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German Pages 357 [360] Year 1993
C0MMUNICATI(
)
Band 3
Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkung von Yves Chevrel und Reinhart Koselleck
Christian Berthold
Fiktion und Vieldeutigkeit Zur Entstehung moderner Kulturtechniken des Lesens im 18. Jahrhundert
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1993
Mein herzlicher Dank gilt dem wohlwollenden Förderer Wilhelm Voßkamp.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Berthold,
Christian:
Fiktion und Vieldeutigkeit: zur Entstehung moderner Kulturtechniken des Lesens im 18. Jahrhundert / Christian Berthold. - Tübingen : Niemeyer, 1993 (Communicatio ; Bd. 3) NE: GT I S B N 3-484-63003-5
ISSN 0941-1704
© Max Niemeyer Verlag G m b H & Co. K G , Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck und Einband: Weihert-Druck G m b H , Darmstadt
Inhalt
1.
Einleitung
1
Erster Teil: Diese oder eine andere Welt. Literarische Wahrscheinlichkeit - Fiktivitätsbewußtsein der Leser - Wahrheit 2.
3.
Poetologischer Rückblick: Die Tradition der Romanlegitimation durch 'Wahrscheinlichkeit' im 16. und 17. Jahrhundert
23
Bürgerlicher Roman und neue Leser. Der Übergang zur Aufklärung. Literatursoziologische Zwischenbetrachtung
33
Exkurs: Die eine Welt der Aufklärung. Homogenisierung der Wirklichkeit und der Referenzbezug der Dichtung 4.
Von 'unverschämten' zu 'geschickten Lügnern'. Die Verschiebung der Grenze zwischen Fiktion und Realität
5. Wahrscheinlichkeit und Illusionsbildung 5.1 Die Wahrscheinlichkeit literarischen Erzählens. Ein kurzer Überblick über drei Phasen 5.2 Entwicklungslogische Möglichkeiten der literarischen Wahrscheinlichkeit 5.3 Von der äußeren zur inneren Wahrscheinlichkeit 5.4 Kausale Verknüpfung, Motivation und poetische 'Wahrheit' 5.5 Fiktionsbewußtsein und Lektürekompetenz 5.6 Der Wettlauf zwischen Erzähltechnik und Lektürekompetenz - die neuen Glaubwürdigkeitseffekte des literarischen Charakters und das Ungenügen der Erzähllogik 5.7 Die Wahrheit der Romane. Von der gelungenen Verlagerung des literarischen Referenzbezuges
49
59
77 87 96 108 123
138 160
Inhalt
VI 5.8 Fiktionale Lektüre. Historische Ausdifferenzierung einer neuen Rezeptionsform 6.
Das 'Paradox des menschlichen Herzens1 zur Fiktionalität
173
191
Zweiter Teil: Von der unendlichen Möglichkeitsvielfalt der literarischen Handlung und dem unbegrenzten Textsinn. Die Rationalität des Erzählens 7.
Entwürfe im Barock. Strukturelle Überlegungen zum 'hohen' Barockroman 7.1 Die Logik des Glücks. Sinnstiftungsfunktionen eines neuen Erzählmodells 7.2 Die Verkürzung der Unendlichkeit. Funktionale Implikationen des epischen Providenz-Schemas
217 237
8. Der 'eigentliche Gegenstand der Poesie' 8.1 Das Fabelprinzip als poetologisches Angebot zu einer integrativen Instrumentalisierung des literarischen Textes 8.2 Die literarische Fabel als Medium zwischen Text und Sinn 8.3 Erzählgeschwindigkeit, Spannung, narrative Integration und das 'Interesse' des Textes 8.4 Intention, Leseanweisungen, Vieldeutigkeit
270 288
9.
300
Vieldeutigkeit und Sinnerwartung
246 259
10. 'Die Welt lesen lernen'. Schluß
317
11. Literaturverzeichnis
327
Nicht die Welt als Ding an sich, sondern die Welt als Vorstellung (als Irrtum) ist so bedeutungsreich, tief, wundervoll, Glück und Unglück im SchoBe tragend. (Nietzsche)^
1. Einleitung
Romane lesen. Der ' Gattungssieger' in der Moderne Trotz aller Befürchtungen über die zunehmende Auflösung unserer Lesekultur durch die elektronischen Medien floriert das Geschäft mit der Literatur. Diese Gewißheit ermuntert zum Beispiel einen amerikanischen Verlag, dem Romancier Tom Wolfe eine Summe zwischen flrtf und sieben Millionen Dollar für den nächsten, noch ungeschriebenen Roman zu garantieren.2 Für Stephen Kings Gruselgeschichten wird noch mehr gezahlt, aber auch eine Weltauflage von zwei Millionen Exemplaren für Patrick Süskinds Parfüm deutet darauf hin, daß noch immer viel gelesen wird.3 Bei den kulturpessimistischen Debatten über den Verfall der Lesekultur gilt die Romanlektüre als unbefragtes Indiz von Belesenheit.4 Das war nicht immer so. Der Geograph Friedrich Matzel erwähnte in den Erinnerungen an seine badische Heimat für den Beginn der 1860er Jahre noch einen Lektürekanon, in dem Romane kaum eine Rolle spielten: Was war es nun, dessen Kenntnis man von diesem Gebildeten verlangte? Schillers Gedichte, Hebels alemanische Gedichte und Rheinländischer Hausfreund, Nadlers Fröhlich Pfalz, Gott erhalts!, Blüten und Perlen oder sonst eine Anthologie waren Bücher, in denen die meisten gelesen hatten. Auch fand man auf vielen Bücherbrettern Schlossers Weltgeschichte und Cannabichs Geographie. Einzelne Bändchen der Groschenbibliothek waren noch in manchen Winkeln vorhanden. Man lernte da Pseudoklassiker wie Krug von Nidda, aber 1 2 3
4
Menschliches, Allzumenschliches, Werke 2, 46. Hage: Spiel mit Millionen. Hage stellt folgende Zahlen gegeneinander: Max Frischs Stiller verkaufte sich 1954 in 3000, 1955 in 2000 Exemplaren und erreichte nach zehn Jahren die 10000; Süskinds Parfüm erzielte von 1985 bis Ende 1989 950000, Horst Sterns Mann aus Andalusien 1986-1989 290000, Christoph Ransmayrs Letzte Welt 1988-1989 150000, Elfriede Jelineks Lust 1989 100000 Exemplare (jeweils nur die Ausgaben in deutscher Sprache gerechnet)·, Hage: Zeitalter der Bruchstücke, 1. Hage zum Beispiel möchte in seinem Artikel das Vorhandensein einer erfolgreichen deutschen Gegenwartsliteratur belegen - und spricht über die zeitgenössische Erzählkunst (beides im Untertitel). Als Beispiel für pessimistische Einschätzungen der Zukunft der Lesekultur siehe etwa Glaser: Endlösung flr die Literatur.
2
Einleitung auch echte Dichter wie Hölty, Bürger, Claudius kennen, von deren Gedichten mehr geläufig waren als heute. Dagegen gehörten Lenau, Uhland, Freiligrath einer Woge an, die erst nach dieser unseren Strand erreichte, und Goethe stand allen fern, wurde als schwerverständlich von den einen, als sittengefährlich von den andern und als teuer von allen gemieden. Goethes Werke gab es auf zwei Stunden im Umkreis nur bei einem einsamen alten Dorfarzt.
Bildung und Belesenheit wurden hier in Hinsicht auf die Literatur noch vornehmlich an der Lyrik gemessen. Geht man sogar ins 18. Jahrhundert zurück, so galt Romanlektüre eher als Ausdruck von Ungebildetheit, von einem Mangel an stilistischen und geschmacklichen Ansprüchen. Für die erste Jahrhunderthälfte lassen sich sogar heftige Beschimpfungen des Romans nachweisen. Die seit der Antike bekannten Vorwürfe gegen die Dichtung konzentrierten sich - neben der Oper - auf die neue Erfolgsgattung Roman: wer Romans list/ der list Lügen, wetterte der Züricher Kalvinist Gotthard Heidegger in seiner Kampfschrift gegen den Roman - Mythoscopia Romantica6. Daß seit Homer Erzählliteratur rezipiert wird, täuscht nur darüber hinweg, wie wenig selbstverständlich es für den Leser der Neuzeit ist, sich mit Interesse auf erfundene Geschichten einzulassen. Zum Problem konnte diese Frage sich erst in der Moderne7 auswachsen, seit ein Wahrheitsbegriff vorzuherrschen begann, dem die empirische Erscheinungsrealität zum zuverlässigsten Garanten wurde und der damit factum und fictio zu einer bedeutenden Opposition des Wirklichkeitsverständnisses aufwertete. Im vormodernen geschlossenen Weltbild, in dem ein jedes Zeichencharakter besaß, in einem umfassenden Verweisungszusammenhang eingeflochten und nicht einfach nur 'der Fall' war, hatte die Frage nach der Faktizität einer berichteten Gegebenheit nur in einigen bestimmten Kommunikationssituationen größeres Gewicht. Gerade für die Literatur jedoch war es nebensächlich oder gar nicht präzis thematisierbar, ob Parzival wirklich gelebt, Siegfried tatsächlich im Drachenblut gebadet hatte.8
5 6 7
8
Erlebnisse mit Büchern in deutschen Selbstzeugnissen 2, 28. Mythoscopia Romantica, 71. Die Debatte um die Epochenbezeichnungen und Abgrenzungen wird hier nicht eigens aufgenommen. Verwendet werden die Begriffe in eher pragmatischer Abgrenzung gegeneinander, wobei die Neuzeit die übergreifende Größe sein soll, die etwa mit dem 16. Jahrhundert einsetzt, während vornehmlich im 18. Jahrhundert die Herausbildung von den Strukturen der Moderne angenommen wird. Zu der Problematik siehe etwa Kammiah: Zeitalter überhaupt, Neuzeit und Frühneuzeit; Gumbrechts Artikel zur Moderne in den 'Geschichtlichen Grundbegriffen' 4, 93-131, sowie Martini: Modern, Die Moderne, Reallexikon 3, 391-415; außerdem die beiden Bände: Epochenschwellen und Epochenstrukturen und: Epochenschwellen und Epochenbewußtsein. Siehe hierzu etwa Habermas: Wunder, Wunderliches, Wunderbares.
Einleitung
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Die literarhistorische Rekonstruktion macht die eigentümliche Entdeckung, daß Fiktivität etwas ist, um das die Leser nicht immer schon wußten, und daß Fiktivitätsbewußtsein in einem Differenzwissen besteht, das erst in einem spezifischen bewußtseinsgeschichtlichen Koordinatensystem relevant wird. Die Unterscheidung von Fiktion und Realität ist ein langer kulturhistorischer Prozeß, der in eingehender poetologischer Debatte im 17. Jahrhundert vorbereitet und im 18. Jahrhundert breitenwirksam wurde. Hintergrund dieser Entwicklung war die Entmachtung von Traditionalität als Wahrheitswert der Erzählliteratur, die nun durch andere Formen von Wahrheit autorisiert werden mußte. Weder die Verwendung überlieferter Stoffe und Motive, noch die Benutzung bestimmter Gattungskonventionen, noch die Einbettung der Rezeption in konventionalisierte Kommunikationssituationen mit klar vorgegebenen Regelerwartungen vermochte angesichts neuer Rationalitätsformen die Wahrheitswerte der vorhandenen Formen erzählliterarischer Geltungsansprüche noch zu sichern. Hinzu kam die sukzessive Veränderung des Erkenntnisideals, das nicht länger auf die Vermittlung eines kanonischen Repertoires unzweifelhafter und bewährter Wahrheiten gerichtet blieb, sondern immer mehr neue Wahrheiten favorisierte. Die Defizite des Romans an klarer und offensichtlicher Gattungstradition verschärften zunächst die Legitimationsprobleme gerade deijenigen Form von Literatur, die schließlich nach fast 300jähriger Beargwöhnung seit Ende des 18. Jahrhunderts zum ' Gattungssieger' wurde. Im (relativen) Traditionsmangel, der weitgehenden Regelfreiheit und im neuartigen Erfolg dieser - Individuallektüre befördernden - Textsorte liegen die wichtigsten historischen Gründe dafür, daß die Probleme der Fiktionalität besonders markant am Roman erlebt wurden, seit man begonnen hatte, sich die Frage zu stellen, welchen Sinn es haben könnte, erfundene Geschichten zu lesen. Darauf sind seither zwei Antworten gegeben worden: Zum einen in der Erwartung, daß die Texte Strukturen der Wirklichkeit 'wahr' abzubilden vermöchten, und zum andern in der Unterstellung, daß sich auch in fingierten Geschichten abstrakte Wahrheiten vermitteln lassen. Beide Antworten haben ihre Gemeinsamkeit in der Anwendung des Weltbegriffs auf einen literarischen Erzähltext.9 Die Entmachtung des Sinnlosigkeitsverdachts gegenüber erfundenen Geschichten in der Glaubhaftmachung eines eigenen Wahrheitswertes von Erzähltexten läßt sich anhand der Methaphorisierung des einzelnen Textes zu einer 9
Denkbar wäre auch das Aufgreifen des Problemzusammenhangs an der Unterscheidung zwischen dem Wirklichkeitsbezug des Textes und seinem Bezug auf andere Texte. Doch eine solche Form-Inhalt-Opposition krankt an der vorgängigen Geformtheit jeden Inhalts, denn jeder Realitätsbezug eines Textes steht immer auch in einer Intertextualität. In beidem findet sich keine ausschließende Rezeptionsoption, sondern nur unterschiedliche Akzentsetzung.
Einleitung
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Welt nachzeichnen. Dabei entspricht diesem Metaphorisierungsprozeß die Ausbildung einer Rezeptionsform, welche im flexiblen Umgang mit den fingierten Erzählwelten eine zentrale Handlungskompetenz des einzelnen in der Moderne als einem Zeitalter der Weltenpluralität entfaltete. 'Eine Welt1 zu sein ist nicht nur eine der geläufigsten Phrasen über den Roman 10 geworden, sondern offenbar auch eine, welche die Leser mit ihren Lektüreerfahrungen an Romanen in Einklang bringen können. Das 'Eintauchen' in die Welt des Romans ist eine der - meist emphatisch beschriebenen - Rezeptionsmöglichkeiten. Nicht nur ist das Bild des völlig selbst- und weltvergessenen1 Lesens, das den Leser ganz in die Welt der Fiktion hinüberzieht, so daß er selbst seine elementaren Bedürfnisse vergißt, längst zum Topos geworden, sondern Leser beschreiben selbst immer wieder in solchen Formulierungen ihre Leseerfahrungen gerade mit Romanen: Mein zweites selbständiges Bucherlebnis hieß Robinson Crusoe. Tagelang ertrank ich bei seinem Schiffbruch in einem Meer von Tränen. Bis mein guter Geist, Tante Usche, mir sagte, daß doch das ganze dicke Buch Robinson hieße und ich erst auf Seite 25 wäre - was doch für Robinsons Rettung spräche! so gelangte ich denn mit ihm schließlich doch auf diese Insel und erlebte mit ihm eine unvergeßlich herrliche Zeit, wo ich - nicht er - Dasein, Welt und Freitag erwarb. Mit dem ganzen Globus als Zugabe! 12
Wenn es sich noch um eine ungeübte Leserin, wie hier Agnes Miegel, handelt, mag die Frage, wie eine Fiktion zur Welt werden kann, nicht problematisch erscheinen, weil sozusagen die lesenden Augen zu denen Robinsons geworden sind, also Differenz- und Fiktivitätsbewußtsein aufgehoben sind. Aber immerhin liegt ja die Pointe des Berichts gerade darin, daß die Fiktion - dank Tante Usche - nicht mehr völlig illusionär für Wirklichkeit gehalten wird. So deutet sich schon an, daß auch emphatische Leseerlebnisse nicht allein auf einer ungebrochenen Illusion beruhen. Daß am Ende des 18. Jahrhunderts die Rede von der Romanhandlung als einer eigenen Welt aufkam, verwundert zunächst kaum, denn schon länger war die Verknüpfung des Weltbegriffs mit allen möglichen Nomen sehr beliebt. 10
11
Blumenberg: Lesbarkeit der Welt, 223. Für die Romantheorie, wo die Rede von der 'Welt' heute kaum noch entbehrlich scheint, war Lukäcs der entscheidende Katalysator. Siehe hierzu Warneken: Literarische Produktion 103-123. Schröder (Hingabe, Distanz oder Desinteresse, 9) über das in Michael Endes Unendlicher Geschichte am Beginn geschilderte Lesen des Bastian Balthasar Bux. (Wer
niemals ganze Nachmittage lang mit glühenden Ohren und verstrubbeltem Haar über einem Buch saß und las und las und die Welt um sich her vergaß, nicht mehr merkte, daß er hungrig wurde, oder fror [...]; Unendliche Geschichte, 11) 12
Agnes Miegel, nach: Erlebnisse mit Büchern 2, 111.
Einleitung
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Gleichwohl finden sich solche Charakterisierungen des einzelnen Textes als einer Welt erst relativ spät, kaum vor Friedrich von Blankenburgs Versuch aber den Roman von 1784.13 Dieser Quellenbefund gibt Auskunft darüber, daß die Rezipienten erst ganz allmählich im Verlauf des 18. Jahrhunderts begannen, die Eigengesetzlichkeit der einzelnen literarischen Geschichte wahrzunehmen und als solche zu benennen. Eben dies macht das Verhältnis von Roman und Welt zum geeigneten Bezugspunkt einer Untersuchung, die der Frage nachgehen will, wie im Verhältnis zwischen Roman und Leser im 18. Jahrhundert 'das Literarische' entstand, für das hier vor allem die beiden Begriffe Fiktion und Vieldeutigkeit veranschlagt werden. Dafür, daß man diese Fragen besonders erfolgreich am Roman verfolgen kann, spricht schon oberflächlich einiges. Immerhin hat der Roman vom 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts eine beachtliche Karriere erlebt von der beschimpften und befehdeten Gattung, die man nur schamhaft lesen konnte, bis an die oberste Stelle in der Gunst des Publikums wie der frühromantischen Poetologie. Die durch diesen beispiellosen Aufstieg errungene Stelle hat der Roman bis heute nicht wieder aufgegeben. So scheint es, als wären die genannten Aufgaben nur eine literaturwissenschaftliche Formulierung der Frage, was die besondere Modernität des Romans ausmache.
Modernität des Romans als Theorieproblem In den geschichtsphilosophisch fundierten Romantheorien wird oft eine besondere Modernität der Gattung Roman angenommen. Im Anschluß an Hegel hat Lukäcs dafür eine Erklärung angeboten, die bis heute kaum grundsätzlich bestritten wird. Danach ist der Roman die Gattung der transzendentalen Obdachlosigkeit, die daher ein angemessener Ausdruck des neuzeitlichen humanen Selbstverständnisses sei und zugleich in ihrer Gesinnung zur Totalität den Versuch repräsentiere, die verlorene ethische Einheit14 wieder herzustellen. Die Spannung zwischen zerfallener Welt und aufgegebener Totalität ist demnach das Besondere am Roman. 15 In expliziter Nähe zu diesen Vorstellungen bindet Blumenberg die 'Möglichkeit des Romans' unmittelbar an einen der Wirklichkeitsbegriffe der 13
14 15
Daß in einer Rezension von 1793 in bezug auf Karl Gottlob Cramers Roman Leben und Meinungen auch seltsamliche Abentheuer Paul Ysops von der Cramerschen Welt gesprochen wird, ist einer der relativ seltenen Belege im 18. Jahrhundert (Walch, NADB 3, 1793, 175). Lukäcs: Theorie des Romans, 23f., 23, 44, 43. Eine von dieser These ausgehende Untersuchung von Romanen zwischen Aufklärung und Romantik legte Ortheil vor (Der poetische Widerstand im Roman).
6
Einleitung
Neuzeit, nach dem Wirklichkeit zu einer 'Syntax von Elementen' geworden ist, die sich erst in der Einstimmigkeit der Gegebenheit untereinander verständigungsßhiger Subjekte, also in der 'Intersubjektivität' und ihren perspektivischen Möglichkeiten erfüllt. 16 Blumenbergs Bezug auf ein perspektivisches System läßt dabei wiederum gewisse Ähnlichkeiten zu Bachtins These von der 'Vielstimmigkeit' des modernen Romans erkennen. 17 All diesen Beobachtungen am Roman kann nicht eigentlich widersprochen werden. Auffällig bleibt jedoch ihre Tendenz zu einer Gattungsontologie. Dagegen wäre daran zu erinnern, daß die Geschichte des Romans als eine sehr lebhafte beschrieben wird, welche keineswegs die Einheit der Gattung in ihrer Modernität aufzeigt. Dieser Schwierigkeit läßt sich zwar begegnen, indem man einfach noch einmal einen Beginn des 'modernen Romans' ansetzt, doch damit schafft man im Grunde nur eine Subgattung und setzt voraus, was es eigentlich zu erklären gilt - die Modernität des Romans. Verblüffend ist an diesen 'Anfängen' des modernen Romans auch, daß die dafür angeführten Werke (oder Autoren) verschiedenen Jahrhunderten entstammen. Denn genannt werden meist Orlando Furioso, Don Quijote, die Princesse de Qtves, Manon Lescaut, Qarissa, Nouvelle HiloXse (Emile), Tristram Shandy, oder aus deutscher Sicht Simplizissimus, Agathon, Werther (Anton Reiser), Wilhelm Meister oder die Wahlverwandtschaften. Das legt den Schluß nahe, daß die Modernität des Romans weder Akzidenz noch Konstituens der Gattung, sondern Ergebnis einer Entwicklung ist, die seiner Aufwertung parallel verlief. Wollte man die Einheit der Gattung behaupten, dann müßten auch die spätantiken Romane integriert werden. Sie wiederum machen es schwer, eine spezifische Modernität dieser Gattung(en) zu erläutern. Eine mögliche Lösung bei dieser Schwierigkeit ist die Berufung auf ähnliche Zerfallsformen homogener Weltbilder in der Spätantike und der Frühneuzeit, auf eine durch das christliche Mittelalter nur noch einmal verzögernd abgewehrte Vertreibung aus dem metaphysischen Obdach. 18 Solche Rekonstruktionen erfordern einen großen geschichtsphilosophischen Bogen, wie ihn Lukäcs unter Re16
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Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, 21, 23. Die Entsprechung zu Lukäcs stellt Blumenberg selbst her, siehe Anmerkung 11, S. 19; das folgende Zitat 23. Siehe etwa Bachtin: Das Wort im Roman. Die Differenz der verschiedenen Ansätze ergibt sich im wesentlichen aus den ganz anderen literaturgeschichtlichen Textreferenzen, auf die sich beide zur Erläuterung berufen. Bezeichnend ist hier auch die Parallele, mit der ein kritisch reflektierendes Verhältnis zur Sprache als die Entstehungsbedingung des Romans angeführt wird für die Spätantike (Bachtin, siehe 251-259) wie für das 18. Jahrhundert (siehe etwa Lange: Erzählformen im Roman des achtzehnten Jahrhunderts, 132f.). Neue Schwierigkeiten ergeben sich fur diese Fragen aus der jetzt häufiger zu findenden Bezeichnung der mittelalterlichen Epentexte als 'Romane'.
7
Einleitung
kurs auf Hegel schlagen konnte, unterliegen aber der Gefahr, eher zuviel zu erklären. Denn nun scheint die Frage gar nicht mehr aufzutauchen - und ganz illegitim, weil nur noch eine der Zeit -, warum die Neuzeit sich doch einige Jahrhunderte recht schwer tat mit der Anerkennung und Wertschätzung der ihr so gemäßen literarischen Gattung.19 Die Einheit der Gattung dürfte sich also nicht einfach unterstellen lassen, entsprechend wäre eher davon auszugehen, daß der Roman seine Modernität erst erlangt hat - gerade im Scheitern an seiner Verpflichtung auf Einheit. Eine plausiblere Lösung erscheint daher Bachtins Versuch, die Einheit des Romans zu beschreiben als endliches Ergebnis einer ständigen Kontroverse zwischen einem hohen und einem niederen Traditionsstrang, von denen dieser dann im 18. Jahr20
hundert die Dominanz gewann. Seine Stimmigkeit bezieht dabei Bachtins Konzept aus dem sozialgeschichtlichen Anschlüssen: die 'bürgerliche Modernität' des Romans lebte demnach, von der Theorie kaum beachtet, seit der Antike in den volkssprachlichen Erzählgattungen. Damit wird die Erklärungslast auf die Sozialgeschichte verlagert, und die verzögerte Akzeptanz ergäbe sich aus der späten Vollendung des Verbürgerlichungsprozesses der Kultur. Bachtins Modell ist flexibel genug, um die Einheit der Gattung als Bedingung der generalisierenden Aussagen über den Roman unterstellen zu können und dennoch Raum für dessen wechselvolle Geschichte zu bieten. Wenn auf diese Weise das besondere Verhältnis des Romans zur Moderne verständlich gemacht werden könnte, so wäre dennoch die Frage nach dem beispiellosen Rezeptionserfolg des Romans noch ganz unbeantwortet. Denn daß die frühromantischen Theoretiker aus der Affinität einer Gattung zur Epoche geradezu roman-apotheotische Schlüsse gezogen haben, besagt noch nichts über die Lesegewohnheiten dieser Epoche. Diese Frage drängt sich um so mehr auf, da auch die Lyrik als Paradigma der Moderne in Betracht kommt.21 Es bleibt also weiterhin zu klären, was der Roman als Besonderes seiner Modernität anzubieten hat. Mit der Formel Welthafiigkeit und Welthaltigkeit22 hat Blumenberg die 19
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22
Auch Blumenbergs großer philosophiegeschichtlicher Bogen stellt diese Frage eher ins Abseits. Siehe Bachtin: Das Wort im Roman, 251-300, bes. 292f. So der Untertitel des zweiten Bandes von Poetik und Hermeneutik. Auch Blumenberg scheint diese Option durchaus nahezuliegen (siehe: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, 22f., Anm. 15). Provokationen des Lesers im modernen Roman, 669; auch schon: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, 21. Lukäcs hat den Begriff der 'Welthafiigkeit' für die Kunst überhaupt reklamiert (siehe: Die Eigenart des Ästhetischen 1, 442531). Diese Position ist von Hamburger vor allem mit Verweis auf die Lyrik kritisiert worden (siehe: Logik der Dichtung, 235f.). Wie auch immer diese Frage zu entscheiden sein mag, für den Roman tritt doch deutlich hervor, daß zentrale Ge-
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Einleitung
geläufigsten Antworten hierzu zusammengefaßt. Daß der Roman unter den literarischen Gattungen als besonders welthaltig auffalle (man denke an Hegels berühmte Wendung von der Totalität der Welt- und Lebensanschauungen 3 ), scheint so einleuchtend und selbstverständlich, daß die Suggestionskraft dieser Formel die Nachfrage kaum noch gestattet, was damit eigentlich genau gesagt ist. Eher deutet schon 'Welthaftigkeit' auf kompliziertere Gründe für das ausgezeichnete Verhältnis der Gattung zu dem, was mit 'Welt' bezeichnet wird. Hierfür die Tendenz der modernen Kunst anzuführen, zu ihrem Thema den formalen Wirklichkeitsausweis selbst statt des materialen Gehalts zu machen, 24 entwertet jedoch nicht nur das Argument der Welthaftigkeit wieder (weil wie bei Welthaltigkeit auf Form statt auf Gehalt verwiesen wird), sondern wirft auch die nächste Frage auf, weshalb gerade der Roman zur Entfaltung solcher formalen Strukturen besser geeignet ist als andere Gattungen. Je mehr man nachfragt, desto mehr werfen Welthaftigkeit und Welthaltigkeit selbst neue Fragen auf nach dem erfolgversprechenden Angebot des Romans anstatt schnelle Antworten zu liefern. Dazu hätten beide Begriffe nur getaugt, wenn die Suggestionskraft der Formel einer irgendwie 'realistischen', abbildlichen Rezeptionserwartung der modernen Rezipienten entsprechen würde. Daß jedoch die Leser im Roman ungebrochen 'die Wirklichkeit' wiederzufinden glauben, kann wohl bezweifelt werden. Wenn aber im modernen Roman Wirklichkeit nur als formale Kohärenz einer 'Syntax von Elementen' auftaucht, so dürfte dies eine zu abstrakte Erwartungserfüllung sein; und die Illustration von Unendlichkeit genügt vielleicht literaturtheoretischen Ansprüchen an die Erzählliteratur 25 , ist den meisten Lesern aber sicher wenig wichtig.
halte des geläufigen Verständnisses dieser Gattung sich gerade in der Kombination der Epitheta 'welthaft' und 'welthaltig' erschließen. Zur Welthaftigkeit von Litera-
tur insgesamt siehe auch Horns Exkurs über die Welthaftigkeit der Literatur 23 24
25
(Literarische Modalität, 19-27). Hegel: Ästhetik, Sämtliche Werke 14, 396. Blumenberg: Wirklichkeitsgeriff, 22. Der mögliche Hinweis auf 'perspektivische Intersubjektivität' (23) würde die Frage provozieren, warum sie nicht im Drama bessere Realisierungsmöglichkeiten gefunden hat. Auch die nicht näher erläuterte potentielle Unendlichkeit des Romans (21) ist nicht ohne weiteres aus sich heraus verständlich, denn romangeschichtlich haben sich eher die kürzeren Formen durchgesetzt. Der moderne Roman ist gerade nicht aus dem fast im wörtlichen Sinn unendlichen 'hohen' Barockroman hervorgegangen. Die Länge allein kann es wohl nicht gewesen sein, die die Unendlichkeitsimplikation des Romans (22) illustriert bedenkt man allein, daß manche Dramen, daß manche Verserzählungen oder Gedichtzyklen etliche Romane an Länge leicht übertreffen. Siehe auch die Bemerkungen von Lukäcs zur Unendlichkeit des Epos (Theorie des Romans, 75f.). Siehe Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff, 2tf.
Einleitung
9
Mag der Roman als literarische Gattung ein besonders markanter 'Ausdruck' modernen Wirklichkeitsverhältnisses sein, warum ihn dies auch jenseits enger Expertenkreise aufwerten sollte, bleibt noch immer offen. Denn wenn diese Form der Modernität in der Ausdrucksfunktion des Romans angesiedelt ist, dann fehlt noch immer ein ihr komplementäres Interesse auf der Rezipientenseite. Zwar wird hierzu - wiederum vor allem seit Lukäcs - auf das im Roman sich darstellende Verhältnis von Ich (respektive Subjektivität) und Welt verwiesen, worin der Rezipient identifizierend oder im Kontrast seine eigenen Erfahrungen aufsuche,26 aber dabei bleibt weiterhin fragwürdig, 'wie' die Gattung denn Subjektivitäts- und Weltausdruck realisiert. Eine Kombination von lyrischem Stil" und stimmiger Unendlichkeitsimagination liefert hierzu noch keine befriedigende Erklärung, denn etwa die im 19. Jahrhundert sich rasch ausbildenden Rezeptionshemmnisse gegenüber 'vorklassischen' Romanen bleiben dadurch noch unerklärt.28 Auch ist Weltdarstellung nicht erst eine Leistung des klassischen Romans.29 Totalitätseindrücke zu evozieren war schon für den hohen Barockroman geläufige Aufgabenstellung - und geradezu Kriterium seines 'schönen' Gelingens. Gleichwohl läßt sich kaum sagen, daß diese Werke ausgerech30 net sich besonderer Beliebtheit in der Moderne erfreuten. So bleibt der Gattungserfolg des Romans noch immer unerklärt.31 26
27 28
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Siehe: Theorie des Romans, etwa 73; ähnlich Blumenberg in: Provokationen des Lesers im modernen Roman, 669f., oder Iser, für den dieses Verhältnis zwischen Subjektivität und Welt im Roman bereits die selbstverständliche Voraussetzung seines ausfuhrlichen Beitrages Reduktionsformen der Subjektivität ist. Subjektivität reicht aber allein als das gesuchte Rezeptionsangebot noch nicht aus, weil ihr Ausdruck eher in der Lyrik wahrgenommen wird. Siehe hierzu Lukäcs: Theorie des Romans, 74. Dies ist besonders markant an ganzen Gattungen, die nicht mehr gelesen wurden wie zum Beispiel dem Dialogroman. Daß der Helden - Held Anton Ulrich kan schöner/ als sie ist/ uns bilden ab die Welt, wußte schon Greiffenberg an der Aramena zu loben. ([Von Greiffenberg:] Uber die Tugend-vollkommene unvergleichlich-schöne Aramena,) (iijv) Eichendorff beschimpfte die Barockromane Zesens, Ziglers und Lohnseins bereits als tollgewordene Realencyklopüdien. Umgekehrt belegt die sagenhafte Beliebtheit der buchstäblich nicht auf Endlichkeit hin angelegten Geschichte des 24-bändigen (deutschen) Amadis, daß die von langen Texten zugemuteten Rezeptionsanstrengungen kein grundsätzliches Hindernis zum Erfolg sind. (Eichendorff: Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, 111; Amadis, Frankfurt am Main 1S69 bis 1595) Die Orientierung an der einen Gattung ist in dieser Arbeit eher eine heuristische. Das meiste, was hier über den Roman gesagt wird, gilt auch für die Erzählliteratur insgesamt. Eine Abgrenzung gegen Novelle und Erzählung wird daher kaum angestrebt. Mit dem Epos, daß ja nach Hermann und Dorothea kaum noch eine Rolle spielte, ist es insofern anders, als dies bis weit ins 18. Jahrhundert hinein die normgebende literarische Gattung überhaupt war und sich daher die Romantheorie immer
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Einleitung
Roman und Welt Zur Klärung dieses Zusammenhangs aber soll hier ein historischer Anhaltspunkt gewählt werden, nämlich das Aufkommen der Redeweise vom einzelnen Roman als 'einer Welt'. Denn diese Rede taucht erstmals im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auf und liefert daher einen Ausgangspunkt für die hier gestellte Problemfrage: wie kann ein Erzähltext, über den so etwas gesagt wird, der Beliebigkeit entgehen? Im Verlauf der Arbeit wird sich die Antwort abzeichnen, daß es gattungsgeschichtliche Gründe waren, die den Roman zwangen, eine Welt zu werden. Es wurde ihm nämlich zunehmend nicht mehr geglaubt, 'die' Welt zu sein; hätte er sich aber nicht zugleich darauf verstanden, mehr zu sein, als nur (irgend-) eine Welt, wäre es ihm also nicht gelungen, einen neuen Wahrheitsanspruch zu realisieren, so wäre er sozusagen an der Moderne gescheitert.32 So wird sich abzeichnen, daß die Frage der Beliebigkeit tatsächlich mit deijenigen der Fiktionalität von Erzähltexten zusammenfallt. Komplizierter wurde es historisch noch dadurch, daß es Wahrheiten fortan nicht mehr als verbindliche einfach abrufbar gab, sondern allein noch die multiplen Brechungen individualisierter Perspektiven. Anders gewendet: die mit gesellschaftlichen Ausdifferenzierungen und psychologischen Individualisierungsprozessen verbundene Diversifikation der Weltbilder33 ließ geradezu unendlich viele 'wirkliche' Welten entstehen.34
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wieder an das Epos anlehnte oder gerade Unterscheidungen zwischen Epos oder Roman versuchte. Siehe hierzu ausführlich Scherpe: Gattungspoetik. In solcher metaphorischen Redeweise wird die Gattung, als solche selbst schon eine Konstruktion, zum handelnden Subjekt. Die Unschärfe dieser hier gelegentlich benutzten Beschreibungsform kann sich allein in stilistischen Bedürfnissen rechtfertigen. Denn ohne solche metaphorischen Verkürzungen erfordert das komplizierte Beziehungsgeflecht, innerhalb dessen sich die hier relevanten Entwicklungen vollzogen, enormen deskriptiven und theoretischen Aufwand. Siehe zum Beispiel jetzt Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Von individualisierten Weltbildern ist hier im Sinne der geschlossenen Sinnbereiche von Schütz die Rede, also unter Betonung des strukturierenden Sinns unserer Erfahrungen (Schütz: Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten, 264; siehe dort auch zu dem Problem der vielen Alltagswelten, sowie zum Zusammenhang: Luckmann: Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz). Wenn die Fülle der angedeuteten Fragen hier also vom Weltbegriff her entfaltet wird, dann soll genutzt werden, was das Grimmsche Wörterbuch im Artikel 'Welt' so nennt: einige abschnitte dieser wortgeschichte [...] lassen einen wesentlichen Vorgang der dt. geistesgeschichte sichtbar werden, sie zeigen, wie der antike kosmos- und christliche schöpfungsbegriff (Ulmahlich dem der modernen naturwissenschaft und welt-anschauung weicht, und die schillernde Vieldeutigkeit, mit der das wort zuzweilen im Schrifttum des 18. und 19. jahrhunderts begegnet, läszt uns spüren, wie sich diese Vorstellungen zu oft eigenartigen synthesen eines individuellen welt-bilds verbunden haben. (XIV, 1 , 1 , 1459)
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Auf welche Welt sollte sich der Roman angesichts solcher verwirrenden Möglichkeitsfülle beziehen? Sich hier aus der Affäre zu ziehen war eine notwendige Reaktion der Gattung und zugleich ihr karrierebegründender Geniestreich - auf Modernität selbst zu bauen. Das hieß aber vor allem: die Aporie zwischen der längst kanonisch gewordenen Verpflichtung auf die Darstellung der einen Welt und der Existenz der vielen Welten nicht mehr auflösen zu wollen; in literaturwissenschaftliche Terminologie übersetzt: zugleich Fiktion zu werden und vieldeutig. Mit all diesen Fragen bewegt man sich allerdings einerseits auf dem bewußtseinsgeschichtlichen Problemhintergrund, auf den man zurückgehen muß, wenn man die Genese des modernen Romans und seines Erfolgs thematisieren will. Andererseits sind so die Schwierigkeiten, mit denen sich der Roman auseinanderzusetzen hatte, zunächst nur in bezug auf die Roman- und Dichtungstheorie beschrieben. Erfolgreich war der Roman aber in zweierlei Hinsicht. Nicht nur wurde er von der frühromantischen Poetologie zur entscheidenden Gattung stilisiert und ihm die Befriedigung von höchsten Theorieansprüchen bescheinigt, sondern vor allem war er für die Breite der Leserschaft zur beliebtesten Gattung geworden. Hierzu bleibt aber noch einmal eigens zu fragen, worin denn dieser Unterhaltungserfolg gründete. Nach Auskunft der Zeitgenossen beruhte das Interesse der Leser auf einer Beteiligung ihres Gemüts am Gelesenen.35 Unter dieser Voraussetzung wäre zu klären, mit welchen Mechanismen solche Beteiligung wahrscheinlich gemacht werden konnte. Was unterhielt eigentlich, und wie konnte eine erfundene Geschichte solches leisten, die doch scheinbar ein Bedürfnis gerade nicht befriedigen konnte - Neugierde?36 Wenn Neugierde aber doch im Roman bedient werden konnte, worin gründet dann der Wahrheitsanspruch dieses Neuen, das sich dort erfahren ließ?
Zum Vorgehen Die Genese des modernen Romans bekommt man allein in einer poetologie- und textgeschichtlichen Retrospektive nur verzerrt in den Blick. Das hat seinen Grund vor allem darin, daß der Roman die literarische Gattung der häuslichen Individuallektüre ist, die literarische Form also, die solche Rezeptionsweise am leichtesten ermöglichte und gerade dadurch dazu geeignet war, die zunehmende Macht der literarischen Öffentlichkeit zu unterlaufen. Deren Gewalt reichte 35 36
Siehe hierzu Garve: Über das Intereßirende. Sie wurde bereits 1680 von Christian Weise als einer der vier menschlichen Hauptaffekte angeführt (Zum andern ist man Curieus und wil allzeit was neues wissen; Kurtzer Bericht vom Politischen Näscher, 24).
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grundsätzlich nur eingeschränkt bis an die Orte der privaten Lektüre. 37 Ein gewichtiger weiterer Grund für die Unzulänglichkeit einer vorwiegend poetologieoder textgeschichtlichen Rekonstruktion der Romanentwicklung vor allem des späteren 18. Jahrhunderts ist in dem Faktor zu sehen, der wohl die meiste Energie in diesem Prozeß freigesetzt hat: die Publikumserweiterung. Durch welche stofflichen oder erzähltechnischen Veränderungen auch immer es dem Roman gelungen ist, im Verlauf eines Jahrhunderts zu der meistproduzierten und -rezipierten literarischen Gattung zu werden, in dieser unvergleichlichen Ausdehnung der Leserschaft fand der Roman zugleich einzigartige Chancen und Herausforderungen. Mit einem Massenpublikum rechnen zu müssen verwandelte das Möglichkeitsspektrum literarischer Kommunikation. Dabei muß die literarhistorische Analyse vor allem berücksichtigen, daß ein immer größerer Teil der Romanleserschaft gerade außerhalb jenes einigermaßen geschlossenen Kreises stand, in dem die theoriegeleiteten literarischen Debatten stattfanden oder doch aufmerksam verfolgt wurden. Das neue Publikum knüpfte nicht an den Bildungstand der humanistisch-rhetorischen Traditionen an, die in den poetologischen Diskussionen stets und mehr oder weniger offensichtlich präsent waren. Damit hängt zusammen, daß sich mit der neuen Leserschaft ein anderer Wahrheitsbegriff durchsetzte, dem die Erfundenheit der Fiktion zum Problem wurde. So geriet eine wirkungsvolle Spannung in die aufklärerische Wahrnehmung von Romanen. Während die im Einfluß der gelehrten Bildungstraditionen stehenden Rezipienten vom Roman lediglich erwarteten, sich auf den Wahrnehmungs- und Normenkontext der aufklärerischen Öffentlichkeit nachahmend zu beziehen, bedrohte die Formulierung radikaler Fiktionskritik den in der Homogenisierungsleistung dieses Weltbildes zur Verfügung gestellten Wahrheitswert der Literatur. Die sukzessive Lösung der daraus für den Roman resultierenden Schwierigkeiten ist ein komplizierter Prozeß der Umbesetzung von Glaubwürdigkeitsansprüchen. Dies führt zu dem dritten Grund für den notwendigen Perspektivwechsel der Arbeit: der Massenerfolg als integrales Moment in der Genese des modernen Romans ist nicht rekonstruierbar aus dem Blick der Textproduktion und der Poetologie auf die Texte, sondern nur anhand der Frage zu klären, was denn in der Sicht der Leser die Romane glaubwürdig machen konnte. Es soll also gefragt werden: wie nahmen sich im Blick des Lesers die Texte aus und was veränderte sich an und in diesem Blick? Die bisher in der Literaturgeschichtsschreibung vorherrschende Orientierung an den Texten geht allzu leicht den von diesen entfalteten Selbstdarstellungen nach. Was die Texte jedoch waren, wurden sie erst durch die Lektüre. Die so angedeutete Differenz von 37
So konnte zum Beispiel das öffentliche Urteil über die als phantastisch befehdeten Rittergeschichten der Spätaufklärung den Erfolg solcher Texte kaum mindern.
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verschiedenen literaturgeschichtlichen Perspektiven ist aber für den Roman von besonderer Bedeutung, weil diese Gattung wie keine andere zwischen den Forderungen einer anspruchsvollen Literaturtheorie und den Interessen einer erstmals großen, anonymen Leserschaft stand. Deshalb können die Selbtsproklamationen der Texte vielfach gänzlich an den Rezeptionsmöglichkeiten (und -wünschen) der breiteren Leserschaft vorbeigehen. Hieran nun schließen sich einige methodische Schwierigkeiten an. 38 Denn zum einen sind Quellen, die über individuelle Leseerfahrungen berichten, relativ seltene Funde, zum anderen müssen bei diesen meist retrospektiven autobiographischen Beschreibungen schwer kalkulierbare Stilisierungen angenommen werden. Außerdem ist die Repräsentativität solcher Zeugnisse sicher verzerrt, weil sie für den Untersuchungszeitraum in erster Linie von Schriftstellern vorliegen, also von überdurchschnittlich geübten Lesern. 39 Mit noch mehr Stilisierung muß bei der recht ergiebigen Gruppe von Quellen gerechnet werden, bei denen Romanleser als Motiv in literarischen Texten auftauchen. Hierzu liegen schon länger einige motivgeschichtliche Untersuchungen vor. 40 Jenseits eines Interesses am ästhetischen Spiel und an geistesgesichtlichen Verweisungszusammenhängen 41 ist das Verhältnis eines Don Sylvio zu realem Rezeptionsverhalten vor allem in zwei Hinsichten schwer zu bestimmen. Weder läßt sich leicht ausmachen, wie weit, noch, in welche Richtung bestimmte Übertreibungen und Stilisierungen gehen. So könnte man zum Beispiel in Gefahr geraten, die literarische Figur Don Quijote selbst für die Darstellung realer Phänomene mangelnder Lesekompetenz im 16./ 17. Jahrhundert zu halten. 42 Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich 38
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Über Stand und Probleme der empirischen Leserforschung zum 18. Jahrhundert geben Auskunft etwa Kiesel, Münch: Gesellschaft und Literatur, 154-179; Raabe: Bibliotheksgeschichte und historische Leserforschung; McCarthy: Lektüre und Lesertypologie im 18. Jahrhundert, 35-40, 45-55. Siehe hierzu die quellenkritischen Bemerkungen von Schön: Verlust der Sinnlichkeit, 308-312. Siehe etwa Kurth: Die zweite Wirklichkeit; Wuthenow: Im Buch die Bücher; Japp: Das Buch im Buche, und jetzt vor allem Bracht: Der Leser im Roman des 18. Jahrhunderts. Siehe etwa die ausfuhrliche Einordnung von Wielands Don Sylvio in den geistesgeschichtlichen Kontext bei Bracht: Der Leser im Roman, 43-70. In dieser Identifikation des 'doppelten Trugschlusses' von Don Quijote, weder die Fiktivität der Ritterromane zu bemerken noch die Differenz zwischen gelesener Welt und eigener Wirklichkeit aufrecht erhalten zu können, mit realem Leserverhalten: Assmann: Die Domestikation des Lesers, 97. Es ist so geläufig geworden, gerade Cervantes traurigen Ritter als eine metaphorische Illustration illusionärer Lektüre zu lesen, daß Gumbrechts Hinweis auf den pathologischen Charakter von Don Quijotes Verhalten wieder nötig erscheint. Sich ohne Fiktivitätssbewußtsein illusionsbildend auf erfundene Geschichten einzulassen ist noch etwas anderes als über der Identifikation mit der Textwelt die eigene Lebenswirklichkeit illusionär umzu-
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auch bei den Charakterisierungen von Lektüre im Rahmen der Lesesucht-Debatte am Ende des 18. Jahrhunderts, die immer wieder ganz bestimmte Bilder von ver- meintlich verbreiteten Lektüreformen entwarf, dabei aber in starkem Maße von den handgreiflichen Interessen im Streit um Bildungs-43 oder Marktprivilegien44 geprägt war. Demgegenüber wird in dieser Untersuchung neben Romanen und romantheoretischen Texten vornehmlich auf Rezensionen zurückgegriffen. Auch sie bieten natürlich keine 'authentischen* Beschreibungen von Leseerfahrungen oder unstilisierte Darstellungen von Rezeptionshaltungen. Dennoch weist diese Textsorte einige gewichtige Vorteile auf, die es lohnend erscheinen lassen, sich mit kritischem Blick auf diese Quellen einzulassen. Zunächst einmal liegen sie für das spatere 18. Jahrhundert in so großer quantitativer Dichte vor, daß sich ohne Schwierigkeiten verbreitete Sichtweisen und Regelmäßigkeiten gegen individuelle Ideosynkrasien abgrenzen lassen, systematische Verzerrungen von individuellen unterschieden und daher leichter kalkuliert werden können. Daneben sind die Rezensionen qua Textsorte zunächst einmal Beschreibungen von Lektüreerfahrungen, auch wenn die institutionalisierten Funktionen der Gattung diesen Beschreibungen bestimmte formale und inhaltliche Bedingungen vorgaben.45 So kommt es bei der Verwertung von Rezensionen als Quellen für die Rekonstruktionen möglicher Romanlektüren im 18. Jahrhundert darauf an, diese Zeugnisse nicht für unverstellte Auskünfte über reale Leseerfahrungen zu halten. Unter
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deuten. Zum letzteren bedarf es gar keiner Fiktion, Quijote hätte auch authentische Biographien lesen können, um auf die Idee zu verfallen, als Ritter auszuziehen - lediglich die Riesen und Zauberer wären dann weggefallen (Gumbrecht: Fiktion und Nichtfiktion, 201f.; siehe dagegen etwa Stierle: Was heißt Rezeption bei fiktionalen Texten, 260). Schon Mandeville stand der Alphabetierung der Massen skeptisch gegenüber: Lesen, schreiben und rechnen sind [...] filr die Armen höchstschädliche Dinge [...]. Menschen, die ihre Tage bis zu ihrem Ende mit einem von Arbeit bestimmten, erschöpfenden und mühsamen Leben zubringen müssen, werden sich um so geduldiger ein filr alle Male diesem Zustand unterwerfen, je früher man sie in ihn bringt. (Nach Watt: Der bürgerliche Roman, 42). Für das 18. Jahrhundert siehe die Belege bei Wittmann für die verbreiteten Vorbehalte gegenüber einer über Elementarkenntnisse hinausgehenden Bildung der Landbevölkerung (Der lesende Landmann, 14-22). In der Lesesucht-Debatte kam vor allem noch die Angst vor den gebildeten Frauen hinzu, die nicht nur etwas wußten, sondern nun angeblich auch den Haushalt zu vernachlässigen drohten und aus den Romanen überhöhte Erwartungen gegenüber den Männern bezogen. Dabei ging es unter anderem auch um buchhändlerische Kontroversen; siehe hierzu Bracht: Der Leser im Roman, 440-448. Als überblicksartige Chronologisierung der Romanrezensionen der dritten bis sechsten Dekade siehe Spiegel: Der Roman und sein Publikum im frühen 18. Jahrhundert, 59-80.
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dieser Voraussetzung aber ist es möglich, die Romanrezensionen für die hier aufgeworfenen Fragen als Quellen heranzuziehen - sofern man weniger darauf achtet, was die Rezensenten an den Texten gesehen haben, als vielmehr darauf, wie sich der Blick auf die Romane verändert hat. Übrig bleibt aber noch eine andere Schwierigkeit, die auf diese Weise nicht einfach behoben werden kann. Rezensionen geben nicht allein keine authentische Auskunft Ober die jeweilige Lektüreerfahrung des einzelnen Kritikers, sondern sie lassen sich auch nur schwer bestimmen in ihrem Verhältnis zu verbreiteten Leseformen. Zweifellos repräsentiert die Summe der Rezensenten ein überdurchschnittliches Bildungsniveau und vor allem eine überdurchschnittliche Lesekompetenz. Wie groß aber sozusagen der Vorsprung ist, den sie besaßen gegenüber dem 'durchschnittlichen Leser', läßt sich kaum ermitteln (wobei allemal fragwürdig bleibt, ob die Konstruktion eines solchen Durchschnittslesers überhaupt möglich oder sinnvoll wäre). Die Repräsentativst der anhand der Rezensionen zu gewinnenden Ergebnisse über die Veränderungen der Romanlektüre im 18. Jahrhundert steht also in Frage. Dagegen kann sich die Untersuchung nur dadurch absichern, daß sie gar nicht den Anspruch erhebt, zu rekonstruieren, wie im 18. Jahrhundert gelesen wurde, sondern es ihr nur um die Logik der Problemgeschichte bei der Herausbildung 'moderner' Lektüreformen am Roman geht. Es soll also nicht ein aufgefächertes Spektrum möglicher und praktizierter Lektüreformen erstellt werden, sondern es geht allein um die Folgerichtigkeit der entscheidenden Umbesetzungen in den Rezeptionsoptionen gegenüber fiktionalen Texten. Nicht auf Vollständigkeit und quantitative Breite zielt also die Untersuchung, sondern auf die Beschreibung der erkenntnisträchtigen Differenzen innerhalb des möglichen Umgangs mit den zunehmend als fiktional begriffenen Romanen. Keine reale Geschichte des Lesens wird rekonstruiert, sondern anhand der Rezensionen soll die Typik einer Entwicklung in ihren wesentlichen Schritten nachgezeichnet werden, welche die entscheidenden Oppositionen von Lesehaltungen in der Moderne beschreibt. Die Kommunikationsgemeinschaft zwischen den Texten und den Rezensenten als überdurchschnittlich geübten Lesern wird also herangezogen, um nachzuzeichnen, was geschieht, wenn Leser mit deutlichen Vorbehalten beginnen, literarische Erzähltexte zu lesen - und wie diese Leser mit dem immer klareren Bewußtsein von der Künsdichkeit dieser Geschichten umgehen. Der Erklärungsanspruch der Ergebnisse muß also in dem Maße einschränkt bleiben, wie die Entwicklung und Herausbildung der zentralen Differenzen in den Rezeptionsformen gegenüber Erzählliteratur anhand der (in ihrem Bildungsstand besonderen) Lesergruppe der Rezensenten nicht als exemplarisch rekonstruiert werden könnte. In diesem Punkt muß die Arbeit auf die Evidenz ihrer Ergebnisse ver-
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trauen. Der quantitative Vorteil, den die Rezensionen in diesen Fragen etwa gegenüber den Zeugnissen der intensiven theoretischen Debatten übers Lesen vom Ende des 18. Jahrhunderts versprechen, liegt nicht in der Möglichkeit, bestimmen zu können, wie verbreitet bestimmte Rezeptionsformen tatsächlich waren. Vielmehr liegt der Vorteil einer gewissen Breite des Quellen materials in der relativen Konstanz der Verzerrungen, die daraus resultieren, daß allen Romanrezensionen wenigstens das eine gemeinsam ist, daß sie einen anderen Text zu charakterisieren versuchen. Entsprechend soll nicht die Verbreitung bestimmter Rezeptionshaltungen ermittelt werden, sondern die Abfolge bestimmter Wahrnehmungsveränderungen gegenüber den Texten. Anders als in den Rezensionen mischen sich in den lesetheoretischen Beiträgen erheblich unkontrollierter systematische Konzeptionen, Idealvorstellungen, Leserdidaxen und Klischees über den 'Lesepöbel', so daß aus diesem ungeordneten Material nur schwer eine Genese zu konstruieren ist. Die Auswertung der Rezensionen ist anhand bestimmter Suchbegriffe vorgenommen worden, eine rein textoberflächliche Registrierung einzelner Wörter erwies sich als wenig sinnvoll, weil oftmals einige sehr beliebte Argumentationsfiguren gerade unter Vermeidung der poetologisch einschlägigen Termini benutzt wurden. Zum Beispiel wird die Standardformel von der Nachahmung der Natur in den Rezensionen relativ wenig gebraucht, obwohl sie dennoch implizit immer wieder als Kriterium die Beurteilungen prägt. Insbesondere bis zum Ende der 1760er Jahre kann zurecht eine relative Homogenität der Einstellung zum Roman überhaupt und der Wertungskriterien6 in den gelehrten Zeitschriften unterstellt werden. Dennoch gehört es gerade zu der hier zu beschreibenden Entwicklung der Veränderung von Romanlektüren, daß sich im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts diese Homogenität der Kriterien und Maßstäbe auflöste. Im Rahmen der Literaturfehden zwischen den verschiedenen Strömungen von Aufklärungstradierung (ADB), Sturm und Drang (Frankfurter Gelehrte Anzeigen 1772), Klassik (Hören), Romantik (Allgemeine Literatur-Zeitung, Athäneum) ist es dann durchaus von Bedeutung, wo die Rezension erschien 47 - und zunehmend auch, von wem sie stammt. 48 46 47
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Spiegel: Der Roman und sein Publikum, 60. Kurze Charakterisierungen und Literaturhinweise zu den wichtigsten Zeitschriften liefert Wilke: Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts; siehe dort auch die Hinweise zur Forschungsgeschichte (1, 14-25); siehe ergänzend auch Hocks, Schmitt: Literarische und politische Zeitschriften 1789-1805. Die allermeisten Rezensionen erschienen anonym, waren aber in einigen Organen mit Siglen gekennzeichnet. Eine systematische Auflösung der Siglen wurde (soweit möglich) nach Partheys Listen für die ADB vorgenommen. Darüber hinaus wurde auf die Auskünfte Goedeckes zurückgegriffen und auf die bekannten Hebungen der Anonymität einzelner Beiträge (siehe etwa die Bibliographien in: Texte zur Roman-
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Pictura- und Fabelprinzip Inhaltlich orientiert sich die Rekonstruktion in diesem Teil der Arbeit an den beiden Problemzusammenhängen von Fiktion und Vieldeutigkeit, die im 18. Jahrhundert vertreten waren durch die Fragen der literarischen Wahrscheinlichkeit (pictura-) und der textlichen Vermittlung von Bedeutung durch die literarische Fabel (Fabelprinzip). Diese beiden Größen geben also die Perspektiven vor, in denen die Quellen aufgearbeitet werden. Dabei ist das Begriffspaar von pictura- und Fabelprinzip der Untersuchung von Brunemeier zu Vieldeutigkeit und Rätselhaftigkeit entlehnt, worin ein wichtiger theoriegeschichtlicher Problemaufriß als Hintergrund für die vorliegende Arbeit bereitgestellt ist. Wechselt man allerdings den Fokus von der Poetologiegeschichte zu dem Verhältnis zwischen Text und Lesern, so ergeben sich ganz andere Antworten auf die Frage nach der Genese von Vieldeutigkeit. Dann stehen nicht mehr die begrifflichen und argumentativen Traditionen im Vordergrund, sondern das Problem der Glaubwürdigkeit von Texten, die sich in zwei Dimensionen vermittelt: zum einen auf der repräsentativen Ebene der pictura, für die 'Wahrscheinlichkeit' im 18. Jahrhundert die zentrale Kategorie ist, und zum anderen über den den Text symbolisch instrumentalisierenden Bezug auf eine übergeordnete abstrakte 'Wahrheit' *9 Den beiden thematisierten zentralen Charakteristika der Literatur in der Moderne (Fiktion, Vieldeutigkeit) korrespondieren also im 18. Jahrhundert zwei Vertextungsformen, das pictura- und das Fabelprinzip. Dementsprechend gliedert sich die Untersuchung in zwei Teile, in denen diese beiden Themenkomplexe jeweils eingehenden literarhistorischen Rekonstruktionen unterzogen werden. Beide Teile beginnen jeweils mit einem methodisch eher traditionellen, poetologie- und geistesgeschichtlichen Aufriß der historischen Genese des jeweiligen Problemzusammenhangs. Dabei handelte es sich zunächst um die in der Wahrscheinlichkeits-Kategorie seit der Renaissance vorbereitete Antwort auf die neuerlich sich regenden Vorwürfe gegen die Dichtung im allgemeinen und den aus der Tradition nicht autorisierten Roman im besonderen. Der Logik dieser Ver-
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theorie 2, Hg. Weber; Romantheorie 1620-1880, Hg. Lämmert). Die Autorennamen werden (sofern ermittelt) nur dann genannt, wenn es für die Bewertung der Rezension in irgendeiner Weise relevant zu sein scheint. Aufwendigere Recherchen zur Auflösung der Anonymität in einzelnen Fällen schienen in keinem angemessenen Verhältnis zum Erkenntnisgewinn zu stehen. Korrigierend und vereindeutigend ist darüber hinaus auch immer wieder mit scheinbar unmittelbarer Rede des Kommentars oder der Lesersteuerung in den Vorreden in die Narration eingegriffen worden. Doch erwies sich diese dritte Dimension der Beglaubigungs-Sicherung als dysfunktional sowohl gegenüber den Illusionswirkungen der Wahrscheinlichkeit als auch gegenüber den Überzeugungsleistungen einer präzis auf ein fabula docet hin gearbeiteten Geschichte. Siehe hierzu Kapitel 8.
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teidigung blieb der Roman im 18. Jahrhundert noch verpflichtet, obwohl zwischendurch die Tatsächlichkeitsnorm, die Suggestion faktischer Wahrheit, diesen Zusammenhang überlagerte. In den beiden folgenden Kapiteln und in einem Exkurs wird dann die Frage der Fiktivität des Romans historisch aufbereitet. Das heißt, es werden die spezifischen Bedingungen aufgezeigt, unter denen Fiktivität dem Roman zum Problem wurde, und es werden die Strategien nachgezeichnet, mit denen dieser Schwierigkeit begegnet worden ist. Damit ist dann der Weg geebnet für die Rekonstruktion der Genese von Fiktion im Blick des Lesers, von fiktionalem Lesen. Die literarische Wahrscheinlichkeit ist nur scheinbar ein gut erforschter literarhistorischer Gegenstand, der meistens im Zusammenhang mit der Erörterung aufklärerischer Poetiken erwähnt wird. Insbesondere ist die Wahrscheinlichkeit meist nicht als ein spezifisches Vertextungsverfahren zur Sicherung von Wahrheitsansprüchen50 thematisiert worden, weil die Forschung überwiegend in retrospektiver Normativität die Wahrscheinlichkeit als dasjenige aufgriff, was zugunsten von Einbildungskraft, Phantasie, dem Erhabenen und anderen Leitbegriffen der klassischen Ästhetik überwunden werden mußte. So ist die Wahrscheinlichkeit zum Gegenbegriff des Wunderbaren avanciert, und der historisch eher untergeordnete Streit zwischen Gottsched und den Schweizern wurde immer wieder zu einer gewichtigen Debatte im Interesse eines literarischen Fortschritts stilisiert.51 Etwas mehr Gewicht erhält die Wahrscheinlichkeit in den meist poetologisch orientierten literarhistorischen Darstellungen des 17. Jahrhunderts. Auf einige der einschlägigen Beiträge wird vor allem im ersten Teil der Arbeit verwiesen. In einer ausführlichen Untersuchung hat zuletzt Seiler die Rolle der Wahrscheinlichkeit für die Erzählliteratur seit dem 18. Jahrhundert untersucht und in Kompensation der vorherrschenden literaturwissenschaftlichen Fixierung auf klassisch-ästhetische Autonomie-Konzepte die fiktionale Autonomie der Literatur sehr weitgehend in Frage gestellt.52 Ohne das Recht der Polemik gegenüber den literaturwissenschaftlichen Dekretionen einer 'richtigen', angemessenen Lesart zu bestreiten, soll hier dagegen versucht werden, der historischen Genese von mehreren, sich oppositionell gegeneinander abgrenzenden, Rezeptionshaltungen nachzugehen. Die Alternative zwischen Autonomie und Referenzialität 50
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Von 'Wahrheit' ist in dieser Arbeit immer nur im Sinne der von den jeweiligen Texten aufgebauten und von den jeweiligen Rezipienten akzeptierten Geltungsansprüche die Rede. Siehe hierzu jetzt den ausfuhrlichen Forschungsbericht von Horch und Schulz: Das Wunderbare und die Poetik der Frühaufklärung. Bernd Seiler: Leidige Tatsachen. Von den Grenzen der Wahrscheinlichkeit in der deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert.
