personenbezogener Daten in den Waisenhausbüchern zur Verfügung, die Auskunft darüber geben, wieviele Kinder überhaupt ordnungsgemäß entlassen wurden.

197 198

StACe 20 A Nr. 8, Schreiben der hannoverschen Regierung vom 7.11.1766. StACe L 3 Nr. 236, Stellungnahme des Hofrates Willich zur Auflösung des Waisenhauses vom 1.9.1801.

348

3.1.

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

Mortalität und Entlassungen Entlassungen - Sterblichkeit in Waisenhäusern - Mortalität der Findelkinder - Vergleich zu anderen Kindern

Nach der Konfirmation sollten die Jungen zur Sicherung des späteren Lebensunterhaltes gewöhnlich ein Handwerk erlernen, die Mädchen in ein Dienstverhältnis eintreten. Die Vermittlung an einen Lehr- oder Dienstherren war also Maßstab für den Erfolg der Erziehungsmaßnahmen; die Zahl der Kinder, die dieses Ziel erreichten, ist ein erster Indikator für spätere Integrationschancen. Die Auswertung der Einträge über die Entlassung von 220 Kindern aus dem Altstädter Waisenhaus in Hildesheim zeigt, daß nur etwa die Hälfte der Zöglinge nicht in ein Lehr- oder Dienstverhältnis entlassen werden Konnte.

Tabelle 14: Gründe für das Ausscheiden von 220 Kindern aus dem Altstädter Waisenhauses in Hildesheim

1

1 Zahl

Lehre/Diena

| gestorben

(Aufnahmen 1694-1726)

| Rückgabe* | entlaufen

4

| anderes

|

| Jungen | 128

67

|

26

|

8

|

| Mädchen]

92

41

1

16

|

11

|

| gesamt | 220

loa

1

42

|

19

|

4

|

|

19,1

|

|

1.0

I

| Prozent j 100

49, 1

8,6

3

ungewiß |

20

|

24

|

3

44

|

1,4

20

|

1

* an Eltern oder Verwandte Quelle: StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 7b

Sieht man von den Fällen ab, in denen kein Eintrag vorliegt, bildeten die zweitgrößte Gruppe jene Kinder, die vor dem Erreichen des Konfirmationsalters verstarben; an dritter Stelle standen Entlassungen an Eltern oder Verwandte. Diese erfolgten in der Regel nach Erreichen des Konfirmationsalters, teilweise aber auch vorzeitig, wenn etwa die Eltern eines verlassenen Kindes überraschend wieder auftauchten 199 . Vier Kinder waren aus dem Waisenhaus entlaufen, je eines war unter die Soldaten gegangen, aus dem Haus verwiesen bzw. von seiner Mutter entführt worden. Die ungewissen Schicksale einmal beiseite gelassen, ergibt sich insgesamt ein recht positives Gesamtbild: Beinahe drei Viertel der Kinder wurden durch die Vermittlung an einen Dienstherrn oder die Rückgabe an Eltern und Verwandte ordnungsgemäß entlassen. Dagegen hatte nicht einmal jedes 20. Kind das Waisenhaus auf unregelmäßigem Weg verlassen, was angesichts der Probleme des 199

Aus dem Moringer Waisenhaus wurde ein Kind im November 1746 bald nach der Aufnahme wieder entlassen, weil seine Eltern unvermutet aus Holland zurückgekehrt waren. NHStA Dep. 7b Nr. 288.

Gradmesser des Erfolgs: die Zukunft der Kinder

349

Anstaltsalltags nicht übermäßig erscheint 200 . Eine genauere Überprüfung verdient jedoch die Tatsache, daß immerhin jedes fünfte Kind vor der Entlassung verstarb. Entsprach dies der üblichen Sterblichkeit, oder handelte es sich um eine Folge des Anstaltslebens? Die Kindersterblichkeit war während der gesamten frühen Neuzeit sehr hoch. In Göttingen waren in der Mitte des 18. Jahrhunderts 58,3 Prozent (1750-1759) bzw. 55,9 Prozent (1760-1769) aller Verstorbenen Kinder bis 14 Jahre, in den 1820er Jahren lag dieser Anteil immerhin noch bei 38,7 Prozent 201 . Aus Hannover wird berichtet, daß 18 Prozent der Gestorbenen Kinder unter einem Jahr waren 202 . Über die Sterblichkeitsrate, d.h. die Berechnung der Todesfalle bezogen auf alle Geburten eines Jahrgangs, geben indes auch demographische Studien in den wenigsten Fällen Auskunft 203 . Zeitgenössische Statistiken sprechen für das Kurfürstentum Hannover von einer Kindersterblichkeit von 37,3 Prozent, die allerdings wegen methodischer Ungenauigkeiten zu hoch berechnet sein dürfte 204 . Während sich diese Angabe auf alle Geborenen bezieht, muß für einen Vergleich mit den Waisenkindern - die j a die hohe Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit zur Zeit ihrer Aufnahme in die Anstalt bereits überstanden hatten - als Bezugsgröße die Zahl der im Alter von sechs Jahren - als dem frühestmöglichen Aufnahmezeitpunkt - noch lebenden Kinder genommen werden. Walter G. Rödel hat auf der Grundlage von 2381 Geburten in Mainz im 17. und 18. Jahrhundert errechnet, daß 3,06 Prozent aller Geborenen im Alter von sechs bis zehn Jahren und 1,85 Prozent zwischen elf und 20 Jahren starben, insgesamt im Alter von sechs bis 20 also etwa 4,9 Prozent 205 . Berücksichtigt man, daß nach Rödels Angaben nur ca. 62 Prozent aller Geborenen das Alter von sechs Jahren erreichten, ergibt sich für die Altersspanne von sechs bis 20 Jahren eine Sterbewahrschein-

200 vgl. oben VI, Abschnitt 3.2. Im Coburger Waisenbaus z.B. lag der Anteil der davongelaufenen Kinder deutlich höher (18 von 150 Kindern). ROEPER, Das verwaiste Kind, 137. 201 202 203

204

205

Alle Angaben nach SACHSE, Göttingen, 109. HAUPTMEYER, 1636-1803, 104. Geradezu ad absurdum führt dies die vom Untersuchungsgebiet und -Zeitraum an sieb einschlägige Arbeit von Ulrike Begemann, die nicht einmal den Anteil von Kindern an allen Gestorbenen angibt. Ihre Auswertungen zur Kindersterblichkeit im Kirchspiel Limmer beschränken sich auf die Aussage, daß diese "einen beträchtlichen Teil der gesamten Sterblichkeit" ausmachte. Tabelle 23, die Aufschlüsse über die altersbedingte Sterblichkeit geben soll, ist wegen des Fehlens von absoluten oder auch nur relativen Bezugsgrößen (Erwachsenensterblichkeit) kaum aussagefähig. Vgl. BEGEMANN, Bäuerliche Lebensbedingungen, 90. KLOCKENBRING, Einige Resultate, 28. Da diese Zahl auf der Berechnung basiert, wie viele von 1000 Geborenen das Konfirmationsalter erreichten, dürften auch Totgeburten mit eingerechnet worden sein. Walter G. RÖDEL, Mainz und seine Bevölkerung im 17. und 18. Jahrhundert ( = Geschichtliche Landeskunde; 28), Stuttgart 1985, 204.

350

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

lichkeit in Höhe von ungefähr acht Prozent 206 . Nach den Berechnungen einer Arbeitsgruppe um Arthur E. Imhof, die auf einer weit größeren Zahl von Geburten basiert, bestand in der Mitte des 18. Jahrhunderts für die Altersgruppe zwischen fünf und 15 Jahren eine regional unterschiedliche Sterbewahrscheinlichkeit zwischen drei und zwölf Prozent 207 . Etwas höher lag die Sterblichkeitsrate, wählt man nur die Zahlen aus einer Gegend, die mit dem Untersuchungsgebiet die meisten strukturellen Übereinstimmungen aufweist: Im westfälischen Hartum 208 starben 1690 von 782 Kindern im Alter von fünf Jahren 67 (8,6 Prozent), bevor sie das 15. Lebensjahr vollendet hatten, 1740 lag dieser Anteil bei 13,1 Prozent. Gegenüber diesen Vergleichswerten erscheint die Sterblichkeit der Hildesheimer Waisenkinder von 19,1 Prozent deutlich erhöht gewesen zu sein, zumal dieser Wert aufgrund der Berechnungsmethode in Wirklichkeit noch einiges höher gewesen sein dürfte 209 . Nicht berücksichtigt wurden allerdings schichtenspezifische Unterschiede in der Sterblichkeit 210 und die besonderen Lebens- und Hygienebedingungen der Anstalten. Im Vergleich mit dem Coburger Waisenhaus, in dem zwischen 1702 und 1727 11,3 Prozent der Kinder verstarben 211 , und dem Stuttgarter Waisenhaus, das zwischen 1710 und 1760 eine Sterblichkeitsrate von 2 6 , 6 Prozent aufwies 2 1 2 , scheint die Hildesheimer Anstalt eine mittlere Stelle eingenommen zu haben. Gleichwohl bedeutete die Unterbringung im Waisenhaus für die Kinder

206

207 208

209

210

211 212

Von 2381 Kindern starben im Alter von 0-5 Jahren 38,1 Prozent, gleich 907 Kinder. Im Alter von sechs bis 20 Jahren starben 4,91 Prozent, gleich 117 Kinder. Dies entspricht 7,93 Prozent der 1474 im Alter von sechs Jahren Überlebenden. Ebd. IMHOF, Lebenserwartungen, 201, Grafik. Vgl. dazu Ines E. KLOKE, Untersuchungsgebiete - Ortsbeschreibungen, in: IMHOF, Lebenserwartungen, 8S-187, bes. 155-125. Von den ausgewählten Gegenden kommt Hartum sowohl geographisch als auch hinsichtlich Konfession, Wirtschaft und Erbrecht dem Untersuchungsgebiet am nächsten. Verschiebungen nach unten ergeben sich möglicherweise durch die Zahl der Kinder, über deren Zukunft keine Eintragungen vorliegen, mit Gewißheit aber dadurch, daß viele Kinder bei der Aufnahme sicherlich älter als fünf Jahre waren und die Sterbewahrscheinlichkeit bei Kindern mit steigendem Alter abnahm. Vgl. dazu Jürgen SCHLUMBOHM, Sozialstruktur und Fortpflanzung bei der ländlichen Bevölkerung Deutschlands im 18. und 19. Jahrhundert. Befunde und Erklärungsansätze zu schichtspezifischen Verhaltensweisen, in: Eckard VOLAND (Hg.), Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel: Versuch eines Dialogs zwischen Biologen und Sozialwissenschaftlern, Frankfurt a.M. 1992, 322-346, hier 340f. Tabellen 7 und 8. Die dort angeführten Beispiele aus verschiedenen Gegenden Deutschlands belegen, dafi die Säuglings- und Kindersterblichkeit beinahe überall schichtenspezifisch variierte, allerdings nach regional und zeitlich sehr unterschiedlichen Mustern. ROEPER, Das verwaiste Kind, 137. KALLERT, Waisenhaus und Arbeitserziehung, 40. Im Danziger Kinderhaus sollten einem zeitgenössischen Bericht zufolge sogar 90 Prozent aller aufgenommenen Kinder verstorben sein. Vgl. Rainer S. ELKAR, Das Kind in der Familie - Einige Bemerkungen zur historischen Familienforschung, in: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium 8 (1979), 2-7, hier 2.

Gradmesser des Erfolgs: die Zukunft der Kinder

351

immer eine Verschlechterung gegenüber dem Durchschnitt ihrer in der Familie versorgten Altersgenossen. Dies gilt in gleichem oder sogar noch höherem Maß auch für Findelkinder, deren Sterblichkeit weit über der von Waisen lag: nur die Hälfte erlebte überhaupt das Jugendalter. Von 52 Kindern, die zwischen 1700 und 1810 auf Kosten der Altstadt Hannover in Verpflegung gegeben wurden, starben 23, bevor sie das Konfirmationsalter erreicht hatten, was einer Sterblichkeitsrate von 44 Prozent entspricht 213 . Die Erklärung liegt darin, daß es sich bei den Findelkindern wahrscheinlich in der Regel um Säuglinge handelte. Allein 14 Kinder (26,9 Prozent) ereilte der Tod innerhalb eines Jahres nach ihrer Aufnahme. Im Alter von sechs bis 14 Jahren hingegen starben nach Maßgabe der Listen nur zwei Kinder. Wie aber verhielt es sich mit den Überlebenschancen von Findelkindern im Verhältnis zu anderen, von ihren Eltern aufgezogenen Kindern? Die Säuglingssterblichkeit, die stark nach Regionen und Perioden variierte, lag in ländlichen Gebieten bei IS bis über 25 Prozent, in den Städten zum Teil noch höher 214 . In Göttingen betrug die Säuglingssterblichkeit nach den Berechnungen von Wieland Sachse in den 1750er Jahren 25,4 Prozent, im folgenden Jahrzehnt 21 Prozent; diese Ziffer dürfte eher etwas oberhalb der tatsächlichen Sterblichkeit liegen, da möglicherweise einige Totgeburten miteingerechnet wurden 215 . Für einen Vergleich zwischen Findelkinder- und durchschnittlicher Säuglingssterblichkeit müssen jedoch mehrere Faktoren berücksichtigt werden. Einmal stellt die errechnete Findelkindersterblichkeit nur ein Minimum dar, da wegen fehlender Angaben nicht mit Sicherheit davon auszugehen ist, daß alle übrigen Kinder überlebten 216 . Insofern kann in jedem Fall eine deutlich erhöhte Sterblichkeit von Findelkindern gegenüber der allgemeinen Kindersterblichkeit abgeleitet werden. In einem zweiten Schritt aber müßten die in der Regel unehelichen Findelkinder mit anderen unehelichen Kindern verglichen werden, deren Sterblichkeit vermutlich ebenfalls deutlich über der allgemeinen Kindersterblichkeit lag217. 213 214

215

216

217

StAH B Nr. 6617m-6746g. IMHOF, Lebenserwartungen, 199 Grafik; SCHLUMBOHM, Sozialstruktur, 341 Tabelle 8. Die Angaben zur städtischen Säuglingssterblichkeit im 18. Jahrhundert schwanken zwischen 25 und 40 Prozent, vgl. dazu Etienne FRANÇOIS, La mortalité urbaine en Allemagne au XVIIIe siècle, in: Annales de démographie historique 1978, 135-165, hier 137-141. RÖDEL, Mainz, 204, gibt eine Säuglingssterblichkeit von 22,1 Prozent an. SACHSE, Göttingen, 107. Die Berechnung ist allerdings problematisch, da sie nicht auf einer (eigentlich erforderlichen) Familienrekonstitution, sondern der einfachen Umrechnung der gestorbenen Säuglinge auf die Gesamtzahl der Geborenen basiert. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht allerdings dafür, daß der Tod eines Kindes in den Kämmereiregistern verzeichnet wurde, weil damit auch die Zahlungen eingestellt werden konnten. Das Problem der unbekannten Fälle bleibt jedoch auch bei einer weit gröfieren Datenbasis prinzipiell bestehen. Vgl. dazu HUNECKE, Findelkinder, 117. SCHULTZ, Social Différences, 242; MITTERAUER, Ledige Mütter, 19. Vgl. auch SCHUBERT, Arme Leute, 133, dessen Annahmen allerdings auf Zahlen aus dem 19. Jahrhundert basieren, ebenso wie die Beobachtungen von SPREE, Soziale Ungleichheit, (SO, 177.

352

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

Eine drastisch erhöhte Findelkindersterblichkeit, wie sie aus französischen und anderen Findelhäusern bekannt geworden ist, kann damit ausgeschlossen werden 218 . Der Grund dafür dürfte sein, daß die Kinder - ermöglicht durch ihre vergleichsweise geringe Zahl - häufig bei Säugammen untergebracht werden konnten, wodurch die Versorgung mit der lebensnotwendigen Muttermilch gesichert war 219 . Dagegen war es in bestimmten Regionen Frankreichs wie z.B. der Normandie aufgrund der großen Zahl der Kinder keine Seltenheit, daß zehn oder noch mehr Kinder bei einer Amme lebten und mit Kuhmilch oder Breien ernährt wurden, was vor allem aufgrund der hygienischen Bedingungen zu einer drastisch erhöhten Sterblichkeit führte 220 . Über die Todesursachen von Findelkindern enthalten die Quellen keinerlei Angaben. Wahrscheinlich handelte es sich um die typischen Ursachen der Säuglingssterblichkeit:

Geburtsfolgen,

Verdauungs-

und

Atmungserkrankungen 221 .

Dazu mögen in manchen Fällen noch gesundheitliche Beeinträchtigungen durch die Aussetzung gekommen sein, beispielsweise Nahrungsmangel oder Unterkühlung. Inwieweit das Verhalten der Mutter während der Schwangerschaft und der Bruch der Mutter-Kind-Beziehung eine Rolle spielten, muß dahingestellt bleiben 222 .

Unter

den

(Schwindsucht)

die

218

219

220

221

222

223

Waisenkindern häufigsten

waren

Fieber

Todesursachen 223 ,

und was

Lungenkrankheiten den

Verhältnissen

Die Sterblichkeitsrate von Findelkindern in Frankreich überstieg um ein vielfaches die allgemeine Kindersterblichkeit. In Lisieux überlebten nur 40 Prozent der Kinder, die bei der Ankunft bei der Amme nicht älter als einen Monat waren, das erste Jahr. Archives départementales du Calvados, Série H supplément Hôpital de Lisieux, fonds ancien Nr. 468-470, fonds moderne Q Nr. 61ff. Den absoluten Höhepunkt markierte Rouen, wo über 90 Prozent der Kinder innerhalb des ersten Jahres verstarben. BARDET, Enfants abandonnés, 27. HUNECKE, Findelkinder, 119, kommt zu dem Schluß, daß im Mailand des 19. Jahrhunderts die Säuglingssterblichkeit bei ehelichen Findelkindern dreimal so hoch war wie bei ihren nicht ausgesetzten Geschwistern. Von Pflegemüttern für uneheliche Kinder in Franken, die außerordentlich viele Sterbe fälle zu verantworten hatten, berichtet SCHUBERT, Arme Leute, 132. Zur Notwendigkeit des Stillens Antoinette FAUVE-CHAMOUX, La femme devant l'allaitement, in: Annales de démographie historique 1983, 7-22, bes. 9. Archives départementales du Calvados, Série H supplément Hôpital de Lisieux, fonds moderne Q Nr. 203. Vgl. auch BARDET, Enfants abandonnés, 32, und HUNECKE, Findelkinder, 117. Den Zusammenhang zwischen Ernährungsweise und Sterblichkeit belegen auch IMHOF, Säuglingssterblichkeit, 347f. und 354; sowie John KNODEL und Etienne VAN DE WALLE, Breast Feeding, Fertility and Infant Mortality: An Analysis of some Early German Data, in: Population Studies 21 (1967), 109-131, bes. IIS, nach deren Berechnungen die Sterblichkeit bei nicht gestillten Säuglingen zu Anfang des 20. Jahrhunderts mehr als doppelt so hoch wie bei ihren gesäugten Altersgenossen war. Zu den hygienischen Problemen der Ersatzernähiung vgl. Catherine ROLLET, L'allaitement artificiel des nourrissons avant Pasteur, in: Annales de démographie historique 1983, 81-92. Vgl. IMHOF, Säuglingssterblichkeit, 352; KNODEL, Demographic Behaviour, 46; LÄGET, Naissances, 293; VASOLD, Pest, 201. Vgl. zu diesen Überlegungungen André ARMENGAUD, La famille et l'enfant en France et en Angleterre du XVIe au XVIIIe siècle, Paris 1975, 107. In den Einbecker Waisenhausrechnungen sind bei 13 von 17 notierten Todesfällen die Ursachen angegeben. Danach starben drei Kinder an einem "Wurmfieber", zwei weitere an "hektischem Fieber", zwei an "Schwindsucht", zwei an einer nicht weiter spezifizierten "auszehrenden" Krankheit und je eines an "Epilepsie", "Stockfluß", den "Schürchen" (einer

353

Gradmesser des Erfolgs: die Zukunft der Kinder

außerhalb

geschlossener

Anstalten

entsprach 224 .

Abschließend

läßt

sich

feststellen, daß die Sterblichkeit von Fürsorgekindern insgesamt sicherlich über der durchschnittlichen Sterbewahrscheinlichkeit lag, dieser Abstand sich aber im Vergleich zu anderen in Armut und Not aufwachsenden Kindern wahrscheinlich relativierte. Im Gegensatz zu anderen Gegenden, vor allem solchen mit hohen Aussetzungszahlen,

waren

die

Überlebenschancen

von

Findel-

und

Waisenkindern im Untersuchungsgebiet sogar vergleichsweise gut.

3.2.

Integrationschancen Lehre und Dienst - Aussichten des erlernten Handwerks - gesellschaftliche Vorurteile Uneheliche und Findelkinder - stigmatisierende Findelkindernamen - Zigeunerkinder

Ein großer Teil der Kinder - im Altstädter Waisenhaus zu Hildesheim immerhin wenigstens 49,1 Prozent aller zwischen 1694 und 1724 aufgenommenen Kinder traten in einen Dienst ein oder begannen eine handwerkliche Lehre. Eine genauere Betrachtung der Hildesheimer Daten zeigt, daß Jungen (52 Prozent) häufiger untergebracht wurden als Mädchen (45 Prozent). Letztere kamen dafür häufiger zu Verwandten als Jungen (zwölf gegenüber sechs Prozent). Dies entsprach der üblichen Praxis, daß Mädchen häufig im elterlichen Haushalt halfen und ihr Elternhaus daher gewöhnlich später verließen als Jungen 225 . Während über die spätere Tätigkeit der Mädchen nichts weiter bekannt ist, als daß sie als Dienstboten in verschiedenen Haushalten tätig waren, lassen die Lehrberufe der Jungen möglicherweise Aussagen über die späteren Berufschancen zu. Bei 51 von 67 Lehrjungen des Altstädter Waisenhauses in Hildesheim ist der Lehrberuf der Jungen angegeben. Die am häufigsten erlernten Handwerke waren Kleinschmied (7), Handschuhmacher (4), Schuhmacher bzw. Schuster (4), Zimmermann (4), Knopfmacher (3) und Wollzeugmacher (3). Jeweils zwei Jungen lernten Bäcker, Glaser, Korbmacher und Schmied. Die übrigen verteilten sich auf zwanzig weitere Handwerke. Vergleicht man dieses Berufsspektrum mit den späteren Lehrberufen von 68 Jungen der Aufnahmejahrgänge 1762/1763 bis 1799/1800 des katholischen Waisenhauses in Hildesheim, so fällt eine erhebliche Verdichtung auf einige Handwerke auf: Allein 26 Jungen lernten das Schuster- oder Schuhmacherhandwerk,

224 225

fieberhaften Erkrankung) und einer "Geschwulst". NHStA Hann. 72 Einbeck Nr. 766-777, NHStA Hann. 52 Nr. 2263,1-III, StAEin LC VI 2c Nr. 4a. Vgl. BEGEMANN, Bäuerliche Lebensbedingungen, 93-95. Diese Beobachtung macht für das ausgehende 17. Jahrhundert WINNIGE, Krise und Aufschwung, 114, für die spätere Zeit auch Burkhard SACHSE, Soziale Differenzierung und regionale Verteilung der Bevölkerung Göttingens im 18. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Instituts für historische Landesforschung der Universität Göttingen; 11), Hildesheim 1978, 26.

354

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

20 wurden Schneider und 13 Tischler. Die übrigen neun verteilten sich auf sieben Berufe, nämlich Buchbinder (2), Hutmacher (2), Chirurg bzw. Feldscher (2), Drechsler, Grobschmied und Leineweber (je l) 2 2 6 . Ähnliche Berufsaussichten bestanden für Jungen aus dem Einbecker Waisenhaus. Unter den ermittelten Lehrberufen von insgesamt 41 Jungen, die zwischen 1714 und dem Ende des Jahrhunderts im Waisenhaus aufgenommen wurden, waren am häufigsten die Berufe der Textilherstellung vertreten, nämlich Flanell- und Tuchmacher (9), Zeugmacher (6) und ein Leineweber, was damit in Verbindung stehen dürfte, daß die Waisenkinder schon früh in der Textilproduktion arbeiten mußten227. Darauf folgten Schneider (8) und Schuster (7); die übrigen Kinder verteilten sich auf zehn weitere Berufe. Diese Konzentration auf wenige Handwerke entsprach nur bedingt der Handwerksstruktur: Zwar gehörten Schneider, Schuhmacher und Tischler zu den zahlenmäßig bedeutendsten Handwerksberufen; dies galt aber ähnlich für Bäcker und Fleischer, die offensichtlich nur wenige oder gar keine Waisenknaben aufnahmen 228 . Wenn auch ein handwerklicher Beruf tendenziell die Zugehörigkeit zur Mittelschicht sicherte 229 , waren die Kinder doch im wesentlichen auf die traditionell überbesetzten und eher mäßige Verdienstaussichten versprechenden Berufe des Textil- und Bekleidungssektors festgelegt 230 , die schon bei ihren Vätern am häufigsten anzutreffen waren. Von den auskömmlicheren Berufen des Nahrungsmittelsektors waren sie dagegen weitgehend ausgeschlossen. Die Erklärung für eine Konzentration auf eher überbesetzte und einkommensschwächere Handwerke könnte in der Haltung der Gesellschaft zu Fürsorgekindern liegen: In der ständischen Gesellschaft der frühen Neuzeit waren die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und eine untadelige Herkunft von eminenter Bedeutung. Dieses galt in besonderem Maße für das zünftig gegliederte städtische Handwerk, das nicht nur unehelichen Kindern die Aufnahme verweigerte, sondern auch an vorzeitigen Geburten nach der Eheschließung Anstoß nahm 231 . In dieser auf die Zunftehre so sehr bedachten Gesellschaft trafen nicht nur Kinder von unehelicher oder unbekannter Herkunft, sondern auch Waisen allgemein auf die Ablehnung der Ämter und Gilden. Dies belegen zwei hannoversche Reskripte aus dem Jahr 1711. Mit dem ersten Reskript vom 20. März legitimierte der Kurfürst "hiermit und in Kraft dieses, vermöge habender Landes-Herrschafftlicher 226 227 228

229 230 231

StAHi Best. 100 Abt. 178 Nr. 2a, 4-39, 1799/1800. Vgl. dazu Kap. V, Abschnitt 1.1. KAUFHOLD, Handwerk, 20; SACHSE, Göttingen, 156. Auch hinsichtlich der Betriebsgrößen ähnelten sich Textil- und Bekleidungsgewerbe einerseits und Nahrungsmittelhandwerk andererseits. KAUFHOLD, Handwerk, 293. Das Bäckerhandwerk erlernten jedoch nur drei Jungen aus den drei untersuchten Waisenhäusern, das Fleischerhandwerk niemand. Vgl. die Zuordnungen nach dem 'multiplen Sozialindex' bei SACHSE, Göttingen, 165f. Vgl. SACHSE, Göttingen, 165. Vgl. Kap. II, Abschnitt 3.

Gradmesser des Erfolgs: die Zukunft der Kinder

355

Macht und Gewalt, alle dergleichen Fündlinge und Zigeuner-Kinder, welche Wir zu ihrer Erziehung den nohtdürfftigen Unterhalt reichen lassen" 232 . Anlaß für diesen Schritt war, daß sich Ämter und Gilden weigerten, solche Kinder aufzunehmen. Aus dem zweiten Reskript vom 23. Dezember geht hervor, daß Ämter und Gilden pauschal Kinder aus Waisenhäusern ablehnten, die deswegen "nicht allein Amt- und Gildenfähig, sondern auch für ächt- und recht gebohrne gehalten werden" 233 sollten. Die Amtmeister sollten zur Einschreibung solcher Kinder gegebenenfalls von den Obrigkeiten gezwungen werden. Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, daß am ehesten Handwerksmeister mit geringem Einkommen einen Waisenknaben aufnahmen, dessen Lehrgeld ja immerhin die Waisenhäuser garantierten234. Gleichzeitig könnte die Einschreibegebühr in diesen Gewerben niedriger als im Bäcker- oder Fleischerhandwerk gewesen und für die Anstalten damit günstiger gewesen sein 235 . Die Vorurteile gegen Waisenkinder hielten sich jedoch hartnäckig: Ein Junge aus dem Altstädter Waisenhaus in Hildesheim mußte noch 1751 Tagelöhner werden, weil ihn Ämter und Gilden nicht annehmen wollten 236 . Für Schwierigkeiten bei der Vermittlung von Waisenhauszöglingen spricht auch, daß einige der Einbecker Kinder in erheblicher Entfernung untergebracht wurden, so in Hannover, Göttingen, Hameln, Alfeld, Clausthal und Bodenwerder. Einige Waisenknaben gingen deshalb anderen Tätigkeiten nach: Jeweils ein Junge aus dem Altstädter und dem Einbecker Waisenhaus wurde Soldat, zwei andere Einbecker Kinder kamen als Diener bei einem Kaufmann bzw. einem Adligen unter, und sechs weitere nahmen einen Dienst an, darunter einer, weil er keine "Lust" zum Handwerk hatte 237 . Doch nicht nur bei den Zünften stießen die Waisenkinder auf Mißtrauen. Dieses war vielmehr als Teil einer generellen Ablehnung der unteren Schichten auch bei wohlmeinenden Beobachtern verbreitet238. Der hannoversche Pfarrer Philipp Gerhard Scholvin schrieb 1799 in seinem Testament:

232 233

234 235

236

237 238

CCC, Bd. 3, 24f., Zitat 25. Ebd., 25f., Zitat 26. Zu der Ablehnung von Waisenkindern durch die Zünfte auch SCHUBERT, Arme Leute, 133. Siehe oben Kap. V, Abschnitt 2.1. Über die Zahl der Lehrlinge in den einzelnen Gewerben und die Höhe der Einschreibegebühren liegen leider keine Ergebnisse vor. Vgl. KAUFHOLD, Handwerk, 76-80. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 7a, Auszug aus dem Register 1751. ALBRECHT, Armenvögte, 61, ist der Auffassung, daß die obrigkeitlichen Ehrerklärungen nur von sehr geringer Wirkung waren. NHStA Hann. 52 Einbeck Nr. 767, 1723. So gab sich z.B. der Vorsitzende des Celler Annenkollegiums, Hoftat Berger, Uberzeugt, daß "die meisten von unseren Armen mehr dem betteln und dem Müßiggange, als dem Stillesitzen und der Arbeit nachhängen". StACe 20 A Nr. 8, Schreiben vom 30.6.1768.