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wird also nicht als eine beschrieben, zwischen der sich, wer mit Literatur umgehen will, zu entscheiden hätte. So sind aus der Rolle, die die literarische Wahrscheinlichkeit für die Herausbildung des modernen Literaturverständnisses spielt, einige Schlußfolgerungen zu ziehen, die dann im Lichte der neueren Fiktionstheorie beschrieben werden sollen. Im zweiten Teil wird dann zunächst das andere mächtige Erbe des 17. Jahrhunderts in dem Erzählmodell thematisiert, mit dem der 'hohe' Barockroman in ideologischer Auseinandersetzung mit dem 'niederen' zugleich seine textliche Einheit finden und dem umfassenden Sinnlosigkeitsverdacht eine Sinnbehauptung entgegensetzen konnte. Auch dieses Kapitel ist methodisch vorwiegend noch an der Dichtungs- und Romanpoetologie orientiert;53 zum einen, weil es kaum Quellen gibt, in denen Lesererfahrungen dokumentiert sind, zum anderen, weil es die Ergebnisse der in den recht engen literarischen Zirkeln des 17. Jahrhunderts geführten Debatten sind, die nicht nur der Romantherorie des 18. Jahrhunderts die Stichworte und Argumentationswege vorgaben, sondern die auch entscheidenden Einfluß auf die gesamte Gattungsentwicklung in der Aufklärung hatten. Zum Fabelprinzip als einer eigenen Vertextungsform gibt es bisher keine eingehendere Forschung. Allein im Zusammenhang der Fabelforschung und innerhalb der Diskussionen zu Gottsched und den Schweizern taucht dieser Zusammenhang immer wieder einmal auf. Doch da Ästhetik und Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts sich vor allem am Drama abarbeiteten, ist der Fabelaspekt auch in der literarhistorischen Rekonstruktion weit in den Hintergrund getreten, weil meistens die hochaufklärerische Wirkungsästhetik als eine Überwindung der Gottschedschen rationalistischen Dramaturgie thematisiert wird.54 So geraten die Fragen der emotionalen Identifikation, der Mitleiderregung in den Vordergrund und verdrängen die Tatsache, daß im Fabelprinzip eine der bis heute wirkungsmächtigen Formen der Rezeption literarischer Texte vorbereitet wurde nämlich sie auf ihre 'Bedeutung' hin zu lesen. Die Geschichte der Schwierigkeiten, welche sich den Zeitgenossen mit dem Fabelprinzip auftaten, die Probleme der Vereindeutigung der mit seiner Hilfe illustrierten Botschaft, wirfit vielleicht ein anderes Licht auf die Frage literarischer Vieldeutigkeit, die bisher vornehmlich in systematischer Entfaltung erörtert wurde. Im literarhistorischen Rekurs könnte es möglicherweise gelingen, Vorschläge dafür anzudeuten, wie Vieldeu53 Zur Geschichte der romantheoretischen Reflexion kann dabei vor allem zurückgegriffen werden auf Voßkamp: Romantheorie; siehe aber auch die beiden Nachworte von Weber in den von ihm herausgegebenen Quellenbänden. 54 Solche Ausrichtung gibt zum Beispiel schon der Titel wieder von Herrmanns Abhandlung: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670-1740.
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tigkeit oder Ambiguität als brauchbare Beschreibungsformen moderner Literatur verstanden werden können, ohne an die Polysemie von Sprache überhaupt angeschlossen werden zu müssen55, wie sich also von der Vieldeutigkeit moderner Texte sprechen ließe, ohne daß man sich zugleich all die Probleme sprachlicher Semantik überhaupt auflädt. Das Fabelprinzip wird hier thematisiert als ein Instrument innerhalb der Verständigung zwischen Autor und Leser, das die erzählte Geschichte als ganze zu funktionalisieren erlaubt, ihr also dadurch ihre Einheit verleiht, sie zu einer Welt werden läßt. Am Ende der hier zu beschreibenden Entwicklung nahm (in den Augen der Leser) immer häufiger der Autor selbst den sinnstiftenden Punkt hinter dem Werk ein, während sich aber zugleich auch die Möglichkeit andeutete, vom Autor völlig abzusehen und den Text ganz 'um seiner selbst willen' zu rezipieren. In beiden Fällen zeichnet sich die Möglichkeit ab, den Text als eigene Welt gelten zu lassen. Romane als eigene Welten lesen zu lernen aber heißt, eine Geschichte ernst nehmen zu können, obwohl man weiß, daß sie erfunden und konstruiert ist, sie also unter einem Aspekt lesen zu können, aus dem heraus ihre Faktizität oder die vermeintliche Natürlichkeit ihrer Präsentation nicht höchste Priorität besitzen. Dies aber sind im Zeitalter des newtonschen Wirklichkeitsverständnisses Kulturtechniken56, die erlernt und angewandt werden müssen. Von der eigenen Logik im Herausbildungsprozeß solcher Lektüreformen handelt diese Untersuchung.
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Ein ausfuhrliches Resümee des Standes der Auseinandersetzung zu diesem Zusammenhang liefert Bode: Ästhetik der Ambiguität. Über den Forschungsstand zur 'Kulturtechnik Lesen' informiert der Literaturbericht von Fritz und Suess: Lesen. Die Bedeutung der Kulturtechnik Lesen fur den gesellschaftlichen Kommunikationsprozess. Auf die Diskussion der historischen Leseforschung wird hier nur gelegentlich eingegangen, insofern nämlich ihre Ergebnisse im Zusammenhang stehen mit den hier sozusagen als abstrakte Idealisierung rekonstruierten grundsätzlichen Verhaltensmöglichkeiten gegenüber literarischen Texten.
Erster Teil:
Diese oder eine andere Welt. Literarische Wahrscheinlichkeit Fiktivitätsbewußtsein der Leser - Wahrheit
2. Poetologischer Rückblick: Die Tradition der Romanlegitimation durch 'Wahrscheinlichkeit' im 16. und 17. Jahrhundert
Die theoretischen Debatten, welche Gestalt und Konzeption des modernen Romans prägten, nahmen ihren Ausgang in der Renaissance. Dabei wurden aufgrund von Problemkonstellationen in den literarischen Debatten, welche die relativ kleine Gruppe der Lesenden führten, weitreichende Vorentscheidungen getroffen. Die Zahl derjenigen, die einen Einfluß auf 'die Literatur' hatten, war noch recht gering, prägte aber dennoch die literarischen Traditionen ebenso wie die Begriffe und Kategorien, mit denen über die literarischen Texte geurteilt wurde und denen die Autoren sich ausgesetzt sahen. Für die Untersuchung von Fiktion und Wahrheit am Roman des 18. Jahrhunderts ist vor allem ein Blick auf die besondere Rezeption von Aristoteles seit der Renaissance und auf die zum Teil ganz eigensinnigen Interpretationen seiner Poetik wichtig. Schon die Renaissance beeinfluBte die literarische Tradition nachhaltig und mit großen Folgewirkungen für die Geschichte des Romans in den folgenden Jahrhunderten, indem das 16. Jahrhundert Aristoteles neu las und ihm binnen kurzem höchste Autorität in poetologischen Fragen zusprach. Als sich die dichtungstheoretische Reflexion der Renaissance auf Aristoteles' Poetik zu beziehen begann1, hätte es allerdings um das Ansehen der erzählenden literarischen Gattungen durchaus erst einmal geschehen sein können. Denn nicht nur schätzte Aristoteles die Tragödie höher ein, sondern vor allem seine von Bernardino Daniello (1536) zuerst aufgegriffenen Kriterien der Einheit und der Wahrscheinlichkeit mußten die neueren Erzähltexte abwerten. Mangel an stilistischer Höhe, verwirrende Handlungsvielfalt und Unwahrscheinlichkeiten standen dem entgegen. Insofern bleibt es erstaunlich, daß die überwältigende Flut des
Buck nennt die erste einigermaßen zuverlässige Ausgabe der Poetik für 1508, ihre erste einschlägige Erwähnung 1S24 durch Giangiorgio Trissino (Buck: Einleitung, 29f., siehe auch insgesamt zum Folgenden); zur Aristotelischen Dichtkunst allgemein siehe Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie, 3-98, zur Aristoteles-Rezeption der italienischen Renaissance 187-211.
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Poetologischer Rückblick: 'Wahrscheinlichkeit' im 16. und 17. Jahrhundert
aristotelischen dichtungstheoretischen Schrifttums in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts weder Epos noch Roman entscheidend abwerten konnte.2 Das Epos galt trotz der Aristoteles-Rezeption ungebrochen als die höchste und universalste3 Gattung, wie Tasso es am Ende des Jahrhunderts in seinen Discorsi del poema eroico noch einmal darstellte. Antike-Rezeption zielte in der Renaissance offenbar nicht nur auf die Wiedererweckung des Alten. Gerade die Begeisterung für den Stagiriten resultierte maßgeblich aus der Eignung seiner Theoreme dazu, die humanistische Dichtungsbegeisterung durch eine poetologische Begründung zu rechtfertigen. Obwohl der Piatonismus der Dichtung über den furor poeticus eine verschlungene Existenzberechtigung gerettet* hatte, ver-
mochte die Dichtkunst das ontologische Stigma eines nur sekundären Nachbildens in platonischer Tradition nicht gänzlich zu überwinden. Wollte man dem seit dem Tridentinischen Konzil erhöhten Legitimationsdruck auf die Künste und einer gerade durch die humanistische Poetenverehrung provozierten Kritik überzeugend begegnen, so lieferte die aristotelische Poetik wirkungsvolle und hinlänglich autorisierte Stichworte. Dieser Bezug erwies sich für die Literatur selbst bei solchen Gattungen als der entscheidende, die in der Poetik gar nicht erwähnt sind. In diesen Fällen hing alles davon ab, ob die Apologeten sich mit als aristotelisch geltenden Argumenten zu wappnen vermochten oder ob solcher Versuch mit dem Vorwurf der falschen Deutung zurückgewiesen wurde. Für den Roman jedoch schien das argumentative Angebot der Poetik dürftig zu sein - geringer noch als für das Epos. Dabei hatte man Aristoteles wesentlich gerade erst mit denjenigen Lesarten versehen, die den Roman ins poetologische Abseits stellten. In recht gewagten Interpretationen war der Vers zum verbindlichen Signum der Dichtung erklärt, die Einheit der Handlung und die Wahrscheinlichkeit der Nachahmung zu zentralen dichtungstheoretischen Normen stilisiert worden. Die Tendenz zur Verwilderung des zeitgenössischen Romans lief diesen Regelvorstellungen deutlich zuwider, so daß die orthodoxen Aristoteliker diese Gattung auch heftig befehdeten. Wie wenig eine Aristoteles-Rezeption aber per se zu einer Reputationsschädigung des Romans hätte führen müssen, wird dadurch deutlich, daß einige Autoren mit aristotelischen Argumenten gera2
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Siehe aber Grimm, der ein negatives Urteil über den Roman für die verbreitete Selbstverständlichkeit am Ende der romanzi-Debatte hält (Leser und Kritiker des mittelalterlichen Romans, 128); dagegen Stierle: Die Verwilderung des Romans, etwa 278-315, sowie: Buck: Einleitung, 44-46. Grimm: Leser und Kritiker des mittelalterlichen Romans, 128. Wehle: Eros in Ketten, 169; siehe dort den Zusammenhang auch zum Folgenden, sowie Buck: Einleitung, 13f. Etwa bei der Pastorale und der Novelle, siehe hierzu Buck: Einleitung, 29, 41f. Siehe hierzu etwa Buck: Einleitung, 31-24, 37. Siehe Stierle: Die Verwilderung des Romans, 279.
Poetologischer Rückblick: 'Wahrscheinlichkeit' im 16. und 17. Jahrhundert
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de gegen die Verbindlichkeit des Verses in der Dichtung argumentierten. Den Vers konnten sie dabei als unwahrscheinlich kritisieren, indem sie den MimesisBegriff realistisch-abbildlich deuteten.8 Die Polemik gegen die Prosaerzählungen hatte vor allem aus zwei Gründen kein leichtes Spiel. Die Texte erfreuten sich äußerster Beliebtheit, und diese ließ sich nicht leicht trivialisieren, weil mit Boccaccio und Ariost zwei sehr angesehene Autoren auf Seiten der inkriminierten Gattungen standen. Vor allem galt dies jedoch fur Ariost, denn er war zwar mit dem Orlandofitriosoim Epischen geblieben, hatte aber durch die parodistisch-komische Form geradezu eine 'contradictio in adiecto' geschaffen, so daß der Orlando überwiegend als romanzo
eingestuft wurde. Die Voraussetzungen waren daher günstig für eine lebhafte Literaturfehde - die romanzi-Debatte.10 Dabei erlaubte die durch die Auseinandersetzung mit Aristoteles entstandene Konstellation offenbar nicht mehr, die neue Gattung an seine, nun autorisierte, Poetik anzuschließen. Daß der Roman hierbei als neu und durch keine antike Tradition legitimiert aufgefaßt wurde, Schloß seine Verfasser aus dem Parnaß aus, für einen Sieg der Modernen in dieser Querelle war das neuzeitliche Selbstbewußtsein aber noch zu schwach. Differenzierende Argumente, wie das vom Wandel des literarischen Geschmacks im Laufe der Zeiten oder der Unanwendbarkeit der aristotelischen Poetik auf eine dem Stagiriten unbekannte Gattung11, vermochten sich nicht durchzusetzen. Je deutlicher in der romanzi-Debatte die Quire//e-Implikationen herausgestellt wurden, desto aussichtsloser dürfte die Position der 'Modernen' gewesen sein. Offenbar trug die Konstellation Züge der Unausweichlichkeit: so wie Aristoteles gelesen wurde, mußten die romanzi gegen ihn gerechtfertigt werden, gerade dadurch aber hatten sie einen zu mächtigen Gegner erhalten. Bezeichnenderweise erzielte ein Jahrhundert später Huet bei der theoretischen Rechtfertigung des Romans große Bodengewinne eben durch den Nachweis antiker Traditionen. Erst durch die Beseitigung dieses Mankos konnte der klassizistische Anschluß der Gattung an aristotelische Kategorien sich durchsetzen und wirksam werden.12 Eine neue poetologische Situation ermöglichte es nun, den vorher selbst8 9 10
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Siehe Buck: Einleitung, 34. Hempfer: Textkonstitution und Rezeption, 83. Siehe hierzu ausführlich Weinberg: History of Literary Criticism, 954-1073, sowie Winklehner: Legitimationsprobleme einer Gattung, 20-29, und Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie, 199ff. A. Michele: Discorso, 1592, und Giambattista Giraldi: Discorso, 1554. Zu den Quere/fe-Implikationen gerade der romanzi-Verteidigung Giraldis siehe Buck: Einleitung, 44f. Huets Τταϊίέ erschien zuerst 1670, wurde bereits 1682 von Happel ins Deutsche übertragen und hatte immensen Einfluß auf die Romantheorie. Siehe Hinterhäuser: Nachwort, sowie zu dem Zusammenhang Voßkamp: Romantheorie, 75, und Heit-
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verständlich scheinenden Widerspruch des Aristotelismus zum Roman zu verwischen. Es waren also spezifische Konstellationen in der italienischen Renaissance zunächst dafür verantwortlich, daß der Roman als eine 'neue' Gattung aufgefaßt wurde und so in Gegensatz zum Aristotelismus als der nun bald vorherrschenden dichtungstheoretischen Strömung geriet. Aus dieser Lage befreite erst die französische Klassik den Roman. So dürfte die Fehde über die romanzi im Cinquecento in erster Linie unentschieden geblieben sein, weil es noch nicht gelang, die Gattung aus ihrer semantischen Gegenposition zu Antike und Tradition zu lösen und gerade in diese Bedeutungsfelder zu integrieren. In Deutschland, wo die Querelle ja erst spät mit modernem Selbstbewußtsein ausgetragen wurde13, versuchte zuerst die Romantik offensiv, den Roman gegen die klassizistisch-aristotelischen Kategorien zu rechtfertigen. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts war das Ansehen der Romane ein widersprüchliches - poetologisch eher schlecht beleumdet, erfreuten sie sich deutlicher Beliebtheit bei den Lesern. Die Auflösung dieses Widerspruchs durch die Integration des Romans in den Kanon der Literatur im französischen Klassizismus müßte als ein interner Vorgang in einigen literaturtheoretisch aufgeschlossenen Kreisen nicht weiter interessieren, wenn er ein immanentes poetologisches Phänomen geblieben wäre. Erstaunlicherweise erbrachte aber die Herausbildung der doctrine classique und die Anschließung des Romans an sie nicht nur grundsätzlich bessere Möglichkeiten zur theoretischen Legitimierung der Gattung, sondern vor allem konnte so ein ungewöhnlich erfolgreiches Ensemble von Erzählmodi herausgebildet werden, das bald die gesamte Romanproduktion bestimmte: mit dem Entwurf des klassischen Erzählkonzepts ging eine Veränderung des Publikumsgeschmacks einher. Das wirft die Frage auf, was die neuen (Prosa-) Normen interessant machte, was sie sozusagen anzubieten hatten und was ihren rezeptionswirksamen Vorteil gegenüber den vorher bestimmenden Werken ausmachte. Nun ist die Entstehung der französischen Klassik deutlich wie selten ein literarhistorischer Epochenumschwung mit einem politischen Programm verknüpft gewesen. So kann Schober bereits 1967 eine sozialgeschichtliche Deutung fur kanonisch erklären:
13
mann: Einleitung, 301f. Siehe auch Buck (Dichtungslehren, 49): Mit Argumenten aus der gleichen klassizistischen Poetik, in deren Namen die Verächter des Romans ihn verdammten, suchte ihn der Universalgelehrte Pierre Daniel Huet in seinem 'Traiti de l'origine des romans' (1670) zu rechtfertigen. Diese These von Jauß vermag auch die umfangreiche Quellenstudie von Kapitza nicht zu widerlegen, die sich explizit als Gegenentwurf dazu versteht (Bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt, 5; siehe Jauß: Schlegels und Schillers Replik auf die Querelle).
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Die Erkenntnis, daß die Herausbildung der klassischen Doktrin im Zusammenhang mit der Konstituierung des französischen Absolutismus zu sehen ist, kann heute bereits als Gemeinplatz betrachtet werden.14 Seit langem werden entsprechend Zweifel an einer einfachen Abfolge der Epochen und damit auch an der Vorstellung eines beständigen Fortschritts in Richtung auf ein klassisches Ideal15 vorgetragen. Zunehmend geläufig sind die Einschätzungen dieses literaturgeschichtlichen Prozesses als einer regelrechten Strategie, der gelungenen Durchsetzung einer neuen poetologischen Richtung, einer bataille classique : Es besteht ein evidenter Zusammenhang zwischen dem Unternehmen Richelieus, einem in die Quasi-Anarchie aristokratischer Parteiungen versunkenen Staatswesen durch planvolle Neugestaltung auf der Grundlage des Autoritätsprinzips einen festeren inneren Zusammenhalt zu geben und es dadurch zu besserer Erfüllung seiner Aufgaben zu befähigen, und der systematisch betriebenen Reglementierung der Literatur. Der Reorganisation des französischen Staates durch den Kardinal entspricht die des französischen Parnass durch die um 1600 geborene, seit etwa 1630 tonangebende Kritikergeneration. Hier wie dort triumphieren neue Ordnungsprinzipien über Selbstherrlichkeit und ziellose Willkür. Der Zusammenhang zwischen Politik und Poetik ist kein bloß analogischer, sondern ein realer: es gehörte mit zu den politischen Zwecken, die Richelieu bei seiner Gründung einer 'Acad&nie Frangaise' verfolgte, als er dieser unter anderem die Erarbeitung eines Handbuches der Dichtkunst zur Aufgabe machte. Aus solchen sozialgeschichtlichen Erklärungen geht jedoch noch nicht hervor, was gerade den langfristigen Erfolg der klassischen Poetologie ermöglichte. 14 15 16 17
Schober: Die klassische Doktrin, 65f. Floeck: Diverslti und Simpliciti, 102. Wehle: Eros in Ketten, 186. Heitmann: Einleitung, 280. Die Frage, wie sehr es sich bei Barock und Klassik um zwei aufeinanderfolgende Literaturepochen handelt und wie sehr sich beide durchdringen, scheint zumindest in der Verteilung der Akzente noch nicht recht geklärt zu sein. Heitmann versteht die doctrine classique zugleich als eine doctrine baroque und zählt den theoretischen Protest gegen die Extremphasen des Barock zu diesem selbst auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung (Einleitung, 279, 280). Floeck will dagegen lediglich das Nachzeitigkeitsbild differenzieren und sieht - die Forschung resümierend - eine allmähliche Einigung in der Festlegung des Barock auf die erste Jahrhunderthälfte (siehe: DiversM und Simpliciti, etwa 114, aber auch 101f.). Ähnlich Wehle: Eros in Ketten. Zur Problematik des Barockbegriffs für den deutschen Kontext siehe Conrady: Lateinische Dichtungdstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts, 9-16. Einen äußerst anspruchsvollen Vorschlag zum Verständnis der ftanzösichen Klassik als Form der Selbstprofilierung der höfischen Gesellschaft gegenüber der Feudalität hat Wehle am Konflikt der beiden dramatischen Darstellungsprinzipien merveilleux und vraisemblance entfaltet (siehe: Eros in Ketten).
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Besonders die intensive Rezeption der zentralen klassizistischen Normen in Deutschland scheint eine Differenzierung zu erzwingen zwischen den Möglichkeiten der unmittelbaren gesellschaftlichen Durchsetzbarkeit der klassischen Kunstauffassung und den Gründen ihres fortdauernden Einflusses auch dort, wo gänzlich andere politische und soziale Voraussetzungen herrschten, und noch dann, als die kulturelle Abgrenzung einer zahlenmäßig begrenzten Elite 18 nicht mehr die erfolgsgarantierende Funktion sein konnte. Die geringe Bedeutung des biens£ance-Kriteriums in Deutschland zeigt allein schon, daß es hier nicht um die normative Selbständigkeit einer politisch abgewerteten gesellschaftlichen Oberschicht ging. 19 Kulturelle Zerrissenheit und Kleinstaaterei ließen die Entstehung einer solchen Interessengemeinschaft gar nicht zu. Deshalb muß es andere Gründe geben für die nachhaltige Wirkung der klassischen Theoreme. Auch in den deutschen Staaten lebte im 17. Jahrhundert eine fundamentale Kritik an Literatur auf. 20 Die klassizistische Lesart der aristotelischen Poetik lieferte dagegen sehr nützliche Argumentationshilfe. Sie erbrachte - in Verbindung mit der geläufig gewordenen Umdeutung des Horazischen aut prodesse aut delectare zu einem et prodesse et delectare21 - eine der vielversprechendsten Möglichkeiten der Dichtungslegitimation: ihren integrativen Anschluß an moralischen Nutzen. 22 Wer behaupten konnte, die Literatur bessere die Menschen (über die Katharsis oder das Exempel), der hatte starke Argumente auf seiner Seite, gegen die die Dichtung kaum noch angegriffen werden konnte. 23 Die paganen Tugendlehren waren zu mächtig, als daß man gegen sie religiöse Erbauung wirkungsvoll hätte ausspielen können, die Grenzen zwischen christlichem Wohlverhalten und weltlicher Tugend waren dafür nicht scharf genug. So beschritt man meist nicht diesen Weg, sondern stellte eben jene behauptete Nützlichkeit der literarischen Werke in Zweifel - unterstützt durch den platonischen Lügenvorwurf. 24 Wie funktional das Nutzen-Argument war, illustriert schlagend 18
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Voltaire hat diese im klassizistischen Frankreich auf 2000-3000 geschätzt, siehe Peyre: Qu'est-ce que le classicisme? 30f. So Wehles These zur französischen Klassik (siehe: Eros in Ketten, etwa 19lf.). Siehe hierzu Neumeister: Geistlichkeit und Literatur. So Wehle: Eros in Ketten, 172. Buck dagegen liest bereits Horaz mit einem und (Einleitung: 30). Zur utility als oberstem Grundsatz der klassischen Kunsttheorie in Frankreich siehe Heitmann: Einleitung, 284-292. Siehe zum Beispiel Harsdörffers Frauenzimmer Gesprechspiele, wo die affekttheoretischen Vorwürfe der platonischen Tradition eben auf diese Weise in der fingierten Gerichtsverhandlung zugunsten des moralischen Romans entkräftet werden (Gesprechspiele 1, 230-272). Siehe etwa Harsdörffer; Gotthard Heidegger dagegen sollte auch das Argument verwenden, daß die Romanlektüre von der Erbauung abhalte (siehe: Mythoscopoia Romantica, 20S u.ö.).
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seine hohe Frequenz in romantheoKüsehen Äußerungen. Dem schlechten Ansehen der Gattung kam ein derart wirkungsvolles Schlagwort besonders zupaß. So ist die Rede vom moralischen Nutzen des Romans für die deutsche poetologische Literatur von Barock und Aufklärung fast durchgängig, wo überhaupt von Romanen gesprochen wird. Zwar wurden schon im 16. Jahrhundert zunehmend pragmatische Interessen in den Prosatexten verfolgt, die reine Ausrichtung am delectare mit anderen Intentionen vermischt, aber diese Texte suchten in ihrer Präsentation nicht den Anschluß an die (hohe) Dichtung. In der frühen deutschen Erzählprosa geht es zu einem wesentlichen Teil um die Vermittlung faktischer Informationen, die vielfach in die alten Bearbeitungen verwoben sind. Die wörtlich in die Historia von D. Johann Fausten eingelegten Zitate aus Reiseberichten kennzeichnen das neuentstandene Bedürfnis, die reale Er-Fahrung der Welt erzählerisch zu vermitteln. In diesen Texten wird auch ein moralischer Zweck verfolgt - wenn etwa in mehreren Werken Wickrams bürgerliche Normen thematisiert und angepriesen werden. Aber obwohl diese Prosa sich nutz und kurzweyl verschrieben hatte, blieb sie in ihrem Selbstverständnis weit davon entfernt, die Literatur insgesamt in einen umfassenden Zusammenhang gesellschaftlichen Nutzens zu integrieren.23 Eine solche argumentative Gelegenheit stellte erst die in der französischen Klassik ermöglichte poetologische Diskurshegemonie bestimmter selektierter Aristoteles-Lesarten in Verbindung mit einigen ausgewählten traditionellen Argumenten bereit. Als neu ergab sich in der Rezeption des französischen Klassizismus die Aussicht auf eine einheitliche Dichtungslegitimation, in die erstmals - durch eine ethische Funktionalisierung - der Roman einbezogen werden konnte. Der Hang zu additiven Argumentationen trug zugleich dazu bei, daß vor allem seit den frühaufklärerischen Debatten ganze Reihen von Nützlichkeiten der Literatur aufgeboten wurden. Von systematischem Interesse ist hier aber die generelle zweckgerichtete Applikation der Dichtung, ihre Unterordnung unter entferntere Zwecke als die reine delectatio. Hierin dürfte der zentrale Grund für den so entschiedenen Sieg des Aristotelismus in der frühen Neuzeit zu suchen sein. Dessen 26
Oberaus produktive ästhetische Energie bestand in der virtuellen Freistellung von Rechtfertigungszwängen. Dabei erlangte die französische Klassik nicht durch veränderte Interpretationen bei der erneuerten Aristoteles-Rezeption ihren Erfolg, sondern durch eine Art 'Theoretisierung des Geschmacks1, als Eroberung der kulturellen Öffentlichkeit auf dem Weg über die Salons. So wurde der französische Klassizismus zum Protagonisten eines spezifischen aristotelischen Ar25 26
Siehe hierzu das entsprechende Kapitel 6 bei J.-D. Müller: Volksbuch/ Prosaroman. Wehle: Eros in Ketten, 169.
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gumentationskonglomerats mit anderen - vor allem rhetorischen - Traditionssträngen, dessen Abrundung zu einem topischen Arsenal mit relativer Geschlossenheit seine poetologische Verfügbarkeit hervortrieb. Die Frage nach dem Grad der realen Machtgewinnung dieses aristotelischen Schemas in Frankreich, die offenbar nicht genau entschieden werden kann27, tritt zurück gegenüber der kenntlichen Kontur eines Argumentations-Sets, das sich als ein Angebot bereitstellte und dessen Benutzung in klarer Relation zu seiner (legitimierenden) Funktionalität stand. Als eine solche Benutzung des klassischen aristotelischen Schemas muß die gesamte literarische Moralisierungskampagne angesehen werden, die mit der Propagierung der Tugend-Laster-Opposition im 17. Jahrhundert in Deutschland eingeleitet wurde.28 Für die deutsche poetologische Romanreflexion war dies offenbar die conditio sine qua non, taucht die Figur doch bereits in der ArgenisÜbersetzung von Opitz auf.29 Die Stärke des klassischen Schemas lag gerade darin, daß nicht 'die' Literatur insgesamt einer neuen Deutung unterzogen wurde, sondern dafi die Dichtung zunächst nur abstrakt durch die Propagierung eines neuen poetischen Normensystems legitimiert wurde. Das Reglement war so eingängig aufgebaut, daß jeder 'Gebildete' selbst das jeweilige Werk an den Normen messen und daher beurteilen konnte. Eben diese Kompetenzsuggestion eröffnete der traditionellen Elite im absolutistischen Frankreich die Chance einer zunehmend kulturell begründeten Erneuerung der sozialen Abgrenzung. Der theoretischen Simplizität, der Überschaubarkeit und dem Systemcharakter der neuen Normen entsprang der Eindruck, als handele es sich bei den diesen Forderungen entsprechenden Werken überhaupt allein um regelmäßige Dichtung. Ohne Frage intendierte der klassische Aristotelismus auch zunächst eine gravierende Beschneidung dichterischer Möglichkeiten. Und klassizisierenden Bewegungen scheint es stets eigen zu sein, sich über Kanonselektionen zu profilieren; erst die Diffamierung be27 28
29
Siehe Wehle: Eros in Ketten, 188, 195, und Floeck: Diversiti und Simpliciti, 115f. Zwar hat es auch eine Moralisierungskampagne des 16. Jahrhunderts gegeben, aber diese hat nicht zu einer organisierten Ausrichtung der Texte als ganze auf ein stimmiges ethisches Modell hin geführt. (Siehe hierzu J.-D. Müller: Volksbuch/ Prosaroman, 75-88) Zwar ist das Argument vom moralischen Nutzen auch schon vom deutschen Übersetzer dem Amadis 1569 rechtfertigend vorangestellt worden, aber dort sind die einzelnen Legitimationstopoi noch recht wahllos aufgelistet. Siehe hierzu Amadis, )( 4r-)( 5v. Hier ordnet sich alles mehr unter das schlechthinnige Schlagwort der Prosa des 16. Jahrhunderts: Experienz. Sofern die Vorreden zu den einzelnen Büchern eine Nützlichkeit des Romans behaupten, schließen sie sich an die Exempeltradition an und appellieren an einen mündigen Leser, der sich aus der Vermischung von Gutem und Bösem schon die richtige Lehre herausziehen wird. (Siehe hierzu Weddige: Historien vom Amadis, 287f., Zitat 289)
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stimmter Texte läfit diejenigen erstrahlen, welche den neu proklamierten Werten und Regeln entsprechen - wie die, die ihnen immer schon entsprachen. Auf diese Weise stellte sich eine Klassik-Bewegung quer zu den vorliegenden Texten und riß damit die Front der Dichtungskritik wirkungsvoll auf: jede grundsätzliche Anklage gegen die Dichtung konnte nun auf einen Teil der Texte gelenkt werden, gegen den sich dann die regelgerechten, klassischen positiv absetzen ließen. 30 Inhaltlich bestand eines der großen theoretischen Angebote des klassischen Argumentationsarsenals in der Katharsislehre. In ihr gipfelte die Suggestion des Aristotelismus, eine pragmatische Anleitung zur poetischen Realisierung von moralischen Nützlichkeiten zu sein. Denn die kathartische Wirkung ist so weit psychologisiert, daß sie den Willen des Rezipienten zu unterlaufen vermag. Daher liegt die Eignung solcher Dichtung als strategisches Mittel zur Verbreitung von Tugendhaftigkeit auf der Hand. In Opitz' 4rgew'i-Übersetzung findet diese Argumentation bereits ihre topische Form im Bild von der verzuckerten Pille. 31 Wenn die proklamierte Tugend dann noch im Gewände der christlich«! auftrat (Barmherzigkeit, Frömmigkeit), so war diese newe Art zu schreibeti32 nur schwer 33
noch anzugreifen. Zwar gab es auch eine inhaltliche Affinität zwischen Katharsislehre und Affektkontrolle, seit diese zu einem vorrangigen Kulturwert 34 avancierte , aber das sollte nicht die theoretisch-poetologische Stärke der Katharsis verdecken, die in ihrer Instrumentalität zur Tugendinfiltration hervortritt. Den Poetiken lieferte die poetologische Stilisierung der Vernunft zum höchsten und allein maßgeblichen Orientierungswert nicht gekannte Systematisie30
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Schon in Harsdörffers fingiertem Prozeß wird diese Möglichkeit genutzt, wo es in der Schalttbit heißt: Die Frage ist dieses Orts nicht von solchen Büchern/ welche umviedersprechlich wider Zucht und Erbarkeit lauffen/ und mit Feuer begehrter massen zu vertilgen: (welche auch von ehrliebenden Leuten deß Ansehens nicht gewürdiget werden). (Gesprechspiele 1, 262) [Opitz:] Johann Barciayens Argenis [1626], 180 (Kap. 14). Zwar weist Weddige diese und ähnliche Metaphern bereits für einige /imaJ/j-Vorreden nach, doch ist dieser Roman noch nicht nach dem neuen Muster gearbeitet (siehe: Historien vom Amadis, 287). Zur Metapher siehe auch Voßkamp: Romantheorie, 21. [Opitz:] Johann Barciayens Argenis, 181, 182, ebd. Den zeitgenössischen Anforderungen an Theoriekohärenz dürfte es nicht widersprochen haben, wenn schließlich auch noch platonische Argumente geltend gemacht werden - in Anspielung auf den furor poeticus: so wil ich es ehist ins Werck richten/ weil die Sach new ist/ vnd das Hertz noch hitzet. Ich wil meiner Regung freyen Lauff geben/ vnd mich auff Art des Poetischen Antriebs außlassen [...]. Wie er außgeredet hatte/ damit er diese Hitze/ welche jhme die Gotter zum schreiben verliehen [...] (182). Zum furor poeticus siehe Buck: Einleitung, 25f., Vietta: Literarische Phantasie, 46-49, sowie Enthusiasmus, HWP (Müller). Siehe zu dem kulturhistorischen Zusammenhang der AfFektkontrolle Elias: Prozeß der Zivilisation, 2, 312-454.
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rungschancen. So beruhte der Erfolg des Aristotelismus auf den von ihm ermöglichten Rationalisierungen. Durch diese Vorentscheidungen in der französischen Klassik und im deutschen Barock gewann der Aristotelismus auch für die Literatur der Aufklärung eine entscheidende Vorherrschaft. Die neue AntikeRezeption und ihre spezifische Funktionalisierung innerhalb eigener literarischer Auseinandersetzungen prägte die literarische Tradition, aus der die deutsche Aufklärungsliteratur ihre Stichworte und Regel vorgaben bezog. Dabei waren es für den Roman vor allem die Begriffe der Einheit und der Wahrscheinlichkeit, an denen sich die Gattung abarbeitete und ihre besonderen Möglichkeiten herausbildete. Doch hier interessieren nicht in erster Linie immanente poetologische Zusammenhänge, sondern der breitenwirksame Einfluß des Aristotelismus auf Roman und Leserschaft im 18. Jahrhundert. Dabei aber wird sich zeigen, daß die moralisierende Kritik einer entstehenden literarischen Öffentlichkeit an dem galanten Roman präzis das Muster einer kulturellen Profilierung in der klaren Abgrenzung gegen eine bestimmte Literaturform wiederholt, wie es die französische Klassik unter Verwendung des Aristotelismus vorgeführt hatte. Nur daß sich im frühen 18. Jahrhundert nicht mehr eine höfische Kultur gegen den inzwischen machtlosen Feudaladel absetzte - wie in Frankreich zuvor -, sondern nun waren es die neuen bürgerlichen Eliten, die sich gegen die höfische Kultur abgrenzten. Wenn im folgenden allerdings das Verhältnis zwischen barockem und aufklärerischem literarischen Erzählen zu klären sein wird, so läßt sich dies weder poetologiegeschichtlich noch in einer an den Werkstrukturen orientierten Analyse bewerkstelligen. Denn einer der wichtigsten Faktoren der Romangeschichte des 18. Jahrhunderts dürfte der externe gewesen sein, daß man es nun mit einer anderen Leserschaft zu tun hatte: der Roman wurde zum Unterhaltungsmedium eines bürgerlichen Massenpublikums.
3. Bürgerlicher Roman und neue Leser. Der Übergang zur Aufklärung. Literatursoziologische Zwischenbetrachtung
Bisher ist die Geschichte des Romans und vor allem die seiner Theorie überwiegend als eine der Emanzipation, der schliefilichen Durchsetzung einer Legitimität der Fiktion1 beschrieben worden. Das Bewegungsgesetz einer solche Rekonstruktion ist das des Fortschritts, dessen Höhepunkt dann meist die moderne, das heißt klassisch-romantische Ästhetik markiert. Mit dieser, oftmals unausgesprochenen, Voraussetzung verfügt eine solche Darstellung dann bereits über ein Movens, das die Durchsetzung des Neuen hinlänglich zu erklären suggeriert. Besonders wirkungsvoll kommt dieser Erklärungsgestus bei den 'Noch-nicht'Argumentationen zur Geltung2, die viele poetologiegeschichtliche Untersuchungen zum 17. und 18. Jahrhundert prägen und die leicht ungedeckte Wertungen transportieren.3 Will man aber das Movens der Romangeschichte im 18. Jahrhundert in den Blick bekommen, dann muß man das entwicklungslogische Verhältnis zwischen barockem und aufklärerischem literarischen Erzählen klären. In den bisherigen Debatten hierzu haben erstaunlicherweise literatursoziologische Argumente noch kaum eine Rolle gespielt. Besonders markant zeigt sich die Uneinigkeit der Forschung über die mit der Kontinuität oder Diskontinuität in der deutschen Romangeschichte zwischen Barock und Aufklärung zusammenhängenden Fragen in den Deutungen des galanten Romans. Durch seinen Namen ist er schon in die Tradition des lange Zeit so1
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Siehe Assmann: Die Legitimität der Fiktion, 1980, oder Heimrich: Fiktion und Fiktionsironie, Kap. 1. Parallel zu dieser Bewegung wird auch eine Teleologie der Herausbildung von Fiktivitätsbewußtsein unterstellt (siehe Haßelbeck: Illusion und Fiktion, 7-22). Ein (seltenes) Gegenbeispiel ist Seiler (Die leidigen Tatsachen), der seit dem 17. Jahrhundert mit Stetigkeit die Wahrscheinlichkeits- und Faktizitätsansprüche an die Erzählliteratur wachsen sieht - und nicht das Eigenrecht der Fiktion. Siehe etwa Preisendanz: Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland, sowie besonders Hillebrand: Theorie des Romans 1. Auf diese Weise kann dann der Streit um Gottsched entstehen: faßte er nur die konventionellen Barockpoetiken geschickt zusammen oder vertrat er bereits fortgeschrittenere poetologische Positionen wie die Schweizer? Siehe Hermann: Naturnachahmung und Einbildungskraft, und die Rezension von Bruck u.a.; auch Birke: Gottscheds Neuorientierung; Gaede: Gottsched und die Logik; Vietta: Literarische Phantasie, hier bes. 78-83.
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Bürgerlicher Roman und neue Leser. Der Übergang zur Aufklärung
genannten heroisch-galanten (hohen) Romans gestellt. Von ihm aus suchte eine um Entwicklungsgeschichten bemühte Literaturwissenschaft seit den 1920er Jahren geradlinige Verbindungen zu den Romanformen des späteren 18. Jahrhunderts.4 Indem nun der galante Roman zu einer Übergangserscheinung erklärt worden ist, hat man geglaubt, wenigstens auf der Ebene des hohen Stils den weißen Fleck auf der Landkarte der Literaturgeschichte ausfüllen zu können, der sich
zwischen Lohensteins Arminius und Wielands Don Sylvio auftat5, eben den deutschen Roman zwischen Barock und Rokoko gefunden zu haben. Möglich wird diese Form der Rekonstruktion einer Kontinuität durch die vornehmliche Untersuchung von Formen, Motiven und Sujets und durch die Hypothese einer allmählichen Verbürgerlichung der Literatur. Der galante Roman gerät so zu einer Schwundform des höfisch-heroischen, gekennzeichnet durch Zerfall und Synkretismus, durch planlose Modifikationen, Umdeutungen, Funktionsverschiebungen der tradierten Gattungselemente 6.
Die Gegenposition nimmt einen radikalen Traditionsbruch an; die historisch entscheidende Opposition, die sich im Englischen und Französischen auch begrifflich niederschlägt, sei die zwischen dem langen und dem kurzen Roman: roman, romance versus nouvelle, novel. Deshalb habe es auch gar keine Gattung des galanten Romans gegeben, sondern nur einige, sich des tradierten Formenrepertoire bedienende Werke einer einzigen übergreifenden Gattung des Kurzromans.7 Dem steht jedoch nicht nur die recht erkleckliche Anzahl dieser, zwei Jahrzehnte lang den Markt beherrschenden 'galanten* Texte entgegen8, sondern vor allem auch ihre sie stark abgrenzende Eigentümlichkeit, sich vielfach offen als Fiktion und Roman zu erkennen zu geben9, was für alle anderen Ausdrucksformen jener Kurzgattung nicht gilt. Es scheint, als müßte man dem galanten Roman (und der mit diesem literarhistorischen Phänomen verbundenen Bemühung um die Begründung eines eigenen Normen- und Verhaltenskodex, wie sie sich in den Stilisierungen einer galanten Welt ausdrückten) eine größere Son-
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Siehe etwa Cohn: Gesellschaftsideale und Gesellschaftsroman, 123. Singer: Der galante Roman, 7. Singer: Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko, 5. So auch Geulen: Der galante Roman. Die Zeitgenossen nahmen diese Kontinuität auch an; siehe etwa Pohlmann: Entlarvter Cupido, wo sämtliche Romanrichtungen des 17. Jahrhunderts unter dem Titel galante Schriffien (215) subsumiert werden. Siehe Greiner: Entstehung der englischen Romantheorie, 198f. Siehe Singer: der etwa 200 Titel ermittelt haben will und eine möglicherweise noch einmal so große Zahl für verschollen hält (Deutscher Roman, 4, 182-204), sowie Spiegel: Roman und sein Publikum, 22-33. Siehe hierzu vor allem Voßkamp: Adelsprojektionen im galanten Roman. Allerdings gilt dies nicht für sämtliche Gattungsexemplare.
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derstellung zusprechen.10 Spiegel tut das mit der These von der vorübergehenden Entstehung einer eigenen neuen Schicht von Lesern - binnen einer Generation - in Kreisen, die dem Einfluß der Kirchen etwas entzogen waren (Hofbeamte, Gelehrte, Studenten und große Handelsherren)11. Warum diese neue Leserschaft aber ganz unverhofft ab 1720 ein erheblich schwächeres Interesse nur noch aufbrachte für die galanten Romane oder warum soziologisch gewendet - die galante Welt sich nicht als Stand zwischen den Ständen12 etablieren konnte, schafft noch einmal neue Erklärungsbedürfnisse. Für die ähnlich schnell vorübergegangene Mode des politischen Romans konnte ein sozialgeschichtliches Argument angeführt werden: Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war die soziale Mobilität an ein Ende gelangt, die sich aus der Rekrutierung des absolutistischen Beamtentums aus gut ausgebildeten bürgerlichen Kreisen und unter intendierter Kaltstellung des Feudaladels seit dem Dreißigjährigen Krieg ergeben und Bürgern bis hin zur Nobilitierung gute Aufstiegschancen bei entsprechenden Anpassungsleistungen geboten hatte.13 Falls diese eingängige Argumentation für den politischen Roman greift, so kann sie nicht auch noch fur den galanten Roman und die Kürze der Phase seines Erfolges gelten, die ja deutlich später ansetzt als die des politischen Romans. Das plötzliche Ende der kurzen Dominanzepoche des galanten Romans fiel zusammen mit der Hausse der Robinsonadenliteratur, die 1720 mit fünf gleichzeitigen Übersetzungen von Defoes Original einsetzte. Die bis über die Jahrhundertmitte gehaltene Marktführungsposition dieses neuen Romantyps macht deutlich, daß er den Leseerwartungen eines breiteren kauffähigen Publikums offenbar genauer entsprach als die vorhergehenden Literaturformen. Dennoch gab es auch weiterhin galante Romane, und angesichts der zeitgenössischen Rezeptionsgewohnheiten (Wiederholungslektüre) muß davon ausgegangen werden, daß diese Texte auch noch lange Zeit gelesen wurden.14 Das müßte, bei den allge10
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Siehe hierzu Sauder: Galante Ethica. Dieser Versuch weist starke Überschneidungen auf mit dem sozialhistorischen Hintergrund des politischen Romans. Spiegel: Roman und sein Publikum, 41. Siehe auch schon Hirsch: Bürgertum und Barock. Zu berücksichtigen bleibt, daß wie im gesamten 18. Jahrhundert so auch hier der Anteil der Leserinnen wohl überwogen haben dürfte; siehe Singer: Der galante Roman, 61f. Spiegel: Roman und sein Publikum, 44; zur normativen Zwischenstellung des galanten Romans zwischen Hof, Adel und Großbürgertum siehe auch Voßkamp: Adelsprojektionen im galanten Roman. Siehe Graevenitz: Innerlichkeit und Öffentlichkeit, 53-66. In der Forschung ist bisher vornehmlich auf die Veröffentlichungsdaten dieser Romane gesehen und daran ihre Erfolgskurve abgelesen worden. Damit überträgt man aber die aus späteren Epochen gewohnte durchschlagende Macht schnell wechselnder Moden. Demgegenüber bleibt zu vermuten, daß nur in einem relativ eng begrenzten Kreis der entstehenden literarischen Öffentlichkeit wechselnde Moden auch
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mein für diese beiden Genres unterstellten Lesergruppen, bedeuten, daß die gleichen Leser sowohl galante als auch die sich dagegen streng abgrenzenden Abenteuerromane gelesen haben dürften.15 Im Ursprungsland der Robinsonaden waren die Bedingungen erheblich landers. Der vorherrschende puritanische Geist hatte im gesamten englischen Bürgertum strenge Fiktionsvorbehalte verankert, so daß überwiegend die Lektüre erfundener Geschichten als mit religiöser Tugendhaftigkeit unvereinbar gehalten wurde. Vor diesem Horizont gelang es dem Dissenter Defoe, den Übergang von der Erbauungs- zur Unterhaltungslektüre, von Bunyans Pilgrim's Progress16 zu Robinson Crusoe fast zur Unmerklichkeit zu verschleiern. Diesen literarhistorischen Zusammenhang hat Herbert Schöffler in zeitlicher und inhaltlicher Nähe zu den religionssoziologischen Arbeiten von Max Weber und Ernst Troeltsch bereits 1922 hergestellt.17 Seither wurde in etlichen Untersuchungen Robinson Crusoe als Integrationsmodell einer kleinbürgerlichen protestantischen Handlungsethik interpretiert - und Schöfflers These kaum mehr grundsätzlich in Frage gestellt. Konsequenz dieser Deutung ist die Annahme eines gattungstypologischen Sprungs innerhalb der englischen Literaturgeschichte: der Beginn des modernen Erzählens ließ sich vornehmlich durch nichtliterarische Textsorten anregen eben der Erbauungs- und Bekenntnisliteratur. Das ändert nichts daran, daß Defoe sich daneben auch an Traditionen bediente, die nach unserem Verständnis
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zur Veränderung der Lektürevorlieben führten. Andere Leser, gerade aus den mittleren Ständen, werden weniger danach ausgesucht haben, was nach Geschmacksrichtung und Erscheinungsdatum zum 'Neuesten' zählte. Dies bestätigen auch die ersten Ergebnisse von McCarthys Auswertung des Wolfenbütteler Registraturbuchs für 1730-1767. (Siehe: Lektüre und Lesertypologie, 66-80) Diese Konsequenz, die durch McCarthys erste Ergebnisse deutlich gestützt wird, ergibt sich schon aus den unterstellten Zusammensetzungen der möglichen Rezipientengruppen beider Textsorten, ist aber in der Forschung bisher kaum beachtet worden (siehe jedoch Meyer-Krentler: Der andere Roman, 4). Zu den Angaben über die Rezipienten des galanten Romans siehe etwa Grimminger (Roman, 656), Sauder (Galante Ethica, 219), Singer (Roman zwischen Barock und Rokoko, 89ff.; Der galante Roman, 62), Spiegel (Roman und sein Publikum, 40f.), Voßkamp (Adelsprojektionen, 86f.), und zum Abenteuerroman bei Fohrmann (Abenteuer und Bürgertum, 32-37), Grimminger (Roman, 666f.), Spiegel (Roman und sein Publikum, 49f.). N. Miller nennt dagegen für beide Formen einen hohen Anteil von Lesern aus den unteren Bevölkerungsschichten (Empfindsamer Erzähler, 77). Bis 1792 160 Auflagen. Siehe: Protestantismus und Literatur, 151-163. Schöffler hielt es für das Schwierigste nahezu aller Unternehmen in der literarhistorischen Forschung des englischen 18. Jahrhunderts, eine befriedigende Erklärung des nahezu fieberhaften Beifalls zu finden, den die Hauptwerke Defoes und Richardsons hatten (151). Zu dem Zusammenhang siehe auch Assmann: Legitimität der Fiktion, 115f.
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eher zur innerliterarischen Erzähltradition gehören - etwa der Abenteuerliteratur. 18 Jedoch muß ihm die Anlehnung an religiöses Schrifttum in einem den Gesamteindruck so beherrschenden Ausmaß gelungen sein, daß die Zeitgenossen den Text zunächst nicht in die Nähe von Dichtung und Poesie, von romance, rückten. Die Bedingung des Erfolgs dieses bürgerlichen Ursprungsromans bestand in der Verschleierung seines literarischen Charakters - zumindest an der 'Oberfläche' des Textes.19 Dieser gattunstypologische Sprung20 bedeutet aber auch, daß für Defoes Text ein völlig neues, überwiegend bürgerliches Publikum angenommen werden muß, das sehr ausgeprägte Fiktionsvorbehalte hatte. Auch in dieser Hinsicht gab es in England also einen radikalen Bruch, wie er sich dann begrifflich in der Opposition von romance und novel festmachte. Ohne den Gewinn ganz neuer Leserschichten in großem Umfang wäre die außerordentliche Karriere des neuen Romans ganz undenkbar gewesen.21 Defoes Komposition wies ein Arsenal von Möglichkeiten auf, wirtschafts- und handelsbürgerliche Unterhaltungsinteressen auf eine den ethischen Standards dieser Gruppen weitgehend unanstößige Erzähltextform zu lenken.22 Daß Schöfflers These zu den genetischen Zusammenhängen des Defoeschen Romanerfolgs nicht auf die deutschen Verhältnisse und die gewaltige Wirkung des Robinson Crusoe dort übertragen wurde, muß erstaunen.23 Denn die schon 18
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Schon in das kalvinistische Erbauungschrifttum selbst flöß eine Fülle von überlieferten literarischen Formen und Motiven; siehe hierzu etwa durchgängig Isers Erläuterungen zu Bunyans Pilgrim's Progress. Zur literarischen Genesis der Robinsonaden und der Vorbildfünktion anderer Romansorten siehe Fohrmann: Abenteuer und Bürgertum, 157-167. Die Gattungsverleugnung im Robinson Crusoe hinderte Defoe nicht daran, sich allegorischer und emblematischer Verfahren zu bedienen, welche in den puritanischen Bekenntnisschriften allemal geläufig waren (siehe hierzu etwa Hunter: The Reluctant Pilgrim, oder Brooks: Number and Pattern in the Eighteenth-Century Novel, 18-40). Insofern ließe sich die Rede von einem Traditionssprung' im Roman noch dahingehend differenzieren, daß die Verschleierung des Literarisch-Fiktiven, des Romanhaften auf der Oberfläche vorgenommen wurde und den Gewinn neuer Leserschichten ermöglichte, die Anknüpfung an tradierte literarische Verfahren dagegen auf solche Textebenen verlagert wurde, die nur einer geübten und literarisch vorgebildeten Lektüre zugänglich waren (siehe hierzu ausfuhrlich Pache: Profit and Delight). Für die englische Literaturgeschichte ist Greiners Beschreibung also völlig unzweifelhaft, deren Geltungsbereich er allerdings auf europäische Verhältnisse ausdehnt; siehe: Entstehung der englischen Romantheorie, 198f. Zu den Folgen des Entstehens einer neuen Mehrheit in der Leserschaft - besonders für den Roman - und zu der sozialen Zusammensetzung dieses Publikums siehe Watt: Der bürgerliche Roman, 38-66. Siehe hierzu und zum Zusammenhang Watt: Der bürgerliche Roman, 67-105. Wie wenig sie zur Kenntnis genommen worden ist, belegt etwa eine Formulierung Kohlschmidts über Robinson Crusoe: Und die andere Szene, in der er unter den ge-
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erwähnte Frage von Singer, wie sich die literaturgeschichtliche Lücke zwischen Arminius und Don Sylvio schließen läßt, wäre leichter zu beantworten, wenn man sich traute, die deutsche Literaturgeschichte nicht in einer mehr oder weniger geradlinigen Entwicklung von den Merseburger Zaubersprüchen bis zur Blechtrommel zu schreiben. Was für England eindeutig scheint, wäre auch für Deutschland denkbar: durch die Anlehnung an aus nichtliterarischen Traditionen hervorgegangene Textformen ließ sich auf der Breite eine neue Leserschicht gewinnen und durch diesen Erfolg das Eigengewicht der literarischen Traditionen vorübergehend abwerten. Die Erzählliteratur setzte geradezu neu an. Auch wenn sie sich dabei auf die Dauer immer mehr wieder alter Form- und Stoffreservoires bediente, so darf man nicht übersehen, daß der Beginn des modernen Romans außerhalb der Dichtung lag. Einer solchen Deutung stehen vor allem zwei Faktoren entgegen. Zum einen hat Singer im Anschluß an Arnold Hirsch als Transformationsstück den galanten Roman etabliert, zum andern glaubt man, vor allem wohl im politischen Roman, zu viele Zeugnisse für Übergang und Traditionsfortschreibung zu kennen. Allerdings werden dabei meist die Argumentationsebenen vermischt. Wenn zum Beispiel, um einen möglichst engen Zusammenhang von Aufklärungs- und Barockroman herzustellen, der politische Roman gern 'frühaufklärerisch' genannt wird24, dann achtet man vor allem auf die Rationalitätsform seines Gehalts, nicht aber auf die gesamte Konzeption in ihren motivischen, stilistischen Momenten und ihrem geistigen Milieu, wie es den Zeitgenossen sich präsentierte. Mag das in diesen Texten angesprochene Publikum auch bürgerlich25 gewesen sein, sie gehörten doch in den höfischen Kontext einer galanten Ethica6, auf welche die bürgerlichen Rezipienten eingestimmt werden sollten. Selbstverständlich wird es in der Kulturgeschichte keine vollständigen Brüche oder Neuanfange geben. Und spätestens seit der Proklamierung der Geistesgeschichte als Methode in den 1920er Jahren ist viel Forscherfleiß darauf verwendet worden,
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retteten Dingen nach Toback sucht und auf die Bibel stößt, ist, als Zeichen des Fingers Gottes, nahezu pietistisch (Geschichte der deutschen Literatur vom Barock bis zur Klassik, 1965, 249). Ausdrücklich Bezug nimmt allerdings Iser (siehe seine Bemerkung in der Diskussion zu dem Beitrag von Kraus: Zur französischen Romantheorie des 18. Jahrhunderts, 190). Etwa bei Hirsch: Barockroman und Aufklärungsroman. Auf die Schwierigkeiten dieses Begriffes im Kontext literarhistorischer Rekonstruktionen ist oft genug hingewiesen worden. Seine problematischen Konnotationen sollen hier durch eine möglichst berufs- und ständebezogene, deskriptive Verwendung unterlaufen werden; siehe zum Problem jüngst Stanitzek: Bildung und Roman als Momente bürgerlicher Kultur, 416ff. Eben in diesen Kontext integriert auch Sauder die Botschaften der politischen Romane; siehe: Galante Ethica, 222-227; bezeichnenderweise versucht auch er, die Signatur einer Übergangszeit nachzuzeichnen (222).
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Übergänge, Zwischenstücke, Verwandtschaften und Beeinflussungen allerorten zu entdecken, um einer der Lieblingsmetaphern moderner Wissenschaften - vor allem in ihren historischen Abteilungen - überall Geltung zu verschaffen: der Entwicklung.27 Für die Geschichte des Romans zwischen Barock und Aufklärung dürfte damit allerdings wenig gewonnen sein.28 Was Robinson Crusoe zum Aufklärungsroman macht, ist eine strenge religiöse und moralische Orientierung, welche im Postulat eigener bürgerlicher Handlungsautonomie eine klare Absetzung von höfisch-aristokratischen Verhaltens· und Lebensformen ermöglichte. Eine bürgerliche Sichtweise, wie sie sich in der politischen und galanten Ethik und Bildungslehre geltend machte, blieb dagegen insgesamt bezogen auf den Hof und seine Kultur. Für den galanten Roman, den Singer ja selbst immer wieder als Schwundstufe des höfisch-historischen charakterisiert und an dessen angemessener Bestimmung als einer einheitlichen Gattung durchaus Zweifel angebracht sind,29 gilt allemal, daß hier das Bild des Übergangs oder der Transformation zum Aufklärungsroman gänzlich inkompatibel bleibt.30 Ein letzter wesentlicher Grund für die hier angedeuteten Schwierigkeiten der Literaturgeschichtsschreibung muß darin gesehen werden, daß von Anfang an alle Robinsonaden, Defoes Original eingeschlossen, als zweitklassige Literatur 27 28
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Siehe zum Begriff W. Wieland: Entwicklung, Evolution. Keineswegs sollen hier die strukturellen und motivischen Ähnlichkeiten zwischen den 'bürgerlichen' Erzählformen des Barocks und der Robinsonadenliteratur geleugnet werden. Die Faktizitätsprätention war vielmehr bei den niederen Formen des 17. Jahrhunderts schon zum Topos geworden - so wie die fingierte Autobiographie oft benutzt wurde (am Beispiel Beers zeigt dies Tatlock: Fact and the Appearence of Factuality). Doch sollte dies nicht übersehen lassen, daß mit Robinson Crusoe der unvergleichliche Erfolg des modernen Romans in der Breite eines neuen, bürgerlichen Lesepublikums eingeleitet wurde. Diesem Ursprungsroman gelang daher auch etwas völlig Außergewöhnliches: er avancierte binnen zweier Generationen zur gerngesehenen Kinderlektüre (von Rousseau dann auch mit Theorieanspruch dazu erkoren). Nur indem sie diese entscheidende Differenz des jeweiligen Publikums außer Acht Iäßt, kann Tatlock eine gerade Linie von Grimmelshausen über Beer zu Defoe ziehen. Beer zog trotz allem noch nicht eine kategoriale Fiktionsablehnung ins Kalkül und konnte deshalb in der Anderen Ausfertigung auch einmal weniger streng mit der Tatsächlichkeitsversicherung sein: Es stehet einem iedweden firey/ ob ers glauben will oder nicht. (Siehe Tatlock: Fact, 351f., das Zitat 357; zu Rousseaus ΛοΑΐΛϊοη-Deutung und deren Einfluß auf die deutsche Rezeption mit der zweiten Robinsonadenflut siehe Brunner: Kinderbuch und Idylle, sowie Zupancic: Die Robinsonade in der Jugendliteratur, 45-49, 70-91) Siehe hierzu Kimpel: Aufklärungsroman, 36f. Kimpels Forschungsanweisungen in diesem Zusammenhang klingen noch wenig präzis: Die Romane dieser Übergangszeit [1690-1740] sind jeweils im einzelnen auf ihre Uminterpretation hin zu analysieren, von vielen Seiten her einzukreisen, aber kaum eindeutig klassifizierbar. (42)
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galten und der eigentliche Anfang des modernen Romans in Richardsons Pamela1 gesehen wurde. Das führte zur literaturhistoriographischen Erneuerung der 'Lückenversion', 32 als das Scheitern des von Cohn ausgerufenen Forschungsprogramms offensichtlich wurde, vom galanten Roman des 17. Jahrhunderts eine direkte Linie Ober Richardson zu Gellerr33 aufzuspüren. So schreibt Norbert Miller, ein scharfer Kritiker der Kontinuitätsthese, wiederum Wieland die Neuerschaffung des deutschen Romans zu: Der ganze Zeitraum zwischen der Jahrhundertwende und Wielands Auftreten als Romancier ist vollgestellt mit namenlosem, gestaltlosem und schon damals verachtetem Gerümpel. Wieland allerdings, in dem die Zeitgenossen übrigens erst allmählich den Erfinder des deutschen Romans sahen, mußte sich keineswegs ausschließlich am Roman des europäischen Auslands schulen. Eigentümlicherweise hat die Literaturgeschichte auf anerkannt höherem literarischem Niveau keine Schwierigkeiten gehabt, die Zusammenhänge zwischen religiöser Bekenntnis- oder Erbauungsliteratur und dem Roman zu verbuchen in seiner 'psychologischen' Variante (vom pietistischen Selbstbekenntnis zu Anton Reiser).35 Zugleich übersieht man oft bei Richardsons Romanen die gleiche Abhängigkeit von der puritanischen Erbauungsliteratur wie bei Defoe. 36 In dem 31
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So zum Beispiel noch Kayser: Die Anfange des modernen Romans, 424. Die Zeitgenossen bewerteten Defoes Robinson überwiegend erst höher infolge von Rousseaus außergewöhnlich exklusiven Achtung dieses Romans im 3. Buch des Emile (aber auch in den Confessions). Rousseau machte sein Jahrhundert, das sich mit der neu entstandenen Anthropologie sehr schwer tat, geradezu darauf aufmerksam, daß Defoe den ersten anthropologischen Roman geschrieben hatte. So konnte sich Wezel ermuntert fühlen, in seiner Bearbeitung eine Geschichte des Menschen im Kleinen zu verfassen (Robinson Krusoe 1, Vorrede, 17). Siehe hierzu Brunner: Kinderbuch und Idylle, sowie Lepenies: Naturgeschichte und Anthropolgie im 18. Jahrhundert. Relativ früh stellte der Westfälische Beobachter den Robinson Crusoe an den Anfang einer Reihe der höchstgeschätzten Romane von Richardson, Fielding, Geliert und manchen anderen. (1, 1756, 600) Selbstverständlich wird diese Lücke in den meisten Fällen nicht eigens erwähnt, sondern darstellungstechnisch überspielt. Bei Kimpel etwa gibt es unter der Überschrift Übergänge vom Barock zur Aufklärung den Zwischentitel: Unzeitgemäße Existenzen: J. G. Schnabel und J. Chr. Günther (Frühaufklärerische Sprachkritik und Literatur 1670-1730, 15, 35). Cohn: Gesellschaftsideale und Gesellschaftsroman, 123. Der empfindsame Erzähler, 87. Siehe etwa Stemme: Die Säkularisation des Pietismus zur Erfahrungsseelenkunde. Das liegt vielfach an der retrospektiven Betrachtungsrichtung, die etwa von der Autobiographie des späteren 18. Jahrhunderts ausgeht und dann wie selbstverständlich auf Größen wie Subjektivität, Innerlichkeit, Selbstbeobachtung kommt, die dort zum Sujet geworden sind (siehe etwa Wuthenow: Autobiographie und Memoiren). Siehe hierzu Schöffler: Protestantismus und Literatur, 163-169; Schöffler schließt Pamela eher an die moralisch-didaktische Erbauungsliteratur, Robinson Crusoe an deren historisch erzählende Richtung an (167, 157).
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ursprünglich ja als Briefsteller und nicht als Roman konzipierten fiktiven Briefwechsel wird jedoch die der modernen Literatur besonders entsprechende Gemüts-Introspektion so weit getrieben, daß Richardsons Werken seit je ein besonders würdiges Sujet bescheinigt wurde: die Regungen der menschlichen Seele anstatt der Entreprisen des Kaufmanns. Trotz solcher retrospektiven Wertungen war es der Defoesche Propagandaheld eines sich ökonomisch legitimierenden Individualismus37, welcher zuerst in breitem Umfang bürgerliches Lesepublikum der Erzählform Roman erschloß. Dem entspricht sehr genau, wenn die Leserforschung feststellt, daß sich das - vor allem nicht akademisch gebildete - Bürgertum deutschsprachiger Dichtung überhaupt gerade insoweit zuwandte, als diese christliche Erbauungslektüre zu ersetzen vermochte.38 Auch gewisse motivische Ähnlichkeiten oder Beeinflussungen durch die älteren Erzähltraditionen ändern nichts daran, daß die Robinsonadenliteratur sich an Textsorten anschloß, die gerade nicht zur Dichtung zählten. Und eben dies rechnet man diesen Romanen noch immer als Mangel an, der sie ihren Platz in der Literaturgeschichte kostet. Parallel mit dem Erfolg der neuen Abenteuerliteratur übten sich die moralischen Wochenschriften in eindeutiger Romanverteufelung, wobei bezeichnenderweise zwischen phantastischen Romanen, Märchen, den 'wahrscheinlichen' barocken und den galanten Romanen kein Unterschied gemacht wurde.39 Erst die Effekte dieser diskursmächtigen Mobilmachung gegen den als 'galant' vereindeutigten Roman kanalisierten endgültig die Lektürebedürfnisse hin zu Historien und vermeintlich faktischen Lebensberichten von moralisch-religiöser Unbedenklichkeit, wie sie die vom Robinson Crusoe ausgelöste Mode anbot.40 37 38 39
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Schlaeger: Die Robinsonade als frühbfirgerliche Eutopia, 296. Siehe Engelsing: Der Bürger als Leser, Kapitel 12: Die neuen Leser. Siehe hierzu und zum folgenden Martens: Die Botschaft der Tugend, 492-520. Zu den hier angestellten Überlegungen ρ aßt es sehr genau, daß die Romankritik der Wochenschriften, deren Autoren ja überwiegend akademisch gebildet und mit literarischen Traditionen vertraut gewesen sein dürften, sich in erster Linie auf moralische Bedenken, nicht so sehr aber auf ontologische Fiktionsvorbehalte stützte. (Siehe Martens: Die Botschaft, 503, sowie: Bürgerliches Lesen im Spiegel der Moralischen Wochenschriften) Das Muster eines Angebots von identitätsbildenden Abgrenzungsmöglichkeiten, das im 17. Jahrhundert bereits begegnete, wiederholte sich also. Nur war es dieses Mal nicht die (damals neue) höfische Gesellschaft, die im klassizistischen Kulturprogramm soziale Abgrenzung und die Profilierung des 'feinen Unterschieds' zum staatspolitisch entmachteten Feudaladel suchte, sondern das nun aufstrebende gebildete Bürgertum, das sich gerade von eben dieser Hofkultur abzusetzen suchte. Beidemal stand die mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit verbundene Wendung in der Literatur fur mehr als nur einen literarischen Modenwechsel, war vielmehr verwoben mit einer ganzen kulturellen Semantik, die in beiden Fällen stark von einander abwich - obwohl mit demselben literarischen Schlagwort verknüpft.
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Und so dürfte es langfristig die vollständige Machtergreifung des moralischen Aufklärungsdiskurses gewesen sein, welche immer mehr Lesern von galanten Romanen Gewissensbisse einschärfte und das Genre schließlich zum Erliegen brachte. Eine Entscheidung des Gefechts zwischen den beiden vom galanten und vom Abenteuerroman abgesteckten diskursiven Feldern fiel also erst allmählich. Von galanter Seite konnten sogar in den 1720er Jahren noch einmal für einige Jahre erhebliche Revancheerfolge erzielt werden.41 Ohne Zweifel haben bei dem schließlichen Sieg über das galante Erzählen, das von den Zeitgenossen in erster Linie unter Roman verstanden wurde,42 die moralischen Wochenschriften und ihre Polemik gegen den Roman wesentlich mitgeholfen. Mit dem Blick auf die diskursiven Gefechte in den ersten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts ließe sich vielleicht der Widerspruch zwischen einer 'Übergangsrolle' des galanten Romans und dem Traditionssprung, dem 'Neuansatz der Gattung' aufheben. Dann könnte die zunehmende Ausbildung eigener Diskursmacht in den entstehenden Organen bürgerlicher Selbstverständigung zu Polarisierungen geführt haben, welche die Aufrechterhaltung einer normativen Zwischenstellung zwischen höfisch-adliger und bürgerlicher Welt, wie sie der galante Roman repräsentiert, auf Dauer verunmöglichte.43 Dazu paßten auch die 'Bekehrungsgeschichten', die über die wenigen seiner Autoren, die bekannt sind, vorliegen. Meleaton (Rost) erklärte öffentlich seine Reue über sein Unrecht, galante Romane geschrieben zu haben, bei Hunold - als dem wichtigsten Autor 41
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Hier werden allerdings die von Spiegel anhand der Titel ermittelten Zahlen als vager Ausdruck des Erfolgs gewertet. In Corvinus' Frauenzimmer-Lexicon von 1715 hieß es bereits über den Romain: Seynd allerhand verliebte Geschichte und Erzehlungen derer Götter, Helden, hohen Standes- auch anderer Personen mit allerhand heimlichen und wunderswürdigen Liebes-Intriguen angefilllet, entweder ertichtet, oder wahrhaffiig, übersetzet oder selbst ausgefertiget [...]. Man findet deren von unzehliger Menge, die neuesten sind des Herrn von Lohensteins, des von Ziegler, der Madm. Scudery, Talanders, Menantes u.a.m. (1658) Schon 1715 wollte Rost seine Cvrieusen Liebes-Begebenfteiten lieber nicht als Roman präsentieren (Vorrede ) 0 ( 1). Mit diesem Gattungsverständnis arbeitete noch eine Rezension von 1784 bei der Charakterisierung der Wirklichen Begebenheiten und Reisen eines Weltmannes: Ein Roman im eigentlichsten Verstände des Worts, das heißt, eine Reise der unwahrscheinlichsten Begebenheiten von der Welt. (Von Berg, ADB 59, 1784, 431) Es sind also die vereindeutigenden Abgrenzungen gegen bestimmte Traditionen des Erzählens gewesen, die den Begriff 'Roman' bis heute scheinbar unauflösbar auf eine erfundene Geschichte festlegten. So wäre es zu der hier favorisierten Vorstellung einer mehrheitlich neuen Leserschaft des bürgerlichen Romans kein Widerspruch mehr, daß die galanten Romane gerade in der 'freien und Hansestadt' Hamburg zeitweise großen Erfolg hatten, also dezidiert bürgerlicher Geist mit der galanten Welt sympathisierte; siehe hierzu Voßkamp, Adelsprojektionen.
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dieser Gattung - nimmt diese 'Rationalisierung'44 seines Lebens zumindest sein zeitgenössischer Biograph vor.45 Von den Sogwirkungen des immer mächtiger werdenden rationalistischen Moraldiskurses zeugen auch die den galanten Liebesgeschichten schamhaft aufgesetzten Bekehrungsschablonen, welche bei Schnabels Im Irr-Garten der Liebe herum taumelnden Cavalier (1738) zu einem prä-
gnanten Widerspruch zwischen didaktischem prodesse und pikantem delectare führen. Deshalb verwundert es auch nicht, daß die Wahrheitsbeteuerungen der galanten Romane mit der Zeit zugenommen haben.46 Die auffällige Verschlechterung der öffentlichen Romanreputation im frühen 18. Jahrhundert muß also im wesentlichen auf zwei Faktoren zurückgeführt werden. Mit der Marktbeherrschung der galanten Romane in den ersten beiden Jahrzehnten wurde auf deren Erscheinungsbild hin das allgemeine Verständnis dessen, was ein Roman sei, verengt.47 Eine durch den aus Frankreich importierten kürzeren Roman ermöglichte Gewinnung neuer Leser hatte zunächst eine bisher so nicht gekannte Beeinflussung einer literarischen Gattung durch den Markt bewirkt. Daraus entsprang die halbemst oder ernst verteidigte Wendung zum erzählerischen Bedienen des aufs curieuse und Erotik gehenden Unterhaltungsbedürfnisses von neuen Rezipienten im galanten Roman. Diese Voraussetzung bot der Robinsonaden- und Abenteuerliteratur gute Gelegenheit, sich
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Daß es sich bei solchen 'Bekehrungen' der Autoren galanter Romane um einen Rationalisierungsvorgang handelt, belegen die von Rost gebrauchten Berufungen auf die Vernunft: Hat mir der Verstand gemangelt/ und habe ich keine wahre Erkänntniß der Tugend/ noch keinen gründlichen Unterricht in den benöthigten Wissenschaften besessen: so danke ich GOtt/ daß er mir nun die Augen eröfiiet/ und ein besseres Licht in meinem Hertzen angezündet. [...] da der Stein/ woran ich mich aus Unbedachtsamkeit gestossen/ von der Vernunft in das Bildniß eines klugen und tugendhaften Menschens verwandelt worden: so soll es mir künftig zu einem klaren Spiegel dienen/ aus dessen unbeflecktem Gegenstande ich alles wireine von mir abwischen will (Vorrede, )0(5). Siehe Wedel: Geheime Nachrichten, 1731, 107. [Rost:] Cvrieuse Liebes-Begebenheiten, Vorrede, )0(4v. Zwar kann es sich hierbei um eine Werbestrategie handeln, hat Rost doch durchaus noch weiter solche Romane publiziert und die nächsten beiden in eben dieser Vorrede bereits angekündigt - )0(8 -, aber die Benutzung einer solchen moralisierenden Argumentation ist in diesem Zusammenhang auch dann signifikant, wenn sie nur strategisch eingesetzt wurde. Siehe für weitere Belege auch die Nachweise bei Schmitt: Die pietistische Kritik, 18. Siehe Singer: Roman zwischen Barock und Rokoko, 167. J. Meier schreibt im Vorwort seiner Durchlauchtigsten Hebreerinnen 1797: Es ist zwar leyder! zu unseren Zeiten durch die Uederligkeit etlicher unverschämten und theils gewinnsüchtigen Roman Schreiber dahin gekommen/ daß man die Romans oder Helden-Gedichte vor Köder und Reizungen der Leichtfertigkeit und unziemlicher Begierden halt 0( lv).
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gegen ein derart vereindeutigtes Gattungsschema48 offensiv abzusetzen. Erfolgsbedingender Vorteil dieser neuen literarischen Formen dürfte dabei gewesen sein, daß ihre normativen Angebote den neu erschlossenen Lesergruppen vertrauter schienen als eine bürgerliche galante conduite, die doch sehr viel deutlicher sich als eine neue, Hof und Adel angenäherte Lebensform erkennbar abzeichnete. Vor allem aber wirkte sich die Robinsonaden- und Abenteuerliteratur in der Erschließung ganz neuer Leser in großem Ausmaß für die Erzählliteratur aus. Welche Funktionen diese Texte als spezifische Erfahrungsmanifestation des reproduktiven Bürgertums49 erfüllten, ist inzwischen hinlänglich beschrieben worden. Je erfolgreicher die Rekrutierung auch des nicht akademisch gebildeten Publikums durch die neuen Abenteuerromane war, desto stärker verschob sich das Bewußtsein der Romanleserschaft zu ungunsten der 'nutzlosen' Fiktionalität. Der Grund für die so einzigartige Selbstverleugnung einer literarischen Gattung lag also in der Gewinnung ganz neuer Publikumsmehrheiten. Das Verhältnis der aufklärerischen Erzählliteratur zum Barock dürfte also überwiegend bestimmbar sein als ein Neuansatz. Was mit dem robinsonschen Abenteuerroman gelang, war strukturgeschichtlich gesehen die Kombination der providentiellen Sinn- und Gerechtigkeitsgarantie einer im Tugendlohn sich versichernden positiven Anthropologie mit der Gesellschaftsperspektive des kleinen bis mittleren Bürgertums in dezidiert gegenadliger Selbstprofilierungsfunktion. Bürgerliche Sichtweisen in der Literatur des Barock hatten dagegen entweder zu keinem weltversöhnenden Handlungsbegriff oder nicht zu einer gegenhöfischen Selbstbehauptung finden können. Die im Robinson vorgenommene 'Verbürgerlichung' deijenigen Handlungsmuster, die im hohen Roman gewonnen worden waren, lichtete zugleich den Nebel der Weltundurchschaubarkeit und 'kausalisierte' den endlichen Erfolg mit den praktischen Anstrengungen des handelnden Menschen. 50 Gott blieb zwar der stille Garant der Belohnung der Fleißigen, aber 48
Die Rückwirkungen der an sich an Frankreich orientierenden Romanproduktion in Deutschland auf den allgemeinen Romanbegriff benennt Ormenio in seiner Liebes-
Geschichte der Medea bereits 1719: Einige Authores/ die bey Verfassung ihrer Romanen/ ich weiß nicht mit was vor einer groben Feder geschrieben/ haben diese Art der Bücher/ bey vielen Leuten so verhaßt gemacht/ daß sie schon vor deren Benennung einen Abscheu bezeugen. (Vorrede, )(2v) 49 50
Fohrmann: Abenteuer und Bürgertum, 203. Die theologische Transformation Defoes liegt ja darin, daß er im Robinson Crusoe den Prädestinationsvorbehalt des Kalvinismus zugunsten des weltversöhnenden Providenznachweises entmachtet hat. Zwar bleibt auch Robinson beständig mit der Suche nach Erwähltheitssignalen befaßt, aber sowohl der Untertitel (written by himself) wie das Erzählmodell der retrospektiven Autobiographie versichern den Leser ja bereits des positiven Ausgangs der außergewöhnlichen Abenteuer. So entsteht durch das erzählerische Setting ein Effekt der vorgängigen Versicherung des Tugendlohns. Zu Vorformen solcher Spannung zwischen dem Prospekt schließlicher
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er mußte nicht mehr eigentlich eingreifen, denn der Mechanismus der Gesetzeskausalitäten bedurfte lediglich einer allgemeinen Kontrolle 'aus der Feme'. 51 Auch diese - hier äußerst vergröberten - strukturellen Bezüge zwischen dem neuen Roman und einigen tradierten Erzählmodellen ändern nichts daran, daß die besondere, gern als 'Säkularisation' bezeichnete Transformationsleistung dieses Romans in ihrer von den Zeitgenossen wahrgenommenen Kontur gerade nicht Anknüpfung an vorhandene literarische Formen war, sondern auf fremde, außerhalb der Dichtung liegende Traditionen zurückgriff. 52 Neben den genetischen Argumenten lassen sich dafür auch inhaltliche Gründe anführen: gerade die kalvinistisch-puritanische Radikalität des unmittelbaren Bezuges jedes einzelnen zu Gott bewirkte die Etablierung pragmatischer Handlungskausalität im Gegensatz zu barocker Weltundurchschaubarkeit. Denn der unmittelbare Bezug zu Gott machte virtuell jedes Individuum zum grundsätzlich kompetenten Interpreten beider göttlicher Bücher, der Bibel und der Natur.53 Nur aber durch die
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Heilsgewißheit durch den erzählerischen Rahmen und der individuellen Heilsungewiöheit durch den suchenden einzelnen in Pilgrim's Progress siehe Iser: Bunyans Pilgrim's Progress, 23-28. Zum Erzählschema des 'hohen' Barockromans und der Providenz siehe ausführlich Kapitel 7. Schlaeger spricht vom fernen, aber geneigten Gott (Robinsonade als frühbürgerliche Eutopia, 292). Siehe hierzu auch Frick: Providenz und Kontingenz, 129-143. In diesem Zusammenhang ist von besonderem Gewicht, daß Defoe ja gerade das Prädestinationsdogma in seinen Romanen entschärfte, welches allen kalkulierbaren Konnex zwischen der individuellen Handlung und einer möglichen Erlösung bestritt; siehe hierzu Stamm: Der aufgeklärte Puritanismus Daniel Defoes, 140-144. Den krassen Gegensatz im Dichtungsverständnis belegt, daß fur Corvinus in seinem galanten Roman von 1712 der Titel der Historie eine Bescheidenheitsgeste ist, wogegen dem Romanautor Virtuosität bescheinigt wird: Jedoch meine schüchterne Muse, die ihr Unvermögen am allerbesten kennet, kleidet sich gar nicht mit einem prachtigen Romanischen Gewand aus, sondern gehet nur in dem einfältigen AlltagsKittel der Historie gar demüthig einher, ob sie gleich denen Virtuosen ein Romanisches Stirn-Band, um das ΉΜ-ΒΙαα ein wenig auszustaffiren, zu ihrem schlechten Habit abgeborget. (Das Carneval der Liebe, Widmung, ):( 4v. Frick spricht nur ganz allgemein von der Möglichkeit historischer Diskontinuität und von TraditionsabbrOchen zur Bestimmung des Verhältnisses von Defoe zur Tradition, bekommt aber das hier organisierende Prinzip der Publikumserweiterung nicht in den Blick, weil der methodische Zugriff einer Reihung von Textkommentaren die Fragen des Erfolges bestimmter Werke nicht systematisch stellen kann. (Siehe: Providenz und Kontingenz, 128 und Kontext) Siehe hierzu auch Assmann: Legitimität der Fiktion, 77, 40-44, sowie zu dem gesamten Zusammenhang den ersten Teil ihrer Darstellung. Den hier zu parallelisierenden Prozeß des Verfalls allegorischer Weltauslegung hat Martens an einigen abstrus wirkenden Beispielen erbaulicher Betrachtung des frühen 18. Jahrhunderts beschrieben (siehe: Über die Tabakspfeife und andere erbauliche Materialien). Vor allem siehe hierzu aber Foucault, der die in diesen Entwicklungen entstandenen dif-
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Erklärung der Natur zur unmittelbaren, untrüglichen, von jedem lesbaren Handschrift Gottes wird es sinnvoll und lohnend, diese Schrift nach eigenen Kalkulationen durch praktischen Eingriff zu den erwünschten und berechneten Antworten aufzufordern. 54 Zwar setzte bereits auch der politische Handlungsbegriff der galanten Ethik auf rational kalkulierten Eingriff. Dieses Handlungsmodell allerdings stand in struktureller Koinzidenz mit dem höfischen. Der 'politisch' agierende Hofbeamte konnte seine Welt nicht durchschauen, er entbehrte der unzweifelhaften Wohlgesonnenheit der für seinen Erfolg allein verantwortlichen höheren Instanz. Die Ratschlüsse eines jeden in der Hierarchie über ihm Stehenden waren so unerforschlich und unberechenbar, als wären sie göttlich. 55 Jedenfalls verstand es so die sich zunehmend als bürgerlich ihrer selbst bewußt werdenden neuen Romanlesermehrheit, die dieses Selbstbewußtsein gerade in der Abgrenzung gegen das im Ideal des Politischen und des Galanten identifizierten Höfischen fand. Deshalb gerann das Motiv des wechselhaften, von Intrigen und Launen beherrschten höfischen Lebens zum literarischen Dauerbrenner des 18. Jahrhunderts. Denn mit Hilfe der Höchstbewertung von Aufrichtigkeit hatte dem galanten Konzept gegenüber ein anderer Handlungsbegriff mit Evidenz ausgestattet werden können, welchem die Konkretisierung gottgefälligen Verhaltens im Fleiß und damit die Entmachtung der sechs übrigen Todsünden neben der Trägheit gelang. 56 Im so gewonnenen Erfolgsmodell der 'irdischen Glückseligkeit des Tugendhaften' konnte Gott als Garantie-Instanz faktisch in die Ferne gerückt werden - die Welt wurde für den einzelnen durchschaubar und berechenbar. 57 Trotz etlicher Indizien für die 'verbürgerlichte' Übergangsrolle des
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ferenten Formen der Wirldichkeitswahrnehmung kontrastiv gegeneinander stellt (Die Ordnung der Dinge, etwa Kap. 3 und 7). Natürlich diente Gott auch weiterhin als Aushilfe bei den Realitätsdeutungen von Wirklichkeitsmomenten und -faktoren, die sich individuellem Einfluß entziehen wie Wind, Sturm, Trockenheit, Sonne, Regen, Krankheit etc. - Zur Konsequenz des Übergangs vom Puritaner zum Empiristen siehe Stamm: Der aufgeklärte Puritanismus Daniel Defoes (128). Siehe zum höfischen Verhaltensmuster des Politicus ausführlich Frühsorge: Der politische Körper, bes. Teil 1 und 2, sowie sehr prägnant Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, 59-66. Siehe Schlaeger: Robinsonade als frühbürgerliche Eutopia, 291. Siehe hierzu Stamm: Der aufgeklärte Puritanismus, bes. 125-131. Allerdings handelte es sich hierbei um einen Prozeß der Uminterpretation von Wirklichkeit, der in den entsprechenden Romanen nicht einfach schon vollzogen war. Im Gegenteil spielt in vielen Romanen der ersten Jahrhunderthälfte der unmittelbare Eingriff Gottes als Erklärungsgröße überraschender Wendungen eine große Rolle. Siehe hierzu Voßkamp: Theorie und Praxis der literarischen Fiktion, 131-136. Im Sächsischen Robinson zum Beispiel (1722) führt der fingierte Autobiograph immer wieder die sonderbare Providern GOttes (61) an, dennoch läßt sich in diesem Text der Mechanismus der irdischen Sinnversicherung deutlich verfolgen, etwa an folgender
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galanten Romans zwischen Barock und Aufklärung profilierte sich der neue, bürgerliche Roman gerade gegen den galanten, welcher das zurhandene Feindbild des alten Romans verkörpern mußte.5® Die in den deutschen Ländern besonders mächtigen Abgrenzungsbedürfnisse bürgerlicher Schichten gegen einen relativ starken Adel dürften dafür verantwortlich sein, daß die Robinsonadenmode hauptsächlich ein deutsches Phänomen war. Empfindsam-bürgerliche Gesellschaftsentwürfe blieben hierzulande besonders aussichtslos, weshalb der Robinsonstoff vor allem in seinen utopisierten Verwandlungen, als Projektionsfläche für die Identitätsbedürfnisse seiner Rezipienten59 gedient haben dürfte. Schlaegers These, daß Defoes Robinson nicht einen Schritt der Literatur auf die 'Wirklichkeit' zu bedeute, sondern nur eine für neue soziale Gruppen funktionale Idealisierung sei, ist als generelle Behauptung wohl wenig überraschend.60 Gleichwohl kann Defoes Stil in einem gewissen
Überlegung des Helden (161): GOtt hat mich zwar vieles Elend, und wunderlich, ja fast unglaubliches Misere erleben lassen; Er hat mich aber auch auf so eine wunderliche Art wieder daraus errettet, daß ich mich noch täglich selbst hierüber verwundern muß, und recht mit dem Psalmisten David sagen kan: aus sechs Trübsalen hast du mich errettet, und in der siebenden soll mir kein Leyd wiederfahren. Kein Wunder, wenn schließlich Gott und Vernunft (funktional) gleichgesetzt werden:
Doch was ist ein wollüstiger und junger Lecker nicht zu thun capabel, wenn ihn GOtt verlaßt, oder seine Vernunffi durch einen Nebel der Leichtsinnigkeit verfinstert ist. (165) 58
Der Sächsische Robinson ist für diese Abgrenzung ein deutliches Beispiel, wo Wilhelm Retchir immer wieder lernen muß, daß die Verfuhrungen der galanten Liebe nur vom rechten gottgefälligen Weg abfuhren. Siehe auch den deutlichen Hinweis
im Avertissement: Wer übrigens in dieser Piege eine nach dem Gout der heutigen politen Welt eingerichtete Schreib-Art zu finden gedencket, der wird sich, nach geschehener Durchlesung, einiger massen betrogen finden. Ein Mensch, der mehr als ein V*. Theil eines Seculi in frembden Ländern und auf dem Meer herum vagiret; der lange Zeit unter Völckern [...] der muß nothwendig den Geschmack der heutigen Welt verloren, auch bey so lange ermangelter Praxi die reine Schreib-Art seiner
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Mutter-Sprache vergessen haben. 0(3) Daß diese Abgrenzung gleichwohl noch nicht vollständig gelang, ist nicht zuletzt an der deutlichen Durchsetzung der Sprache mit französischen Modeausdrücken abzulesen, die für die galanten Texte so kennzeichnend waren. Zu deren sozialen Zusammensetzung siehe Fohrmann: Bürgertum und Abenteuer, 26-37. Schlaeger hält auch gerade eine inzwischen fortgeschrittene Realisierung bürgerlicher Gesellschaftsformen für den Grund der Umformungen des Stoffes in 'echte' Utopien, berücksichtigt dabei aber weder nationale Differenzen noch die Tatsache, daß die ersten robinsonadischen Utopien bereits nach wenigen Jahren erschienen. Solche Argumentationsschwierigkeiten ließen sich durch die Annahme beheben, daß schon während des Entstehens literarischer Öffentlichkeit Literatur als Medium genügend eigengesetzlich war, um bestimmte Entwürfe und Konzepte sofort modifizieren oder kritisieren zu können.
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Bürgerlicher Roman und neue Leser. Der Übergang zur Aufklarung
Sinn durchaus als 'realistischer' beschrieben werden. Denn unabhängig von allen inzwischen wohlbeschriebenen Identitätsfunktionen für die middle-class gentility61 war die unabläßliche Voraussetzung des überraschenden Welterfolgs dieses Romans gerade auch in nicht akademisch gebildeten Schichten die gelungene Verschleierung von Fiktionalität mittels erzähltechnischer Verfahren. So wurde die entscheidende Veränderung in den Bedingungen herausgebildet, unter denen der Roman als Gattung stand. Und diese wohl wichtigste Differenz zwischen Barock- und Aufklärungsroman war die kategoriale Veränderung des Publikums, das von einer Avantgarde der Gebildeten zur anonymen Masse sich weitete. Diese radikale Veränderung der literarischen Welt ist zu großen Teilen durch den neuen, 'bürgerlichen' Kurzroman radikalprotestantischer Provenienz eingeleitet worden.
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Siehe Shinagel: Daniel Defoe and Middle-Class Gentility, hier vor allem 107-141.
Exkurs: Die eine Welt der Aufklärung. Homogenisierung der Wirklichkeit und der Referenzbezug der Dichtung
Allein eine Schwalbe, macht noch keinen Sommer, und die allgemeine Meynung ist vorzuziehen. (Gottsched)1
Zu den gern angeführten Gattungskennzeichen des Romans gehört neben seiner 'Welthaftigkeit' auch seine 'Welthaltigkeit'2. Das bedeutet aber, daß nicht nur nach den strukturellen Äquivalenzen gefragt werden darf, die sich uns zwischen dem Weltbegriff und dem Roman auftun, sondern daß auch dem inhaltlichen Bezug vom Roman zur Welt nachgegangen werden muß. Was allerdings die Menschen jeweils als Welt erfahren und wahrnehmen, ist historischem Wandel unterworfen. Auf der Theorieebene waren es bereits Entdeckungen der Renaissance, in denen sich die Pluralitat der Welten offenbarte. Doch jenseits des elitären Wirklichkeitsverständnisses ruhte bis ins 17. Jahrhundert ein weithin einheitliches Weltbild in den kulturellen, materiellen, sozialen und religiösen Traditionen, die in Deutschland auf unvergleichliche Weise im Dreißigjährigen Krieg erschüttert wurden. 4 Die hiervon ausgehende Verunsicherung vermochte die Aufklärung noch einmal aufzufangen und - vor allem mittels der Instrumente der literarischen Öffentlichkeit - einer solchen 'einen Welt' noch einmal künstlich Geltung zu verschaffen und sie für einige Jahrzehnte erfolgreich gegen die Pluralität der Weltbilder zu verteidigen. Diese Etablierungsanstrengungen und der Geltungsbereich dieser 'einen Welt' sind für den Roman von besonderer Bedeutung, weil die Poetologen und Literaturtheoretiker der Aufklärung mit ziemlichem Erfolg versuchten, die Literatur zur Nachahmung einer Wirklichkeit zu verpflichten, die nicht mit der alltäglich erfahrbaren Realität zusammenfiel. Die 'eine Welt', die die Literatur abbilden sollte, war ein bestimmter normativer Kontext, der von der Herrschaft der Vernunft bestimmt sein sollte. In DeutschCritische Dichtkunst, 4SS. Siehe Blumenberg: Provokationen des Lesers, 669, sowie zur Begriffsproblematik noch einmal oben, S. 7-9 So der Titel der gleichnamigen Aufsatzanthologie zu Aspekten der Renaissance in
der Romania (Untertitel). Zum Problemzusammenhang gibt Sybille Penkert einen kurzen Forschungsüberblick
(Neuzeitliches Weltbild).
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Homogenisierung der Wirklichkeit und der Referenzbezug der Dichtung
land war die Macht dieser einen Vernunftwelt im 18. Jahrhundert unangefochten wie in keinem anderen europäischen Land.5 Der Literaturwissenschaft erschien geradezu von Anbeginn des Faches die Literatur der Aufklärung überwiegend als uninteressant und epigonal. Die daraus resultierende, bis in die 1960er Jahre hinein währende Vernachlässigung der - besonders vorlessingschen - Aufklärung gründete auf dem mal mit Langeweile, mal mit Alterität registrierten einheitlichen Erscheinungsbild dieser Epoche. So fühlten sich denn die ersten Bemühungen um eine intensivere Beschäftigung des Faches mit Lessing und Wieland genötigt, solche Wünsche nach Interessenverlagerung mit der Nichtzugehörigkeit dieser beiden zur Aufklärung zu begründen.6 Bezeichnend lobt Martini noch 1956 an Wieland, dem er originäre Substantiality des Schöpferischen abspricht, wie Winckelmann, Gerstenberg, Klopstock oder Lessing den begrenzten geistigen Raum der Aufklärung durchbrochen
zu
haben. Eine pejorative Rede von der Aufklärung bleibt bis zur emphatischen, emanzipatorisch inspirierten Entdeckung Lessings und des Sturms und Drangs so geläufig wie die noch andauernde Abwertung des 'Rationalismus', der besonders gern in Gottsched seine Identifikation findet. Je intensiver seitdem die deutsche Aufklärung erforscht wird, desto stärker treten auch Binnendifferenzierungen, Entwicklungen und Zwiste hervor. Gleichwohl ist diese Tradition des Umgangs mit der Aufklärung nicht allein Fortschreibung erfolgreicher Abgrenzungen der Nachfolgeepochen, sondern Früh- und besonders Hochaufklärung boten dem Vorurteil vom Fehlen ausgeprägter Individualisierungen durchaus bestätigende Anhaltspunkte. Mag der gebannte Blick auf die 'außergewöhnlichen Gestalten' eine ungeprüfte Übernahme klassisch-romantischer Vorlieben gewesen sein, mag man in einigen Vertretern der (vor allem späten) Aufklärung zu Unrecht keine solche Außerordentlichkeit gesucht haben (Wieland), das Gesamterscheinungsbild der deutschen Aufklärung ist tatsächlich von einer unvergleichlichen Einheitlichkeit bestimmt. Die großen philosophischen Gefechte der europäischen Aufklärung zwischen Intellektualismus und Voluntarismus, zwischen Rationalismus und Empirismus wurden in Deutschland spürbar gedämpft geführt, entsprechend gab es hier keinen ausge-
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Ermöglicht wurde ihre Durchsetzung durch den Wolffschen Rationalismus, den Gottsched nicht nur eifrig popularisierte, sondern auch auf die Dichtung übertrug. Siehe etwa Philipp: Das Werden der Aufklärung, 123-139, sowie Kimpel, Christian Wolff und das aufklärerische Programm der literarischen Bildung. Siehe etwa Raschs Forschungsbericht von 1956: Die Literatur der Aufklärungszeit, 535, 547 u.ö. Dort sind Lessing, Klopstock und Wieland für Rasch noch Geister zweiten Ranges (534). Chr.M. Wieland, 87, 95. Für die Philosophiegeschichtsschreibung ließe sich Ähnliches sagen.
51 Homogenisierung der Wirklichkeit und der Referenzbezug der Dichtung α prägten Materialismus oder Nihilismus. Doch so sehr die Philosophiegeschichte im deutschen 18. Jahrhundert die großen Köpfe zwischen Leibniz und Kant vermißt, uniformes Erscheinungsbild prägt in der deutschen Aufklärung vor allem die unterhalb der Fachphilosophie liegenden Verständigungsebenen. Hier gelang es den diskursbildenden Instanzen, einen normativen Konsens von einer einige Jahrzehnte währenden Stabilität zu etablieren. Ein - wie es scheint - noch immer weiter ausgedehntes Interesse an den Außenseitern, den 'originalen Köpfen', den Selbstdenkern und großen Persönlichkeiten dieser Zeit verlängert vielleicht etwas einseitig die erst zu Beginn der folgenden Epoche entwickelten Höchstwerte von Originalität und Individualität. Die Eigencharakterisierungen der Aufklärung als Kritik und Selbstdenken dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß ein mögliches Fortexistieren der Aufklärung als Epoche desto zweifelhafter war, je stärker sie sich aus diesen beiden Wesensbestimmungen begriff, weil mit diesen Instrumenten die inhaltliche Substanz dessen, was einigermaßen unangefochten Geltung haben konnte, zersetzt wurde.9 Darum stammen solche Definitionsversuche auch vornehmlich aus der Phase, in der die epochendestruierenden Tendenzen des kritischen Apparats zur Reflexion zwangen.10 Daß die Epoche selbst allerdings keineswegs die Gefahren fortgesetzter Reflexion und Negation übersah, überlieferte sie in der Kontinuität ihrer Debatte darüber, ob Kritik oder Doktrin die größere Bedeutung zukomme.11 Vor diesem Problemhintergrund dürfte es zu den entscheidenden Stabilisierungsleistungen der Früh- und Hochaufklärung gehört haben, uneingeschränkte rationale Dialogizität zu prätendieren und dennoch neue Selbstverständlichkeiten im allgemeinen moralischen Bewußtsein der Gebildeten zu verankern, die über einige Jahrzehnte hin einigermaßen erfolgreich gegen historisch-kritische Thematisierungen durch die Vernunft tabuisiert werden konnten. Dies erst war die Möglichkeitsbedingung des epochalen Erfolgs: Zwar durfte über alles gesprochen und alles vernünftig begründet werden, doch die Intention dieses Rationalisierungsgebots blieb wesentlich apologetisch, über etliche Fragen standen die möglichen Ergebnisse des Gesprächs von vornherein fest. Bezeichnenderweise muß man Klinger und Wezel zur deutschen Spätaufklärung rechnen. Zum Zusammenhang siehe Saine: Von der Kopernikanischen zur Französischen Revolution,' lOSff. 9 Siehe zum Problem etwa Schneiders: Wahre Aufklärung, 11-25. 10 Von den bei Beschreibungen der Aufklärung so gern herangezogenen Beiträgen zur Berlinischen Monatsschrift von 1783 über die Preisfrage 'Was ist Aufklärung?' läßt sich in erster Linie erfahren, wie die Spätaufklärung darüber dachte. 11 Siehe hierzu Schneiders: Wahre Aufklärung, 161, und Hinske: Aufklärung über Aufklärung, 12S.
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Die wohl wichtigste Institution zur Verankerung derartiger Normativität dürften die moralischen Wochenschriften gewesen sein, die in den 1720er bis 1750er Jahren sich einer heute kaum vorstellbaren Beliebtheit erfreuten und diesen Einfluß zur Verbreitung aufklärerischer Normen nutzten.12 Verschleiern ließ sich die Künstlichkeit des paradoxen Verfahrens, Selbstverständlichkeiten zu generieren13 in der engen Anlehnung der aufklärerischen Ethik an die - vor allem religiös geprägte - Tradition bürgerlicher Moral.14 Dasjenige Bewußtsein, das unter den neuen (bürgerlichen) Mehrheiten geläufig war oder sich doch zumindest auf eine Tradition berufen konnte,15 baute in der entstehenden 'Öffentlichkeit' eine Hegemonialstellung auf. Dabei versuchte man erfolgreich, diesen Normenkontext als von der Vernunft legitimiert darzustellen, die zu der alles übergreifenden Richtinstanz stilisiert wurde. So war vielfach das scheinbar vernünftig Begründete nur das Gängige im Horizont der alltagsweltlichen Orientierung derjenigen bürgerlichen Gruppen, die in der literarischen Öffentlichkeit den Ton angaben. Selbst wenn die Ratio nicht immer das gewichtigste Argument in einer Behauptung darstellte, so gelang es doch, die Vernunft als eine Größe zu präsentieren, um deren Geltung gar nicht zu streiten sei, die vielmehr als unabhängige Richterin zu entscheiden habe - womit im Hinblick auf einen Durchsetzungsversuch des Vernunftdiskurses die Entscheidung qua Beweislastverlagerung bereits gefallen war.16 Vermutlich beförderte die in Deutschland besonders 12 13
16
Siehe hierzu ausführlich Martens: Die Botschaft der Tugend. Als ein solches Projekt beschreibt zum Beispiel Wegmann die Empfindsamkeit (Diskurse der Empfindsamkeit). Zur Verschränkung zwischen Aufklärerischem und Religiösem siehe Kondylis: Die Aufklärung, 544, und vor allem Philipp: Das Werden der Aufklärung aus theologiegeschichtlicher Sicht. Daß es inhaltlich weniger um Religion ging, als die Texte suggerieren, wird an Wolffs Versuch kenntlich, in seiner Ethik auch Atheisten auf ein tugendhaftes Leben zu verpflichten, indem er für die Different von Gut und Böse einen (noch) höheren Gesetzgeber unterstellt, dessen Bestimmungen selbst dann gälten, wenn es Gott nicht gäbe - die Vernunft eben (siehe Bissinger: Zur metaphysischen Begründung, 154f., und Anmerkung 51). Bissinger weist darauf hin, daß Wolffs immer wieder aufgelegte Ethik, so modern sie sich in ihrer rational-deduktiven Methode gab, inhaltlich notwendig ein konservativer Zug anhaftete, sie die Ableitung völlig neuer Normen gar nicht gestattete (siehe: Zur metaphysischen Begründung der Wölfischen Ethik, 156). Martens zitiert ein hierfür markantes Beispiel aus der Wochenschrift Der Mensch. An dem dort fingierten Gespräch läßt sich genau ablesen, daß der AufklärungsGegner die Auseinandersetzung schon verloren hat, wenn er sich auf das (selbstverständlich als rationales eingeforderte) Gespräch überhaupt einläßt. Lassen Sie sich auf meine Frage ein, fordert folgerichtig der Protagonist - und könnte auch gleich zur Übernahme des eigenen Diskurses raten. So kann der Kontrahent kaum anders, als den Dialog abzubrechen. (Botschaft der Tugend, 21 lf.). Zwar zielt die Szene auf die Verspottung der frommen Einfalt, die sich scheinbar nicht belehren lassen will, doch noch im Zerrbild ist die Problematik präzis getroffen.
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schmerzlich empfundene Vielzahl der aufgebrochenen, vor allem religiösen, Dualismen und Differenzen den so eindrucksvollen Sieg des Rationalismus, gerade weil er von Wolff in einem besonderen, zentripetalen Uniformismus angeboten wurde.17 Für die Dichtung hat Gottsched wesentlich den Proze6 vorangetrieben, den man die Etablierung der 'einen Welt' nennen könnte. Dazu benutzte der Leipziger Professor für Philosophie und Dichtkunst Wolffs Philosophie, die ihm wichtige Anknüpfungspunkte bot. Einer davon war die Forderung nach Entwicklung einer Wahrscheinlichkeitslehre, welche die prinzipielle Begrenztheit des menschlichen Verstandes tendenziell ausgleichen sollte, indem sie dort weiterhalf, wo Gewißheit nicht zu erlangen ist.18 Hieran anknüpfend entfaltete Gottsched die literarische Wahrscheinlichkeit derart, daß die Dichtung zu einer rationalen Erkenntnisform wurde. So konnte er seine in der Funktionalisierung zur moralischen Didaxe unternommene Rechtfertigung der Literatur sogar noch steigern. Bei diesem Entwurf gelang es Gottsched mittels des Rationalismus, insgesamt dasjenige, was als 'wahrscheinlich' gelten sollte, auf einen pragmatisieibaren, sehr begrenzten Kontext zu reduzieren. Erreicht wurde diese Reduktion durch die Orientierung an Ähnlichkeiten zwischen dem Erfundenen und der Alltagswirklichkeit sowie durch eine Selbstbeschränkung des erfindenden Verstandes auf das, was allemal gewiß zu sein schien: kluge Dichter bleiben bey wahrscheinlichen, das ist, bey menschlichen und solchen Dingen, deren Wahrscheinlichkeit zu beurtheilen, nicht Ober die Gränzen unsrer Einsicht geht.19 Zwar blieb das Kriterium für die Wahrscheinlichkeit strenggenommen, daß nichts Widersprechendes in der Begebenheit sei, doch eigentlich wurde das Wahrscheinliche an das Gewöhnliche gebunden, auf das Gottsched den Naturbegriff zuschnitt: 'was wirklich zu geschehen pflegt'; oder die Uebereinstimmung der Fabel mit der Natur. Wider17
Siehe hierzu ausführlich Saine: Von der Kopernikanischen bis zur Französischen Revolution, 116-249; außerdem Thomas: Ideologische Aspekte der praktischen Philosophie Wolffs; Mühlpfordt: Radikaler Wolffianismus; Kimpel: Wolff und das Programm der literarischen Bildung; Hinske: Wolfis Stellung in der deutschen Aufklärung; Wundt: Christian Wolff und die deutsche Aufklärung. Siehe Kimpel: Wolff und das Programm der literarischen Bildung, 210f., sowie zu dem gesamten Zusammenhang Birke: Gottscheds Neuorientierung der deutschen Poetik.
19
Gottsched: Critische Dichtkunst, 224. Zu Gottscheds Poetik siehe bes. Hermann: Naturnachahmung und Einbildungskraft, 92-161. 200, 198. Das rein abstrakte Kriterium der Widerspruchsfreiheit (als nur hypothetischer Wahrscheinlichkeit) brauchte Gottsched vor allem, um die äsopische (Tier-) Fabel legitimieren zu können. An dieser hatte er ein besonderes Interesse, weil Exempel und Fabel diejenigen Genres sind, denen Wolff dezidiert moralische Funktionen zusprach, was ja auch ein Grund dafür sein dürfte, daß Gottsched den mehrdeutigen Fabelbegriff so sehr ins Zentrum seiner Poetik stellte. (Siehe Kimpel:
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spruchsfreiheit allein war als einzige Begrenzung der dichterischen Erfindung offenbar zu wenig (wie sich später noch erweisen sollte), aber eben daran wird die eigentliche Funktion der Umstellung auf 'wahrscheinliche' Dichtung kenntlich. Denn die wahrscheinliche Welt entsprach keineswegs einer vorfindlichen Realität der alltäglichen Erfahrung: zu dieser Welt gehörten vielmehr ungenannte Voraussetzungen, deren Befolgung das einheitliche Erscheinungsbild der hochaufklärerischen Literatur garantierte. Im strengen Anschluß an Wolff wurde auch Gottsched alles, was widerspruchsfrei gedacht werden konnte, zum 'Möglichen', zum genuinen Gegenstand menschlicher Erkenntnis - und damit nun auch der poetischen Nachahmung, deren Bereich durch die möglichen Welten eigentlich ins Unendliche ausgedehnt wurde. Doch blieb diese Unendlichkeit nur der abstrakte Rahmen der begrifflichen Argumentation, die die Unterscheidung von wahr und falsch durch das Kriterium der Möglichkeit, das heißt des widerspruchsfrei Denkbaren ersetzte. Tatsächlich aber verkürzte die Wahrscheinlichkeit in Gottscheds Auslegung die Erfindung des Möglichen auf die Nachahmung des Bekannten. So waren es auch nicht die verborgenen, die sublimen neuen Wahrheiten, welche von der Fabel veranschaulicht werden sollten, sondern jeweils bekannte moralische Lehrsätze, Wahrheiten, die unbestreitbar zur Verfügung zu stehen schienen.21 Deshalb hielt für Gottsched ein Gedicht auch das Mittel zwischen einem morali22
sehen Lehrbuche, und einer wahrhaftigen Geschichte. Durch Gottscheds Instrumentalisierung der Dichtung zur moralischen Didaxe gelang mehr als nur eine Verteidigung der Poesie, denn so konnten weltanschauliche Differenzen des Gattungsspektrums nivelliert werden - selbst wenn Gottsched kaum einen Autor dazu veranlaßt haben dürfte, vor dem Griff zur Feder sich erst einen moralischen Satz zu denken. Da£ in der Critischen Dichtkunst die Frage der Gattungswahl später als die nach der Entscheidung für eine zu illustrierende Wahrheit erörtert wird, belegt den zentralen Effekt dieser Nachahmungslehre: durch sie wurden die gehaltlichen Differenzen der Gattungen aufgehoben. Die Wahrheit 'Ungerechtigkeit und Gewaltthätigkeit' seien ein 'abscheulich Laster' kann deshalb nach Gottsched in einer 'äsopischen, komischen, tragischen', oder 'epischen Fabel' veranschaulicht werden.23 Zwischen den Gattungen verblieben so nur noch Unterschiede in der Form, mit der sie ihre Wirkungen erzielten, nicht aber mehr in ihrem Gehalt als der Art ihrer Wirklichkeitsdeutung. Denn derartige Divergenzen zwischen einzelnen Werken - auch
21 22 23
Wolff und das Programm der literarischen Bildung, 210f., sowie Harth: Wolffs Begründung der Exempel- und Fabellehre) Siehe: Critische Dichtkunst, 161, 611. 167. Bei Gottsched heißt das: sinnlicher zu machen. (Zitate: 161, 162, 436)
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verschiedener Gattungen - können allenfalls auftreten in dem Lehrsatz, der versinnbildlicht werden soll; die Nachahmung all dessen, aus dem die Fabel sich zusammensetzt, bleibt ja orientiert an dem, 'was wirklich zu geschehen pflegt'. 24 Die Lehrsätze wiederum entstammen der Sittenlehre, so daß auch sie als das Bekannte und Gültige auftraten, mit dem die Ungelehrten mittels eines beliebten und lehrreichen Zeitvertreibs sittlich gebessert, die Gelehrten dagegen zur Bewunderung der besonderen Geschicklichkeit des Poeten5 veranlaßt werden sollten. Gottscheds Beispiele verdeutlichen dabei, daß die allgemeine Gültigkeit jener Morale™ mehr prätendiert wurde als tatsächlich bestand. Daß 'Ungerechtigkeit und Gewalttätigkeit abscheuliche Laster'27 seien, war keineswegs allen politisch handelnden Zeitgenossen selbstverständlich, weshalb es ja umfangreiche publizistische Bemühungen gab, der Opposition von Tugend und Laster als einer Norm Geltung zu verschaffen, die höher rangiert als die Stände- (und Macht-) Schranken. 28 Auch der Lehrsatz, daß die göttliche Allwissenheit nicht fehlen könne respektive daß Gott auch die Laster, die unwissend begangen werden, nicht ungestraft lasse29, war keineswegs völlig unbestritten. Erkannt und aufgestellt waren die moralischen Lehrsätze angeblich aber von den Weltweisen oder Philosophen, **
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nicht hingegen durch Tradition und Uberlieferung. Darin lag die verschleierte Provokation der Gottschedschen Poetologie, daß die durch die Poesie verbreiteten Botschaften und Lehren nur solche noch sein sollten, die vor der Vernunft bestehen konnten. So leitete Gottsched die Aufklärung auch in der Dichtkunst ein: das Horazsche prodesse fand seinen vornehmlichen Gehalt nun in der Verbreitung moralischer Lehren, samtliche anderen geläufigen Bestimmungen des Nutzens der Dichtung wie Muttersprachpflege, Verbreitung von Sachkenntnis oder von klugen Aperqus wurden dagegen zurückgesetzt. Damit wurde die phi24
25 26
28 29
Die Tragödie ist von der Komödie nur in der besondern Absicht unterschieden, daß sie anstatt des Gelächters, die Verwunderung, das Schrecken und Mitleid zu erwecken suchet, heißt es folgerichtig bei Gottsched (Critische Dichtkunst, 164) Siehe auch Birke: Gottscheds Neuorientierung der deutschen Poetik, 569, wo geschlossen wird, daß Gottsched die poetischen Gattungen für Zufälligkeiten ausgibt. 167, siehe auch 150. Ebenda. 161. Keineswegs zufällig soll diese Wahrheit einem jungen Prinzen beigebracht werden. Siehe hierzu insgesamt Martens: Die Botschaft der Tugend, sowie etwa 231-246, 264-273. u Sie zieht Gottsched als Lehre aus dem Odipus (Critische Dichtkunst, 613, 611). Siehe auch die Lehre der llias 486: Z.E. ich wollte lehren, die Uneinigkeit sey sehr schädlich. Siehe hierzu auch Breitinger: Critische Dichtkunst, 4-8, wo ganz ähnlich argumentiert wird.
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losophische Ethik poetologisch funktionalisiert und die Gelehrten - vor allem natürlich Wolffs Rationalismus und seine Moralphilosophie31 - gerieten zu den Sachwaltern der literarischen Wahrheit. Der übergreifende ideologische Horizont der 'einen Welt" war die positive Anthropologie, die sich in einer ganzen Reihe von kaum in Frage gestellten Grundüberzeugungen manifestierte. Anschauliches Beispiel hierfür ist die geläufige Charakterisierung einer Person oder literarischen Figur mit dem Hinweis auf ihre Grundsätze. 'Ein Mann von Grundsätzen' ist in der Literatur der Aufklärung eine fast ungebrochen positiv benutzte Formulierung für die Bezeichnung von Rechtschaffenheit. Der Fall, daß jemand eben falsche oder moralisch schlechte, unsoziale Grundsätze haben könnte, war in dem die Aufklärung bestimmenden Bodensatz an Grundüberzeugungen so gut wie undenkbar.32 Zwar entwarf die Literatur negative Figuren zuhauf, aber denen wurden keine Grundsätze, sondern Schwächen zugeschrieben. Ergaben sich auch in den öffentlichen Auseinandersetzungen immer wieder gravierende Meinungsverschiedenheiten in den 'Grundsätzen', so vermochte dadurch die ethische Integrität des Kontrahenten selbst dann nicht beschädigt zu werden, wenn dessen Prinzipien für schädlich gehalten wurden. Noch an der vagen Überzeugung von der einen Wahrheit orientiert, sah man in dem Bemühen um die Lebensorganisation nach Prinzipien einen Ausdruck von Wahrheitsstreben, das immer zugleich das Bedürfnis nach moralischer Lebensführung anzeigte. Die Möglichkeit eines Handelns nach ethisch schlechten Grundsätzen aufzuzeigen blieb ein markantes Kennzeichen der Spätaufklärung (etwa bei Wezel) - ebenso wie die Reflexion auf die in Debatten und Kontroversen gewonnene Erfahrung des Verlusts eines allen aufgeklärten Subjekten gemeinsamen Hintergrunds. Zum Grundvertrauen der Aufklärung zählte die Gewißheit, daß, wer überhaupt 'Grundsätze habe', auch 'guten' Handlungsmaximen folge; auch hier wirkte die Übereinstimmung von wahr und gut. Ihre Hoffnung auf die Reduktion der Komplexität von erfahrbarer Lebenswirklichkeit auf Prinzipien gab die gesamte Aufklärung bis hin zu Kant nicht auf. 33 Das än31 32
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Siehe hierzu etwa Schneiders: Deus est philosophus summus. Uber Christian Wolffs Philosophie und Philosophiebegriff. J.G. Müller zum Beispiel beschließt in seinem Erfolgsroman Siegfried von Lindenberg (1779) die launische Charakterisierung des changeanten Genies Peter Fix mit folgender Bemerkung: Um sein Bild zu vollenden: er besaß viele Tugenden eines guten Naturells, viele Fehler einer schlechten Erziehung, und alle Thorheiten eines sich dünkenden Genie 's. Hätte der Mann Grundsätze gehabt, so würde er vortreflich gewesen seyn. (I, 178f.) An dem Gegenkonzept der Handlungsorientierung an einer zärtlichen Stimmung des Herzens wurden die Skeptiker nicht müde, Defizite oder Schwachstellen aufzuzeigen: melancholische Rückkopplungseffekte des emotionalen Übergewichts über die
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derte jedoch nichts daran, daß im Philosophen-Meer zunehmend die Ankerketten rissen, an denen solche Setzungen befestigt sein sollten. Die in der Aufklärung so beliebte Rede von den Grundsätzen ist Ausdruck der das Jahrhundert prägenden Intention, die gesamte Realität durch eine abstrakte Ebene von Prinzipien und Begriffen zu strukturieren, und im argumentativen Rekurs auf diese Ebene liegt eine Reduktionsleistung, die einige Jahrzehnte lang die Selbstverständigungsprozesse zu tragen vermochte. Der Optimismus der 'einen Welt', die hier als einsinniger literarischer Produktions- und Rezeptionshintergrund der Hochaufklärung beschrieben werden soll, begann sich nicht seit dem Tag des Erdbebens von Lissabon zu zersetzen. 34 Vielmehr war dieses Naturereignis und der Gebrauch, den Voltaire davon machte, nur 'ein' schwerer Schlag für die bewußtseinsgeschichtliche Hegemoniestellung der positiven Anthropologie in Deutschland, durch den andere, lange klein gehaltene Deutungsmuster der Wirklichkeit neuen Auftrieb erhielten. 35 Gottsched (als ein exemplarischer Protagonist) hatte in seiner Dichtungslehre die Intention zur Etablierung einer bestimmten Moral durch die suggestive Vertauschung von deren wirklichen Adressaten verdeckt. Die in den literarischen Werken veranschaulichten Nonnen waren nicht die allgemein gültigen, welche lediglich zu pädagogischen Zwecken in eine angenehme Form gebracht werden sollten, vielmehr sollte hier die pädagogische Nachricht einer kleinen Gruppe für die gesamte Bevölkerung verschlüsselt werden. Gegen andere mögliche Bewußtseinshorizonte derart erfolgreich durchgesetzt werden konnte jene 'eine Welt' indes nur aufgrund ihrer spezifischen Funktionalität, die sie für die historisch-kulturelle und soziale Situation in den deutschen Ländern besaß, in denen offenbar eine erheblich geringere Divergenz-Toleranz vorherrschte als etwa in Frankreich. Eigentlich handelte es sich nur um die Normativität einer gebildeten Avantgarde, welche sich und ihre Moralvorstellungen für das selbstverständliche, bekannte und immer schon geltende Allgemeine ausgab. Was hier die 'eine Welt' genannt wird, bezeichnet lediglich das Denken einiger avancierter Kreise vorwiegend bürgerlicher Herkunft. Das faktische historirationale Affektkontrolle als Vorstufe von Handlungsunfähigkeit etwa - oder 'Kurzschlußtaten*. (Siehe Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, Kap. 4, 6, 7) Siehe aber Brenner: Krise der Selbstbehauptung, 218: Die providentielle Weltsicht
verliert ihre fraglose Gültigkeit in einem Augenblick, der sich genau datieren laßt: Es ist der 1. November 1755, der Tag des Erdbebens von Lissabon. (Siehe hierzu aber auch Weinrich: Literaturgeschichte eines Weltereignisses: Das Erdbeben von Lissabon) Voltaire zweifelte nicht nur an Leibniz' bester der möglichen Welten, sondern hatte auch schon lange große Vorbehalte gegen Wolffs Rationalismus, dessen Klima er nicht mochte (siehe Thomann: Ideologische Aspekte der praktischen Philosophie Wolffs, 200).
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sehe Ausmaß des Einflusses dieses Bewußtseins einer von Nicolai auf etwa 20000 Personen geschätzten Gruppe36 ist uns nur noch in verzerrenden Perspektiven erschließbar. Denn die hegemoniale Stellung in denjenigen Zeugnissen, die fur uns die aufklärerische Öffentlichkeit37 ausmachen, ist von tautologischer Selbstverständlichkeit, weil jene Avantgarde ja gerade dadurch gekennzeichnet war, daß sie die publizistischen Mittel im tintenglecksenden Sekulum38 zugleich entwickelte und für sich nutzte. Zweifellos waren die Multiplikationseffekte durch die Beherrschung der literarischen Öffentlichkeit sowie der Universitäten und des damit verbundenen Einflusses auf die lehrenden akademischen Berufe enorm, aber was das genau heißt, und wie weit die Bevölkerung tatsächlich vom Programm der aufklärerischen Bildung erfaßt wurde, läßt sich nur schwer ermitteln. Insofern sind die Auseinandersetzungen und Konflikte in jener kleinen Gruppe nur deshalb von Interesse, weil sie Entwicklungen vorgezeichnet haben, die in den folgenden zwei Jahrhunderten auf immer mehr Menschen Einfluß gewannen. Wer nach der Genese moderner Kulturtechniken fragt und zur Beantwortung dieser Fragen bis ins 18. Jahrhundert zurückgeht, der schreibt also nicht über Kulturtechniken des 18. Jahrhunderts. Vielmehr lassen sich an der Struktur bestimmter Entwicklungen in den kulturellen Eliten der Aufklärung grundlegende Differenzen beschreiben, von denen die in Frage stehenden Kulturtechniken in der gesamten Modernen bestimmt bleiben.
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Nothanker 1, 121. Siehe aber Abbt, der für 1765 80000 Leser noch für die witzigste Schrift unterstellt, eine Zahl, die jetzt Martino bereits fur den Anfang der Aufklärung errechnet (Abbt nach Siegrist: Phasen der Aufklärung, 62; siehe Martino: Barockpoesie, Publikum und Verbürgerlichung, 111). Bei dieser in vielerlei Hinsicht schillernden Kategorie sollte unter anderem bedacht werden, daß die Zahl der regelmäßig Lesenden für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts auf knapp 100000 geschätzt wird, also etwa 1% der Erwachsenen Bevölkerung 'Deutschlands', obwohl man die basale Lesefähigkeit um 1800 mit 25% ansetzt (siehe Schön: Verlust der Sinnlichkeit, 45f. sowie Möller: Vernunft und Kritik, 268-280, dort auch zum Buchmarkt - wie bei Fohrmann: Abenteuer und Bürgertum, 24ff.). Welke schätzt jedoch schon fur 1750 1.000000 (für 1800 3.000000) Zeitungsleser (Gemeinsame Lektüre, 30); ähnlich auch Chartier, der die entsprechenden Schätzungen für England und Frankreich methodisch kritisiert und die Verbreitungszahlen von Lesevermögen und Lesepraxis nach oben verbessern möchte (Ist eine Geschichte des Lesens möglich?, 252-254). Zu berücksichtigen ist für den überregional vertriebenen Roman aber auch, daß noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts große Teile der Bevölkerung kein Hochdeutsch, sondern nur die jeweilige regionale Mundart verstanden. Dadurch waren den Erfolgsmöglichkeiten des Romans noch einmal schwer überwindliche Obergrenzen gezogen; siehe Engelsing: Der Bürger als Leser, 37-45. Schiller: Die Räuber, NA 3, 20.
4. Von 'unverschämten' zu 'geschickten Lügnern". Die Verschiebung der Grenze zwischen Fiktion und Realität
Ob mans nun [öffentlich] treibe/ oder schreibe auf die Form/ wie die Roman thun/ ist bey verständigen eines. (G. Heidegger
Das Ansehen des Romans blieb im 18. Jahrhundert schlecht, obwohl die Gattung gewaltige Erfolge erzielte. Doch stand während der gesamten Aufklärung der verbreiteten Romanschelte ein differenziertes Urteil unter Experten und Poetologen entgegen.3 Beides hatte wiederum wenig mit der unaufhaltsam zunehmenden Resonanz der neuen Gattung bei einem breiten Publikum zu tun. Seine Eigendynamik entfaltete dieser Erfolg am ehesten im Rezensionsbetrieb. So hat sich etwa die Allgemeine Deutsche Bibliothek für die Aufnahme regelmäßiger Romanrezensionen geradezu dadurch gerechtfertigt, daß sich in den ersten davon betroffenen Jahrgängen fast nur Verrisse finden. Generelle Romanschelte taucht auch in den späteren Bänden immer wieder einmal auf, doch meist in Form eines zitierten Gemeinplatzes. So als müßte daran erinnert werden, daß manche Leute ja fest glaubten, Romane verdürben Zeit und Sitten, untergrüben die Urteilsfähigkeit und beflügelten die Phantasie.4 Doch bald wurde immer mehr besprochenen Werken zumindest ein gewisser Unterhaltungswert und einige Belehrung zugebilligt. Wie sehr die ADB in ihrer gesamten Erscheinungszeit
2
Siehe: Einige Gedanken und Regeln von den deutschen Romanen, 42. Mythoscopia Romantica, 148. Siehe hierzu etwa Voßkamp: Romantheorie. Schon im ersten Jahrgang der ADB zitiert Abbt in der Rezension von Wielands Don Sylvio die generelle Romanverurteilung nur als eine mögliche Position - ein Verfahren, das sich auch später häufig findet - mit der Reaktion auf die bisher geringen Leistungen der Deutschen in diesem Fach: Kein großer Schade, wird mancher denken. Wollte Gott wir hätten gar keine Romanen! - wie man will; nur wenn wir ja welche haben sollen: so wäre es gut, daß wir auch Erfinder darinn vorstellten. (ADB 1, 2, 176S, 97f.) Deutlicher strategisch setzt Wieland das allgemeine Urteil über Romane in der Rezension des ersten Bandes der Bibliothek der Romane ein (TM 22, 1778, 287): So ein frivoles Ding ein Roman in den Augen der meisten ernsthaften Leute ist, so gehören doch sehr ernsthafte gescheidte und gelehrte Männer dazu, uns eine Bibliothek der Romane zu geben, durch welche die Litteratur und die Menschenkenntnis gewinne.