356

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

"Ich habe seit mehr als 40 Jahren, so wie andere bemerket, daß die Kinder des hiesigen Waysenhauses aus Mangel der Gelegenheit zu Handarbeiten sich zur Trägheit vor andern gewöhnen. Sie schlagen daher, wenn sie bey Handwerkern in die Lehre kommen, oder in Dienste treten, selten ein. Halten sie die Lehrjahre aus, so gerathen sie oft bey der Wanderschaft in auswärtige Kriegsdienste, wozu sie doch in ihrem Vaterlande nicht erzogen worden"*39. Ob dieser negativen Einschätzung der Zukunft von Waisenkindern zumindest eine gewisse Erfahrung zugrundelag, läßt sich im Rücklick nicht entscheiden. Zwar berichtet Ekkehard Reiff, daß man in Clausthal mit der Lehre von Waisenknaben "auch einige schlechte Erfahrungen gemacht" 240 habe, und auch in den Quellen anderer Waisenhäuser gibt es einige Hinweise auf Probleme zwischen Waisenjungen und Lehrherrn; diese sind aber sehr vereinzelt und mögen ebenso bei anderen Lehrlingen vorgekommen sein 241 . In historiographischen Beschreibungen einzelner Waisenhäuser werden häufig Beispiele ehemaliger Waisenkinder angeführt, die es nachmals zu einiger Prominenz brachten 242 . Zu den Beipielen einer gelungenen Integration zählt auch ein Waisenknabe in Clausthal, der nach dem Tod des Waisenvaters 1805 vorübergehend die Aufsicht über die anderen Kinder übernahm und anschließend das Schulseminar in Hannover besuchen durfte 243 . Zumindest für den Untersuchungszeitraum handelte es sich dabei jedoch um eine eindeutige Ausnahme 244 . Vielmehr betonten die für die Erziehung der Waisenkinder Verantwortlichen immer wieder, die Kinder sollten nicht "über, sondern für ihren Stand" 245 erzogen werden. Durch eine mögliche Orientierung der Kinder auf sozialen Aufstieg befürchtete man die Auflösung der ständischen Ordnung sowie einen Mangel an Arbeitskräften. Die theologische Fakultät in Göttingen, die für die im Vergleich zu anderen Waisenhäusern sehr ambitionierten Göttinger Lehrinhalte verantwortlich war 246 , versuchte solche Bedenken 1773 zu zerstreuen: "Nie vergessen wir bei Auferziehung der uns anvertraueten Waisen, daß die Stände der Welt, welche Gott unterschieden, nicht verwirret 239 240 241

242 243 244

245 246

StAH A Nr. 3916, Testament Scholvins vom 6.11.1799. REIFF, Waisenhaus Clausthal, 13. 1699 erhielt ein Lehnneister in Hildesheim eine zusätzliche Zuwendung von 3 Rtlr. für seinen Lehrjungen, "mit welchen Er Schwachheit halber vieles ausstehen müste". StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 7a, I, Auszug aus dem Rechnungsbuch vom 19.5.1699. 1752 entwich in Hildesheim ein Junge seinem Lehrmeister unter dem Vorwand, seine Wäsche in das Waisenhaus bringen zu wollen, ebd. Ein Junge in Einbeck wechselte aus unbekannten Gründen seinen Lehrherrn. ROEPER, Das verwaiste Kind, 138. REIFF, Waisenhaus Clausthal, 14. Nach ROEPER, Das verwaiste Kind, 139, wurde ehemaligen Waisen ab 1800 häufiger die Lehrerausbildung ermöglicht. ECKART, Waisenhaus Nörten, 20. Vgl. Kap. V, Abschnitt 2.2.

Gradmesser des Erfolgs: die Zukunft der Kinder

357

werden müssen; woferne man nicht Abhängung, Ordnung, Ruhe und damit auch das ganze Glöck der menschlichen Gesellschaft zernichten will. (...) Der mit Lateinischer und Griechischer Gelehrsamkeit versehene Bauern- oder Tagelohners-Sohn, würde sich nun zu hoch für den Pflug und die häuslichen Dienste dünken" 247 . In Clausthal durften die Waisen nur dann ein Handwerk erlernen, wenn sie zum Bergbau vollkommen unfähig waren; viele Jungen wollten angeblich nicht mehr in den Pochwerken arbeiten 248 . Härter noch als Waisen trafen die Ehrvorstellungen der ständischen Welt uneheliche und Findelkinder. Da unehelichen Kindern der Zugang zu den Zünften prinzipiell verschlossen war, blieb ihnen nur das Ausweichen in andere Tätigkeiten. Dies zeigt anschaulich ein Vermerk im Register des Altstädter Waisenhauses zu Hildesheim von 1750: "Christoph Kanter ist bey einem Müller gangen, weil er als ein Hurenkind zu keiner profession tüchtig" 249 . So wundert es nicht, daß einer der oben erwähnten Jungen, die unter die Soldaten gingen, unehelich war und ein in Einbeck versorgtes Findelkind Knecht in der Landwirtschaft wurde 250 . Als zusätzliches Stigma wirkten bei Findelkindern die Namen, die jedermann auf den ersten Blick deutlich machten, daß er es mit einem ehemaligen Findelkind zu tun hatte. Entweder verwiesen die Namen einfach auf die unbekannte Herkunft, oder aber sie spielten auf den Fundort an: "Fündeling", "Kirchhof" oder "Steinweg" gehörten zu den wiederkehrenden Familiennamen 251 . Diesem Umstand verdanken wir heute die zufallige Identifizierung einiger Findelkinder: 1725 diente bei einem Krüger im hildesheimischen Upstedt eine ca. 35jährige Magd namens Heide Fündeling 252 , 1801 wurde von der Kämmerei der Altstadt Hannover das Kind einer Gefangenen versorgt, die sich Louise Fündeling nannte 253 . Eine andere Louise Fündling wurde am 15. März 1811 zur Entbindung im hannoverschen Accouchirinstitut aufgenommen. Als Herkunftsort wurde das Werkhaus angegeben 254 . Diese Beispiele lassen vermuten, daß die Integrationschancen von Findelkindern ausgesprochen gering waren. Besitzlos und ohne Platz in der Gesellschaft, dazu noch weithin sichtbar mit dem Makel einer zweifelhaften Herkunft behaftet, dürften ehemalige Findelkinder kaum Aussichten auf eine Verheiratung oder den Erwerb von Besitz gehabt haben 255 . Dies gilt wahrscheinlich ebenfalls für Wai247 248 249 250 251 252 253 254 255

Die fünf und zwanzigste Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause, Göttingen 1773, 3. REIFF, Waisenhaus Clausthal, 13. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 7a. NHStA Hann. 52 Einbeck Nr. 772, 1747; ebd., Nr. 766, 1721. Vgl. Anhang 5. Einige ähnliche Beispiele nennt auch SCHUBERT, Arme Leute, 133. NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9902, Schreiben des Amtes Winzenburg vom 18.12.1725. StAH B Nr. 6737g. Ebd., Nr. 8623m. Dieser Auffassung ist auch SCHUBERT, Arme Leute, 122.

358

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

senmädchen, denen wohl gleichfalls nur das Dienstbotendasein blieb, wenn sie nicht gar in die Obdachlosigkeit abrutschten. So stellten sich zwei Frauen, die in Northeim 1780 als verdächtige Vagabundinnen aufgegriffen wurden, als frühere Waisenkinder heraus 256 . In Celle gerieten zwei ehemalige Waisenmädchen 1806 wegen Diebstahls in Haft 257 . Konnten die obrigkeitlichen Erziehungsziele bereits bei Waisen und Findelkindern nicht oder nur bedingt erreicht werden, galt dies vermutlich erst recht für die Umerziehung von Zigeunerkindern. Die wenigen Beispiele für die Zukunft einiger Zigeunerkinder sprechen deutlich gegen eine spätere Integration: Nur zwei der auf Kosten der Kammer erzogenen Kinder kamen in Dienst. Fünf starben, bevor sie das 15. Lebensjahr erreicht hatten, und eines lief von den Pflegeeltern fort 258 . Ein Mädchen, das wohl zu der ersten, 1707 aufgegriffenen großen Gruppe gehörte, mußte bis zu seinem Tod 1755 auf Kosten der Kammer versorgt werden, da es taubstumm war 259 . 1768 wurde im Amt Gifhorn eine Frau, die "in ihrer Kindheit von dem köngl. Amte Rothenburg denen Zigeunern abgenommen seyn soll", als Vagabundin festgenommen260. Aus der Grafschaft Lippe, die sich den hannoverschen Maßnahmen zur Zwangserziehung angeschlossen hatte, sind zwei weitere Schicksale von umerzogenen Zigeunerkindern bekannt 261 . Ein 1741 im lippischen Amt Blomberg arretierter Junge wurde auf Anordnung der hannoverschen Regierung zum Festungsbau nach Hameln gebracht. Acht Jahre später wurde dem Jungen ein "ehrliche[s] und redliche[s] Gemüth(s)" attestiert und ihm erlaubt, bei einem Steinhauermeister in Hameln in die Lehre zu gehen 262 . In dem zweiten Fall wurde 1744 ein Mann aufgegriffen, der in seiner Jugend zu den zwangserzogenen Zigeunerkindern gehört und anschließend eine Schlosserlehre absolviert hatte. Weil ihn der Meister mißhandelt hatte, war er davongegangen und hatte sich schließlich einer Gruppe von umherziehenden Zigeunern angeschlossen263. Diese zwei Beispiele lassen natürlich kein endgültiges Urteil über die Erziehungserfolge zu. Dennoch vermutet Michael Frank aufgrund "konzeptionelle[r] und strukturelle[r] Schwächen der eher kruden Erziehungsversuche"264, daß der zweite Fall die Regel darstellte. Deutlicher verweist ein Bericht des Amtmannes von Polle auf nachhaltige Probleme mit der Erziehung von Zigeunerkindern, auch wenn die Darstellung si256 257 258 259 260 261 262 263 264

StANom R X e Nr. 1, Protokoll vom 6.12.1780. StACe L 3 Nr. 230, Schreiben vom 3.6.1806 und vom 24.12.1806. NHStA Hann. 76c A Nr. 233ff. Ebd., Nr. 233-280. NHStA Hann. 74 Gifhorn Nr. 731, Nov. 1768. FRANK, Obrigkeitliche Anordnungen, 106-109. Ebd., 106f., Zitat 107. Ebd., 107f. Ebd., 108.

Sozialdisziplinierung oder Subsidiarität?

359

cherlich von Vorurteilen beeinflußt war. Der Amtmann klagte, daß die Kinder ständig die Pflegeeltern wechselten und er Schwierigkeiten habe, geeignete Familien zu finden. Grund dafür war seiner Aussage nach, daß die Kinder "von ihrer Art nicht zu laßen scheinen, dazu auch sämtlich theils krum - lahm - blind, und sonst solcher Leibes-Constitution, und ungesund seyn, daß woferne sie nicht nach und nach sterben, keine Hoffnung übrig, solche jemahlen aus der Pension setzen zu können, indem sie ihr brodt zu verdienen nicht im Stande sind, auch keine Verwandte haben. [Ein weiteres Problem sei, daß] diese Zigeuner Kinder auch nicht allein an sich voller boßheit stecken, sondern von anderen boßhafften Leuten (...) verführet, und gegen ihre PflegEltern aufgebracht werden" 265 .

Die Subjektivität dieses und ähnlicher Berichte läßt sicherlich ebensowenig wie die Zufälligkeit einzelner Lebensgeschichten ein repräsentatives Bild von den Erfolgen der obrigkeitlichen Erziehungsmaßnahmen entstehen. Die geschilderten Integrationsprobleme müssen aber in die Gesamtbewertung von Reichweite und Wirkung obrigkeitlich-öffentlicher Kinderversorgung eingehen.

4.

Sozialdisziplinierung oder Subsidiarität? Der Charakter obrigkeitlicher Ordnungs- und Versorgungsmaßnahmen

Wie eingangs des Kapitels erwähnt wurde, herrschen in der Forschung unterschiedliche Beurteilungen über die Durchsetzung obrigkeitlicher Maßnahmen. Dabei ist ein zeitlicher Wandel in der herrschenden Forschungsmeinung sichtbar, vor allem für den Bereich der frühneuzeitlichen Ordnungspolitik. Während in älteren Arbeiten, die das Problem nahezu auschließlich aus der Perspektive 'von oben' behandelten, die obrigkeitlichen Willensäußerungen gleichsam als deren Umsetzung gewertet wurden 266 , stellen neuere Studien durchweg die Defizite der obrigkeitlichen Ordnungspolitik in den Vordergrund der Bewertung 267 . Eine wichtige Rolle in dieser Argumentation spielen die Verordnungen und Mandate gegen fremde Bettler, die durch die darin geführten Klagen über das andauernde Bettlerproblem und die ständigen Erneuerungen und Verschärfungen

265

266

267

NHStA Hann. 93 Nr. 2631, "Extract aus dem von dem Amtmann Riimann zu Polle erstatteten Bericht de dato den 11"" May 1746." Vgl. dazu FRANK, Sozialdisziplinierung und Überlebensstrategien - Kategorien einer abschließenden Interpretation, in: BOTT-BODENHAUSEN (Hg.), Sinti, 219-228, hier 219. SCHUBERT, Arme Leute, 322-330; RÜTHER, Räuber und Gauner, 148f.; ders., Räuber, Volk und Obrigkeit. Zur Wirkungsweise und Funktion staatlicher Strafverfolgung im 18. Jahrhundert, in: Heinz REIF (Hg.), Räuber, Volk und Obrigkeit. Studien zur Geschichte der Kriminalität in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1984, 17-42, bes. 25ff.

360

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

ihre eigene Wirkungslosigkeit versinnbildlichen 268 . Diese Beobachtung trifft wie für so viele Territorien auch für das Hochstift Hildesheim, vor allem aber für das Kurfürstentum Hannover und seine Vorläufer zu 269 . In eine ähnliche Richtung weisen die wiederholten Ermahnungen der hannoverschen Regierung, die landesherrlichen Armenordnungen besser durchzusetzen. Schon 1718 bemängelten die Geheimen Räte, die Armenordnungen würden weder im calenbergischen noch im lüneburgischen Teil ausreichend beachtet 270 . 1721 hieß es erneut, die "bisherige Veranstaltung wegen des ohnleidlichen Gassen-Betteins" in Hannover sei "nicht zulänglich" gewesen 271 . In der Tat scheint ein langfristiger ordnungspolizeilicher Erfolg, z.B. bei der Bekämpfung des Kinderbettels, nicht erreicht worden zu sein. In Celle bestand das Problem trotz der am Ende des 17. Jahrhunderts durchgeführten Einweisung bettelnder Kinder im Waisenhaus fort, und die Einrichtung eines Spinnhauses 1766 hatte unverändert zum Ziel, "der das Gaßenbetteln treibenden Jugend Unterricht zur Wollenspinnerei mithin Gelegenheit zu einigem Verdienst" zu geben 272 . Auch in Hannover schlug 1765 eine Verordnung gegen bettelnde Kinder 273 ähnliche Arbeits- und Erziehungsmaßnahmen vor, wie sie schon in den Armenordnungen von 1700 und 1702 vorgesehen waren 274 . Selbst der Gründer der Göttinger Industrieschule, Gerhard Ludwig Wagemann, mußte bei aller Bemühung um eine positive Bilanz seines Projektes einräumen, daß auf den Straßen zwar erheblich weniger, aber eben immer noch gebettelt wurde 275 . Eine Ursache für das Scheitern ordnungspolitischer Maßnahmen liegt darin, daß diese sich letztlich immer nur gegen die Symptome eines sozialen Notstandes richteten; die Ursachen von Armut und Bettel wurden damit nicht abgeschafft und verschlimmerten sich sogar im Lauf des 18. Jahrhunderts. Angesichts der offenkundigen Wirkungslosigkeit der Ordnungspolitik wundert es, wie das Armenwesen und insbesondere die geschlossene Armenpflege in den verschiedenen Versorgungs- und Arbeitsanstalten vorrangig unter dem Paradigma der Sozialdisziplinierung haben interpretiert werden können 276 . Die normativen Vorgaben der Armenordnungen und der von Disziplin und Frömmigkeit geprägte Alltag in den Waisenhäusern dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß - wie die Verbreitung kindlicher Versorgungslosigkeit in der frühneuzeitlichen Gesellschaft 268 269 270

271 272 273 274 275 276

SCHUBERT, Anne Leute, 322; TITZ-MATUSZAK, Mobilität der Armut, 40, 43, 45. Vgl. Kap. IV, Abschnitt 3.3. Für Calenberg: NHStA Cal. Br. 23b Nr. 177, "Landesherrliches Mandat" vom 13.1.1718; für Lüneburg: CCL, Bd. 3.2., Cap. IV, 1144-1146, Edikt vom 25.5.1718. Cal. Br. 23b Nr. 180, Verordnung vom 21.5.1721. StACe 20 A Nr. 8, Schreiben der Geheimen Räte vom 7.11.1766. NHStA Cal. Br. 23b Nr. 326. CCC, Bd. 1, Cap. I, 958. Pastor Wagemann von Industrieschulen, 22. Vgl. dazu die Einleitung.

361

Sozialdisziplinierung oder Subsidiarität?

und die große Zahl abgelehnter Hilfsgesuche zeigen - der Bedarf nach Versorgungseinrichtungen oder -beihilfen weit höher war als die zur Verfügung stehenden Angebote. Dies gilt vor allem für die Waisenhäuser, die wegen der begrenzten

Zahl

von

Plätzen

bestimmte

Bereiche

des

sozialen

Problems

'Versorgungslosigkeit' nicht nur von vornherein ausblendeten, sondern unter dem zunehmenden Andrang Bedürftiger bewußt ausgrenzten. Als die Aufnahmevorschläge für das landschaftliche Waisenverpflegungsinstitut im Jahr 1807 die bestehenden Kapazitäten bei weitem überschritten, gab der Schatzdeputierte Ludwig Christian Zwicker, gleichzeitig Syndicus von Münden, zu bedenken: "Auf solche Kinder, deren Väter entwichen kann man, bey einem eigentlichen Waysen Institute wohl nur, wenn nicht besonders dringende Umstände vorhanden, erst dann Rücksicht nehmen, wenn keine verwaiste Kinder vorhanden, und eben dieses dürfte bey unehelichen Kindern Anwendung finden müssen" 277 . Im selben Jahr wurde ein Kind abgelehnt, "weil uneheliche Kinder, so lange eheliche Waisen vorhanden, den principiis nach, (...) nicht aufgenommen werden können" 278 . Hinzu kommt, daß auch in den Waisenhäusern die Ziele der Disziplinierung, die Erziehung zu Arbeitsamkeit und die Integration in die Gesellschaft, nicht immer erreicht werden konnten. Dies gilt für den mit deutlichen Disziplinproblemen beladenen Waisenhausalltag ebenso wie für das spätere Leben der Kinder. Zwar läßt sich eine genauere Vorstellung von der Zukunft der Kinder nur in Einzelfallen gewinnen, die ablehnende Haltung der Gesellschaft gegen Waisen, Findelund Zigeunerkinder deutet aber auf grundlegende Probleme bei der späteren Integration hin. Bei der Beurteilung der Versorgungsmaßnahmen ist davon auszugehen, daß diese ebenso wie die Ordnungspolitik von begrenzter Reichweite waren und zahllose organisatorische Unzulänglichkeiten aufwiesen. Zugleich muß aber auch berücksichtigt werden, daß im Lauf des 18. Jahrhunderts eine deutliche Ausdehnung unterstützender Maßnahmen für Kinder bzw. ihre Eltern stattfand - zu nennen sind vor allem die quantitative Erweiterung der Waisenfürsorge durch die Familienpflege, die Erziehungsbeihilfen an die Eltern sowie die Maßnahmen für Soldatenfamilien und ledige Mütter -, die möglicherweise langfristige Auswirkungen auf die Einstellung der Gesellschaft zu unversorgten Kindern und das Verhalten der Bevölkerung oder bestimmter Gruppen hatte. Wie schwer die Wirkungen obrigkeitlicher Maßnahmen im einzelnen abzuschätzen sind, zeigt das Beispiel der Zigeunerpolitik. Die häufige Wiederholung 277 278

NHStA Dep. 7b Nr. 300, Schreiben Zwickers vom 17.4.1807. Ebd., Schreiben vom 16. Mai 1807.

362

Soziale Probleme und institutionelles Handeln

der obrigkeitlichen Mandate, die Ineffektivität polizeilichen Vorgehens und die oben geschilderten Erfahrungen mit der Umerziehung der Kinder sprechen dafür, daß, wie es Michael Frank für Lippe festgestellt hat, "die intendierte Zielsetzung (...) nicht einmal annähernd eingelöst werden" 279 konnte. Dennoch setzte die Zwangserziehung der Kinder gerade bei den echten Sinti an der auch damals schon hinlänglich bekannten Säule ihrer Kultur, dem Familien- und Sippenverband, an 280 . Die Geheimen Räte in Hannover selbst stellten das Umerziehungsprogramm jedenfalls als ordnungspolitischen Erfolg dar: man habe "solch liederliches Gesinde, vohrnehmlich dadurch, daß mann Ihnen die Kinder abgenommen, undt solche erziehen laßen, (...) auß dem Lande geschafet" 281 . Um die langfristigen Wirkungen obrigkeitlicher Maßnahmen und insbesondere der öffentlichen Kinderversorgung abschließend bewerten zu können, ist es indessen notwendig, noch einmal generell nach dem Anteil von Obrigkeit und Gesellschaft an den einzelnen Maßnahmen und somit den Möglichkeiten frühneuzeitlicher Sozialpolitik zu fragen.

279 280 281

FRANK, Sozialdisziplinierung und Überlebensstrategien, 219. Karin BOTT-BODENHAUSEN, "Kultursplitter", in: dies. (Hg.), Sinti, 179-201, hier 193. NHStA Hann. 93 Nr. 2630, Schreiben an den Landvogt von Steinberg vom 14.10.1732.

Kapitel VII

Möglichkeiten frühneuzeitlicher Sozialpolitik: Obrigkeit und Gesellschaft vor der Aufgabe der Kinderversorgung

Die weitgehende Wirkungslosigkeit ordnungspolitischer Maßnahmen im Zusammenhang mit der Begrenztheit öffentlicher Hilfsangebote wirft die generelle Frage nach den Möglichkeiten frühneuzeitlicher Sozialpolitik auf. Ein erstes Kriterium dafür sind die Möglichkeiten der landesherrlichen Obrigkeiten zur Durchsetzung ihrer Politik, die Effektivität der Verwaltung ebenso wie die finanziellen Handlungsspielräume, die anhand einiger aufschlußreicher Beispiele noch präziser gefaßt werden sollen. Die bisherigen Ausführungen haben allerdings gezeigt, daß Anstöße zu bestimmten Maßnahmen nicht allein von der Obrigkeit und schon gar nicht von den landesherrlichen Regierungen - ausgingen. Vor allem bei der Schaffung von Versorgungsmaßnahmen, aber auch in der Gesetzgebung waren außerobrigkeitliche Einflüsse wirksam, die bei der Beurteilung der landesherrlichen Politik berücksichtigt werden müssen. Dazu zählen Initiativen einzelner Personen, die durch finanzielle Leistungen oder überdurchschnittliches persönliches Engagement Einfluß auf die Schaffung von Maßnahmen oder Institutionen ausübten, und - im letzten Drittel des Jahrhunderts - zunehmend auch die publizistische Auseinandersetzung mit den Problemen der Kinderversorgung. Um die Wirkung gesellschaftlicher Einflüsse auf das obrigkeitliche Handeln beurteilen zu können, müssen zuerst aber dessen Grundlagen untersucht werden.

1.

Obrigkeitliche Durchsetzungsmöglichkeiten

Direkter Ausdruck landesherrlicher Politik waren zahlreiche schriftliche Willensäußerungen, die gedruckt, an die verschiedenen Behörden versandt, in Gesetzessammlungen aufgenommen und zum Teil auch veröffentlicht, d.h. angeschlagen oder von den Pfarrern im Gottesdienst verlesen wurden. Die Fürsten und ihre Regierungen erließen eine Vielzahl von Verordnungen und Reskripten, die in Bezug zur Kinderversorgung standen. Die zahllosen Wiederholungen von Bettelverboten und Zigeunermandaten sowie die Erneuerungen von Armen-, Kirchen- und Schulordnungen nicht gerechnet, ergingen allein für den zum Kurfürstentum Hannover gehörenden Teil des Untersuchungsgebietes in der Zeit von

364

MöglichkeitenfrtihneuzeitlicherSozialpolitik

1680 bis 1800 über 60 solcher gedruckten Anweisungen 1 . Annähernd zwei Drittel davon betrafen die öffentliche Kinderversorgung, die übrigen behandelten vorrangig Sexualität und Ehe. Wesentlich geringer war die Reglementierungstätigkeit der hildesheimischen Regierung, die nicht einmal halb so viele Anordnungen erließ 2 . Die Bezeichnungen dieser einzelnen schriftlichen Regierungsanweisungen waren sehr unterschiedlich: Ordnungen, Verordnungen, Reskripte und Ausschreiben wechselten mit Mandaten, Edikten und Resolutionen. Auch wenn keine prinzipielle "Unterscheidung von Gesetz und Einzelakt" 3 bestand, läßt sich doch unschwer erkennen, daß es sich dabei nur zum geringeren Teil um per Landtagsbeschluß verabschiedete Gesetze (z.B. Armenordnungen) oder zur Veröffentlichung bestimmte landesherrliche Verordnungen handelte. Das Gros stellten Willensbekundungen und Anweisungen an die nachgeordneten Behörden, auf deren Mitarbeit Landesherr und Regierung bei der Durchsetzung ihrer Beschlüsse angewiesen waren.

1.1.

Die Umsetzung landesherrlicher Vorgaben durch die Verwaltung Nachlässigkeit und mangelnde Eignung der Beamten - unscharfe Kompetenzabgrenzungen - konkurrierende Obrigkeiten - Handlungsspielräume der Kommunen

In neueren Studien zur firühneuzeitlichen Ordnungs- und Armenpolitik wird eine Hauptursache für die Vollzugsdefizite der frühneuzeitlichen Ordnungs- und Armenpolitik in der Unzulänglichkeit der Verwaltungsstrukturen des frühneuzeitlichen Staates gesehen 4 . In der Tat enthalten bereits die landesherrlichen Gesetze und Anweisungen zahlreiche Hinweise auf bestehende Funktionsstörungen innnerhalb der Verwaltung. Diese betrafen generell die Beamten der Lokalverwaltung auf dem Land und in den Städten wie Amtmänner, Amtsschreiber und Magistratsangehörige sowie Pfarrer und Superintendenten. Die vom Kurfürsten und König persönlich unterzeichnete Kriminalordnung stellte 1736 fest, daß bei den Behörden teils "Unerfahrenheit", teils "grosse Praecipitantz [i.e. Überstürzung] und Nachläßigkeit" 5 bestehe. 1718 rügte die hannoversche Regierung, daß die angeforderten jährlichen Berichte über die Einhaltung der Armenordnungen ohne 1

2

3 4 5

Diese Zahl basiert auf der Auswertung der publizierten Sammlungen gedruckter Gesetze (CCC, CCL, SPANGENBERG, Sammlung u.a.) sowie der Loseblattsammlungen in den verschiedenen Archiven, vor allem aber des Bestandes Cal. Br. 23b im Niedersächsischen Hauptstaatsaichiv Hannover. Ermittelt aus HLO, HochfQrstlich-Hildesheimische Landes-Verordnungen und NHStA Cal. Br. 23b Nr. 319. Zum friihneuzeitlichen Gesetzesbegriff siehe STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 1, 360. FRANK, Sozialdiszipliniening und Überlebensstrategien, 219; RÜTHER, Räuber und Gauner, 148f. CCL, Bd. 2, Cap. II, 796-914, hier 823.