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von einem solchen 'klassizistischen'5 Urteil den Romanen gegenüber geprägt ist, geht daraus hervor, daß durchgängig die Position, welche den Romanen wenigstens grundsätzlich einen möglichen Bildungswert unterstellt, weit häufiger vertreten wird als die der prinzipiellen Verurteilung dieser Gattung.6 Daß die Vorbehalte gegen den Roman selbst von Autoren noch bis zum Jahrhundertende verlängert wurden, ist ebenso bekannt wie der erst nachklassische gleichberechtigte Einzug des Romans in die Poetiken.7 Doch darf man sich etwa von der Dioskuren-Rhetorik Goethes und Schillers nicht täuschen lassen. Völlig unvorbereitet kann der Wechsel von Schillers Abqualifizierung des Romanautors zu dessen Apotheose durch Friedrich Schlegel nicht gewesen sein. Weder Schiller noch Goethe selbst dürfte entgangen sein8, daß der deutsche Dichterfürst bereits seinen frühen Ruhm mindestens ebenso dem Werther wie dem Götz verdankte. Vielmehr zollten mit ihrer Reputation so vorsichtig umgehende Autoren wie Schiller und Goethe der Tatsache Rechnung, daß das quasi öffentliche Urteil über Romane noch immer sowohl hinter der faktischen Bedeutung, welche sich diese Gattung durch die Herausbildung ganz eigener gestalterischer Möglichkeiten erworben hatte, als auch hinter dem Wissen um dieses Gewicht in Insiderkreisen weit zurückblieb.9 Die Selbstlegitimation des Romans war längst 5
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Hier in jenem oben erläuterten Sinn der Verteidigung durch Kanonselektion: die Vorwürfe gegen Literatur werden für die große Masse der Werke akzeptiert, damit man einige 'regelgerechte' dagegen positiv abheben kann. So hat man quantitativ das Fundamentalurteil bestätigt und zugleich ein qualitativ begründetes grundsätzlich positives Urteil als immerhin möglich aufgebaut. Mit dieser Figur hatte die französische Klassik den Roman gerechtfertigt. Eine Philippika wie die folgende aus einer Doppelrezension von 1787 bleibt die Ausnahme, und noch sie argumentiert mit den Nonnen gehobener Geschmackskompetenz, denen die Werke eben kaum entsprächen (ADB 75, 1787, 466): Unter den unzähligen deutschen Schrifien, die eine Messe gebiert, und die nächstfolgende oft schon wieder begrabt, verdienen, im Durchschnitt, keine weniger Aufmerksamkeit, als die Romane. Selten erscheint im Laufeines ganzen Jahrs auch nur ein Einziger, den jemand, der angenehme und geistreiche Unterhaltung und Belehrung sucht, nur mit einiger Zufriedenheit aus der Hand legen könnte. Siehe Scherpe: Gattungspoetik, bes. Kap. VI. Goethe übersetzte 1796 eine Formulierung aus de Stäels Essai sur le fictions, der nur zu Gunsten der Romane geschrieben wurde, mit den Worten: Die Kunst Romane zu schreiben steht nicht in dem Rufe, den sie verdient. (WA I, 40, 206, 225) Einen späten Beleg für die fortwirkende Tradition dieses Widerspruchs liefert Böttigers Praktische Anleitung zur Dichtkunst (1829), wo dem Roman höchster Wert in der poetologischen Rangfolge zugesprochen wird, obwohl seine Erörterung auffällig kurz bleibt und erst nach der Behandlung der traditionell höherwertigen Gattungen steht (siehe 155: Der versteckte Nutzen, der aus dem Romane entspringen soll, macht diese Dichtung zur edelsten und wichtigsten). Doch schon 1774 schrieb der Rezensent der Erfurtischen Gelehrten Zeitung anläßlich von Blankenburgs Versuch über den Roman (EGZ 6, 1774, 433): jetzt ist der Roman ein der Betrachtung so
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weiter fortgeschritten, als es viele verächtliche Äußerungen über den Roman nahelegen. Wenn in der gesamten Aufklärung der verbreiteten Romanschelte ein differenzierendes Urteil unter Experten und Poetologen gegenüberstand, so verhielt es sich mit dem Vorwurf der Lügenhaftigkeit im besonderen nicht viel anders. Gottsched hatte der Dichtung insgesamt Fiktivität zugeschrieben: Sachen nämlich, die wirklich geschehen sind, d.i. wahre Begebenheiten, darf man nicht erst dichten [...]. Und wer die Fähigkeit nicht besitzt, gute Fabeln zu erfinden, der verdient den Namen eines Poeten nicht; wenn er gleich die schönsten Verse von der Welt machte.10 Obwohl in der aufklärerischen Standardpoetik die Faktizität der dichterischen Fabel explizit ausgeschlossen wird, hat die Erzählliteratur der Zeit fast ausnahmslos die historische Authentizität ihrer Geschichten mit einem ganzen Arsenal an Beglaubigungsformeln behauptet.11 Doch löst sich dieser Widerspruch darin auf, daß die so eklatante Verschlechterung des öffentlichen Ansehens des Romans nichts zu tun hat mit immanenten poetologischen Zusammenhängen. Zwar war er seit der Renaissance die schlecht beleumdete Gattung, gebrach es ihm an antiker, also aristotelischer Legitimation und damit an einem festen Platz in den Poetiken, aber dies alles wird zu Unrecht mit dem Reputationsverlust in den mittleren Dekaden des 18. Jahrhunderts zusammengebracht. Der Grund dafür waren vielmehr die starken moralischen und die Fiktionsvorbehalte der neu entstandenen Lesermehrheit, verstärkt durch massive Moralisierungskampagnen, die sich den als galant identifizierten Roman als identitätsstabilisierendes Feindbild vornahmen. Zwar zollten die Dichtungstheoretiker (wie etwa der frühe Gottsched) diesem Wandel im öffentlichen Urteil über den Roman vielfach gewissen Tribut, doch je stärker sie den abendländischen poetologischen Traditionen verpflichtet waren, desto weniger neigten sie zu radikaler Fiktionsverdammung, so daß sich etwaige romanfeindliche Positionen eher auf moralische Vorbehalte stützten, daher gegen ethisch untadelige Texte nicht lange aufrecht erhalten wurden. Offenbar war in dem pragmatisch orientierten Bewußtseinshorizont wirtschaftsbürgerlicher Schichten eine tiefgehende Skepsis gegenüber fiktiven Geschichten verbreitet. Denn anders kann der große Erfolg von Faktizitätsfiktiowürdiger Gegenstand, als nimmermehr die Epopee seyn kann, die [...] den allgemeinen Einfluß bei uns nicht mehr hat, den sie in Griechenland hatte. Critische Dichtkunst, 149. Ähnlich bereits Aristoteles: Über die Dichtkunst, Kap. 9. Siehe hierzu Voßkamp: Theorie und Praxis der literarischen Fiktion, 132-136. Siehe hierzu auch Helmut Möllers Kapitel zur Lektüre in der Kleinbürgerlichen
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nen bei denjenigen Romanen, fur die der Markt anstelle der Poetiken zur Regulationsinstanz wurde,13 nicht erklärt werden, als neue, vornehmlich bürgerliche Leserschichten der Gattung erschlossen wurden. Eine breite Ausrichtung der Erzählliteratur an einem neuen Publikum erforderte eine novellierende Bestimmung des aptum,14 der Angemessenheit der Darstellung. In der Theorietradition und im BewuBtsein der mit ihr Vertrauten spielte die Frage der Fiktivität von etwas Erzähltem keine vorrangige Rolle. Ist dieser Aspekt auch im modernen Fiktionsbegriff der wesentliche, so war er es in der Begriffsgeschichte von Actio nicht unbedingt. Denn dieser Begriff hatte seinen systematischen Ort in der rhetorischen Exempellehre, und dort war die Fiktivität selbst eher nebensächlich. Vielmehr war der Verweis auf eine höhere Wahrheit wichtig, weshalb frühneuzeitlich noch im Kurativen [fiktiven] Exempel ein Instrument der Empirie und der Historik gesehen 5 wurde. Bei einem Wirklichkeitsbegriff, der Objektivität gerade von den Erscheinungen unterschied und die literarische Nachahmung auf die Prinzipien einer Natur verpflichtete, von denen die wahrnehmbare Natur nur ein unvollkommener Ausdruck ist, konnte die empirische Richtigkeit einer Erdichtung keine erstrangige Bedeutung haben.16 Erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist das Moment der Fiktivität der Fiktion stärker in den Vordergrund getreten. Die Möglichkeit einer polarisierten Begriffsopposition von Fiktion und Wahrheit wurzelte in dem Aufkommen eines ganz neuen, positivistischen Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff, wie er etwa massiv von den moralischen Wochenschriften verbreitet wurde.17 Erst einer sich in diesem Sinne modifizierenden Realitätswahrnehmung geriet der Gegensatz von Fiktion und Realität zu einer scharfen Differenz. 13 14
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Familie im 18. Jahrhundert-, siehe aber auch die noch folgenden Präzisierungen. Siehe Fohrmann: Abenteuer und Bürgertum, 45. Zu dieser rhetorischen Kategorie und ihrer Geschichte im 17. Jahrhundert siehe Fischer: Gebundene Rede, 214-252. Selbst wenn das movere der moralischen Lehren nur die dem Markterfolg legitimierend vorgeschobene Kategorie gewesen sein mag, hing doch mit dem aptum die Glaubwürdigkeit der Texte zusammen. Kleichschmidt: Die Wirklichkeit der Literatur, 175. Unter Bezug auf diese Tradition konnte Gundling Heidegger mit gelehrter Geste vorwerfen, nicht den Unterschied zu kennen inter falsum dicere, &. mendacium dicere; inter fingere & mentiri (Neue Unterredungen, 262). Das Fußen des (moralisch-didaktischen) Romans auf der Tradition der Exempelliteratur belegen noch die ersten Worte der Besprechung von Loens Redlichem Mann am Hofe in den Franckfurtischen Gelehrten Zeitungen: Die Art und Weise durch Exempel zu lehren hat sonst ihren grossen Nutzen; allein sie erfordert eine lebhafte Erfindung und eine nicht gemeine Schreib-Art; diese ist allhier zwar fließend und rein, aber nicht erhaben; und jene hat allzu wenig verwundersames (FGZ 6, 1740, 249f.). Siehe hierzu vor allem Mainusch: Dichtung als Nachahmung. Siehe hierzu auch Assmann: Legitimität der Fiktion, 97f., sowie zu den moralischen Wochenschriften Sauder: Die Botschaft der Tugend, bes. Teil 3.
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Vor diesem Hintergrund läßt sich die einigermaßen verbreitete Forschungsposition korrigieren, welche die nachhaltige Ansehensverschlechterung des Romans im 18. Jahrhundert auf eine Welle der Fiktionskritik zurückführt. Allein der Begriff der Fiktionskritik, der sich seit Anfang der 1970er Jahre in der deutschen Literaturwissenschaft eingebürgert hat18, ist nicht unbedingt eine glückliche Bezeichnung, sofern damit vor allem eine Kritik an Romanen (und eventuell Opern und Komödien) vom späten 17. bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts gemeint ist. Denn mit dieser Benennung wird ein Hauptgewicht jener Polemiken gegen einzelne Literaturformen im Vorwurf der Fiktivität, der 'Erlogenheit' suggeriert. Dieses ontologische Argument, also der Vorwurf, daß das frei Erfundene alberne Posse bleibe, nichts zu bedeuten habe, wurde zwar wirklich von Gotthard Heidegger als dem wichtigsten Vertreter der öffentlichen Romankritik vorgetragen, aber der Züricher Kalvinist listete allemal jedes greifbare Motiv gegen Romane in seiner Mythoscopia Romantica (1698) auf. Die am meisten verbreiteten und erörterten Vorwürfe gegen die Romane waren dagegen eindeutig die ihrer zweifelhaften Moral und ihres geringen Nutzens.19 Ob sich dabei aber wirklich eine Art Welle der Fiktionskritik und das Entstehen eines negativen Fiktionsbewußtseins seit 1660 etwa** annehmen läßt, ist vielleicht weniger ausgemacht, als gelegentlich unterstellt wird. Zumindest sind die angeführten Zeugen immer wieder dieselben und eher wenige.21 Ist der quantitative Rahmen dieser vermeintlich seit Ende des 17. Jahrhunderts aufkommenden Fiktionskritik nur schwer noch auszumachen, so läßt sich auf theoretischer Ebene nicht recht eine neue Belebung des Lügenvorwurfs gegenüber der Dichtung erkennen.22 Vieles spricht statt dessen für Kleinschmidts 18 19
η
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Siehe etwa Voßkamp: Romantheorie, 121-141, sowie Sauder: Argumente der Flktionskritik. Das gleiche gilt fur die Kritik am Theater, wie sie zunächst vom Kalvinismus und dann auch durch den Pietismus geübt wurde, siehe Neumeister: Geistlichkeit und Literatur, 118-120, 135-140. Siehe hierzu auch Kaysers Hinweis: Die Wahrheit der Dichter, 14. 132
Sauder nennt Tschudis Monatsgespräche, Gerbers Unerkannte Sünden der Welt und immer wieder Heidegger (Argumente der Fiktionskritik, 132f.). Außerdem wären noch A.H. Francke und fur die 1730er Jahre Freyer, Kilian! und Scheibel zu erwähnen. Auch Schäfer spricht davon, daB gegen Ende des 17. Jahrhunderts die Kritik schon merklich leiser geworden war und nennt Heideggers Polemik verspätet (Nachwort, 340). Neue Gesichtspunkte jedenfalls finden sich bei Heideggers Einwänden kaum, und seine Streitschrift wurde argumentativ von Leibniz und Gundling souverän pariert. Neumeister konstatiert fur das gesamte 17. Jahrhundert ein qualitativ differenzierendes Urteil von geistlich geprägten Autoren des Luthertums (siehe: Geistlichkeit und Literatur, 146-149). Leibniz benutzt überwiegend die klassizistische Argumentationsfigur, Heidegger insgesamt durchaus recht zu geben, gegen den Schaden der
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Auffassung von einem gewissen Abflauen der Fiktions- und Dichtungskritik im 16. und 17. Jahrhundert, der er nur noch in den Kreisen religiösen Eiferertums ein 23 ungebrochenes Weiterleben bescheinigt. Diese literaturgeschichtlichen Uneinigkeiten resultieren aus der ungenügend klaren Unterscheidung zwischen einem breiteren Rezipientenbewußtsein und den literaturtheoretischen Debatten. Gerade diese Differenz wurde beim Roman besonders verschärft, seitdem er sich Anfang des 18. Jahrhunderts anschickte, sich ein Massenpublikum zu erobern. Insgesamt konnte, seit die Romanproduktion (und -rezeption) gegen Ende des 17. Jahrhunderts erheblich angestiegen war, wenig Hoffnung bestehen, mit öffentlichen Angriffen diese Gattung dem Publikum noch zu verleiden. Im großen ganzen dürfte die Durchsetzung des Romans bereits besiegelt gewesen sein, als der Feldzug einiger Tugendwächter gegen ihn erst richtig begann.24 Wenn sich also in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts das öffentliche Urteil über Romane und ihren Wahrheitsgehalt gewandelt hat, so wird man dies jedoch schwerlich den veröffentlichten Angriffen der Fiktionsgegner zuschreiben können, die sich zur Erringung eines solchen Erfolges wohl doch zu wenig geäußert haben dürften.25 Bei der zur Erklärung dieses Ansehensverlustes von der Forschung angeführten These vom Einfluß der radikalen Fiktionskritik muß auch ein konstantes Lesepublikum angenommen werden, das durch die religiöse Kritik der Künste in seinem Urteil so nachhaltig manipuliert werden konnte, daß
schlechten Werke aber den möglichen Nutzen der guten - sowie den einer klugen Lektüre - zu betonen (siehe 890-894; ähnlich Gundling: Neue Unterredungen, 258f.). Siehe aber auch Heidegger selbst, Mythoscopia Romantica, Vorbericht *** vj v : daß niemand die Explication mache/ als verwurffe ich dise Schreib-Ard gänzlich. 23
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Kleinschmidt: Die Wirklichkeit der Literatur, 182. Das bedeutet jedoch nicht, daß man Heidegger einfach irgendeiner Rückschrittlichkeit zuordnen könnte. So schrieb selbst Heidegger im Vorbericht seiner Mythoscopia Romantica (***v v ): Also mOßt ich einfeltig seyn/ wann ich glauben wollte/ man wurde forthin um meiner Wahrnung willen/ weniger Romans drucken/ oder weniger Romans lesen: Nein. Erstaunlich ist eher, daß die Fiktionsgegner überhaupt Bücherverbote und Theaterschi ießungen erwirken konnten. Zensurmaßnahmen sind ihrer Natur gemäß in vielstaatlichen Territorien schwer wirkungsvoll und dauerhaft zu realisieren. Dies gilt besonders für eine ganze literarische Gattung und zumal für eine, die inzwischen überwiegend im privaten Raum rezipiert wurde - anders als die Komödie, die sich vergleichsweise wirkungsvoller durch Schließung der Theater unterdrücken ließ. Als Umgehung der Zensur waren zum Beispiel die Fingierung von fremden, außerhalb der jeweiligen Landesgrenzen liegenden Druckorten üblich. Wieland etwa ließ seinen Agathon in Zürich wegen Zensurschwierigkeiten nominell mit der unverfänglichen (und sehr beliebten) Druckortangabe Frankfurt und Leipzig erscheinen. Die 'Gefahr', welche aus bestimmter Sichtweise von der individualisierten Lektüre ausging, ist schon früh wahrgenommen worden; siehe hierzu Wahrenburg: Funktionswandel des Romans, 11-23.
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es seit etwa 1724 für lange Zeit überwiegend26 lieber fingierte Faktenberichte, Historien gelesen hätte als diejenigen Romane, die sich als solche zu erkennen gaben. Deutlich wahrscheinlicher sind dagegen Erklärungsversuche, die von einem merklichen Wandel in der Rekrutierung der Rezipientenkreise seit dem Jahrhundertwechsel ausgehen. Die immer wieder zitierten radikalen Fiktionsgegner vom Ende des 17. und aus den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts haben also, sofern sie tatsächlich das ontologische Defizit fiktiver Geschichten anführten, nicht traditionelle Vorwürfe gegen die Dichtung neu belebt und damit ein allgemeines negatives Fiktionsbewußtsein* geschaffen. Vielmehr entspricht der Vorwurf der Erlogenheit dem gerade heraufziehenden neuen, 'naturwissenschaftlichen' Wahrheitsbegriff, der sich auf die Erscheinungswirklichkeit beruft. Selbst Piatons Argumentation des 'Lügenvorwurfs' gegen die Dichtung war ja nicht bezogen auf die Opposition von faktischer Wahrheit und Falschheit,29 sondern führte sozusagen die Verdünnung des Gehalts einer bereits nachgeahmten Wahrheit ins Feld. Ebenso baute der - in der frühen Neuzeit nicht vorherrsehende - Versuch einer platonischen Rechtfertigung der Dichter nicht auf die Faktizität der Erfindungen, sondern auf die über den furor und den Enthusias26
Nach dem Anfangserfolg des Abenteuerromans gab er die Spitzenreiterposition zwischen etwa 1726 und 1733 noch einmal an den galanten Roman ab, behauptete sie dann aber bis Ende der 1750er Jahre. Nach den Statistiken bei Spiegel, die sich jedoch an Erscheinungsdaten orientieren und erneute Auflagen nicht berücksichtigen. Außerdem enthalten diese Tabellen die Schwierigkeit, daß sie nach den Titeln der Werke sortieren, was wegen der üblichen verlegerischen Spekulationen mit den Titeln methodische Risiken bedeutet. Zur Andeutung der allgemeinen Tendenzen mögen diese Daten hier dennoch ausreichen. Etwas vage zum Beispiel Grimminger: Roman, 666f.; siehe vor allem im Vergleich Watt über die englischen Verhältnisse (Der bürgerliche Roman, 38-66). Sauder: Argumente der Fiktionskritik, 132. Siehe: Der Staat, 10, 5.; hierzu Fuhrmann: Einführung, 77-82, sowie Martinez-Bonati: Die logische Struktur der Dichtung, 187f. Genau dieses Argument des Uneigentlichen und der Vermitteltheit der von dem literarisch Erzählten ausgehenden Eindrücke taucht bei Heidegger auf: 'Ey da! was lese ich hier? worüber verwundere/ lache/ traure/ seuffize ich? Ober eines andren Traum und Phantasien! über Sachen/ die niemahl in der Welt geschehen/ und mich zum Thoren zumachen erdacht seyn! warum laß ich mir einen andren träumen/ und träume mir nicht franed selbst?' (Mythoscopia Romantica, 72) Indem Heidegger die großen Gefahren der Romane unter anderem darin beschrieb, daß sie dem Leser etwas vortäuschen, sprach er diesem übrigens deutlich Fiktivitätsbewußtsein ab: Man wird jennen Narren gleich/ der da er ein Hirschen-Geweyh an der Wand gesehen festiglich geglaubt/ es stecket ein wahrer Hirsch darhinder. [...] wann wir die Romans lesen/ meinen wir/ wir sehen gleichsam denen die Lippen gehen! die uns da reden sollen (72f.). Siehe zu Heidegger auch Voßkamp: Romantheorie, 123-129. So allerdings Mainusch: Dichtung als Nachahmung, bes. 122-124; immerhin ist fur den Barock die Vorstellung von einer göttlichen Begabung des Dichters nahezu kanonisch, obwohl die platonischen Einflüsse insgesamt eher zurückgedrängt waren.
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mus garantierte Nähe der dichterischen Eingebung zu den göttlichen Ideen. Auch Aristoteles bot zunächst wenig Möglichkeiten für eine Faktizitätsverpflichtung der Dichtungen, weil bei ihm die gelungene Nachahmung auf das Allgemeine bezogen war. Allerdings fand sich in seiner Poetik die Differenz von faktisch wahr und falsch ausdrücklich enthalten, wurde aber weitgehend entkräftet. Hauptsächlich ließ in der aristotelischen Tradition dagegen die Abgrenzung von der Geschichtsschreibung die Frage nach der Tatsächlichkeit des Poetischen aufkommen. Auf diesem 'Umweg', der für die am meisten thematisierten literarischen Gattungen keine wichtige Rolle spielte, konnte dies Thema dann auch für den Roman relevant werden.31 Obwohl es hierbei eine Theorietradition gab, nach der Dichtung erfunden, die Geschichtsschreibung dagegen wahr sei, lebte daneben die 'mindestens ebenso bedeutsame' 32 Vorstellung von der Übereinstimmung von Dichtung und Historiographie in bezug auf Wahrheit, wobei sich beide Formeln keineswegs eindeutig auf die unterschiedlichen Begriffe faktischer und 'innerer, tieferer' Wahrheit bezogen. Es gab durchaus Bemühungen, auch für die Dichtung faktische Richtigkeit zu reklamieren.33 Wie sehr also in einer Quelle die Rede von der Fiktion oder ein entsprechendes Synonym tatsächlich auch den Aspekt der Fiktivität meint, ist nicht immer leicht auszumachen. Zudem muß man grundsätzlich davon ausgehen, daß vor der Aufklärung sämtliche Spielarten eines ontotheologischen Wahrheitsbegriffs sehr viel größere Bedeutung hatten als ein tatsachenbezogener, so daß vor allem der Verstoß gegen ersteren argumentatives Gewicht hatte.34 Solche Form der Unwahrheit wies außerdem immer zugleich auch Implikationen eines religiös-moralischen Vergehens auf. Dabei trieb vor allem ein unter kalvinistischem Einfluß stehender protestantischer Wahrheitsrigorismus die neuen, faktenbezogen-empiristischen Bedeutungen des Wahrheitsbegriffs hervor: je eindeutiger alle Wahrheit allein noch in der Religion und dem Buchstabensinn der Heiligen Schrift gesehen, der traditionelle Interpretationsfreiraum des Menschen bestritten (daher 'Notlügen' und Legenden verworfen) wurden, desto eher mußte auch alle sonstige Rede sich unmittelbar auf Eviden31
Siehe Heitmann: Das Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung, 249. 263. Heitmann weist darauf hin, daß Tassos Gerusalemme liberate (1575) ein Mangel an Fiktion vorgeworfen wurde (262); zu dem Zusammenhang siehe 260-275. 33 34 Siehe 263-265. Wie sehr religiöse und faktische Wahrheit jedoch im kalvinistischen Denken als nebeneinanderliegend vorgestellt wurden, belegt eine Stelle bei Heidegger: An statt der Apostel die Wahrheit recommendiert/ so seyn die Roman ein lauterer LugenKram/ sie sagen der habe einen Riesen umgebracht/ der doch selbst nie gelebt. An statt Paulus die Ehrbarkeit beliebet/ beschreiben dise die Brüst der Weiber. An statt er gerecht zu seyn befihlet/ loben dise die Mörder und ZweykOmpffer. (Mythoscopia Romantica, 61) 32
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zen stützen, so daß gerade die Radikalisierung der überlieferten Bedeutung von Wahrheit als einer religiösen und von den Niederungen der Materialität unabhängigen den Bezug zum Faktischen in ungekanntem Ausmaß aufwertete.35 Hier wirkte sich nun die Vorstellung von der 'wörtlichen' Eindeutigkeit der beiden göttlichen Bücher, Natur und Heilige Schrift, aus. Diesen Mechanismus zeigt sehr deutlich Gotthard Heidegger, der zu Unrecht lange Zeit als Protagonist einer altvorderen Kritik am Roman belächelt wurde.36 Vielmehr war Heidegger trotz seiner etwas altertümelnden Sprache in dem von ihm benutzten Wahrheitsbegriff durchaus hochaktuell. Doch markiert der Züricher Romanfeind innerhalb der dichtungstheoretischen Debatte keinen einflußreichen Standpunkt. In ihr wurde die Frage nach der Fiktivität des Romans nur gelegentlich im Zusammenhang seiner Abgrenzung zur Historiographie erörtert. Dabei galt oftmals unter Wirkungsgesichtspunkten ein historischer Kern der Fabel als empfehlenswert, radikale Verpflichtungen auf geschichtliche Richtigkeit blieben in den romantheoretischen Reflexionen die Ausnahme.37 Vorgreifende Exemplarizität hat Heidegger dagegen in bezug auf eine breitere Masse der Romanleser seit den 1720er Jahren. Die frisch erworbene Leserschaft des neuen Romans,38 die bereit und in der Lage war, für unterhaltende Literatur freies Geld auszugeben,39 ist verstärkt in den ökonomisch besonders erfolgreichen Einflußzentren des Protestantismus zu suchen, wo die Reserve gegenüber der Dichtung insgesamt ausgeprägt war.40 Wie mächtig demgegenüber die dezidier35 36
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Siehe hierzu Schmitt: Die pietistische Kritik der Künste, 22-32. Siehe hier Mythoscopia Romantica, 73-75; die im Gegensatz zu den Romanen 'wahren Historien' sind Heidegger 'Beweißthumen der heiligen Vorsehung Gottes' (130). Zu den älteren Urteilen über Heidegger siehe etwa Schwering: Literarische Beziehungen zwischen Spanien und Deutschland, 70f. (salbadernder Theologe, dessen Buch eine wahre Musterkarte des ergötzlichsten Blödsinns ist). Eine solche recht seltene Position vertrat zum Beispiel Justi: Die Wirkungen und die Folgen, Vorrede, a7r u.ö. Zur Soziologie der Leserschaft des neuen Romans siehe Grimminger: Roman, 660f.; Spiegel: Der Roman und sein Publikum, 37f., 96-102. Siehe hierzu Fohrmann: Abenteuer und Bürgertum, 33, und Schön: Verlust der Sinnlichkeit, 45; der Bücherpreis stieg übrigens im Verlauf des Jahrhunderts infolge der steigenden Nachfrage enorm. Zuvor kostete ein für den Massenumsatz produziertes Buch wie eine Robinsonade bereits etwa den Tagesverdienst eines Maurers. Siehe Neumeister: Geistlichkeit und Literatur, wo eine grundsätzlich tolerante Position lutherischer und katholischer Geistlichkeit zur Literatur insgesamt wie zum Roman rekonstruiert wird. Verrechnet werden müßte eine solche Frage aber auch noch mit den völlig ungleichmäßigen Anteilen an der Buchproduktion in Süd- und Norddeutschland (einschließlich Leipzig); siehe hierzu die Tabellen bei Wittmann: Buchhändlerzeitschriften, 83Iff.; zum Pietismus Schmitt: Pietistische Kritik der Künste; siehe auch Engelsing: Der Bürger als Leser, 46-78, und kritisch dazu König: Geschichte und Sozialstruktur.
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ten Vorbehalte gegen Fiktion angenommen werden müssen, kann kaum erschlossen werden. Die Reaktionen des Romanmarktes mit dem enormen Aufwand an erzähltechnischen Beglaubigungsfiktionen deuten allerdings darauf hin, daß die weit überwiegende Mehrheit des Lesepublikums bis in die 1760er Jahre nicht für offensichtlich erfundene Geschichten zu gewinnen war. Der Rückgriff auf die Theoriegeschichte kann also zeigen, daß ein strenger Fiktionsbegriff, der scharf die Grenze zwischen Tatsachen und Erfundenem betonte, keine starke Tradition hatte und vielmehr erst mit der Genese neuer Wirklichkeitsbegriffe zu Beginn des 18. Jahrhunderts an Einfluß gewann. Die Positionen der radikalen Fiktionskritik resultierten deutlich aus dem neuen, in kalvinistischer Tradition gereiften und verbreiteten Realitätsbegriff, der die Welt des Faktischen, das der Fall ist, klar abzugrenzen gestattete gegen alles Erdichtete und Fiktive. Diese Wirklichkeitsvorstellung hat sich seither beinah unaufhaltsam immer umfassendere Geltung verschafft, bedrohte aber sofort auch die Legitimität der Literatur, welche einem Realitätsbegriff verpflichtet war, der sich nicht mit der Erscheinungswirklichkeit deckte. Die Abwehrbemühungen der Dichtung gegenüber dieser Bedrohung sind konstitutiver Bestandteil der Genese dessen, was die 'moderne Literatur' genannt werden kann. Wie die quantitativen Verhältnisse unter den Wahrnehmungsmustern der zeitgenössischen Rezipienten zwischen diesen beiden konkurrierenden Wirklichkeits- und Wahrheitsbegriffen43 waren, ist nur mit sekundären Rückschlüssen zu kalkulieren und kann hier aus einem einfachen Grund unbeantwortet bleiben: die schwerwiegenden Auswirkungen des faktenbezogenen Wirklichkeitsbegriffs auf die Entwicklung des Romans im 18. Jahrhundert sind völlig unzweifelhaft. Bei welchen sozialen Gruppen dieses neue Realitatsverständnis daher wann und in welchem Ausmaß verbreitet war, kann deshalb hier an die Sozialgeschichte verwiesen werden, weil eindeutig ist, daß dieser neue Blick auf die Realität, der ja 41
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Eine kurze Darstellung der wichtigsten Wahrheitstheorien liefert Hamburger: Wahrheit und ästhetische Wahrheit, 15-27; siehe auch die Anthologie von Skirbekk zu den neueren Theorien. In dieser Tradition stehend kann Käthe Hamburger der Dichtung einen Wahrheitswert schlicht absprechen. Siehe: Wahrheit und ästhetische Wahrheit, 143: Der Bereich der Kunst und der Bereich der Wahrheit sind voneinander getrennte Bereiche. In dem Begriffsgeftlge 'ästhetische Wahrheit' geht der Begriff der Wahrheit seines Bedeutungsgehalts verlustig: identisch zu sein mit dem, was der Fall ist. Strenggenommen müssen hier drei Wahrheitsbegriffe angenommen werden. Formen eines durch Tradition autorisierten ontotheologischen Wahrheitsverständnisses wurden abgelöst durch die Opposition zwischen empiristisch-analytischen und rationalistisch-synthetischen Wirklichkeitskonzepten. In Deutschland wurde diese Opposition nicht sehr heftig ausgefochten; hier herrschten vielmehr Vermittlungsversuche vor wie der von Wolff. Im alltäglichen Bewußtsein hatte naturgemäß der empiristische Wirklichkeitsbegriff bald größeres Gewicht.
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seither unaufhaltsam an Einfluß gewonnen hat, bereits im 18. Jahrhundert eine für die Entwicklung der Literatur wirksame Größe war. 44 Der hier gegenüber solchen schwierigen bewußtseinsgeschichtlichen Quantifizierungen gewählte methodische Umweg läßt sich an der Frage nach dem Fiktivitätsbewußtsein der Leser konkretisieren. Darüber, wann sich solches Bewußtsein historisch herausgebildet hat, gehen in der Forschung die Antworten weit auseinander. Während Hans Robert Jauß die Entstehung neuzeitlichen Fiktivitätsbewußtseins bereits für das späte Mittelalter ansetzt und mit Don Quijote quasi für abgeschlossen hält,45 wird überwiegend eine breitenwirksame Herausbildung von Fiktivitätsbewußtsein mit dem Ende der Aufklärung angenommen. Dazwischen sind aber auch andere Positionen nicht ausgeschlossen; so versucht Kleinschmidt etwa, ein einigermaßen ausgebildetes Fiktivitätsbewußtsein gerade für die frühe Neuzeit nachzuweisen.46 Hier ist vor allem eine Argumentationsfigur von Jauß von Interesse, weil sie einen vielversprechenden methodischen Umweg weist, nämlich das Verhalten der literarischen Texte selbst zum Zeugen für das Bewußtsein zu nehmen, welches sie ansprechen wollten. Der grundsätzlichen methodischen Schwierigkeit, die Repräsentativität einzelner Belege über ein jeweiliges historisches Rezipientenbewußtsein einzuschätzen, ist Jauß mit dem Verweis auf einen Roman begegnet, der zum Beweisstück taugen soll, weil er gern zu einem herausragenden literarischen Paradigma der Moderne erklärt wird. Und zwar hat Jauß den Abschluß des Herausbildungsprozesses von rezeptivem Fiktivitätsbewußtsein im Don Quijote dokumentiert gesehen, in welchem die bis dahin bereits etablierte Scheidung von Fiktion und Realität 44
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Das Thema der Verlagerung der Grenze zwischen Wahrem und Falschem hat Foucault zuerst in der Ordnung des Diskurses (1970, 11-14)) aufgegriffen, um dann in der Ordnung der Dinge ausfuhrlich die epistemologische Geschichte dieser Grenzverlagerung für das 17.-19. Jahrhundert zu entfalten. Siehe Jauß: Zur historischen Genese der Scheidung von Fiktion und Realität, sowie: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, 294-303 (dazu auch Gumbrecht: Wie fiktional war der höfische Roman?). Genauer zu unterscheiden wäre beim Begriff Fiktivitätsbewußtsein zwischen einem abstrakten Wissen über die Differenz von Faktizität und Fiktivität und der Kompetenz, literarische Fabeln als fiktiv einzuschätzen. Siehe Kleinschmidt: Die Wirklichkeit der Literatur; das deckt sich vage mit Sauders Eindruck vom Entstehen eines Fiktivitätsbewußtseins gegen Ende des 17. Jahrhunderts, nur daß Sauder hierzu gerade die Fiktionskritik anfuhrt, die Kleinschmidt eben nicht für markant hält in diesem Zeitraum (siehe: Argumente der Fiktionskritik, 132, und: Die Wirklichkeit der Literatur, 181f.). Haßelbeck konstatiert die Entwicklung des Fiktionalitatsbewußtseins fur 1730-1770 (Fiktion und Illusion, 13). Wehrli glaubt, daß schon im 17. Jahrhundert sich Dichter und Leser völlig klar über den fiktiven Charakter der Romane gewesen seien und die Wahrheitsbeteuerungen als ästhetisches Spiel betrachtet hätten (Das barocke Geschichtsbild in Lohensteins Arminius, 96). So urteilt auch Kayser: Die Wahrheit der Dichter, 10-14.
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bezeugt47 werde. Dabei läßt sich nun jedoch fragen, ob diese Differenz in Cervantes Werk nicht auch nur fingiert wird, die Unterscheidung innerhalb der Fiktion verbleibt: was in dem Text für den Bereich steht, den Jauß mit Realität benennt, ist ja auch nur Fiktion, allerdings eine besondere, die sich nämlich nicht leichthin als Fiktion zu erkennen gibt. Dann wäre Jauß einer der erfolgreichsten frühneuzeitlichen Strategien zur Selbstlegitimation der Dichtung aufgesessen, der Anbindung der erzählerischen Fiktion ans Wahrscheinliche.
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literarhistorische Operation, die sich exemplarisch am Don Quijote illustrieren läßt, ist die Unterscheidung von phantastischer und wahrscheinlicher Fiktion als Fingierung der Differenz von Fiktion und Realität.49 Im Verlauf des 17. Jahrhunderts bemühte man sich, die Grenze zwischen Fiktion und Nichtfiktion scheinbar mitten durch die Literatur zu legen; argumentationsstrategisches Instrument war hierzu die vraisemblance. In diesem Bemühen erklärt sich die sachlich und in ihrer Intensität und Kontinuität kaum verständliche Polemik gegen den Amadis selbst zu einer Zeit, als der schon kaum noch gelesen wurde. Tatsächlich war es nur die Grenze zwischen Phantastik und Wahrscheinlichkeit, die mitten durch die Literatur gezogen wurde. An dem langfristigen Erfolg dieser Strategie änderte nicht einmal die Erschließung neuer bürgerlicher Rezipienten im 18. Jahrhundert etwas, die offenbar deutlich Vorbehalte gegen die 'nutzlose' Erzählliteratur besaßen. Zwar mußte vorerst das Verfahren noch radikalisiert und die genaue Beachtung der 47 48
Jauß: Zur Genese der Scheidung von Fiktion und Realität, 430. Natürlich muß Jauß insofern gerechtfertigt werden, als er vermutlich (unausgesprochen) ein Repräsentationsverhältnis fur die genannte Scheidung unterstellt, der Roman sie also nur reflektieren soll. Nach der Intention von Cervantes mag das auch vielleicht zutreffen; daß die Mehrzahl seiner Rezipienten allerdings das Werk mit einem distanziert-spielerischen Interesse am Umgang mit Dichtung und Wahrheit gelesen haben sollte, bleibt zweifelhaft. Hier jedenfalls kommt es darauf an, das frühe Votum dieses Romans für die Wahrscheinlichkeit herauszustellen. Siehe hierzu etwa Don Quijotes Gespräch mit dem Domherrn im 47. Kapitel des 1. Buches, wo deutlich fur den wahrscheinlichen Roman plädiert wird, sowie die Kommentare zu den Ritterromanen im 6. Kapitel des 1. Buches. Auf eben diesen Sachverhalt hat Wieland in seinem ersten Roman über ein Jahrhundert nach Cervantes hingewiesen. Innerhalb dieser Don-Quijoterie wird ebenfalls einem Leser fiktiver Geschichten die Differenz von Fiktion und Realität bewußt gemacht. Doch am Ende schließt sich die Romanhandlung an die Fiktion des Gil Blas von LeSage an; diejenige Ebene, welche Don Sylvio soeben als 'Realität' erkannt und von den imaginierten Feenwelten zu unterscheiden gelernt hat, wird wiederum als in einer - und zwar gut bekannten - Fiktion spielend kenntlich gemacht: so weist der Roman auf den am Don Quijote beschriebenen Sachverhalt ironisch hin, daß die Differenz von Fiktion und Realität in der Literatur nur fingiert werden kann. Ähnliche literarische Hinweise finden sich auch in Neugebauers Teutschen Don Qvichotte; siehe hierzu Kurth: Die zweite Wirklichkeit, 117-128.
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Grenze zwischen Fiktion und Realität (bei tatsächlicher Überschreitung) vorgetäuscht werden.50 An der Verbreitung und dem zumindest zeitweiligen Erfolg solcher Selbstverleugnung der Erzählliteratur mit den vielen Wahrheitsversicherungen und Faktizitätsbehauptungen läßt sich zugleich ablesen, daB die meisten Rezipienten vorläufig noch eine wenig ausgeprägte Kompetenz zum Erkennen von Fiktion hatten. Schließlich waren ja auch all die wahrhaffiigen Historien, Briefwechsel und Autobiographien nur fingiert; das zu verschleiern erforderte für einige Zeit jedoch die (Faktizität fingierende) Konzession an das moralische Gewissen der neuen Leser. Entwicklungslogisch hatte also der Wahrheitsrigorismus gegenüber der Literatur gerade nicht die stärkere Annäherung der Erzählformen an die Faktengeschichte oder gar das Ende fiktionalen Erzählens bewirkt 5 ', sondern statt dessen wurde die Grenze zwischen erdichteten und faktengetreuen Texten erzähltechnisch verwischt. Eine wahrscheinliche Fiktion war für den Zeitgenossen nur schwer von einer wahren Historie zu unterscheiden.52 Das neue faktenbezogene Wirklichkeitsverständnis erforderte von den Texten mehr als nur eine ungefähre Annäherung an das Gewöhnliche, mehr als Wahrscheinlichkeit, nämlich tatsächliche Authentizität der Handlung - oder vielmehr die gut verschleierte Illusion dessen. Von dieser schweren Hypothek vermochte sich die Erzählliteratur im Laufe des 18. Jahrhunderts zu entlasten - und beschwor damit ein neues, modernes Literaturverständnis herauf. So verschaffte also die aus dem 17. Jahrhundert stammende Legitimationsstrategie der Erzählliteratur, sich an die Wahrscheinlichkeit zu halten und damit sich dem allgemeinen Wirklichkeitsverständnis zu integrieren, dem Roman im 18. Jahrhundert einzigartige Möglichkeiten. Denn mit der Radikalisierung dieses Verfahrens zum (fingierten) Faktizitätsreport gelang die Gewinnung ganz neuer Lesermassen. Zugleich aber geriet die Literatur so in Gefahr, ihrem Begriff die 'dichterische Freiheit' zu rauben und sich daher grundsätzlich das Zugeständnis der Erfundenheit zu verbieten. Um die produktiven Konsequenzen dieses Widerspruchs wird es im folgenden gehen. Jauß' Verweis auf Don Quijote lenkt den Blick also zunächst auf die von der Masse der Romane selbst dokumentierten Strategien, welche die Frage nach dem Fiktivitätsbewußtsein der Leser erst einmal stillstellen. Sicher kann davon 50
52
Statt der meist vermiedenen Gattungsbezeichnung setzte man lange Zeit lieber unverdächtige Untertitel wie Historie, wahrhaftige Geschichte, Lebensgeschichte. Genau umgekehrt orientierte sich vielmehr die Geschichtsschreibung an den epischen Formen: siehe dazu unten. Parallelen hierzu tun sich auf bei Leibniz. Er wandte gegen den cartesianischen Zweifel über den möglichen Traumcharakter der Wirklichkeit das pragmatische Argument, daß im Grenzfall Wirklichkeit und ihre (wahrscheinliche) Simulation für das Bewußtsein dasselbe leisten können. Siehe hierzu Blumenberg: Lesbarkeit der Welt, 132.
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ausgegangen werden, daß die fur einige Jahrzehnte im 18. Jahrhundert vorherrschende Reaktion der Texte auf Fiktionsvorbehalte auch ein Bewußtsein der Leser Ober die Differenz von Erdichtung und Wirklichkeit bedeutet haben muß. Der neue positivistische Wahrheitsbegriff profilierte alles Nicht-Tatsächliche mit zunehmender Schärfe gegen die scheinbaren Evidenzen des Faktischen. Was aber ein ausgeprägtes Fiktivitätsbewußtsein genauer bedeutet, ist damit noch völlig offen. Denn ein abstraktes Wissen davon, daß die Fabeln der Dichtung erfunden sein können, sagt noch gar nichts darüber, mit welcher Haltung, welcher Skepsis, welchem Unglauben respektive welcher Anfälligkeit zur Illusionierung die Texte tatsächlich gelesen wurden. Dies aber ist doch die von Cervantes illustrierte Frage. Vor allem aber kann aus einem nur generellen Wissen vom Gegensatz zwischen Faktizität und Fiktion noch gar nicht auf die jeweilige Kompetenz geschlossen werden, einen bestimmten Text als fiktiv zu identifizieren. So sind die bisher in der Forschung angestellten Überlegungen zum Fiktivitätsbewußtsein nicht besonders fruchtbar. Belege für die theoretische Reflexion dieser Differenz lassen sich aus beinahe allen Jahrhunderten beibringen. Und die angeblich erfolgte Etablierung eines 'allgemeinen' Bewußtseins von literarischer Fiktivität ist für alle Epochen seit der Renaissance behauptet worden. Abhängig sind derartige Feststellungen aber von den jeweils zum Nachweis herangezogenen gesellschaftlichen Gruppen - je elitärer der Bildungsstand der Zeugen, desto weiter kann man solche post-quem-Befunde historisch zurückverlegen. Aussagen über die Verbreitung von Fiktivitätsbewußtsein sind immer relativiert durch die Größe der beschriebenen Gruppe, die meist nicht eigens als solche benannt wird. Aber selbst explizite Einschränkungen würden nicht den Erkenntniswert solcher Spekulationen erhöhen, weil das Fiktivitätsbewußtsein eine zu unspezifische Größe bleibt. In einem präziseren Sinn fallt Fiktivitätsbewußtsein noch nicht zusammen mit dem allgemeinen Wissen, daß eine Geschichte erfunden ist. Der sich in einigen radikalen Romankritiken äußernde Fiktionsbegriff formulierte eine historisch neue Position, welche Fiktion ontologisch scharf gegen die Erscheinungswirklichkeit abgrenzte. Solcher Kritik begegneten die jeden Hinweis auf ihre Fiktivität mühevoll vermeidenden neuen Romane. Daraus ist jedoch nicht ohne weiteres zu schließen, daß auch die Leser solcher Texte zwangsläufig über ein geschärftes Fiktivitätsbewußtsein verfugten. Vielmehr muß berücksichtigt werden, daß die Romanautoren im Einflußbereich derjenigen Öffentlichkeit standen, in der - vor allem in den moralischen Wochenschriften - massiv gegen den zum Feindbild der höfischen Kultur gerechneten Roman polemisiert wurde. Tatsächlichkeitsvorspiegelungen des neuen Romans begegneten diesem Druck, wobei
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der Beglaubigungsaufwand nicht allein als Reaktion auf ontologische Fiktionsvorwürfe gerechnet werden darf. Vermeintlich wahre Geschichten konnten auch in den anderen Vorwurfsbereichen von Moralität, Religiosität und Rationalität (Wahrscheinlichkeit) weniger leicht angegriffen werden. Der erstaunliche Erfolg der sich an Defoes Robinson anschließenden abenteuerlichen Romane muß also nicht zwangsläufig bedeuten, daß deren Leser alle radikale Vorbehalte gegenüber erfundenen Geschichten hegten. Vielmehr darf davon ausgegangen werden, daß vielen Lesern gerade durch die Lektüre von Texten, die sich als faktisch wahr präsentierten und dieser Frage einen immensen rhetorischen Aufwand widmeten, das Bewußtsein von der Differenz zwischen 'fiktiv' und 'real' erst geschärft wurde. Jenseits aber der Romanlektüre war es der allgemeine Erfolg des 'newtonsch'-empirischen Weltbilds im Verlauf der Aufklärung, der im Bewußtsein vieler Rezipienten diejenige Wirklichkeit, die das ist, was der Fall ist53, von der fingierten Wirklichkeit der Literatur immer klarer schied. Nimmt man die Ergebnisse des vorhergehenden Kapitels hinzu, so zeichnet sich als Problemhintergrund der Entstehung von fiktionaler Literatur im modernen Sinne folgender Entwicklungszusammenhang ab. Der Übergang vom barocken Roman zur 'bürgerlichen' Erzählliteratur muß als ein Traditionssprung zwischen dem noch barocken Traditionen verpflichteten galanten Roman und der Robinsonaden- und Abenteuerliteratur verstanden werden. Dieser Sprung korrespondiert dem Gewinn ganz neuer Leserschichten, welche offenbar Vorbehalte gegenüber erfundener Literatur hatten. Dabei war es vornehmlich das gesamte Erzählarrangement, das im Sujet und in den propagierten Normen ein ganz anderes Identifikationspotential für die middle-class gentility54 bot. Die scheinbar faktisch wahren Geschichten waren also nicht hauptsächlich wegen der Vermeidung von Fiktionssignalen erfolgreich, obwohl dies die markanteste Differenz zu den alten Romanen zu sein scheint und obwohl es die in der Forschung gern zitierten radikalen Fiktionskritiker gab. Selbst in den protestantischen Regionen Norddeutschlands, in denen das Schwergewicht der Bücherproduktion und -rezeption lag, dürfte es bei der Breite der Romanleserschaft noch kein geschärftes Bewußtsein für die Differenz von fiktiv und faktisch gegeben haben. Eine deutlichere Konturierung dieser Opposition war gerade ein Ergebnis der Aufklä53
Zu dem Einfluß dieses neuen Wirklichkeitsverständnisses auch 'unterhalb' der wissenschaftlichen Konzepte in der Breite des Lesepublikums durch Vermittlung der moralischen Wochenschriften siehe Martens: Die Botschaft der Tugend, 217-223; siehe auch Saine: Von der Kopernikanischen bis zur Französischen Revolution, 210-219, sowie allgemein Cassirer: Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs. Siehe Shinagel: Daniel Defoe and Middle-Class Gentility, sowie Fohrmann: Bürgertum und Abenteuer.
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rungsbewegung. So ergab sich das Problem, was denn aus der Rezeption einer erfundenen Geschichte zu erfahren sei, für viele Romanleser erst ganz allmählich im Verlauf fortschreitender Lektüre. Die Texte lieferten aber die Entlastungsmechanismen gegenüber der sich schärfenden Wahrnehmung für Glaubwürdigkeitsfragen gleich mit, indem sie sich an die Produktionsvorgaben von Wahrscheinlichkeit oder Tatsächlichkeit (-sfiktion) und moralischer Nützlichkeit hielten. Wie dieser Prozeß der Bewahrung von Glaubwürdigkeit durch eine Modifizierung der Wahrheitsansprüche erfolgte, soll in den folgenden Kapiteln anhand der Wahrscheinlichkeits-Kategorie aufgezeigt werden. Die Geschichte des Romans im 18. Jahrhundert ist in besonderer Weise von zwei Einflußebenen gekennzeichnet. Zum einen gab es die sozusagen innerliterarische Dimension der öffentlichen Rede über den Roman, zum andern den wachsenden Einfluß des anonymen Marktes im Zeitalter der Individuallektüre. Die Autoren standen vielfach in ihrem Selbstverständnis unter dem Einfluß dieser Öffentlichkeit, auch wenn immer wieder unhomogene Kompromisse gesucht wurden, indem zum Beispiel galanten Romanen ein moralisierender Erzählrahmen aufgestülpt wurde.55 In der Macht der romantheoretischen Erörterungen über die Romanproduktion ist der Grund dafür zu sehen, daß der Roman die Mittel seiner Selbstlegitimation und seines Gattungserhalts bereits benutzte, noch bevor sie eigentlich benötigt wurden. Für die Gattungsgeschichte ergab sich so eine paradoxe Situation. Die aus der literarischen Tradition überlieferte Möglichkeit, den Legitimationsvorwürfen mit der 'Verwahrscheinlichung' der Erzählliteratur zu begegnen, wurde nun noch zur Radikalität der Faktizitätsbehauptung und gänzlichen Selbstverleugnung des literarischen Erzählens gesteigert. Einerseits wurde auf diese Weise die Geltungsbehauptung eines rationalen Wirklichkeitsbegriffs verlängert, nach dem das Tatsächliche und das Wahrscheinliche der von der Vernunft gesetzten Realität entsprachen und sich gegen das Wunderbare und Phantastische absetzten. Diese, Tatsächlichkeit vortäuschende, Erzählweise unterstrich wiederum gerade die Differenz von Fiktion und Realität. Integrierten sich die Beglaubigungstechniken im Erzählen zum einen in die übergreifende Strategie der Entmachtung der Grenze zwischen Fiktivem und Faktischem, so betonte sie zum andern diese Grenze, indem sich diese Texte nicht mit der Behauptung begnügten, nur wahrscheinlich zu sein. Die Authentizitätsvorspiegelungen in den Romanen wurden kanonisch in der Aufklärung, weil sie ein breites Spektrum von Erwartungen abdeckten und sich dabei auch den Lesern noch empfahlen, die dezidierte Fiktionsvorbehalte hatten; diese Leser dürften allerdings nicht in der Mehrzahl 55
Siehe etwa Schnabels Der im Irr-Garten der Liebe herum taumelnde Cavalier (1738) und dazu Griminger: Roman, 663f.
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gewesen sein. Doch die Rücksicht auf sie ließ die Frage von Fiktivität und Faktizität in vielen Texten derart präsent sein, daß an ihnen selbst sich das Fiktivitätsbewußtsein schulen und präzisieren konnte. So stellte sich das Problem erst allmählich, was denn an einem fiktionalen Text glaubhaft sei. Diese Frage zu beantworten und jeden einzelnen Leser in dem Umgang mit einer erfundenen Geschichte zu schulen war ein sukzessiver Prozeß der Romangeschichte des 18. Jahrhunderts. Beispielhaft soll hier noch einmal zu der offensiven, religiös motivierten Fiktionskritik zurückgekehrt werden, denn an ihr selbst wird der Erfolg der Selbstimmunisierung romanhaften Erzählens bereits exemplarisch ablesbar. Tatsächliche Fiktionskritik im strengen Sinne des Wortes übten vor allem die Pietisten, bei deren Angriffen auf Literatur und vor allem Theater mitunter wirklich der Lügencharakter der dichterischen Erfindung die Liste der Vorwürfe anführte.56 Auch für den Pietismus gilt, daß nur noch schwer auszumachen bleibt, in welchen Dimensionen sich sein Einfluß auf die Lesevorlieben und -gewohnheiten des gesamten Romanpublikums bewegte. Wie auch immer darauf zu antworten wäre, so zeigt sich an der vom pietistischen Wahrhaftigkeitsradikalismus eingeleiteten autobiographischen Bekenntnisliteratur nur die Forcierung jener Grenzverlegung, um die es hier geht. Der literarhistorische Effekt der pietistischen Insistenz auf der Wahrheit erzählter Geschichten lag deshalb in der Verfeinerung der Beglaubigungstechniken.57 Mit subtilem Gespür hat der pietistische Lehrer an dem von Francke gestifteten Pädagogium in Glaucha, Hieronymus Freyer, die Wirkungen jener 'Grenzverlegungsstrategie' wahrgenommen, welche die Differenz zwischen wahren und nur wahrscheinlichen Geschichten aufzuheben sich bemühte. Ebenso scharf wie vergeblich polemisierte Freyer in seinem Programma vom Romanenlesen 1730: Wer diesen Unterscheid - zwischen historiographischen realen Zeugnissen und dem Dunst und Schatten nichtiger Gedancken und Don-Quixotischer Abentheuer 56
Schmitt verweist hierzu auf Freyers Teutsches Programma vom Romanenlesen, spricht aber davon, daß diese Reihenfolge der Vorwürfe im Pietismus oft zu finden sei (siehe: Die pietistische Kritik der Künste, 22-28, hier 23). Zur Pietismusforschung siehe Namowicz: Pietismus in der deutschen Kultur des 18. Jahrhunderts, wo allerdings die emanzipatorischen Effekte des Pietismus sehr hoch eingeschätzt werden. Zur Relativierung siehe von Graevenitz: Innerlichkeit und Öffentlichkeit, 33-46. Das paradoxe Verhältnis des Pietismus zur Dichtung beschreibt Schmitt so: die Aufgabe der Sprache ist nicht mehr, allein Gedanken mitzuteilen, denn das Wesentliche ist etwas Inneres, Seelisches, das - so D.H. Arnoldt im Jahre 1731 - nur im dichterischen Bild Gestalt gewinnen und mitgeteilt werden kann. (Die pietistische Kritik, 43) Da gleichzeitig die Regeln von Poetik und Rhetorik einhellig verworfen wurden, ist leicht ersichtlich, daß neue Verfahren und Regeln der Gestaltung erfordert waren.
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nicht erkenne, sei einem Toren gleich, der zwischen Traum und Wachen nicht zu unterscheiden wisse. Doch wie charakterisiert Freyer die Don-Quixotischen Abentheuer?: sie seien alberne und von aller Wahrscheinlichkeit [!] entfernte Handel.
Auch den strikten Wahrhaftigkeitsaposteln fehlte also jedes pragmatisch brauchbare Kriterium zur Unterscheidung von wahren und erdichteten Geschichten neben der Wahrscheinlichkeit. Jene Strategie, die Grenze zwischen Fiktion und Realität zugunsten der zwischen Wunderbarem und Wahrscheinlichem abzuwerten, hatte auf die Dauer einen notwendigen Erfolg. Denn die ontologische Differenz ist eine begrifflich-abstrakte, während sich die zwischen Wahrscheinlichkeit und Phantastik der Rezipientenperspektive erschließt. Mit Freyers Worten: und es ist dabey um so viel unmöglicher, das wahre von dem falschen zu unterscheiden, ie wahrscheinlicher die Lügen [...] seyn müssen und ie gewisser derjenige Roman für den 58
besten gehalten wird, welcher die Unwahrheit am glaublichsten vorstellen kann.
Wie
aber sollte man dann um jenen Unterscheid noch wissen und nicht zum Toren werden? So erweist sich die Unwiderlegbarkeit der Strategie als erkenntnistheoretisch abgesichert: der Romanautor allein schien es nun in der Hand zu haben, ob sein Werk als Erdichtung kenntlich sein sollte oder nicht.59 Die ontologische Frage war zu einer erzähltechnischen geworden, weil die nur begriffliche Differenz zwischen 'der menschlichen und der göttlichen Handschrift' im alltäglichen Umgang mit Texten nicht aufrechterhalten werden konnte, die theoretische Sichtweise des Problems sich zur Perspektive des Rezipienten gegenüber dem Text verschob. Das ist der Grund dafür, warum die Wahrscheinlichkeit im 18. Jahrhundert einer der wichtigsten Begriffe im Reden über Erzählliteratur war. Dieser Kategorie wird daher im folgenden nachzugehen sein, wobei der Dialog zwischen dem Verhalten der Texte in Hinsicht auf ihre Wahrheitsansprüche und den Romanrezensionen im Zentrum der Analyse steht. 58
59
Freyer: Ternsches Programms zum Romanenlesen, alle Zitate 6. Siehe auch den mit 'V.S.' zeichnenden Autor der heroisch-galanten Jüttischen Kasia von 1732, der unter den jüngeren Romanen das allzulügenhaffie/ oder höfflicher/ allzuunwahrscheinliche [...] Zeug abwertete (Vorbericht al v f.). Hierzu stellt Bodmer erkenntnistheoretisch fest: massen die so gerühmte historische Wahrheit nichts anders ist, als Wahrscheinlichkeit, die durch zusammenstimmende und vereinigte Zeugnisse bewiesen wird. Eines andern Beweises ist sie nicht fähig, weil sie keine Notwendigkeit hat, welche die mögliche Zusammenfliessung der Umstände auf irgend eine andere Weise, ausschliesse, so daß etwas nothwendig nur auf diese Art habe geschehen müssen, und nicht eben so wohl auf manche verschiedene Weise hätte geschehen können [...]. Also sind Gedicht, Fabel, und Roman einestheils, und Historie anderntheils, nicht weiter von einander unterschieden, als daß die letztere mehr Grade von Wahrscheinlichkeit hat, indem sie mehr und bewährtere Zeugen hat, deren Aussage besser zusammenstimmet, und vollständiger ist. (Bodmer: Critische Betrachtungen, 548f.)
5.
Wahrscheinlichkeit und Illusionsbildung
Oft sagte Sie: 'Ich glaube natürlich, es gäbe wirklich nichts Schöneres als die Poesie, wenn nur alles wahr wäre und die Dichter wirklich dächten, was sie sagen. (Odette in Prousls 'Suche nach der verlorenen Zeit*)'
5.1
Die Wahrscheinlichkeit literarischen Erzählens. Ein kurzer Überblick über drei Phasen
Die Geschichte der Veränderungen im Literaturverständnis während des 18. Jahrhunderts ist eng verknüpft mit der Entwicklung der literarischen Wahrscheinlichkeit. Zunächst wurde über die poetologische Naturnachahmungs-Formel 'Natur' als Ermöglichungshintergrund der Dichtungslegitimation und einer nachhaltigen Entkräftung der Verdächtigungen gegen literarische Kunst wichtig.2 Sieht man einmal von der inhaltlichen Funktionalität des Naturbegriffs für die Dichtungstheorie ab, so erweist sich der enge Anschluß der Kunstreflexion an 'Natur' - einem Zentralbegriff der Aufklärung - als eine ebenso notwendige wie folgenreiche Operation. Notwendig war sie, um der sich aufblähenden Fiktionskritik den Wind aus den Segeln zu nehmen, folgenreich wegen der so eröffneten Möglichkeit, den Abstand zwischen dem Buch der Natur und den Büchern der Menschen erheblich zu verringern, also Adäquationseindrücke zwischen Literatur und Realität zu erzielen. Nicht nur stellte die Nachahmungsformel der literarischen Erfindung einen fast unbegrenzten Freiraum zur Verfügung, sondern sie verwies die Dichtung im Begriff der Naturgesetzlichkeit auch auf einen regelhaften Kontext, der von der Erscheinungswirklichkeit unabhängig ist. Die Verknüpfung des literarischen Wahrheitsgehalts mit diesem Kontext beförderte die sukzessive Verlagerung der poetischen Wahrheitswerte von der pictura-Dimension literarischer Texte auf die in der Fabel vermittelte allegorische Wahrheit. Bedingungsgefüge dieser Veränderung war die erwähnte Aussichtslosigkeit der Bemühungen darum, die Dichtung auf abbildliche Wahrheit zu verpflichten. Zu guten Teilen müssen ganz pragmatische Gründe für die Ent1
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1,319f. Diese Zusammenhänge werden an einem anderen Ort ausführlicher dargestellt werden.
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stehung des modernen Literaturverständnisses verantwortlich gemacht werden: daß es keine verläßlichen Kriterien der Unterscheidung zwischen fiktiven und nichtfiktiven Texten gibt.3 Die Verschiebungen in der Dimension des literarischen Wahrheitsanspruches sind jedoch anhand der Äußerungen über die Naturnachahmung gerade auch wegen der semantischen Breite und Variabilität des Naturbegriffs nur schwer zu rekonstruieren. Einen verläßlicheren Zugriff bietet hierfür die Kategorie der Wahrscheinlichkeit, die bei der Beurteilung von Romanen oder in Produktionsanweisungen deutlich differenzierter eingesetzt wurde als der Naturbegriff. Als eine der wenigen verbliebenen Produktionsregeln für Romane steuerte die Wahrscheinlichkeit als erzählliterarische Kategorie die Geschichte der Werkstrukturen, fand aber auch Benutzung bei der Beurteilung und Kritik von Romanen in Rezensionen. Das 'Wahrscheinliche' ist der Fokus, in dem sich die erwarteten und geglaubten Wahrheitsansprüche gegenüber Romanen aufgreifen lassen. Achtet man nun in den zeitgenössischen Äußerungen über Romane auf den Begriff der Wahrscheinlichkeit, so ergeben sich drei voneinander abgrenzbare Phasen. Im 17. Jahrhundert wies die Wendung zum Wahrscheinlichen sozusagen imperialistische Züge auf. Einerseits wählte man Stoffe, die bereits 'vernünftig' bearbeitet, 'rationalisiert' bei den Historiographen vorlagen, andererseits erfuhr das geschichtlich Entfernte und Differente in der konkretisierenden Ausgestaltung eine Annäherung an die eigene Kultur. Am Ende dieser ersten Phase ist vielfältig kritisiert worden, daß die Figuren der biblischen und antiken Stoffe in diesen Romanen die Sprache, die Gebräuche, Denkweisen und Kleider der Gegenwart (des 17. Jahrhunderts) benutzten. Es ging also um das Phänomen, das Koselleck als eine Art 'zeitloser Zeitgenossenschaft' thematisiert, den gemeinsamen geschichtlichen Horizont, welcher Vergangenheit und Zukunft umschloß und der auch, so Kosellecks Beispiel, dafür verantwortlich war, daß auf Albrecht Altdorfers Gemälde von der Schlacht bei Issus die Perser mit Kleidung und Kriegstechnik des 16. Jahrhunderts abgebildet sind.4 Auf diese Form der 'falschen', projizierenden Konkretisation in historischen Gemälden machte be-
4
Johann Beer zum Beispiel behauptete als Herausgeber der Geschieht und Historia von Land-Graff Ludwig dem Springer, ein altes Manuskript zu verwenden. Das stimmte auch, dennoch hatte sich Beer selbst über den Wahrheitsgehalt täuschen lassen, wie Martin Bircher es formuliert: Das hohe Alter der Handschrift, die Ehrbarkeit des Kapellans schienen Beer jeden Zweifel an der historischen Zuverlässigkeit auszuschließen. (Vorwort, in: Beer: Die Geschieht und Historia, 2f.) In dem aus Sicht der Rezipienten ganz ähnlichen Fall der Teutschen Winternächte wiederum hatte der 'Herausgeber' wirklich die vorgebliche Quelle erfunden; siehe Tatlock: Fact and the Appearence, 358f. Siehe Koselleck: Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit, 17-19.
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reits Thomasius in einer Rezension von Happels Afiicanischem Tarnolast aufmerksam: Die Mahler mahleten aus dieser Ursache die alten Gastereyen/ als wenn die Leute/ wie etwan heut zutage/ zu Tisch sässen [...] ich hätte ohnlängst ein Bild gesehen von Holofernes und der Judith/ da hätten die Belägerer ein hauffen Bomben in die Stadt geworffen/ und die Bürger zu Bethulia hätten wacker aus Musqueten wieder heraus gefeuret.5 Betrachtet man diese Form der Aneignung von Geschichte nicht in Hinsicht auf Fragen der 'Verzeitlichung', sondern mit Bezug auf die Wahrscheinlichkeit des Romans, so erweisen sich solche skeptischen Töne als Kritik eines gewissen kulturellen Imperialismus. Angeklagt wird die vereinheitlichende Unterwerfung des Fremden unter die Vorstellungsnormen der eigenen Kultur. Der Ruf nach wahrscheinlichen Romanen hatte sich zuerst gegen die Melusinen, Amadise, Ritter Pontus u.s.w.6 gerichtet und eine Hinwendung zu im weiteren Sinne historischen (damit auch biblischen) Sujets bewirkt. 'Verwahrscheinlichung' des Romans bedeutete also den Anschluß der Handlungen an die verbürgte Wirklichkeit, die ja noch nicht in ihrer Geschichtlichkeit und in der Möglichkeit zeitlicher Entfernung wahrgenommen wurde.7 Die universelle Gleichzeitigkeit eines gemeinsamen geschichtlichen Horizonts - wie man vielleicht Kosellecks Geschichtsvorstellung der frühen Neuzeit umschreiben könnte - bedeutete noch für die romanhaften Darstellungen des Barocks die Sicht aller Geschichten aus der Perspektive des eigenen Kulturraums ohne Bewußtsein von dieser Perspektivität.8 Deshalb wurden die Historien im Ambiente des eige5
6
Freymüthige [...] Gedancken, 1689, 735. Allerdings dürfte es sich bei den Truppen des Assyrers Holofernes kaum um römische Legionäre gehandelt haben, wie Seiler vermutet (Leidige Tatsachen, 74). 654 (Thomasius). Siehe Koselleck: Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit. Bezeichnenderweise wurde der Begriff der Perspektive selbst noch bis in seine Mode im 18. Jahrhundert hinein in der ursprünglichen Bedeutung des klaren, unverzerrten Sehens benutzt, bevor allmählich die uns geläufige Semantik sich durchsetzte, welche den Aspekt der Relativität von Sichtweisen betont. Die nicht nur wegen ihrer Radikalität so markante Bedeutungsverschiebung vollzog sich anhand der Belegung des Begriffs mit der neuen, 'realistischer' erscheinenden, zentral-perspektivischen malerischen Darstellungstechnik. Dies erfolgte zu guten Teilen in dem Streit darüber, ob die Antike bereits die perspektivischen Gesetze kannte. Wie so oft ließ die Aufklärung auch hier von der ursprünglichen Bedeutung - einer klareren Wahrnehmung - nur den Rückbezug auf das wahrnehmende Subjekt übrig, auf seinen Sehe-Punckt (dem Chladenius eine eigene Theorie gewidmet hat). Aus dem Perspektiv, das eine deutliche und präzisere Sicht ermöglichte, wurde die Relativität jedweder Anschauung - und in metaphorischer Verselbständigung dann oftmals noch die Relativität der Erkenntnis überhaupt. Weder Adelung noch Heinsius führten im je-
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nen Lebensraums vorgestellt. Strukturell gesehen blieb die gestalterische Freiheit, die man sich gegenüber den 'geschichtlichen' Stoffen erlaubte, im Vergleich zu den verpönten phantastischen Romanen fast gleich. Doch erfuhren die Historien eine eklatante Funktionalisierung in den binnenkulturellen Hegemonialstreitigkeiten bei der Selbstermächtigung einer elitären (höfischen) Privilegierten-Kultur: Ob es sich um die biblischen Figuren bei Anton-Ulrich oder um die hinterindischen Helden Ziglers handelt9, stets erkennt man im Habitus eine starke Färbung durch die mitteleuropäische Hofkultur. Die kulturhistorische Aufgabe dieser Aneignungsform war eine zweifache. Hinmal unterwarf die höfische Romanproduktion virtuell alle Teile der Weltgeschichte einem Deutungskontext, der dadurch alles Fremde und Differente in die Einheit seiner Lesart der Wirklichkeit integrierte; zum andern konnte so die ausschließende Universalität dieses kulturellen Machtanspruchs gegenüber andern Interpretationen der Welt gestützt werden. In dieser Hinsicht erweist sich die hohe Erzählform als ein Versuch der Aufhebung von Differenzen, der Resingularisierung sozusagen. Hiergegen jedoch richtete sich die Kritik nicht, welche das Ende der ersten Phase der wahrscheinlichen Romanliteratur einläutete, auch wenn manche Formulierungen gerade diesen Eindruck vermitteln: Der Herr Happel beschreibe einen Africanischen Fürsten, und keinen Europäischen,10 lobte Thomasius. Doch wird an weiligen Band ihrer Wörterbücher (1798, 1820) schon die generalisierte Bedeutung von perspektivischer Relativität auf. Jedoch nannte Binzers Encyklopädisches Wörterbuch im 16. Band (1831) als zweite Bedeutung von Perspective: Die Art, wie etwas in seiner Nebeneinanderstellung nach der Verschiedenheit der Sehwinkel dem Auge erscheint. (110) Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden dann Aussicht, Sichtweise und ahnliches zum bevorzugten Lexikoneintrag der Erstbedeutung, bevor Teichmüller mit der Wirklichen und der scheinbaren Welt (1882) den Perspektivismus begründete. Das Problem, um das es dabei ging, war allerdings eines der großen theoretischen Themen des 18. Jahrhunderts, hatte doch Leibniz schon jeder Monade einen individuellen point de vue zugesprochen. Zur Theorie des SehePuncktes siehe Chladenius: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, 1742, § 308ff. Zu der raschen Übernahme des Begriffe und seiner theoretischen Konsequenzen für die Historiographie siehe auch Koselleck, der mit ironischer Metaphorik feststellt: So wurde die Sichtweise des Chladenius zum Gemeinplatz (Geschichte, Historie, in: Geschichtliche Grundbegriffe 2, 696, sowie: Standortbindung und Zeitlichkeit; zu der Rolle von Chladenius in der Geschichte der Hermeneutik siehe Szondi: Hermeneutik, 27-97, sowie Gaede: Chladenius und die Folgen). Zu der noch unaufgearbeiteten Debatte im 18. Jahrhundert über die perspektivischen Kenntnisse der Antike und den Zusammenhang dieses Streits mit dem 'historischen Perspektivismus' siehe Seeba: Der wahre Standort einer jeden Person. 9
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Europäisches Wesen um 1700 wird naiv und fesselnd in die Welt des exotisch-asiatischen Despotismus verpflanzt, schreibt Pfeiffer-Belli über die Asiatische Banise (Nachwort, 479). Freymüthige [...] Gedancken 1689, 737.
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dieser Stelle nicht dem Disparaten das Wort geredet, sondern vielmehr der Ausdifferenzierung der Wahrscheinlichkeit. Wenn das stimmt, dann ließe sich einwenden, daß durch die ersten Forderungen nach wahrscheinlicher Literatur im französischen Klassizismus im großen ganzen ein Prozeß der technischen Professionalisierung im wahrscheinlichen Erzählen angestoßen wurde, in welchem diese Kritik von Thomasius und anderen lediglich einen Schritt der Entwicklung markieren würde. Einer solchen Fortschrittsvorstellung in Hinsicht auf die technische Beherrschung der literarischen Probabilität11 soll hier nicht grundsätzlich widersprochen werden, doch dürfte dies nur ein Aspekt des Problems sein. Für die Unterstellung, daß die literarische Wahrscheinlichkeit in Phasen verlief, deren erste mit der angeführten spätbarocken Kritik an manchen 'hohen' Barockromanen endete, spricht vor allem ein Grund: Das an Thomasius' Rezension greifbar werdende Auseinandertreten der im Klassizismus verknüpften Machteinsetzung der Vernunft und der elitären Selbstverständigung des Höfischen. Fortan mußte beides nicht mehr in der Literatur miteinander verknüpft sein. Durch die Universalität der Vernunft wurde die soziale Abgrenzungsfunktion der klassischen Kunst depraviert, die Ratio drängte geradezu über die Standesgrenze hinaus. Thomasius trieb die Ermächtigung der Vernunft auf Kosten der mitteleuropäischen Hofkultur fort, indem er die Ausdifferenzierung der Probabilität verlangte. Die lobende Feststellung, daß Happel afrikanische Fürsten beschrieb, betonte nicht so sehr das Fremde an dessen Roman als vielmehr die sich in ihm manifestierende Tendenz zu einer weitreichenderen Rationalisierung des Wahrscheinlichen. Ein Detail des fingierten Streitgesprächs über Happels Werk gibt Thomasius - als dessen Verteidiger - so wieder: Eben deswegen hätte ich mehr Belustigung in dem Tarnolast gefunden/ als in vielen andern Romanen, weil es immer schiene/ als wenn der Autor wider die Regeln anstiesse, und dennoch allezeit Ursachen da wären/ wenn man die Sachen genauer überlegte.12
Die zweite Phase der literarischen Wahrscheinlichkeit untermauerte den universalen Geltungsanspruch der Vernunft gerade durch Ausdifferenzierung. In dem noch unausgesprochenen Vertrauen fußend, daß jede Differenz durch eine Kau11
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Diese These vertritt am deutlichsten Seiler, dem sie zur Grundlage seiner Untersuchung über Die leidigen Tatsachen wird (siehe etwa 59). Weitere historische Beispiele fur die Kritik an literarischen Fabeln, die zu wenig den erzählten Kulturräumen entsprechen, und darauf bezogene Forderungen siehe dort 61-74. Freymüthige [...] Gedancken, 1689, 737f. (Der Konjunktiv steht hier fur eine indirekte Rede, markiert also keine Aufforderung, sondern die Wiedergabe einer Feststellung)
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salitätskette begründet und erklärt werden kann, erfahren die Geschichten der Welt keine Aneignung mehr durch virtuelle Integration in die eigene Kultur, sondern durch Unterwerfung unter die eigene Rationalität, - metaphorisch formuliert: es erfolgte der Übergang vom kulturellen zum rationalistischen Geschichtsimperialimus. 13 Das Differente und Fremde sollte nicht mehr der eigenen Kultur anverwandelt, sondern die Differenz rationalisiert werden. Mit dem Wahrscheinlichkeitskriterium forderte man nun, alles Unbekannte und Verschiedene zu begründen, wobei das Wahrscheinliche ja nur auf Widerspruchsfreiheit zielte und damit eine Minimaldefinition anzuführen schien, der kaum widersprochen werden konnte. So immunisierte die scheinbare Reduktion der Rationalitätansprüche im Wahrscheinlichkeitsbegriff auf das Axiom der Widerspruchsfreiheit die Vernunft gegen jeden Zweifel an ihrer allumgreifenden Geltung. Denn was läßt sich gegen den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch schon einwenden? In der zweiten Phase der literarischen Wahrscheinlichkeit wurde das Schwergewicht deijenigen erzählerischen Techniken verlagert, welche dem Rezipienten versicherten, daß ihn diese Literatur betreffe: solche Relevanz suggerierten die Texte nun nicht mehr über die Wiedererkennens-Effekte beim kulturellen Habitus, sondern zunehmend mit der Versicherung der Allzuständigkeit der Vernunft. Der Leser dieser Romane konnte in ihnen eine für sich gültige Wahrheit erfahren, daß nämlich diese Texte nach derselben Rationalität sich als stimmig erwiesen, mit der er 'seine' Wirklichkeit beurteilen konnte. Was der wahrscheinliche Roman in dieser Phase leistete, war eine erzählende Bewältigung der gesamten Welt mit den Mitteln der Vernunft. Spätestens in der Abenteuer- und Robinsonadenliteratur schien den Zeitgenossen dieses Programm globaler Aneignung absolviert worden zu sein. Die Rationalisierung der Probabilität erlaubte zugleich erheblich größere Freiheiten in Auswahl und Organisation des Sujets. Instrument der Vereinheitlichung der Differenzen war nun das, was man für 'die Vernunft' hielt - und nicht mehr das Ambiente der höfischen Kultur. So mußten sich auch die Gegensätze zwischen den Genres allmählich auflösen: bei von Loens Redlichem Mann am Hofe (1740) und Gellerts Schwedischer Gräfinn 13
Thomasius' Kritik darf allerdings nicht nur gewertet werden als ein Nachdenken, durch das der Roman auf die reale, die authentische Welt verpflichtet worden sei. (Seiler: Leidige Tatsachen, 68) Die realistische Wendung des Klassizismus hatte versucht, die (Roman-) Literatur durch den Bezug auf den Erfahrungskontext der Rezipienten mit Wahrscheinlichkeit auszustatten. Doch dieser Zusammenhang existierte allein in den jeweiligen kulturellen Vorstellungswelten. Auch wenn die Forderungen nach Ausdifferenzierung der Probabilität seitdem immer wieder sich auf 'die Wirklichkeit' und auf Erfahrungen mit ihr beriefen, so wurde damit der Roman noch nie auf die 'reale Welt' verpflichtet; vielmehr handelte es sich dabei stets um Korrekturvorschläge an den Wirklichkeitsbildern und ihren literarischen Reflex.
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(1747/48) etwa ist die traditionelle Opposition von hohem Staats- zum niedrigen 'bürgerlichen' Roman nicht mehr so leicht auszumachen.14 Von durchschlagender Funktionalität war die Universalisierungsleistung der rationalisierten literarischen Wahrscheinlichkeit vor allem nach innen, denn sie erlaubte, die binnenkulturellen Differenzen zu überbrücken - statt sie aufzuheben. 15 Das Fremde brauchte nicht mehr angeglichen zu werden, seit die Gesetzmäßigkeit der Vernunft die Unterschiede zu beherrschen schien. So wurde das Toleranzvolumen für Disparatheit erheblich erweitert, weil alle Unterschiede dem Geltungsbereich der Vernunft unterstellt werden konnten. In welcher Kleidung oder mit welchem Verhaltens- und Normenkodex fremde Kulturen veranschaulicht wurden, konnte zweitrangig werden, solange allem Unbekannten der Anschein eigener Rationalität verliehen werden konnte. Wie sehr es dabei allein um die Glaubhaftmachung dieses Scheins ging, wird an der Abhängigkeit jeder differenzierten Wahrscheinlichkeit vom jeweiligen Kenntnis- und Informationsstand über das gewählte Sujet deutlich. Thomasius' Versuch, Happels Tarnolast zu rechtfertigen, zeigt, wie unbekümmert Autor und Leser um 1700 noch über afrikanische Verhältnisse spekulieren konnten, ohne in Zweifel darüber zu geraten, daß sie die Probabilität auf ihrer Seite hatten: Africa wäre ein heiß Land/ und also wäre das Frauenzimmer darinnen/ und in denen angräntzenden Orten/ hitziger als bey uns, ja es schiene daselbst die Sonne so starck auff das Frauenzimmer von hohem Stande/ als auff die gemeinen. Und solcher gestalt wäre es nicht stracks wider das Africanische πρέπον, wenn ein Frauenzimmer einen Cavallier ihre Liebe entdeckte, ob es gleich unserm decoro zuwieder lieffe.16 Die hier zur Kennzeichnung der zweiten Phase der literarischen Wahrscheinlichkeit beschriebene Tendenz bewirkte selbstverständlich nicht eine völlige Aufhebung aller abbildlichen Identifications- und Wiedererkennensangebote in 14
16
Zu solchen vereinheitlichenden Tendenzen siehe Freudenreich: Zwischen Loen und Geliert, 88-135; zu Geliert Meyer-Krentler: Der andere Roman, und Bräuner: Die Suche nach dem deutschen Fielding, 52-63. Kein Wunder daher, daß Thomasius in der Γύ/710/art-Rezension nicht nur auf die Unterschiede zwischen europäischen und afrikanischen Fürsten hinweist, sondern ebenso die erheblichen Differenzen zwischen den europäischen Kulturen selbst herausstreicht. Freymüthige [...] Gedancken, 1689, 735: In Teutschland wäre die Handlung fltr den Adel verächtlich/ in Italien/ Holland u.s.w. hatte der Adel eine gantz andere Meynung davon. Man würde einem vornehmen Manne bey uns es hauptsächlich vor Obel halten/ wenn er auff dem Marckte Fleisch und Obst einkayffte; aber in Spanien wäre es nichts ungewöhnliches. Hier zu Lande wäre ein Leben/ wenn ein artiges Frauenzimmer eine Toback-Pfeiffe im Munde hätte; In Engelland wäre es grand mode. Freymüthige [...] Gedancken, 1690, 738.
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den Romanen. Im Gegenteil zollten immer mehr Texte den neu gewonnenen Leserschichten Tribut, indem die Handlungen im 'bürgerlichen' Milieu angesiedelt wurden. Doch gerade in den ersten beiden Dritteln des Jahrhunderts mußten die meisten der bürgerlichen Romanhelden Erfahrungen mit fremden Kulturen machen. Und diese Texte geben immer wieder sehr deutlich die 'aufklärerischen' Weltdeutungsmuster ihres Produktionsumfeldes zu erkennen, die allen möglichen entfernten Gesellschaften und Völkern geradezu aufgestülpt worden sind. Aber worauf es hier ankommt, ist, daß sich das Reflexionsniveau dieser erzählenden Weltaneignung deutlich erhöht hat. Nun ließen die Geschichten an unzähligen Stellen das Bewußtsein der Differenz erkennen - vielfach in dem Bemühen, zumindest in freier Spekulation auszumalen, wie es denn wohl an dem fremden Ort zugehen mag. Dem korrespondiert die in den poetologischen Abhandlungen der Aufklärung kanonisch gewordene Aufforderung an den Romanschreiber, sich immer genau nach den Sitten der Zeiten, der Oerter, des Standes, Geschlechtes und Alters seiner Person17 zu richten. Die Erfolge darauf bezogener erzählerischer Anstrengungen nehmen sich in vielen Details lächerlich aus - man denke etwa an die gezähmten Affen, die Albertus Julius auf seiner Insel Felsenburg beim Schneiden und Dreschen des Heus helfen.18 Schon der Original-Robinson verrät die besondere Mühe, die sich Defoe mit der 'Verwahrscheinlichung' in den Einzelheiten gab. Und immerhin entspricht das Probabilitätsniveau dieses Romans noch heute den Anforderungen Jugendlicher. In Ziglers Roman dagegen vergleicht der Oberpriester von Pegu die Schönheit der Asiatischen Banise mit deijenigen Dianas und sieht auf dem unbeschiffien Meer von Barnsens Marmelbrust die Venus in zwei Muscheln schwimmen, wo lauter Anmutsmilch um die Rubinen gerinnet.19 Nun werden Oberpriester in Pegu durchaus gebildet gewesen sein, aber daß sie sich zu rhetorischen Vergleichen der Mythologie der europäischen Antike bedienten, ist weniger gleubwürdig. Dabei handelt es sich nicht einfach um naive Ungeschicklichkeiten Ziglers, der die 17
Hier in der Gottschedschen Version: Critische Dichtkunst, 527. Dessen Formulierungen benutze Faber fur seine Anfangsgründen der schönen Wissenschaften 1767
fast wörtlich: so ist gleichwohl die Regel zu beachten, daß man sich genau nach den Sitten der Zeiten, der Oerter, des Standes, Geschlechtes und Alters seiner Personen richten müsse. Diejenigen Romanschreiber sind also sehr verwerflich, die allen Personen die Sitten ihrer eigenen Zeit, ihres Landes und ihres Standes geben. (870) 18 19
Siehe [Schnabel:] Wunderliche Fata, 250. Zigler: Asiatische Banise, 304f. Chaumigrem wird von einem Peguaner als heller und tapferer Jove (230) bezeichnet. Ähnlich sagt der Oberpriester von Pegu im Gespräch zu Chaumigrem, nachdem dieser das Land eingenommen hat und den Kaiser
ermorden ließ: Getreue Räte sind eines Fürsten Ferngläser (234). Dabei hat die hier vorangegangene Eroberung historisch 1552 stattgefunden, also ein halbes Jahrhundert, bevor in den Niederlanden die ersten Fernrohre konzipiert wurden.
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Kulturen miteinander vermischt. Die so sorgfaltige Kollationierung des Quellenmaterials ebenso wie die kunstvolle Anordnung der Fabel verbieten die Unterstellung von Flüchtigkeitsfehlern. An solchen eklatanten Unwahrscheinlichkeiten wird nur greifbar, was für die hohen Formen barocken Erzählens insgesamt gegolten hat: die Wahrnehmung für die Möglichkeit historischen oder kulturellen Andersseins war noch nicht geschärft. Die wesentliche Bezugsgröße des rationalisierten Wahrscheinlichen war die Naturgesetzlichkeit. Sie erlaubte eine Unterscheidung des Fremden und Unbekannten in Phantastisches und Unmögliches einerseits und in dasjenige andererseits, was zwar den eigenen Erfahrungen nicht entsprach, aber dennoch in seiner Differenz rational begründet und erklärt werden konnte. Jedem nur wenig gebildeten Leser mußte klar sein, daß es keine Meerjungfrauen gibt, aber die Wunderlichen Fata einiger See-Fahrer waren dagegen eine 'Geschichte, von welcher man [...] nicht mit einer völligen Gewißheit beweisen kann, daß sie sich nicht aitf unserer Erdkugel zugetragen habe"20. So lautet die 1744 in Einigen Gedanken und Regeln
von den deutschen Romanen zur Definition erhobene Minimalformel des wahrscheinlichen Romans. Um sie zu erfüllen, sollte sich der Dichter hüten, daß er Oberhaupt nichts erzähle, welches der Natur der Dinge auf unserer Erdkugel offenbar
widerspricht.21 Die Natur der Dinge aber war durch Gesetze bestimmt, und wer sie kannte, der vermochte auch über die Wahrscheinlichkeit von Vorfallen in Ländern zu urteilen, von denen er noch nie gehört hatte.22 Als Erklärungsmodell lag dieser Form der Wirklichkeitsaneignung das der Reversibilität zugrunde:23 von jedem Punkt der Welt - und der Weltgeschichte - kann man über eine durch Ursache und Wirkung geknüpfte Kette zu jedem beliebigen andern Punkt gelangen. Diese Vorstellung wurde zunehmend ausdrücklich als Prinzip der Kausalverknüpfung den Romanautoren als Forderung auferlegt:
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Einige Gedanken und Regeln von den deutschen Romanen, 23. Und der geübtere Leser, der sich angesichts bestimmter Signale sicher weiß, daß es sich bei Schnabels Roman um eine Fiktion handelt, könnte sich getäuscht haben. Denn die Recherchen Arno Schmidts machen es durchaus wahrscheinlich, daß die Insel Felsenburg keine reine Erfindung ist - wenn Schmidts Nachforschungen nicht auch wieder nur Fiktion sind (siehe A. Schmidt: Schnabel). 37. Breitinger: Critische Dichtkunst 1, 140f.: wo man die Kräfte der Natur nicht kennet, und nicht fähig ist, die weise Verknüpfung der Umstände unter einander [...] einzusehen, da ist man nicht geschickt, das Unwahrscheinliche zu entdecken: Hingegen je genauer einer die Gesetze und Kräfte der Natur und das Wesen der Dinge kennet, desto besser wird es ihm gelingen, das Wahrscheinliche genau und richtig zu bestimmen. Und nicht die Irreversibilität, wie Dietrich Löffler überraschenderweise annimmt: Die Fabel als strukturbildendes Prinzip des traditionellen Romans, 42.
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Wahrscheinlichkeit und Illusionsbildung Daferne auf unserer Erdkugel alle Dinge in einer genauen Verbindung stehen, so muß auch überhaupt unter den erzählten Begebenheiten eines Romans ein Zusammenhang seyn. Keine darf den andern wiedersprechen, und überhaupt mufi eine genaue Wahrscheinlichkeit beobachtet seyn. In dieser Welt hat der vorhergehende Zustand den Grund von dem folgenden in sich, und man kann daraus erkennen, weswegen er so und nicht anders beschaffen ist. Dies verbindet einen Dichter, sein Gedicht so einzurichten, damit die folgenden Begebenheiten aus den vorhergehenden können gerechtfertiget werden.24
Die wahrscheinliche Erzahlliteratur schrieb, so wenigstens der von ihr vermittelte Eindruck, an der Gesamtbeschreibung eines umfassenden kohärenten Sinnkontextes. Jeder Text fügte sich scheinbar mit vollständiger Kompatibilität in ein einheitliches (aufklärerisches) Bild der Weltgeschichte, und jede etwa auftretende Dissonanz schien in einem - prinzipiell vermeidbaren - Fehler zu gründen. Die dritte Phase der literarischen Wahrscheinlichkeit muß eigentlich als eine Art Verfallsstufe verstanden werden. Sie ist gekennzeichnet durch das Auseinandertreten von wahrscheinlicher und nicht-wahrscheinlicher Literatur sowie die Aufkündigung des Wahrscheinlichkeits-Kriteriums zumindest unter den Poetologen und Literaturtheoretikern. Nun wurde allmählich in immer mehr Texten die eigene Kohärenz textintemer Stimmigkeiten offen gegen den textexternen Bezug ausgespielt. Die erfundenen Geschichten gaben ihre Fiktivität zunächst augenzwinkernd oder in ironischen Brechungen (Agathon), später auch direkt zu. Vielfach gerade die anspruchsvollsten Texte zogen aus bestimmten, noch zu erläuternden Entwicklungen in der literarischen Wahrscheinlichkeit die weitreichende Konsequenz, sehr viel stärker wieder auf figurale Formen literarischer Wahrheitsvermittlung zu setzen und die unmittelbar abbildenden Verweise der Wahrscheinlichkeit für gänzlich zweitrangig zu erklären. Als poetologische Invektive gelang dieser Versuch weitgehend, das Probabilitätskriterium verschwand überwiegend aus den dichtungstheoretischen Texten. Die Literatur selbst jedoch löste sich nicht vollständig von dem Bemühen um wahrscheinliches Fingieren, und zwar vor allem deshalb nicht, weil die niveauvollen Rezeptionsformen, die Klassik und Romantik propagierten, allein von einem sehr begrenzten Publikum beherrscht oder auch nur akzeptiert wurden. So blieb 'wahrscheinliche' Literatur durchaus gefragt und erfuhr unter verändertem Titel im 19. Jahrhundert sogar erneute poetologische Anpreisung. Die Reaktion auf die immanenten Entwicklungen in der wahrscheinlichen Romanliteratur, die Probabilität als sozusagen 24
Einige Gedanken und Regeln, 38. Blanckenburg kritisierte in seiner Rezension von Nicolais Sebaldus Nothanker mit deutlicher Reversibilitätsmetaphorik: und der
Dichter, der uns eine seiner Personen zuerst als ganz einflütig, und dann voll von Einsicht vorführen wollte, müßte uns natürlich den Raum zwischen diesen Extremen durch Begebenheiten ausfiülen, wodurch die letztere Erscheinung wahrscheinlich, und mit der erstem zusammenhangend gemacht würde (NBWK 17, 1775, 266).
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offizielle romantheoretische Regel aufzukündigen, war durchaus konsequent. Vollends durchgesetzt werden konnte diese Wendung jedoch nur unter den Dichtungstheoretikern. Der Publikumsgeschmack dagegen dissoziierte, die Mehrheit der Rezipienten konnte nicht mit den neuen Rezeptionsformen vertraut gemacht werden. Doch worin die Konsequenz dieser literaturtheoretischen Entwicklung bestand, muß erst noch im einzelnen gezeigt werden. Die für die Frage der Herausbildung des besonderen Fiktivitätsstatus moderner Erzählliteratur wichtigen Entwicklungen vollzogen sich in der hier als der zweiten bezeichneten Phase literarischer Wahrscheinlichkeit. An dem Verhältnis von Roman und Geschichte soll nun im folgenden eine der prägenden Ausgangsbedingungen für die Entwicklung der modernen Erzählliteratur präzisiert werden.
5.2
Entwicklungslogische Möglichkeiten der literarischen Wahrscheinlichkeit
In der gesuchten Nähe zu Geschichte und Geschichtsschreibung fand der wahrscheinliche Roman des Barocks neue Legitimationsmöglichkeiten. Doch sollten sich bald die Grenzen dieser Rechtfertigungsvariante zeigen. Die Wendung der Literatur zur Wahrscheinlichkeit bedeutete die Ausstattung der Dichtung mit Wahrheitswerten durch die Geste des Bezugs auf die erfahrbare Wirklichkeit. Seine durchsetzungskräftige Glaubwürdigkeit erhielt dieser Realismus jedoch erst durch jenen Versuch der vereinheitlichenden und ständeübergreifenden Aufhebung binnenkultureller Differenzen, also durch die Etablierung der aufklärerischen 'einen Welt' als Bezugsgröße der Dichtung. Dieses Wirklichkeitsbild wurde einerseits erheblich von mechanisch-empiristischen Vorstellungen der neuen Physik gespeist, lebte aber zugleich von der Mißachtung der Grenzen zwischen Faktizität und Normativität, von dem unmerklichen Übergang von den Naturgesetzen zu 'dem' (moralischen) Naturgesetz.25 Das standardisierte Kriterium für eine glaubwürdige Wahrscheinlichkeit war, daß die Erdichtungen bekannten Sachen nicht widersprächen.26 Für die Begründung literarischer Wahr25
26
Solche Ubergangslosigkeit zeigen etwa die Gedanken und Regeln mit besonderer Deutlichkeit, wenn sie zunächst die Forderung nach Tugendlohn und Sündenstrafe erläutern und dann die Fragen der Kausalität und des inneren Zusammenhangs der Romanhandlung - etwa mit solchen Formulierungen - erörtern: Noch viel weniger muß sie [die Verknüpfung der Begebenheiten] dem Zusammenhang der Dinge auf unser Erdkugel offenbar -widersprechen. Denn alsdenn würde diese Geschichte nicht das Wesen eines guten Romans haben [...] und bey den Lesern würde dadurch nicht die geringste Ueberredung erwecket werden, daß die Tilgend natürlicher Weise belohnet und das Laster bestrafet werde. (31) Gottsched: Critische Dichtkunst, 527.
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heitsansprüche durch die Wahl von historischen Sujets bedeutete dies eine Art Fiktionslizenz für die Lücken der Geschichtsschreibung.27 Für die 'eine Welt', deren Überlebensbedingung die widerspruchsfreie Integration virtuell aller Erfahrungen und Wissensbestände war, bedeutete der Anschluß der Romanliteratur an die überlieferte Historiographie, die Einheit 'der Geschichte* unterstellen zu müssen. 28 Als Themenfond aller möglichen Romane taugt die Geschichte zum Verifikationsmaßstab der erdichteten Wahrscheinlichkeiten erst dann, wenn der einheitliche Zusammenhang der historischen Ereignisse so wenig zweifelhaft ist wie die einzelnen Daten es sind. Verbürgte die Providenz noch die Einheit im Großen, 29 so bedurfte man bei auftretenden Uneinigkeiten im Kleinen der Entscheidungskriterien: Gottsched wollte sich im Fall der Zweifelhaftigkeit einzelner historischer Fakten lieber an einem verständigen Richter als an einer ganzen Stadt voll unwissender Leute30 orientieren. Das deutet schon an, welche Schwierigkeiten die notwendig gewordene Berufung der Dichter auf die Einheit des Wahren und Wirklichen in Vergangenheit und Gegenwart heraufbeschwor für den Fortbestand eines einheitlichen Weltbilds, das die Erzählliteratur ausformulierte. Für Johann Heinrich Gottlob Justi war noch die einzige Rechtfertigungsmöglichkeit eines Romans, daß der Grund, und der ganze Zusammenhang der Begebenheiten [...] allemal mit der wahren Geschichte auf das genaueste übereinstimme; lediglich das dürfe ein Romanautor aus eigener Erfindung hinzufügen, was die Geschichtschreiber nur mit kurzen Worten berührten. 31 Auffallig karg bleiben dabei die Hinweise darüber, wie man denn zur Kenntnis 'der wahren Geschichte' gelangen sollte. Unvermittelt gerät dann der Historiograph Herodot zur verläßli-
27
In den Gedanken und Regeln heißt das: In den Geschichtsbüchern werden die Menschen nur unvollkommen abgeschildert. Diese verrichten viele Handlungen im verborgenen, aus welchen wieder andere Thaten entspringen [...]. Ein aufrichtiger Geschichtschreiber weiß daher nicht von allen bekannten Handlungen die Ursachen. Diese leeren Plätze kann ein Romanschreiber erfüllen und uns die berühmten Menschen in ihren Geheimzimmern und Schlafkammern fürstellen. (43. Ähnlich 42f., sowie Breitinger: Critische Dichtkunst 1, 279, 281) 28 Kein Zufall daher, daß am Ende der Geltungsdauer dieser 'einen Welt' die geradezu beschwörende Herausbildung des Kollektivsingulars 'Geschichte' steht, in den die drei Bedeutungsdimensionen von historischem Ereignis, seiner Darstellung und der Reflexion ihres Zusammenhangs eingingen. Siehe Koselleck, in: Geschichtliche Grundbegriffe 2, 647-658 (Geschichte, Historie). 29 Koselleck führt Gatterers Schrift Vom historischen Plane von 1767 an, um das Zurücktreten der Providenz bei den Historikern zu belegen (siehe: Geschichtliche Grundbegriffe 2, 663; und zur Providenz unten, Kap. 7). 30 Critische Dichtkunst, 206. 31 Justi: Die Wirkungen und die Folgen sowohl der wahren, als der falschen Staatskunst, Vorrede bl r .
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chen Autorität für die wahre Geschichte.32 Das mag man vielleicht noch hinnehmen, doch wenn Justi im selben Zusammenhang sogar dem Verfasser des Telemachs vorwarf, sich von der Wahrheit der Geschichte entfernt zu haben,33 zeigt sich, was nach solch strenger Sicht 'die Geschichte' ist: der Bestand des Überlieferten, das die Grenze zwischen Historiographie und Mythos gar nicht kennen will.34 Allerdings vertrat Justi eine sich im poetologischen Kontext seiner Zeit streng ausnehmende Position, nicht nur gestatteten die meisten RomanbefQrworter unter den Dichtungstheoretikem auch nicht-historische Romane, sondern die gestalterischen Freiheiten wurden meist etwas größer veranschlagt.35 Und der geschichtstheoretischen Reflexion wurde zunehmend bewußt, daß 'die Geschichte' nicht einfach zur Verfügung stand, sondern nur aus Quellen rekonstruiert werden konnte, die jeweils individuell gebrochenen Sichtweisen unterlagen.36 In erster Linie aber drängte das über den Markt vermittelte Unterhaltungsbedürfnis der Leser auf größere Vielfalt in den erzählten Geschichten. So war es vor allem die Romanpraxis, welche um die Mitte des 18. Jahrhunderts sich von der strengen Bindung an geschichtliche Vorwürfe weitgehend befreit hatte. Die großen Barockromane wie Aramena oder Arminius standen stets für einen stofflichen Rückbezug auf die Anfange der abendländischen Kulturtradition, deren gesamtes poetisch-rhetorisches Rüstzeug aufgeboten wurde, um eine Art von Totalprospekt zu liefern. Daß diese Versuche auf eine bald kritisierte Weise einer deutlichen Perspektivität unterworfen blieben, hing mit den besonderen Interessen zusammen, welchen diese historischen Romane, die ja zugleich 'höfische' waren, verpflichtet blieben. Werke wie Ziglers Banise markieren dagegen 32
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Siehe ebenda. Breitinger zitierte hierzu Dubos, der für diesen Zusammenhang die gültigen Zeugen, die Geschichtschreiber und ihre Erzehlung zur verbindlichen Bezugsgröße erklärte. Daß Breitinger dies Argument seitenlang mit fremder Stimme brachte, belegt, wie heikel ihm die Identifikation der abstrakten Wahrscheinlichkeit mit der historischen Überlieferung erschien (siehe Critische Dichtkunst 1, 279-282, Zitate 280; Seiler: Leidige Tatsachen, 84, übersieht die Zitation). A6V. In diesem Zusammenhang wäre daran zu erinnern, daß der griechische Mythos-Begriff unserem Begriff der literarischen Fabel entspricht; siehe Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie, 18f. Johann Heinrich Faber etwa wollte die Erfindungsfreiheit der Romanautoren allein durch die Gesetze der Wahrscheinlichkeit und der schönen Natur eingeschränkt sehen (siehe: Anfangsgründe der schönen Wissenschaften, 872). Die Herausbildung des Kollektivsingulars Geschichte verlief historisch durchaus parallel zu diesen Einsichten, seit man also von 'der Geschichte' sprach, war sie auch schon ein Problem. Siehe hierzu Koselleck, in: Geschichtliche Grundbegriffe 2 (Geschichte, Historie), 647-653, 695-702.
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bereits den Versuch der stofflichen Varianz - nicht immer ausschließlich die Mythen des Abendlandes zu repetieren. Das Bedürfnis nach solchen anderen Geschichten war enorm groß. Wahrheitsgehalt konnte für sie proklamiert werden unter Anwendung einer rationalisierten Wahrscheinlichkeit, deren kulturhistorische Genese zusammenfallt mit der Herausbildung des Bewußtseins von historischen und kulturellen Differenzen. Die Rechtfertigungsvariante, den Roman stofflich an die Geschichte anzuschließen, brachte jedoch auch Schwierigkeiten mit sich, die insbesondere gegenüber einem größeren Publikum Gewicht erhielten. Bodmer machte darauf aufmerksam, daß der Glaubwürdigkeitsgewinn durch die historische Einbettung der literarischen Handlung nur wirksam werden könne, wenn die Leser auch mit dem geschichtlichen Vorwurf vertraut sind.37 Das waren naturgemäß bei einem größeren Publikum weniger Leser als bei der begrenzten Leserschaft des 17. Jahrhunderts. Bei den Romanen begegnete man diesem Problem mit der äußerst erfolgreichen Strategie des Anschlusses der Erfindung an die unmittelbare Gegenwart, des Erzählens von Begebenheiten, die sozusagen 'gerade erst', vor einigen Jahren oder Jahrzehnten und vielfach auch in geographischer Nähe zu den Rezipienten geschehen waren. Durch diese Form des 'Heranrückens* der Handlung an die Leser konnte die größere Wirkung der im eigentlichen Sinne historischen Romane offenbar ausgeglichen werden. Auch fur diese wahrscheinliche Literatur ergab sich eine Art Lückenfiktion, denn die Erfindungsfreiheit galt nur für die unbekannten Zwischenräume des Realitätsbildes. Logisch gesehen gehören diese Texte in die gleiche Gruppe wie historische Romane, weil beide Erzähltypen den Bericht über ein wirkliches Geschehen fingieren, das nur jeweils unterschiedlich lange her ist. In der Erzähltechnik aber wirkten beide Beglaubigungsformen unterschiedlich. Während historische Romane mit der Bekanntheit der Handlung arbeiteten und Interesse durch geringfügige Variationen oder Psychologisierungen erwecken wollten, vertraute die Literatur mit den (fast) gegenwärtigen Handlungen auf die Glaubwürdigkeitseffekte bekannter äußerer Details, die einen authentischen Handlungsraum markierten. In diesen wurden Figuren 'hineinfingiert', welche in ihrer gesamten Charakterisierung und in ihrem Handeln als möglich gelten durften. Dabei konnten mitunter ebenso historisch verbürgte, berühmte Figuren die Aufgabe solcher Faktizitätsversicherung übernehmen. Lauter schlechte, geringe Privat-Personen, deren Nahmen und Gedächtniß weder durch die Historie noch durch das Gerüchte ausgebreitet worden,39 zu den Helden seiner Geschichte zu wählen brachte einem Autor zwei erhebliche Vorteile. Er konnte die Geschichte nahe an die 37 38
Bodmer: Critische Betrachtungen, 419f. Breitinger: Critische Dichtkunst 1, 282.
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Gegenwart heranrücken und dadurch einem großen Teil des Publikums interessanter werden lassen. Vor allem aber mußte er seine Fabel nicht in die Zwischenräume einer historiographischen Darstellung zwängen: Es konnten so Handlungen frei erfunden werden, die sich gleichwohl mit nur geringer Falsifikationsgefahr fur authentisch ausgeben ließen, weil die Geschichte der Wahr39
scheinlichkeit einer solchen wohlerdichteten Fabel unmöglich im Wege stehen konnte. Gänzlich unmöglich war es allerdings doch nicht, daß ein sich auf Tatsächlichkeit berufender Roman der Fiktionalität überführt wurde, selbst wenn er lediglich die Begebenheiten unbekannter Privat-Personen vorstellte. Dieses Risiko verringerten die meisten Robinsonaden und Abenteuerromane, indem sie die Helden, wenn sie denn aus einem deutschen Land stammen sollten, schnell in ferne Länder führten, über die sich ungehinderter fabulieren ließ. Gewichtiger noch dürfte gewesen sein, daß es der Übung bedurfte, um eine erfundene Handlung in einen gut bekannten Wirklichkeitsrahmen hineinzufingieren. So mußte man in Deutschland auf den immer sehnlicher erwarteten ersten Originalroman, der sowohl neu war als auch auf deutschem Boden spielte, bis 1769, bis zu Hermes' Sophiens Reise von Memel nach Sachsen, warten.40 Die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit von solchen mehr oder weniger in der Entstehungsgegenwart spielenden Romanen war dabei nicht nur von dem historischen Wandel 'des' Kenntnisstandes der Rezipienten abhängig, sondern auch von den Veränderungen einer sich übenden Rezeptionskompetenz, die höheren Illusiomerungsaufwand von den Texten verlangte.41 Worauf es hier vornehmlich ankommt, ist der Hinweis, daß durch die Einführung der Probabilität als Maßstab und Produktionsregel in den poetologischen Reflexionszusammenhang ein grundlegender Widerspruch heraufbeschworen wurde, welcher unabsehbare Eigendynamiken entfaltete. Gottsched zum Beispiel verpflichtete die Wahrscheinlichkeit scheinbar auf die Wirklichkeit - die Uebereinstimmung der Fa39 40
Ebenda; dies ist zugleich ein sehr früher Beleg fur den Kollektivsingular ('die Geschichte'). Zum Problemzusammenhang siehe jetzt Bräuner: Die Suche nach dem deutschen Fielding. Siehe etwa Musäus, ADB 15, 1771, 23: der V. ist auf dem Wege unsern Romanen einen originalen Ton zu geben, sie aus ihrer bisherigen Verachtung zu ziehen, und wenn wir es von einem unsrer Landsleute erwarten können, so ist es von dem Verfasser, etwas zu liefern, das neben den Richardsonischen und Fieldingischen Werken flgwiren kann. Seiler vernachlässigt diesen zweiten Aspekt und beruft sich vornehmlich auf den ersten, wodurch eine Fortschrittsperspektive in der technischen Realisierung von literarischer Wahrscheinlichkeit favorisiert wird. Die diese Tendenz relativierenden und teilweise konterkarierenden Entwicklungen (phantastische Romane, Märchen etc.) scheidet Seiler aus seiner Untersuchung aus (siehe etwa: Leidige Tatsachen, 63f., 87-93).
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bei mit der Natur aber in der konkreten Literaturkritik legte er ganz andere Kriterien an als nur die Kompatibilität mit bekannten Sachen.42 An der Asiatischen Banise etwa erschien ihm unwahrscheinlich: Daß der alte König von Ava dem Chaumigrem audi auf solche Weise gewogen gewesen, daß er ihm so gar seine Kinder nachgesetzt.43 Statt sich also an den 'bekannten Sachen', hier die von Zigler im Vorwort genannten historiographischen Werke, zu orientieren, beruft Gottsched sich implizit auf die Gewißheit, daß Väter ihre eigenen Kinder mehr lieben als fremde Günstlinge. Könnte man dies noch als einen Bezug auf das Normale (was wirklich zu geschehen pflegt) werten, so wird an einem anderen Kritikpunkt Gottscheds eine (fabel-) interne Relationalität der Beurteilung des Wahrscheinlichen offensichtlich: An einer Stelle könne der Leser auf den Gedanken geraten, Kaiser Xemindo habe entweder die Idagliche Ermordung seiner Tochter schon wieder vergessen, oder es sey ihm nicht so nahe gegangen, als er sich darüber wohl erst empfindlich gewiesen.44 Die hier zutage tretende Problematik des Probabilitätsbegriffs liegt in seiner Ambiguität, einerseits einem faktenbezogenen Wahrheitsbegriff verpflichtet zu sein und andererseits logische Widerspruchsfreiheit zu bezeichnen - ein Gegensatz, den Breitinger mit Dubos den von metaphysicalischer und historischer Wahrscheinlichkeit45 nannte. Vor allem in diesen beiden Bedeutungen taucht der Begriff in poetologischen Zusammenhängen auf. Dabei mufi hier kurz daran erinnert werden, daß es komplizierter metaphorologischer Prozesse bedurft hatte, ehe die philosophische Metapher Wahrscheinlichkeit zum Begriff werden und dann infolge ihrer Logisierung neue Entwicklungen auch innerhalb der Literatur einleiten konnte.46 Vielleicht die wichtigste dieser Voraussetzungen war, daß die Wahrheit nicht mehr ausschließlich als die göttliche verstanden wurde und daher im starter werdenden Bezug auf das Dies42 43 44
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Critische Dichtkunst, 198, 527. Beyträge Zur Critischen Historie, 1733, 6. St., 288. Ebenda. Dabei leitet Gottsched diese Kritik ausdrücklich mit dem Hinweis auf die historische Gebundenheit der wahrscheinlichen Romane ein: Zum ersten fordert man, daß ein Romanschreiber die Personen nach ihren Umständen recht vorstellt, und ihnen nicht solche Characteres beylegt, welche von der wahren Beschafenheit der Zeit, in welcher sie sich befinden, abweicht. (287) Critische Dichtkunst 1, 280. Zur Metapherngeschichte der Wahrscheinlichkeit siehe Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, 88-105, Zitat 96. Eigene Wahrscheinlichkeitslehren, die exakte Anleitungen zur Bestimmung des jeweiligen Probabi] itätsgrades einer Aussage liefern wollten, waren sehr beliebt in der Aufklärungsphilosophie (siehe etwa Locke: Essay Concerning Human Understanding, IV, 15). Auch Leibniz und Wolff forderten Wahrscheinlichkeitslehren.
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seitige die Wahrscheinlichkeit zunehmend das unerreichbar Wahre vertreten konnte/ 7 Dieser begriffsgeschichtlichen Bewegung korrespondierte die 'Verschleifungsaufgabe', welche das Wahrscheinliche in der Literatur zwischen faktengetreuer und fiktiver Dichtung übernahm.48 Mit der Forderung nach Wahrscheinlichkeit fand auf die Dauer eine funktionale Entlastung der Literatur statt, und das heißt vor allem der Romane, für die dies eine der wenigen verbindlichen Regeln war. Die Entlastung beruhte darauf, daß die νraisemblance im poetologischen Kontext von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zum letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erheblich durch jene Entwicklung von der Metapher zum Begriff beeinflußt wurde, also nicht mehr den 'Schein der Wahrheit' meinte, sondern eine logische Regel bezeichnete, die zu erfüllen von den Autoren schnell gelernt wurde: 49 so stand das Wahrscheinliche für das Nichtfiktive. Allerdings wurde dieser begriffliche Sinn von Wahrscheinlichkeit in literarischen Zusammenhängen weitgehend auf die Bedeutung der schlichten Möglichkeit reduziert. Auch die das Erscheinungsbild der Romanliteratur umwälzende Reaktion auf die durch ein anderes Publikum repräsentierten Wahrheitsvorstellungen, die strenge Vermeidung von Fiktionssignalen sowie der verstärkte Einsatz von Beglaubigungsvarianten belegen diesen simplen Sachverhalt: in den gerade in Philosophie und Naturwissenschaft explizierten komplexen logischen Dimensionen ist die Wahrscheinlichkeit zunächst kaum auf die Erzählliteratur angewandt worden. 50 Das nämlich hätte bedeutet, die Wahrscheinlichkeitsgrade einzelner Texte durch Abwägung der jeweils für ihre Wahrheit sprechenden Ar47
So sah es auch Breitinger: alleine dieses ist das Los des Menschen; das gegenwartige Leben muß sich mit der Wahrscheinlichkeit zufrieden geben. (Critische Betrachtungen, SSO) Was hier als Verschiebung bezeichnet wird, bestätigt Haßelbeck negativ mit seiner Begründung dafür, warum er sich der Wahrscheinlichkeit in seiner Untersuchung zu Illusion und Fiktion nicht zuwendet: Gerade die Wahrscheinlichkeitsforderung hatte sich als problematischer Punkt der klassizistischen Poetik und als Einbruchstelle nivellierender Tendenzen erwiesen, die die Bereiche Poesie und Wirklichkeit in ungeklärter und fragwürdiger Weise kontaminierten. (76) Der Grund, warum Blumeriberg gerade die Dichtung aus dem Geltungsbereich dieser begriffsgeschichtlichen Entwicklung der Wahrscheinlichkeit ausnimmt, dürfte der sein, daß in poetologischen Texten dieser Zeit immer wieder mit den metaphorischen Möglichkeiten des Wortes gespielt wurde, vor allem aber dann in der (deutschen) Klassik über eine Remetaphorisierung die vorher nur wahrscheinliche Dichtung zum 'Schein der Wahrheit' aufgewertet wurde. Der polemische Effekt dieses klassischen Schlagworts wäre allerdings leer geblieben, wenn die Dichtung der Aufklärung nicht wesentlich an die Wahrscheinlichkeit, und zwar in ihrem begrifflichen Sinne, der auf emphatische Wahrheit wissentlich Verzicht leistet, gebunden gewesen wäre. Siehe hierzu ausführlich den Artikel zur Wahrscheinlichkeit bei Zedier, UniversalLexicon 52, 1020-1063.
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gumente miteinander zu vergleichen. Außer in rhetorischer Funktion konnten hierfür erst in der Spätaufklärung Beispiele gefunden werden.51 Die logische Form, in der die Probabilität seit Beginn des 18. Jahrhunderts auf die Romanliteratur bezogen wurde, ist vielmehr meist nicht zu unterscheiden vom Begriff der Möglichkeit.52 Sowohl die Einpassungen der erfundenen Geschichte in ein historisierendes Erzählarrangement als auch das Fingieren von Fakten in den Nahbereich der Fast-Gegenwart vermeiden nur eine offensichtliche Unmöglichkeit der Handlung. Diese Tatsache wurde von den Gedanken und Regeln Ober den deutschen Roman nur umschreibend bilanziert. Wenn der Roman eine Geschichte erzählt, von der sich nicht beweisen läßt, daß sie nicht stattgefunden hat, dann ist sie eben 'möglich'. Noch Sulzer nannte die erste Sorge des Künstlers die Zeichnung der Gegenstände als wahrscheinlich und resümierte: Diese Wahrscheinlichkeit ist im Grunde nichts anders, als die Möglichkeit, oder Ge53
denkbarkeit der Sache. Diese Zusammenhänge werden erst einigermaßen deutlich, wenn man sich die unterschiedlichen Perspektiven der Zeitgenossen auf das Problem vergegenwärtigt. Zu jenem begrifflichen Sinn von Wahrscheinlichkeit gehört gerade das Wissen, daß die zu beurteilenden Aussagen von irgendeiner Form strikter Wahrheit entfernt sind. Erst dadurch wird es lohnend, den Grad dieser Entfernung zu bestimmen. Solches Wissen aber wollten die Romanautoren ja gerade bei den Lesern nicht aufkommen lassen, weil offensichtlich erfundene Geschichten in so schlechtem Ansehen standen und mit verbreiteten Vorbehalten zu rechnen hatten. Für die Rezipienten sollte also im metaphorischen Sinn des Wortes Wahrscheinlichkeit als die Illusion faktischer Wahrheit gewahrt werden, deshalb konzentrierte man sich zunächst vornehmlich auf die Vermeidung von eindeutigen Unmöglichkeitsindizien, kalkulierte also den metaphorischen Sinn der Wahrscheinlichkeit als die Perspektive der Rezipienten ein, während die Autoren den begrifflich-logischen Sinn sich als Produktionsregel für solche Illusion zunutze machten. Für die Romane wurde der Wahrscheinlichkeitsbegriff in erster Linie in der Form relevant, in der ihn Leibniz für die möglichen Welten entfaltet und allein 51
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Als Beispiel typischer Begriffsverwendung siehe etwa EGZ 8, 1776, 428 (Siegwart): Der Verfasser hat sich darum [obwohl er keine vermischten Charaktere gezeichnet hat] doch gehütet, unwahrscheinliche Grandisons aus ihnen zu machen. Folgerichtig tauchten begrifflich-logische Verwendungen in einem anspruchsvolleren Sinn erst im letzten Drittel des Jahrhunderts auf. Mit klarerem Fiktivitätsbewußtsein wurde die Frage nach den Wahrscheinlichkeitsgraden erzählter Handlungen interessanter. Zu den logischen Dimensionen des Verhältnisses von Literatur zum Möglichkeitsbegriff siehe grundsätzlich Horn: Literarische Modalität, 51-101. Allgemeine Theorie der schönen Künste 2, 1263.
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vom Widerspruchssatz begrenzt hat.54 Zu jedem einzelnen Handlungssegment ergaben sich daher grundsätzlich zwei Vergleichskontexte, in bezug auf die ihre Widerspruchsfreiheit beurteilt werden konnte: die textexterne Wirklichkeit, über die jeder Rezipient eine eigene kompetente Vorstellung hatte, und der textinterne Zusammenhang der übrigen erzählten Details. Mit diesem Unterschied arbeitete Gottsched bereits, als er eine unbedingte gegen eine bedingte poetische Wahrscheinlichkeit absetzte.55 Wenn mit der 'bedingten' noch die sprechenden Tiere und Pflanzen der äsopischen Fabel unter die poetische Wahrscheinlichkeit subsumiert werden sollten, dann waren solche Legitimationsversuche für eine streng skeptische Haltung gegenüber Fiktionen sicher kaum akzeptabel. Aber angesichts der verbreiteten Vorbehalte gegenüber erfundenen Erzählungen machten die Autoren es den Lesern auch sehr viel schwerer. Indem die Romanhelden in allen nur denkbaren Erdenwinkeln und unter fremden Völkern ihre Abenteuer bestehen mußten, entbehrten die meisten Rezipienten fast jeder Chance, in textexternen Bezügen Widersprüche und Unmöglichkeiten festzustellen. Gerade der gewaltige Aufwand an Fiktionsverschleierung seit den 1720er Jahren bewirkte eine bedeutende erzähltechnische Professionalisierung in der Präsentation von Geschichten als immerhin möglich. Die immensen Erfolge des Romans belegen, daß die Erfüllung dieser Bedingung den Rezipienten offenbar zunächst genügte. Für die Entwicklung der modernen Literatur dürfte nichts wichtiger geworden sein als die vehementen Bemühungen des Romans, unter den neuen Verhältnissen, mit einem bürgerlichen Massenpublikum, die Fiktivität der erfundenen Geschichte zu verschleiern. So sollte die Erzählliteratur den in den neuen Leserschichten verbreiteten Reserven gegenüber Fiktionen und dem Bedeutungsgewinn eines neuen, empiristisch-faktenbezogenen Wahrheitsbegriffs nachhaltigen Tribut mit der Vermeidung von Fiktivitätssignalen entrichten: dadurch wurde aber im Effekt nur die angegriffene Verschleierung zwischen erfundenen und faktentreuen Geschichten auf raffinierte Weise verbessert. Wenn es aber richtig ist, daß die mit hohem erzähltechnischen Beglaubigungsaufwand in ihrer Fiktionalität kaschierten Texte strenggenommen nicht ihre faktische Authentizität 'wahrscheinlicher' machten, sondern lediglich sich um die Aufrechterhaltung ihres Möglichkeitsmodus bemühten, dann ist noch gar nicht geklärt, weshalb Leser mit Fiktionsvorbehalten sich auf Romane eingelassen haben, deren Erzählungen uns überwiegend eher wenig wahrscheinlich vorkommen. Die mit erzähltechnischen Verfahren aufgebaute Schwierigkeit, eine Handlung als unmöglich zu erkennen, mußte noch lange nicht dazu führen, daß 54
Siehe Schepers: Zum Problem der Kontingenz bei Leibniz, 334ff. Critische Dichtkunst, 199; diese Differenz entspricht offenbar der erwähnten von metaphysicalischer und historischer Wahrscheinlichkeit von Dubos und Breitinger.
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man eine solche Geschichte deshalb auch glaubte, zunächst blieb sie damit 'bloß möglich'.56 So verweist die logische Differenz zwischen Probability und Möglichkeit auf die Notwendigkeit, der Frage noch einmal gesondert nachzugehen, was denn die Glaubwürdigkeit solcher Romane ausgemacht hat, wenn sie denn (im logischen Sinn) gar nicht wahrscheinlich waren (sondern lediglich nicht unwahrscheinlich, also bloß möglich). Als Antwort bieten sich hierzu die Rationalitätsmuster an, welche ein textinterner Wahrscheinlichkeitsbezug weben konnte. Die Befolgung erwartbarer Gesetzmäßigkeiten war grundsätzlich auch an Romanhandlungen registrierbar, die sich nicht beglaubigt in die Realitätserfahrung einfugten. Darauf hatte Gottsched bereits mit seiner bedingten Wahrscheinlichkeit hingewiesen, und Lessing prägt hierfür den Begriff der inneren Wahrscheinlichkeit.57 Eine wahrscheinliche Simulation von Wirklichkeit konnte eben gegebenenfalls dasselbe leisten wie die Beschreibung eines Wirklichkeitsausschnitts selbst. Doch das mußten die Leser erst noch lernen.
5.3
Von der äußeren zur inneren Wahrscheinlichkeit
Bei der Frage, wie es dem Roman gelang, eigene Wahrheitswerte glaubhaft zu machen, während gleichzeitig seine Fiktivität immer deutlicher gesehen wurde, gelangt man zunächst auf die Bemühungen, den Wahrheitsanspruch in der historischen Faktizität der Geschichten zu begründen. Doch langfristig sprangen subtilere Verfahren hier ein. Den Wegen dieser Veränderung soll nun genauer nachgegangen werden - immer unter der Frage, wie die Leser dazu veranlaßt werden konnten, die von den Texten proklamierten Wahrheitsansprüche auch zu glauben. Johann Rist führte den Wahrheitswert des Romans La Dianea (1641) noch darauf zurück, daß der Italiänische Author ein sehr hocherfahrner Mann/ sonderlich 56
57
Zum Begriff des BloBmöglichen siehe ebenfalls Schepers: Zum Problem der Kontingenz bei Leibniz. Lessing: Abhandlungen [über die Fabel], Sämtliche Schriften 7, 445f.: Von der
Wirklichkeit eines Falles, den ich nicht selbst erfahren habe, kann ich nicht anders als aus Gründen der Wahrscheinlichkeit aberzeugt werden. Ich glaube bloß deswegen, daß ein Ding geschehen, und daß es so und so geschehen ist, weil es höchst wahrscheinlich ist, und höchst unwahrscheinlich seyn würde, wenn es nicht, oder wenn es anders geschehen wQre. Da also einzig und allein die innere Wahrscheinlichkeit mich die ehemalige Wirklichkeit eines Falles glauben macht, und diese innere Wahrscheinlichkeit sich eben so wohl in einem erdichteten Fallefindenkann: was kann die Wirklichkeit des erstem fir eine größere Kraft auf meine Ueberzeugung haben, als die Wirklichkeit des andern? (Siehe hierzu auch Haßelbeck: Illusion und Fiktion, 144-149)
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in Staatssachen müsse seyn gewesen.5* Hierbei wurde also eine ganz traditionelle Vertextungsform unterstellt, bei der der Schriftsteller seine Kenntnisse mitteilt. Daß hierzu erzählende Verfahren benutzt wurden, galt nur als eine besondere, von der Rhetorik zur Verfügung gestellte Variante gelehrter Mitteilung. Da es sich außerdem um einen Roman mit historischem Vorwurf handelt, muß die Vorstellung, man könne aus dieser Dichtung nützliche Erkenntnisse gewinnen, nicht besonders verwundern. Denn gerade zum Aufbau von Wahrheitsansprüchen ist der barocke Roman an geschichtliche Stoffe gebunden worden.59 Die Stützung literarischer Wahrheitsansprüche durch wirkliche oder nur fingierte Benutzung tatsachlicher Ereignisse ist dann seit den 1720er Jahren bis zur Ausschließlichkeit radikalisiert worden. Deshalb ist es beachtlich, daß der Rezensent der Franckfurti sehen Gelehrten Zeitungen die Frage nach der geschichtlichen Richtigkeit des Josephi Mawrittii von Brackfeld curieusen und Wunder-vollen
Begebenheiten in den unbekannten Süd-Landern 1739 völlig auf sich beruhen ließ: Es mag nun mit der Wahrheit der in unserm gegenwärtigen Wercke enthaltenen Geschichte stehen/ wie es will/ so ist doch dasselbe so abgefaßt/ daß man die allerschönsten moralischen Wahrheiten darin antrifft.60
Diese Wahrheiten traf der Kritiker aber nicht nur in den aus der Geschichte gezogenen Lehren, sondern erklärtermaßen besonders in der Anlage der Fabel an, da doch die Geschichte selbst das allerangenehmste Beyspiel der unschätzbaren Vortrefflichkeiten/ so die Tilgend mit sich führet! und der Abscheulich- und Schädlichkeit
der Laster seien.61 Die konstruktive Bedeutung solcher Wahrheitspräsentation wurde ebenfalls benannt: Wenigstens lasse sich mit einiger Wahrscheinlichkeit noch behauptend daß es schlechterdings nicht unmöglich sey, daß die im Werk erzählten
Begebenheiten keine Erfindung62 seien. Vor dem Hintergrund der inzwischen längst ausformulierten, ontologisch begründeten radikalen Fiktionskritik ist dies eine erstaunliche Position - zumal die Rezension auf den veränderten geistesgeschichtlichen Hintergrund mit einer abwertenden Verwendung des Romanbe58
Alleredelste Zeit-Verkürtzung, 243. Hierbei spielte die Gelehrtentradition noch eine große Rolle, ein Roman wurde vielfach noch nicht wesentlich von einem Traktat 59 unterschieden. Mit Harsdörffers Worten: Ferners ist berichtet/ als ob alle Lustgedichte [Romane]/ den Historischen Geschichtverlauff gäntzlich zuentgegen weren/ da doch vielmehr die Wahrheit/ so aller Orten verjagt/ dahin als in eine Freistatt geflohen. (Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprechspiele 1, 251 i.) 60 FGZ 6, 1739, 191. 61 Ebenda (die Geschichte ist hier Nominativ Plural und steht für die erzählten Begebenheiten). 62 190.
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griffs durchaus reagierte.63 Obwohl der Kritiker augenzwinkernd den Aktiven Charakter der Geschichte andeutete, scheute er sich, das Werk offen für einen Roman zu erklären. Und er maß gerade der Frage nach der Authentdtzität besondere Bedeutung zu - allerdings nur, um sie am Ende auf die zitierte Weise für nebensächlich zu erklären. Offenbar ging der Rezensent also davon aus, daß diese Frage den Lesern durchaus wichtig war. So zeigt dieser kurze Text, wie der Erkenntniswert eines als fiktiv durchschauten Romans im Wiedererkennen anderer Wahrheiten identifiziert wurde. Das war durchaus traditionell, gewinnt aber vor dem zeitgenössischen Hintergrund der obligatorischen Romanverurteilung und den zunehmenden Vorbehalten gegenüber Fiktivität seine eigene Bedeutung. Der Rezensent versucht also, die Wahrheitswerte dieses Textes gerade gegen die mächtigen Verurteilungen der Romane und gegen die sich andrängende scharfe Trennung zwischen Fiktion und Tatsächlichkeit herauszustellen.64 Was jedoch für das 17. Jahrhundert aus unzähligen Belegen mit Selbstverständlichkeit spricht, ist für das Zeitalter öffentlicher Fiktionsverurteilung eine wichtige Gegenbewegung.65 Dabei formuliert der Frankfurter Rezensent lediglich, was die Romane mit den so vielfältigen Authentizitätsversicherungen selbst leisteten, nämlich sich rationalisiert-wahrscheinlicher Erzählkonstruktionen zu bedienen, deren moralische Akzeptanz durch die Berücksichtigung generalisierter normativer Sinn vorgaben (Tugend/ Laster) gesichert wurden.66 63
189: Wir stehen bey uns an/ ob wir dieses Buch vor einen Roman halten sollen/ oder nicht. Aus dem/ was wir davon melden werden/ kan ein jeder von unsern Lesern selbst ermessen/ wie weit man dieses unser Urtheil vor gegründet zu halten ha64 be. Ein deutliches Schlaglicht auf diese Konfliktlage wirft auch die komplex gearbeitete Vorrede zu Schnabels Wunderlichen FATA einiger See-Fahrer, wo in der gleichen Weise versucht wird, mit Argumenten des Traditionsanschlusses die zitierten virulenten Vorbehalte gegen Fiktion zu entmachten - nicht ohne wiederum eine eigene Versicherung der Authentizität dieser Geschichte anzufügen. (Vorrede, IIr-Vr) 65 Das Beispiel kann als ein recht früher Beleg gelten. Martens sieht die Anfänge einer grundsätzlich gemäßigteren Beurteilung des Romans in den moralischen Wochenschriften mit dem Leipziger Zeitvertreiber von 1745 einsetzen (siehe: Botschaft der Tugend, 512); Spiegel erinnert allerdings auch an einige wenige Rezensionen aus den 1730er: siehe: Der Roman und sein Publikum, 60-64. 66 Die in den literarischen Geschichten reproduzierten Gesetzmäßigkeiten bezogen sich allerdings nicht allein auf die Kausalität oder die rein logischen Dimensionen von Widerspruchsfreiheit. Wie selbstverständlich wurden die Maßstäbe der Wahrscheinlichkeit auch an moralische Standards rückgebunden. So stellte noch 1792 Schatz fest: Gegen alle Natur und Wahrheit ist es, daß Menschen sich ihrer Sünden als Sünden rühmen, und darüber gegen einander prahlen sollten. Auch der abgehärteste Bösewicht wird sich immer doch bemühen, seinen Schandthaten den Schein des Guten zu geben [...]. Auch an andern nicht weniger auffallenden Unwahrscheinlichkeiten hat es der Verf. nicht fehlen lassen. (ADB 111, 1792, 125)
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Als Kontrast ist für die Entwicklung der literarischen Wahrscheinlichkeit Johann Michael von Loens Redlicher Mann am Hofe (1740) ein markantes Gegenbeispiel. Denn obwohl das Werk die Selbstbezeichnung 'Roman' vermied, ließ von Loen doch wenig Zweifel Ober die Fiktivitat der Handlung aufkommen. Er befolgte nicht den oben erwähnten Rat, sich 'geringe Privat-Personen' als Helden zu wählen, sobald man keiner historischen Vorlage folgen wollte, sondern fingierte die Begebenheiten an großen mitteleuropäischen Höfen in Phantasieländern (Aquitanien, Licatien, Agilia). Im unbeirrten Rückgriff auf traditionelles Dichtungsverständnis hinderte diese offene Fiktion von Loen keineswegs, sein Werk für eine auf den Zustand der damaligen Welt gerichtete Lehr- und Staatsgeschichte zu halten, in der Wahrheit stecke und mit der Wahrheiten vorgetragen werden könnten.67 Er favorisierte noch entschieden den traditionellen Wahrheitsbegriff, welcher hinter der Erscheinungswirklichkeit angesiedelt war und hier, von empiristisch-kalvinistischer Irritation ganz unberührt, in aufklärerische Dogmatik überführt werden konnte. Deshalb hatte von Loen für den ontologischen Einwand gegen erfundene Geschichten nicht viel Worte übrig, die Faktizität einer erzählten Handlung war ihm gleichgültig: Nichts rühret, nichts überzeugt mehr als Exempeln. Es wird darinn nicht erfordert, daß sie alle wahr seyen. Genug, wann sie wahrscheinlich sind, und auf eine lebhafte und bewegende Art vorgestellet werden.68
Weil nach diesem Verständnis jeder Text Wirkliches allemal nur repräsentiert und nicht abbildet, kann der Frage, ob diese Repräsentation im Modus der Fiktivität oder des Tatsachenbezuges steht, keine besondere Relevanz für die Wahrheits-, die Erkenntnisleistung eines Textes zugedacht werden. Obgleich von Loen von dem Versuch, den Wahrheitsbegriff auf rein 'realistische' Semantik einzuengen, kaum tangiert scheint, benutzte er hier 'wahr' in diesem aktuellen, faktentreuen Sinne. Von Loen war also durchaus den bewußtseinsgeschichtlichen Entwicklungen seiner Zeit unterworfen, aber im Anknüpfen an barocke Tradition - auch in der Verwendung der hohen Romanform - wurde er zum Vertreter von Positionen, die sich auf die Dauer auch für den 'bürgerlichen' Roman durchsetzen sollten, nämlich die Behauptung eigener, immanenter Wahrheitswerte des Romans. Durch den neu aufkommenden 'faktischen' Wahrheitsbegriff mußte der gern unterstellte größere moralische Nutzen einer erfundenen exemplarischen Ge67
Untertitel und Vorwort, ):( 2V (Zitiert nach der Ausgabe von 1742); siehe Loen: Die vertheidigte Sitten-Lehre durch Exempeln, 388. Zu von Loens Roman siehe auch Emmel: Politisches Konzept als strukturbildendes Element der Romanfiktion. Die vertheidigte Sitten-Lehre durch Exempeln, 391.