365

Obrigkeitliche Durchsetzungsmöglichkeiten

Begründung ausblieben 6 , 1723 wurden Beamte und Superintendenten erneut deswegen getadelt 7 . Weitere fünf Jahre später wurde den entsprechenden Beamten schließlich eine Geldstrafe von 20 Rtlr. angedroht 8 . Ähnliche Probleme ergaben sich bei den Schulordnungen: 1737 ließen die Geheimen Räte in Hannover die nachgeordneten Behörden wissen, sie hätten "zu unserem großen Misfallen vernommen", daß die Schulordnung nicht "mit dem gehörigen Nachdruck" 9 beachtet werde. Ähnliche Klagen führte der für das katholische Schulwesen in Hildesheim zuständige Generalvikar 10 . Eine Schlüsselposition nahm in diesem Zusammenhang die Person des einzelnen Beamten oder Funktionsträgers ein 11 . Nicht allein, daß diese Personen ihren Aufgaben oft nicht oder nur sehr unzuverlässig nachkamen; wenn es ihrer eigenen Interessenlage entsprach, handelten sie zuweilen entgegen ausdrücklichen landesherrlichen Vorgaben. So forderten Adlige und Gerichtsherrn im Fürstentum Lüneburg ihren Bediensteten immer wieder eigenmächtig die Unzuchtsbrüche ab 12 , und 1731 kam der Regierung in Hannover zu Gehör, daß verschiedene Pfarrer in Unzuchtsfallen zusätzlich zur Kirchenbuße von den betroffenen Männern und Frauen jeweils 1 Rtlr. forderten 13 . Materielle Vorteile oder Protektion waren womöglich auch im Spiel, wenn in Celle einzelne Mitglieder des Armenkollegiums eigenmächtig Berechtigungsscheine für Almosenempfanger ausstellten 14 . Dieses Verhalten ist jedoch nicht nur aus der persönlichen Unzulänglichkeit einzelner Beamter zu erklären. Vielmehr trug auch das Fehlen einer finanziellen Bindung an den Landesherrn durch die Ämterverpachtung dazu bei, daß die Amtsinhaber eigene Interessen verfolgten. Vor allem aber machte sich das Problem der mangelnden Bindung bei den unteren Trägern obrigkeitlicher Macht, die mit

der

direkten

Ausführung oder

Überwachung

ordnungspolitischer

Anordnungen betraut waren, bemerkbar, bei Aufsehern in Zuchthäusern und anderen Anstalten, Bütteln und Armenvögten. Von geringer sozialer Reputation und überdies kärglich entlohnt 15 , waren Bettelvögte oft nicht für ihre Aufgabe geeignet und gehörten selbst den Gruppen an, die sie eigentlich bekämpfen sollten. 6 7 8 9 10 11

12 13 14 15

So

verlangte

die

hannoversche

Regierung

1769

vom

Celler

NHStA Cal. Br. 23b Nr. 177, "Landesherrliches Mandat" vom 13.1.1718. Ebd. Nr. 182, Reskript vom 19.7.1723. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1147f., Edikt vom 6.10.1728. CCC, Bd. 1, Cap. I, 924-226, hier 925, "Geschärfftes Monitorium" vom 23.11.1737. HLO, Bd. 1, 345-349, hier 346, Verordnung vom 24.9.1763. FRANK, Obrigkeitliche Anordnungen, 95-97, 113f.; RÜTHER, Räuber, Volk und Obrigkeit, 26ff.; SCHUBERT, Arme Leute, 323-325. NHStA Cal. Br. 23b Nr. 151, Reskript der Celler Regierung vom 16.12.1693. CCL, Bd. 1, Cap. I, 972f., Konsitorialausschreiben vom 9.11.1731. StACe 20 A Nr. 8, Schreiben der Regierung vom 9.1.1769. Vgl. ALBRECHT, Armenvögte, 60f.; SCHUBERT, Arme Leute, 195; ähnlich am Beispiel von Gerichtsdienern RÜTHER, Räuber, Volk und Obrigkeit, 28.

366

Möglichkeiten frühneuzeitlicher Sozialpolitik

Armenkollegium, es müßten endlich "zuverläßige Armen-Voigte, welche nicht selbst betteln, noch durch ihre Weiber und Kinder das Gassenbetteln treiben" 16 , eingestellt werden. Ein weiteres Hindernis für die Umsetzung obrigkeitlicher Maßnahmen neben der

mangelhaften Dienstausübung

einzelner

Beamter

waren

die

unscharf

abgegrenzten Kompetenzen verschiedener Obrigkeiten, die nicht selten innerhalb einer Stadt und um ein und dieselbe Sache miteinander konkurrierten 17 . Ein extremes Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung zwischen dem landesherrlichen Burgvogt und dem Magistrat in Celle um die Anmeldung lediger Schwangerer, die mindestens 18 Jahre lang anhielt und die obrigkeitlichen Anordnungen erheblich behinderte 18 . Ursache für die unklare Abgrenzung der Kompetenzen der einzelnen Stellen war weniger die mangelnde Festlegung durch die Landesregierung, sondern oft die Rücksicht auf althergebrachte Rechte. Wie hartnäckig die einzelnen Obrigkeiten um den Erhalt ihrer Kompetenzen stritten, zeigen aufschlußreich die immer wieder aufkeimenden Streitigkeiten um die Aufsicht über das Celler Waisenhaus. Bereits 1709 hatte es Auseinandersetzungen zwischen der Stadt und der ehemaligen Kanzlei um die Verfügung über das Haus gegeben. Die Regierung hatte zunächst die Partei der Stadt ergriffen und der Kanzlei mitgeteilt, das Waisenhaus sei "kein Objectum Eures Justitz Collegio" 19 , schließlich aber ein gemeinsames Gremium aus Vertretern von Stadt und Justizkanzlei eingesetzt. Innerhalb dieses Gremiums hielten die Streitigkeiten jedoch an, die einerseits vom Bewußtsein des jeweiligen Ranges, andererseits wahrscheinlich auch von persönlichen Antipathien geprägt waren. 1736 kam es erstmals zu einer Auseinandersetzung um den Vortritt der Mitglieder bei der Unterzeichnung von Schriftstücken: Als vornehmste Angehörige des Kollegiums galten unzweifelhaft die beiden der Justizkanzlei angehörenden Hofräte. Nach diesen beanspruchte der Bürgermeister den dritten Rang und damit den Vortritt vor dem Kanzleisekretär, was ihm auch von der Regierung ausdrücklich zugestanden wurde 20 . Fünf Jahre später nutzte der Kanzleisekretär Flügge die Unerfahrenheit des neu in das Kollegium aufgenommenen Bürgermeisters Wedemeyer, um sich beim Unterzeichnen eines Schreibens vor diesen zu drängen, was den Protest des Magistrates und einen längeren Schriftwechsel mit der Regierung auslöste, die schließlich zugunsten des Bürgermeisters entschied21. 16

17

18 19 20 21

StACe 20 A Nr. 8, Schreiben der Regierung vom 9.1.1769. ALBRECHT, Armenvögte, 61, berichtet von der bettelnden Frau eines Braunschweiger Armenvogtes. Anhand eines anderen Bereiches, der Rivalität zwischen Stadt und Garnison in Göttingen, aber auch zwischen militärischen und zivilen Funktionsträgern innerhalb der Garnison, belegt dies mit aussagekräftigen Beispielen auch PRÖVE, Stehendes Heer, 227-237, 373-384. Vgl. Kap. III, Abschnitt 3.4. NHStA Hann. 93 Nr. 2916, Schreiben der Regierung vom 10.12.1714. Ebd., Schreiben der Regierung vom 2.1.1736. Ebd., Schriftwechsel vom 4.5., 3.6., 3.11., 5.11. und 5.12.1741.

Obrigkeitliche Durchsetzungsmöglichkeiten

367

Fragen der Rangfolge beschäftigten das Kollegium noch 1799, als die Regierung dem Ansuchen des Kanzleisekretärs stattgab, den Vortritt vor dem Stadtsekretär zu erhalten; Bedingung war, daß der Kanzleisekretär die Protokollführung übernahm 22 . Daneben kam es zu weiteren Konfliktsituationen. So weigerten sich die Justizräte 1736, das Konzept eines Ratsschreibens an die Regierung, das sie zur Einsichtnahme erhalten hatten, zurückzugeben, da sie mit dem Inhalt nicht einverstanden waren 23 . Wiederum mußte die Regierung in dieser Angelegenheit eine Entscheidung fällen, die diesmal zugunsten der Stadt ausfiel 24 . Wie schnell die Rivalitäten zwischen verschiedenen Obrigkeiten zu persönlichen Konflikten eskalieren konnten, in denen die Kontrahenten versuchten, die Regierung auf die jeweils eigene Seite zu ziehen, zeigt der Streit zwischen Stadt und Justizkanzlei um den Wiederaufbau des im Siebenjährigen Krieg abgebrannten Waisenhauses. In der Sitzung des Kollegiums vom 26. Januar 1768 wurden die Kostenvoranschläge zweier Handwerksmeister erörtert. Die Angehörigen der Kanzlei kamen dabei zu dem Schluß, "daß der Zimmermeister Wunsch nicht nur dauerhaffter, hübscher und beßer, sondern auch weit wolfeiler als der Zimmermeister Voltmer bauen werde" 25 . Die Vertreter der Stadt wollten dagegen dem teureren Konkurrenten die Chance geben, seinerseits ein billigeres Projekt vorzuschlagen, was die Kanzleiangehörigen jedoch ablehnten. 26 Die Magistratsverteter appellierten darauf wieder einmal an die Regierung in Hannover. Sie behaupteten, der günstigere Kostenanschlag des Zimmermeisters Wunsch (oder Wünsch) sei nicht auf redliche Weise zustandegekommen; Wunsch habe die Pläne seines Konkurrenten gekannt und sie daher leicht unterbieten können. Außerdem habe er die vom Waisenhaus gesondert zu zahlenden Materialkosten so gering angesetzt, daß sein Bauvorschlag das Waisenhaus am Ende doch teurer zu stehen kommen werde 27 . Die Regierung beauftragte nun ihrerseits einen Architekten mit der Begutachtung beider Kostenvoranschläge. Dieser befürwortete den von der Stadt favorisierten Plan und bestätigte, daß der Wettbewerb seitens des Zimmermeisters Wunsch mit unlauteren Mitteln geführt worden sei. Anhand einzelner Posten ging das Gutachten davon aus, daß die Preise des günstigeren Vorschlags nicht der Realität entsprächen 28 . Nachdem die Regierung das Ergebnis dieses Gutachtens dem Waisenhauskollegium mitgeteilt hatte, wandten sich die Justizbeamten ihrerseits nach Hanno22 23 24 25 26 27 28

StACe 20 B Nr. 4, Schreiben der Regierung vom 14.10.1799. Ebd. Nr. 3, Schreiben des Rates vom 1.2.1736. Ebd., Schreiben vom 11.2.1736. NHStA Hann. 93 Nr. 2917, Sitzungsprotokoll vom 26.1.1768. Ebd. Ebd., Schreiben vom 28.1.1768. Ebd., Schreiben des Architekten Heitmann vom 8.2.1768.

368

Möglichkeiten fhihneuzeitlicher Sozialpolitik

ver, um den Vorgang "der Wahrheit gemäß" 29 darzustellen. Diesen Ausführungen zufolge sei der Anschlag des Zimmermeisters Wunsch sehr wohl rechtmäßig zustandegekommen; der Bürgermeister Hurlebusch habe darüber allein deswegen nichts gewußt, weil er bei mehreren anberaumten Beratungen ohne Entschuldigung gefehlt habe. Der wahre Grund für das Eintreten des Bürgermeisters für den Zimmermann Voltmer liege darin, daß dieser im Gegensatz zu seinem Konkurrenten der Stadtgerichtsbarkeit unterstehe und Hurlebusch in der Ansicht, das Waisenhaus gehöre der Stadt, unbedingt einen städtischen Handwerker beauftragen wolle. Die Mitglieder der Justizkanzlei hätten dagegen "keine affectionem [i.e. Neigung] ad personam, sondern das wahre Wohl des Waisen-Hauses für Augen" gehabt. Nachdem noch einige Schreiben zwischen Celle und Hannover hin- und hergegangen waren, wuchs sich der Streit zunehmend ins Grundsätzliche aus. Am 28. Februar beschwerten sich die Mitglieder der Justizkanzlei, der Bürgermeister Hurlebusch scheine zu glauben, das Waisenhauskollegium unterstehe dem Magistrat, und baten die Regierung, ohne weitere Anhörungen keine Entscheidung in dieser Angelegenheit zu treffen 30 . Hurlebusch seinerseits verteidigte sich gegenüber der Regierung am 3. März, er habe kein Interesse daran, einen der beiden Handwerker zu protegieren. Ihm entstehe vielmehr der Eindruck, "daß die gegenseitigen Abschriften durch meine Verunglimpfung (...) lauter werden sollen" 31 . Die Angelegenheit wurde endlich von der Regierung dahingehend entschieden, daß beide Zimmermeister die Gelegenheit bekommen sollten, anhand des letzten Bauplans einen Kostenanschlag zu machen; den Zuschlag solle das preiswertere Angebot erhalten. 32 Auffallend ist der scharfe Ton, der zwischen den Mitgliedern von Magistrat und Justizkanzlei herrschte. Eine wichtige Rolle spielte dabei das Beharren auf der persönlichen Würde und der Superiorität des eigenen Amtes. Dies zeigt sich auch im Scheitern der Kooperation zwischen dem Göttinger Magistrat und der theologischen Fakultät im Vorfeld der Waisenhausgründung. Nach längerer, aber fruchtloser brieflicher Kommunikation, die zum Teil auf dem Umweg über die Regierung in Hannover geführt wurde, entschloß sich der Magistrat endlich zu einer persönlichen Kontaktaufnahme und sandte einen Boten zu dem Theologieprofessor Ribow, um diesen auf das Rathaus zu bestellen. Ribow faßte dieses Vorgehen offensichtlich als Affront gegen seine Stellung auf und lehnte unter Hinweis auf wichtige Lehrverpflichtungen einen Besuch auf dem Rathaus ab: 29 30 31 32

Ebd., Schreiben vom 24.2.1768. Ebd. Ebd. Ebd., Schreiben der Regierung vom 27.2.1768.

Obrigkeitliche Durchsetzungsmöglichkeiten

369

"weil er den gantzen Morgen biß Mittag zu lesen hätte; so könnte er sich nicht abmüßigen zu Rathhause zu kommen; überdem würde es sich eben nicht schicken, desfals zu Rathause zu kommen, weil es so nicht hergebracht wäre" 33 . Statt dessen richtete Ribow eine Beschwerde an die Regierung, was den Magistrat wiederum zu der Klage veranlaßte, Ribow habe ihn durch die direkte Kommunikation mit den Geheimen Räten bei diesen "zu verunglimpfen" 34 versucht. Ähnliche und noch schärfere Konflikte, bei denen es zu wiederholten beiderseitigen Beleidigungen und zur Androhung körperlicher Gewalt kam, sind aus anderen Verwaltungsbereichen bekannt 35 . Die Entstehung solcher Kompetenzstreitigkeiten ist mit dem Eigensinn der Beteiligten allein nicht zu erklären. Vielmehr stand dahinter ein tiefgehendes Verständnis für das eigene Amt, die einen Beamten auch dann auf Wahrung seiner Kompetenzen beharren ließ, wenn diese ihm zusätzliche Mühen oder sogar Nachteile einbrachten 36 . Eigenmächtigkeit der Beamten und Überschneidung von Kompetenzen setzten der angestrebten Zentralisierung der Verwaltung enge Grenzen und ermöglichten es den Lokalbehörden, den Vorhaben der Regierung oft erhebliche Widerstände entgegenzusetzen. Namentlich die Städte hatten sich einen gewissen Spielraum bewahrt, der ihnen die Umgehung landesherrlicher Anweisungen oder die Vereitelung ungeliebter Maßnahmen erlaubte 37 . Einige Beispiele dafür wurden bereits genannt, so die erfolgreiche Ablehnung der Armenordnung von 1712 durch Lüneburg und Uelzen 38 . Zwei weitere Fälle, in denen eine Stadt ein ungeliebtes Projekt abwenden oder ihren eigenen Interessen entsprechend beeinflussen konnte, verdeutlichen die Möglichkeiten einer eigenständigen städtischen Politik. Das erste Beispiel betrifft die Umerziehung von Zigeunerkindern. Nachdem erstmals einer Gruppe die Kinder abgenommen worden waren, sollten diese im Celler Waisenhaus untergebracht werden, das zu diesem Zeitpunkt die einzige Anstalt war, an der der Landesherr administrativen und finanziellen Anteil hatte. Dennoch verweigerte der Celler Magistrat die Aufnahme der Kinder und begründete dies mit der ohnehin schon angespannten finanziellen Situation der Anstalt. Diese würde durch die Aufnahme der Zigeunerkinder in zweifacher Weise verschärft werden. Einmal kämen erhebliche Mehrkosten auf das Waisenhaus zu, 33 34 35 36

37 38

StAGö AA Wohlfahrt Waisenamt Nr. 2, Protokoll vom 9.4.1746. Ebd., Schreiben der Stadt vom 28.9.1747. Vgl. PRÖVE, Stehendes Heer, 227-232. Der Amtmann des bildesheimischen Amtes Steuerwald verlangte 177S von der Stadt Hildesheim die Herausgabe eines Findelkindes, das, wie er aus "denen beyden Stadt hildesheimischen Zeitungsblättern" erfahren hatte, vor dem Ostertor in seinem Gerichtsbezirk gefunden und in die Stadt gebracht worden war. StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 179a, Schreiben des Amtmannes vom 31.10.1775. Vgl. dazu auch am Beispiel Göttingens PRÖVE, Stehendes Heer, 390. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1105.

370

Möglichkeiten frühneuzeitlicher Sozialpolitik

und weiter habe die Celler Bevölkerung, auf deren Freigebigkeit das Waisenhaus angewiesen sei, kein Verständnis für die Versorgung ortsfremder Kinder, zumal bereits der größte Teil der bislang unterstützten Kinder Fremde seien, nämlich Soldatenkinder 39 . Der Magistrat befürchtete daher, daß "die hiesige[n] einwohner wovon doch blos und allein das Weisen Hauß meistenteils erhalten wirdt die hand zurücke ziehen, und dem Weisen Hause da durch ein unleidlicher Schade entstehen kan" 40 . In der Folge zeigte sich allerdings, daß dieser Widerstand nicht allein finanzielle Motive hatte. Auch als die hannoversche Regierung den Vorschlag machte, das Waisenhaus auf eigene Kosten zu vergrößern, blieb der Magistrat bei seiner Ablehnung, da er einen Skandal unter der Bevölkerung befürchtete 41 . Der eigentliche Grund für die Ablehnung waren Vorurteile und Mißtrauen gegenüber den Zigeunerkindern. Man befürchtete, "das die im Waysenhause befindliche[n] Kinder von ihnen etwas böses lernen und verführet werden mögten." Was dies sein könne, wurde gleich hinzugefügt: "wahrsagen und dergleichen". 42 Auch die Celler Kanzlei, die als landesherrliche Behörde an der Verwaltung des Waisenhauses beteiligt war, sprach sich gegen die Aufnahme der Kinder aus 43 . Die Regierung gab schließlich dem Vorschlag von Magistrat und Kanzlei nach, die Kinder besser auf dem Land bei Bauern unterzubringen 44 . Eine ähnliche Begründung wie 40 Jahre zuvor der Celler Magistrat gab 1746 die Calenbergische Landschaft für ihre Weigerung, Zigeunerkinder im Moringer Waisenhaus aufzunehmen: Das Waisenhaus solle armen Kindern Unterricht geben und sie ein Handwerk erlernen lassen, um sie zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen. Für boshafte und kranke Kinder aber, als welche die Zigeunerkinder geschildert worden waren, sei kein Platz, besonders da sie den anderen ein schlechtes Beispiel geben würden. 45 Aus ähnlichen Gründen lehnte der Göttinger Magistrat ein Waisenhaus ab. Die Stadtverwaltung befürchtete, "daß viele dürfftige Aeltern in dem falle, wenn sie sich Hoffnung machen könnten, daß ihre Kinder im Waysenhause ihren Unterhalt finden würden, sich dem schädlichen und auf alle Weise zu hemmenden Müßiggange nur noch mehr ergeben dürften [und] daß die Fündelinge, und andere dergleichen allhier vorkommende, von hiesigen Bürgern nicht erzielte Kinder, hergebrachter massen von kö39

40 41 42 43 44 45

Laut Aufstellung 33 Soldatenkinder, drei Auswärtige und 24 Kinder aus Celle und den Vorstädten. StACe 20 B Nr. 47, Schreiben des Magistrats vom 3.3.1707. Ebd., Schreiben des Magistrats vom 14.3.1707. Ebd., Schreiben des Magistrats vom 3.3.1707. Ebd., Schreiben der Kanzlei vom 5.3.1707. Ebd. Erstmals lenkte die Regierung bereits am 8.3.1707 ein. NHStA Hann. 93 Nr. 2631, Schreiben der Landschaft vom 11.6.1746.

Obrigkeitliche Durchsetzungsmöglichkeiten

371

nigl. Cammer aus dem Register des Gerichtsschulzenamtes verpfleget werden müssen; wogegen in dem falle, da allhier ein Waysenhaus angeleget werden sollte, zu besorgen stehe, daß selbige dem Waysenhause, mithin der Stadt und bürgerschaft zur Last fallen würden" 46 . Sollten die Geheimen Räte dennoch auf der Einrichtung eines Waisenhauses bestehen, so bat der Magistrat, die Regierung möge der Stadt "in Gnaden nicht zumuthen, darinnen mit der theologischen Facultät und dem Herrn Superintendent Ribow gemeinschaftliche Sache zu machen" 47 . Die Mittel der Regierungen, ihren Absichten gegen den Willen der nachgeordneten Behörden zum Erfolg zu verhelfen oder einzelne Beamte zu maßregeln, waren begrenzt und beschränkten sich meist auf in scharfem Ton gehaltene Ermahnungen. Als der Drost des hildesheimischen Amtes Gronau ankündigte, sich in einem Streit mit der Regierung an den Bischof selbst zu wenden 48 , erteilte ihm die Regierung wegen dieser in "abermahligen unziemblichen terminis" 49 gehaltenen Äußerung zwar einen Verweis, zu weiteren Disziplinarmaßnahmen aber kam es nicht. Auch dem Göttinger Magistrat, der anläßlich der Planung des Waisenhauses trotz eindringlicher Mahnungen der Regierung nicht auf die Reskripte aus Hannover antwortete, konnte der Geheime Rat v. Münchhausen nur drohen,

"daß man demgl[eichen]. Beginnen, so schon in vielen anderen Vorfallenheiten eurer Seits zu Tage geleget worden, keinesweges ohngeahndet hingehen laßen, vielmehr wenn dergl[eichen], weiter geschiehet, davon an S[ein]c Königliche], M[ajestä]' allerunterth[änigst]. referiren werde" 50 . Zu tatsächlichen disziplinarischen Maßnahmen scheint es aber in keinem der beiden Fälle gekommen zu sein. Widerstände und eigene Handlungsinteressen von Kommunen und einzelnen Beamten hemmten auch in anderen Bereichen der Verwaltung die Umsetzung des landesherrlichen Willens. In der Ordnungs- und Armenpolitik wirkten sich die Strukturschwächen jedoch besonders nachhaltig aus, da den Zentralbehörden auf diesem Gebiet im Gegensatz z.B. zum Militär-

46 47 48

49 50

StAGö AA Wohlfahrt Waisenamt Nr. 2, Schreiben der Stadt vom 28.9.1747. Ebd. "damitt ich (...) nicht gemüssiget werde mich über solche herbe proceduren /: als dergleichen in meiner 44Jährigen Ambts administration noch niemahls erlebet :/ höhern orths unterthänigst zu beschweren". NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9902, Schreiben des Drostes vom 26.11.1725. Ebd., Schreiben der Regierung vom 16.12.1725. StAGö AA Wohlfahrt Waisenamt Nr. 2, Schreiben Münchhausens vom 25.9.1747.

372

Möglichkeiten frühneuzeitlicher Sozialpolitik

wesen 51 die Mittel zur Durchsetzung ihrer Politik fehlten, was sich auch im finanziellen Handlunsgspielraum der Regierungen deutlich bemerkbar machte.

1.2.

Die Finanzierung Fehlen öffentlicher Etats - verschiedene Wege der Anstaltsfinanzierung - Waisenhäuser in Celle und Moringen - Vollzugsprobleme bei Privilegien und angeordneten Sammlungen

Die Finanzierung der Verwaltung und der öffentlichen Aufgaben funktionierte in der frühen Neuzeit nach dem sogenannten Fundationsprinzip, d.h. es gab keine Haushalts- und Finanzierungspläne und damit keine Sammlung der Ginnahmen in einer zentralen Kasse, sondern jeder Bereich der Verwaltung mußte selbst für seinen Unterhalt sorgen 52 . Dafür wurde er mit Immobilienbesitz oder Kapital ausgestattet, von dessen Bewirtschaftung die Ausgaben bestritten werden mußten 53 . Darüber hinaus standen keine Mittel zur Verfügung. Zwar verfügte der Landesherr über umfangreiche Einkünfte aus seinen Domänen, dem sogenannten Kammergut, das von der Kammer verwaltet wurde. Diese Einkünfte waren jedoch an die Person des Fürsten gebunden, der davon zunächst einmal seine Hofhaltung bestritt 54 . Öffentliche Ausgaben wurden mittels Steuern finanziert, die aber formal nur befristet erhoben wurden und von der Bewilligung durch die Stände abhingen 55 . Zwar entwickelten sich im Laufe des Untersuchungszeitraums einige Steuern zu ständigen Abgaben - dies gilt besonders für den Lizent 56 -, selbst für den aus Steuern bestrittenen Unterhalt des Miltärs reichten die Einnahmen aber nicht zur Deckung der Ausgaben 57 . Die Finanzierung von Armenkassen oder Anstalten funktionierte dagegen weitgehend nach der Fondswirtschaft. Dieses Modell der öffentlichen Finanzierung hatte zur Folge, daß es den Regierungen zur Umsetzung geplanter Maßnahmen an einem eigenen Etat fehlte, was sich besonders auf dem Gebiet der Armenpolitik, z.B. bei der Projektierung von Anstalten, als hinderlich erwies.

51

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56

57

Bei der Einquartierung von Soldaten Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde der Widerstand von Bevölkerung und Stadtverwaltung notfalls durch die Androhung von Gewalt gebrochen. Vgl. dazu PRÖVE, Stehendes Heer, 259f. Reinhard MUSSGNUG, Die Finanzierung der Verwaltung an der Wende vom Ständestaat des 18. zum Verfassungsstaat des 19. Jahrhunderts, in: Die Verwaltung und ihre Ressourcen (= Der Staat. Beihefte; 9), Berlin 1991, 79-100, besonders 79-86. Ebd., 79 und 84f. Ebd., 83f. Vgl. dazu allgemein KUNISCH, Absolutismus, 98f., und MUSSGNUG, Finanzierung, 8083. Zu Hannover ausführlich STORCH, Landstände, 65-70, 154-183. MUSSGNUG, Finanzierung, 81; zu Kurhannover detailliert PRÖVE, Stehendes Heer, 77f., sowie STORCH, Landstände, 160ff. PRÖVE, Stehendes Heer, 77f. Ab 1727 mußte die Kriegskanzlei regelmäßig Zuschüsse aus einer Sonderkasse, dem 'Kriegsgewölbe', gewähren.

373

Obrigkeitliche Durchsetzungsmöglichkeiten

Infolgedessen war die Durchführung einer Maßnahme entscheidend davon abhängig, ob es gelang, die notwendigen finanziellen Mittel zusammenzubringen. Am aussichtsreichsten war dies, wenn entweder der Landesherr oder die Landstände zur dauerhaften Finanzierung des Vorhabens gewonnen werden konnten; ein Beispiel dafür ist das Zuchthaus in Celle, das mit Unterstützung der Stände gebaut und mit Hilfe regelmäßiger landschaftlicher Zahlungen

unterhalten

wurde 58 . Konnten aber Landesherr und Stände nicht zur Bereitstellung der Mittel bewogen werden oder war die zugesagte Summe unzureichend, mußte ein Kapitalfonds zusammengebracht werden. Übliche Mittel dafür waren Spendenaufrufe, Sammlungen, Lotterien und die Gewährung einzelner Sondereinnahmen aus bestimmten Steuern oder Privilegien, die allerdings wiederum vom Landesherrn genehmigt werden mußte. Eine weitere wichtige Finanzierungsquelle waren Vergünstigungen oder Sachleistungen seitens des Fürsten. Zum Zweck der Fundierung wurden alle möglichen Quellen ausgeschöpft. Dazu zählte die Ankündigung von Lotterien und die Durchführung von Sammlungen in den benachbarten oder sogar entfernteren Reichsständen59. Auf den wohl ungewöhnlichsten Einfall verfiel die theologische Fakultät der Universität Göttingen, die 1746 mitten im Österreichischen Erbfolgekrieg zur Finanzierung des geplanten Waisenhauses "bey den in Brabant stehenden Truppen Sr. köngl. Majestät (...) eine Collecte" 60 durchführen wollte, da die zur Göttinger Garnison gehörenden Soldaten ja ein Interesse an der Waisenhausgründung haben müßten. Trotz schriftlicher Zustimmung des kommandierenden Generals v. Sommerfeldt und mündlicher Einwilligung des Göttinger Regimentschefs v. Druchtleben erschien dieses Vorhaben der Landesregierung offenbar zu abwegig und wurde daher von ihr verhindert 61 . Wie sehr die Handlungsfreiheit der Obrigkeit in der Armenpolitik von Finanzierungsfragen

begrenzt

wurde,

zeigt

eindringlich

das

Beispiel

von

Anstaltsgründungen. Zur Fundierung des ersten mit landesherrlicher Beteiligung begründeten Waisenhauses in Celle62 versuchte der Landesherr, zusätzlich zur Umwidmung bestehender Gelder auch mehrere Einnahmequellen neu zu erschließen. Die Aufstellung der dem Waisenhaus zugedachten Einkünfte liest sich 58 59

60 61

62

STORCH, Landstände, 187-189. Eine für die Gründung des Celler Waisenhauses ins Leben gerufene Lotterie wurde in den anderen weifischen Territorien, aber auch in Hildesheim, Bremen, Hamburg, Kassel, Frankfurt, Erfurt und Regensburg bekanntgemacht. StACe L 3 Nr. 102, Schreiben der Regierung vom 6.5.1696. Für das Göttinger Waisenhaus wurde in Nürnberg gesammelt. UAGö Waisenhaus Nr. 3. Umgekehrt spendete die hannoversche Kammer 1700 3 Rtlr. für den Bau eines Waisenhauses in Erfurt. NHStA Hann. 76c A Nr. 1119, Kammerregister 1699/1700, 168. UAGö 10 A Nr. 14, Schreiben des Dekans Ribow vom 21.6.1749. Ebd. Unter dem Schreiben findet sich ein handschriftlicher Vermerk: "diesen Gedanken abgerathen. H[annover] d[en] 21. Jun. 1748". Vgl. Kap. V, Abschnitt 1.1.