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schichte gegenüber der Historie oder der Sittenlehre zu einem besonderen Problem in der theoretischen Debatte werden. G.F. Meier betonte: Denn es ist nun einerley, ob etwas wirklich so geschehen sey oder nicht, wenn wir erkennen, es hätte so geschehen können.
Der Leser werde in jedem Fall durch moralische Gedichte ohne sein Vermuthen zu einer Erkenntnis gebracht, die ihm ohne dieses Mittel sehr trocken bliebe. Er sehe die Tugend in ihrer wahren schönen Gestalt - jedoch nur, solange die erfundenen moralischen Beispielgeschichten möglich und wahrscheinlich!59 seien. Ist diese Voraussetzung erfüllt, dann erblicken die Menschen nach Meier in der Geschichte die Möglichkeit dessen, was ihnen unmöglich zu seyn vorkam. Und da wir nur zu geneigt seien, uns mit unserer Schwachheit gegen die Forderung der Sittenlehre zu entschuldigen,70 könnten diese Beispiele zu besserem Handeln anstacheln.71 Nicht die Argumentation als solche ist an Meiers anonym veröffentlichter Erörterung von besonderer Bedeutung, sondern vielmehr ihr dezidierter Bezug auf die Romane vor dem Hintergrund vehementer Romanverteufelung gerade in den Wochenschriften. Deutlich zeigt sich aber auch, daß die Thematisierung des moralischen Nutzens zur Rezipientenperspektive überleitet - und in ihr verschwimmt die Differenz zwischen Historie und wahrscheinlicher Fiktion. An den Positionen von Loens und Meiers läßt sich nachvollziehen, wie die traditionelle Exempellehre72 allmählich in eine Theorie des literarischen Fingierens transformiert wurde, die Bedingungen präzisiert wurden, unter denen die Illustrationen von ethischen Normen anhand von 'fictiones' aussagekräftig bleiben konnten. Die Romantheorie ist theoriegeschichtlich insofern ein Nachfahr der Exempellehre, als die Moralisierung des Romans diesem den systematischen 69
Der Gesellige, 200. St., 1750, 115f. Siehe ähnlich bereits FN 1, 1744, 257f.: Wenn
man ja eine Liebesgeschichte, die keinen andern Ursprung, als unsere Einbildungskraft hat, schreiben will, und sich dabey bemühet, die Regeln der Vernunft und Tilgend niemals zu Qbertretten; das Wahrscheinliche allenthalben zu beobachten [...] so darf man schon hoffen, daß man bey Lesern, welche [...] zuweilen eine Gemüthsergötzung suchen, Lob und Beyfallfindenwerde. 70 71
Der Gesellige, 200. St., 1750, 114. Allerdings bleibt zu betonen, daß es sich hierbei keineswegs um völlig neue Konzepte handelte. Christian Weise verwandte bereits 1680 in seinem Kurtzem Bericht vom Politischen Näscher das gleiche Argument mit der unterstellten Beweiskraft ei-
nes literarischen Exempels in Romanen: Den wir behalten doch zum wenigsten diesen Trost [durch Erzählungen von fremdem Glück]/ weil es bey andern möglich gewesen/ so könne es auch bey uns möglich werden. (Weise: Kurtzer Bericht, 27) Die besondere Beschaffenheit unseres Gemüts habe von jeher weise Sittenlehrer be-
wogen, ihre Sätz mit Beyspielen zu erweisen, und durch besondere Zueignung die allgemeinen Wahrheiten genauer zu bestimmen, betonte Meier. (114f.) Zur Tradition siehe Kleinschmidt: Die Wirklichkeit der Literatur, 174ff.
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Ort des rhetorischen Exempels zuwies. Weil es aber auch Romane gab, welche den neuen Nonnansprüchen nicht genügten, übernahm die Wahrscheinlichkeitslehre Zensurfiinktionen, indem sie die regelrechten von den unzulässigen 'Exempeln' unterscheidbar machte. Ohne die kulturhistorische Verschiebung im Bedeutungsgefüge von Wahrheit jedoch hätte die Instrumentalisierung des Romans für Ethik und Erkenntnis der Wahrscheinlichkeit kaum bedurft.73 Nicht nur kann die Wahrscheinlichkeit als Organisatorin der Entwicklung einer eigenen Wahrheitstheorie literarischen Fingierens verstanden werden, sondern an der Benutzung der Wahrscheinlichkeits-Kategorie beim Reden über Romane lassen sich auch spezifische Veränderungen in der Wahrnehmung literarischer Erzähltexte beobachten. Die Rolle der Wahrscheinlichkeit als Produktionsanweisung und als eine Größe der Lektüresteuerung wird daher in mehreren Hinsichten zu erläutern sein. Dabei wird sich zeigen, welche Energien die Erwartung radikaler Fiktionsvorbehalte freizusetzen vermochte, indem sie die Romanliteratur zu einer differenzierteren, rationalisierten und damit radikalisierten 'Verwahrscheinlichung* nötigte. Eine erheblich steigende Romanproduktion zog im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine deutliche Professionalisierung in der Erfindung 'wahrscheinlicher* Geschichten ebenso wie in der Rezeption und Beurteilung nach sich. So erfuhr die Wahrscheinlichkeit der Romane eine fortgesetzte Ausdifferenzierung, und zwar vor allem in der Dimension einer textintemen Stimmigkeit.74 Grundsätzlich waren die Bedingungen textexterner Probabilität leichter zu erfüllen, solange damit nicht mehr als eine abstrakte Möglichkeit der Handlung erfordert war. Das hat seinen historisch-systematischen Grund darin, daß es im 18. Jahrhundert noch vergleichsweise wenig Bemühungen der Phantasie erforderte, im Erzählen nicht gegen äußere Fakten zu verstoßen: jenseits dessen aber waren die Einschränkungen durch die Probabilität nicht viel größer, als daß man irgendeine auf der Erde denkbare Handlung ersinnen mußte. Die Veränderung des Blicks auf die Romane, die sich anhand der Wahrscheinlichkeits-Kategorie verfolgen läßt, wird durch Äußerungen Moses Mendelssohns über die Nouvelle Hilotse illustriert. Im 167. Brief, die neueste Literatur betreffend, sprach er Rousseau fast ganz die Fähigkeit zu dialogiren5 ab, beklagte sich über den Mangel an interessanten Situationen und besonders über die Un73
75
So war es noch 1708 dem meist Erdmann Neumeister zugeschriebenen Raisonnement Ober die Romanen nicht wichtig, ob die Romanfabeln erfunden waren, wenn sie nur dem von ihm unterstellten Endzweck der Gattung sich unterordneten, Klugheit und eine gute Conduite zu vermitteln. Um Wahrheit ging es in keinem Wortsinn. (Raisonnement, 22) Siehe hierzu ausführlich Kapitel S.4. Briefe, die neueste Literatur betreffend, Theil 10, 166. Brief, 258.
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Wahrscheinlichkeit der zu schwärmerischen Hauptfiguren. Zu Beginn des übernächsten Briefes nimmt Mendelssohn dann diesen textexternen Wahrscheinlichkeitsbezug zurück, und zwar in Reaktion auf die Gegenfrage eines fingierten Briefpartners, ob Mendelssohn denn mit der Zärtlichkeit so vertraut sei, daß er alle Farben kenne, die sie in der Natur bey der unendlichen Mannigfaltigkeit der Karakter anzunehmenftthigsei. Der Hinweis auf die virtuell unendliche Verschiedenheit der menschlichen Subjekte hätte Mendelssohn ein Urteil über die literarische Wahrscheinlichkeit, also die Befugnis zum Kunstrichter76, entziehen können: die textexterne Probabilitätsverifikation enthüllt hier ihre Untauglichkeit als poetologisch-literaturkritisches Kriterium.77 Deshalb kündigt Mendelssohn prompt die Naturnachahmung und die Wahrscheinlichkeit mit einem Paradoxon auf (In der Natur kann vieles seyn, das in der Nachahmung unnatürlich ist) und setzt an die Stelle dessen ein neues Kriterium: Ehe die Natur den Virtuosen zur Richtschnur dienen kann, muß sie sich erst 78 selbst den Regeln der ästhetischen Wahrscheinlichkeit unterwerfen.
Das heißt zunächst, daß die reale Möglichkeit eines literarisch Dargestellten kein hinreichender Grund mehr für seine poetische Legitimität sein sollte. Achtet man nun darauf, was denn für Mendelssohn diese ästhetische Wahrscheinlichkeit ausmachen sollte, dann erweist sie sich als eine textinterne Stimmigkeit - in diesem Fall der Charakterzeichnung. So verwandelt sich in der nun folgenden Argumentation Mendelssohns die erst getadelte Unwahrscheinlichkeit des St. Preux durch textinterne Relationierung in die Wahrnehmung eines in sich schlüssigen, wenn auch fremden Zusammenhangs: Ein junger Mensch, wie der St. Preux in der neuen Heloise, der mit einer platonischen Sittenlehre groß geworden, der mehr gelesen, als sich umgesehen, und seine vorgefaßten Schulbegriffe durch den Umgang noch nicht gemildert hat, ist gleichsam ein Mensch aus einer andern Welt.79
In einer andern Welt wiederum ist grundsätzlich alles möglich, was sich nicht selbst widerspricht. 76 77
275. Siehe etwa Musäus, ADB 25, 1785 , 503: Wir gestehen ihm [dem Verfasser] mit
völliger Ueberzeugung zu, daß die Geschichte des Grafen von Pontis wahrscheinlich sey. Denn es kann ja nichts so toll erdacht werden, daß sich nicht einmal in der Welt sollte wirklich zugetragen haben, und wer will es einem Schriflsteller wehren, von einem einzelnen Falle, der möglich ist, oder sich einmal wirklich zugetragen hat, beliebigen Gebrauch zu machen? 78
79
168. Brief, 275.
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In der Mitte des 18. Jahrhunderts dürfte es der Überlebensgrund des Romans gewesen sein, daß die Forderung nach Wahrscheinlichkeit nicht im strengen Sinne, sondern nur in der Form des Möglichkeitsbegriffs an die Literatur gerichtet wurde. Zwar konnte zunächst der Schein von (faktischer) Wahrheit mit den erwähnten Beglaubigungstechniken80 überzeugend aufgebaut werden.81 Doch schon bald wurden Quellen- und Herausgeberfiktion ebenso durchschaut, wie die Rezipienten sich durch die Ähnlichkeit vieler Romanfabeln an deren Tatsächlichkeit zu zweifeln veranlaßt sahen. Trotz aller einfallsreichen Echtheitsversicherungen wußten ja auch immerhin die Autoren, daß ihre Romanfabel erfunden war. So konnten die Verfasser sich auch über die Werke der jeweils anderen leicht ein gegründetes Urteil bilden. Gleichwohl traute man sich angesichts der erwarteten Erwartungen lange Zeit nicht, die Fiktionalität einer Geschichte offen zuzugeben, mußte aber zugleich befürchten, zumindest von einem Teil des Publikums als Verfasser eines erfundenen Romans erkannt zu werden. In dieser Klemme bediente sich mancher Autor einer Doppelstrategie, nämlich das Recht und den Eigenwert von erfundenen Geschichten zu behaupten, zugleich aber die unzweifelhafte Faktizität der eigenen 'Historie' gerade in Abgrenzung zu den fiktiven anderen herauszustellen.82 Im Vorwort des Sächsischen Robinsons (1722) liest man: Es wird aber hoffentlich niemanden gereuen, den ersten [Robinson] gelesen zu haben, ob er gleich ietzo völlig überredet ist, daß die Historie desselben mit Recht unter die wohlausgesonnenen Fabeln gezehlet zu werden verdienet. Ist aber Robinson Crusoe ein Gedichte, warum hat man denn gegenwärtige wahrhafte Historie mit dem Namen Robinson beleget?83
so
83
Sie waren zum Teil virtuos ausgeweitete Varianten der traditionellen Exordialtopik, vor allem des Auftragstopos und des causae scribendi; siehe hierzu ausfuhrlich Weber: Die poetologische Selbstreflexion, 19-80. Siehe etwa Semler, der urteilt: Ich will eben nicht sagen, daß alle Romanleser diese Geschichten fllr wirklich wahr halten; es sind aber viele die es glauben, weil sie keine weitere Beurtheilungsgründe, als ihre eigenen Bewegungen brauchen können. Sie schließen also, daß gar wol andre eben den Zorn, den Unwillen, die Rache, die Liebe haben, und in dem Verhalten zeigen können, als sie empfunden haben. (Gedanken von Uebereinkommung der Romane mit den Legenden, 14f.) Die bald obligatorische Herabsetzung der 'vielen schlechten Romane', der Chartequen, welche der vernünftigen Welt einen Eckel verursachten, steht dabei noch auf einem anderen Blatt, weil diese Abgrenzungsfront gegen die irregulären, die phantastischen Romane noch lange aufrechterhalten blieb. (Zitat [Büchner:] Welt-Lauff, Vorbericht, A2r) Vorrede )( 2; die Antwort auf diese rhetorische Frage versucht dann die Verkaufsstrategie zu kaschieren, indem der Name Robinson als eine Art Gattungsbezeichnung in Vertretung des Frantzösischen Worts Avanturier herausgestellt wird 0 ( 2V).
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Die seit den 1720er Jahren erheblich ansteigende Romanproduktion beschwor ein fundamentales Dilemma herauf. Nicht nur traten sich alle einzelnen Werke als Konkurrenten auf dem Markt gegenüber, sondern jede andere erfundene Geschichte, die in den Handlungssegmenten und den Beglaubigungsformeln ähnlich war, untergrub die Glaubwürdigkeit aller Mitbewerber um die Gunst der Käufer - und der Rezensenten. Der grundsätzliche Erfolg der Verifikationsanstrengungen durch die Romane zersetzte ihn zugleich wieder, indem er die Rezeptionskompetenz schulte und dadurch die Fiktionen leichter durchschaut zu werden vermochten. Kompliziert wurde dieser Zusammenhang zusätzlich durch die prinzipielle Differenz in den Niveaus der Rezeptionskompetenz, weshalb der mögliche Umgang der Leser mit den Texten noch schwerer zu kalkulieren war. Vielfach bewirkte diese Zwangslage verstärkte und mitunter an Kuriosität reichende Bemühungen der Beglaubigung.85 Auf die Dauer führte aus dieser widersprüchlichen Konstellation nur die erfolgreiche Etablierung dessen, was Mendelssohn die ästhetische Wahrscheinlichkeit nannte, einer gewissen Eigengesetzlichkeit der dichterischen Fabel, die einerseits nach Regeln beurteilt werden sollte und durfte, welche für die Literatur überhaupt, wenigstens aber für die gesamte Gattung unterstellt wurden. Andererseits sollte das qualitative Urteil über literarische Geschichten in Hinsicht auf das Hauptkriterium Wahrscheinlichkeit sich nicht vorschnell auf den textextemen Vergleich stützen, sondern von der internen Stimmigkeit leiten lassen. Der Wirkungsmechanismus des Verfahrens beruhte darauf, daß die aufgewertete Frage der Faktizität entkräftet werden konnte durch die erzählerische Berücksichtigung der vom Leser erwarteten Rationalitätsmuster. Nicht nur war es für die Rezipienten in Zweifelsfallen am Ende unentscheidbar geworden, ob eine ('verwahrscheinlichte') Erfindung vorlag oder nicht, sondern die geschichtliche Authentizität konnte den Lesern auch unwichtiger gemacht werden in dem Maße, wie die Lektüre von Romanen be-
84
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Denn das zweyte Geschlecht hat weniger Gelegenheit die Welt kennen zu lernen, es ist daher viel leichtgläubiger, und viele lassen sich im Ernst überreden, es könne auch wohl einst mit ihnen so kommen, wie mit dieser oder jener Romanheldinn. Mehr noch als das feinere weibliche Nervensystem, das Zöllner 1780 neben dem eingeschränkten Erfahrungshaushalt für die unterschiedliche 'Leichtgläubigkeit' der Geschlechter verantwortlich machte, dürften es grundsätzlich stark variierende Rezeptionsformen gewesen sein, die differente Urteile über den Aussagewert eines Romans verursachten (Roman in: Moralische Encyclopädie 3, 374). Die Zuverlässige Erzählung der sonderbaren Begebenheiten des Herzogs von Ripperda zum Beispiel wurde mit einigen zur Erläuterung dienenden Beylagen (laut Titel) angereichert, welche jedoch nach dem Eindruck von Musäus nicht das geringste in der Geschichte des Herzogs erläutern (ADB 10, 2, 1769, 260). Richardson scheute sich nicht, noch die Briefe zu erfinden, die in den Vorreden als Rede über die Fabel zusätzlich die erfundenen Korrespondenzen beglaubigen sollten.
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stimmte subjektive Bedürfnisse erfüllte, die mit dem Begriff Wahrheit verbunden waren. Die Logik der aufgezeigten Entwicklung läBt sich an einem weiteren Beispiel noch einmal verdeutlichen. Für den heutigen Leser scheint schon der Untertitel des 1742 erschienenen Americanischen Freybeuters kaum Anspruch auf Glaubwürdigkeit dieser Lebensgeschichte zu erheben: Der Americanische Freybeuter. Oder Die mit theils wunderbahren, theils angenehmen Begebenheiten angefüllte Lebens-Geschichte Robert Pierots/ Eines gebohrnen Holländers; Darinnen Desselben Jugend, Auferziehung, Reisen, Gefangenschaft zu Algier, und wunderliche Errettung aus derselben, wie auch mit denen in der Flucht gegen die Türcken davongebrachten Schiffen, verrichtete Caperey und Freybeuterey in America, und deren erfolgte Aussetzung an eine unbewohnte Insul, enthalten: Ingleichen Seine in die zwölff Jahr wunderliche Erhaltung und Einrichtung seiner Haußhaltung, welche er mit Erbauung derselben darauf zugebracht, und endlich von seinen Freunden wiederum angetroffen worden, sammt dem unter denselben gestifteten Ritter-Orden der Einigkeit sehr angenehm beschrieben, Und aus dem frantzösischen ins Teutsche übersetzt. Von ihm selbst. Die weitgehende Übereinkunft der Fabel mit dieser Inhaltsangabe hinderte den Rezensenten der Franckfurtischen Gelehrten Zeitungen jedoch nicht, gerade dieser Geschichte zu trauen: so viel müssen wir jedoch derselben [Schrift] nachrühmen, daß sie allerdings würldiche geschehene Dinge darzustellen scheinet und also nicht bloß unto- die Zahl derjenigen gehöre, welche nur erdichtete Ausschweifungen menschlicher Leidenschaften zu enthalten pflegen.86 Nur drei Jahre später urteilten die Freymüthigen Nachrichten anläßlich des dritten Teils ganz anders: Es wird aber doch ein Leser erfordert, der mit einem starken (Hauben ausgerüstet ist, um alles das fllr wahr anzunehmen, was [...] hier erzehlet wird.97 Und bereits 1742 hatte es in den Gottingischen Zeitungen von Gelehrten Sachen geheißen, der Autor tue seinen vernünftigen Leser einen großen Tort, wenn er meinte, sie überreden zu können, daß die Geschichte authentisch sei, denn: Eine große Menge Romanen sind nach seiner Art geschrieben, und sehen eben so einfältig aus, als wie der seinige. (477) 86
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FGZ 1742, 422. FN 2, 1745, 55; solches Fiktivitätsbewußtsein dürfte sich durchaus auf den gesamten Roman erstrecken (Dieser dritte Theil ist vielleicht der letzte, da den Uebersetzer M.N.O.P.Q. das Unglück betroffen, daß sein Hauß und Hof, und damit viele rare MSct. und Original-Schriften von dieser Geschichte ganz vom Feuer verzehret worden, wobey wir ihm wünschen, daß er seinen Schaden so standhaft, als wir den Verlust des vierten Theils, möge ertragen können).
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Gerade diese Kritik ist von besonderer Bedeutung, weil der Verfasser des Romans in der Vorrede des zweiten Teils darauf Bezug nahm und die Angriffe auf die Glaubwürdigkeit der Fabel mit einer neuerlichen Authentizitätsversicherung konterte.*8 Besonders wichtig ist aber ein anderes Argument der Vorrede, in welchem der Dichter beteuert, es sei ihm letztlich gleich, ob die Leser seine Geschichte glaubten oder nicht. An dieser Entgegnung läßt sich sehr deutlich die Abwehrbewegung gegenüber dem neuen faktischen Wahrheitsbegriff erkennen. Zwar gingen fast alle Autoren zunächst auf ihn ein und fingierten die Tatsächlichkeit ihrer Geschichten, aber zugleich wußten ja die Autoren selbst um die Fiküvität ihrer Romanhandlungen, mußten also ein Interesse daran haben, einen abstrakten Wahrheitsbegriff für die Romanliteratur akzeptabel werden zu lassen. Der Verfasser des Americanischen Freybeuters geht in der Entgegnung auf die Kritik in den Göttingischen Zeitungen sogar noch einen Schritt weiter und erklärt, daß das Publikum dem Rezensenten seine Dekuvrierungsbemühungen nicht danken werde: dann viele bleiben lieber in einer angenehmen Ungewißheit, ob die Sache sich 89 wirklich so verhalte oder nicht.
Diese Behauptung deckt sich genau mit dem historischen Befund, daß die Romane immer größeren Erfolg hatten, obwohl doch gerade dadurch ihre Chancen stetig geringer wurden, die Rezipienten die 'Wahrhaftigkeit' ihrer Fabeln glauben zu machen. Was sich in dieser Bemerkung andeutet, ist die allmähliche Dissoziierung literarischer von faktischer Wahrheit, wobei vor allem zwei Punkte besonders zu betonen sind. Ein solches Auseinandertreten konnte erst die Folge eines stärkeren Sich-Andrängens des faktischen Wirklichkeitsbegriffs an die Literatur sein, wodurch dann sozusagen eine autonomisierende Gegentendenz ausgelöst wurde. Derartige Wirkung, zumal in sehr verschiedenen sozialen Gruppen mit unterschiedlichen Rezeptionsniveaus, hatte im 18. Jahrhundert in erster Linie der Roman, 90 und 88
Die besondere Variante bestand dabei in einem ganz eigenen Angebot an die Leser:
Sollte jemand aber dennoch ungläubig bleiben wollen, der beliebe sich nur zu melden, wann er Lust hat, die Sachen, die man hierin findet, mit Augen zu sehen, er kann alle Personen noch sprechen, nur Wilhelm und Franciscus sind gestorben, wie ich solches aus dem Verfolg der Geschichtefinde.(Vorrede, b 2V) 89 90
Α 5Γ. Gleichwohl präparierte bis zur Klassik die gehobene poetologische Reflexion hauptsächlich an dem traditionell legitimierten Drama die Neuerungen des Dichtungsverständnisses heraus, obgleich die Verhältnisse von Fiktion, Repräsentation und Wahrheit beim Drama durch die zusätzliche Dimension der Auffuhrung auf der Bühne noch erheblich komplizierter sind - und von den zentralen Fragen des Literarischen auch wieder wegführen.
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eben dies ist einer der wesentlichen Gründe dafür, warum vor allem diese Gattung die Wahrheitsansprüche der modernen Literatur vertrat, so daß die Frühromantiker im Roman die Dichtung schlechthin erkennen konnten.91 Zum andern ist zu betonen, daB der Effekt dieser Konstellation, in der eine selbstwidersprüchliche Spannung abgelöst wurde, nicht allein die Wiedereinsetzung alter Rechte der Poesie war. Darum handelte es sich zwar auch - die Dichtung speiste schließlich seit der Antike ihren Wahrheitsgehalt nicht aus dem Tatsachenbezug, sondern aus der Vermittlung allgemein bekannter Lehren. Daneben aber erbrachte diese Reparaturleistung (zur Rettung der erzählenden Dichtung) eine 'überschießende' Wirkung, die aus den bewußtseinsgeschichtlichen Rahmenbedingungen dieser Bewegung resultierte - die Genese der modernen Literatur. Als Hauptproduktionsregel des Romans bestimmte die Probabilität die Entwicklung. Angesichts der inzwischen vorherrschenden begrifflich-logischen Semantik des Wahrscheinlichkeits-Begriffs mußte die Ausnutzung seiner spezifischen Ambiguität die größten Durchsetzungschancen als Versuch haben, die Faktizitätsbindung der erzählenden Dichtung abzuwehren: weil also das für den Roman wichtigste Kriterium Wahrscheinlichkeit bereits die beiden Lesarten einer textinternen und einer textextemen Relationierung anbot, deshalb war eine Umbesetzung innerhalb des Begriffs der Lösungsvorschlag, der den geringsten Widerständen ausgesetzt war.92 Die Beherrschung der romanpoetologischen Auseinandersetzungen durch die Wahrscheinlichkeit kann dafür verantwortlich gemacht werden, daß am Ende der 'Reparatur' nicht einfach die alte literarische endoxa-Wahrheit sich wieder eingesetzt fand, sondern eine ganz neue Wahrheit, deren Glaubhaftigkeit auf textinternen Kohärenzeffekten beruhte. Trotz der hier benutzten metaphorischen Redeweise können als Agens dieser Entwicklung nicht irgendwelche weitsichtigen poetologischen Strategen angenommen werden, die doch allenfalls den sich bereits vollziehenden Wandel benannten. Die Bewegungsenergie dieser Veränderung dürfte vielmehr das (umgelenkte) Interesse der Rezipienten gewesen sein, deren Haltung gegenüber den Texten sich veränderte. Und zwar galt auch hierbei eine Umschlagbewegung: gerade weil die faktische Wahrscheinlichkeit einer Geschichte um so schwieriger zu falsifizieren war, je mehr Beglaubigungsaufwand mit ihr getrieben worden war, gab man sich mit ihrer bloßen Möglichkeit zufrieden und richtete die Aufmerksamkeit auf ihre internen Verflechtungen. Auf welchen Wegen diese Verlagerung des Wahrheitsanspruches im einzelnen erfolgte, soll im weiteren präzisiert werden. Wichtig ist zunächst der Hinweis, daß die Bedeu91
Siehe hierzu etwa Szondi: Friedrich Schlegels Theorie der Dichtarten. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich für diese subtilen Veränderungen vergleichsweise schwer Belege aufspüren lassen.
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tung der hier thematisierten Zusammenhänge in der Veränderung der Lesemöglichkeiten gegenüber Romanen liegt. Die Herausbildung eigengesetzlicher Wahrheitsansprüche der erzählenden Dichtung kann auf diese Weise unterhalb der Ebene begriffslogischer literaturtheoretischer Entwicklungen nachgezeichnet werden, wo die Poetologen diesen und jenen Ausweg gesucht haben, die schließlich erfolgreiche Theorie aber dem retrospektiven Blick genauso schlüssig bleibt wie die vergessene. Nicht die theoretische Proklamation eigener Wahrheitsansprüche der Dichtung ist daher der Gegenstand dieser Erörterungen, sondern die Genese einer Akzeptanz solcher Ansprüche auf Seiten der Leser soll rekonstruiert werden. Denn: 'suspension of disbelief 93 ist nicht nur die systematische Definition von Fiktion, sondern auch ein historischer Prozeß, an dessen Ende die Autonomie des Wahrheitsanspruchs erzählender Literatur stand. Das Subjekt des Zweifels ist der Leser; er also ist es auch, der diese suspension vornehmen mußte, mochten von außen auch Anreize und Motivationen zu solchen Modifikationen im rezeptiven Umgang mit literarischen Texten kommen. Bevor der Zweifel und das Mißtrauen gegenüber den Romanhandlungen aber außer Kraft gesetzt werden konnte, hatte beides zunächst einmal an Einfluß gewinnen müssen. Danach aber war es ein weiter Weg von den kanonischen Wahrheitsbeteuerungen der 'Historien' bis zur Zurückweisung selbst der Wahrscheinlichkeitsforderung. Der Konsequenz dieses Weges soll hier an verschiedenen Aspekten nachgegangen werden.
5.4
Kausale Verknüpfung, Motivation und poetische 'Wahrheit'
Eine der Voraussetzungen dieser Arbeit ist die Unterstellung, daß sich die Veränderung der Rezeptionsmöglichkeiten im 18. Jahrhundert anhand der Entwicklung beschreiben läßt, in der sich einerseits die Romane in ihrer Präsentationsform wandelten und in der andererseits die Rezensenten die Texte anders wahrnahmen. Die Aufmerksamkeit der Leser von der textexternen Wahrscheinlichkeitsdimension auf die textinterne zu lenken gelang den Romanen wesentlich durch die erzähltechnische Realisation einer textinternen Verknüpfung, die als eine Art Kompensation äußerer Wahrscheinlichkeit wirken konnte. Diese Versu-
93
So die einflußreiche Fiktionsdefinition von S.T. Coleridge (Biographia Literaria, 2,
6).
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che wurden eine Zeitlang regelrecht zum theoretischen Programm erhoben, nämlich unter der Kategorie des 'pragmatischen Erzählens*. In der literarhistorischen Forschung ist an diesen Begriff erst vor 20 Jahren wieder erinnert worden, und zwar fast gleichzeitig von Hahl, Jäger und Schönert.94 Hahl und Jäger haben dabei an die historische Kategorie der pragmatischen Geschichtsschreibung angeknüpft. Die sich in ihr spiegelnde Anlehnung des Romans an die von Rechtfertigungszwängen weniger bedrängte Historiographie darf dabei nicht den Eindruck entstehen lassen, als habe das Prosaerzählen sich gänzlich an die andere Textsorte angeschlossen. Denn zum einen hat sich die Gattungseinteilung, nach der es sich um zwei ganz verschiedene Textsorten handelt, erst später herausgebildet, 'pragmatische Geschichte' umfaßte im 18. Jahrhundert auch weitgehend diejenigen Texte, die aus heutiger Sicht fraglos der fiktionalen Literatur zugeordnet werden. Zum anderen hat die aufklärerische Theorie der Geschichtsschreibung selbst immer wieder Anleihen bei der Poesie gemacht. Je mehr deutlich wurde, wie groß die Schwierigkeiten sind, die darin bestehen, einer historiographischen Darstellung Zusammenhang und Schlüssigkeit zu verleihen, desto mehr wufite man die an die alten aristotelischen Kategorien von Einheit und Handlung anschließenden poetologischen Überlegungen ebenso zu schätzen wie die erzählerischen Erfolge der sich als Historien kaschierenden Romane.95 Das pragmatische Erzählen, wie Hahl es neben einer Fülle von Belegen vor allem anhand von Blankenburgs und Engels poetologischen Abhandlungen darstellt, umfaßt den doppelten Sinn von 'pragmatisch' als einer Kausalkette menschlicher Antriebe und Handlungen und einer betrachtenden und belehrenden Geschichte.96 Daraus ergeben sich auch die beiden wichtigsten äußeren Kennzeichen dieser Erzählform, nämlich die bis ins kleinste Detail reichende innere Verknüpfung der Handlung nach Ursache und Wirkung und die reflektierende Begleitung dieser Geschichten in erzählerischen Kommentaren und Einschüben, wodurch der Text eine belehrende Anschaulichkeit für die Leser erhalten sollte. Die Methode dieser Veranschaulichung war also die Suggestion von induktiver Erkenntnis. Den Wegen, auf denen sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts das Verhältnis zwischen Romanen und Lesern nachhaltig veränderte, läßt sich jedoch mit der Kategorie des pragmatischen Erzählens nur ungenügend nachspüren. Zu sehr ist der Begriff an anspruchsvolle, elaborierte Romankonzeptionen gebunden, als daß mit seiner Hilfe die allgemeinen Tendenzen der Handlungsverknüpfung the94 95 96
Siehe Hahl: Reflexion und Erzählung, 29-84; Jäger: Empfindsamkeit und Roman, 114-126; Schönert: Roman und Satire, 83-93. Siehe hierzu Hahl: Reflexion und Erzählung, 43-48, 53ff. 48.
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matisiert werden könnten. So ist das 'pragmatische Erzählen' und seine Theorie eher ein Indiz für die im Lesen selbst gestiegenen Rationalitätsansprüche gegenüber einem Text, der sich als eine zusammenhängende Geschichte präsentierte.97 Das Konzept des pragmatischen Romans fugte sich in den übergeordneten Kontext der Grenzverschleifung zwischen Realität und wahrscheinlicher Fiktion und war damit ein wirksames Instrument der Rationalisierung der Literatur. Die Wirkungen des Kausalitätsprinzips auf das literarische Erzählen gingen aber noch deutlich über den Einflußbereich des expliziten Konzepts vom pragmatischen Roman hinaus. In der konkreten Applikation auf den Text, also bei Berücksichtigung erwartbarer Rationalitätsmuster in der Präsentation von Geschichten, erlaubte die Kausalität eine textübergreifende 'Verwahrscheinlichung' der Romane, die damit ihre Plausibilität immer mehr in den von ihnen selbst im Erzählprozeß jeweils entworfenen Kontexten suchten und auf einen kompatiblen Anschluß an die faktische Wirklichkeit immer weniger angewiesen waren. Die Romane wollten von dem Effekt profitieren, daß das Stimmige leichter geglaubt wird. Dadurch wurde der referentielle Bezug des Textes sekundär abgewertet. Zwar gab es seit der Formulierung des aristotelischen Ausnahmeparagra98
phen den Hinweis auf die größere Glaubwürdigkeit des in sich Wahrscheinlichen, aber als allgemeine Regel und in der Konsequenz der Realisierung war die höheren Akzeptanz von fabelinterner Kompatibilität die Folge einer erfolgrei97
98
Wohl aus ähnlichen Motiven faßt Schönert seinen Begriff des 'Pragmatischen' deutlich weiter als Jäger und Hahl - allerdings um den Preis, sich nun nicht mehr im Wortlaut an zeitgenössische Quellen anzuschließen. (Siehe hierzu Hahl: Reflexion und Erzählung, 62, Anmerkung IIS, sowie Schönert: Roman und Satire, 83ff.) Aus der Tatsache etwa, daß den empfindsamen Romanen vielfach auch barocke Prüfungsmuster unterlegt waren, erweist sich noch nicht ihre gänzliche Unberührtheit von den neuen Kausalisierungsanforderungen. Was Hahl an dieser Textgruppe als nur 'modernes' psychologisches Aussehen abwertet, ist doch auch eine Form der komplexeren Handlungsmotivation, die gestiegenen Bedürfnissen nach Erkenntnisvermittlung über die 'menschliche Natur' Rechnung trug. Dem steht auch nicht grundsätzlich entgegen, daß die empfindsamen Erfolgsromane fast alle an eine nicht-reflexive, identifikatorisch-affektive Rezeptionsform appellierten. Daß vielmehr gerade erst die psychologische Differenzierung diese Texte so wirkungsvoll und glaubhaft werden ließ, ist im Gegenteil ein fur die hier angedeuteten Tendenzen wichtiger Beleg. Die 'Rückständigkeit' der empfindsamen Bewährungsromane scheint Hahl darin zu liegen, daß in ihnen der Autor die heimliche Vorsehung spielt. Dagegen wäre allerdings zu fragen, ob man im anderen Fall den Vorspiegelungen empirischer Faktizität durch einen 'pragmatischen' Erzähler nicht auf den Leim geht, wenn man unterstellt, er sei nur der Ordner der kausalen Zusammenhänge und sorge nicht oft genug für die schließliche Belohnung der Tugend. (Zitate Hahl: Reflexion und Erzählung, 70; siehe auch Becker: Der deutsche Roman um 1780, 170f.) Siehe Aristoteles: Poetik, 24, wonach das Unmögliche, aber Wahrscheinliche dem Unglaubhaften, aber Möglichen vorzuziehen sei.
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chen Verdrängung von Tradition und Autorität durch die 'Vernunft'. Dabei gründete die Möglichkeit zur Übertragung des Kausalitätsprinzips auf Geschichte überhaupt in den inzwischen herrschenden Vorstellungen, welche die Historie kaum von der Naturgeschichte unterschieden und daher in beidem den Ablauf von Gesetzmäßigkeiten identifizierten." Hierzu gehört die Maschinenund Uhrwerksmetaphorik der physikalischen Welterklärungen, die sich schwer 100
taten, weder Gott noch dem Menschen die Handlungsfreiheit zu nehmen. In der Anwendung dieser von physikalischen Veranschaulichungen geprägten Realitätsmuster auf die Romane überwog zunächst die Kettenmetaphorik, die geradezu die traditionelle Seinskette101 von der Vertikalen in die Horizontale verlagerte und von Schlagwörtern wie Folge, Reihe, Faden umgeben war.102 All diese Redeformen lebten von Reversibilitätsvorstellungen, denen die Romane der Aufklärung auch erzähltechnisch entsprechen wollten: einfache Abfolgen von Ursachen und Wirkungen anstatt der komplizierten barocken Verschachtelungen, in denen die Gründe und Anlässe einzelner Handlungssegmente oftmals einige hundert Seiten voneinander entfernt berichtet werden. Daher spielten Uhrwerk und Maschine als Metaphern für die Romanhandlungen zunächst eine geringere Rolle,103 gewannen aber bei zunehmender immanenter Verknüpfung der Fabeln im Laufe der Zeit an Bedeutung. Obwohl das 'Fließen' nicht mehr recht zur mechanischen Hintergrundmetaphorik104 zu gehören scheint, gibt folgende Bemerkung Hallers einen deutlichen Hinweis auf die Sinnstiftungsproduktivität der kausalen Verknüpfung für literarische Geschichten: Die ganze Geschichte [Marivauxs La Vie de Marianne] ist eine blosse Chronick, wo man nichts als einige merckwürdige und wohlbeschriebene Vorfallen99
Siehe hierzu sowie allgemein zur Bedeutung der Kausalität als narrativem Verknüpfungsverfahren seit ihrer Aufwertung in Newtons Mechanik Löffler: Die Fabel als 100 strukturbildendes Prinzip des traditionellen Romans. Siehe hierzu etwa Assmann: Legitimation der Fiktion, 18-31, sowie ausführlich Philipp: Das Werden der Aufklärung. In Leibniz' Theodizee tauchte die Problemstellung der menschlichen Freiheit bereits im Titel auf: Essais de Thidiz&e sw lü beauti de Dieu, la liberti de l'homme et l'origine du mal. (1710) Siehe hierzu grundsätzlich Lovejoy: The Great Chain of Being, sowie zu dem im 18. Jahrhundert allseits bekannten Versuch in Popes Essay on Man, das traditionelle Motiv der Seinskette ins Newtonsche Weltbild umzucodieren: Fabian: Newtonische Anthropologie; Pope und die goldene Kette Homers. Blanckenburg etwa benutzte in einer ironischen Wendung die physikalisierte Vorstellung von der allgemeinen Kette der Dinge in den Beyträgen zur Geschichte deut103 schen Reichs und deutscher Sitten, 30. Siehe aber zum Beispiel Heidegger: Mythoscopia Romantica, 59. Zum Begriff und zur Opposition von organischer und mechanischer Hintergrundmetaphorik siehe Blumenberg: Paradigmen, 69-83.
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Wahrscheinlichkeit und Illusionsbildung heiten antrifft, da hingegen die Clarissa eine eigentliche Historie ist, wo eine Begebenheit aus der andern fließt, und der Zusammenhang der Thaten mit ihren Ursachen niemals unterbrochen wird. 105
Zwar ließ sich mit dem Einsatz des Kausalnexus noch nicht die virtuelle Unendlichkeit der (Welt-) Geschichte reduzieren, aber benutzte man dazu einen in seiner Kontingenz erträglichen Anfang wie die Geburt oder als abschließenden Erweis providentieller Gerechtigkeit etwa eine glückliche Heirat, so konnte eine möglichst eng verzahnte Kausalitätssuggestion mehr leisten, und darauf kommt es hier an, als alle Historiographie - es ließ sich ein sinnvolles Ganzes erzählen: Der Plan der wirklichen [Welt] ist groß, und niemand übersieht das Ganze. Hier ist freylich die Kette der Ursachen und Wirkungen nicht allezeit völlig sichtbar: allein der Dichter liefert nur ein kleines übersehbares Ganze, ein erdichtetes Ganze, das er uns für einen Theil des wirklichen ausgeben will: hier darf also nicht das mindeste Gelenke in der Kette der Ursachen und Wirkungen unsichtbar bleiben, nicht das kleinste Rädchen in dem ganzen Werke umlaufen, 106 ohne daft es nicht vorher einen hinlänglich starken Stoß empfangen habe.
Was Wezel mit solcher Präzision beschrieb, war eine der zentralen romanpoetologischen Vorstellungen über der Präsentation von literarischer Handlung während der Aufklärung. Insbesondere in der Maschinen- und Uhrwerksmetaphorik, in welcher der literarische Werkbegriff ja schon vorbereitet wurde, erlangten diese Veranschaulichungsformen in der späteren Entwicklung von Dichtungsverständnis und Rezeptionsformen noch erhebliche Bedeutung. Daß in dem Zitat der fiktive Charakter des Werks so ostentativ neben der internen Verschränkung betont wird, illustriert noch einmal die hier erörterten Kompensationseffekte zwischen beidem. Die in der mittleren Phase der literarischen Wahrscheinlichkeit erlangten Erfolge in der Kausalverknüpfung waren allerdings in erster Linie Suggestivwirkungen. Denn wo es der Erzähler nicht ausdrücklich formuliert, kann durch eine bestimmte Ausrichtung zweier berichteter 'Zustände' der vorgestellten Wirklichkeit aufeinander lediglich der Eindruck erweckt werden, der eine sei ein zureichender Grund des andern. Das Motivationsgeflecht der menschlichen Hand105 106
Beurteilung der Clarissa, 344. Wezel über Sophiens Reise, NBWK 19, 1776, 283. Eine solche halsbrecherische Vermischung der metaphorischen Leitbilder (Kette/ Maschine) markiert die völlig ungelösten theoretischen Voraussetzungen solcher Behauptungen. Ähnlich Blanckenburg: Im menschl. Leben wird uns dieser Anblick [vom Zusammenspiel zwischen Zufällen, Begebenheiten, Empfindungen, Gedanken und Handlungen] nie, oder höchst selten nur, an uns zu Theil; aber das Genie, in seinen Werken, verschafft uns oft das Schauspiel einer Reihe in einander begründeter Begebenheiten (über Werther, NBWK 18, 1775, 47f„ siehe aber 55).
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lungen ist so komplex, daß sich wohl nie, keinesfalls aber in der Beobachterperspektive, klare Kausalbeziehungen zwischen einer bestimmten 'Situation1 mit der unübersehbaren Fülle ihrer Faktoren - und einer Handlung benennen lassen. Worum es literarisch hierbei also ging, war die erzählerische Kunst, einen Zusammenhang 'herzustellen'. Indem dieser glaubhaft gemacht werden konnte, gelang der Erzählliteratur der vielleicht erstaunlichste Erfolg der neuzeitlichen Dichtungsgeschichte: den Zweifel an einem Fabeldetail sinnlos erscheinen zu lassen, ohne daß das Wissen um die Fiktivität der Geschichte ausgeschaltet wird. Die Authentizität eines jeden Handlungsmoments geriet zu einer Größe der Relation.107 Die Voraussetzung dieser entscheidenden Veränderung in der Rezeptionshaltung gegenüber Romanen war die in der Lektürepraxis sich allmählich steigernde Rezeptionskompetenz, welche die Fiktivität der erfundenen Geschichten einerseits leichter zu erkennen vermochte, andererseits dies aber als Äußerlichkeit des Kommunikationskanals abwertete und die Aufmerksamkeit stärker auf interne Nuancierungen des Textes zu konzentrieren begann. Mit dem extremen Verifikationsaufwand - etwa auch der Vermeidung der Gattungsbezeichnung108 konnten selbst extrem fiktionsfeindliche Leser, die sich an Historien bilden wollten, in die Romane 'hineingelockt' werden, bevor sie ihnen als erfunden durchschaubar wurden. Die Leistungen eines qua interner Verknüpfung im Wahrscheinlichkeitsmodus gehaltenen Romans für das Bewußtsein der Rezipienten mußte mindestens ebenso groß sein wie die der Lektüre einer faktisch verbürgten Geschichte: als Surrogat und Übungsfeld einer gelingenden Realitätsbewältigung. Indem der Dichter - mit Wezel: - ein kleines übersehbares Ganze, ein erdichtetes Ganze lieferte, gab er dem Leser ein Spiel an die Hand, an dem im 107
Etwa: Friederike hat nicht edles genug; ich habe schon oben berührt, daß sie den Frühlaut, ihren ersten Geliebten, zu 'heftig' liebte, 'um' ihn so plötzlich zu vergessen und ihre Thronen so schnell abzutrocknen. (MDC 3, 1, 1774, 236; Hervorhebung nicht im Original); Ober Sattlers Friederike oder die Husarenbeute, eine deutsche Geschichte. 108 Merck berichtete in einem Brief vom 20.10.1781 Carl-August von Sachsen-Weimar über eine noch späte Wirkung solcher (in diesem Fall bereits stilisierten) Gattungsverschleierung: Neulich habe ich einen Professor von Gießen bey mir gehabt, der mir redlich eingestand, wie er in seiner LeseGesellschafft, da ihm der Meßcatalogus prOsentirt worden, sich Woldemarn, eine Seltenheit aus der Naturgeschichte, in ganzem Ernst, als ein seltenes 'Product der Naturgeschichte' ausgezeichnet habe, u. sehr betroffen gewesen seye, als man ihm einen Roman gebracht habe, wo er nichts von verstanden hätte. Der Mann ist ein Mediciner, u. hat von Nichts als Zoologie, u. Anatomie Begriff. Als ich mich näher erkundigte, so kam die Sache heraus, daß er glaubte, es seye eins von den Thieren, denen Buffon so gerne neue Nahrung giebt, eine Art von Faulthier oder Affe. (Merck: Briefe, 322f.) Siehe hierzu Lepenies: Naturgeschichte und Anthropologie im 18. Jahrhundert, 21 lf.
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Gestus des 'Was wäre, wenn' Beschreibungs-, also Verstehensmöglichkeiten von Wirklichkeit vorgeführt wurden. Auf eben dieses Spiel ließen sich die Kritiker ein, welche den Texten immanente Kohärenzmängel ankreideten. Selbst Werther wies hierin dem Magazin der deutschen Critik noch Defizite auf: Auch hier ist ein Sprung in der Fortführung des Charakters des Helden, der die ganze schöne Anordnung des Plans unterbricht.109 Für den Roman kam es sozusagen nur darauf an, fiktionskritische Rezipienten über den Anfang des Textes hinaus lesen und damit die ersten Voraussetzungen der 'möglichen Welt' akzeptieren zu lassen. Dadurch konnte im Rezeptionsvorgang eine Hierarchisierung bewirkt werden, welche die interne Probabilität auf eine andere Bewertungsebene verlegte als die externe Glaubwürdigkeit. Den Lesern war die Gelegenheit zu einer schnellen Entscheidung über die Faktizität der Geschichte genommen worden; durch die Vermeidung von Fiktionssignalen entfiel der Anlaß solcher eindeutigen Feststellungen. Auf diesem Wege wurden allmählich nicht nur die Wahrheitsansprüche der Romane auf ihre internen Kohärenzen verlagert, sondern zunehmend auch die sich geübter wähnenden Rezipienten auf die daran orientierten Beurteilungskriterien gelenkt. So gelang es, die Frage der faktischen Ungewißheit der Geschichte zu einem Aspekt des Kommunikationskanals abzuwerten, einer äußeren Bedingung, auf die man sich eben einlassen muß - so wie man bei einem Theaterbesuch eben auch eine hierarchische Differenz beachten muß zwischen der Gesamtheit der sinnlichen Wahrnehmungen und dem, was man auf der Bühne sieht.110 Das Ergebnis dieser Entwicklung war eine neue Form der Lektüre, doch wurde zunächst infolge der beschriebenen Mechanismen der Einstieg in diese Art des Lesens erleichtert, indem die Differenz kaschiert war. Vorübergehend wurde der fiktiven Literatur das Anstößige, der offensichtliche Hinweis auf die Fiktivität genommen, um weiterhin Leser zu gewinnen. Doch an den so modifizierten Texten übten diese Leser unmerklich eine neue Form des Lesens ein, dem die Fiktivität der Geschichte kein Problem mehr war. In diesem Zusammenhang nun wird der Gegensatz der skizzierten übergreifenden kulturhistorischen Tendenzen verständlich. Einerseits kaschierte die 'wahrscheinliche' Erzählliteratur die Grenze zwischen Fiktivität und Faktizität, und andererseits schärfte ein neuer Wirklichkeitsbegriff zunehmend das Bewußtsein von dieser Grenze. Der Erfolg der ersten Tendenz verschaffte der Erzählliteratur eine Ver109 110
MDC 4, 1, 1775, 66. Siehe hierzu etwa Goethes Dialog Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke, wo diese Differenzierungen in bezug auf die Rezeption von Opern thematisiert werden.
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zögerung, die es erlaubte, die verhängnisvollen Folgen der zweiten Tendenz für den Roman abzuwenden. Noch bevor die Erzählliteratur von der Masse des Publikums mit geschärftem Bewußtsein als fiktiv identifiziert werden konnte, hatte die Herausbildung einer neuen Lektüreform begonnen, die mit dieser Fiktivität umzugehen vermochte.111 Ein wichtiger Zwischenschritt in dieser Entwicklung war die Umlenkung der Rezeptionsaufmerksamkeit von der textexternen auf die interne Wahrscheinlichkeit. Denn was im Wahrscheinlichkeits-Begriff in seinen zwei Dimensionen des textexternen und textinternen Wahrscheinlichen zusammengebracht wurde, war der Gegensatz von literarischem Referenzbezug und Fiküvität. So wurden die Umbesetzungen in der Wahrscheinlichkeit zum Ausgangspunkt des modernen Umgangs mit literarischer Fiktion. Die zunehmende Realisierung der textinternen Wahrscheinlichkeits-Anforderungen durch vermeintlich kausale Verknüpfung war eine der wichtigsten erzählerischen Professionalisierungen des 18. Jahrhunderts. Denn diese Erzähltechnik verwandelte die literarische Unwahrscheinlichkeit in einen ostentativen Mangel an Motivation. Deshalb ließ sich dann auch von unwahrscheinlichen als von unvorbereiteten Begebenheiten112 sprechen. Umgekehrt eröffnete dies den Autoren die Möglichkeit, jede überraschende und daher Aufmerksamkeit sichernde Wendung in der Handlung durch entsprechende Motivation zu rechtfertigen. Die Erzähllaune läßt solches Verfahren im Siegfried von Undenberg in die Nähe der Persiflage geraten: So sehr in sich selbst verlohren, daß er [Junker Siegfried] zuletzt gar nichts dachte, ließ er dem Rosse die Zügel, und das edle Thier, welches wahrscheinlich nicht in Gedanken war, trabte immer lustig vor sich hin, und trug Seine Gnaden bis mitten in das Dorf Lindenberg, und ohne Zweifel würde es den Junker wohlbehalten vors Schloß gebracht haben, wenn sich diesem nicht eine Mücke auf die Nase gesetzt, und ihn so empfindlich gestochen hätte, daß er aus seiner Ekstase erwachte.113 Um ein anderes Beispiel aus diesem ungewöhnlich erfolgreichen Roman zu nehmen, dürfte es wohl ziemlich unwahrscheinlich gewesen sein, daß im 18. Jahrhundert ein deutscher Junker in seinem Dorf einen Stierkampf veranstaltet haben soll. Doch durch die sorgfältige Vorbereitung, die es im Interesse des Lindenbergschen Hauslehrers liegen läßt, seinen Herrn für eine so ungewöhnliche Aktion zu begeistern, werden die Anstöße zum abstrakten Unwahrscheinlichkeitsverdacht des Lesers vermieden. 111 112 113
Siehe hierzu eingehender Kapitel 5.5. Reinwald, ADB 82, 1788, 423. III, 85.
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Mit dem Einsatz solcher Erzähltechniken konnte der strukturelle Konflikt des Erzählens in der literarischen Epoche der Wahrscheinlichkeit weitgehend gelöst werden, der Widerspruch zwischen dem Wunderbaren - als der Kategorie, unter der das Interessante und Überraschende thematisiert wurde - und dem Wahrscheinlichen114 wandelte sich zu einer Frage der Geschicklichkeit in der Motivierung. Wieland hatte das Verfahren gleich so weit gesteigert, daß er im Don Sylvia sogar das verpönte Phantastische zum vermummten Wahrscheinlichen domestizierte.115 Die Feengeschichten wurden auf die Vorstellungswelt eines Individuums zurückgeführt, die phantastische Erzählung geriet zur Erzählung von Phantasien. Was Wieland jedoch im intertextuellen Bezug als variierendes Spiel mit der Tradition betrieb - die Anbindung des Wunderbaren ans Wahrscheinliche -, das wurde seitdem zu einer beliebten Erzählvariante: das anfanglich Unglaubliche, das einen Text zur phantastischen Literatur zuzuordnen scheint, im Verlauf der Erzählung mittels nachträglicher Motivation in ein durchaus Mögliches zu verwandeln und das Werk damit auf die Seite der wahrscheinlichen Literatur zu rücken. Eines der berühmten Beispiele hierfür ist Schillers Geisterseher (1787/89), der trotz seines fragmentarischen Charakters deutlich den Versuch zu erkennen gibt, durch geschickte Perspektivenführung die wundersamen Begebenheiten allmählich sämtlich wahrscheinlich, also möglich werden zu lassen. Die weit über erzähltechnische Raffinesse hinausreichende kulturhistorische Bedeutung dieses Verfahrens lag im Zeitalter der ausgehenden Aufklärung natürlich in der individualisierten Perspektivierung, der Rückbindung scheinbar verbindlicher Realitätswahrnehmung ans Subjekt. Hier jedoch geht es um die Fabelmotivierungen,116 die es bei geschickter Handhabung gestatten, auffällige Sprünge in der Vermittlung zwischen einzelnen Handlungssegmenten zu vermeiden. Eine strenge Verknüpfung einzelner Teile untereinander ergibt sich nicht aus Kausalitätssuggestionen, wie die Romanpoetologie der Aufklärung so gern glaubte.117 Denn aus einem Zustand folgt nie mit Notwendigkeit ein anderer, nur retrospektiv kann ein Anfang zur einleuchtenden, durchaus plausiblen Vorgeschichte eines bestimmten Ausgangs werden. Dem entspricht das bereits erwähnte vorherrschende Verständnis von literarischer Probabilität nicht als eine relative Größe, sondern in erster Linie als 114 115
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Siehe hierzu jetzt auch Vietta: Literarische Phantasie, 116-147. Siehe hierzu Preisendanz, der in Wielands Roman die exakte Realisierung des gleichlautenden Programms der Schweizer wahrnimmt (Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsbegriff, 72-84). Zu den Fragen der literarischen Motivierung siehe Horn: Literarische Modalität, 106-109. Zu den Problemen interner Verknüpfung in Texten siehe etwa Beck: Funktionale Textmuster und die Formen ihrer internen Verknüpfung.
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eine Ausschlußbedingung: erwartet wurde, daß die erzählten Geschichten neben den bekannten Dingen vor allem sich selbst nicht widersprechen, eben nicht unmöglich sein sollten, weil sonst der Leser das Werk albern, abstoßend oder abgeschmackt fand. Wahrscheinlichkeit galt entsprechend als Vorbedingung literarischen Erzählens - eine Grenze, die nicht überschritten werden durfte, wie aus einer Formulierung Garves hervorgeht: Eine Verwickelung, wo die Zufälle zu sehr gehäuft, zu künstlich durch einander verschlungen werden, ist schwer zu fassen, wird unwahrscheinlich.118
Diese Stelle verrät eine bereits ernüchterte Einschätzung der Möglichkeit, gänzlich schlüssige Fabelabfolgen zu konstruieren. Eine strikte plausible Verbindung von Handlungselementen (im strengen Sinne von - menschlicher - Handlung) erlaubte nur die Motivation, das heißt die Einsetzung eines Interesses der handelnden Figur. Auf diese Weise konnte anonymes Schicksal, respektive der Zufall, in einsehbares Handeln gewandelt werden. 119 Schon die Logik verbietet allerdings, sich eine ganze Geschichte zu denken, welche vollständig mit solcher Rigorosität ineinander verschränkt wäre. Denn jedes erwähnte Detail an eine nur einigermaßen befriedigende Kausalitätskette anzubinden würde jede Erzählung notwendig zur Unrezipierbarkeit zerfasern. Man muß nur genau genug nachfragen, um zu sehen, daß alle Geschichten eine Fülle von Zufallen, von Unwahrscheinlichkeiten, von Unbegründetem übriglassen. Was eine späte Bemerkung (1791) an Wielands Agathon feierte, war die Realisierung interner Glaubwürdigkeitsansprüche auf einem neuen, im zeitlichen Kontext überdurchschnittlichen Niveau, blieb aber dennoch ungedeckte Metaphorik: Ein Glied aus der Kette, und Agathon hätte sich nie überzeugt daß die Wahrheit zwischen dem System des Hippias und des Plato, aber näher bey jenem liege. 120
Das aufklärungspoetologische Postulat einer lückenlosen Verbindung von Ursachen und Wirkungen zu einer geradezu textilen Verflechtung eines Ganzen mit vollständiger Reversibilität war von Anfang an ein nicht zu bewerkstelligendes Ideal, auch wenn Blanckenburg ihm in einer Fülle von Formulierungen Theo-
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Über das Intereßirende, 365. So entlarvt sich die höhere Gewalt, welche der Prinz in Schillers Geisterseher mutmaßt, als das Interesse einer bestimmten Figur. (Schiller, NA 16, 54; siehe auch 52 und 69f.) Ueber den dramatischen Roman (NBWK 44, 1791,7).
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riewürde verlieh.121 Worauf es statt dessen fur einen Autor ankam, das zeigt Garves nüchterne Formulierung, war die Vermeidung von auffälligen UnWahrscheinlichkeiten und Zufällen. Vielfach genügte hierzu eine flexible Präsentation, die das Zufällige an einer Begebenheit zu überspielen vermochte. Nachdem sich zum Beispiel Don Sylvio bei der Verfolgung seines blauen Schmetterlings gänzlich im Wald verirrt hat, läßt der Erzähler ihn mittels seines Hundes den Rückweg finden. Da Sylvio noch gerade ein bedeutungsschweres Medaillon gefunden hat, kann das - vorläufig nebensächlich erscheinende - Auftauchen des Hundes mit einer unverdächtigen Formulierung angeschlossen werden; die eigentliche Funktion des Hundes wird dann noch durch einen Absatz abgetrennt: Inzwischen hatte Tintin, sein Hündchen [...] ihn im ganzen Walde aufgesucht, und die Freude war auf beiden Seiten sehr gross, da er seinen Herrn endlich gefunden hatte. In der That fing Don Sylvio an zu merken, dass es bald Mittagessenszeit seyn werde, und es war ihm überaus angenehm einen Wegweiser bekommen zu haben, der ihn aus diesem Wald [...] wieder nach Hause führen konnte.122 Selbstverständlich haben alle Erzähler seit Homer mit solchen Mitteln gearbeitet. Neu daran war nur, daß man inzwischen auf der einen Seite höhere Plausibilitätsforderungen an das Erzählen stellte und daß andererseits einige, geübte Rezipienten erheblich aufmerksamer geworden waren auf krasse Zufälle im Geschehen. Deshalb mußten die anspruchsvolleren Autoren sich größere Mühe geben beim Kaschieren von Motivationslücken. Umgekehrt hatte dies wiederum den Schulungseffekt, der ihnen eine souveränere Führung der Handlung - und des Lesers - erlaubte. Einzelne Formulierungen verraten, wie die produktionstechnische Seite dieser Motivierungsverfahren allmählich wahrgenommen wurde, der Blick des geübten Lesers also zugleich die Illusion und deren Künstlichkeit zu erfassen lernte: 121
Siehe neben ungezählten ähnlichen Formulierungen: Der Dichter hat in seinem Werke Charaktere und Begebenheiten unter einander zu ordnen und zu verknüpfen. Diese müssen [...] so unter einander verbunden seyn, daß sie gegenseitig Ursache und Wirkung sind, woraus ein Ganzes entsteht, in dem alle einzelne Theile unter sich, und mit diesem Ganzen in Verbindung stehen, so daß das Ende, das Resultat des Werks eine nothwendige Wirkung alles des vorhergehenden ist. Das Werk des Dichters muß eine kleine Welt ausmachen, die der großen so ähnlich ist, als sie es seyn 'kann'. Nur müssen vw'r in dieser Nachahmung der großen Welt mehr sehen können, als wir in der großen Welt selbst, unsrer Schwachheit wegen, zu sehen vermögen. Wir müssen die Verbindung der Theile unter sich, und mit dem Ausgange des Werks 'anschauend' erkennen, ihr Verhaltniß gegen einander prüfen, die Wirkungen und Ursachen abmessen, und es mit Gewißheit sehen können, warum die Sachen vielmehr so als anders Erfolgen? (Versuch, 313f.) 122 Sämtliche Werke 11, 48f. (Buch 1, Kap. 8).