374

Möglichkeiten flühneuzeitlicher Sozialpolitik

daher wie das Ergebnis verschiedenster Einfalle. Im einzelnen gehörten zu den geplanten Einnahmequellen neben freiwilligen Beiträgen von Ständen und Adel die Überschüsse aus zwei städtischen Hospitälern und dem landesherrlichen Invalidenhospital St. Wilhelm, 2 0 Rtlr. von den 'Beneficial-Geldern' der Kanzlei, Zuschüsse von den landesherrlichen Strafgeldern, die Einkünfte zweier alter, von der Stadt verwalteter Stiftungen, Sammlungen auf freiwilliger Basis und neu erhobene Sonderabgaben. Außer halbjährlichen Hauskollekten in Celle sollten auf den Landtagen, bei der Vorlage der Rechnungen durch die Amtmänner, bei allen Hochzeiten in Celle, auf Jahrmärkten und bei fremden Reisenden Sammlungen durchgeführt werden. Außerdem sollte vierteljährlich der Klingelbeutel in den Celler Kirchen dem Waisenhaus zukommen. Zu den neu geschaffenen Einkünften gehörten Abgaben bei der Besetzung von Pfarrstellen, öffentlichen Ämtern und juristischen Bestallungen, Testamenten und Immobilienkäufen 6 3 . 1697

noch die 'Torfstichgerechtigkeit'

M o o r 6 4 und

in dem vor Groß

Dazu kamen

Hehlen

1701 das Privileg, den von den protestantischen

gelegenen

Reichsständen

soeben eingeführten Gregorianischen Kalender zu drucken und exklusiv in den lüneburgischen Landen zu vertreiben 6 5 . Dieses Privileg wurde 1704 auch auf das Herzogtum Lauenburg ausgedehnt und 1711 verpachtet 6 6 . Die Verschiedenheit der einzelnen Einkünfte beanspruchte großen Verwaltungsaufwand bei der Eintreibung und brachte beträchtliche Vollzugsprobleme mit sich, die ein häufiges Eingreifen der Regierung in die Finanzangelegenheiten des Waisenhauses erforderlich machten. Auch die landesherrlichen Machtmittel reichten aber nicht aus, die Einkünfte des Waisenhauses langfristig abzusichern, was natürlich nicht ohne negative Folgen für das Wirken der Anstalt bleiben konnte. Als besonders prekär erwies sich die Verleihung des Kalenderprivilegs. Von Beginn an gegen den Widerstand von Buchdruckern und Händlern eingeführt 6 7 , wurde

das

Privileg

immer

wieder

durch

die

Einfuhr

und

den

Vertrieb

'ausländischer' Kalender ausgehöhlt. Durch die Verpachtung des Privilegs geriet die Regierung in Hannover in die Lage, dessen Überwachung zugunsten eines privaten Pächters gewährleisten zu müssen. 1711 wiesen die Geheimen Räte veranlaßt durch eine Beschwerde des Waisenhauskollegiums und des Buchhändlers Hoffmann als Pächter - die Behörden in den Fürstentümern des lüneburgischen Teils an, den Verkauf anderer Kalender zu unterbinden 6 8 ; gleichzeitig ver63 64 65 66

67 68

"Stifitungsurkunde des Zelleschen Waisenhauses", 61-64. StACe L 3 Nr. 8. CCL, Bd. 3.1, Cap. IV, 444-446. CCL, Bd. 3.1, 446-448, "Concessio" vom 9.1.1704; NHStA Hann. 93, Schreiben der Celler Justizkanzlei vom 11.8.1771. StACe L 3 Nr. 104,1, Schriftwechsel 1701. CCL, Bd. 3.1., 448-450, zwei Ausschreiben vom 10.9.1711.

Obrigkeitliche Durchsetzungsmöglichkeiten

375

bot die Regierung die Einfuhr fremder Kalender und drohte mit Beschlagnahme sowie einer Geldstrafe von 100 Rtlr. 69 Nachdem die örtlichen Behörden angewiesen worden waren, den Pächter Hoffmann bei der Konfiszierung zu unterstützen, gelang es tatsächlich, einiger Kalender habhaft zu werden 70 . Trotzdem wurden weiterhin fremde Kalender eingeführt 71 . Ein Grund dafür war, daß der Pächter Hoffmann seiner Lieferverpflichtung nicht pünktlich und in ausreichender Menge nachkam, weswegen ihm nach mehreren Beschwerden 1736 das Privileg entzogen und dem Lauenburger Buchdrucker Berenberg übertragen wurde 72 . Dieser pachtete später zusätzlich das Kalenderprivileg für das Fürstentum Calenberg, das der Landesherr dem Moringer Waisenhaus 1747 zugesprochen hatte 73 . Auch Berenberg klagte immer wieder über die Konkurrenz fremder Kalender und verlangte den Erlaß entsprechender Verordnungen 74 . 1777 beklagte er sich, "daß das gantze Churfürstenthum Hannover mit frembden Calendern überschwemmt" sei und "nicht allein ausländische Calender, als der Gothaische, berlinische, Hamburger, Hildesheimer, Braunschweiger, Lemgoer und andere", sondern auch einheimische, nämlich "Göttinger und Clausthaler Calender" eingeführt würden 75 . Mit dem steigenden Angebot von Druckerzeugnissen dieser Art wurde die Kontrolle des Privilegs immer schwieriger. In den letzten beiden Dekaden des Jahrhunderts häuften sich die Beschwerden des Buchhändlers, der jetzt auch Musenalmanache und genealogische Kalender als Konkurrenz für sein Privileg ansah 76 . Trotz der Schwierigkeiten und obwohl die Regierung dadurch unfreiwillig zur Beschränkung des Handels beitrug, mußte dieses mit Rücksicht auf das Waisenhaus beibehalten werden. Auch bei der Abschöpfung der anderen vorgesehenen Geldquellen gab es immer wieder Probleme, die die Intervention des Geheimen Ratskollegiums notwendig machten. Die Kollekte bei den Hochzeiten stieß auf Widerstand bei der Bevölkerung, die sich durch die Anwesenheit des mit der Sammlung beauftragten Waisenhausschulmeisters gestört fühlte. 1712 wurde ein Gastwirt verwarnt, weil 69 70

71 72

73 74

75 76

NHStA Cal. Br. 23b Nr. 170, Ausschreiben vom 14.9.1711. NHStA Hann. 93 Nr. 2913, Schreiben der Geheimen Räte vom 30.10.1711. Darin wurde der Magistrat von Uelzen angewiesen, ausnahmsweise einem Buchhändler seine Ware zurückzugeben. CCL, Bd. 3.1., Cap. IV, 450f., Edikt vom 1.10.1733. StACe 20 B Nr. 33, Schreiben der Regierung vom 2.1.1736; NHStA Cal. Br. 23b Nr. 195, Verordnung vom 12.7.1736. SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 1, 143, Verordnung vom 3.2.1747. NHStA Hann. 93 Nr. 2913, Schreiben Berenbergs vom 27.5.1737; CCL, Bd. 3.1., Cap. IV, 451-453, Edikt vom 23.8.1737 und Ausschreiben vom 21.10.1737; NHStA Hann. 23b Nr. 220, Ausschreiben der Calenbergischen Landschaft vom 28.8.1761. NHStA Hann. 93 Nr. 2913, Schreiben Berenbergs vom 6.2.1777. Ebd. Die Akte enthält Beschwerden Berenbergs vom 28.9.1782, 6.8.1783 und 18.5.1786. Die Regierung erließ daraufhin am 23.10.1783 erneut eine Verordnung; ein Ausschreiben folgte am 14.7.1790.

376

Möglichkeiten frühneuzeitlicher Sozialpolitik

er während einer in seinem Haus stattfindenden Hochzeit dem Schulmeister zugerufen hatte: "da kommt der Bettler auch her." 77 Zwölf Jahre später mußte die Abgabe per Verordnung erneuert werden, da sie "dergestalt in Abgang gerathen, daß wenn der Collectante mitt der Büchse sich meldet, solcher abgewiesen, und nicht zugelaßen" 78 werde. Weitere Klagen des Waisenhauskollegiums und anschließende Verordnungen erfolgten 1737 und 174279: Viele Leute verweigerten dem Waisenlehrer den Zutritt und verlangten, die Verordnung im Original einzusehen. 1748 wies ein Bräutigam sogar den Waisenhauslehrer mit den spöttischen Worten "grüßet die Waisenkinder" von der Schwelle80. Trotz der Forderung des Waisenhauskollegiums nach strenger Maßregelung des Bräutigams sahen die Geheimen Räte davon ab, da es sich um einen hohen Offizier, den Obersten Maxwell, handelte 81 . Auch die Abgabe bei Immobilienkäufen ließ sich nur schwer kontrollieren. Die Verantwortung für die Kontrolle wurde dabei wiederum zum Streitfall zwischen Justizkanzlei und Stadt, in deren Verlauf die Kanzlei den Magistrat aufforderte, in seine Berichte keine "Nachdenckliche und spitzige Expressiones einfließen zu lassen (...) und mehrere Behutsamkeit in Schreiben zu gebrauchen" 82 . Obwohl der Waisenhausschulmeister schließlich sowohl vom Burgvogt als auch vom Magistrat mit entsprechenden Verordnungen ausgestattet wurde, gab es immer wieder Schwierigkeiten, die Abgabe einzutreiben 83 . Doch nicht nur die Bevölkerung versuchte, sich den angeordeten Zahlungen zu entziehen. Auch verschiedene Beamte widersetzten sich der Zwangsabgabe bei ihrer Bestallung84, und die Pastoren der Garnisonkirche und der Kirche auf der Blumlage weigerten sich 1711 und 1714, die angeordneten vierteljährlichen Klingelbeutelkollekten für das Waisenhaus durchzuführen, da sie ihre Kirchen nicht der Stadt zugehörig glaubten 85 . Ende des 18. Jahrhunderts drohten die Einnahmequellen des Waisenhauses zu versiegen: Die Zahlungen von den städtischen Hospitälern 86 sowie die Abgaben bei Testamenten und Erbfällen 87 blieben aus; außerdem wurde die Sammlung bei 77 78 79 80 81 82 83

84

85

86 87

StACe L 3 Nr. 103, Protokoll vom 9.3.1712. NHStA Hann. 93 Nr. 2915, Verordnung vom 28.12.1724. Ebd., Verordnungen vom 27.3.1737 und 19.4.1742 sowie verschiedene Schreiben. Ebd., Protokoll vom 23.11.1748. Ebd., Schreiben der Regierung vom 9.12.1748. StACe 20 B Nr. 43, Schreiben der Justizkanzlei vom 6.11.1715. StACe L 3 Nr. 108 und StACe 20 B Nr. 43, passim; darin zahlreiche Verzeichnisse von Leuten, die die Abgabe nicht gezahlt hatten. Ebd., Nr. 23, Schreiben vom 18.11.1713, 20.7.1734 und 11.4.1797; ebd. Nr. 232, Schreiben der Regierung vom 12.6.1781. StACe 20 B Nr. 32, landesherrliche Verordnung vom 12.12.1711; StACe L 3 Nr. 106, Schreiben der Justizkanzlei vom 6.10.1714. StACe 19 A Nr. 6, Ratsprotokoll 1785. StACe L 3 Nr. 128, Schreiben des Waisenhauskollegiums vom 24.4.1806.

Obrigkeitliche Durchsetzungsmöglichkeiten

377

fremden Reisenden seit längerem nicht mehr durchgeführt 88 . Dies führte zu einer katastrophalen wirtschaftlichen Lage des Waisenhauses 89 , zu deren Abhilfe die Regierung nur zur Auflösung des Anstaltshaushalts oder zu Einsparungen raten konnte, "insbesondere, ob es nicht rahtsam sey, keine Butter auf das Brodt zu geben" 90 . Angesichts der Schwierigkeiten, eine tragfähige Fundierung für eine Anstalt zu schaffen, waren die Geheimen Räte in Hannover für ihren Plan, im ganzen Land mehrere Waisenhäuser zu errichten, 1731 auf die Unterstützung der Landstände angewiesen. Einzig die Calenbergische Landschaft folgte jedoch der Aufforderung zur Errichtung eines Waisenhauses, nicht ohne allerdings einige Bedingungen an ihre Unterstützung zu knüpfen 91 . Die Verfügungsgewalt über die Anstalt sollte ausschließlich bei der Landschaft liegen, von der Klosterkammer sollte ein jährlicher Zuschuß gegeben werden und auch der König sollte mit der Überlassung von Bauholz und der Anordnung einer Landfolge zu dem Werk beitragen 92 . Außerdem verlangte die Landschaft den Tabakimpost aus den Fürstentümern Calenberg und Göttingen, die bis dahin das Einbecker Waisenhaus erhalten hatte 93 . Schließlich sollten die zu den Nebenanlagen - d.h. den außerordentlich

bewilligten

Steuern

-

zählenden

sogenannten

'Nassau-

94

Schaumburgischen Gelder' verlängert werden . Die Regierung erbat darauf beim König die Zustimmung zur Verlängerung der Nebenanlage. Sie argumentierte damit, "daß der gemeine Landmann solche [Belastung], weil er in der Gewohnheit des contribuendi [i.e. des Zahlens dieser Steuer] ist, nicht so sehr empfinden werde" 95 . Der König stimmte der Verlängerung zu, ebenso sagte er die Bereitstellung von Holz zu. Vom Tabak-Impost sollte das Waisenhaus allerdings nur die Hälfte erhalten, da die Einbecker Anstalt nicht auf die gesamten Einnahmen verzichten konnte und außerdem ein Teil der dort versorgten Kinder aus Calenberg-Göttingen stammte. Der Zuschuß aus der Klosterkasse wurde jedoch abgelehnt, da die Kasse den größten Teil ihrer Über-

88 89 90

91 92 93 94

95

Ebd. Vgl. dazu Kap. V, Abschnitt 3.3. StACe L 3 Nr. 236, Stellungnahme Hofrat Willichs vom 1.9.1801 (Antwort auf ein Reskript vom 20.7.1801). Vgl. Kap. V, Abschnitt 1.1. NHStA Hann. 93 Nr. 2630, Schreiben der Landschaft vom 8.12.1731 und 18.2.1732. Vgl. dazu Kap. V, Abschnitt 2.1. Bei den Nassau-Schaumburgischen Geldern handelte es sich um eine Sondersteuer zur Begleichung ständischer Schulden bei den Fürsten von Nassau und Schaumburg, die nach Abtragung der Schuld zu anderen Zwecken verwendet werden konnte. Vgl. STORCH, Landstände, 180-183. NHStA Hann. 93 Nr. 2630, Schreiben der Regierung vom 28.10.1732.

378

Möglichkeiten frühneuzeitlicher Sozialpolitik

schüsse bereits zu wohltätigen Zwecken verwendete und überdies der Einbecker Anstalt die ausfallenden Einkünfte ersetzten sollte. 96 Die Stände erklärten sich mit diesen landesherrlichen Bewilligungen einverstanden. Trotz der prinzipiellen Zustimmung des Königs waren diese Zusagen von den Geheimen Räten nicht leicht einzuhalten. So lag die Entscheidung über die Lieferung des Bauholzes nicht bei der Regierung, sondern bei der Kammer und dem königlichen Oberforstmeister, der sich aus Sorge um den Waldbestand gegen eine großzügige Lieferung von Holz wandte 97 . Eine auf Wunsch der Calenbergischen Landschaft und mit Zustimmung des Königs geplante Dienstverpflichtung der Landbevölkerung für den Waisenhausbau scheiterte völlig. Am 14. Februar 1738 ordnete die Regierung an, die Einwohner der an Moringen

grenzenden

Ämter

müßten

im Rahmen

einer

'Landfolge' Spanndienste leisten und die für das Moringer Waisenhaus bestimmten Baumaterialien

unentgeltlich

transportieren 98 .

Dafür wurden

insgesamt

5866 Vi Fuhren zu je einem Tag benötigt. Gegen die Landfolge regte sich jedoch Widerstand bei der betroffenen Bevölkerung, der auch von den jeweiligen lokalen Obrigkeiten unterstützt wurde. So baten die Bauermeister des Amtes Lauenau durch den Amtmann darum, die Landfolge nicht leisten zu müssen, wobei sie auf andere Spanndienstverpflichtungen hinwiesen 99 . Weitere Amtmänner baten im Namen ihrer Untertanen um Reduzierung der 'Spanntage' oder fragten, ob die Untertanen sich freikaufen könnten 100 . Diese Widerstände bewogen die Geheimen Räte sehr bald, der Landschaft die Anmietung von Fuhrdiensten vorzuschlagen 101 . Bereits am 8. März wurde die Landfolge zurückgenommen und den Lokalbehörden mitgeteilt, daß sie das entsprechende Reskript zurückzusenden hätten 102 . Trotz dieser Rückschläge und der unter anderem damit zusammenhängenden Verzögerungen in der Bauphase103 verschaffte die Unterstützung der Landschaft dem Moringer Waisenhaus im Gegensatz zu der Celler Anstalt einen relativ hohen Anteil fester Einkünfte. Zunächst erhielt das Waisenhaus für die laufende Finanzierung noch Überschüsse aus den Nassau-Schaumburgischen Geldern sowie einen ständigen Zuschuß von 1500 Rtlr. aus der Landrenteikasse 104 . Dazu kamen 1747 das Privileg für den Druck von Kalendern für das Fürstentum Ca96

97 98 99 100 101 102 103 104

Ebd., Königl. Reskript vom 11.11.1732 und Schreiben der Regierung an die Landschaft vom 14.1.1734. NHStA Hann. 2631, passim. NHStA Cal. Br. 8 Nr. 1198, Ausschreiben vom 14.2.1738. Ebd., Schreiben des Amtes Lauenau vom 25.2.1738. Ebd., Schreiben vom 27.2., 3.3. und 7.3.1738. Ebd., Schreiben der Geheimen Räte vom 6.3.1738. Ebd. Vgl. Kap. V, Abschnitt 1.1. NHStA Hann. 93 Nr. 1374, Waisenhausrechnungen 1742/43-1749/50.

Der Einfluß der Gesellschaft

379

lenberg-Göttingen 105 , der Tabak-Impost und Einkünfte aus einer Stiftung 106 . Anders als die Celler Anstalt hatte das Moringer Waisenhaus vor der Zeit der französischen Besetzung, in der die landschaftlichen Kassen blockiert waren 107 , keine wirtschaftlichen Probleme und konnte daher seiner Aufgabe besser gerecht werden; eine Reduzierung der Kinderzahl war in Moringen nicht nötig. Das Beispiel der Waisenhäuser belegt, wie wichtig eine abgesicherte Finanzierung für die Durchführung größerer armenpolitischer Vorhaben war. In vielen öffentlichen Bereichen, z.B. den Armenkassen, war die Finanzierung jedoch ausgesprochen unübersichtlich und forderte die Kassenführer zu schlechter Haushaltung oder sogar zur persönlichen Bereicherung geradezu heraus 108 , was die Effizienz der Maßnahmen nachhaltig beeinträchtigte. Auf dem Gebiet des Armenwesens zwang das Fehlen eigener Mittel darüber hinaus die landesherrliche Regierung nicht nur zur Kooperation mit Ständen und Kommunen, was diesen eigene Handlungsspielräume verschaffte, sondern in gewissem Grad auch zur Rücksicht auf den Beitrag der Bevölkerung.

2.

Der Einfluß der Gesellschaft

Es konnte bereits gezeigt werden, daß besonders im Bereich der öffentlichen Kinderversorgung und hier wiederum vor allem bei den Waisenhausgründungen die entscheidenden Impulse zur Schaffung neuer Maßnahmen nur in wenigen Fällen direkt von den landesherrlichen Obrigkeiten ausgingen. Vielmehr griffen diese andere Anregungen auf und unterstützten sie, sofern sie mit den obrigkeitlichen Zielen harmonierten. Eine wichtige Funktion hatte dabei die private Wohltätigkeit.

105 106

107 108

SPANGENBERG, Sammlung, Bd. 1, 143, Verordnung vom 3.2.1747. 1810 betrugen die regulären Einnahmen insgesamt 2380 Rtlr. (Landrentei: 1500 Rtlr.; Zinsen der Tappeschen Stiftung: 150 Rtlr.; Tabak-Impost: 375 Rtlr.; Verlagsprivileg: 55 Rtlr.; landschaftliche Druckerei: 200 Rtlr.). Dazu kamen noch 630 Rtlr. 'extraordinaire' Einnahmen. NHStA Hann. 52 Nr. 375, Bericht über das Waisenhaus vom 25.12.1810, Anlage A: "Auszug aus einem Schreiben des Herrn Schatzsecretärs Hartmann an den Herrn Präfecten des Departements der Aller" vom 20.9.1810. Vgl. Kap. V, Abschnitt 3.3. Die hannoversche Armenkasse hatte 1811 Schulden in Höhe von fast 6000 Rtlr., die auch durch die ausgeliehenen Gelder nicht gedeckt waren. Zusätzlich war durch sinkende Einnahmen ein Defizit von 2000 Rtlr. entstanden. Der mit der Revision betraute Maire Iffland resümierte in einem Bericht an den Präfekten: "Wie ich das Armenwesen gefunden habe? Ich bedaure es sagen zu müssen, keineswegs in einem solchen Zustande als ich gewünscht hätte. NHStA Hann. 52 Nr. 2994, Bericht vom 23.4.1811. Zum Hildesheimer Armenwesen vgl. HEINRICH, Armenfürsorge, 61. Die Unzulänglichkeit der Kassenführung in der frühen Neuzeit schildert Norbert WINNIGE, Kassendefizite, plötzliche Abreisen und erstaunliche Berechnungen - die Göttinger Kalandsverwalter im 18. Jahrhundert, in: Göttinger Jahrbuch 39 (1991), 55-60.

380 2.1.

Möglichkeiten ftühneuzeitlicher Sozialpolitik

Private Stiftungen Absichten der Stifter - Rücksichtnahme der Obrigkeit

Die christliche Verpflichtung zur Barmherzigkeit und Mildtätigkeit blieb trotz der zunehmenden Kontrolle der Almosenvergabe durch die Obrigkeiten ein Grundpfeiler des frühneuzeitlichen Armenwesens. Die Armenkassen wurden aus den Erträgen verschiedener Sammlungen sowie den Einkünften aus wohltätigen Stiftungen und Vermächtnissen finanziert, und auch die diversen Anstalten wie Armen- oder Waisenhäuser bestritten wenn nicht gänzlich, so doch immer anteilig auf diese Weise ihren Haushalt. Die jährlichen Rechenschaftsberichte des Göttinger Waisenhauses enthalten akribische Auflistungen der milden Gaben, die der Anstalt und ihren Kindern im Laufe eines Jahres zugutekamen; darunter fanden sich manchmal kleinere Geldbeträge, in der Regel aber Naturalspenden, etwa Brot, Getreide, Fleisch oder Kleidung 109 . Auf dem Land wurden auch die Abgaben an die Armenkasse häufig in Form von Naturalien geleistet 110 . Neben unzähligen kleineren Spenden und Vermächtnissen gab es eine geringere Zahl umfangreicherer Stiftungen, von denen einige durch die Bereitstellung eines erheblichen Kapitals Anstoß zu neuen Maßnahmen oder Institutionen der Armenpflege

wurden.

Dazu

gehörten

die

Stiftungen

von

Waisenver-

sorgungsinstitutionen wie das Nörtener Waisenhaus, das Scholvinsche Verpflegungsinstitut in Hannover und in deutlich bescheidenerem Umfang die Stiftung der Witwe von Schwicheldt zur Versorgung von sechs armen Waisen 111 . Private Stiftungen gaben darüber hinaus entscheidende Anstöße zur Gründung der Waisenhäuser in Celle, in Göttingen und wohl auch in der Hildesheimer Altstadt 112 . Ebenfalls zu einer neuartigen Einrichtung führte das Meinhelfsche Legat zugunsten armer Soldatenkinder 113 . Die meisten Stifter bedachten in ihren Schenkungen und Testamenten allerdings bereits bestehende Institutionen. Ein außerordentlich kapitalstarkes Beispiel dafür ist das Legat der Zahlkommissarin v. Schilden und ihrer Tochter, die verschiedenen Armenpflegeeinrichtungen insgesamt 52 000 Rtlr. vermachten; davon waren 3000 Rtlr. für das Celler Waisenhaus und 10 000 Rtlr. für die Auf-

109

110

111 112 113

Im Februar 1760 erhielt das Waisenhaus ein Malter (187 Liter) und zweieinhalb Himten (ein Himten = 31 Liter) Roggen, zwei Himten Erbsen, je einen Himten Graupen, Buchweizengrütze und Linsen, fünf Fässer Kofent, mehrere kleinere Kontingente Bier, ein Brot, ein Bettlaken, einen Geldbetrag von 21 Rtlr. und verschiedene kleinere Summen zwischen 6 Mgr. und 1 Rtlr. Nachrichten das Göttingische Waisenhaus betreffend, Göttingen 1759, 32-35. Evangelisch-lutherisches Pfarramt Settmarshausen, Kirchenrechnungen III Nr. 1, Annenrechnungen 1703-1775. Vgl. auch SCHUBERT, Arme Leute, 181. Vgl. Kap. V, Abschnitte 1.1. und 3.3. Vgl. Kap. V, Abschnitt 1. Vgl. Kap. IV, Abschnitt 5.1.

Der Einfluß der Gesellschaft

381

Stockung des Meinhelfschen Legates bestimmt 114 . Weitere große Stiftungen waren z.B. 1809 das Vermächtnis einer Frau in Hildesheim, die dem Altstädter Waisenhaus 4000 Rtlr. hinterlassen hatte115, und das Legat eines Kanonikers aus Northeim, der 1807 6000 Rtlr. für die Erziehung zweier katholischer Knaben in dem zum katholischen Eichsfeld gehörenden Duderstädter Waisenhaus bestimmt hatte 116 . Andere Stiftungen waren allgemein armen Witwen und Waisen 117 oder der Erziehung armer Kinder 118 gewidmet. Die Gründe privater Wohltätigkeit waren vielfältig. Spenden für Waisenhäuser dienten oft dem Zweck, die Fürsprache der Zöglinge bei Gott zu erwirken, wie verschiedene Beispiele aus Göttingen zeigen. Eine "kranke Person" schickte 1759 1 Rtlr. "mit Verlangen mit den Kindern zu beten, daß ihr doch Gott die innere Beruhigung verleihen wolle" 119 . Eine Frau knüpfte an die Spende von 6 Mgr. und einem Brot die Bitte "um die Erhaltung einer kleinen Tochter nach göttlichem Willen" 120 . Eine weitere "Gönnerin der Waisen" schickte "12 Mgr. nebst etwas gesalzenen Pflaumen", um ein Dankgebet zu erhalten 121 : "der 19. Jan. liebste Kinder! ist es diesmal, davon ich in der Stille und durch euch öfentlich den Gott preise, der 1740 allein ein Unglück von mir abgewandt, singet derowegen den Gesang: Ich will so lang ich leb allhier, und rufet mit mir den Gott unsere Heils an, daß er sich unsrer ferner erbarmen, unsre Zuversicht zu ihm befestigen, und seinen grossen Namen an uns verherlichen wolle, damit wir auch andern unser Vetrauen erzählen und bekant machen können" 122 . Der Wunsch nach der Fürbitte der Waisen wird besonders deutlich bei den zugunsten des katholischen Waisenhauses in Hildesheim gemachten Vermächtnissen. Der Hausvogt Jobst Edmund Müller aus Steuerwald, der der Anstalt 1773 verschiedene Ländereien überließ, stellte die Bedingung, daß das Waisenhaus von den Einkünften monatlich eine Messe "vor dem mittelsten Altar unter dem Pre114 115 116 117

118

119 120 121 122

NHStA Hann. 93 Nr. Nr. 338, Schreibender Celler Justizkanzlei vom 22.9.1792. NHStA Hann. 52 Nr. 360; NHStA Hild. Br. 10 Nr. 1555. NHStA Hann. 52 Nr. 351, Schreibendes Innenministers vom 30.9.1809. NHStA Hann. 93 Nr. 335, Die zwischen dem Konsistorium und den Erben des Geheimen Rates v. Behr entstandene Differenz wegen des von diesem der Kirche zu Stellichte vermachten Kapitals von 400 Rtlr. für arme Witwen und Waisen (1779-1783). NHStA Hann. 74 Einbeck Nr. 1628, Das von weiland Amtmann Schlemm zu Rotenkirchen legierte Kapital von 100 Rtlr. zur Ausbildung bedürftiger elternloser Knaben im Amt Rotenkirchen (1770); NHStA Hann. 93 Nr. 333, Vermächtnis des verstorbenen Bauverwalters Johann Heinrich Hartje zu Harburg von 500 Rtlr. zum Zwecke der Unterhaltung armer Kinder in der Schule zu Horst, Amt Ricklingen, welches nach dem Tode der Witwe zahlbar wird (1777). Nachrichten das Göttingische Waisenhaus betreffend, 27. Ebd. Nachrichten das Göttingische Waisenhaus betreffend, 31. Ebd.

382

Möglichkeiten fnihneuzeitlicher Sozialpolitik

dig-Stuhle im Dohme" für ihn lesen lassen müsse, bei der "die gesambte Waysen Kinder (...) jedesmahl einen Heil[igen], Rosen-Crantz und (...) den Sechsten Büß Psalm betten" 123 sollten. Auch der Bischof von Speyer, der ehemals Domherr in Hildesheim gewesen war, knüpfte als Bedingung an eine Stiftung von 1000 Rtlr. die Lesung einer Messe und die Fürbitte der Waisenkinder; allerdings begnügte er sich im Unterschied zu Müller mit der vierteljährlichen Wiederholung der Zeremonie 124 . Nicht alle Stiftungen entstanden aus völlig freien Stücken. Schien ein verliehenes Kapital wegen Zahlungsunfähigkeit des Schuldners so gut wie verloren, war die Stiftung des Geldes zu wohltätigen Zwecken für den Gläubiger die letzte Möglichkeit, mit Unterstützung der Obrigkeit das Geld doch noch zu retten und wenn schon nicht zur freien Nutzung, so doch wenigstens für das eigene Seelenheil zu verwenden 125 . Die Sorge um den göttlichen Segen veranlaßte auch den 1755 zum Tode am Galgen verurteilten Berend Meier zu einer Spende von 450 Rtlr. an das Celler Waisenhaus, mit der er die Bitte verband, "daß sein Leib nach seinem Tode abgenommen und begraben werden möge" 126 . Doch die erwarteten Gegenleistungen beschränkten sich nicht auf das Leben nach dem Tod. Viele Gönner des Celler Waisenhauses verbanden mit ihrer Stiftung die Bedingung, daß sie oder ihre Erben Kinder zur Aufnahme in die Anstalt bestimmen dürften, was allerdings nur in Ausnahmefallen gestattet wurde 127 . Zum Teil verfolgten die Stifter auch eindeutig diesseitige Ziele. Der Steuerwalder Hausvogt Müller hatte unter Hinweis auf die beabsichtigte Überlassung des Landes an das Waisenhaus versucht, vom Fürstbischof die Grlassung der "umbsetz Gelder" für den Erwerb eines wüsten Kothofes mit 31 Morgen Land zu erwirken, was der Bischof allerdings abgelehnt hatte 128 . Der Proviantmeister Israel, der 1762 200 Rtlr. für arme Soldatenkinder in Aussicht stellte, erwartete als Gegenleistung, daß die königlichen Kassen das Geld als Kredit nehmen und zu vier Prozent verzinsen müßten, was einen Prozentpunkt über dem üblichen Zinssatz lag. Da Israel insgesamt 50 000 Rtlr. anlegen wollte, aber nur 250 Rtlr. der Stiftung für Soldatenkinder zugute kommen sollten, während der Überschuß für Israels Angehörige und arme jüdische Waisen gedacht war, vermutete die Regierung, Israel wolle sich auf diese Weise mit ihrer Unterstützung eine sichere Geld123 124 125

126 127

128

StAHi Best. 100 Abt. 178 Nr. 2b, Testament vom 8.9.1773. Ebd. Nr. 4a, Schreiben des Speyerer Fürstbischofs vom 12.12.1776. StACe L 3 Nr. 99, Schenkung des Buchbinders Rust über 101 Taler (1694-1695). Es handelte sich dabei um eine Forderung an die Braunschweigische Münze. Vgl. auch die Stiftung des Predigers Horst für die Errichtung eines Waisenhauses in Celle in Kap. V, Abschnitt 1.1. StACe L 3 Nr. 114, Protokoll der Justizkanzlei vom 10.4.1755. Ebd. Nr. 101, Schenkung des Hofrates Bachmeister 1715; ebd. Nr. 110, Stiftung der Eva Maria Loeßen 1734; ebd. Nr. 115, Schenkung des Landrates v. Lenthe 1758; ebd. Nr. 118, Schenkung des Kommissärs Hansing 1762. StAHi Best. 100 Abt. 178 Nr. 3, Entscheidung des Fürstbischofs vom 11.7.1770.

Der Einfluß der Gesellschaft

383

anlage verschaffen 1 2 9 . Hin- und hergerissen zwischen den Vorteilen für die Soldatenkinder und der Kostenbelastung der königlichen Kammer, gelangten die Geheimen Räte zu keiner klaren Entscheidung 130 . Diese lag letztlich ohnehin beim König, der die Stiftung im Dezember 1762 ablehnte, da es "abseiten des Juden ( . . . ) bey diesem Handel auf die Acquirirung einer unablöslichen Rente hinauskomme" 1 3 1 . Im Zuge einer stärkeren Reglementierung und Vereinheitlichung des Armenwesens waren die Obrigkeiten bestrebt, die Bestimmung von Vermächtnissen zu beeinflussen und ihre satzungsgemäße Verwendung zu überwachen. Im Oktober 1732 erließ die hannoversche Regierung ein Reskript, das alle Beamten dazu aufforderte, Verzeichnisse über die im Land bestehenden Armenanstalten sowie alle "Pröven [i.e. Pfründen] und Spenden" anzufertigen 132 . Vor allem sollte dabei die Rechnungsführung kontrolliert werden. Eine obrigkeitliche Bestätigung ihres Willens lag prinzipiell durchaus im Interesse der Stifter 1 3 3 . Wie die Reaktionen auf diesen Vorstoß der Regierung zeigen, fürchteten viele Spendewillige aber bei zu starker landesherrlicher Kontrolle die Einführung neuer Steuern und den Verlust der freien Verfügungsgewalt über Stiftungen und Vermächtnisse 1 3 4 . Da eine Verunsicherung potentieller Spender und ein möglicher Rückgang der privaten Wohltätigkeit keinesfalls den Absichten der Obrigkeit entsprachen - die ausfallenden Gelder hätten anderweitig kaum beschafft werden können -, bemühten sich die Geheimen Räte unverzüglich, den Schaden zu begrenzen. In einer bekanntzumachenden Erklärung sicherten sie möglichen Spendern auch für die Zukunft Steuerfreiheit und die uneingeschränkte Verfügung über ihre Stiftungen zu, damit vermögende Leute sich auch weiterhin

129 130

131 132 133

134

NHStA Hann. 47 I Nr. 937, Schriftverkehr vom 16.6.-8.11.1762. Ebd., Voten vom 14.11.1762. Der Geheime Rat und Kammerpräsident v. Münchhausen notierte: "Ich gesteh, daß ich diese Frage zu bejahen mir nicht getrau", riet aber schließlich zur Ablehnung. Ebd., Königliches Reskript vom 3.12.1762. NHStA Cal. Br. 23b Nr. 191, Reskript vom 22.10.1732. Die Witwe v. Schwicheldt erbat von der Regierung, die Statuten ihrer Stiftung "nicht allein höchst zu genehmigen, sondern sie auch in landesherrlicher Vollmacht ausdrücklich zu confirmieren, und ihnen die völlige gesetzliche Kraft zu geben", da "ein solches Institut ohne alle Vorschrift nicht in Ordnung erhalten werden kann". NHStA Hann. 93 Nr. 331, Schreiben vom 31.7.1772. Dies geht aus einer "Declaratio" vom 13.12.1732 hervor, mit der die Regierung solche Befürchtungen zu zerstreuen suchte: "So müssen wir ( . . . ) vernehmen, daß von einigen theils übel infonnirten, theils furchtsamen Leuten, die Apprehension gefasset worden, als dürften Sie oder die Ihrige entweder mit jahrlichen Rechnungs-Ablegung ihrer geführten Administration, folglich mit neuen Fisci-Gebühren und Sportulen beschweret, oder der Collatur solcher Benefkiorum wo nicht sofort, und directe, dennoch mit der Zeit, und per indirectum, verlustig gehen, oder aber sonst sich genöhtiget sehen, die Geheimnisse ihrer Familien kund zu machen, und dadurch andere abgeschrecket werden, nach dem Exempel ihrer Vorfahren etwas von ihren zeitlichen Gütern zu milden Stifftungen zu verwenden, und was dergleichen unbegründete Argwohne mehr sind". NHStA Dep. 7b Nr. 264.

384

Möglichkeiten frühneuzeitlicher Sozialpolitik

"willig bezeigen [würden], ihren armen nohtleidenden Neben-Christen, nicht minder als ihre Vorfahren zu Hülffe zu kommen" 135 . Die Bedeutung privater Spenden für die öffentliche Finanzierung blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Gestalt der Armenfürsorge. Mit der Orientierung der Obrigkeit an der Maximierung freiwilliger Spenden entschied über Erfolg oder Mißerfolg einer Maßnahme auch deren Akzeptanz in der Gesellschaft.

2.2.

Die Bedeutung von 'Öffentlichkeit' Funktion öffentlichen Bettels - warum Waisenhäuser? - Zunahme des publizistischen Interesses - Wirkung aufklärerischer Schriften - Wandel der Öffentlichkeit und dessen Auswirkungen

Der Spendebereitschaft der Bevölkerung waren durch die beschränkten wirtschaftlichen Möglichkeiten der Mehrheit Grenzen gesetzt. Um so wichtiger war es, daß die Geber von der Notwendigkeit einer Abgabe überzeugt waren und sich von ihrer nützlichen Verwendung überzeugen konnten. Dazu gehörte, daß sie die Empfänger

ihrer

Zuwendungen

unmittelbar

vor

Augen

hatten.

Die

obrigkeitlichen Armenordnungen sollten den öffentlichen Bettel deshalb nicht vollständig abschaffen, sondern richteten sich vorrangig gegen seine ungeordeten Formen.

Zur

Aufrechterhaltung

der

Spendebereitschaft

dagegen

wurden

Ausnahmen von den Bettelverboten gemacht. Die Armenordnung für die Stadt Hannover von 1700 setzte fest, daß

"nebst denen Sammlern die Weysen-Kinder und Courrenden-Schülers, auch die Armen von St. Nicolaus und die so genandte Siechen wöchentlich, ihrer Gewohnheit nach, ferner hin umher gehen, und freywillig Allmosen sammlen, welches ihnen unverbohten seyn soll" 136

Ähnliche Regelungen waren in anderen städtischen und landesweiten Armenordnungen vorgesehen 137 . Dennoch sank die Spendebereitschaft nach der Einführung der Armenordnungen deutlich, da die Bevölkerung wegen des zeitweiligen Ausbleibens der Bettler keinen Grund mehr zum Almosengeben sah. Der Amtmann von Aerzen klagte 1721,

"daß leider die Müdigkeit derer Leute fast immer mehr abnimmet, und, nachdem sie des plagens vor den Thüren sich befreyet wißen, 135 136 137

Ebd. CCC, Bd. 1, Cap. I, 968. CCL, Bd. 3.2, Cap. IV, 1069, Celler Annenordnung von 1681; ebd., 1143, lüneburgische Annenordnung 1712; CCC, Bd. 1, Cap. I, 955, hannoversche Annenordnung 1702. Vgl. auch zu Braunschweig ALBRECHT, Annenvögte, 59.

Der Einfluß der Gesellschaft

385

sie um den Unterhalt derer Armen sich wenig zu bekümmern scheinen, so daß die verordnete Büchsen oftermahlen leer umgetragen werden" 138 . Wie sehr die Formen öffentlicher Fürsorge von der Rücksicht auf die Spendebereitschaft der Bevölkerung geprägt waren, zeigt am deutlichsten wiederum das Beispiel der Waisenhäuser. Eines der wichtigsten Motive für ihre Errichtung neben den zumindest zu Beginn des Untersuchungszeitraums in die Anstaltserziehung gesetzten Hoffnungen - war das Kalkül, daß durch die Konzentration armer Kinder an einem Ort die öffentliche Aufmerksamkeit für deren Lage und damit auch die Spendebereitschaft gestärkt würde. So stimmte der Rat der Hildesheimer Altstadt der Stiftung eines Waisenhauses "nur in der Hofnung [zu], daß viele gutherzige Leute wohl etwas dazu atribuieren dürften" 139 . Wichtigste Voraussetzung war deshalb die baldige Aufnahme von Kindern 140 . Im Licht dieser Überlegungen gewinnen die Uniformierung der Waisenkinder und die stark auf äußere Wirkung zielende Gestaltung der Gebäude, ihre Ausstattung mit Glocken- und Uhrtürmen einen neuen Sinn 141 . Wichtig war vor allem ein gut sichtbarer Standort: Die Calenbergische Landschaft erwog, Waisenhäuser in den an der Postroute gelegenen Städten Springe und Moringen zu errichten, weil so auch Reisende zu milden Gaben angeregt würden. Aus ähnlichen Erwägungen schlug der Göttinger Superintendent Ribow vor, das Waisenhaus in die Allee zu verlegen 142 . Ebenfalls der 'Öffentlichkeitsarbeit' dienten öffentliche Schulprüfungen und Einweihungsfeiern wie diejenige in Celle, die "unter Gesang und Läutung der Klocken" abgehalten wurde und in deren Verlauf "Consistorial Rath Jacobi eine feierliche Rede in der Stadt-Kirche hielt und die Kinder nachmals in Procession selbst in ihre neue Wohnung einführte" 143 . Wie sehr sich auch die landesherrliche Obrigkeit von solchen Überlegungen leiten ließ, zeigt eine Äußerung des hannoverschen Geheimen Rates von Münchhausen aus dem Jahr 1746, der trotz tiefer Zweifel am Erfolg der Anstaltserziehung aus finanziellen Überlegungen an der Einrichtung von Waisenhäusern festhielt: Es sei "bey der Erziehung der Kinder in Wayßen-Häußern noch vieles zu erinnern gefunden, und wenigstens dieses in der Erfah138 139 140

141 142 143

NHStA Hann. 74 Hameln Nr. 2690, Schreiben des Amtes vom 30.9.1721. StAHi Best. 100 Abt. 177 Nr. 30, Bericht für die preußischen Behörden vom 11.3.1803. StAHi Best. 100 Abt. 215 Nr. la, Eintrag vom 24.9.1694. Auch das Celler Waisenhauskollegium berichtete 1767, daß die große Zahl der Kinder sich positiv auf die Höhe der eingegangenen Spenden ausgewirkt habe. NHStA Hann. 93 Nr. 2917, Schreiben des Waisenhauskollegiums vom 5.2.1767. Vgl. Kap. V, Abschnitt 2. UAGö 10 A Nr. 14, Schreiben Ribows vom 23.8.1745. StACe 20 B Nr. 4a, Hagemann, Gesammelte Nachrichten, 9.

386

Möglichkeiten frühneuzeitlicher Sozialpolitik

rung bestättiget wird, daß die Kinder in Wayßen-Häusern beßerer Kost und Pflege gewohnet werden, als sie nachhero, wenn sie als Domestiquen gebrauchet werden sollen, antreffen können, folglich], nicht so einschlagen, als es dem Zweck ihrer Erziehung in solchen publiquen Häusern gemäß ist, wie dann auch die Wayßen-Knaben zumahl bey Handwerckern, welche starcke Arbeit erfordern nicht gerne aufgenommen werden zu pflegen. Weilen aber diejenige Leuthe, welche ihre Mildthätigkeit gegen die Arme durch Schenckungen und Vermächtniße erweisen wollen, am meisten auf dergleichen simulacra [i.e. Abbilder] sehen, und am liebsten zu solchen publiquen Häusern etwas stifften, wie noch bey hiesiger Alt-Stadt das Exempel des Lazareths, welches erst nach vollführtem Bau ansehnliche Vermächtnüße erhalten hat, vor Augen liegen, auch die mehreste Armen-Vermächtnüße nicht für die Arme überhaupt, sondern für das Armen-Hauß alhier ausgeworffen werden. S o hält man es in Sonderheit in großen Städten vor eine dem publico zuträgliche Sache, auf solche öffentliche Häuser zu reflectieren" 144 . Angesichts dieser enormen Bedeutung ihrer öffentlichkeitswirksamen Funktion kann die allmähliche Abkehr vom Konzept der geschlossenen Anstalten nach dem Siebenjährigen Krieg nur im Zusammenhang mit dem Bedeutungsverlust unmittelbarer, "repäsentativer" 145 Öffentlichkeit erklärt werden. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzte allmählich eine andere Form der öffentlichen Beschäftigung mit den Problemen der Kinderversorgung ein. Im Zuge des aufklärerischen Interesses an der Erziehung 146 wandten sich zahlreiche Zeitschriftenaufsätze, Wettbewerbsschriften und Traktate einzelnen Fragen kindlicher Versorgungslosigkeit und den geeigneten Mitteln zu ihrer Abhilfe zu; im Vordergrund standen dabei die Waisenhauserziehung, die Findelkinderversorgung und der Kindsmord. Als erstes dieser Themen gerieten die Waisenhäuser ins Blickfeld publizistischer Kritik, die sich vor allem gegen die - nach Ansicht der Autoren - unhaltbaren Zustände in den Anstalten richtete. Aus mehreren kontroversen Beiträgen zu diesem Thema entwickelte sich in den sechziger Jahren der sogenannte Waisenhausstreit, dessen publizistische Nachwirkungen bis weit in das 19. Jahrhundert reichten 147 . Bekanntestes Beispiel der mehrheitlich gegen die Anstaltserziehung gerichteten Beiträge ist der von 1784 bis 1788 erschienene Roman "Carl von Carlsberg" 1 4 8 . In den siebziger Jahren dann wandten sich verschiedene Autoren 144 145

146

147 148

StAGö AA Wohlfahrt Waisenamt Nr. 2, Schreiben Münchhausens vom 28.1.1747. Zum Typus repräsentativer Öffentlichkeit vgl. Jürgen HABERMAS, Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 2. Aufl. der Neuaufl., Frankfurt a.M. 1991, 58-67, zu deren Bedeutungsverlust ebd., 67-69. Vgl. dazu Rudolf VIERHAUS, Aufklärung als Lernprozeß, in: ders: Deutschland im 18. Jahrhundert, 84-95, bes. 86f.; Ernst HINRICHS, Aufklärung in Niedersachsen. Zentren, Institutionen, Ausprägungen, in: VIERHAUS (Hg.), Kultur und Gesellschaft, 5-30, bes. 13-15. Vgl. das Schriftenverzeichnis bei JACOBS, Waisenhausstreit, 17. Christian Gotthilf SALZMANN, Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend, 6 Bde., Leipzig 1784-1788, hier Bd. 1, 333, 342, 350.

387

Der Einfluß der Gesellschaft

den Findelhäusern zu 1 4 9 , die von den meisten wegen der hohen Sterblichkeit unter den Findelkindern negativ bewertet wurden 150 . Diese Debatte bereitete die Beschäftigung mit dem Kindsmord vor, der zu einer der meistdiskutierten Fragen der Spätaufklärung werden sollte 151 . Die Argumente der einzelnen Schriften, die in der Hauptsache um die Lockerung der Sittengesetzgebung und die Möglichkeiten öffentlicher Hilfsangebote für ledige Mütter kreisten, sind an anderer Stelle bereits ausführlich dargestellt worden und brauchen hier nicht weiter ausgeführt zu werden 152 .

Wichtig

ist der außerordentliche

Stellenwert

Kinderversorgung innerhalb der aufklärerischen Reformdiskussionen;

der

weitere

Themen waren die Armenkindererziehung, die Industrieschulbewegung oder das Ammenwesen 1 5 3 .

Darüber

hinaus

hielten

Findelkinder,

Waisenhäuser

und

Kindsmörderinnen nun Einzug in Anekdoten 154 , die schöne Literatur 155 und sogar in die Musik: Ende 1809 wurde die Oper "Das Waisenhaus" von Joseph Weigel in Bamberg uraufgeführt 156 .

Daß es sich unterdessen um ein

Modethema

handelte, zeigt die Bemerkung des Rezensenten, das Stück sei auch "ohne Local des Waisenhauses denkbar, und der Dichter [scheine] nur die Masse der Kinder herbeygeführt zu haben, um Rührung zu erregen" 157 . Die Wirkungen von Literatur und publizistischen Auseinandersetzungen sind nur

schwer

abzuschätzen.

Findelhausdebatte

zu

einem

Zwar

wurden

guten

Teil

der im

Waisenhausstreit "Hannöverischen

und

die

Magazin"

ausgefochten 158 , das zu den meistgelesenen Periodika der Zeit gehörte 159 , und 149 150 151 152

153

154

155

156

157 158

159

ULBRICHT, Debate, 214ff. Ebd., 235ff. Ebd., 217f.; ders., Kindsmord, 217ff. Vgl. auch Kap. III, Abschnitt 1. ULBRICHT, Debate, bes. 219ff.; ders. Kindsmord, 217-328.; ders., Reformvorschläge, 131ff. Zur Industrieschulbewegung siehe das Göttingische Magazin für Indüstrie und Armenpflege, zu den anderen Themen vgl. HERRMANN, Armut; FUES, Amme oder Muttermilch. Ein Beispiel ist die wundersame Geschichte eines Findlings, der seine Pflegeeltern reich machte: A.G. MEISSNER, Der Fündling. Eine wahre Anekdote, in: Neues deutsches Museum 3 (1790), 1166-1178. Etwa in Kleists Novelle "Der Findling" (1811). Zum Kindsmordmotiv vgl. WEBER, Kindsmörderin, 18ff. Rezension zu "Das Waisenhaus" von Joseph Weigel, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 12 (1809/10), 809-819, Nr. 52 vom 19.9.1810. Ebd., 811. C.W.F. WALCH, Gedanken über die Frage, ob Waysenhäuser nützlich sind, in: HM 4 (1766), 146-160; A.P.L. CARSTENS, Bestätigung dessen, was (...) zur Vertheidigung der Waysenhäuser vorkomt, durch das Exempel eines Waysenhauses, in welchem die Krätze völlig vertilget ist, in: HM 4 (1766), 561-570; ARISTIPP, Sind Waysenhäuser nützlich?; AGATHOS, Anmerkungen über die im 27. Stück beantwortete Frage: sind Waysenhäuser nützlich?, in: HM 5 (1767), 1137-1144; Carl Friedrich MEISSNER, Einige Betrachtungen über die Fündlingshäuser, und über die Einrichtung derselben, wenn sie dem Staate wo nicht nützlich, doch minder schädlich seyn sollen, in: HM 16 (1778), 577-634; ders., Untersuchung der Frage: Ob Fündlingshospitäler, oder Häuser in welchen neugeborene Kinder, die von den Ihrigen ausgesetzt sind, auf öffentliche Kosten aufgenommen und erzogen werden, einem Lande nützlich oder nachtheilig sind, in: HM 16 (1778), 1329-1340, 1345-1376. ULBRICHT, Debate, 216.

388

Möglichkeiten frühneuzeitlicher Sozialpolitik

verschiedene Autoren waren mit den Verhältnissen im Untersuchungsgebiet oder den benachbarten Staaten vertraut160; direkte Folgen für die Gesetzgebung und die öffentliche Kinderversorgung lassen sich aber kaum nachweisen161. Einzig im Fall der 1767 im "Hannöverischen Magazin" veröffentlichten Kritik an den Waisenhäusern kann positiv der Beweis geführt werden, daß diese von den Geheimen Räten gelesen und in ihre politischen Erwägungen aufgenommen wurde. Zu einem unmittelbaren Ergebnis im Sinne des Autors führte allerdings auch dieser Artikel nicht, da die Regierung trotzdem dem Wiederaufbau des Celler Waisenhauses zustimmte162. Dennoch setzte sich das von den Waisenhauskritikern erstrebte Ziel, nämlich die Auflösung der Anstalten, langfristig durch, wenn auch mit einiger Zeitverzögerung und nicht in allen Fällen. Auch in der Rechtsprechung - vor allem beim Kindsmord, aber auch bei den sittlichen Vergehen -, machte sich ausgangs des 18. Jahrhunderts ein sichtlicher Wandel bemerkbar. Dessen Verbindung mit publizistischen Reformvorschlägen ist aber um so weniger linear zu erklären, als die ersten Anzeichen dieses Wandels sich bemerkbar machten, lange bevor darüber geschrieben wurde163. Den allmählichen Wandel der Öffentlichkeit zeigt eine weitere Form der publizistischen Behandlung des Problems der öffentlichen Kinderversorgung: die Selbstdarstellung der fürsorgerischen Institutionen. Am frühesten nutzte diese die theologische Fakultät in Göttingen, die ab 1748 - möglicherweise nach dem Vorbild von August Hermann Franckes Nachrichten über das Hallesche Waisenhaus164 - regelmäßig einen jährlichen Rechenschaftsbericht über die Arbeit des Göttinger Waisenhauses veröffentlichte165, der eindeutig das Ziel verfolgte, die Leser zu Spenden für das Waisenhaus zu bewegen. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurden solche Berichte von den Armenkollegien in Hannover und Göttingen und in der Industrieschulbewegung gezielt zur Werbung um öffentliche Unterstützung eingesetzt166. Besonders tat sich dabei der Göttinger Armenpfleger 160

161

162 163 164

165 166

An der Findelhausdebatte war z.B. der Göttinger Professor August Wilhelm Schlözer beteiligt. Ebd., 214. Zu den aus Nordwestdeutschland stammenden Beiträgen zur Kindsmordpreisfrage vgl. ders., Reformvorschläge, 125-128. Allgemein zur Aufklärungsgesellschaft in Nordwestdeutschland vgl. HINRICHS, Aufklärung, l l f . und 19ff., bes. 23-27. ULBRICHT, Debate, 146; ders., Kindsmord, 316. Eines der wenigen konkret belegbaren Beispiele ist die Beccaria-Rezeption eines Untergerichtes auf Fehmarn. Ebd., 363. Meist sind dahingehende Aussagen aber bloße Spekulation, so etwa bei KUHN, Sozialfürsorge, 88, der einen "unmittelbaren Einfluß" Salzmanns auf die Altenburgische Waisenfursorge annimmt, da ihn der Fürst "bewunderte". Vgl. Kap. V, Abschnitt 3.1. Vgl. Kap. II, Abschnitt 2 und 3, sowie Kap. III, Abschnitt 2 . 2 . August Hermann FRANCKE, Segensvolle Fußstapfen (...). Nachricht von dem Weysenhause und übrigen Anstalten zu Glaucha vor Halle, 3. Aufl., Halle 1709. Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause, Göttingen 1748ff. Uebersicht der allgemeinen Armenpflege des Königl.-Churfürstl. Armencollegiums zu Hannover von Michaelis 1794ff.; Nachricht über die Versorgung der Armen in Göttingen, Göttingen 1787ff. Zur Bedeutung der Publizistik in der Industrieschulzeit siehe MARQUARDT, Industrieschule, 44f.

Der Einfluß der Gesellschaft

389

Gerhard Ludwig Wagemann 167 hervor, der nicht nur das "Göttingische Magazin für Industrie und Armenpflege" herausgab, sondern auch zahlreiche Zeitschriftenartikel veröffentlichte und federführend an der "Nachricht über die Versorgung der Armen in Göttingen" beteiligt war. Eine langfristige Wirkung dieses neuen Forums zeigte sich darin, daß - zumindest für die Schichten, die aufgrund ihrer Bildung daran teilhatten - die auf die Öffentlichkeit gerichtete Funktion von Waisenhäusern und anderen Anstalten ihren Sinn verlor. Ausdruck diese Wandels ist die Bemerkung eines anonymen Reisenden, der sich 1784 verwundert über den baulichen Prunk öffentlicher Anstalten äußerte: "Ich begreife schlechterdings nicht, warum man so stattliche Palläste für Waisen, Hospitaliten, Wahnsinnige und Züchtlinge erbaut. Gerade diese Häuser gehörten fast durchgehends zu den schönsten, die ich auf meinen Reisen gesehen habe" 168 . Mit dem Fortfall ihrer werbenden Funktion aber verloren die Waisenhäuser das Interesse der Obrigkeiten. Diese sahen nun darin nicht mehr eine Möglichkeit zur Fremdfinanzierung, sondern hatten vor allem den hohen Kostenaufwand der Anstalten vor Augen. Gleichzeitig nahm am Ende des 18. Jahrhunderts das Spendenaufkommen insgesamt ab. Ein Beispiel dafür lieferte nicht nur das Celler Waisenhaus, sondern auch die Göttinger Armenkasse:

167 J747 ¡„ Kirchwehren bei Hannover als Pfarrerssohn geboren, studierte Wagemann in Güttingen Theologie und wurde dort 1772 Pfarrer an der Marienkirche. 1785 übernahm er als Nachfolger Sextrohs die Administration der Armenanstalt. 1796 wurde er Superintendent der Inspektion Harste, von 1802 bis zu seinem Tod 1804 war er Superintendent von Dransfeld. Vgl. ZAHN, Annenanstalt, 3f.; SACHSE, Armenfürsorge, 224f. 168

Fragment einer Reise von Hannover nach Hamburg über Celle, in: Journal von und für Deutschland 1784, 370-377, hier 373.

390

Möglichkeiten fnihneuzeitlicher Sozialpolitik Tabelle 15: Ertrag der wöchentlichen Sammlung in Göttingen 1792-1803 1

1

1

1

1

| Jahr |Rtlr. |Mgr. | Pf. | |

1792

|

1765

|

5

1

5

|

|

1793

j

1685

3

|

1794

|

1595

30 20

I

|

1 |

1

2

1

|

1795

|

1472

4

1

1796

j

1501

8 1

1

j

1 |

1

4

1

j

1797

|

1477

1

5

I

|

1798

|

1374

I |

22

I

5

1

|

1799

|

1451

|

28

1

6

1

|

1800

|

1464

|

28

|

1801

|

1489

I

35

1 6 1 1 XXX |

|

1802

|

1265

1

30

1 XXX |

|

1803

j

1257

I

24

1 1

i

i

1 4

2

1 1

Quelle: ZAHN, Armenanstalt, 38

Der sich abzeichnende Funktionsverlust unmittelbarer Öffentlichkeit stellte daher letztlich im Verein mit den schweren wirtschaftlichen Problemen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert 169 das gesamte System der auf freiwilligen Beiträgen beruhenden Finanzierung des Armenwesens in Frage.

3.

Gestalt und Spielraum obrigkeitlicher Sozialpolitik: eine Bilanz

Die obrigkeitlichen Bemühungen um die Vereinheitlichung des Armenwesens, die fürsorgerischen Maßnahmen für unversorgte Kinder oder deren Eltern, Ordnungspolitik und Sittenaufsicht können am ehesten als verschiedene Mittel einer obrigkeitlichen Sozialpolitik170 zusammengefaßt werden. Dahinter stand der Wille der sich als umfassend verstehenden landesherrlichen Gewalt 171 zu gesellschaftlicher Gestaltung, konkret das Bemühen um die Sicherung der familialen oder gegebenenfalls öffentlichen Erziehung unversorgter Kinder. Ungebrochenster Ausdruck des obrigkeitlichen Selbstverständnisses und Wollens waren vor allem schriftliche Verordnungen und behördeninterne Anweisungen 172 . Zu ihrer Umsetzung waren die landesherrlichen Regierungen auf einen straffen Verwaltungsap-

169 170 171 172

Vgl. Kap. I, Abschnitt 3. Vgl. die Definiton bei Hans POHL, Einführung, in: ders., (Hg.) Sozialpolitik, 7-43, hier 11. Vgl. KUNISCH, Absolutismus, 20ff.; VIERHAUS, Zeitalter des Absolutismus, 147-150. Das hildesheimische Konsistorium z.B. begründete den Anspruch auf eine Förderung der Kindererziehung damit, daß "Christliche Obrigkeiten (...) berechtigt, ja verplichtet [seien], solchem einreissenden Übel, so viel wie möglich Einhalt zu thun". HLO, Bd. 1, 399-411, hier 400, Erneuerte und vermehrte Konsistorial-Verordnung von 1769.