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Einen unnatürlichen Charakter, das heißt, der aus der heterogensten Mischung von Eigenschaften bestehet, einzuführen, und ihm gehörige Evidenz zu geben, daB er dem Leser glaubhaft, und folglich interessant wird, ist keine so leichte Sache, als die gewöhnlichen Skribenten denken.123 Die 'Verwahrscheinlichung' literarischer Handlung wurde durch die zunehmende Beherrschung derartiger Verknüpfungstechniken zur Kunstfertigkeit der Vermeidung von Unwahrscheinlichkeits-Eindrücken selbst dort, wo gänzlich Überraschendes, eigentlich Unglaubliches erzählt wurde, mit dem man die Aufmerksamkeit der Leser sichern konnte. Wezel beschrieb dies schon deutlich mit dem Autorenblick für das Geflecht der Fabel: Der Dichter schildert das Ungewöhnliche [...] und dies Ungewöhnliche wird poetisch wahrscheinlich, wenn die Leidenschaften durch hinlänglich starke Ursachen in einem solchen Grad angespannt werden, wenn die vorhergehende Begebenheit hinlänglich stark ist, die folgende hervorzubringen, oder die Summe aller hinlänglich stark ist, den Zweck zu bewirken, auf welchen sie gerichtet sind. Dies ist der einzige feine Punkt, der das Wunderbare und Abentheuerliche scheidet.124 Wie läßt sich das interessante Ungewöhnliche in poetisch legitimes Wahrscheinliches verwandeln? So lautet die sich dem Dichter stellende Frage, auf die diese Beschreibung antwortet; sie dürfte die Wirkungsmechanismen einer ihren Wahrheitsanspruch aufrechterhaltenden Romanliteratur präziser treffen als die Kausalitätsideale eher romantheoretisch ausgerichteter Reflexionen. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der letzte Satz des Zitats, in dem das Abenteuerliche für eine Literatur steht, die jeden Wahrheitsanspruch preisgegeben hat und sich allein den Unterhaltungsbedürfnissen seines Publikums verpflichtet, wogegen das Wunderbare hier eben die Dichtung meint,
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ADB 68, 1786, 155; ähnlich TM 2, 1773, 85: Bey der Menge und der Sonderbarkeiten der Begebenheiten ist es kein geringes Verdienst, so viele romantische Zufälle doch so gut in einander gefligt zu haben, dqß der Leser, vielleicht über zu viele Irrgänge, aber doch nie über empörende Unwahrscheinlichkeiten klagen kann. 124 [Wezel:] Hermann und Ulrike (1780), Vorrede, IV. Einige Jahre zuvor hatte Wezel sich in seiner (anonymen) Besprechung von Hermes' Roman Sophiens Reise von Memel nach Sachsen noch über den darin gemachten Vorschlag, in einem Roman zwar nicht das Abenteuerliche, aber das Wunderbare zu benutzen, empört: Nothwendig τημβ Herr H. es doch von den Begebenheiten verstanden wissen wollen: sollen es da vielleicht ungewöhnliche Verknüpfungen von Ursachen seyn, Wirkungen, die aus geringen Ursachen entspringen, oder aus solchen, von denen man einen solchen Effekt gar nicht erwartet hatte, solche also, die in 'Erstaunen' setzen? (NBWK 19, 1776, 276)
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die sich dem Konflikt von Wahrheit und Unterhaltung stellt.125 Die 'poetische Wahrscheinlichkeit' ist bei solchen Überlegungen die Chiffre für den Wahrheitsanspruch der Literatur, wodurch noch einmal belegt wird, was hier in einigen Aspekten (im Rekurs auf die Romanrezensionen) nachgezeichnet werden sollte: die Bezugsgröße der literarischen Probabilität war in den mittleren Dekaden des 18. Jahrhunderts zunehmend statt der textexternen Wirklichkeit die textinteme Kohärenz geworden.126 Dadurch mußte der Realitätsbezug nicht vollständig entmachtet werden, vielmehr konnten äußere und innere Wahrscheinlichkeit voneinander getrennt rezipiert und bewertet werden.127 Je stärker es gelang, das Interesse der Rezipienten von den abbildenden auf fabelinterne Wahrscheinlichkeitsbezüge umzulenken, desto mehr konnte auch die Romanliteratur an den traditionellen Wahrheitsbegriff der Dichtung Anschluß suchen und eigene Wahrheitsansprüche im Verweis auf immanente 129
Stimmigkeiten sozusagen allegorisierend geltend machen. Dieser traditionelle und ungebrochen für die anerkannten Gattungen gültige Wahrheitsbegriff konnte dann auch auf den Roman angewendet und gegen den neuen Faktizitätsrigorismus ausgespielt werden - so etwa schon im Westfälischen Beobachter von 1756: Kurz, was die Geschichte und tägliche Erfahrung durch wirkliche Beispiele lehret/ das lehret ein solcher Roman durch erdichtete/ ja zuweilen durch wahre 129 selbst/ die er nur etwas verkleidet.
Trotz der Koketterie mit den neuen, empiristisch gefärbten Erkenntnistheorien ('was die Erfahrung lehrt') vermag der anonyme Autor den Eigenwert des Romans jeweils nur mit einem altbekannten Konzept zu begründen, das die Wahr125
So zeigt sich, daB die in der Forschung verbreitete Bildlichkeit wohl täuscht: nicht konnte die Romanliteratur allmählich den zunächst engen Bereich des Wahrscheinlichen immer weiter in die Gefilde des Wunderbaren ausdehnen, sondern 'Wunderbares' und 'Wahrscheinliches' bezeichneten in erster Linie zwei verschiedene Sichtweisen einer Begebenheit - eine Differenz, die in der erzählerischen Präsentation beherrschbar wurde. (Siehe etwa Grimminger: Roman, 645) 126 In seiner Hermes-Rezension führte Wezel zwei Richtungen an, in denen die Wahrscheinlichkeit einer erzählten Begebenheit beurteilt werden könnte. Doch keine dieser beiden Möglichkeiten zieht noch die Übereinstimmung mit der außerliterarischen Realität in Betracht (siehe NBWK 19, 1776, 282f.). 127 In dieser Unterscheidung 1795 bereits völlig geläufig; hier Walch, NADB 15, 128 1795, 54. So ließ sich dann in Rezensionen von der 'Wahrheit' eines Charakters sprechen. Wezel schrieb zum Beispiel über Sophiens Reise, daß der Erzähler durch seine Intention gebunden sei und daher unter anderem in Gefahr stehe, den Charakteren eine andre Wendung zu geben, als es die Wahrheit derselben zulasse (NBWK 19, 1776, 270). 129 Westfälischer Beobachter 1, 1756, 602.
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heit des literarischen Textes an eine abstrakt benennbare 'Wahrheit' anbindet. Denn nur wenige Zeilen zuvor werden einige Romanautoren dafür gelobt, mit ihren Werken das Tugend-Laster-Schema zu bestätigen. Von denjenigen Wirkungsmechanismen, welche aber die Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft der erfundenen Beispiele, den Beweiswert ihrer Evidenz bei einem Publikum ausmachen, das bereits Mißtrauen gegen Fiktionen geschöpft hat, spricht der Autor nicht ausdrücklich. Nur negativ lassen sich diese Wirkungszusammenhänge aus den Mängeln erschließen, die er den gescholtenen Rittergeschichten und Hexenmührlein anrechnet: sie seien ungereimt, die Auflösung geschehe in ihnen mit größter Uebereilung und schlechtester Wahrscheinlichkeit, die Zwischenfabeln seien nicht gehörig mit der Haupthandlung verknüpft.130 In diesen Punkte leisten dagegen die gepriesenen Romane Vorbildliches; und diese Leistungen sind es, die 17S6 den Versuch gestatteten, in einer moralischen Wochenschrift die vortrefflichsten Schriften dieser Art explizit der Dichtung zuzuschlagen (solche Romane [...] die im Grunde anders nichts als ein Werk der Dicht131
kunst sind). Das allgemeine Urteil allerdings, mit dem dieser Versuch rechnete, ist daran kenntlich, daß erst vier Seiten lang alle negativen Aspekte der (schlechten) Romane angeführt werden, bevor einige gute auf drei Seiten Lob erfahren. Wie alle frühen Bemühungen um Rechtfertigung des neuen Romans schraubt auch dieser kurze Text die normativen Anforderungen sehr hoch. Gleichwohl signalisiert er, daß die wenigen empfohlenen Texte in ihrer Handlungsverknüpfung solche Konsistenz aufweisen, daß sie Beweiskraft gewinnen für Wahrheiten über die Wirklichkeit, daß man aus ihnen Unterricht erhält, aus ihnen lernt, obwohl die Leser wissen, daß alles erdichtet ist.132 Die Überzeugungskraft des neuen Romans beruhte auf seiner Kohärenz, seiner Fähigkeit, einen stimmigen Kontext zu entwerfen. Und diese Qualität war es, welche den anonymen Autor hier ermunterte, für die verfemte Gattung eine Lanze zu brechen. Die explizite Argumentation greift jedoch auf ganz traditionelle Dichtungskonzeptionen - vor allem der Affekttheorie - zurück.133 So ließe sich beinahe der ganze Beitrag für eine vollständig traditionelle poetologische Position halten, ohne Bezug zu den aktuellen Auseinandersetzungen. Doch die Erklärung des Fiktionsbewußtseins selbst zum höchsten Reiz einer erfundenen Geschichte zeigt dann doch die Bemühung, auch den Roman an die zeitgenössi131
132
603.
Ebenda und 604; dort auch 604: Solche Romane bessern also vielmehr den Verstand und das Herz, als daß man ihre Lesungfllrschädlich ansehen sollte. Ich bin fest versichert, man lerne selbst grcßmOthig/ ehrlich, gerecht und mitleidig handeln, wenn man diese Regungen gegen Schattenpersonen schon oft gefühlt hat (604).
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sehen poetologischen Debatten - vor allem ums Drama - anzuschließen, so daß eine geschickte Argumentationsfolge den Fiktionsvorbehalten gar keinen Raum gestattet: eine wahre Geschichte hat auch selten so was reitzendes, als wenn man weiß, daß es eine Dichtung ist, bei welcher man weit mehr Aufmerksamkeit auf die Kunst des Erfindens, auf die Anlage und Entwickelung der Fabel, die Wahrscheinlichkeit, die Schönheit, den Reichthum der Einfälle, und auf andre der134 gleichen Umstände wendet.
Zwar läßt sich erschließen, daß es die Art der internen Verknüpfung sein muß, weshalb man sich an den ungestillten Mißgeburten der unwahrscheinlichen Romane seine ganze Art zu denken verderben kann, an den guten Romanen aber den Lauf der Welt kennenlernt und Erfahrungen macht. Begründet wird dagegen der Wahrheitswert der Romane mit der abstrakten Wahrheit des Tugend- und Laster-Schemas, welches die Autoren den Texten einschreiben. Die besondere Leistung der Romane bei der Profilierung eigener Wahrheitsansprüche läßt sich noch einmal am Kontrastbeispiel präzisieren. Wielands Goldenen Spiegel lobte ein Rezensent mit den Worten: ist irgend ein Roman kein Ro135
man, sondern wahre Geschichte, so ist es diese Chronik von Scheschian. Dieser Kritiker sah in Wielands politischem Roman keineswegs die neue innere Wahrheit einer literarischen Illusion realisiert, vielmehr nahm er die ganz traditionellen Formen eines rhetorischen Wirklichkeitsbezuges wahr - also diskursive Rede, die sich im Gewände der Unterhaltung gab und in verschlüsselten Formen sogar einzelne europäische Herrscher karikierte.136 137Kein Wunder daher, daß der Rezensent die vorgetragenen Wahrheiten für uralt einstufte. Der eigene Wahrheitseindruck dagegen, den die Romane zunehmend in ihrer internen Kohärenz zu erzeugen vermochten - was Goethe die138 innere Wahrheit, die aus der Konsequenz eines Kunstwerks entspringt, nennen sollte -, führte oftmals gerade zu der Bescheinigung durch die Rezensenten, daß der Text neue Einsichten vermittele.139 So avancierte auch auf der höchsten Anspruchsebene der Literatur die Kanonisierung des Neuen zum Wertungskriterium.
134 135 136 137 138 139
603. MDC 1, 2, 1772, 192. 193. 1 94. Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, WA I, 47, 261. Entsprechend rügte Knigge in der ADB (65, 1786, 136) an einem Text, daß man
daraus keine neuen Wahrheiten, neuen Stoff zur Seelenkenmiß und zur Geschichte der Leidenschaften schöpfen könne.
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5.5
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Fiktionsbewußtsein und Lektürekompetenz
Dem Roman war es im Verlauf einer knappen Jahrhunderthälfte gelungen, einen eigenen literarischen Wahrheitsanspruch glaubhaft zu machen, und zwar im Prozeß der offensiven, für die Gattung uberlebensnotwendig gewordenen Auseinandersetzung mit einem präziser werdenden Fiktivitätssbewußtsein der erst neu gewonnenen Lesermehrheit. Am Anfang stand die literarische Selbstverleugnung der erfundenen Geschichten. Der daraus entsprungene Erfolg ließ den Konflikt zwischen der erzähltechnischen Faktizitätsbeglaubigung und deren eigener Glaubwürdigkeits-Unterminierung durch inflationären Gebrauch entstehen. Die allmähliche Verlagerung der obligaten Wahrheitsansprüche auf interne Kohärenzen war demgegenüber eine systematische Entlastung, deren konkrete Wege hier in einigen Aspekten nachgezeichnet werden sollten. Dabei bedarf es einer nachträglichen methodischen Präzisierung. Ging die Argumentation tendenziell von einer relativ einheitlichen (neuen) Romanleserschaft mit extremen Fiktionsvorbehalten aus, so war dies sicher eine im Sinne größerer Deutlichkeit generalisierende Unterstellung. Es muß wohl angenommen werden, daß nicht alle Leser erklärte Feinde erfundener Geschichten waren. Besonders aber ist unklar, inwieweit Vorbehalte gegenüber Romanen tatsächlich in deren Fiktivität oder nicht viel mehr in deren Nutzlosigkeit oder ihrer ethischen Zweifelhaftigkeit gründeten. Die quantitativen Verhältnisse lassen sich dabei nicht mehr genauer bestimmen. Das für einige Dekaden fast ausnahmslos herrschende Faktizitätsvorgeben der Romane scheint darauf hinzuweisen, daß die Autoren orthodoxe Fiktionalitätsvorbehalte bei der Mehrheit der Leser erwarteten, doch die Prätention von Tatsächlichkeit konnte ja zugleich auch moralischen Bedenken vorbeugen. War auch der Verweis auf die Faktizität einer Geschichte noch keine akzeptierte Rechtfertigung für das Erzählen ethisch bedenklicher Begebenheiten, so ließen sich dadurch doch allzu strenge Maßstäbe abwehren. Dezidierte Kritik an der Fiktionalität der Romane stand mit der an ihrer zweifelhaften Moral durchaus in einem Zusammenhang. Die moralischen Bedenken gegenüber der Erzählliteratur waren traditionell in zwei Formen aufgetreten, als Furcht vor dem affektiven Appell der Fabel an Sinnlichkeit und Phantasie der Rezipienten einerseits und andererseits als Vorwurf der ethischen Indifferenz in der Präsentation der Fabel durch den Erzähler und das Erzählarrangement. Auch hier erfolgte im Laufe der Zeit eine deutliche Hierarchisierung. Die prinzipiellen, affekttheoretisch begründeten Vorbehalte traten zunehmend zurück, je weniger übersehen werden konnte, daß zumindest einige Romane in Fabel- und Erzählerperspektive als moralisch völlig unanstößig gelten mußten. Wer sich aber als Romankritiker infolgedessen gänzlich
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auf die Position des in jedem Fall sittenverderblichen Sinnenreizes der erfundenen Geschichten - unabhängig von ihrem Inhalt - zurückziehen mußte, der konnte kaum bestehen, sowie die Romane die Gattungsgrenzen zu anderen Textsorten verschleierten. Jeden moralstrengen Romanfeind, der nicht jegliche Lektüre stets für verderblich erklärte,140 konnte der Roman durch eben diese Strategie gewinnen: indem er zeitweise sowohl die Gattungsgrenze zur Historiographie als auch die zur (ursprünglich ja religiös inspirierten) Autobiographie und die zur Erbauungsliteratur insgesamt im eigenen Marktinteresse unkenntlich gemacht hatte. Nicht verwunderlich ist daher, daß die affektbezogenen grundsätzlichen Einwände gegen den Roman langfristig soweit außer Kraft traten, daß die Moralität der je einzelnen Fabel zum Beurteilungsgegenstand wurde. Dies wieder bot den Texten selbst zum einen die Möglichkeit, sich mit einer unstrittigen Erfüllung ethischer Normvorgaben gegen Vorbehalte recht gut zu immunisieren. Zum andern ergab sich daraus die 'überschießende' Chance für die Romane, die Moralität ihrer Geschichte als Verdienst herauszustreichen. Und eben dieses Verdienst vermochte kompensatorische Funktionen gegenüber dem Fiktivitätsvorwurf zu übernehmen: Doch wir halten die Begebenheiten selber [ = Faktizität], für den unwichtigsten Theil eines Buchs dieser Art [=Romane]. Es ist uns genug, daß die Tugendliebe, das zärtliche, das natürliche und das annehmliche darinn herrschet. 141
Dabei ist schwer auszumachen, zu welchen Anteilen diese Kompensation zu welchen Zeiten wirkte. So muß hier noch einmal im Überdenken der vorstehenden Argumentation eingehender die Frage aufgegriffen werden, wie es um Fiktivitätsvorbehalte und Fiktivitätsbewußtsein der Romanleser im 18. Jahrhundert stand. Das Problem des Fiktivitätsbewußtseins läßt sich an der Frage präzisieren, ob denn die Zeitgenossen die als Historien auftretenden Romane tatsächlich
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Gerade diese Position ist aber kaum bezogen worden; die Lektüre-Kritiker, von denen Zeugnisse überliefert sind, waren sämtlich der humanistischen Tradition verpflichtet und selbst belesen, so daß es immer nur darum ging, bestimmte Gruppen von Rezipienten oder Texten auszuschließen (siehe hierzu Wahrenburg: Funktionswandel, 11-23). Die andere mögliche Position einer völligen Lektürebeschränkung auf das Buch der Bücher hat eigentümlicherweise historisch wenig Resonanz gefunden. Nur für wenige Jahrzehnte zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert galt in einigen streng protestantischen Regionen die Bibel tatsächlich als 'die' kanonische Lektüre. Erbauungsbücher aus pietistischem Umkreis und der Katechismus waren in beiden Jahrhunderten insgesamt erheblich stärker verbreitet (siehe Engelsing: Der Bürger als Leser, Kap 4). GZGS 1749, 279.
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nicht sofort als fiktiv durchschaut haben, wie die bisherige Argumentation unterstellt. Denkbar wäre ja auch, daß all die Wahrheitsversicherungen und Verschleierungstechniken, die Anlehnungen an Historien und Bekenntnisse problemlos von den zeitgenössischen Rezipienten durchschaut wurden, daß die qua Lesekompetenz zu einer privilegierten Bildungselite gehörenden Romanleser sich von diesen Verschleierungstechniken von Anfang an so wenig täuschen ließen wie heutige Leser von der Quellenfiktion etwa in Ecos Namen der Rose. Präzis zu beantworten wird diese Frage auch dann nicht sein, wenn die noch in den Anfangen stehende historische Leserforschung weiter fortgeschritten sein wird. Zum einen fehlen genügend umfangreiche Quellen, weil trotz aller gerade im 18. Jahrhundert einsetzenden Lust, den Regungen der eigenen Subjektivität in jeder denkbaren Reflexion nachzugehen, die Beschreibung von Leseeindrücken die Ausnahme blieb. Dies gilt noch einmal besonders in bezug auf die Romane, die in der zweiten bis sechsten Dekade noch sehr verpönt waren und kaum als angemessener Lesegegenstand - und in dieser Funktion als würdiger Anlaß zu subjektiven Erfahrungsberichten - angesehen wurden. Daran schließt das andere Problem an, daß die in Autobiographien und Korrespondenzen gelegentlich überlieferten Schilderungen in ihrem Aussagewert und in ihrer Repräsentativität schwer einzuschätzen bleiben. Mehr oder weniger bewußte Stilisierungen, Wahrnehmungsverzerrungen bei lange zurückliegenden Leseerlebnissen und vor allem die überproportionale literarische Bildung deijenigen, die solche Berichte hinterließen, machen die Frage, mit welchem Fiktivitätsbewußtsein die als Historien kaschierten Romane durchschnittlich gelesen wurden, aus solchen Quellen schwer ergründbar. Ähnliche Schwierigkeiten bereitet die Bewertung von Leserdarstellungen in literarischen Texten. Hierzu gibt es schon seit längerem motivgeschichtliche Arbeiten, die sich jedoch naturgemäß schwer tun, die quantitative Repräsentativität literarisch entworfenen Leseverhaltens zu beurteilen.142 Ist zum Beispiel der Don Sylvio als Indiz zu werten dafür, daß illusionäres Lesen in den 1750er Jahren in bestimmten 'schwärmerischen' Kreisen verbreitet war, und ist Wielands Roman daher als eine Leserdidaxe zu bewerten? Auch die Lesewut-Debatte, die ja von sehr verwandten Vorstellungen über Leser durchzogen ist, gibt hier wenig verläßliche Auskunft, weil kaum kalkuliert werden kann, wie sehr das schwärmerisch-empfindsame Lesen dort nur als Argument stilisiert wird, um die Gefährlichkeit der inkriminierten Romane zu erweisen. 142 Siehe hierzu etwa Kurth: Die zweite Wirklichkeit; Wuthenow: Im Buch die Bücher; Japp: Das Buch im Buch, und jetzt vor allem Bracht: Der Leser im Roman des 18. Jahrhunderts. Zur Quellenkritik siehe auch Schön: Verlust der Sinnlichkeit, 308312.
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Die Romanrezensionen, die ja zumindest den Vorteil haben, unmittelbare Reaktionen auf Lektüreeindrücke wiederzugeben, vermitteln insgesamt eher den Eindruck, daß die Täuschungserfolge der Romanciers in der Frage der Fiktivität gering waren. Schon in den relativ wenigen Kritiken aus der ersten Jahrhunderthälfte finden sich eindeutige Belege für die Fiktivitätsentlarvung. Jedoch gilt auch hier zu berücksichtigen, daß die Rezensenten oftmals professionelle, wenigstens aber sehr geübte Leser waren. Und vor allem standen sie vielfach in der humanistisch-rhetorischen Gelehrtentradition, deren Literaturverständnis der Frage der Fiktivität noch keine hervorragende Bedeutung beigemessen hatte. Doch immerhin gibt es auch Belege, die den Schluß zulassen, daß doch größere Teile der Romanleserschaft den Historizitätsfiktionen zumindest vorübergehend auf den Leim gegangen sind. Der oben zitierte Beleg für die Glaubwürdigkeitsbescheinigung gegenüber dem ersten Teil des Americanischen Freybeuters143 ist hierzu von besonderer Bedeutung, weil der Rezensent zugleich durchaus die Nähe dieses Textes zu nicht wenigen anderen von dieser Art betonte, die nur einen angenehmen Zeit-Vertreib verschaffen sollten.144 Andererseits wird aber nicht nur in etlichen Beispielen dokumentiert, daß die Fiktionen von den Rezensenten leicht durchschaut wurden, sondern sogar, daß diese Fiktivität des Textes nicht unbedingt ein Grund zu seiner Verurteilung war. In einer Ρα/ne/e-Besprechung von 1741 hielt es der Verfasser ledigleich für nötig, auf diesen Status hinzuweisen: Der Verfasser dieser ertichteten Geschichte scheinet die Marianne des Herren 145 de Marivaux vor Augen gehabt zu haben. Mitunter war die Frage nicht einmal wichtig genug, als daß man sie nicht auf sich beruhen lassen und die Referentialität mit Hinweisen auf Wahrscheinlichkeit und die Normativität entwerten konnte: Daß weder die Frau Verfasserin der Historie des Grafen von Duglas, noch auch der Hr. Uebersetzer derselben sich recht deutlich erklärten, ob es eine wahre Begebenheit, oder eine bloße Erfindung sei, hielten schon 1744 die Freymüthigen Nachrichten von Neuen Büchern nicht für so entscheidend, wenn nur die Regeln der Vernunft und guten Sitten niemals übertreten und das Wahrscheinliche allenthalben gewahrt bliebe.146 In solchen Äußerungen wurde vollständig auf die qua Wahrscheinlichkeit zu realisierende Strukturäquivalenz zwischen Realität respektive Realitätsbeschreibung und Fiktion vertraut. 143
Siehe oben S. 105 FGZ 1742, 422 (so viel müssen wir jedoch derselben [Schrift] nachrühmen, daß sie allerdings würkliche geschehene Dinge darzustellen scheinet). 145 GZGS 1741, 129. 146 FN 1, 1744, 257. 144
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Demgegenüber wird aber wiederum schwer verständlich, warum die Romane bis ins späte 18. Jahrhundert immer noch die Beglaubigungstechniken anwendeten, wenn doch manches dafür zu sprechen scheint, daß die Leser, wenn auch vielleicht nicht sofort, so doch schon nach der Lektüre weniger Texte in der Lage waren, deren Fiktivität zu durchschauen. Die Frage nach dem Fiktonsbewußtsein der Zeitgenossen ist eine, die aus der historischen Distanz und aus der Sicht eines Faches, das zunehmend bemüht ist, seinen Gegenstand über den Fiktonsbegriff zu bestimmen, leicht falsch gestellt wird. Ohne Berücksichtigung der geschichtlichen Dimension des Gegensatzes von Fiktion und Realität lassen sich die Zeugnisse über den Umgang mit erfundenen Geschichten, die sich als faktisch wahr ausgaben, nicht erläutern: Denn diese Opposition stellte sich (noch) nicht oder hatte kein besonderes Gewicht in einem Weltbild des universalen Bedeutungs- und Verweisungskontextes. Wo jeder Gegenstand als Zeichen gewertet werden konnte im metaphysischen Gesamtzusammenhang, war in bezug auf die faktische Erscheinungswirklichkeit kein ausgezeichneter Wahrheitswert zu beanspruchen. Mochten auch in der Lebenswelt schon immer einzelne Aussagen mit richtig oder falsch, wahr oder erlogen gekennzeichnet worden sein, eine strenge Trennung zwischen tatsächlichen und erfundenen Geschichten war selbst im Alltag nicht möglich, solange Wunder und Erscheinungen zur Erfahrungswirklichkeit gehörten.147 Die sich uns heute als ontologisch gegeben darstellende Opposition von Fiktion und Realität erhielt ihre scharfe Kontur erst durch die verbindliche Dominanz des 'post-newtonschen' naturwissenschaftlich geprägten Weltbildes, das gerade durch die Aufklärung - und zwar nicht unwesentlich durch den Roman, aber auch durch die moralischen Wochenschriften - etabliert wurde. Für die Literaturtheorie des 17. und 18. Jahrhunderts war es durchgehend kein besonderer Makel an Dichtung, erfunden zu sein, selbst wenn unter Wirkungsaspekten gelegentlich dafür plädiert wurde, lieber historische Stoffvorwürfe zu wählen. Deshalb spielte der Begriff der fictio in der Rhetorik eine recht unbedeutende Rolle.148 Bei all denjenigen Zeitgenossen, die also mit der poetologischen Theorietradition ein wenig vertraut waren, muß einerseits Fiktionswissen unterstellt werden, andererseits wurde diesem Sachverhalt nicht annähernd soviel Gewicht beigemessen wie der Literarhistoriker vermuten könnte, den die Fiktionstheorie längst unterrichtet hat, daß die Opposition von Wirklichkeit
147
Siehe hierzu etwa Habermas: Wunder, Wunderliches, Wunderbares. Wright hat fur die englischen Mittelschichten einige Beispiele dafür gesammelt, daß Leser Fortunata t Doctor Faustus, Amadis oder englische Ritterromane uneingeschränkt för wahr hielten (siehe Wright: Middle-Class Culture in Elizabethan England, 86f.). Siehe etwa Lausberg: Handbuch der Rhetorik, Registerband, 704f.
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und Fiktion zu den Elementarbestanden unseres 'stummen Wissens' gehört.149 Obwohl die Literaturtheorie der Fiktivität keine große Beachtung schenkte, wurde in vielen Rezensionen bis in die 1790er Jahre immer wieder die Frage der Erfundenheit einer Geschichte erwähnt - vielfach allerdings mit der Geste der Relativierung, der Versicherung, daß es nicht so entscheidend sei, ob eine Handlung erfunden sei oder nicht, wenn sie nur die Bedingungen der Vernunft, also die Regeln von Wahrscheinlichkeit und Tugend, erfülle.150 So wurde jene Verwischung der Grenze zwischen Fiktivität und Realität verlängert und statt dessen der Gegensatz von Phantastik und Wahrscheinlichkeit profiliert. Die Häufigkeit, mit der die Fiktivitätsfrage thematisiert wurde, indiziert aber auch, daß Fiktivität zunehmend als ein mögliches Problem wahrgenommen wurde. Es ergibt sich somit ein widersprüchliches Bild. Die erfolgreiche und deshalb schnell überwiegende Form der Romane beugte radikalen Fiktivitätsvorbehalten vor, obwohl man davon ausgehen muß, daß keineswegs alle Romanleser seit 1719 mit einem Schlag erfundene Geschichten verurteilten. Bahnbrechenden Erfolg hatte der neue Roman nicht allein, weil er die Fiktivität der Geschichte kaschierte, sondern weil er ein breiteres Spektrum von Leserbedürfnissen abdeckte - vom Angebot sozial 'näher stehender' Identifikationsfiguren, von aufschlußreichen und nützlichen Sachinformationen, der Erfüllung von strengen moralischen Ansprüchen bis hin schließlich zur Berücksichtigung und Bestätigung von Fiktivitätsvorbehalten. Diese breite Angebotsmischung sprach mehr Leser an, als durch die vornehmlich wegen ihrer erotischen Einfarbungen inkriminierten galanten Romane erreicht wurden. Das heißt, daß man sich weder von den viel diskutierten fiktivitätskritischen Feldzügen aus radikal-protestantischer oder pietistischer Richtung noch von der augenfälligen Praxis der Fiktivitätsverschleierung durch die Romane täuschen lassen darf: für die Mehrheit der Leser hatte die Kategorie der Fiktivität in der ersten Jahrhunderthälfte keine herausragende Bedeutung. Das änderte sich allmählich durch die fortschreitende, auch lebensweltliehe Bekanntschaft mit einem rationalistisch-naturwissenschaftlich geprägten Wirklichkeitsbild. Aus der zunächst relativ geringen Relevanz des Gegensatzes von fiktiv und faktisch in der Breite der Leserschaft ergibt sich jedoch noch nicht, über welche Kompetenz sie im Enttarnen verschleierter Fiktionen verfügte. Diese Frage muß auch wenigstens in ihren quantitativen Dimensionen weitgehend offen bleiben, dennoch ist unzweifelhaft, daß sich wenigstens einzelne Leser von den Faktizi149 150
Iser: Akte des Fingierens, 121. Neben den schon zitierten Beispielen siehe etwa auch GZGS 1748 (274f.), wo Cla-
rissa als ein neuer vermutlicher Roman angezeigt wird, in dem die genaueste Wahrscheinlichkeit beobachtet, und nicht das geringste Romanenhafie Wesen in die Begebenheiten eingemischt sei.
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tätsfingierungen in die Irre führen ließen.151 Und unter diesen Lesern gab es sicher ebenso welche, die, wesentlich in protestantischem Umfeld lebend, radikale Vorbehalte gegen erfundene Geschichten hegten, Romane also nur deshalb lasen, weil sie sich als solche nicht zu erkennen gaben. Auf diese radikale Randposition des Spektrums von Rezeptionshaltungen im 18. Jahrhundert, wie groß sie auch immer gewesen sein mag, hat sich die hier angeführte Rekonstruktion in idealtypischer Abstraktion bezogen, indem sie der Frage nachging: wie konnten diejenigen, die ontologisch begründete Vorbehalte gegenüber fiktiven Texten hatte, durch Romane dazu veranlaßt werden, auch dann noch Romane zu lesen, als sie deren Faktizitätsfingierungen zu durchschauen lernten? Taten also die Romane, die mit den raffiniertesten Beglaubigungstechniken erst solche Leser erfolgreich gewonnen hatten, etwas dafür, diesen Erfolg dauerhaft zu sichern? Die Verhältnisse bei den realen historischen Rezeptionshaltungen dürften recht kompliziert gewesen sein. Man muß mit mehreren variablen Größen rechnen: sowohl die Bedeutung der Opposition von Fiktivität und Realität als auch die Rezeptionskompetenz der Leser zur Identifikation von Fiktivität stieg ganz allmählich. Diese beiden Entwicklungslinien müßten nun noch mit ganz unterschiedlichen Lesern verknüpft werden. Während bei den literarisch vorgebildeten Lesern das Fiktivitätsbewußtsein größer gewesen sein dürfte, ihr Urteil über die Texte aber kaum beeinflußte, ließen sie sich zum Teil ebenso von den Beglaubigungstechniken täuschen wie die erst neu hinzugekommenen Leser.152 Aufgelöst werden können diese Widersprüche nur durch eine eingehendere Klärung des Begriffs 'Fiktivitätsbewußtsein'. Denn bei genauerer Prüfung ergibt sich, daß das traditionelle Wissen um die Erfundenheit der Dichtung noch nicht zusammenfallt mit dem, was sich Fiktivitätsbewußtsein nennen ließe. Überspitzt formuliert: obwohl viele Rezensenten schon früh die sich als Historien maskierenden Romane als Fiktionen durchschauten, war ihr Fiktivitätsbewußtsein - als eine Realisierung der Differenz zwischen der realen und einer fiktiven Welt noch weitgehend ungeschärft. Das läßt sich an sehr unscheinbaren Details in den Rezensionen ablesen, die in den Formulierungen oft nicht das Wissen um den modalen Status einer erfundenen Figur kennzeichnen. So heißt es in den Freymathigen Nachrichten von 1745 über Aulnoys Warwick:
151
Einige biographische Belege - auch für das spätere 18. Jahrhundert - hat Möller gesammelt, Die kleinbürgerliche Familie (258-269); zum Vergleich siehe auch den englischen Kontext des 17. Jahrhunderts bei Wright: Middle-Class Culture, 86-110. Kayser berichtet, daß Geliert von adligen und bürgerlichen Lesern um die Adresse seiner 'schwedischen Gräfinn von G**' bestürmt worden sei. (Die Wahrheit der Dichter, 14)
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Wahrscheinlichkeit und Illusionsbildung Der Held ist der Graf von Warwick, die Heldin die Gräfin von Devonshire, deren Schönheit so viele Anbeter gefunden, als derselben ansichtig worden sind. 153
Zweifellos ist sich der Rezensent über den fiktiven Charakter der Handlung dieses Romans im klaren154, dennoch stört seine Formulierung mit keinem Anzeichen den Eindruck, daß es sich um reale Personen handele. Dies ist nun kein ausgesuchtes Beispiel einer einzelnen ungeschickten Wendung, sondern deckt sich mit der durchgängigen Lektüreerfahrung an Romanrezensionen des 18. Jahrhunderts. Ein markantes Indiz für ein noch wenig geschärftes Bewußtsein für die Differenz von Fiktivität und Realität ist auch, daß in den Rezensionen oftmals noch die personengebundenen Respektformen den Figuren zugebilligt werden: Einmal auf einer Seite (S. 64) wertherisirt der Held des Romans, Hr. Kramer .155 ein wenig.
Demgegenüber ist in einer Wilhelm-Meister-Kxitik von 1795 wie selbstverständlich schlicht von Meister die Rede156 - sowie es allmählich insgesamt üblich wurde, den fiktionalen Status literarischer Figuren noch im Sprechen über sie zu kennzeichnen. Damit korrespondierte eine allgemeine Tendenz einer zunehmenden Übung im Umgang mit der Fiktivität in literarischen Geschichten. So versuchte sich zum Beispiel Friedrich Nicolai am Ende des dritten Teils seines Nothankers gegen die 'Mitnahmeeffekte' durch fremde Autoren zu wehren, die Anschlußwerke zu seinem Roman publizierten und dabei dessen Erfolg ausnutzen wollten. Die Gewohnheit, die Texte anonym zu veröffentlichen, kam derartigen Versuchen sehr entgegen. Nicolai selbst hatte ja seinen Nothanker an Thümmels Wühelmine sozusagen heranfingiert, in welcher der Magister Nothanker eine recht wichtige Rolle spielte. Nun hatten aber fremde Autoren versucht, bestimmte in Nicolais Roman erwähnte Aufzeichnungen Nothankers als eigene Publikationen zu vermarkten. Bezeichnenderweise versuchte sich Nicolai dagegen unter Wahrung und Benutzung der Fiktion zu wehren, indem er die aus der 153 154
155
156
FN 2, 1745, 20. Auf das Zitat folgt der Satz: Beyde läßt die Verfasserin ein trauriges Ende nehmen, aber so, wenn ihre Absicht nicht wäre, die Strafe einer verbottenen Liebe zu zeigen, sondern vielmehr ein Mitleiden mit unglücklichen Liebhabern zu erwecken. (Ebenda) EGZ 9, 1772, 676; in einer Amalie-Rezension ist außer von Herrn Fielding von Hr. Booth und der Jungfer Mathews, von Frau James, ihrem Mann, dem Obersten James, Hr. Atkinson und Madame Bennet die Rede (FN 9, 1752, 197ff.) Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes, 1795, 187.
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Geschichte Nothankers sich ergebende Unmöglichkeit darstellte, daß diese Publikationen authentisch seien. So rückte Nicolai am Ende des zweiten Teils die zuverlässige Nachricht von einigen nahen Verwandten des Hrn. Magister Sebaldus Nothanker. Aus ungedruckten Familiennachrichten gezogen, ein, worin es dann unter anderem heißt: Diese Familiennachrichten dem Publikum mitzutheilen, wird man veranlasset durch die Schrift betitelt: Predigten des Herrn Magister Sebaldus Nothanker, aus seinen Papieren gezogen. Leipzig in der Weygandischen Buchhandlung 1774. 8. Dabei wird nun im einzelnen 'nachgewiesen', daß diese Publikation nicht authentisch sein könne.157 In diesem ironischen Spiel tritt ein geübtes Bewußtsein im Umgang mit Fiktionen zutage, das in der Lage war, mit verschiedenen fik158
tionalen Ebenen zu jonglieren. Gerade auf diesen Übungseffekt aber, der sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts mit deutlicher Zunahme abzeichnet, kommt es hier an. Denn Fiktivitätsbewußtsein bekam historisch erst seine Bedeutung durch die Aufwertung des Gegensatzes von Fiktivität und Realität, aus dem sich die Option ergab, im Rezipieren zwischen der Betonung der referentiellen oder der binnenfiktionalen Aspekte eines Textes zu wechseln. Der Blick auf die literarischen Geschichten hatte sich verändert. Um die Fiktivität einer literarischen Geschichte zu wissen mochte viel bedeuten, wenn man überzeugt war, nur aus tatsächlichen Geschichten nützliche Informationen zu erhalten, aber es bedeutete, wenig in dem Sinne jenes 'stummen Elementarwissens', solange es kaum genaue Vorstellungen darüber gab, was denn diese Differenz eigentlich ausmacht. Die Einsetzung der Wahrscheinlichkeit als Äquivalenzbezug auf eine von Gesetzen geregelte Natur konnte nur erfolgreich sein, weil die Gegensätzlichkeit von fiktiv und real noch nicht die Schärfe besaß, die wir heute in ihr sehen. Umgekehrt mußte die Schärfung dieses Differenzbewußtseins die spezifische Verschleierung der Grenze zwischen Fiktivität und Faktizität beseitigen, wie sie im 18. Jahrhundert über die Wahrscheinlichkeit organisiert war: die schließlichen Polemiken gegen die wahrscheinliche Literatur waren nur die schlüssige Folge. Schon fur das frühe 18. Jahrhundert muß mit einem ganzen Spektrum möglicher Rezeptionshaltungen gegenüber Romanen gerechnet werden, von denen sich drei recht deutlich gegeneinander abgrenzen lassen. Am einen Ende eines solchen Spektrums wären die Leser der galanten Romane anzusiedeln, Leser also, die überwiegend Fiktivitätswissen hatten, aber weder dies noch bestimmte Kriterien der Tugendhaftigkeit bewertend auf die Romane anwandten. Eine mittlere Position käme den Lesern zu, die, mit der rhetorischen Exempellehre 157
[Nicolai:] Nothanker 2, 253, 263. An die bekannten Beispiele solches virtuosen Spiels bei Wieland, Sterne, Diderot braucht hier nur erinnert zu werden.
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vertraut, 'moralische' Romane fur erfunden hielten, galante aber nicht lasen, weil nur 'nützliche Lektüre' ihnen gerechtfertigt erschien. Auch Leser aus dieser Gruppe haben sich von den Faktizitätsversicherungen der verschleierten Romane täuschen lassen, dürften aber vermutlich schnell in der Lage gewesen sein, die meisten solcher Texte als fiktiv zu entlarven.159 Am anderen Ende des Spektrums stünde die Gruppe von Lesern, die Vorbehalte gegenüber den erfundenen Romanen hatten und gerade erst als Romanrezipienten hinzugewonnen werden konnten, weil sie die Faktizitätsversicherungen des neuen Romans zunächst nicht durchschauten. Zwischen diesen Positionen gab es natürlich Übergänge und Zwischenstufen. Für dieses Spektrum der Rezeptionshaltungen galten nun im Verlauf des Jahrhunderts die beiden folgenschweren Entwicklungen des kontinuierlichen Bedeutungsgewinns eines faktenbezogenen neuen Weltbilds, gegen das sich Fiktionen immer schärfer konturierten, und der gleichzeitig zunehmenden Fähigkeit der Leser, Fiktivität zu durchschauen. Erst diese gegenläufigen Tendenzen schufen den Rahmen, in dem die Aufwertung binnenfiktionaler Kohärenzen eine funktionale Entlastung bot. Je mehr Tatsächlichkeit zum entscheidenden sinnund wahrheitsverbürgenden Kriterium wurde, desto mehr muBten die Texte, die vorgaben, von der Wirklichkeit zu sprechen, Ersatz anbieten für den nicht mehr glaubhaften Referenzbezug. Erst in der Aufmerksamkeit auf die Binnenrationalität, die die Fiktionen zu einem 'Ganzen' werden ließ, profilierte sich in der Wahrnehmung der Rezipienten die Differenz zwischen Fiktivität und Realität. Dabei macht die historische Genese des Fiktivitätsbewußtseins im 18. Jahrhundert deutlich, daß allein die Abgrenzung gegen 'die Wirklichkeit' den Fiktionen ihre spezifische Eigenart verleiht, in welcher sie durch den Leser erst realisiert wird, indem er den spielerischen Wechsel zwischen referentiellem Anschluß an die Realität und der fiktionalisierenden Entgegensetzung zu ihr probt. Fiktivitätsbewußtsein fallt also nicht zusammen mit dem Wissen, daß eine erzählte Geschichte erfunden ist, sondern tritt erst in einer spezifischen Bedeutung in Kraft, wenn dieses Wissen vor dem Bewußtseinshintergrund realisiert wird, daß es sich hierbei um eine distinktive Differenz handelt. Am Genre des historischen Romans etwa zeichnen sich die beiden grundsätzlichen Möglichkeiten besonders markant ab, ihn entweder referentiell, also im Anschluß an das eigene geschichtliche Wissen von 'der Wirklichkeit' zu lesen oder aber fiktional, also gerade im Kontrast zu dieser Wirklichkeit. Obwohl beide Rezeptionsformen sich diametral widersprechen, schließt sich nicht einmal ihrer beider Anwendung auf denselben Text in einem Lesedurchgang aus - allerdings bleiben es zwei Vorstel159
Die Lettres Portugaise (1669) zum Beispiel hielten auch geübte Leser vielfach lur authentisch.
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lungsakte, deren Unterschiedenheit dem Rezipienten bewußt ist, selbst wenn er vielleicht nicht in begrifflicher Schärfe darüber Rechenschaft zu geben vermag. Erst eine spezifische Form der Lektüre läßt also aus einer Geschichte einen fiktionalen Text werden. Denn was sich am historischen Roman so deutlich zeigt, war das grundsätzliche Ergebnis eines veränderten Umgangs mit Romantexten im 18. Jahrhundert, die ebenso an der Grenze zu historisch 'authentischen' Textsorten standen. Und so dürfte es für alle literarischen Texte gelten, daß sie nicht fiktional 'sind', sondern fiktional gelesen werden. Im Laufe der Literaturgeschichte hat es immer wieder Versuche gegeben, die Texte selbst so zu gestalten, daß keine andere als eine fiktionale Lektüre mehr möglich wäre. Jeweils berechnet auf eine bestimmte Leserschaft, ist dies auch möglich, bedeutet aber ebenso das Risiko, eine Vielzahl von Lesern zum Lektüreabbruch zu bewegen - man denke etwa an Rann O'Briens At Swim-Two-Birds (1939). Ohne die Unterscheidung zwischen einem generellen Wissen um literarische Fiktivität und einer konkreten, auf Fiktivität bezogenen Lektürekompetenz gerät die literarhistorische Recherche in Gefahr, den Beginn von fiktivitätsbewußter Lektüre immer früher in der abendländischen Literaturtradition auszumachen. Aber auch, wenn man den Blick auf dasjenige Jahrhundert richtet, in dem zuerst breite Leserschichten sich mit der Frage der Fiktivität von Literatur konfrontiert sahen, gerät man leicht in Gefahr, eine anfangliche 'Illegitimität' der Fiktion zu konstruieren, die schließlich Roman und Leser im Abschluß eines 'fiktionalen Vertrages' überwunden hätte.160 Möglicherweise gab es Leser, welche allein wegen moralischer Bedenken die Romane verurteilten und dann sich bald zur Lektüre von Pamela und Oarissa überreden ließen. Solche Rezipienten hätten sich vornehmlich durch moralische Wahrheitswerte der Texte zur Überwindung ihrer Vorbehalte motivieren lassen, weniger durch erzähltechnische Verfahren, die in irgendeiner Weise mit dem Wahrscheinlichkeitsprinzip zusammenhängen. Tatsächlich bestand noch lange Zeit ein kompensatorisches Verhältnis zwischen Wahrscheinlichkeit oder Tatsächlichkeit einerseits und der Fabelmoralität andererseits.161 Auch dauerte es noch sehr lange, bis die ethischen Standards als, wenn auch nicht interessanteste, so doch höchstrangigste Beurteilungskriterien außer Kraft gerieten.162 Aber 160
Siehe hierzu Assmann: Die Legitimität der Fiktion, bes. 108-155 - wobei jedoch betont werden muß, daß die Verhältnisse in England etwas anders zu bewerten sind. Musäus lobte in der ADB 1772 das Fräulein von Sternheim mit folgender Formulierung: der V. hat, wie es uns vorkommt, die poetische Fiction oft gelenkt und auch zuweilen über das Gebiete der Wahrscheinlichkeit hinausgeßihrt, oder mit dem Hrn. WJieland] zu reden, die V. hat die Autorkünste weniger in Betrachtung gezogen, als die moralische Nützlichkeit ihres Plans. (ADB 16, 1772, 474) Das erste vehemente öffentliche Gefecht um den Einfluß als Bewertungskriterium zwischen Moral und 'literarischer Wahrheit' war die Werther-Debatte, die in der
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selbst fur solche Leser, denen die ontologischen Vorbehalte gegenüber literarischen Texten nie besonders wichtig waren, gilt, daß durch Organisation des Wahrscheinlichkeitseindrucks die Texte eine immanente Rationalisierung erfuhren, welche aus ihnen in den Augen der Rezipienten einen je eigenen Zusammenhang werden lassen konnte, der mehr war als allein die Exemplifizierung einer abstrakten Weisheit und der in seiner Eigenrationalität als ein solcher Kontext gerade in Abgrenzung zu 'der Wirklichkeit' konstituiert werden mußte. Schließlich aber sind die hier thematisierten, mit dem Wahrscheinlichkeitsbegriff zusammenhängenden Erzählverfahren nicht der einzige Weg dieser Umverlagerung gewesen, vor allem ein anderer ist noch zu erörtern, der gerade für diejenigen Leser besondere Bedeutung hatte, welche mehr auf das prodesse als auf das delectare sahen.163 Vermutlich überschätzten die Autoren die Verbreitung von weitreichenden Bedenken gegenüber fiktiven Geschichten infolge des öffentlichen Feldzuges gegen Romane in den moralischen Wochenschriften, so daß es zu der realen Vorherrschaft jener fiktivitätsverschleiernden Fingierungstechniken in den mittleren Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts kam. Das bedeutet aber auch, daß der Weg, auf welchem eigene Wahrheitswerte des Romans in der Breite akzeptabel wurden, in der oben skizzierten Weise beschrieben werden kann. Der zunehmend geltend gemachte eigene Wahrheitswert der Romane blieb aber unabhängig von referentieller, faktischer Wahrheit. Wurde also einerseits mehr und mehr die Kompetenz der Leser zur Fiktivitätsentlarvung geschärft, und bekam andererseits der Gegensatz von fiktiv und faktisch immer größere Bedeutung, so schlugen diese Tendenzen nicht in eine massenhafte Fiktivitätsverurteilung um, weil jene internen Wahrheitswerte längst zur Kompensation eines nun wahrnehmbaren ontologisches Wahrheitsdefizits zur Verfügung standen. Daß die Geltendmachung textinterner Wahrheitsansprüche im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zunehmend akzeptiert wurde, belegt allerdings nicht nur eine Fülle von Romanrezensionen, sondern ist auch die Auffassung des herrschenden Forschungsstandes, der diesen Sachverhalt in fiktionstheoretischen Termini gern als das systematische Charakteristikum von Dichtung überhaupt konstatiert.164 Das Anliegen dieser Untersuchung besteht also nicht in dem Nachweis solcher Kohärenzen, sondern im logischen Nachvollzug ihrer Genese. Erst die
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ersten Rezeption der Lehrjahre in abgeschwächter Form eine Wiederholung erfuhr. Siehe Gille: Wilhelm Meister im Urteil seiner Zeitgenossen, hier bes. 51-93. Siehe Teil 2. Die besondere Rolle des Romans hierbei hat zuerst Blumenberg systematisch begründet, der die gleichsam 'epische' Struktur des neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriffe eines 'einstimmigen Kontextes' herausstellte (Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, ISf.)
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Frage nach dem Wie der Geschichte dieser autonomen Wahrheitswerte gestattet einige Präzisierungen sowohl gegenüber der schlichten dichtungstheoretischen Proklamation solcher literarischer Welten des 'Als-Ob' als auch umgekehrt gegenüber der Auflösung jeder 'poetischen Wahrheit' zum Diskurseffekt, zur alleinigen Wirkung von Selbstproklamationen der Texte oder von äußeren Zuschreibungen eines Kunstdiskurses, schließlich aber auch gegenüber Versuchen, die Autonomie oder die Fiktivität von literarischen Texten zu bestreiten.165 Die ledigliche Rekonstruktion der 'Logik' der Entwicklung soll der Schwierigkeit Rechnung tragen, daß die quantitativen Dimensionen der Veränderung solcher Wahrheitsansprüche und der mit ihnen korrespondierenden Rezeptionsformen kaum bestimmbar sind. Das heißt unter anderem, wenn auch die Rezeption von erfundenen Romangeschichten als stimmiger Kontexte gegen Ende des 18. Jahrhunderts unbestreitbar ist, so kann ebenfalls nicht geleugnet werden, daß viele Rezipienten in ihrem Rezeptionsverhalten weiterhin textexterne Referenzen den Fabeln zugeordnet haben. Hier spielt eine Fülle von soziologischen Größen wie etwa Bildungsstand, Lesekompetenz, Zugang zu Büchern oder freie Zeit eine Rolle, denen in dieser Arbeit nicht eigens nachgegangen wird. Was hier dagegen beschrieben werden soll, ist eine paradigmatische Bewegung, die in derselben Form im Verlauf der Moderne auch in anderen sozialen Gruppen wieder stattgefunden haben dürfte, nämlich immer dann, wenn zunächst stigmatisierte Elemente an bestimmten Textsorten zu gattungs- oder genretypischen Konstanten umgewertet werden, jenseits derer sich erst der spezifische Eigenwert, die Individualität des einzelnen Textes ausmachen und beurteilen lasse. Nicht die quantitative Relevanz der Entwicklung ist daher für die Argumentation vorrangig, sondern ihre immanente Konsequenz. Dabei durfte jedoch nicht nur auf den 'Höhenkamm' von Literatur und Poetologie gesehen werden, der' vielfach zu sehr den humanistischen Traditionen verpflichtet blieb, um einen Blick auf die von dem entscheidenden literarischen Ereignis des Jahrhunderts freigesetzen Dynamiken zu gestatten: dem Gewinn einer neuen Leserschaft. An den Fragen der literarischen Wahrscheinlichkeit sollte deutlich werden, daß, wer sich überhaupt auf die Lektüre von Geschichten einließ, früher oder später in die Versuchung geriet, die textinternen Stimmigkeiten höher zu bewerten als die textexternen Bezüge - den Anschlußkontext also, innerhalb dessen sich die Stimmigkeit einer Handlung erweisen sollte, allein aus den im Text gelieferten Informationen herzustellen, anstatt diesen Kontext mit dem eigenen Weltbild gleichzusetzen.166 Gerade die Herausbildung einer solchen Kompetenz vollzogen 165 166
Siehe etwa Seiler: Leidige Tatsachen, 58. Lessing formulierte diese Umverlagerung der Wahrheitsansprüche so: Aus diesen wenigen Gliedern [die der Dichter aus dem weisen und gerechten, ewigen unendli-
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große Teile des neu hinzugewonnenen 'bürgerlichen' Publikums im 18. Jahrhundert - soviel läßt sich auch ohne die von der Quellenlage weitgehend verunmöglichten empirischen Recherchen über das Leserverhalten aus der Entwicklung des Marktes, der Texte und aus den Veränderungen der Rezensionen erschließen. Die Wahrscheinlichkeit schuf in der Textpräsentation dem Leser die Versicherung, daß diese Geschichte von seiner Wirklichkeit spreche. So konnten mit der 'Verwahrscheinlichung' der Texte dieselben Vernunftgesetze in Anwendung auf die Literatur kommen, welche auch zunehmend die Wirklichkeit zu erklären hatten. Die Gesetzlichkeit der Vernunft avancierte damit zur organisierenden Größe der literarischen Texte, deren Fiktivität im Kontrast zu der Welt, die das ist, was der Fall ist, einerseits immer schärfer heraustrat und andererseits relativiert werden konnte, weil die Allzuständigkeit der Vernunft durch die rationalisierten Texte selbst dann nicht in Frage gestellt wurde, wenn sich deren Geschichten als erfunden erwiesen. So war es die aufklärerische Vernunft, gegen die der Text nicht mehr verstoßen durfte, und ihre Alleinherrschaft über Wirklichkeit und Fiktion wurde im Jahrhundert der Aufklärung durchgesetzt durch die Wahrscheinlichkeit, die damit von Anfang an den Rahmen vorgab, innerhalb dessen der gewichtiger werdende Gegensatz von Fiktivität und Realität entschärft werden konnte.167 Vorübergehend wurde dabei die Wahrscheinlichkeit sogar zur Tatsächlichkeits-Vorspiegelung der Texte radikalisiert. Währenddessen erfuhr das Lektüreinteresse eine Umlenkung auf die immanente Fabelrationalität. Damit wiederum ging es nicht mehr eigentlich um eine Wahrscheinlichkeit, sondern um die interne Stimmigkeit: die unendliche Vielfalt möglicher literarischer Welten war prinzipiell aufgerissen - und wurde allein noch durch eine allgemeine Normativität gebremst. chen Zusammenhang der Dinge nimmt] sollte er ein Ganzes machen, das völlig sich rundet, wo eines aus dem andern sich völlig erkläret, wo keine Schwierigkeit aufstößt, derenwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plan finden, sondern sie außer ihm, in dem allgemeinen Plane der Dinge, suchen müssen (Hamburgische Dramaturgie, Sämtliche Schriften 10, 120; 79. St.). Demgegenüber scheint die Dichotomisierung der Literatur als einer Abwertung der moralischen Bedenken gegenüber 'nutzloser' Lektüre ein eigener Untersuchungsgegenstand zu sein. Doch ob der 'nur' Unterhaltung suchende Rezipient nicht auch 'Wahrheiten' findet, ließe sich erst klären, wenn man genauer weiß, was eigentlich unterhält. Wenn nach spätaufklärerischer Vorstellung die 'Beteiligung der Seele' am Gelesenen das Interessierende ausmacht, dann würde der jeweilige Unterhaltungswert eines Textes in Abhängigkeit geraten von der Vorbildung, Erfahrung und dem WeltbUd des einzelnen Rezipienten. Zur Dichotomisierung siehe Beaujean: Der Trivialroman in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts; Bürger: Das menschliche Elend oder der Himmel auf Erden; Frels: Entstehung der bürgerlichen Unterhaltungskultur.
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Gegen die unter dem Banner der literarischen Wahrscheinlichkeit umfassend realisierte Herrschaft der aufklärerischen Vernunft aber richtete sich die Kritik der Romantik - zugunsten anderer Vernunftformen, die sich allerdings vielfach nur noch als Irrationalität präsentieren ließen. Doch erlaubt erst eine gewachsene Toleranz gegenüber der unendlichen Mannigfaltigkeit möglicher literarischer Welten einen solchen Verzicht auf literarische Wahrscheinlichkeit. Als Postulat konnte dies die Romantik formulieren, durchgesetzt hat sich solche Entbehrlichkeit des Wahrscheinlichen bis heute kaum. Eine Mehrheit von Lesern scheint noch immer vom Text die ostentative Zusage zu erwarten, von dieser Wirklichkeit zu sprechen. Die potentielle Umlenkung der Lektüreaufmerksamkeit von der äußeren auf die innere Wahrscheinlichkeit hatte der Erzählliteratur einen Möglichkeitshorizont eröffnet, der unbegrenzter war, als der Aufklärung lieb sein konnte. Gegen fortbestehende Begrenzungen dieses Horizonts unter recht vagen Wahrscheinlichkeits- und Normativitätsforderungen richtete sich die klassisch-romantische Invektive gegenüber der literarischen Wahrscheinlichkeit. Die geringfügig erscheinende Umbesetzung der Lektüreaufmerksamkeit von der textextemen auf die textinterne Wahrscheinlichkeits-Dimension war nichts anderes als die kulturhistorische Initiierung einer neuen Lektüreform, die es uns erlaubt, mit der fundamental gewordenen Differenz von fiktiv und faktisch problemlos umzugehen. So täuscht das wahrscheinliche Erzählen noch immer tendenziell über diese Grenze hinweg, an der uns, je präziser wir sie zu vergegenwärtigen versuchen, der 'Kopf zerspringt' - wie Heine es präzis beobachtet: Im Hirn spukt mir ein Märchen wunderfein, Und in dem Märchen klingt ein feines Lied, Und in dem Liede lebt und webt und blüht Ein wunderschönes, zartes Mägdelein. Und in dem Mägdlein wohnt ein Herzchen klein, Doch in dem Herzchen keine Liebe glüht; In dieses lieblos frostige Gemüt Kam Hochmut nur und Übermut hinein. Hörst du, wie mir im Kopf das Märchen klingt? Und wie das Liedchen summet ernst und schaurig? Und wie das Mägdlein kichert, leise, leise? Ich fürchte nur, daß mir der Kopf zerspringet, Und, ach! da wär's doch gar entsetzlich traurig, Käm' der Verstand mir aus dem alten Gleise.168 168
Heine: Sämtliche Schriften, 1, 69.
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Der Wettlauf zwischen Erzähltechnik und Lektürekompetenz - die neuen Glaubwürdigkeitseffekte des literarischen Charakters und das Ungenügen der Erzähllogik Führt der Charakter sich glücklich und konsequent durch, dann ist der Leser zufrieden. (Carl Nicolai)169
Die Umlenkung der Rezeptionsaufmerksamkeit von der textexternen zur -internal Wahrscheinlichkeits-Dimension war der entscheidende Schritt zur kulturhistorischen Herausbildung einer neuen Lektüreform. Anstoßen konnten die Texte diese Modifikation im Blick des Lesers mit zwei gleichzeitigen erzähltechnischen Verfahren. Zum einen wurde dem Leser die faktische Falsifikation textexterner Wahrheitsbezüge erschwert mit dem beschriebenen Prinzip der Lückenfiktion: Die Geschichte wird in die Bereiche eines allgemeinen Wirklichkeitsbildes hineinfingiert, über die kein konkretes Wissen verbreitet ist - ob es sich dabei um das 'pommersche Gut Lindenberg', irgendeine Südsee-Insel oder die Korrespondenz eines adligen Fräuleins handelt. Je mehr nun eine konkrete Überprüfung der äußeren Wahrheitsbezüge des Lesers verunmöglicht wurde, und je mehr zugleich die Differenz zwischen fiktiv und faktisch an Gewicht gewann, desto mehr lernten die Rezensenten, anhand von internen Relationen die 'Wahrscheinlichkeit einer Geschichte1 zu beurteilen, also eigentlich ihre Stimmigkeit. Deshalb geriet das andere erzähltechnische Verfahren, mit dem sich die Romane gegen das ontologische Defizit verteidigten, fortgesetzt unter Druck. Dies Verfahren bestand in der Stärkung der fabelinternen Rationalität. Was nun eine wahrscheinliche - im Sinne einer möglichen - Geschichte sei, wurde zunehmend nicht mehr an abstrakter Widerspruchsfreiheit gemessen, sondern an der 'Stimmigkeit' der Geschichte. Dies war wiederum eine Größe, die stets in Relation zur jeweiligen individullen Lektüregewohnheit und -kompetenz stand. So läßt sich beobachten, daß mit zunehmender Übung der routinierten Leser die Glaubwürdigkeit von Romanen immer wieder in Zweifel geriet. Während die Autoren sich im immer raffinierteren Erzählen intern ('pragmatisch') verknüpfter Geschichten übten, stiegen auf seiten der Rezensenten die Ansprüche ebenso stetig. Dieser Dauerkonflikt170 zwischen wahrscheinlicher Erzähltechnik und 169 Versuch einer Theorie des Romans, 109. So wurde etwa Hermes allgemein bestätigt, mit Sophiens Reise von Memel nach Sachsen den langerhofften deutschen Originalroman geschaffen zu haben. Gleichzeitig übten einige gewichtige Rezensenten aber gerade auch an diesem Text schwerwiegende Kritik, die sich sowohl auf die teilweise etwas eigenwilligen ro-
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Rezeptionskompetenz läßt sich an einem besonderen Vehikel zur Stützung eines nicht-referentiellen literarischen Wahrheitsanspruchs genauer verfolgen - dem literarischen 'Charakter'. An ihm wurden im Aufklärungsroman ganz neue Möglichkeiten des Erzählens entfaltet, während die sich fortschreitend übende Lektürekompetenz einiger regelmäßiger Leser auch immer wieder neue Glaubwürdigkeitsprobleme hervortrieb. Der literarische Charakter ist daher geradezu der Testfall der erzähltechnischen Modernisierung, des Wettlaufs mit der Rezeptionskompetenz, der auf ihrem höchsten Niveau jeweils die neuesten erzählerischen Verfahren zum Aufbau literarischer Wahrheitsansprüche nach kurzer Zeit schon nicht mehr genügten. So zeigt sich am literarischen Charakter als einem besonderen Einzelfaktor des Erzählens, wie die Erzählliteratur kontinuierlich versuchte, den faktischen Wirklichkeitsbegriff, von dem die Gefahren des Glaubwürdigkeitsverlustes der fingierten Geschichten ausgingen, zu relativieren und für den Umgang mit Romanen einem anderen Wahrheitsbegriff der internen Relationierung Geltung zu verschaffen. Der literarische Charakter erfüllte schon fur den Roman des 17. Jahrhunderts die Funktion einer kalkulierbaren Größe der Handlungskonstruktion. Schon die hohen Barockromane waren ihrem Fabelaufbau nach 'Maschinen', allerdings solche, die den Rezipienten ebenso undurchschaubar blieben wie den beteiligten Figuren.171 Bedingung des Funktionierens dieser Maschinen war sozusagen der Gleichlauf ihrer Räder, also die einheitliche Konstanz der Charaktere. Denn auf dieser Unwandelbarkeit basierte die auf der Identifizierbarkeit des Charakters aufsitzende Gerechtigkeit von Tugendlohn und Sündenstrafe.172 So drängte die Romanpoetologie seit dem Barock173 kontinuierlich auf einheitliche literarische
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mantheoretischen Vorschläge von Hermes beozog als auch auf Fragen der internen Handlungsverknüpfung. Bereits die Scudfrys benutzten die Maschinen-Metaphorik zur Charakterisierung ihrer Romane; siehe ausführlich etwa das Vorwort des Ibrahim. Siehe hierzu ausfuhrlich unten Kapitel 7. Veränderungen gab es bei den Charakteren des hohen Barockromans nur in Form von nachträglichen Enthüllungen eines 'eigentlichen' Charakters - oder von plötzlichen Umschwüngen, die sich allenfalls als christliche Bekehrungen begründen ließen. In Ziglers Banise, wo das Sujet christliche Bekehrungen kaum gestattete, ist der Prinz Zarang so eine Figur, die zunächst zu den Lasterhaften zu gehören scheint (und dementsprechend für Chaumigrem Partei ergreift), später aber ohne weitere Begründung auf der Seite der Tugend zu finden ist.