Gestalt und Spielraum obrigkeitlicher Sozialpolitik: eine Bilanz

391

parat angewiesen, dessen Aufbau jedoch noch in den Anfängen steckte 173 ; noch bestanden "eine Vielzahl teilweise konkurrierender Herrschaftsansprüche, Privilegien, Zuständigkeiten und eigenständige überkommene Institutionen" 174 . Defizite der Machtausübung auf unterster Ebene und das Fehlen eines eigenen finanziellen Handlungsspielraums führten dazu, daß die Zentralbehörden in erheblichem Umfang Rücksicht auf Stände und Städte, aber auch auf eine gewisse gesellschaftliche Akzeptanz ihrer Anordnungen nehmen mußten. Am ehesten ließ sich die obrigkeitliche Politik daher in den Bereichen umsetzten, in denen mit der Unterstützung der ständischen Institutionen gerechnet werden konnte. Die gesellschaftliche Akzeptanz spielte eine besonders wichtige Rolle in der Armen- und Kinderversorgung, die in hohem Maß auf Spenden aus der Bevölkerung angewiesen war. Die landesherrlichen Zentralbehörden reagierten deshalb mit ihrer Politik fast ausnahmslos auf konkrete Probleme und Einzelfälle. Ob es sich um Waisenhausgründungen, die Erneuerung eines Kalenderprivilegs oder den Erlaß einer Verordnung zur Kontrolle der Aufnahme von Pflegekindern 175 ging, der Anstoß zu einer Maßnahme wurde dabei fast immer von außen an die Regierungen herangetragen 176 . Großen Einfluß auf die landesherrliche Politik hatten deswegen aktive und bemühte Beamte oder Angehörige von Gruppen, die der Obrigkeit nahestanden. Dazu gehörten die Professoren der Göttinger theologischen Fakultät, die Juristen in den Justizkanzleien 177 oder der Göttinger Armenpfleger Gerhard Ludwig Wagemann. Langfristige Planungen der Regierungen waren dagegen ausgesprochen selten, da sie besonders hohen Aufwand erforderten oder schlicht die zur Verfügung stehenden Mittel überforderten. Ein Beispiel für den begrenzten Spielraum landesherrlicher Sozialpolitik ist die 1731 gefaßte Absicht der hannoverschen Regierung, zur Versorgung armer und alleinstehender Kinder im ganzen Land Waisenhäuser zu errichten. Das Projekt reduzierte sich rasch auf die Planung dreier Anstalten im Fürstentum Calenberg, nachdem die Ständevertretungen mit Ausnahmen der Calenbergischen Landschaft ihre Unterstützung abgelehnt hatten. Von diesen drei geplanten Waisenhäusern, die insgesamt mindestens 360 Kindern ein Heim bieten sollten, wurde wegen Widerstand der anderen Städte und fehlen-

173

174 175 176

177

Vgl. Rudolf VIERHAUS, Deutschland im Zeitalter des Absolutismus ( = Deutsche Geschichte, hg. von Joachim LEUSCHNER; 6), 2. Aufl., Göttingen 1984, 141. RÜTHER, Räuber, Volk und Obrigkeit, 25. Vgl. Kap. IV, Abschnitt 2.3. Vgl. dazu auch PRÖVE, Stehendes Heer, 388-393, der von einem "adhoc-Management" der hannoverschen Regierung spricht (388). Die Aufhebung der Todestrafe für Bigamie 1729 ging darauf zurück, daß der König "vernommen" hatte, daB in den deutschen Kanzleien verschiedene Ansichten über dieses Problem herrschten. C C L Bd. 2, Cap. II, 920f., Königliches Reskript vom 14.11.1729.

392

Möglichkeiten frühneuzeitlicher Sozialpolitik

der finanzieller Ressourcen schließlich nur die Moringer Anstalt verwirklicht, die 46 Kinder aufnahm 178 . Ganz deutlich zeigt den beschränkten finanziellen Spielraum der Obrigkeiten die resignierte Klage des Rates der Hildesheimer Neustadt gegenüber den preußischen Behörden: "Wenn wir den Bedürfnißen der Nothleidenden immer abhelfen und ihren Zustand lindern könten, so würde uns dieses das größte Vergnügen machen, was obrigkeitliche Personen irgend haben können, allein, leider fehlen uns die Kräfte dazu..." 179 Der unter dem Eindruck sich ständig verringernder Einnahmen der Göttinger Armenkasse entstandene Vorschlag Wagemanns, in Göttingen eine allgemeine Armensteuer einzuführen, scheiterte 1799 am Widerstand des Magistrates 180 . Erst unter der westphälischen Herrschaft erfolgten eine Straffung der Verwaltung und die Erstellung eines staatlichen Gesamthaushaltes, die die Basis für die angestrebte Vereinheitlichung des Armenwesens hätten bilden können 181 . Die von Napoleon verlangten Militärausgaben und Subsidien sowie die Abtretung eines großen Teils der Domänen belasteten den Staatshaushalt jedoch über die Maßen 182 , worunter nicht zuletzt die Fürsorgeinstitutionen litten.

178 179 180 181

182

Vgl. Kap. V, Abschnitt 1.1. StAHi Best. 100 Abt. 215 Nr 10a, Schreiben vom 4.2.1803. ZAHN, Annenanstalt, 37f. NHStA Hann. 52 Nr. 1168, Schreiben des Innenministers vom 22.4.1809. Vgl. zum Armenwesen auch Arthur KLEINSCHMIDT, Geschichte des Königreichs Westphalen, Gotha 1893, 159. Vgl. BERDING, Le Royaume de Westphalie, 351-354; ders., Napoleonische Herrschaftsund Gesellschaftspolitik, passim.

393 Resümee: Kinderversorgung und gesellschaftliche Organisation

Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord: Dabei handelte es sich um drei besonders charakteristische Bereiche, in denen die grundlegende soziale und politische Bedeutung der Kinderversorgung für die frühneuzeitliche Gesellschaft sichtbar wurde. Die akute oder drohende Versorgungslosigkeit von Kindern hatte jedoch vielerlei Gestalt; als grundsätzliches Problem der vorindustriellen Zeit stellte sie Obrigkeit und Gesellschaft vor die Notwendigkeit, Versorgungsmöglichkeiten für unversorgte Kinder zu schaffen. Gerade die landesherrlichen Obrigkeiten sahen sich durch das Problem kindlicher Versorgungslosigkeit in wachsendem Maß herausgefordert: einerseits fürchteten sie die Verwahrlosung der Kinder und eine daraus resultierende Zunahme von Bettlern und randständigen Gruppen, andererseits verlangte ihr Selbstverständnis als christliche Obrigkeiten die besondere Sorge für verlassene Kinder, die als Inbegriff von Hilflosigkeit und Schutzbedürftigkeit galten. Infolgedessen entwickelte sich das Problem der Kinderversorgung zum Anlaß weit in den Alltag der Bevölkerung hineinreichender obrigkeitlicher Regulierungsbemühungen und damit zu einem der zentralen Punkte der Beziehung von Obrigkeit und Untertanen in der frühen Neuzeit, der sich freilich im Einzelfall mit anderen Zielsetzungen und Problembereichen vermischte. Seit dem 16. Jahrhundert bemühten sich die Landesherren zunächst, die Fortpflanzung der Bevölkerung ihrer Aufsicht zu unterwerfen. Dazu übernahmen sie die christliche Privilegierung der Ehe, die als der sicherste Rahmen für die Kinderversorgung erschien, in die weltliche Gesetzgebung und erhoben zugleich den obrigkeitlichen Ehekonsens zur sozialverbindlichen Voraussetzung der Eheschließung. Die Partnerwahl wurde damit festen Formalitäten und Zeremonien unterworfen und traditionelle Formen der Eheanbahnung scharf, wenn auch mit begrenztem Erfolg, bekämpft. Gleichzeitig waren Vergehen gegen die Ehe wie Ehebruch oder Bigamie als schwere, gar todeswürdige Verbrechen obrigkeitlicher Strafverfolgung ausgesetzt. Die Auffassung, daß die Ehe die einzig legitime Lebensform von Sexualität sei, bewirkte zugleich die Kriminalisierung anderer, nichtehelicher Formen von Sexualität. Damit war die nichteheliche Ausübung des Geschlechtsverkehrs, des heterosexuellen ebenso wie des als 'widernatürlich' erklärten, in den Bereich devianten Verhaltens geraten. Im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts wurde die Verfolgung abweichender Sexualität

erheblich

intensiviert

und

auch

die

Ausübung

nichtehelichen

heterosexuellen Geschlechtsverkehrs vermehrt mit einem abgestuften System weltlicher und zum Teil kirchlicher Sanktionen belegt. Die Bestrafung richtete

394

Resümee: Kinderversorgung und gesellschaftliche Organisation

sich in der Praxis vor allem gegen Frauen, die als 'Huren' diffamiert wurden und bei wiederholter unehelicher Schwangerschaft in den Ländern des Hauses Braunschweig-Lüneburg einer zusätzlichen Strafverschärfung ausgesetzt waren. Hinter der strafrechtlichen Verfolgung vor- und nichtehelicher Sexualität, deren Instrumente trotz der mit einer Strafentschärfung für einzelne Delikte ab 1730 einsetzenden sukzessiven Abschwächung des Strafkatalogs bis zum Beginn der französischen Herrschaft und teilweise noch darüber hinaus fortexistierten, stand das Bemühen der Obrigkeiten um eine in ihrem Sinn geregelte Besitzweitergabe und damit um eine Sicherung der materiellen Grundlagen der familialen Kinderversorgung. Das Bestreben der Obrigkeiten, die Existenz unversorgter Kinder zu verhindern, ist allerdings nicht ohne die christliche Auffassung von der Schutzwürdigkeit kindlichen Lebens zu verstehen. Daher wurden gleichzeitig mit der Pönalisierung des sexuellen Lebens auch individuelle Verstöße gegen die Versorgungsverpflichtung zu einem Gegenstand der weltlichen Strafverfolgung. Der Abbruch von Schwangerschaften sowie die Tötung und Aussetzung von Kindern wurden mit schwersten Strafen belegt. Im Mittelpunkt der obrigkeitlichen Verfolgung stand der Kindsmord, der zutiefst die christliche Ethik verletzte. Die Anklage und Verurteilung von vermeintlichen oder wirklichen Kindsmörderinnen - die Frage der Schuld kann im nachhinein und unter Anwendung heutiger Maßstäbe ebensowenig wie von den frühneuzeitlichen Gerichten zufriedenstellend geklärt werden - durch die weltlichen Gerichte nahm seit dem 17. Jahrhundert zu und intensivierte sich ab ungefähr 1680. Kindsmord entwickelte sich in der Folge zu einem der häufigsten Anklagepunkte gegen Frauen und zum weiblichen Gewaltverbrechen schlechthin. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts - nachdem es bereits bei der Hinrichtungsart Entschärfungen gegeben hatte - wurden die verhängten Strafen immer gemäßigter und fielen in einzelnen Fällen weit geringer aus als z.B. bei Eigentumsdelikten. Zugleich wurde das Thema Kindsmord zu einem wichtigen Gegenstand öffentlicher Diskussion und somit zum Anlaß für die Beschäftigung mit den Lebensbedingungen lediger Mütter. Dagegen waren die obrigkeitlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Kindesaussetzung, die in erheblich geringerem Maß gegen den ethischen Kodex verstieß als der Kindsmord, weniger auf die Bestrafung der Eltern gerichtet. Das Ziel obrigkeitlichen Handelns war es hier, der Eltern habhaft zu werden und diese zur Versorgung ihrer Kinder zu zwingen bzw. der Aussetzung und dem Verlassen von Kindern durch die Anmeldepflicht unehelicher Geburten und Kontrollen bei der Aufnahme von schwangeren Frauen und Pflegekindern vorzubeugen. Hinter der im Regelfall milden Bestrafung der Kindesaussetzung stand die Absicht, die Zahl der auf öffentliche Kosten zu versorgenden Findelkinder möglichst niedrig

Resümee: Kinderversorgung und gesellschaftliche Organisation

395

zu halten; in einigen Fällen - z.B. bei Verstößen gegen die obrigkeitlichen Anordnungen - wurde deswegen diejenige Person, bei der das Kind hinterlassen worden war, zu dessen Versorgung verpflichtet. Hier zeigt sich ein entscheidender Unterschied zu Österreich und den romanischen Ländern, aber auch zu einigen protestantischen Gegenden, wo die Obrigkeiten - aufgeschreckt durch die hohe Zahl und das Schicksal ausgesetzter Kinder - vor allem am Ende des 18. Jahrhunderts die Überlebenschancen von Findelkindern durch die Einrichtung von Findelhäusern zu verbessern trachteten, dabei aber auch teilweise die Bedingungen der Aussetzung durch die Einrichtung von Drehladen erleichterten. Die Findelkinderversorgung zählte im Untersuchungsgebiet zu den herrschaftlichen Aufgaben und oblag in der Regel den jeweiligen Gerichtsobrigkeiten; in den meisten Fällen war es der Landesherr, der die Kinder gegen Bezahlung bei Pflegeeltern unterbrachte, wofür die Kosten aus den Gerichtsgebühren, im Calenbergischen Teil des Kurfürstentums Hannover aber je zur Hälfte von der Kammer und dem Klosterfonds bestritten wurden. Allein im Hochstift Hildesheim war die Findelkinderversorgung in einigen Ämtern zwischen Obrigkeit und Einwohnern umstritten, was wiederholt Anlaß zu Auseinandersetzungen gab, deren Hauptleidtragende letztlich die Kinder waren. Anders als Findelkinder mußten Waisen von ihren Heimatgemeinden versorgt werden. Mit dem Erlaß mehrerer Armenordnungen versuchte der hannoversche Kurfürst zu Beginn des 18. Jahrhunderts, das kommunale Armenwesen landesweit zu vereinheitlichen und der Aufsicht der Zentralbehörden zu unterstellen. Ziel dieser Anordnungen war es, die Zahl der zu versorgenden Armen möglichst klein zu halten. Zu den Versorgungsberechtigten zählten vor allem Kinder - nicht allein solche, die völlig alleinstehend waren, sondern auch Kinder armer Witwen und kinderreicher Familien. Die Bedeutung der Kinderversorgung für das Armenwesen zeigt sich daran, daß teilweise ein Drittel der Unterstützungsempfänger Kinder waren, nicht gerechnet die Erwachsenen, die nur aufgrund der von ihnen zu versorgenden Kinder Zuwendungen erhielten oder von den für die Kinder bestimmten Zahlungen mittelbar profitierten. Die obrigkeitliche Intervention beschränkte sich dabei nicht auf die Versorgung alleinstehender Kinder. Ein weiteres Ziel der Kinderfürsorge war die Bekämpfung von Bettlern und Randgruppen. Bettelnde Kinder sollten daher in Armen- oder Waisenhäuser aufgenommen werden, wo sie zu einem 'frommen' und 'arbeitsamen' Leben erzogen werden sollten. Unverhohlen kam dieser Anspruch im Kurfürstentum Hannover bei der Zwangserziehung der Kinder von Bettlern, vor allem aber sogenannter Zigeuner zum Tragen: Durch die Trennung der Kinder von ihren Eltern sollten Zigeuner künftig vom Betreten des Territoriums abgeschreckt und die Kinder durch die Erziehung in Pflegefamilien oder An-

396

Resümee: Kinderversorgung und gesellschaftliche Organisation

stalten zugleich der Lebensweise ihrer Eltern entfremdet und seßhaft gemacht werden. Prinzipiell ging der obrigkeitliche Anspruch, das Verhalten ihrer Untertanen ihren Vorstellungen entsprechend zu beeinflussen, jedoch über die Randgruppen hinaus: Durch Verpflichtung zu 'Fleiß' und 'Gottesfurcht' sollten die Kinder der ärmeren Bevölkerungsschichten überhaupt zu selbständiger Sicherung ihres Lebensunterhaltes und sozialer Konformität erzogen werden. Diese Absicht kennzeichnete die Bemühungen um die Beschäftigung von Kindern in Armen- und Werkhäusern und wurde unter stärkerer Betonung der Erziehung zu eigenständiger Subsistenzsicherung in der Industrieschulbewegung am Ende des 18. Jahrhunderts erheblich ausgeweitet. Insgesamt fand im Lauf des Untersuchungszeitraums eine erhebliche Ausdehnung der Fürsorgemaßnahmen für Kinder und ihre Eltern statt, die mit der Schaffung von Hilfsangeboten für solche Bevölkerungsteile, deren Kinder besonders von Versorgungslosigkeit bedroht waren, verstärkt präventiven Charakter annahmen. Die Ausdehnung der landesherrlichen Einflußnahme auf die Versorgung und Erziehung von Kindern zeigt sich besonders deutlich daran, daß die Behörden seit dem Ende des 17. Jahrhunderts sich nicht nur um Förderung kommunaler Versorgungsmaßnahmen bemühten, sondern durch die Beteiligung an der Einrichtung und Unterhaltung von Waisenhäusern selbst verstärkt Aufgaben der Kinderversorgung wahrnahmen. Im Kurfürstentum Hannover entstanden Waisenhäuser als landesherrlich unterstützte Anstalten in Celle und Einbeck; darüber hinaus versuchte die Regierung, andere Institutionen zum Engagement für arme und alleinstehende Kinder zu bewegen. Höhepunkt dieser Politik war die landesweite Waisenhausinitiative der Regierung von 1731, die in eingeschränkter Form eine Fortsetzung fand, indem die Geheimen Räte den Wunsch der theologischen Fakultät nach der Einrichtung einer solchen Anstalt in Göttingen unterstützten. In Hildesheim war die Gründung des katholischen Waisenhauses durch das Domkapitel Ausdruck landesherrlichen Interesses an der Kinderversorgung. Gerade am Beispiel der Waisenhäuser zeigte sich auch, daß nicht allein die Fürsten und ihre Regierungen auf das Problem unversorgter Kinder reagierten, sondern ebenso die Institutionen des Ständestaates, 'beruflich', d.h. durch ihre Tätigkeit besonders interessierte Personen oder Gruppen und private Wohltäter. Die große Zahl von Waisenhausgründungen zwischen dem Ende des 17. und der Mitte des 18. Jahrhunderts ist untrügliches Zeichen einer veränderten Einstellung von Obrigkeit und Gesellschaft gegenüber den Problemen der Kinderversorgung. Dies gilt um so mehr, als die untersuchten Waisenhäuser trotz struktureller Ähnlichkeiten mit anderen Anstalten entgegen der in der Forschung weitverbreiteten Auffassung von der Existenz eines "wenig differenzierte[n] Anstaltswesen[s], das

Resümee: Kinderversorgung und gesellschaftliche Organisation

397

kaum zwischen Armen-, Arbeits-, Waisen- und Zuchthäusern unterschied" 1 , beinahe ausschließlich der Kindererziehung dienten. Gemeinsam mit dem hohen Stellenwert der Kinderversorgung im allgemeinen Armenwesen zeigt das Beispiel der Waisenhäuser, daß die Kinderfürsorge nicht erst am Ende des 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle in der Armenpolitik zu spielen begann. Vielmehr rückte das Problem der Kinderversorgung seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in stetig wachsendem Umfang in den Vordergrund der praktischen Maßnahmen. Das von Christoph Sachße und Florian Tennstedt aufgestellte Verdikt, "bedeutsam für die Sozialgeschichte der Armenfürsorge, die prinzipielle Seite der Sache, [sei] nahezu allein die Behandlung der arbeitsfähigen Armen" 2 , womit ausdrücklich erwachsene Arme gemeint sind, läßt sich angesichts der Bedeutung der Kinderversorgung nicht halten; vielmehr kann die Kinderfürsorge Aufschlüsse über die Ziele obrigkeitlicher Armenpolitik insgesamt und ihr Verhältnis zur Entwicklung sozialer Probleme vermitteln. Die unzureichende Versorgung vieler Kinder stand in unmittelbarem Zusammenhang mit den spezifischen materiellen und sozialen Lebensbedingungen der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Wie die quantifizierende Auswertung von Angaben über die soziale Herkunft von Kindern, die auf öffentliche Kosten von verschiedenen Anstalten und Institutionen versorgt wurden, belegen konnte, waren keineswegs nur die Abkömmlinge der unteren Schichten der Gesellschaft vom Ausfall der familialen Versorgung bedroht, sondern auch zahlreiche Kinder aus der selbständigen städtischen Mittelschicht, dem Handwerk, sowie vereinzelt auch der Nachwuchs solcher Personen, die aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit der Oberschicht zugerechnet werden müssen. Gründe und Ausmaß kindlicher Versorgungslosigkeit waren freilich entsprechend der sozialen Stellung der Eltern sehr unterschiedlich. Während Kinder aus materiell gesicherten Verhältnissen eigentlich nur beim Tod eines oder beider Eiternteile auf öffentliche Versorgung angewiesen waren - und auch in diesem Fall wesentlich bessere Aussichten hatten, unentgeltlich von wohlhabenden Verwandten oder gegen Bezahlung von Pflegeeltern versorgt zu werden -, war die Versorgung von Kindern aus den unteren Schichten einer Vielzahl von Gefahrdungen ausgesetzt. Tod oder Krankheit eines Elternteils bedeuteten hier fast immer, daß die Versorgung der Kinder zu einer nicht zu bewältigenden Belastung wurde. Doch auch ohne solche Unglücksfalle erlaubte es die unsichere materielle Lage einem großen Teil der frühneuzeitlichen Bevölkerung vielfach nicht, die eigenen Nachkommen ausreichend zu versorgen. Ohne gesellschaftliche Unterstüt1 2

POHL, Sozialpolitik, 19. SACHSSE/TENNSTEDT, Geschichte der Armenfürsorge, Bd. 1, 244.

398

Resümee: Kinderversorgung und gesellschaftliche Organisation

zung mußten die Kinder dieser Gruppen sich oft ihren Lebensunterhalt durch unzumutbare Arbeit, Bettel oder Diebstahl selbst verschaffen. Für die unteren Schichten der Gesellschaft war die Familie in erster Linie eine Überlebensgemeinschaft. Zerbrach sie, war der Lebenserhalt vor allem der Kinder gefährdet. Umgekehrt führten existentielle materielle oder soziale Schwierigkeiten - z.B. Straffälligkeit - eines oder beider Eiternteile dazu, daß diese ihr eigenes Überleben außerhalb der Familie besser gesichert sahen, und damit zum Bruch der familialen Bindungen. Die Folge war, daß Eltern heimlich fortgingen und ihre Kinder unter verschiedenen Vorwänden der Fürsorge von Nachbarn oder Pflegeltern überließen oder sie an anderen Orten aussetzten. Ohne öffentliche oder private Hilfsangebote bedeutete dies für kleinere Kinder den Tod; ältere Kinder waren auf sich gestellt und reihten sich unter den vagierenden Randgruppen ein. Unter erschwerten Bedingungen wuchsen neben den Kindern von Armen, Bettlern und Entwurzelten auch die Nachkommen von Militärangehörigen und uneheliche Kinder auf. Soldaten und ledige Mütter standen in allen Bereichen der obrigkeitlich-öffentlichen Beschäftigung mit der Kinderversorgung im Zentrum der Erwägungen.

An ihrem Beispiel zeigt sich, daß die

obrigkeitlichen

Regulierungsbemühungen eindeutige Ziele verfolgten, die einzelnen Maßnahmen einander aber teilweise zuwiderliefen.

Die Kriminalisierung

nichtehelicher

Sexualität und die daraus resultierende rechtliche Benachteiligung unehelicher Kinder bewirkten eine soziale Diskriminierung lediger Mütter und ihrer Kinder, die die Versorgungsbedingungen gegenüber ehelichen Kindern erheblich einschränkte, was sich unmittelbar in einer erhöhten Sterblichkeit unehelicher Kinder niederschlug. Durch die gesetzlichen Ehehindernisse hatten aber viele keine andere Wahl, als ihre Sexualität illegitim auszuüben. Dies gilt besonders für Soldaten: Um den Anteil von Familien an der Militärbevölkerung nicht zu groß werden zu lassen, weil dies die Einquartierung erheblich erschwert hätte und auch als dem Charakter des stehenden Heeres unangemessen empfunden wurde, durften sich die Soldaten nur mit dem

'Consens'

ihres

Kommandanten

verehelichen; zur Abschreckung waren auf ungesetzliche Heiraten, aber auch auf uneheliche Beziehungen harte Strafen gesetzt. Frauen sollten darüber hinaus von Kontakten

mit

Soldaten

abgehalten

werden,

indem

Alimentationsklagen

unmöglich gemacht wurden, was die Versorgungsaussichten für die Kinder aus diesen Verbindungen nochmals verschlechterte. Infolge dieser obrigkeitlichen Politik war der Anteil von Militärangehörigen an den Vätern unehelicher Kinder außergewöhnlich hoch. Eheliche und uneheliche Soldatenkinder sowie Abkömmlinge aus illegitimen Verhältnissen allgemein stellten einen hohen Anteil an unversorgten oder bettelnden Kindern, was wie-

Resümee: Kinderversorgung und gesellschaftliche Organisation

399

derum spezielle Reaktionen der Obrigkeiten notwendig machte. So mußten besondere Hilfsangebote für die Kinder - gleich ob ehelich oder unehelich - von Militärangehörigen geschaffen werden, weil sich die Gemeinden nach dem Heimatprinzip nicht für deren Versorgung zuständig fühlten. Soldatenkinder waren deshalb unter der Klientel der landesherrlich unterstützten Versorgungseinrichtungen stark überproportional vertreten. Darüber hinaus waren es in der überwiegenden Mehrheit Kinder aus diskriminierten Verbindungen, die gleich nach der Geburt von ihren Müttern ausgesetzt und als Findelkinder von den Obrigkeiten versorgt werden mußten. In diesen Zusammenhang gehört auch der Kindsmord, der ebenfalls fast ausschließlich von unverheirateten Frauen begangen wurde. Zwar kann die Tat nur in den wenigsten Fällen auf die Furcht vor Unzuchtsstrafen zurückgeführt werden, die gesellschaftliche Diskriminierung

lediger Mütter trug aber mit zur Isolation der

Schwangeren vor der Niederkunft bei, was eine unabdingbare Voraussetzung der Tat war, wie durch den in dieser Arbeit erstmals unternommenen ausführlichen Vergleich von Kindsmord- und Aussetzungsfällen verdeutlicht werden konnte. Dabei konnte auch das in der Forschung herrschende Vorurteil, daß der Kindsmord in solchen Gegenden, die nicht den organisierten 'Abandon', die Erleichterung der Aussetzung durch Findelhäuser und Drehladen, kannten, die verbreitetere Reaktion auf unerwünschte Schwangerschaft gewesen sei, widerlegt werden. Ob die Erleichterung der Aussetzung die Zahl der Kindestötungen hätte verringern können, muß dahingestellt bleiben, ebenso wie die diesbezügliche Wirkung der Entbindungsanstalten. Kindsmord und Kindesaussetzung zeigen, daß die Aufgabe der Kinderversorgung als Problem der frühneuzeitlichen Gesellschaft nicht erst bei der materiellen Versorgungsunfahigkeit der Eltern begann, sondern auch tiefgehende soziale Ursachen hatte, die Frauen bereits eine nichteheliche Schwangerschaft als Bedrohung ihrer Existenz erscheinen lassen mußte. Als Ausdruck der grundlegenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme der vorindustriellen Zeit erlaubt es die Versorgungslosigkeit von Kindern, an ihrem Beispiel das Verhältnis obrigkeitlicher Maßnahmen zur sozialen Entwicklung und somit den Wandel der frühneuzeitlichen Gesellschaft weiter zu erhellen.

Ins Zentrum der Erforschung der frühneuzeitlichen Gesellschaftsorganisation ist seit einigen Jahren das auf Gerhard Oestreich zurückgehende Konzept der 'Sozialdisziplinierung' 3 gerückt. Damit ist ein idealtypischer Prozeß gemeint, der die zunehmende Reglementierung des Lebens in der zweiten Hälfte der frühen

3

Gerhard OESTREICH, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: ders., Geist und Gestalt des firühmodernen Staates, Berlin 1969, 179-197, bes. 187ff.

400

Resümee: Kinderversorgung und gesellschaftliche Organisation

Neuzeit zu beschreiben versucht und mit einem "Transformationsprozeß (...) von oben nach unten" 4 erklärt. Bei der Rezeption dieses Konzeptes und seiner Anwendung auf die Erforschung konkreter Phänomene wurde jedoch seinem idealtypischen Charakter immer weniger Rechnung getragen; abstrakte Entwicklungen liefen somit Gefahr, "zu Realfaktoren der historischen Entwicklung übersteigert" 5 und einseitig zum linearen Erklärungsmodell der Beziehung von Obrigkeit und Gesellschaft in der frühen Neuzeit zu werden. Besonders das frühneuzeitliche Armenwesen hat einige Autoren dazu verleitet, den Nachweis einer fortschreitenden Disziplinierung zum zentralen Interpretationsmuster zu erheben. Unschwer läßt sich hinter der Verfolgung und Bestrafung fremder Bettler, der Zwangsversorgung von Zigeunerkindern, der Erziehung unversorgter und armer Kinder und den Bestrebungen nach Vereinheitlichung des Armenwesens insgesamt der Wille der landesherrlichen Obrigkeiten nach einer Disziplinierung und Rationalisierung der Gesellschaft entsprechend obrigkeitlicher Herrschaftinteressen ausmachen. Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß mit dem Willen zur Disziplinierung prinzipiell auch die Verpflichtung zur Fürsorge einherging. Der Versuch, gemäß den jeweiligen Maßnahmen eine Trennlinie zwischen beiden Motiven zu ziehen, würde dem Denken der frühen Neuzeit nicht gerecht. Disziplinierende und fflrsorgerische Aspekte waren nicht nur in der Kinderfürsorge untrennbar miteinander verbunden, sondern auch in den lange ausschließlich als repressives Instrument obrigkeitlichen Disziplinierungswillens dargestellten Zucht- und Arbeitshäusern 6 . In nicht ausreichendem Maß wurde bislang auch die Wirksamkeit der obrigkeitlichen Regulierungsbemühungen und der öffentlichen Armenversorgung in Frage gestellt. Die obrigkeitlichen Gestaltungsvorstellungen manifestierten sich vor allem in den schriftlichen Willensbekundungen der Fürsten und ihrer Regierungen. In der Realität indes konnten die landesherrlichen Behörden ihre Vorgaben in weiten Bereichen nicht umsetzen. Ordnungspolitische Maßnahmen konnten allenfalls Teilerfolge verzeichnen und blieben oft sogar wirkungslos; öffentliche Fürsorgeangebote waren allein aufgrund ihrer begrenzten Kapazität nicht geeignet, der verbreiteten Versorgungsunfähigkeit abzuhelfen. Immerhin nahm das öffentliche Angebot im Lauf des 18. Jahrhunderts deutlich zu - dies gilt aber wahrscheinlich auch für den Bedarf nach solchen Hilfeleistungen. Faktoren, die diese Entwicklung wahrscheinlich machen, sind das BevölkerungsWachstum, der starke Kaufkraftverfall am Ende des Jahrhunderts und der Anstieg unehelicher Geburten. Über die eingeschränkte äußere Reichweite hinaus war das frühneuzeitliche Armenwesen auch von internen Defiziten geprägt. Zwar hielten sich die 4 5 6

SCHULZE, "Sozialdisziplinierung", 274. Ebd., 301. Vgl. STIER, Fürsorge und Disziplinierung, 217f.

401

Resümee: Kinderversorgung und gesellschaftliche Organisation

disziplinarischen Probleme z.B. in den Waisenhäusern ebenso wie die Sterblichkeit der Kinder (zumindest im Vergleich mit ähnlich gearteten Einrichtungen in anderen Gebieten) in Grenzen, und ein Großteil der Kinder konnte ordnungsgemäß entlassen werden. Gegenüber ihren familial versorgten Altersgenossen bedeutete die Waisenhauserziehung aber zumindest für Kinder aus ehemals nicht völlig mittellosen Verhältnissen eine sichtliche Verschlechterung ihrer Lebenschancen. Auch das selbstgesteckte Ziel der öffentlich-obrigkeitlichen Kinderfürsorge - die spätere gesellschaftliche Integration der Kinder - scheiterte wahrscheinlich oft, vor allem bei Kindern 'verdächtiger' Herkunft wie Findel- und Zigeunerkindern, an verbreiteten Vorurteilen und der Undurchlässigkeit der Gesellschaft. Dieses Hindernis war bereits in den Erziehungszielen angelegt und spiegelt sich in der Absicht, die Kinder nicht 'über ihren Stand' zu erziehen, die auch in der Industrieschulbewegung nicht überwunden wurde. Eine strukturelle Ursache für die eingeschränkte Umsetzung obrigkeitlicher Konzepte war der eingeengte Spielraum einer landesherrlichen Sozialpolitik. Landesherrlicher Lenkungsanspruch und Verwaltungswirklichkeit klafften oft weit auseinander.

Mangelnde

Identifikation

einzelner

Funktionsträger

mit

den

landesherrlichen Zielen, unklare Kompetenzabgrenzung und Konkurrenz zwischen den nachgeordneten Behörden sowie die Verfolgung eigener Interessen seitens der Städte waren dafür verantwortlich, daß die landesherrliche Regierung "ohne entsprechende politische Gewalt auf der lokalen Ebene" 7 blieb. Da es keinen öffentlichen Haushalt gab, fehlten der Regierung zudem die finanziellen Mittel zur Umsetzung geplanter Vorhaben, was sie zur Rücksichtnahme nicht nur auf die Stände, sondern wegen der großen Bedeutung privater Spenden und öffentlicher Sammlungen für die Finanzierung des Armenwesens auch auf die gesellschaftliche Akzeptanz ihrer Maßnahmen verpflichtete. Den Einfluß, den diese Erwägungen im konkreten Fall hatten, zeigt das Beispiel der Waisenhäuser, die so lange als die am besten geignete Form der Kinderversorgung erschienen, wie die von ihnen aufgrund ihrer repäsentativen Funktion erwarteten finanziellen Vorteile die Kosten rechtfertigten. Die Kritik an der Vorstellung von einer fortschreitenden "Durchstaatlichung" 8 der frühneuzeitlichen Gesellschaft erschöpft sich aber nicht darin, die administrativen und finanziellen Machtdefizite der landesherrlichen Gewalt aufzuzeigen. Vielmehr gilt es den Blick darauf zu lenken, daß auch die Anstöße zu bestimmten Initiativen häufig nicht von der Regierung selbst kamen, sondern an sie herangetragen wurden. Auf diese Weise partizipierten die Institutionen des Ständestaates, in zunehmendem Maß aber auch die Gesellschaft in Gestalt von Einzelpersonen 7 8

OESTREICH, Strukturprobleme, 185. BLÄNKNER, "Absolutismus und frühmoderner Staat", 59.

402

Resümee: Kinderversorgung und gesellschaftliche Organisation

oder beruflich interessierten Gruppen und womöglich - ein konkreter Nachweis kann hier nur in Ausnahmefällen geführt werden - auch in Form der öffentlichen Diskussion an der Gestaltung der landesherrlichen Politik. Das Konzept einer vor allem durch obrigkeitliches Handeln bestimmten Vergesellschaftung muß daher durch die stärkere Berücksichtigung von "Freiräumefn] für religiöse, intellektuelle und ökonomische Interessen" 9 erweitert werden, wie sie hinter so unterschiedlichen Ergebnissen wie dem Einsatz öffentlich versorgter Kinder in der privaten Manufakturarbeit oder der Gründung des Göttinger Waisenhauses unter Aufsicht der theologischen Fakultät standen. Die direkte Gegenüberstellung von normativen Vorgaben und ihrem jeweiligen Vollzug sowie den davon betroffenen Personen hat zur Abkehr von der Vorstellu n g eines linearen Disziplinierungsprozesses von 'oben' nach 'unten' und zu einer differenzierten Beurteilung der im Bezug zur Kinderversorgung stehenden obrigkeitlichen Tätigkeit geführt. Gleichwohl war obrigkeitliches Handeln ein ausgesprochen bedeutsamer Faktor bei der Formierung einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit den Problemen der Kinderversorgung. Dies zeigt der Vergleich zwischen den beiden untersuchten Territorien. Während die in allen untersuchten Bereichen aktive obrigkeitliche Regulierungstätigkeit im Kurfürstentum Hannover zu einer Anzahl von landesherrlichen Versorgungsmaßnahmen führte und den Anstoß zur Gründung weiterer Institutionen gab, entstanden im Hochstift Hildesheim, wo der Landesherr wesentlich geringeren Einfluß ausübte, nur vereinzelt und zum Teil verspätet ähnliche Einrichtungen. Auch wenn beide Staaten durch die Abwesenheit des Herrschers gekennzeichnet waren, setzte sich doch das Bemühen der hannoverschen Kurfürsten um die innere Herrschaftsbildung in einer stärkeren Einflußnahme der hannoverschen Regierung auf dem Gebiet der Sittenaufsicht und der Kinderversorgung fort. Insgesamt läßt sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine stärkere gegenseitige Durchdringung von Obrigkeit und Gesellschaft erkennen. Ergebnis dieses Vorgangs war ein nachhaltiger Gestaltwandel der Regulierungsbemühungen, der zugleich als vorsichtige Abschwächung obrigkeitlicher Gewalt und als Optimierung der Maßnahmen beschrieben werden kann. Ausdruck einer Rücknahme des obrigkeitlichen Machtanspruchs waren die mit der Entschärfung einzelner Delikte beginnende, allerdings nur zögernd betriebene Entkriminalisierung des sittlichen Lebens und eine allgemeine Milderung der Strafpraxis. Auf dem Gebiet der öffentlichen Kinderversorgung ist überdies ein Rückzug unmittelbaren obrigkeitlichen Engagements zu beobachten. Verfolgten die Obrigkeiten zu Beginn des Untersuchungszeitraums noch das Ziel, die öffentliche Versorgung der Kinder mög9

SCHULZE, "Sozialdisziplinierung", 300.

Resümee: Kinderversorgung und gesellschaftliche Organisation

403

liehst direkt zu kontrollieren, begannen sie in der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmend damit, diese Aufgabe anderen zu überlassen und sich damit zu begnügen, eine Übereinstimmung mit ihren eigenen Zielen zu sichern. Als Beispiele dafür können der Wandel von der Anstalts- zur Familienerziehung und das zunehmende private Engagement bei der Neugründung von Waisenverpflegungsanstalten und in der Industrieschulbewegung angeführt werden, das schließlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu ersten Vereinsaktivitäten auf dem Gebiet der Säuglingsfürsorge führte. Mit der Abschwächung der obrigkeitlichen Gewalt ging eine unübersehbare Rationalisierung der Instrumentarien einher. So erschien die Errichtung

materieller

Ehehindernisse angesichts der

Zunahme

besitzloser

Schichten zur Verhinderung der Gründung nicht subsistenzfähiger Familien geeigneter als die an die Besitzweitergabe geknüpfte frühere Sittengesetzgebung. Auf dem Gebiet der Kindsmordverfolgung erlaubte die Einführung eines stärker abgestuften Strafsystems nun auch den Verzicht auf einen wie auch immer gearteten Beweis der Tötung und die Ahndung fehlerhaften Verhaltens wie der Fahrlässigkeit bei der Geburt. In der Kinderversorgung schließlich konnte durch die Unterstützung der Kinder bei Pflegefamilien oder auch ihren Eltern und durch die Hinwendung zu vorbeugenden Maßnahmen eine sichtliche quantitative Ausweitung erreicht werden. Als Ergebnis läßt sich feststellen, daß im Verlauf des Untersuchungszeitraums eine Übertragung eines Teils der Verantwortung für die Kinderversorgung vom Einzelnen auf die Gesellschaft stattfand. Wenn die unmittelbare Reichweite öffentlicher Kinderversorgung auch angesichts der vermutlichen Zunahme kindlicher Versorgungsunfähigkeit gering war, so wurde das öffentliche Hilfsangebot doch gleichzeitig von der Bevölkerung verstärkt wahrgenommen und genutzt und trug so nicht unwesentlich zur "Funktionsentlastung" (Mitterauer) der Familie bei.

404 Anhang 1

Hinweise zur Zitierform und Abkürzungsverzeichnis

1. Zitierhinweise Zitierte Literatur wird nur bei der Ersterwähnung mit dem vollständigen Titel angeführt, bei weiteren Verweisen folgt ein Kurztitel. Unveröffentlichte Quellen werden unter Angabe des Fundortes, der ausstellenden Person oder Institution und des Datums zitiert. Dabei wurde das auf dem Schriftstück angegebene Datum beibehalten, also nicht nach altem und neuen Stil unterschieden. Der neue Stil trat im Hochtifi Hildesheim mit dem 26. März 1631, in den zum Kurfürstentum Hannover gehörenden Gebieten mit dem 8. März 1700 in Kraft. Schriftstücke aus London trugen vor der Umstellung des Kalenders durch Großbritannien im Jahr 1752 gewöhnlich zwei Daten; in diesen Fällen ist immer das untere, für Deutschland gültige Datum neuen Stils gemeint. Bei der Wiedergabe von Quellenzitaten wurde auf eine Angleichung der Orthographie an heutige Regeln verzichtet; Satzzeichen wurden nur hinzugefügt, soweit dies für das Verständnis der jeweiligen Textstelle unerläßlich schien. Dies gilt auch für die französischen Quellenzitate aus der napoleonischen Zeit.

2. Abkürzungen A

Akten

AA

Altes Aktenarchiv

AB

Amtsbücher

Abt.

Abteilung

B

Bücher

Best.

Bestand

Br.

Briefschaftsarchiv

Cal.

Calenberg

CCC

Corpus Constitutionum Calenbergensium = Chur-BraunschweigLüneburgische Landesordnungen und Gesetze, für den Calenbergischen Teil

CCL

Corpus Constitutionum Luneburgensium = Chur-BraunschweigLüneburgische Landesordnungen und Gesetze, für den Zellischen Teil

Cts.

Centimes

Dep.

Depositum

DomBHi

Dombibliothek Hildesheim

Fr.

Franc (1 Franc = 100 Cts.)

Ggr.

Guter Groschen (1 Ggr. = 12 Pf.)

Hann.

Hannover

Hild.

Hildesheini

HLO

Hildesheimische Landesordnungen

Hinweise zur Zitierfoim und Abkürzungsverzeichnis

HM

Hannöverisches Magazin

JVACe

Archiv der Justizvollzugsanstalt Celle I

KKAGö

Kirchenkreisarchiv Göttingen

LThK

Lexikon für Theologie und Kirche

Mgr.

Mariengroschen (1 Mgr. = 8 Pf.)

NHM

Neues Hannöverisches Magazin

NHStA

Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover

Orig.

Originalausgabe

Pf.

Pfennig

PGO

Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 ("Carolina")

Rtlr.

Reichstaler (1 Rtlr. = 36 Mgr. oder 24 Ggr. = 288 Pf.)

St.

Stück

StACe

Stadtarchiv Celle

StAEin

Stadtarchiv Einbeck

StAGö

Stadtarchiv Göttingen

StAH

Stadtarchiv Hannover

StAHi

Stadtarchiv Hildesheim

StANom

Stadtarchiv Northeim

TRE

Theologische Realenzyklopädie

UAGö

Universitätsarchiv Göttingen

405

406 Anhang 2

Verzeichnis der Tabellen

1

Ausgang von Kindsmorduntersuchungen 1600 bis 1809, in denen es zur Anklage einer Täterin kam (ohne Celler Zuchthauslisten)

111

2

Deliktbezeichnungen und Strafen

116

3

Alter von 109 verurteilten Kindsmörderinnen

120

4

Anzahl wegen Tötung ihres Kindes verurteilter Frauen im Celler Zuchthaus, 1761-1810

137

5

Jährliche Untersuchungen der Justizkanzlei Hannover in Kindsmordfällen, 1765-1773 und 1778-1780

139

6

Anzahl der ausgesetzten Kinder, die von der kurfürstlichen Kammer und der Altstädter Kämmerei in Hannover unterhalten wurden (1691-1810)

151

7

Höhe des für Pflegekinder gezahlten Kostgeldes 1691-1810

194

8

Anzahl unterhaltener Delinquentenkinder 1691-1800

216

9

Ausgaben des hannoverschen Annenkollegiums für Militärangehörige und deren Familien 1764-1768

245

10 Anzahl versorgter Soldatenwitwen und -waisen 1794/95

246

11 Einnahmen der Militärversorgungskasse (Spendenaufkommen) 1793/94

247

12 Tätigkeiten der Väter von vollständig auf öffentliche Kosten versorgten Kindern

318

13 Tätigkeiten von Vätern der Kinder im Einbecker Waisenhaus (ohne Militär)

320

14 in Gründe für das(Aufnahmen Ausscheiden1694-1726) von 220 Kindern aus dem Altstädter Waisenhaus Hildesheim 15 Ertrag der wöchentlichen Sammlung in Göttingen 1792-1803

348 390

407 Anhang 3

Kindsmordfälle und tot gefundene Kinder 1600-1809 (ohne Celler Zuchthauslisten)

Bei den Namen wurde die Schreibweise der Akten übernommen, nicht die normalisierte Form der Aktentitel (z.B. also Ilsabeth statt Elisabeth, Ohnverzacht statt Unverzagt) Angaben: Jahr der Untersuchung, Name, Amt/Gericht, Quellennachweis

1600?

Gesche Pauss

Amt Dannenberg (Hann.) NHStA Hann. 72 Dannenberg Nr. 12

1604

Ilse Pengel

Amt Dannenberg (Hann.) NHStA Hann. 72 Dannenberg Nr. 16

1633

Catharina Gronau

Amt Dannenberg (Hann.) NHStA Hann. 72 Dannenberg Nr. 19

1637

Elisabeth Wehden

Amt Langenhagen (Hann.) NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 282

1638

Anna Reuters

Gericht Lüdersberg (Hann.) NHStA Hann. 72 Bleckede Nr. 14

1644/45

Margaretha Hartmanns

Amt Borsum (Hild.) NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5697

1648

totes Kind

Amt Schladen (Hild.) NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9908

1653

totes Kind

Hannover StAH ANr. 1149

1654/55

Ilsabeth Heinemeier

Einbeck (Hann.)

1655/56

Anna Elisabeth Fischer

1663

Anna Dorothea Biesters

NHStA Hann. 72 Einbeck Nr. 571 Hannover NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 250 Hannover NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 235 1668

Anna Ilsche Schreckes

Amt Langenhagen (Hann.) NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 283

1669

totes Kind

Hildesheim StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 39

1671/72

Margaretha Rappen

1675

Elisabeth Pein

Hildesheim StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 140 StAHi Best. 100 Abt. 36 Nr. 59 Amt Steinbrück (Hild.) NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 771

1680/81

Gesche Roden

Nienburg (Hann.) NHStA Hann. 152 Acc. 34/80 Nr. 72

1685

Anna Ilse Wäschen

Amt Hunnesrück (Hild.) NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5130

408

Kindsmordfälle und tot gefundene Kinder 1600-1809

1686

Anna Margaretha Mollers

Amt Steuerwald (Hild.) NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5233 NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5241

1686

Ilsabe Engelke

Amt Steuerwald (Hild.) NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5241

1688

Maria Wedemeyer

Hildesheim StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 152

1688/i

Catharina Raben

Amt Wölpe (Hann.) NHStA Hann. 152 Acc. 34/80 Nr. 60

1690

Trine Schützen

Fürstentum Lüneburg? (Hann.) NHStA Cai. Br. 23 Nr. 655

1690?

Dorothee Albers

Celle (Hann.) StACe 12 B Nr. 63, IV

1700?

Sophie Wrede

Celle (Hann.) StACe 12 B Nr. 63, II

1700?

[N.N.]

Celle (Hann.) StACe 12 B Nr. 63, IV

1700?

Magdalena Tiemanns

Celle (Hann.) StACe 12 B Nr. 63, IV

1701

Ilsa Maria Schmiedt

Hildesheim StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 163

1702

Marie Lüetgens

Celle (Hann.) StACe 12 B Nr. 63, IV

1702

totes Kind

Amt Marienburg (Hild.) NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 850

1703

Anna Churmeyer

Amt Peine (Hild.) NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5299

1703/(

[N.N.]

Amt Calenberg (Hann.) NHStA Hann. 76c A Nr. 123

1706

Ilse Kruse

Celle (Hann.) StACe 12 B Nr. 63, IV

1710?

Elisabeth Meyers

Hildesheim StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 162a

1712

[N.N.]

Alfeld (Hild.) NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 850

1713

totes Kind

Amt Marienburg (Hild.) NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 850

1714

Anna Margaretha Oelmann

Einbeck (Hann.) NHStA Hann. 72 Einbeck Nr. 569

1716

[N.N.]

Göttingen (Hann.) StAGö AB Kä 1 Nr. 315, Eintrag v. 27.6.1716

1717

[N.N.]

Amt Steinbrück (Hild.) NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 850

1719

[N.N.]

Amt Steuerwald (Hild.) NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5254

1720

Anna Maria Höppner

Amt Marienburg (Hild.) NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 740

Kindsmordfälle und tot gefundene Kinder 1600-1809

409

1720?

Anna Margaretha Ratzeburg

Amt Ahlden (Hann.) NHStA Hann. 72 Ahlden Nr. 2021

1722

[N.N.]

Hannover StAH B Nr. 6658g, Eintrag v. 24.8.1722

1725

[N.N.]

Amt Winzenburg (Hild.) NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5457

1727

Anne Christine Ochsener

Amt Rotenkirchen (Hann.) NHStA Hann. 72 Einbeck Nr. 340

1727

[N.N.] Hagemanns

Hannover StAH B Nr. 6663g HOOF, Kindsmordvorgänge, 52

1727/28

[N.N.]

Amt Neustadt (Hann.) NHStA Hann. 76c A Nr. 251

1728/29

[N.N.]

Amt Rotenkirchen (Hann.) NHStA Hann. 76c A Nr. 252

1729/30

[N.N.]

Amt Harburg (Hann.) NHStA Hann. 76c A Nr. 253

1731

Ilsabe Catbarina Maatsch

Amt Dannenberg (Hann.) NHStA Hann. 72 Dannenberg Nr. 23

1731

Anna Christiane Hoppet

Amt Salzderhelden (Hann.) NHStA Hann. 72 Einbeck Nr. 445

1731

totes Kind

Hannover HOOF, Kindsmordvorgänge, 52

1732

Anna Ilse Wöhlers

Hildesheim StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 171

1734

Anna Maria Zielen

Hannover StAH A Nr. 1151 StAH B Nr. 6685g HOOF, Kindsmordvorgänge, 60-64.

1735

Catharine Marie Müllers

Hannover StAH B Nr. 6670g HOOF, Kindsmordvorgänge, 51

1737

[N.N.] Rintfleschen

Amt Langenhagen (Hann.) HOOF, Kindsmordvorgänge, 66f.

1737

Dorothea Elisabeth Lampe

Amt Gronau (Hild.) NHStA Hild. Br. 1 Nr. 10148

1737

Christina Margaretha Ützmann Oberappellationsgericht Celle (Hann.) HOOF, Kindsmordvorgänge, 50

1737/38

Anna Hedwig Grote

Amt Winzenburg (Hild.) NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5506

1737/38

Engel Christine Sufifert

Amt Hunnesrück (Hild.) NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5140

1738/39

Anne Elisabeth Ohnverzacht

Amt Gronau (Hild.) NHStA Hild. Br. 1 Nr. 10148

1741

totes Kind

Amt Marienburg (Hild.) NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 850

1742

totes Kind

Sarstedt/Amt Ruthe (Hild.) NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9900

410

Kindsmordfille und tot gefundene Kinder 1600-1809

1742/43

Maria Gertrud Willy

Amt Liebenburg (Hild.) NHStA Hild. Br. 1 Nr. 10158

1745

Anne Ilse Rockersen

Amt Langenhagen (Hann.) HOOF, Kindsmordvorgänge, 67

1746

Catharina Marg. Wannbold

Amt Koldingen (Hann.) NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 859

1746/47

Anna Ernst

Amt Steuerwald (Hild.) NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5700

1750

Lucie Sophie Albrecht

Amt Liebenburg (Hild.) NHStA Hild. Br. 1 Nr. 5609

1751

totes Kind

Sarstedt/Amt Ruthe (Hild.) NHStA Hild. Br. 1 Nr. 9900

1753

Ilse Dorothee Marg. Hartwigs

Hildesheim StAHi Best. 100 Abt. 38 Nr. 176

1755

Anna Sophia Bertrams

Oberappellationsgericht Celle (Hann.) HOOF, Kindsmordvorgänge, 52-60

1755/56

Ilse Anne Margaretha Engel

Amt Steuerwald (Hild.) NHStA Hild. Br. 1 Nr. 10143

1765

totes Kind

Hildesheim NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 850

1765/66

Trine Marie Krussen

Amt Wölpe (Hann.) NHStA Hann. 152 Acc. 34/80 Nr. 5

1766

Anne Marg. R.

Gericht Altengleichen (Hann.) MEISTER, Rechtliche Erkenntnisse, Bd. 3, 179-183

1768/69

Job. Phil. Ernestine Pascal

Göttingen (Hann.) UAGö 3k Nr. 10

1769

Sophie Hasenbeins

Blumenau (Hann.) HOOF, Kindsmordvorgänge, 51

1771

totes Kind

Amt Marienburg (Hild.) NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 760

1776

Catharina Elisabeth Leder

Hildesheim StAHi Best. 100 Abt. 211 Nr. 66

1781

Catharina Elisabeth Erdmann

Gericht Altengleichen (Hann.) CLAPROTH, Nachtrag GÜNTHER, Vermutungen, 145-213

1785/86

totes Kind

Hannover StAH B Nr. 6721g

1793/94

totes Kind

Hannover StAH B Nr. 6729g

1795/96

[N.N.] Hupen

Hannover StAH B Nr. 6731g

1800

Marie Dor. Louise Dismer

Amt Calenberg (Hann.) NHStA Hann. 152 acc. 34/80 Nr. 77

1804

Magdalena Hagemann

Hildesheim NHStA Hild. Br. 2 A Nr. 766

1809

Anne Catharine Loges

Hannover (Neustadt) NHStA Hann. 72 Hannover Nr. 314

411 Anhang 4

Umherziehende Kinder und Bettler mit Kindern im Amt Gifhorn 1754-1773

Quelle: NHStA Hann. 74 Gifhorn Nr. 731, Berichte des Amtes vom 4.3.1754, 3.7.1758, 1.1.1761, 5.8.1765, 2.8.1766, 2.1.1768, 1.6.1768, 2.8.1770, 4.10.1770, 5.10.1772, 2.11.1772, 5.3.1773, 2.4.1773, 3.5.1773 und 3.9.1773.

1754 Februar

in Isenbüttel wurde ein zwölfjähriger Junge beim Betteln angetroffen

1758 Juni

zwei fremde Bettler wurden aufgegriffen, darunter einer mit Frau und vier Kindern aus Hildesheim

1760 Dezember

"1) Andreas Härtung aus Hundeshagen, nebst seiner Ehefrau u. einem 3jährigen Kinde, 2) Johann Martin Richmeister eben daher, nebst seiner Tochter, des Mousquetiers Johann Christian Kramer Ehefrau u. deren beiden unmündigen Kindern..."

1765 Juli

neben fünf Männern und einer Frau wurden ein Mann mit Frau und zwei Kindern aus dem etwa 40 km entfernten Amt Ebstorf aufgegriffen

1766 Juli

Johann Heinrich Sievers mit seiner Frau und deren Sohn aus erster Ehe

1767 Dezember

eine Witwe mit zwei Kindern

1768 Mai

"Joh[ann], Franz Siegmund Krebs und dessen Ehefrau Marie Christine Brentz nebst einem 5järigen Kinde, welche sich in den Flecken Salzliebendahl Häuslingsweise angeblich], aufhalten, und die hiesige fürstlich], braunschw[eigische|. Lande mit der Zitter bettelnd durchziehen"

1770 Juli

der aus Polnisch Lissa [i.e. das heutige Leszno] gebürtige Jude Joachim Jacob mit drei Kindern

1770 September

"Meyer Michel ein Bettel Jude aus Muncholtzhausen bey Wetzlar gebürtig nebst seiner Frau, und 4 Kindern"

1772 September

Johann Arens aus dem hildesheimischen Amt Peine mit Frau und zwei Kindern

1772 Oktober

Sophie Groß aus Stendal, Frau eines desertierten preußischen Musketiers, mit einem Kind

1773 Februar

"Anne Rosine Stein nebst einem 7jährigen Kinde aus Leimbach im Maynzischen gebürtig, welche mit 14tägiger Gefängniß Strafe beleget worden"

1773 März

"Charlotte Gesine Gehrbrechten aus Braunschweig, ein Soldaten Kind, welches in elenden Gesundheits Umständen ist, und so bald es ohne Gefahr ihres Lebens geschehen kann nach Braunschweig transportiert werden soll"

1773 April

"Anne Christiane Rudolphi aus Schilde bey Torgau bürtig, welche mit einem 4jährigen Mädchen im Amte bettelnd vagiret hat..."

1773 August

mehrere Juden, darunter "Riefke ein 16jähriges Juden Mädchen aus Koll hinter Franckfurt bürtig", deren Bruder Hein und "Mendele, ein 14jähriger Juden Junge..."

412 Anhang 5

Findelkindernamen

1) Benennung nach Eigenschaft

10

Fünd(e)ling

7

Raths

1

Unschuld

1

Fremdling

1

2) Benennung nach Fundorten

24

Creutz (eines davon vor der Kreuzkirche gefunden)

2

Feldstein

1

Grentzefund

1

Grün (vor dem Haus des Oberforstmeisters gefunden)

1

Haselbusch

1

Jacobs (vor der Jakobikirche gefunden)

1

Kirchhof(f)

4

Kirchmann

1

Korn (im Feld gefunden)

1

Kreuzberg

1

Mai (im Mai gefunden)

1

Scheunemann

2

Schildhaus

1

Stein

2

Steinweg

3

von der Leine (in Hannover gefunden)

2

Mühlenbrück

1

3) Benennung nach fremden Leuten

2

v. Wangenheim (evtl. vor dessen Haus gefunden)

1

Bähre (vor Bähres Haus gefunden)

1

413 Anhang 6

Quellen- und Literaturverzeichnis

A. Unveröffentlichte Quellen 1) Hannover, Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv (NHStA) Cai. Br. 2: Calenbergische Ämtersachen. 16 -IQ lahrhiinHert Nr. 1093: Der Streit zwischen dem Amt und der Stadt Hardegsen wegen der Criminaljurisdiktion, besonders Cord Tünpfes Bestrafung wegen Ehebruchs (1669-1670) Cai. Br. 8: Städtesachen der Fürstentümer Calenberg und Göttingen. (1208ff.). 16.-19. Jahrhundert Nr. 408: Die von dem Pastor Wagemann zu Göttingen etablierte Industrieschule (17931794) Nr. 572, V: Die Französische Colonie zu Hameln (1689-1794) Nr. 1198: Die wegen des Waisenhauses zu Moringen ausgeschriebene Landfolge (1738) Cai. Br. 23: Innere Angelegenheiten. 1488-1795 (1722) Nr. 655: Auf Wunsch des Schreibers Friedrich von Molckes bei den unter dem Kommando des Obristwachtmeisters Liditzky in Erfurt stehenden kaiserlichen Truppen vorgenommenes Verhör des Musketiers Weile gegen die Trine Schützen wegen verübten Kindsmords (1696) Cai. Br. 23b: Innere Landesverfassung: Gesetze und Verordnungen 1513-1866 Nr. 53: Fremde Bettler, Zigeuner, Gardeknechte, Mordbrenner, Störger, Gaukler, Leierkerle, Räuber und herrenloses Gesindel und solcherhalben gemachte Verordnungen (1650-1657) Nr. 148-274: hannoversche Verordnungen 1690-1815 Nr. 319: Verordnungendes Bistums Hildesheim (1652-1806) Nr. 326: Verordnungen der Stadt Hannover (1757-1823) Celle Br. 61a: Inneres: Ämtersachen der Kflnriri (später der Justizkanzlei) zu Celle, auch Städtesachen. (1302) 1539-1738 Nr. 343: Amtsvogtei Bedenbostel: Totgeburt der geschwängerten Stieftochter des Hans Lüters zu Helmerskamp (1689-1690) Nr. 359: Amtsvogtei Bedenbostel: Ein von der Tochter von Hans Gades Witwe zu Ahnsbeck aufgenommenes Kind, dessen Mutter sich davongemacht hat (1694) Nr. 1217: Amt Bleckede: Karsten Hoedtmann zu Garlstorf wegen von ihm geforderten VA Tir. Strafe, weil seine Tochter von dem Knecht Claus Vögeler geschwängert wurde (1681) Nr. 1598: Amt Bruchhausen: Bestätigung der vom Amte festgesetzten Brüche für Otto Ahlers zu Vilsen wegen Schwängerung einer Magd und vorehelicher Schwängerung seiner zweiten Frau (1690) Nr. 2431: Amt Burgdorf: Margarete Dircks in Kolshorn wegen Remission der diktierten Strafe aufgrund von unehelicher Schwängerung (1683) Nr. 2475: Amt Burgdorf: Versorgung eines bei Hans Dralle zu Immensen von einer Soldatenfrau zurückgelassenen Knaben (1694) Nr. 2513: Amt Burgdorf: Hans Buchholz, Bürger und Tuchmacher zu Burgdorf, gegen das Tuchmacher-Amt daselbst wegen dessen Absicht, ihn vom Amte auszuschließen, weil er vor der Heirat mit seiner Ehefrau Geschlechtsverkehr hatte (1708)

414

Quellen- und Literaturverzeichnis

Nr. 2516: Amt Burgdorf: Eine auf der Heerstraße gefundene 44jährige lahme und taube Frau mit 12jähriger Tochter und deren Unterbringung (1712) Nr. 2648: Amtsvogtei Burgwedel: Henrich Reincke, Häusling zu Wettmar, wegen der Brüche für die vorzeitige Niederkunft seiner Frau aufgrund vorehelichen Geschlechtsverkehrs (1690) Nr. 3814: Amtsvogtei Eicklingen: Ein zu Bockelskamp auf dem Krughofe gefundenes Kind (dabei: Zettel, mutmaßlich mit dem Nabel des Kindes) (1697) Nr. 4153: Amt Fallersleben: Johan Werner, Leutnant unter dem Ausschuß zu Sülfeld gegen den Amtmann zu Fallersleben wegen der ihm abgeforderten Unzuchtsbrüche aufgrund des Verkehrs seiner Tochter mit Henning Krüger (1679) Nr. 4188: Amt Fallersleben: Legitimation der natürlichen Tochter des verstorbenen Majors Lose, die den Kleinschmied Wilhelm Schmid zu Fallersleben geheiratet hat, damit sie in die Zunft aufgenommen werden kann (1703) Nr. 4777: Amt Gifhorn: Jürgen Schmid zu Gamsen wegen der Brüche für zu frühe Niederkunft seiner Frau (1671) Nr. 5386: "Memoriale bei dem Landgerichte zu Ilten, in den Freyen am 1. Oktober 1646" Nr. 5430: Amtsvogtei Ilten: Henning Bartels zu Ahlten wegen der an seiner Magd Dorothea Ruschmeyer verübten Schwängerung (1677) Celle Br. 65: Inneres: Konstitutionen und Verordnungen. 1548-1732 Nr. 236: Verordnung der Geheimen und Räte betr. Bestellung von Vormünder, wenn im Amte Eltern sterben (1692) Dep. 7b: Archiv der Calenberg-Qnihenh^pm^hpn I jnHsrhaf; Nr. 263: Das Waisenhaus zu Einbeck (1758) Nr. 264: Anlegung einiger Waisenhäuser, in specie zu Moringen (1731-1732) Nr. 266: Anlegung des Moringer Waisenhauses (Grundstücksangelegenheiten) (17381757) Nr. 276: Verwendung des Waisenhauses Moringen als französisches Hospital (1761) Nr. 280: Aufhebung des Waisenhauses und Verteilung der Waisenkinder in private Verpflegung (1795-1799) Nr. 282: Verpachtung des Waisenhaus-Gebäudes nebst Garten und Ländereien an Oberhauptmann von Oldershausen zu Moringen (1798-1824) Nr. 283: Versuchter Verkauf des Waisenhauses (1800-1803) Nr. 284: Von der westphälischen Behörde geforderte Nachrichten über das Waisen-Institut (1810-1812) Nr. 287: Gewerbe des Spitzenknüppelns und dessen Einfuhrung (1739) Nr. 288: Die Waisenkinder (1746-1757) Nr. 289: Verschiedene Anzeigen des Verwalters Bartels betr. die Waisenkinder (17461756) Nr. 291: Die Spinnerei im Waisenhaus (1746-1747) Nr. 292: Das ungesunde Waisenkind Karoline Kniepe, auch andere kranke Waisenkinder (1746-1748) Nr. 293: Verwendung von Ärzten zu Hülfeleistungen (1747-1789) Nr. 294: Rezipierung von Soldatenkindern in das Waisenhaus (1749) Nr. 296: Baumwollspinnerei im Waisenhaus (1764-1765) Nr. 297: Die dem Pastor prim. Abich über die Disciplinaria des Waisenhauses aufgetragene Inspektion (1786-1792) Nr. 298: Aufnahmen zur landschaftlichen Waisenverpflegung (1799) Nr. 300: Aufnahmen zur landschaftlichen Waisenverpflegung (2 Bd.) (1807) Nr. 301: Subdelegation für Waisenverpflegungs-Angelegenheiten (1808) Hann 2fcr IiisfiTminisHMinm, 1649-1891

Nr. 7098: Untersuchung wider Nikolaus Behr aus Eddigehausen wegen Blutschande und Ehebruchs (1814-1815)

Unveröffentlichte Quellen

415

Hann 47- Krippskanzlei- 1610-1831

I Nr. 397: Akten des Geheimen Ratskollegiums betr. die von dem Proviantmeister Isaak Israel beabsichtigete Stiftung zum Besten armer Soldatenkinder (1762) I Nr. 521: Akten des Geheimen Ratskollegiums betr. Versorgung armer verwaister Soldatenkinder (1765) I Nr. 522: Nachweisung der Fille, in welchen die königl. Verordnung wegen der bei Prädikatserlangungen für arme Soldatenkinder zur Invalidenkasse zu entrichtenden Abgabe vom 16. Juli 1766 angewandt worden ist (1766-1777) I Nr. 523: Einführung eines Sperrgeldes in Hannover und Göttingen (1765-1769) Hflnn SO-Preußische Okkupation und Besitznahme, 1805-1806 B Nr. 84: Vom hessischen Amt Rodenberg verweigerte Beitreibung der Unzuchtsstrafen gegen Amelung und Sophie Stämme Amts Lauenau (1806) B Nr. 105: Unterhaltung der drei Söhne des Joh. Heinrich Martin Reineke zu Neustadt unterm Hohnstein im Werkhause zu Hannover (1806) Hflnn Sl- Franznsisr.he Besitznahme. 1806-1810 Nr. 2: Gouvernement Général d'Hanovre: arrêtés etc. (1806-1809) Nr. 256,1-III: Administrationsrechnung der Fonds für ein Armen- und Waisenhaus auf der Neustadt Hannover (1806-1809) Nr. 1484: Aufgreifimg auswärtiger Bettler und Landstreicher; Unterstützung verlassener armer Kinder (1808-1810) Hann 52: Königreich Westphalen. 1807-1813 Nr. 16: Provisorische Administrations-Kommission: Etats der Klöster, Stifter, Hospitäler und Arbeitshäuser (1807) Nr. 89: Ministerium der Justiz und des Innern: Das Waisenhaus zu Einbeck (1808) Nr. 340: Ministerium des Innern, 2. Division: Hospitäler und Wohlfahrtsanstalten im Leine-Departement (1807-1811) Nr. 344: Ministerium des Innern, 2. Division: Unterhaltung des Hospitals der Freudenmädchen zu Hannover (2 Bde.) (1810-1813) Nr. 351: Ministerium des Innern, 2. Division: Milde Stiftungen im Leine-Departement (1808-1813) Nr. 360: Ministerium des Innern, 2. Division: Legate für die Armen der Stadt Hildesheim (1809-1813) Nr. 366: Ministerium des Innern, 2. Division: Plan zur Errichtung einer Privatversorgungsanstalt für Witwen und Waisen (1811) Nr. 371: Ministerium des Innern, 2. Division: Waisenhaus zu Duderstadt (1811-1812) Nr. 373: Ministerium des Innern, 2. Division: Unterbringung dreier bisher vom aufgehobenen Kloster Wöltingerode unterhaltenen Waisen bzw. Halbwaisen im katholischen Waisenhaus Hildesheim (1809-1810) Nr. 375: Ministerium des Innern, 2. Division: Das landschaftliche Waisen-Institut zu Hannover und Hildesheim (1809-1813) Nr. 376: Ministerium des Innern, 2. Division: Das Hardenbergsche Waisenhaus zu Nörten (1812) Nr. 1165: Innere Verwaltung, Departement Leine, Präfektur, 1. Division: Aufnahme elternloser und armer Kinder in die Waisenhäuser (1809-1811) Nr. 1168: Innere Verwaltung, Departement Leine, Präfektur, 1. Division: Armenanstalten und -Unterstützung (1809-1812) Nr. 1175: Innere Verwaltung, Departement Leine, Präfektur, 1. Division: Benefiz für Soldatenkinder aus der Sperrkasse und dem Schildenschen Legat des Distrikts Rinteln (1811-1813) Nr. 2263,1-III: Innere Verwaltung, Departement Leine, Kantone Distrikt Göttingen, Einbeck: Rechnung des Waisenhauses Einbeck (1807-1809) Nr. 2959,1-II: Innere Verwaltung, Departement Aller, Präfektur, 1. Division: Volks-, Ehe-, Geburts- und Sterbelisten, sowie Viehbestände (1810-1813) Nr. 2978: Innere Verwaltung, Departement Aller, Präfektur, 1. Division: Accouchieranstalt zu Hannover (1810-1813)

416

Quellen- und Literaturverzeichnis

Nr. 2987: Innere Verwaltung, Departement Aller, Präfektur, 1. Division: Die im Departement belegenen Hospitäler, Armen-, Waisen-, Findel- und Irrenhäuser, auch sonstige milde Stiftungen (1810-1813) Nr. 2994: Innere Verwaltung, Departement Aller, Präfektur, 1. Division: Armenwesen im Distrikt Hannover (1810-1813) Nr. 32S2: Innere Verwaltung, Departement Aller, Unterpräfektur Hannover: Volks, Ehe-, Geburts- und Sterbelisten (1810-1813) Hann fiQ; Hofgericht i,mr| ftisfolr^nTlfi Hjmnnvpr hflr Calenberg. Hoya. Diepholz vor 1810. 937-1862 A Nr. 186: Die Strafe des Ehebruchs (1794, 1808, 1814) A Nr. 187: Die Strafe der Landesverweisung (1774-1795) Hann 72 Ahlden: Amtsgericht Ahlden. 1467-1900 Nr. 2021: Protokoll der Verhaftung der Kindesmörderin Anna Margaretha Ratzeburg (Bruchstück) (18. Jh.) Hann 72 Bleckede: Amtsgericht Bleckede. 1600-1910 Nr. 14: Kindesmord der Anna Reuters und ihre Hinrichtung (1638) Hann 72 Bockenem: Amtsgericht Bockenem. 1614-1889 Nr. 412: Amt Wohldenberg: Hochadliges Gericht von Cramm zu Volkersheim betr. Kindesmord der Anna Elisabeth Meyers (1735) Hftnn 77 Dflnnynhfiy: Amtsgericht Dannenberg. 1542-1886 Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

12: Untersuchung wider Gesche Pauss in pto. infanticidii (16..) 16: Untersuchung wider Ilse Pengel in pto. infanticidii (1604) 18: Carsten Ahrens aus Lenzen in pto. adulterii (1619) 19: Katharina Gronau aus Brese in pto. infanticidii (1633) 23: Ilsabe Catharine Maatsch von Buckow in pto. infanticidii (1731)

Hann 72 Finbeck: Amtsgericht Einbeck. 1497-ca. 1900 Nr. 340: Amt Rotenkirchen: Untersuchung gegen Anna Christine Ochsener wegen Kindesmord (1727) Nr. 445: Amt Salzderhelden: Christiane Hoppert zu Immensen, geb. aus Hilvartshausen, betr. Kindesmord (1731) Nr. 568: Stadtgericht Einbeck: Enthauptung des Valentin Menzel wegen doppelten Ehebruchs (1689) Nr. 569: Stadtgericht Einbeck: Untersuchung gegen Anna Margarete Oelmann wegen Kindesmord (1714) Nr. 571: Stadtgericht Einbeck: Untersuchungsakte gegen Elisabeth Heinemeier wegen Kindesmord (1655) Nr. 766-777: Waisenhaus Einbeck: Verpflegung der Waisenkinder (1721, 1723, 1724, 1726, 1740, 1751-1755, 1759) Hann 72 Hannover- Amtsgericht Hannover. 1525-1959 Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

235: 250: 254: 259:

Anna Dorothea Biesters betr. Kindesmord (1663) Anna Elisabeth Fischer betr. Kindesmord (1655) Hofmeister Hermann Grüner betr. Ehebruch (1705-1707) Untersuchung gegen den Prediger Hemme der St. Ägidienkirche wegen Verdachts auf Ehebruch und seine Überbringung auf den Scharzfels (1731) 262: Maria Magdalena Klemmers betr. Hurerei und gebrochene Urfehde (1690) 265: Ehefrau des Siegmund Friedrich Katzener betr. Mord an ihrem 6-7jährigen Sohn (1752-56) 271: Anton Meyer aus Vahrenwald betr. Notzucht (1749) 277: Anna Catharina Sophia Meiers betr. Kindessaussetzung (1755) 282: Elisabeth Scheelen betr. Kindesmord, ist ersäuft worden (1637) 283: Elisabeth Schreckes betr. Kindesmord und Hinrichtung durch das Schwert (1668)

Unveröffentlichte Quellen

417

Nr. 314: Vollziehung der Todesstrafe an der zum Schwert verurteilten Kindesmörderin Anna Katharina Loges (1809) Hann 74 Calenberg: Amt Calenberg. 1516-1920 Nr. 753: Unzuchtsbriiche Generalia (1704-1845) Hann 74 Teile: Amt Celle. 1367-1919 Nr. 944: Die Findlinge und elternlosen Kinder und deren Unterhaltung (1680-1841) Hann 74 niepholz: Amt Diepholz. 1380-1923 Nr. 899: Generalia und Spezialia betr. die Unterhaltung unehelicher und elternloser Kinder und Versorgung armer Personen (1721-1853) ^ n n 74 F.inbeck: Amt Einbeck. 1404-1919 Nr. 1628: Das von weiland Amtmann Schlemm zu Rotenkirchen legierte Kapital von 100 Rtlhr. zur Ausbildung bedürftiger elternloser Knaben im Amt Rotenkirchen (1770-1882) Hann 74 fii&orn: Amt Gifhorn. 1265-1891 Nr. 722: Verbot des Spinnstubenhaltens (1763-1877) Nr. 731: Angestellte Visitationen gegen Vagabunden und Bettler (1751-1778) Nr. 732: dass. (1780-1808) Hann 74 Köttingen: Amt Göttingen. 1374-1929 C Nr. 248: Gerichtsschulzenamt Göttingen: Abtretung der (...) Kriminaljurisdiktion (1774,1778) H Nr. 294: Amt Bovenden: Die Einrichtung von Industrieschulen 1790-1792 H Nr. 295: Amt Bovenden: Die Industrieschule zu Parensen 1798-1834 H Nr. 296: Amt Harste und Gericht Leineberg: Die Errichtung und Einrichtung von Industrieschulen in den Landgemeinden 1786-1795 K Nr. 416: Amt Harste: Ablieferung von Leichen nach Göttingen (1736-1826) K Nr. 507: Amt Bovenden: Einzelne Aktenstücke Uber Findlinge und elternlose Kinder (¡691) Hann 74 Hameln: Amt Hameln

1405-1Q12

Nr. 2690: Verordnungen für das Armenwesen, die Waisenkinder und die Bettelei im Amt Aerzen (1699-1740) Hann 74 Lauenstein: Amt Lauenstein. 1535-1887 Nr. 542: Die Versorgung der Waisenkinder (1743) Hann 74 Münden: Amt Münden. 1518-1907 K Nr. 1299: Verfügung der Regierung vom 15.8.1792 betr. die Versorgimg von Kindern verurteilter Eltern (1792) Hann 74 Stolzenau: Amt Stolzenau. 1494-1933 Nr. 1050: Das Armenwesen (1696-1825) Nr. 1051: Aufnahme von Waisen in das landschaftliche Calenbergische Waiseninstitut (1794-1874) Nr. 3613: Verordnungen und Verbote der Spinnstuben (1768-1898) Hjinn, 7ftr- (T>nmjjnfn)Kqmmyr yn^l Fin^nTministeriym; Byyhnungen. 1536-1868 A Nr. 109-125 Fürstlich Calenbergische Kammerregister 1689/90-1705/06 A Nr. 215-230 Fürstlich Cellische Kammerregister 1689/90-1705/06 A Nr. 231-348 Kurfürstlich bzw. Königlich Hannoversche Kammerregister 1706/071814/15

418

Quellen- und Literaturverzeichnis

Hflnn, SO H^nnnv?r- Tanrfrirnstei Hannover 1562- ca. 1813-1899 I Cd Nr. 737: Die allhier anzulegende Accouchier- und Hebammenanstalt. Anstellung und Besoldung des Lehrers der Accouchiranstalt (1780-1815) I Cd Nr. 740: Fond der Accouchieranstalt (1794-1836) Hann 81: Klosterämter. 1094-1895 Nr. 2951: Die behufs des Waisenhauses zu Northeim bewilligten monatlichen 6 Taler (1732) Hann 84: Bwyhanphnannfjyhaft m Claiisthal 1 SU-1802 Nr. 884: Das Waisenhaus (1803) Hann 86 Celle: Strafanstalt Celle Nr. 104: Verzeichnis der Züchtlinge (1791-1804) Hann 87 Göttingen: Polizeidirektion Göttingen. 1702-1919 Nr. 64: Die Errichtung eines Säuglings-Instituts (1815-1819) Nr. 127: Die mit Königl. Universitäts-Deputation geführten Verhandlungen wegen Sicherung der Alimente für die von Studenten und akademischen Bürgern außerehelich erzeugten Kinder (1793-1854) Nr. 128: Die Einrichtung eines Ammen-Instituts in Göttingen (1795) Nr. 129: Die Verteilung eines von dem ehemaligen König von Westfalen zum Besten der Armen gemachten Geschenks von 220 Friedrichsdor (1808-1810) Hann 9?.- TVnKrh? Kamlei in London. 1617-1844 IX A Nr. 9c: Privilegium einer Buchdruckerei für das Waisenhaus zu Moringen (1744/48) XXXIV, II Nr. 3i: Das zu Göttingen zu erbauende Accouchir-Hospital (1784-1786) Hann 93- Geheime Räte betr. innere Landesverwaltung. (1238). 1369-1850 Nr. 331: Stiftungen: Bestätigung der Stiftungsstatuten des von der verwitweten Geheimen Rätin Marianne Hypolithe v. Schwicheldt geb. Fabrice zu Flachstöckheim gestifteten Armen- und Waisenhauses zu Weyhe, Amt Syke (1772) Nr. 333: Stiftungen: Vermächtnis des verstorbenen Bauverwalters Johann Heinrich Hartje zu Harburg von 500 Tlr. zum Zwecke der Unterhaltung armer Kinder in der Schule zu Horst, Amt Ricklingen, welches nach dem Tode der Witwe zahlbar wird (1777) Nr. 335: Stiftungen: Die zwischen dem Konsistorium und den Erben des Geheimen Rates v. Behr entstandene Differenz wegen des von diesem der Kirche zu Stellichte vermachten Kapitals von 400 Rtlr. für arme Witwen und Waisen (1779-1783) Nr. 338: Stiftungen: Die Legate der verstorbenen Oberzahlkommissarin v. Schilden (...) für das Werk- und Waisenhaus, die Hospitäler St. Jürgen und St. Annen und die Armenkasse zu Celle, für die Meinhelfsche Stiftung, das Lazarett zu Hannover (1792) Nr. 418: Die Unterhaltungskosten für ein Judenkind namens Esther, das, zum Christentum bekehrt, dem Küster zu Husum zur Pflege anvertraut ist (1768) Nr. 1111: Justiz- und Kriminalsachen: Die Bestrafung der Weibspersonen, welche sich zum dritten Male in Unehren haben schwängern lassen (1735-1812) Nr. 1374: Lizent- und landschaftliche Sachen: Rechnungen Uber die für das landschaftliche Waisenhaus zu Moringen eingenommenen und ausgegebenen Gelder für die Rechnungsjahre 1742/43 bis 1749/50 (1744-1760) Nr. 1632: Polizeisachen: Errichtung einer Accouchiranstalt in Hannover (1781) Nr. 2150: Städtesachen Hannover: Das Accouchirhospital und die Hebammenschule (1786-1791) Nr. 2197-2201: Städtesachen Hannover: Rechnungen des Accouchier-Hospitals 17811805. Nr. 2630: Städtesachen Moringen: Das Moringische Waisenhaus I (1731-1733) Nr. 2631: Städtesachen Moringen: Das Moringische Waisenhaus II (1737-1791)

Unveröffentlichte Quellen

419

Nr. 2913: Städtesachen Celle: Die Privilegien des Waisenhauses, insbesondere das Kalenderprivileg (1701-1796). Nr. 2915: Städtesachen Celle: Die zum Zwecke der Unterhaltung des Waisenhauses eingeführte Kollekte bei allen Hochzeiten (1724-1748) Nr. 2916: Städtesachen Celle: Die Administration und Beaufsichtigung des Waisenhauses, insbesondere die Aufbewahrung der Obligationen und sonstigen Dokumente (1714-1784) Nr. 2917: Städtesachen Celle: Der Wiederaufbau des während der französischen Okkupation abgebrannten Waisenhauses (1758-1769) Nr. 2918: Städtesachen Celle: Die Errichtung einer Entbindungsanstalt, insbesondere Berichte der Ämter, Amtsvogteien und Gerichte im Lüneburgischen über das Hebammenwesen (2 Bde.) (1767-1790) Hqnn i n - Ministerium ^ r p?i etlichen und Unterrichtsfln^l?pr»nheiten. 1376. 1423-1870 L Nr. 2: Klostersachen Generalia: Unterhaltung der Findelkinder in den Fürstentümern Calenberg, Göttingen, Grubeahagen und Hildesheim (1814-1826) L Nr. 7: Klostersachen Generalia: Die in Antrag gebrachte Erstreckung der Verordnung vom 28. April 1711 wegen Unterhaltung der Findelkinder auf das Fürstentum Hildesheim (1820) L Nr. 608: Klosteramt Mariengarten: Kirchensachen, in specie: Industrie-Schule zu Dahlenrode (1801-1848) Hjinn

I ^n^eym^nm Hannover. 1519-1959 acc. 34/80 Nr. 5: Acta inquisitionis contra Trine Marie Krussen aus Borstel, in puncto infanticidii (1765) acc. 34/80 Nr. 60: Acta inquisitionis contra Catharina Raben aus Nienburg, in puncto infanticidii (1688) acc. 34/80 Nr. 72: Acta inquisitionis contra die Dienstmagd Gesche Roden aus Hoyaschhausen (...) wegen Kindsmordes (1680-1681) acc. 34/80 Nr. 77: Acta inquisitionis contra Marie Louise Ditmer, in puncto infanticidii (1800)

Hann 1 Sfi Celle: Landesfrauenklinik Celle. 1784-1945 Akz. 104/79 Nr. 4-6: Verzeichnis der im Accouchier-Hospital zu Celle aufgenommenen Schwangeren (1784-1818) Hild. Br. 1: HildeshHmicrhes T andesarchiv (Regierungsarchiv der Fürstbischöfe von Hildesheiml. Nach 1500 - Anfang 19. Jahrhundert Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

3501: Gesetze und Verordnungen (1735-1760) 3502: dass. (1761-1763) 3503: dass. (1763-1773) 3537: Geistliche Verodnungen und Gesetze (...) (1746-1777) 5130: Untersuchung gegen Anna Ilse Wäschen aus Dassel wegen Kindesmordes (1685) 5140: Untersuchung gegen die Dienstmagd Engel Suffert zu Dassel wegen Kindesmordes (1737/38) 5162: Anzeige des Fiscals contra Wilhelm Tammen aus Sarstedt wegen Abtreibung (1650) 5222: Amt Steuerwald: Ein zu Himmelsthür (...) gefundenes Kind (1700, 1725) 5233: Amt Steuerwald contra Kapitel des Moritzstiftes in puncto einer Kindesmörderin (1686-1694) 5241: Ilsabe Engelke und Anna Marg. Mollers, inhaftiert zu Steuerwald in puncto Kindesmordes (1686) 5254: Amt Steuerwald: Untersuchung gegen Hans Mummens Ehefrau Maria Vincentz in puncto Kindesmord (1729-1733) 5287: Amt Steuerwald: Kloster St. Michaelis gegen den Amtmann wegen eines Kindes (1743) 5299: Amt Peine: Untersuchung gegen die Kindsmörderin Anna Churmeyer zu Peine (1703)

420

Quellen- und Literaturverzeichnis

Nr. 5388: Amt Gronau: Untersuchung (...) wegen einer Notzucht (1758-1760) Nr. 5457: Amt Winzenburg: Ein zu Langenholzen in der Lade einer Magd tot gefundenes Kind (1725) Nr. 5506: Amt Winzenburg: Inquisitionssache gegen die Witwe Hedwig Grote wegen Kindestötung (1737/38) Nr. 5510: Amt Winzenburg: Der wegen Blutschande inhaftierte Hans Menreking alias Andreas Pape und seine Tochter Elisabeth (1709-1714) Nr. 5609: Amt Liebenburg: Inquisitionsakten gegen Lucie Sophie Albrecht wegen Kindestötung (1750/51) Nr. 5697: Domkapitularisches Gericht: Peinlicher Prozeß gegen Marg. Hartmanns wegen Kindestötung (1644-1645) Nr. 5700: Domkapitularisches Gericht: Untersuchung gegen Anna Ernst aus Borsum wegen Kindestötung (1746/47) Nr. 5711: Kriminaljurisdiktion des Amtes Steuerwald in den dompropsteilichen Dörfern bei Fällen von Notzucht und Blutschande (1645-1753) Nr. 9899: Findelkinder im Amt Steuerwald (1612-1764) Nr. 9900: Findelkinder im Amt Ruthe und in Sarstedt (1666-1776) Nr. 9901: Findelkind in Mehle (1670) Nr. 9902: Findelkinder im Amt Gronau (1725-1744) Nr. 9903: Findelkinder im Amt Winzenburg (1671-1742) Nr. 9904: Findelkinder im Amt Hunnesrück (1729-1769) Nr. 9905: Findelkinder im Amt Peine (1672-1778) Nr. 9906: Das uneheliche Kind der Stats Sporker und Ilsabeth Gieseke aus Sehlem (1677) Nr. 9907: Findelkinder im Amt Liebenburg (1661-1758) Nr. 9908: Findelkinder im Amt Schladen (1648-1774) Nr. 9909: Die verlassenen Kinder des Andreas Plettner aus Lewe (1769/70) Nr. 10139: Kriminalkosten im Amt Steuerwald, Untersuchungen von Straftaten, insbesondere (...) gegen Catharina Elisabeth Döpken wegen Kindesmord 1734 (15741785) Nr. 10143: Kriminalkosten im Amt Ruthe; bes. Untersuchung gegen Anna Marg. Engel in Gleidingen wegen Kindesmord 1755/56 (...) (1656-1757) Nr. 10148: Kriminalkosten im Amt Gronau; Untersuchung von Straftaten insbesonderes Dorothea Elisabeth Lampe 1737 und Elisabeth Unverzagt 1738/1748 wegen Kindesmord (1667-1769) Nr. 10158: Kriminalkosten im Amt Liebenburg; Untersuchung von Straftaten, bes. Marie Gertrud Willy in Liebenburg wegen Kindesmord 1742-1744 (...) (16301777) Nr. 10179-10180: Zuchthaus in Peine: Verwaltung (1731-1776) Nr. 10206: Unzucht-Strafen (1662-1761) Hild. Br. 2: Archiv fcs Onmlrypifck

Hildesheim. 14.- Anfang 19 Jahrhundert

A Nr. 740: Untersuchungsakten des Amtes Marienburg gegen die peinlich angeklagte Anna Maria Höppner (...) in Hinsicht überwiesener Ermordung ihres Kindes (1720) A Nr. 760: Akte betr. ein am Katzberge, unweit der Trillke, Amts Marienburg, gefundenen Kindes(1771) A Nr. 766: Untersuchungsakten in Sachen des Köthners und Leinewebers Jacob Garmissen in Söhre, gegen dessen Ehefrau, geb. Magd. Hagemann, in Hinsicht böslicher Verlassung und begangenen Kindermordes (1804) A Nr. 770: Untersuchungsakten des Amtes Steinbrück, gegen die Ehefrau des Schafmeisters Heinrich Kämmen zu Feldberg, Anna, geb. Brandis, in Hinsicht verübten Kindermordes (1673) A Nr. 771: Untersuchungsakten des Amtes Steinbrück, gegen die Elisabeth Peinen (...) hinsichtlich verübten Kindermordes (1675) A Nr. 777: Untersuchungsakten in Hinsicht (...) fleischlicher Vermischung mit einem Pferde (1722) A Nr. 850: Ausgesetzte und tot aufgefundene Kinder a.a. (1739) A Nr. 859: Ersuchungsschreiben der Regierung in Hinsicht (...) eines ermordeten Kindes (1746)

Unveröffentlichte Quellen

421

Hild. Br. 6: Kabinettsregistratur des Fürstbischof Pr^nz F.gon von Hildesheim. 1629-1825 Nr. 96: Protokolle über die Inquisitionssachen der fürstlichen Ämter (1706-1753) Hild. Br. 10: Akten betreffend Hildesheim. Goslar und di