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Siehe für den Barock zum Beispiel Omeis: Gründliche Anleitung, 218: Es ist auch in acht zu nehmen/ dqß die Personen/ welche der Dichter einfllhret/ einerlei Gemüts-Regungen oder affectus behalten; und dqß/ der einmal als eine feige Memme! oder abstemius von der Liebe/ vorgesteüet worden/ nicht bald in einen tapfern General oder Erzverliebten verwandelt werde. Hunold schrieb 1713: Ein solch Gedicht
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Charaktere, eine Forderung, welche sich mit eher zunehmender Intensität fast durch die gesamte Aufklärung zieht. In der zweiten, der rationalisierten Phase der literarischen Wahrscheinlichkeit, wurde der Lehrsatz von der Beybehaltung der Character174 als ein Teil der Wahrscheinlichkeitslehre erörtert, denn die gewünschte stimmige Handlungsverknüpfung schien in den Charakteren instramentalisierbar. Überhaupt wurde die literarische Wahrscheinlichkeit hauptsächlich an den Charakteren realisiert. Achtet man auf die häufigsten Einwände gegen als unwahrscheinlich kritisierte Romane, so zielten kritische Beanstandungen sehr häufig auf das selbstwidersprüchliche Verhalten der Charaktere. Die feste Bestimmung des Charakters, der zunächst fast nur als Typus abgerufen worden war, 17S ließ die Fabel berechenbare konstante Größen gewinnen, ohne die keine Hoffnung bestand, dem Roman einen anderen als den Wahrheitswert der faktischen Beglaubigung sichern zu können. Durch die Konstanz der literarischen Charaktere entstand eine Kalkulierbarkeit in der unendlichen Fülle möglicher Begebenheiten, so daß die rezipierende Vernunft am Wechsel von Identität und Varianz in der literarischen Fabel allgemeine Gesetze abzulesen vermochte. Erst die Kontinuität der Charaktere brachte in die Varianz der Begebenheiten eine erschlieBbare Sinnstruktur, indem dem Rezipienten sich die Handlungsweise der Figuren schon anhand ihres Charakters erschließen konnte. Durch die Orientierungsfunktion der charakterlichen Stimmigkeit konnte den literarischen Geschichten rationale Aussagekraft verliehen werden. Dies gilt zu allererst für das im großen ganzen bis zum Ende des Aufklärungsromans herrschende Sinnversprechen von Tugendlohn und Sündenstrafe. In der Konstanz des Charakters gewann die schließliche Belohnung oder Bestrafung ihre Rationalität - und ihre didaktische Überzeugungskraft. Die Unterwerfung des literarischen Charakters unter die Anforderungen einer rationalisierten Wahrscheinlichkeit aber entfaltete des weiteren eine Dynamik, in welcher der Roman über die Wahrscheinlichkeit selbst - und damit über die Aufklärung - hinaus getrieben wurde. Zunächst hatte man die Übereinstimmung der Charaktere mit dem historischen Wissen über die Zeiten und Regionen gefordert, aus denen sie vermeint-
muß erbaulich seyn [...] durch die genaue Beobachtung des Characters der Personen. Die meisten Roman-Schreiber beobachten aber keines (Menantes Academische 174 175
Neben-Stunden, 57). Wie Bodmer diese Kunst der Romanautoren nannte (Critische Betrachtungen, 554, siehe auch 552). Siehe hierzu ausführlich Arnold (Von der Charakter-Beschreibung zur CharakterErzählung), der die Formen der Charakteristiken des 17. und des frohen 18. Jahrhunderts in Frankreich und England dargestellt (10-45) und die Entwicklungen dieser Textsorte dann in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts eingehend darstellt.
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lieh stammten. 176 Doch wichtiger und folgenreicher war die immer striktere Durchsetzung einheitlicher Charaktere. 177 Von den Fortschritten auf diesem Gebiet wurde auch der Rhythmus der Gattungsgeschichte des Romans bestimmt. 178 Obwohl die Robinsonaden den neuen Roman als Gattung durchsetzten und ihm dauerhaften Erfolg sicherten, machte sich die öffentliche Anerkennung des Romans in Deutschland erst mit der Rezeption von Richardsons Pamela bemerkbar. Nun wurde nachträglich auch der Werke Marivauxs und Prevosts lobend gedacht. Fragt man aber nach der bahnbrechenden Innovation von Richardsons Romanen, die stark genug war, einen Meinungsumschwung in den moralischen Wochenschriften einzuleiten, dann gerät man auf die forcierte Seelenintrospektion, die Auskunft über 'den Menschen' zu geben versprach. In den Journalen, in denen jahrelang die als galant identifizierten Romane geradezu anathematisiert worden waren, lieferten die ersten positiven Äußerungen über einzelne Exem179 plare der Gattung kein neues Argument. Das entscheidend Neue an den nun 176
Gottsched: zum ersten fordert man, daß ein Romanschreiber die Personen nach ihren Umstanden recht vorstellt, und ihnen nicht solche Characteres beylegt, welche von den wahren Beschaffenheiten der Zeit, in welcher sie sich befinden, abweicht. Allein eben hierin hat sich der Herr von Ziegler sehr vergangen. (Beyträge, 287) Ihr widersprach lange Zeit das Gebot von der linearen Einheit des Stils in Prosatexten; nach traditioneller Stillehre entsprachen den drei genera dicendi jeweils die ihnen angemessenen Gegenstände (und Personen). Erst die Überlagerung der ständischen durch die moralische Gliederung der Figuren ermöglichte dann eine konsequente Konturierung individueller Charaktere. Zur Stillehre des Barock siehe Fischer: Gebundene Rede, 147-183; Ueding: Steinbrink, Grundriß der Rhetorik, 9195, sowie 211-214. Von Loen betonte bezeichnenderweise explizit die Mischung des Hohen und Niederen im Redlichen Mann am Hofe (Die vertheidgte SittenLehre, 397). Als Beispiele siehe noch MDC 3, 1774, 236: Ueberhaupt hat der V. den Styl der Correspondirenden Personen nicht abstechend genug zu machen gewußt: man sieht aus der Einförmigkeit desselben, dqß alle Briefe aus derselben Feder sind. (Über Hallers Alfred) Die ADB beklagte noch 1788 an einem Briefroman, daß der kleinstadtische Philosoph, der Gesandte, der Oberaufaeher, das verlibte Fräulein und gar der Gärtner oder Hausverwalter alle in einerley Thone schrieben und sprächen. (ADB 46, 1781, 188) Das inzwischen gesteigerte Rationalisierungsniveau macht Neugebauers späte (1753) Kritik an der Asiatischen Banise zum Beispiel deutlich: Balacin, der grosse Kayser von Arakan, flucht öfters so, wie ein betrunkner Student. Chaumigrem endlich wird nicht immer als Tyranne, sondern auch vielmahl als ein völliger Narr vorgestellt, welches mit der von ihm bezeigten Staats-Klugheit auf die unnatürlichste Weise streitet. Welche Ungleichheit. (Der teutsche Don Qvichotte, 265) Alles, was zur Rechtfertigung angeboten wurde, paßte bruchlos in die traditionalen Konzepte von prodesse und delectare, auf die sich auch die meisten galanten Romane berufen hatten. Siehe etwa den Zeitvertreiber 1745, 324, 326. Die Erwähnung der Qelie von Scud&y dort entspricht dem Bedürfnis nach Traditional isierung des gelobten Neuen. Mit dem gleichen Zweck nun wurde auch oftmals der Telemach
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mehr werdenden abwägenden Urteilen über den Roman war, daß jetzt einigen Werken ihr moralischer Anspruch geglaubt wurde, daß man zunächst der Pamela und im Gefolge dann oft auch La vie de Marianne und Qeveland tatsächlich die Besserung der Leser zutraute. Dieser Glaubwürdigkeitsgewinn resultierte vor allem aus dem neuen Sujet der Romane. Indem in ihnen die Psyche180 der Figuren wesentlichen Anteil an der gesamten Geschichte gewann, war das Schwergewicht der Aufmerksamkeit bereits dahin verlagert, wo sich die moralische Besserung abspielen konnte - in die menschliche Seele. In Richardsons Briefromanen überschritten Erzählung und (Selbst-) Darstellung die Grenze zum Inneren der Charaktere, von den neuen Welten in der FerIUI
ne wurde der Blick abgewandt und in die Tiefe des Gemüts gelenkt, wo neue Welten mehr er- als gefunden wurden. Das durch diese Wendung eröffnete unbegrenzte Variierungs- und Differenzierungspotential brachte neben wieder barocken Romanlängen neuerlich das Problem der konstanten Charaktere an die Oberfläche. Als Genre insgesamt pointierte der Briefroman (unter Aussetzung des korrektiven Bezuges zwischen Erzähler und Figur) die Frage nach der Einheit des Charakters im 'Universum des Innern'. Sowie der Fokus der182 Geschichte auf die zärtlichsten und feinsten Bewegungen des menschlichen Herzens gerichtet wurde, zerfaserten die Konturen der literarischen Figur in der virtuell unendlichen 'Tiefe' des psychischen Binnenraums. Die Ausdifferenzierung und Individualisierung der Figuren schwächte deren moralisches Profil.
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erwähnt. Zur topischen Berufung selbst des galanten Romans auf das prodesse siehe auch Meyer-Krentler: Der andere Roman, lOf. Hier wie im folgenden nur als metaphorische Rede fur literarische Beschreibungen von fingierten Emotionen zu verstehen. Haller nahm an der Clarissa sehr genau die Verlagerung von äußerer in innere
Handlung wahr: daher stellen sie [die Briefe] die doppelte und zweifelhafte Seite der Sache [der im Brief behandelten Angelegenheit] vor; Ein jeder Brief enthält eine eigene absonderliche Verfassung des Herzens in sich, und so bekommen wir in einer Reihe von solchen Briefen die ganze ausführliche Geschieht eines Herzens, welche eben so viele Neuigkeiten und Wendungen in sich fasset, als die äusserlichen Fälle und Begebenheiten, die dazu Anlaß gegeben haben; sie filhren auch denselben Reiz mit sich, der nur feiner ist. (FN 6, 1749, 107) Dementsprechend lobte Haller die
neue Art von Weitläufigkeit, welche die Ausbreitung der Charaktere in der Reihe von Briefen liefere und die keinem feinen Verstand verdrießlich vorkomme. Dagegen wurden bereits die Geschichten herabgesetzt, die mehr von der Schilderung von äußeren Begebenheiten und äußeren Handlung lebten als von der Schilderung des
Herzens und seiner verborgensten Ήefen; Wie leicht ist dagegen die blosse Erzählung der Erschliessungen, die genommen werden, des Ausgangs den sie gehabt haben, der hauptsächlichen Ursachen, aus welchen sie geflossen sind; aber auch wie nacket, wie schwach und schläfrig, wenn die Glücks-Zufälle auch noch so abentheurlich erfunden sind, um die Neugier des Lesers aufzuhalten? (107f.) 182
[Neugebauer:] Der teutsche Don Qvichotte, 263f.
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War einerseits mit dieser Erschließung des 'inneren Universums' zum Romansujet für die Gattung unzweifelhafte Dignität gewonnen worden, so drohten durch die sich auftuenden Unendlichkeiten neue Schwierigkeiten aufzuleben. Sowie der Blick in den Charakter selbst gerichtet wurde, gab es keine sachlichen Begrenzungen des sich dort aufspannenden Horizonts mehr; dadurch verschwammen die Charaktere ineinander. Was in solcher literarhistorischen Beschreibung jedoch nur wie metaphorisches Wortspiel klingen mag, wurde im Verständigungsprozeß zwischen Text und Leser ein konkretes Problem, weil die Charakterisierung der literarischen Figur als mißlungen gelten mußte, sobald die Ausdifferenzierung der fingierten Seelen die Eindeutigkeit des moralischen Urteils untergrub. In dieser Gefahr stand bereits Pamela selbst, deren moralische Integrität vor allem in England durchaus in Zweifel gezogen wurde. 183 Die virtuelle Unendlichkeit der erzählerischen Individualisierung stellte erhöhte Ansprüche an die Konturierung der Charaktere, deren Eindeutigkeit und Konstanz (zunächst) unverzichtbare Bedingung für die Aufrechterhaltung literarischer Wahrheitsansprüche blieb. Aus einem anderen Blickwinkel zeichnet sich das Problem sogar noch schärfer ab: Die fingierte Autobiographie der Robinsonaden setzte die Einheit des Charakters voraus und konnte dagegen die Einheit der Handlung nur formal durch die äußeren Begrenzungen einer Lebensgeschichte 1 ti suggerieren. In der Pamela dagegen ist die Handlungseinheit einer einzigen Liebesgeschichte favorisiert - mit reziproker Steigerung der Kontinuitätsprobleme für den Charakter. Seit dem Auftreten der ersten Romane Richardsons war 'Charakter' zu einem der geläufigsten Kriterien der Romanbeurteilung geworden. Denn im Charakter 183 Auf die neuartige Virulenz des Problems deutet eifriges Lob der bewahrten Einheit in den mannigfaltigen Charakterzeichnungen in Richardsons Erfolgsroman ebenso wie die vereinzelte vehemente Kritik an einer mangelnden Kontinuität Pamelas: Unter den vielen GemOths-Charactern der mit in dem Drama begriffenen Personen ist nicht einer, der nicht unveränderlich durch das ganze Werk herschet und sich erhalt, so dqß wir eben nichtfllrschwer halten, bey einer jeden Seite zu sagen, welche Person den Brief geschrieben hatte. (GZGS 1749, 202, über Pamela) Eine Anti-Pamela lobte die FGZ mit den Worten: Ihre [der Hauptfigur] GemOths-Art bleibt in dem ganzen Buch einerley. (8, 1743, 11) In den FGZ wird der hauptsächlichste Vorwurf der Kritiker des Romans darin zitiert, daß der "Charakter der Pamela so vielfältig verschieden anzutreffen wäre, dqß man fast aufjeder Seite des Buchs eine andere Heldin fände" (FGZ 8, 1743, 9f.). Siehe auch Otten: Der englische Roman im 18. Jahrhundert, 281. Zu den theoriegeschichtlichen Dimensionen der Tiefe'Metaphorik im 18. Jahrhundert siehe Brunemeier: Vieldeutigkeit und Rätselhaftigkeit, 55-60. 184 Demgegenüber hat das 'kulturelle Gedächtnis' der über die Jahrhunderte anhaltenden Rezeption dieses Romans als Handlungseinheit die Inselepisode bewahrt; siehe hierzu Zupancic: Die Robinsonade in der Jugendliteratur, passim.
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erkannte man eine strukturierende Größe, welche im neu entdeckten Universum der Seele Ordnungsfunktionen übernehmen konnte. Etliche Äußerungen der Zeitgenossen verraten die Spannung zwischen den immer sublimeren Detaillierungen in den Charakterzeichnungen und einer dennoch gewahrten Einheit, also Eindeutigkeit. Haller formulierte es klar als ein Risiko: Im übrigen verdient der Verfasser so wol in der Clarissa als in der Pamela die Verwunderung des Verständigsten, daß er die Entwicklung und Ausbreitung der Charakter, und zwar so vieler und so verschiedener Charakter bis zu den besondersten und kleinsten Aestgen ausgefuhret hat, ohne daß er einen solchen in dem geringsten Gedanken, ja in dem unerheblichsten Ausdruck aus der Acht gesetzet, oder verfehlet habe. Mir ist kein 'schöpfender Kopf' von den Romanschreibern bekannt, der sich mit [...] solchem glücklichen Fortgange dergestalt auf die dünnesten Zweige der Charakter gewaget habe.185 Gegen die beliebig weit zu variierenden seelischen Binnenräume konnte die Kontinuität des Charakters als Ordnungsgröße neu funktionalisiert werden. Wo der gesellschaftliche Stand als Unterscheidungskriterium gänzlich wegfallen sollte, wurde die Individualisierung eines großen Figurenensembles durch Ausdifferenzierung der Psyche der Charaktere gewahrt. In den Äußerungen über Romane knüpften die Zeitgenossen durchaus an die alten Funktionen des literarischen Charakters an, konstante Größen in einer ungeordneten Stoffmasse zu markieren. Gleichwohl verschob sich die funktionale Stellung des Charakters unter den neuen Bedingungen. Markierte der Charakter in den Erzählmodellen des hohen Barockromans den Schnittpunkt bestimmter einfacher Determinierungen und Zuschreibungen der Moralität, der Schönheit, des Standes, des Geschlechts, des Alters und der (gegenüber einer anderen Fi1&6 gur) empfundenen Liebe, so ging der literarische Charakter - als Terminus technicus - in diesen Beschreibungen im wesentlichen auf. Seitdem aber neben die 'charakterisierenden' Abgrenzungen gegen die anderen Figuren, also nach außen, noch die Entfaltung nach innen trat, sollte der Charakter auch in dieser Richtung Reduktionsleistungen erfüllen, Identität garantieren, ein konstantes Allgemeines auch gerade gegenüber den eigenen internen Verzweigungen vorstellen. Die neuartige Individualisierung187 nach innen machte eine doppelte Redeweise vom Charakter notwendig: einerseits zur Bezeichnung einer einzigartigen 185 1S6
FN, 6 1749, 107.
Arnold weist darauf hin, daß die Individualisierung der Charaktere bei Geliert vor allem durch eine 'Pluralisierung der Eigenschaften' einsetzte (siehe: Von der Charakter-Beschreibung, 66-75). 187 Zu der AusdifFerenzierung von persönlicher Individualität im 18. Jahrhundert siehe den kulturhistorischen Aufiriß von Stanitzek anhand des Leitworts Blödigkeit, sowie
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Individualität als feste Größe innerhalb einer Fabelrationalität und andererseits im Sinne einer organisierenden Mitte, jener Gesetzmäßigkeit, von der die feinsten Verästelungen im Seelengewebe der Figuren bestimmt wurden. So schrieb Neugebauer vom Cleveland: wir sehen einen Menschen, dessen Betrachtungen 'aus der Natur seines Charakters' genommen.188 Der Charakter hat nun also noch einmal 189 seine eigene Natur, das heißt seine eigene Gesetzlichkeit, seine Wahrheit, und das war auch notwendig angesichts jener Abschilderungen der (virtuell unendlichen) 'zärtlichsten und feinsten Bewegungen des menschlichen Herzens.' Die aporetische Konstellation zwischen fortschreitender Individualisierung der Figuren und der Behauptung von ' Wahrheitswerten' in den Charakteren resultierte aus den höheren Ansprüchen der Leser. Gerade den Bedürfnissen einer gesteigerten Rezeptionskompetenz, die interne Widerspüche, Unstimmigkeiten und Unwahrscheinlichkeiten in immer subtileren Feinheiten wahrzunehmen in der Lage war und daran Anstoß nahm, versuchte die Ausdifferenzierung der seelischen Innenräume der literarischen Charaktere zu genügen. Doch die Berücksichtigung solcher steigenden Ansprüche trieb einige Romane in eklatante Probleme, die es hier zu verfolgen lohnt, weil sich aus den daraus resultierenden Entwicklungen nachhaltige Konsequenzen für die gesamte Geschichte des literarischen Erzählens ergaben. Insofern ist das Verhältnis zwischen den Rezensenten als einer relativ kleinen Gruppe geübter Leser und den Texten mit ihren Reaktionen auf die Urteile dieser Lesergruppe nicht nur das begrenzte Spiel einer Bildungselite, sondern hat durchaus Illustrationscharakter für die Entwicklung einer sich schulenden Rezeption von Fiktion überhaupt. Die von den anspruchsvollen Romanen des späten 18. Jahrhunderts ausdifferenzierten Möglichkeiten der psychologischen Motivierung etwa stehen heute allen Formen des fiktionalen Erzählens - ob in Literatur oder Film - zur Verfügung. Zum Teil wurde zunächst noch an eine eher affektive Einübung der Tugend durch 190 die Lektüre der Erlebnisse einer ethisch einwandfreien Protagonistin gedacht. Hierzu paßte auch die narrative Veranschaulichung der providentiellen
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zur Debatte über den Identitätsbegriff etwa die beiden Bände aus der Reihe Poetik und Hermeneutik zu 'Identität' und zu 'Individualität'. Der teutsche Don Qvichotte, 263, Hervorhebung nicht im Original. Wezel in NBWK 19, 1776, 270. Diese 'Wahrheit des Charakters' ist nicht zu verwechseln mit Diderots entsprechendem Begriff, der, noch orientiert am tradierten, konstanten und unindividualisierten literarischen Charakter, in dessen Wahrheit die Übereinstimmung mit abstrakten Normen meinte (etwa der honnötetö, aber unter Umständen auch mit dem utopischen Einschlag eines erst noch zu realisierenden Begriffsgehalts); siehe hierzu Jauß: Diderots Paradox, 391-397. Der Zeitvertreiber sprach von der Absicht, das menschliche Gemtuhe durch angenehme Erzählungen zu ergötzen, und es durch Vorstellung tugendhofier Beyspiele unvermerkt zu gewöhnen, denselben nachzufolgen (1745, 324).
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Gerechtigkeit im Sinne des Tugendlohns - ein Konzept, das bis in die 1770er Jahre die meisten Romane prägte.191 Allerdings genügten diese simplen Schemata schon bald nicht mehr den gestiegenen Ansprüchen zumindest der geübten oder professionellen Leser. Es vermehrte sich der Ruf nach 'gemischten Charakteren'192 auch bei Romanen. Wollte man diesen Forderungen auf der Textseite genügen, mußte man zugleich die Vorbildhafügkeit der Figuren verringern und damit die moralische Fragwürdigkeit des Romans wieder erhöhen. Ein Ausweg aus dem Dilemma bestand darin, den Forderungen nach gemischten Charakteren nachzugeben und gleichzeitig den Wahrheitsanspruch zu verändern: •
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weniger die göttlichen Gesetze der providentiellen Gerechtigkeit als vielmehr die 'Gesetze der menschlichen Natur' nun sollten veranschaulicht werden. Möglichen Unwahrscheinlichkeits-Eindrücken beugte man mit vermeintlich kausalverknüpfter Handlungsverschränkung vor. Nun aber war die Ausweitung dieser Verknüpfungsansprüche auch auf Gemütsinterna der Figuren eine absehbare Entwicklung. Denn die erzählende Textlinearität markiert keinen Unterschied zwischen den Bewegungen, Handlungen, Regungen des Gemüts und der Figuren. In der literarischen Geschichte sind die Begebenheiten des Seelenlebens genauso Ereignisse wie Kriege und Entführungen. Weil äußere und innere Handlung nur auf derselben strukturellen Ebene geschildert werden konnten, war bei einer zunehmend kausalverknüpften Handlungsverschränkung die Involvierung des Seeleninnern in dieses Geflecht folgerichtig. Die verbreitete Maschinen-Psychologie des 18. Jahrhunderts überredete sich gern, in Romanen kausale Gesetzmäßigkeiten kennenzulemen, nach denen dieIQC Menschen lebten.194 Dem erhöhten Anspruchsniveau einiger routinierter Leser schien es eine Zeit lang so, als baue erst diese rationalisierende Verschrän191
Troeltsch zum Beispiel empfahl sowohl die 'Rührung' der Leser als auch die bekannte Regel, daß man die Tugendhafte glücklich, die Lasterhafte aber unglücklich bilden müsse (Geschichte einiger Veränderungen, Vorrede, 18). 192 Siehe zum Beispiel Garve: Über das Intereßirende, 310f.; ADB 82, 1788, 426: Und dieß [die Selbsterkenntnis der Leser] kann der Romanendichter leicht bewirken, wenn er die Menschen, die er handelnd vorstellt, Menschen seyn läßt [...]. Stellt der Dichter hingegen bloße Kriminelle Laster vor, so wird er auch mit aller Beredsamkeit keinen Menschen überreden, daß er sich zu einem derselben bekennt. 193 Sie waren in der Hochaufklärung längst pagan funktional is iert und als irdische Glückseligkeit des Tugendhaften interpretiert worden. (Siehe oben Kapitel 3 und 4) Zu der Einsinnigkeit dieser neuen Psychologie siehe eine Bemerkung Lichtenbergs: Wenn du die Geschichte eines großen Verbrechers liesest, so danke immer, ehe du ihn verdammst, dem güthigen Himmel, daß er dich mit deinem ehrlichen Gesichte nicht an den Anfang einer solchen Reihe von Umständen gestellt hat. (Nach Schöffler: Lichtenberg, 282) Solche Fortschritte in der Lesekompetenz wurden vielfach nur indirekt thematisiert, siehe etwa EGZ 7, 1775, 162, über Wezeis Tobias Knaut: die zuckersüßen Fräulein
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kungsleistung die Glaubwürdigkeit der neuen Charakterentfaltung der Romane auf. Erkenntnistheoretisch allerdings war die Situation unlösbar. Den Gehalt der so 'pragmatisch' vermittelten Wahrheit bestimmte man nach gewohnten Vorstellungen als allgemeine Gesetze. Dabei führte doch die differenzierende Kausalverknüpfung zu einer immer weiter gehenden Individualisierung, so daß aus der erzählten Individualgeschichte strenggenommen nichts anderes zu lernen gewesen wäre als höchstens die Gesetzmäßigkeiten dieses einen Charakters. Was Richardson vor allem vorgeführt hatte, war eine möglichst detaillierte Zergliederung der Charaktere, deren Individualisierung das notwendige Ergebnis sein mußte. Die neu gewonnene Chance zur Ersetzung äußerer Handlung durch inne197 re Reflexion nutzte er weidlich, so daß seine Romane sich vornehmlich in 198
dem Feld profilierten, das die Zeitgenossen 'Charakterzeichnung' nannten. Dabei blieb es jedoch nicht. Schon die frühen Zweifel an der Wahrscheinlichkeit der Pamela wiesen den weiteren Weg. Der Rezensent der Franckfurtischen Gelehrten Zeitungen stellte ausdrücklich in diesen Zusammenhang eine französischen Anti-Pamela, in der sich die lasterhafte Hauptfigur zur ehrbaren Matrone 'wandelt'. 199 Ließen sich abstrakte Wahrscheinlichkeitsdefizite zum einen durch fabelinteme Relationierungen vermindern, so geschah dies also in erster Linie durch eine weitreichende immanente Entfaltung der Figurenpsychen. Mit fortschreitendem Gewinn interner Kausalisierungsevidenz200 aber drohten die Charaktere [...] der Hauptmann v. V. [...] der Seelenbeobachter und der Hypochondrist geben viel Unterhaltung, obgleich, den Hauptmann ausgenommen, nur geübten Lesern. So erklärte man dann eine gänzlich individualisierte Geschichte eines Charakters zum Abbild allgemeiner Menschlichkeit - wie in den EGZ 6, 1774, 738, über Wer197
ther: daß wir, bey aller Sonderbarkeit seiner Gesinnungen ausrufen müssen: das ist Fleisch von unserm Fleisch!
Im Vergleich fällt leicht auf, daß Geliert gerade diese Verlagerung des Erzähl· Schwerpunktes in das Innere der Seelen nicht annähernd so weit forciert hatte. Dies ist einer der Gründe dafür, weshalb Meyer-Krentler Geliert stärker in den Abgrenzungszusammenhang gegenüber der deutschen Romanproduktion stellt und den Einfluß Richardsons geringer einstuft als dies das geläufige Vorurteil empfiehlt. (Siehe: Der andere Roman). Zum Zusammenhang von Richardson Romankunst mit der zeitgenössischen Charakterologie siehe Mattenklott: Lichtenberg als Charakterologe, 40f. 199 FGZ 6, 1743, 10. 200 Als Beispiel ausdrücklicher Motivierungs-Empfehlung siehe etwa Troeltsch: Doch
muß wie gesagt worden, keine solche That vorkommen, die dem vorteilhaften oder geringschüzigen Begriffe einer Person Schaden thut, und den Zuschauer oder Leser verwirret. Wäre es nicht ungereimt, wenn z.E. der Geizige durch die Thronen einer Wittwe gerühret würde, und eine wichtige Forderung schwinden lies, ohne den geringsten Vortheil dabei zu gewinnen? Denn dieses stiese den Begriff eines rechten
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in ihrer (ethischen) Eindeutigkeit zu zerfasern. Dem begegnete eine verstärkte Betonung der Kontinuität einer Figur und die für den empfindsamen Roman besonders beliebte Bewährungskonstellation, in der sich die detaillierte Charakterzeichnung auf eine Hauptfigur konzentrierte. Ein als konstant gesetzter Charakter wurde darin einer Folge von moralischen Anfechtungen ausgesetzt. Dadurch stellte man zugleich die constantia über erzähltechnische Notwendigkeiten hinaus auch inhaltlich als eigenen Wert heraus, der mit soviel identitätsversicherndem Eigengewicht ausgestattet zu werden vermochte, daß er mitunter sogar die poetische Gerechtigkeit entbehrlich machen konnte (etwa im Siegwart). Die Erklärung der konkreten Geschichte eines Charakters als dem glaubwürdigen Nachweis seines individuellen Gepräges war neben der forcierten Ausdifferenzierung des konstanten Charakters die andere naheliegende Antwort auf mögliche Zweifel gegenüber den Uneindeutigkeiten stark individualisierter Figuren. 201 Und diese zweite Lösungsvariante barg ein erheblich vielfältigeres narratives Potential. Allerdings wurde hierbei die Aufkündigung des mit solcher Konsequenz durchgesetzten Dogmas der Unveränderlichkeit der literarischen Charaktere zur notwendigen Folge. Je höher die Erklärungsansprüche der Werke in bezug auf den einzelnen Charakter geschraubt wurden, desto zwangsläufiger
Geizhalses um [...]. Man seze, daß er etwa eine Schenkung an die Kirche machet [...] so kan man dieses geschehen lassen, wenn der Verfasser nur den Grund der Handlung angiebt, dadurch ihre Güte entkräftet wird. (Geschichte einiger Veränderungen, Vorrede, 19f.) 201 In England war dies der Übergang von Richardson zu Fielding. Nicht zufällig entstand der Jeseph Andrews aus einer weiteren Pamela-Paiodie, welche an dem strukturellen schwachen Punkt dieses Briefromans ansetzte - nämlich dem Mangel an Kontrolle der in den Briefen entfalteten Selbstdeutungen und Klarstellungen der Pamela, von der so nicht endgültig entscheidbar war, ob ihre Tugendhaftigkeit nicht nur vorgetäuscht blieb (Otten: Der englische Roman, 281). Dabei darf nicht übersehen werden, daß die englischen Verhältnisse sich von den deutschen grundsätzlich dadurch unterschieden, daß hierzulande die Konzepte der positiven Anthropologie unangefochten herrschten, während sie in England auch harter Skepsis ausgesetzt waren, in der das gesamte satirisch-realistische Romanschaffen Fieldings und seiner Nachfolger wurzelte. Mit dieser deutschen Besonderheit hing auch die verbreitete 'Fehlrezeption' der Manon Lescaut zusammen, an der das Unbewältigte im Konflikt von Tugend und Sinnlichkeit konsequent übersehen wurde (siehe hierzu Friedrich: Abb6 Prevost in Deutschland, 47-55). Ein spätes Beispiel für die noch verbreitete Unfähigkeit, literarische Helden nicht als reine Tugendideale zu lesen, liefert die Agathon-Rezension der FGZ (33, 1768), wo des Hippias Versuche, Agathon für den Epikureismus zu gewinnen, so beschrieben werden: Hippias wendet alle seine Beredsamkeit an, hält Gespräche mit dem Agathon, um ihm sein System annehmlich zu machen [...]. Agathon bleibt unbeweglich. Hippias gedenkt ihn zu gewinnen, indem er ihn zu der galantesten und schönsten Dame in Smyrna, zu der Danae, bringt, die ihn durch alle Zauberkünste der Wollust umschqffen will. Vergebens! (296) Dies scheint doch immerhin eine recht eigenwillige Lesart zu sein.
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mußte er als wandelbar zugelassen werden, eine Geschichte erhalten. Denn mit Kausallogik Reaktionen eines Charakters zu berichten, der erst fest und unwandelbar eingeführt und beschrieben worden ist und dann sich dementsprechend verhält, bleibt tautologisch.202 Die Behauptung von aus einer literarischen Geschichte resultierenden Erkenntnissen mußte demgegenüber den Charakter selbst zum Ergebnis von Wirkungsmechanismen erklären; erst das Versprechen, den Rezipienten zu zeigen, wie die Menschen so werden, wie sie sind, deckte die Behauptung einzigartiger Erkenntnis. Dieser Übergang vollzog sich zunächst unmerklich im Zuge fortschreitender interner 'Verwahrscheinlichung'. An Johann Martin Millers Erfolgsroman lobte ein Rezensent explizit die Konstanz der Hauptfigur: Siegwarts Karakter ist bis ans Ende unverändert behauptet. Und doch fiel an ihm schon auf, daß sein Verstand immer mehr aufgeklart, sein Herz immer männlicher und fester, und seine Empfindung [...] immer feiner, richtiger und reizba203
rer werde. Gelegentlich ist gar nicht mehr zu entscheiden, ob die Entfaltung eines Charakters noch als (narrativ retrospektive) 'Entwickelung' oder bereits als (narrativ begleitete) Entwicklung gedacht wurde: seine [des Verfassers] Absicht war übrigens, einen Mann von wildem Ehrgeiz, nicht zum Muster aufzustellen, sondern seinen Charakter vom ersten Keim an allmählich zu entfalten. 204 Mit den literarischen Charakteren hatten zunächst konstante Größen in die Erzählmodelle eingefugt werden können, wodurch rationalisierte Erkenntnisansprüche begründbar wurden, indem der Charakter und die aus ihm ableitbare Interessenlage zum Ausgang einer erschließbaren Wahrheit gerieten. Die Ausdifferenzierung der Charaktere bot demgegenüber erheblich flexiblere Handlungsmotivationen an, zerfaserte aber zugleich die Unwandelbarkeit und damit die Letztbegründungsfunktionen der typenhaften Figuren. Denn zwischen der Geschichte einer Figur und der Geschichte ihres Charakters ließ sich im Roman kaum eine kategoriale Differenz aufrechterhalten. Zwar versuchte man zum Teil noch lange, zwischen der Konstanz der Charaktere und ihren Veränderungen 202
Daraus resultierte offenbar sogar ein gewisser Druck, die Charaktere abwechslungsreich zu gestalten; in den FGZ (9, 1770, 70) hieß es etwa über Siegwart: So wird man diesen Charakter bald fade, bald einförmig schelten, um desto mehr, da der Verf. nur diesen einzigen Charakter zu entfalten bemüht gewesen ist. 203 EGZ 9, 1777, beides 70. 204 ·· Uber Gustav Aldermann in TM, 30, 1780, 241. Ahnlich unentscheidbar ist die Formulierung der EGZ 5, 1773, 466, über Agathon: Der Lebenslauf einer Danae, mit allen seinen Triebfedern von einem solchen Autor entwickelt, muß den Herzensforschern eine große Lockung seyn. Oder Musäus in der ADB 16, 1772, 474: und die Begebenheiten dienen nur dazu, diesen Charakter zu entwickeln.
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begriffliche Unterschiede zu behaupten, aber die lösten sich sachlich immer weiter auf. Meistens waren es die in Hinsicht auf 'Wahrheitsgehalt1 und interne Stimmigkeit besonders anspruchsvollen Texte, welche den Schritt über die charakterliche Ausdifferenzierung der Figuren hinaus zur Geschichte des Charakters gingen. Dabei lag die Singularisierung zur Individualgeschichte in der Logik der Evolution, lebte doch der Aussagewert einer Geschichte der Privatbegebenheiten einer literarischen Figur davon, daß nur 'ein' Charakter dem präparierenden Zugriff - und somit den möglichen Veränderungen - unterworfen wurde. Eine erfundene Fabel, in der die Begebenheiten ebenso überraschend und mannigfaltig gewesen wären wie sämtliche Charaktere wechselhaft und wandelbar, hätte nichts zu lernen geboten.206 Die gänzliche Varianz läßt nichts erschließen, bleibt beliebig - eben darin gründete der schon über ein Jahrhundert währende Kampf gegen den phantastischen und 'abenteuerlichen' Roman. So stand in den Werken immer mehr nur eine Hauptfigur im Mittelpunkt der Geschichten, und unter der Kategorie der Einheit von Handlung oder 'Interesse' forderten dies auch zunehmend die Kritiker.207 205
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Die logische Differenz zwischen beiden besteht nur darin, ob ein Erzähler einen als bereits erwachsen vorgestellten Charakter beschreibend entfaltet oder diese Entfaltung im Verlauf der Fabel geschieht. Mit den Worten des 1799 erschienenen Aufsatzes Veber den dramatischen Roman, wo zwei Möglichkeiten der Darstellung eines Charakters angeführt sind: Die erste ist, wenn der Dichter die mannichfaltigen Züge und Schattierungen eines Charakters, den er als schon gebildet annimmt, entwickelt, die zweyte, wenn er den Charakter selbst erst vor unsern Augen entstehen läßt. (NBWK 44, 1791, 5f.) Zumindest galt dies, solange das komplexe narrative Arrangement von mehreren 'sich entwickelnden' Figuren, die gleichwohl in sich Kontinuitäten aufwiesen, noch nicht beherrscht wurde, wie es etwa im Agathon angedeutet war (Agathon, Danae) oder in Wilhelm Meisters Lehrjahren (Wilhelm, Mignon, Philine u.a.). Die Schwierigkeiten, welche derart mehrdimensional verknüpfte Geschichten aufwarfen, sahen einzelne Zeitgenossen sehr genau und blieben daher gerade den Möglichkeiten des politischen Romans gegenüber skeptisch, wo man sich nicht auf eine (oder wenige) Figuren beschränken konnte. Angesichts der inzwischen standardisierten Plausibilitätsnormen schien die zu schildernde mannigfaltige Verwicklung der Geschäfte, und der verschiednen Theile der Regierung, der Verbindung und Gegeneinanderwirkung der regierenden und gehorchenden Personen u.s.w. zu vielseitig zu sein (so der Rezensent von Hallers Fabius und Cato, NBWK 17, 1775, 218). In der ADB etwa war (96, 1790, 139) über Elisabeth, Erbin zu Toggenburg zu lesen: was diesem Versuche ferner, als poetisches Kunstwerk betrachtet, in noch ungleich höherem Maaße, als den vorhergehenden, mangelt, ist die Einheit des Plans: denn genau genommen liest man nicht Eine, sondern drey Geschichten. Ähnlich Schatz in der ADB 111, 1792, 125: Ein anderer fast allgemeiner Fehler der dramatischen Romane, und so auch des gegenwärtigen, ist ein Mangel an Einheit der Handlung [...] und daher nothwendig getheiltes und beschränktes Interesse.
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Wie bruchlos der Übergang zwischen konstanten Charakteren und 'Entwicklungsromanen' sich vollzog, illustriert eine Bemerkung von Troeltsch, die schon von 1753 stammt: In Romanen erfordert es ohnehin manchmal die Geschichte, daß man seine Helden nicht auf einmal gros werden lässet, sondern man lässet sie durch gute Anweisung und Erfahrung erst zur Reife kommen. Dabei denn die Schwachheiten die sie begehen, dem Leser nützlich sind, und der Hochachtung gegen die Haupt-Personen keinen Abbruch thun.208 Die gesteigerten Ansprüche für die interne Motivierung des Charakters müssen für den kaum merklichen Schritt von der Entfaltung eines konstanten Charakters zur Darstellung seiner Veränderung, von seiner 'Entwickelung' zur 'Entwick209
lung' verantwortlich gemacht werden. Einen Übergang zum Bildungsroman kann man höchstens darin suchen, daß Blanckenburg und einige andere die Geschichte eines individuellen Charakters 210 offensiv und normativ zum Sujet der Romane erklärt haben. Daß dieses Konzept in der ersten ausführlichen deutschen Romantheorie zu finden ist, zeigt, wie sehr man hoffte, in der individuellen Genese eines Charakters erhöhte Wahrheitsansprüche des Romans legitimieren zu können. Was sich zunächst unter der Wahmehmungsoberfläche in der Auflösung der Differenz zwischen konstanten und Varianten Charakteren herausbildete, wurde schließlich von einigen als Möglichkeit entdeckt, die Erkenntnisostentation der Romanliteratur zu rechtfertigen. Unter Aktivierung der krudesten Maschinen-Psychologie wurde eine lückenlos reversible Kausalkette als Individualgenese eines Charakters gefor211 dert. Blankenburgs von den Zeitgenossen gefeierter Versuch aber den Roman ist von eben diesen Voraussetzungen getragen. 208
Geschichte einiger Veränderungen, Vorrede, 21. Troeltsch dachte dabei aber sicher nicht an sich wandelnde Charaktere, stellte er doch wenige Seiten zuvor auf ganz traditionelle Weise fest, wie die notwendige Vollkommenheit der Charaktere gewahrleistet werden könne: Dieses geschiehet wenn die Personen sich gleich sind, und diese Gleichheit in verschiedenen Fallen ausflihrlich gemachet wird [...]. Der Tugendhafte muß bestandig tugendhaft sein, und der Lasterhafte bestandig lasterhaft. (16) 7m Siehe etwa auch Abbt in der ADB 1, 2, 1765, 104: Der Charakter des 'Don Sylvio' ist nicht genung bearbeitet. Der Verfasser hätte können zusehen lassen, wie er nach und nach geworden, so wie man dis an einem 'Jones' sieht. Siehe hierzu jetzt ähnlich Stanitzek: Bildung und Roman als Momente bürgerlicher Kultur. Das Interessante an der Ausdehnung der Reversibilitätsverkettung auf den Charakter betonte Schatz in der ADB: Solche Sprünge der Phantasie eines jungen Menschen von Reisers Lage sind allerdings nicht ungewöhnlich: die Bekenntnisse des Verf. aber, durch welche Gedankenreihe oder individuelle Umstände der Uebergang von
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Über sich hinaus getrieben wurde das narrative Konzept des Charakters aber durch die erneute Steigerung der fabelinternen Rationalisierungsansprüche, wie sie sich in der Hoffnung auf erzählerische Realisierung einer 'inneren Notwendigkeit' ausdrückte.212 Mit diesem Schlagwort konnten noch einmal forcierte Wahrheitsansprüche für die Gattung angemeldet werden. Aus einer 'notwendigen' Aufeinanderfolge der Ereignisse sollte der Rezipient erheblich mehr lernen können als aus alleiniger Wahrscheinlichkeit. Solche rhetorischen Bemühungen, ein neues Niveau der rationalisierten internen Verknüpfung der literarischen Handlung einzufordern, änderte allerdings wenig an den grundsätzlichen Problemen, daß Kausalität in einer Erzählung stets nur über die Darstellung als Eindruck erzeugt werden kann. Daher vermochte eine entsprechend geschulte Rezeptionskompetenz auch an den am besten ineinander verknüpften Werken noch Zufalle und Unwahrscheinlichkeiten wahrzunehmen. In den Versuchen, in theoretischer Explikation die Wahrheitswerte von Romanen zu begründen, geriet die poetologische Reflexion zu geradezu hypertrophen Formulierungen. Denn welche literarische Handlung ist schon notwendig?214 Im Anspruch auf Notwendigkeit drückte sich die Hoffnung aus, den Wettlauf mit dem immer subtileren Blick des Lesers, mit der sich ständig weiter schulenden Rezeptionskompetenz ein für alle Mal zu gewinnen. 'Notwendigkeit' ist ein Absolutum. Wieland ist es mit dem Musarion und mit dem Agathon gelungen, zumindest Blanckenburg davon zu überzeugen, daß in diesen Fabeln nicht ein einziges 'Wie' übrigbleibe, sich stets genau sehen lasse, warum die Sache vielmehr so, als 215
anders erfolgt sei. Jedoch scheint es so, als übertreibe Blanckenburg, wenn er bei dem von ihm angestellten Vergleich mit Sophietts Reise Hermes' Roman immer wieder kraß abwertet. Würde man nämlich an einzelnen Stellen von Wielands Texten so penetrant nach dem 'Wie', nach dem genauen und notwendigen Zusammenhang der Ereignisse fragen, wie Blanckenburg das immer wieder bei Hermes tat, dann ließen sich auch dort etliche recht lockere Verknüpfungen und
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einem zum andern erfolgt ist, sind für den Menschenbeobachter überaus merkwürdig. (ADB 97, 1790, 433) Zum Begriff der Notwendigkeit in der Literatur siehe Horn: Literarische Modalität, 103-133. Bey wichtigen und entscheidenden Vorfallen verlangen wir schlechterdings mehr zur Rechtfertigung dessen, was geschieht, als Wahrscheinlichkeit (Versuch über den Roman, 342; über die Notwendigkeit siehe auch dort den Zusammenhang). Zu Blankenburgs Versuch allgemein sowie zur historischen Einschätzung siehe Lämmert: Nachwort, und Wölfel: Blankenburgs Versuch über den Roman. Dabei wurde die 'Handlung' eines Romans meist gedacht als ein von der erzählerischen Präsentation unabhängiger Zusammenhang, der vom Autor mit hoher interner Plausibilität zu erfinden sei. Siehe hierzu ausführlicher unten. Versuch über den Roman, 279.
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vage Motivierungen finden. 216 Wieland selbst ironisierte an einer Stelle im Agathon ein von ihm benutztes geradezu klassisches Instrument der Handlungsverknüpfung im Roman des 18. Jahrhunderts: Ein heftiger Sturm ist ein sehr unglücklicher Zufall fur Leute die sich mitten auf der offenen See, nur durch die Dike eines Brettes von einem feuchten Tode geschieden finden; aber für die Geschichtschreiber der Helden und Heldinnen ist es beynahe der glücklichste unter allen Zufällen, welche man herbeybringen kan, um sich aus einer Schwierigkeit herauszuhelfen. Es war also ein Sturm, (Sie haben sich nicht darüber zu beschweren, meine Herren, denn es ist, unsers Wissens, der erste in dieser Geschichte,) der die liebenswürdige Psyche aus der 217 fürchterlichen Gewalt eines verliebten Seeräubers rettete. Solch gefallige Ironie konnte sich der Erzähler bei diesem reflexiven Hinweis auf die zentrale Schwierigkeit des zeitgenössischen Erzählens, nämlich unwahrscheinliche Zufälle zu vermeiden, hier gestatten, weil im Agathon das Problem inzwischen entschärft war. Die Wahrheitsansprüche, und das heißt die sie tragenden internen Verknüpfungen, waren im Agathon bereits offensiv auf die innere Geschichte eines Charakters verlagert worden. Dadurch aber vermochten auch die gesteigerten Notwendigkeitsanforderungen auf die Entwicklung der Charaktere beschränkt zu werden, die äußeren Begebenheiten verloren dagegen an Gewicht, sobald der 218
Roman seine Erklärungsansprüche aus der 'innern' Notwendigkeit der Personen zu gewinnen suchte. Die Wahrscheinlichkeitsprätentionen in den äußeren Ereignissen konnten demgegenüber reziprok abnehmen. Weil das Augenmerk auf das innere Verhalten der fingierten Seele gerichtet wurde, wandelte sich der Roman zu einer Art Experimentalarrangement, in dem es unter Umständen sinnvoll und interessant sein kann, auch noch die Reaktionen der Probanden in einer ganz anderen, mit den bisherigen Ereignissen wenig zusammenhängenden Situation kennenzulernen. Dadurch ließen sich die Wahrheits- und Wahrscheinlichkeitsansprüche an die äußere Handlung so stark reduzieren, daß der Protagonist sogar durch offensichtlich gesteuerte Zufalle mit Psyche wieder zusam216
Zu Blankenburgs Rigorismus siehe 273-279 und 346-349; 275 etwa heißt es: Aber diese innre Verbindung von Wirkung und Ursache, die uns das an der Sophie zeigte [Konjunktiv], was wir an ihr sehen wollen, finden wir hier (im Zusammenhang ihrer Ankunft in Königsberg] gar nicht. Was sehen wir von ihrem inneren Seyn, von den Ursachen, die sie bewegen, der Empfehlung der sie 'kalt umarmenden' Frau Predigerinn allein folgen zu wollen? Agathon, erste Ausgabe, Hg. Schäfer, 393. Blanckenburg: Versuch über den Roman, 345; siehe zu dieser Trennung zwischen äußerer und innerer Handlung und der Frage der schlüssigen Motivation K.-D. Müller: Der Zufall im Roman, 268-272. Zum Zufall im Agathon siehe auch Orttinger: Phantasie und Erfahrung, 85-89.
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mengeführt werden kann, allein weil der Charakter auch noch in dieser neuen Lage beobachtet werden soll. Diese Entlastungsfunktion, welche aus der Entfaltung der Individualgeschichte eines Charakters für die Handlungsverknüpfung zu ziehen war, nutzte Wieland naheliegenderweise erst in Andeutungen. Blanckenburg allerdings tendierte eher dazu, vollständig mit Notwendigkeit ineinandergefügte Fabeln zu wünschen, in denen jede einzelne Handlung der Hauptperson durch Motive aus dem 'Innern,2i9 der Figur begründet werde. Das war allerdings nicht realisierbar, da sich die Kontingenz der äußeren Faktoren nur begrenzt reduzieren läßt.220 Die materialistisch gefärbte Psychologie221 geriet hier in einen Selbstwiderspruch. Mit konsistenter Notwendigkeit ließ sich die Geschichte eines Charakters nur fingieren, wenn nicht immer wieder neue äußere Zufälle und Bedingungen hinzukamen, deren Einfluß auf das Gemüt ja gerade betont werden sollte. Einen Roman ohne jeden Zufall zu konstruieren wäre aber nicht nur 222
technisch mehr als schwierig, sondern vor allem langweilig geworden. Die Forderungen nach Notwendigkeit trieben das narrative Konzept des Charakters über sich hinaus. Wielands Agathon markiert genau den Übergang. Als sinnversichernde konstante Größe erfüllte der Charakter seine erzähllogische Funktion nur solange, wie er einfach als Fixum gesetzt wurde. Bewährungssituationen ausgesetzt, vermochte er dann das Gesetz der Gerechtigkeit zu illustrieren. Sowie aber der Charakter selbst rationalisiert und zum Ergebnis von notwendigen internen Entwicklungen skizziert wurde, verlor er seine Konstanz, die Zahl der möglichen beeinflussenden Faktoren dieser einen individuellen Ge219
220
Versuch über den Roman, 346. Dabei war die Begründung für die Verlagerung der Handlungsmotive gerade, daß der Charakter nicht Maschine sein sollte, doch daran wurde so nichts geändert. So kaschierte Blanckenburg mitunter die Beliebigkeit der äußeren Bedingungen in einer Handlung durch Einnahme einer finalen Perspektive: Agathon mußte so den-
ken, wie er dachte, und in solchen Umständen seyn, wie er war, damit diese Reise erfolgen konnte. (344) Mit einem ähnlichen Perspektivwechsel verdeckte noch 1803
der Artikel Etwas über Roman, Heldengedicht und Drama das Problem: Notwendigkeit und Freyheit muß in Eins zusammenfallen, und es muß sich jeder zu dem Ortheile gezwungen sehen: nur unter allen diesen Umständen, Verhältnissen und Lagen, wie sie hier sind, war diese Folge möglich. (NBWK 68, 1803, 194) Zur fi221
nalen Ausrichtung auf die harmonische Ausbildung des Individulacharakters in Blankenburgs Romantheorie siehe Frick: Providenz und Kontingenz 2, 363f.
Bei Blanckenburg klingt das so (NBWK 18, 1775 46): wenn es gewiß ist, daß unsre Art zu denken und zu empfinden, nur die Wirkung aller der Zufälle und Begebenheiten seyn kann, vermöge welcher wir vielmehr so, als anders gebildet worden sind Diese Gefahr entging den Zeitgenossen selten, siehe etwa ADB 24, 177S, 118: Aber
eben dadurch, daß der V. alles nach dem natürlichen Gang der Dinge ordnet [...], benimmt er seiner Erzählung alles anziehende, sie wird höchst langweilig. Überhaupt war derUnterhaltungswerts ein gern angeführtes Kriterium.
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nese wuchs ins Unbegrenzte. Die notwendig folgende Individualisierung untergrub jeden Allgemeinheitsanspruch. So schwankt das ganze Konzept des Agathon zwischen Vorbildfunktion und Individualgeschichte, zwischen Statik und Entwicklung, zwischen Bewährungs- und Bildungsroman. Da heißt es in der Vorrede: Hingegen war die Absicht des Verfassers der Geschichte des Agathon nicht sowohl in seinem Helden ein Bild sittlicher Vollkommenheit zu entwerfen, als ihn so zu schildern, wie, vermöge der Gesetze der menschlichen Natur, ein Mann von seiner Sinnesart gewesen wäre, wenn er unter den vorausgesetzten Umständen wirklich gelebt hätte.
Wenn es aber zugleich einen unerschöpflichen Vorrat der Natur2* geben soll, bleibt ganz unklar, wie man an einer so sehr individualisierten Geschichte die 'Gesetze der menschlichen Natur' studieren können soll. Und in bezug auf den Charakter: wenn er keine sittliche Vollkommenheit vorstellen soll, läßt sich nur einfach setzen, daß er gekannt zu werden würdig sei. Der Widerspruch zwischen vorausgesetzter charakterlicher Ausbildung und den Lauterungsvorstellungen ist auch an dieser Formulierung greifbar: Weil, vermöge des Plans, der Karakter Agathons auf verschiedene Proben gestellt werden sollte, durch welche seine Denkart und seine Tugend 'geläutert', und dasjenige, was darin 'unächt' war, nach und nach von dem reinen Golde 'abgesondert' würde.226
Allerdings ergibt sich die Frage, warum diese Unstimmigkeiten von den Zeitgenossen nicht wahrgenommen worden zu sein scheinen - ein Problem, das sich an einem anderen Beispiel präzisieren läßt. Einer der Romane, dem neben dem Agathon die Realisierung höchster Wahrheitsansprüche bescheinigt wurde, war Goethes Werther, der eben jene innere 727 Notwendigkeit der Geschichte eines Charakters zu illustrieren schien. Aller223 ·· 224
226
Uber das Historische im Agathon, Sämtliche Werke 1, 4. Vorbericht, erste Ausgabe, 1. Vorbericht, erste Ausgabe, 2. In der Version der Ausgabe letzter Hand, Sämtliche Werke 1, Vorbericht zur Ersten Ausgabe, XVIII. Mit wünschenswerter Klarheit formuliert es der Rezensent des Magazuins der Deut-
schen Kritik: Alles dreht sich um Werthers Charakter, jeder Vorfall ward nur durch seinen Charakter, so wie er gerade zu der Zeit war, möglich und bestimmt, und alle diese Vorfälleflössenzu eben der Quelle zurück, um den Charakter des Jünglings gerade auf den Punct zu bringen, der das Ende seines Lebens machte [...]. Alle andre Personen von Lotten bis auf den unsinnigen Wahnsinnigen im grünen Rocke sind nur angesetzte Schrauben, die Werthers Charakter bis 'dahin' herauf heben, in
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dings war hier im Gegensatz zum Agathon das Interesse des 'Menschenbeobachters' an der Entwicklung eines Charakters offen gegen die Forderungen der poetischen Gerechtigkeit nach einem glücklichen Ende für den Protagonisten ausgespielt. Dadurch wiederum entstand die mißliche Folge, daß die Notwendigkeitssuggestion der internen Verknüpfung sich auch auf den allgemein tabuisierten Freitod bezog, der auf diese Weise die viel debattierte Apologie erfahren hätte. So bemühten sich dann dieselben Rezensenten, die gerade erst die 'maschinelle' Präzision gelobt hatten, mit welcher der Jüngling notwendig und unauf228
haltsam den schaudervollen schrecklichen Fall thun mußte, gleich wieder, die Zwangsläufigkeit einzuschränken und die eigene Verantwortung Werthers herauszustellen: Aber diese Notwendigkeit gründet sich immer nur darauf, daß er [Werther] nach und nach bey einer für jeden Eindruck offenen Seele, seinem Charackter 229 diese besondere unglückliche Stimmung geben ließ. Die eigene Schuld des Subjekts nach dem Entwurf solcher Notwendigkeitsabfolgen an den Anfang einer möglichen Geschichte zu verlegen und jeden zu noch gesteigerter Affektkontrolle aufzufordern, damit er bloß nicht in Werthers 230
Lage gerate, war kaum ein überzeugender Ausweg aus dem Dilemma, das nicht nur ein moralisches, sondern auch ein erzähllogisches war. Die mühsam aufgebauten Erkenntnisleistungen der Erzählliteratur schienen mehr zu leisten, als den Freunden des Romans lieb sein konnte. Denn eine erzählerisch aufgebaute Notwendigkeit der Entwicklung eines Charakters entlastet diesen auch von Verantwortung. die Lage bringen sollten, daß nun der Jangling nothwendig und unaufhaltsam den schaudervollen schrecklichen Fall thun mußte (MDC 4, 1, 1775, 63). 228 Ebenda. Nicolais Freuden des jungen Werthers kritisierte derselbe Rezensent in diesem Bild (71): Wozu nun alle jene Räder, und Hebet und Schrauben [durch Goethe], wenn [in der Fortsetzung durch Nicolai] oben ein Rad eingesetzt wird, das mit unvermutheter Niederdrückung eines Messers den Strick plötzlich abschneidet, wenn der an ihm hängende Stein bis zur möglichsten Höhe gehoben war? So ist ja keine Zusammenstimmung mehr in der Anordnung der Maschine. Der zuerst die Maschine inventierte, maß alles genau ab; und was that der zweyte? er ließ das übrige stehen, und pflickte oben etwas an, das die Wirkung unmöglich machte. Zum Zusammenhang siehe Scherpe: Werther und Wertherwirkung; Jäger: Die Wertherwirkung; Engel: Werther und Wertheriaden.
229
230
MDC 4, 1, 1775, 64. Zu den theorieimmanenten Widersprüchen zwischen Kausalität und Moral ität siehe auch Voßkamp: Romantheorie, 190-196. Also - was folgt nun aus dieser Idee des Verfassers? - ich denke nichts anders, als die nöthige - und darum noch desto nöthigere Lehre ßr jeden Jüngling, der sich mit sta.rkgespa.nten Nerven ftlhlt, wachsam über die ersten Wirkungen auf sein Herz zu seyn, die ihn bis dahin bringen könnten. (MDC 4, 1, 1775, 64f.)
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Friedrich Nicolai griff in seinen Freuden des jungen Werthers das Problem an dieser Stelle auf, indem er einfach einen neuen, glücklichen Schluß an die Geschichte heranfingierte.
Zwar mag man Nicolais vorgeschlagene Änderungen
des Ausgangs der Fabel und die Wendung zum Glück Werthers für zu gezwungen, aufgesetzt, zu wenig aus den ersten Teilen der Geschichte resultierend halten, doch diese auch von manchen Zeitgenossen vorgebrachten Einwände gehen am zentralen Punkt der Auseinandersetzung vorbei. Denn immerhin wäre es denkbar gewesen, eine besser vorbereitete, subtiler eingeleitete Wendung herbeizuführen, gegen die sich nicht so leicht eine mangelnde Wahrscheinlichkeit hätte anführen lassen. Was Nicolai sich gegen die ungewünschten Konsequenzen von Goethes Roman zunutze machte, war die erzähltechnische Möglichkeit einer Fingierung jeder gewünschten Handlungswendung als wahrscheinlich - solange man sie hinreichend motiviert. An dieser Möglichkeit hatte sich auch dadurch nichts geändert, daß nun einige von der notwendigen Abfolge einer Geschichte sprachen. Damit wurde allein das Motivierungsniveau weiter angehoben, eine gesteigerte Subtilität in der Handlungs-, (besser:) Charakterführung erfordert; Determination der Entwick232
lung wurde weder bewirkt, noch war sie eigentlich erwünscht.
Denn die Ent-
scheidungsfreiheit der Individuen sollte ja bewahrt bleiben. Wezel unterschied folgerichtig zwei Varianten der literarischen Wahrscheinlichkeit einer Begebenheit, die entweder Wirkung eines Geistes oder eines äußeren Faktums sein könne. Nur im zweiten Fall gelten jedoch all die bereits erörterten Fragen der Kausalketten von Ursachen und Wirkungen, im ersten ist es nach Wezel zur Beurteilung der Wahrscheinlichkeit genug zu untersuchen, ob die Begebenheiten den übrigen geäußerten Grundsätzen, Neigungen, Leidenschaften, der Denkart und Handlungsweise des handelnden Geistes analogisch seien.233 Hier gab es also einen Spielraum, der strenge Notwendigkeit ausschließen mußte, deshalb auch andere Entwicklungen zuließ - Wendungen auf hundertley andere Art, wie es in Nicolais Gespräch über Werther am Ende heißt.234 231 ·• Übrigens war dieser Text weniger eine Wm/ter-Parodie als vielmehr eine Art Leseanweisung, wie das MDC betonte (4, 1, 1775, 68). Siehe allerdings zum Beispiel Weydt, der sich von den Suggestionseffekten einer fingierten Notwendigkeit im Werther überzeugen läßt und von einer tragischen Lösung spricht, welche notwendig werde. (Der deutsche Roman. 1296) 233 NBWK 19, 1776, 282f. 234 Freuden des jungen Werthers, 60. Die erzähllogische Konsequenz der internen Motivierung, durch die der Erzähler in die Machtposition geriet, der Geschichte jede gewünschte Richtung geben zu können, illustrierte mit glänzender Ironie Diderots Jacques le fataliste, der zuerst in deutscher Sprache 1792 in Grimms Correspondence littiraire erschien. Schon auf der zweiten Seite verdeutlicht der Erzähler diesen Sachverhalt: Du siehst, Leser, daß ich auf gutem Wege bin, und daß es nur von
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Der Versuch, die Wahrheitsansprüche der so beliebten wie noch immer gescholtenen Gattung gegen die höchsten Vernunfteinwände zu wappnen, führte die anspruchsvolle Erzähllogik in einen kaum zu bewältigenden Widerspruch. Die höchsten Leistungen, mit der Kategorie der Notwendigkeit proklamiert, vollbrachten scheinbar mehr, als den Freunden des Romans lieb sein konnte. Allerdings basierte der Werther-Streit auf der besonderen Konstellation dieses Falles, bei dem es nicht um erzähllogische Probleme, aber durchaus um bestimmte Konsequenzen aus ihnen ging. Am literarischen Beispiel wurde der generelle theoretische Konflikt einer fortgeschrittenen materialistischen Psychologie um die Bewahrung der menschlichen Handlungsfreiheit exerziert. Deshalb stritt man zugleich um die angemessene Rezeptionshaltung gegenüber einem anspruchsvollen Roman. 236 Der kalte Menschenbeobachter, den manche Rezensenten dem Roman wünschten, stand gegen den sich empfindsam identifizierenden Hansel.737 Erst die befürchtete 'naive' Rezeption ließ ja die gefahrlich erscheinenden Schlüsse auf die eigene Lebenssituation des Rezipienten zu. Hierzu ließe sich einwenden, daß es im Werther-Streit gar nicht so sehr um hochtheoretische Fragen von Freiheit und Notwendigkeit oder um erzähllogische 238
Probleme ging, sondern um Formen der Fehlrezeption. Gleichwohl stellt sich gerade am Beispiel Werthers die zweigliedrige Frage nach dem Wahrheitsgehalt dieses Textes. Was war es denn, das selbst geübte und reflexionsgewohnte Leser mir abhinge, dich ein Jahr, zwei Jahr, drei Jahr auf die Erzählung von Jakobs Liebeshändeln warten zu lassen; ich brauche ihn nur von seinem Herrn zu trennen und jeden in so viele Begebenheiten zu verwickeln, wie mir beliebte. Was könnte mich verhindern, den Herrn zu verheiraten und zum Hahnrei zu machen, Jakob nach Indien segeln zu lassen, seinen Herrn ebenfalls dahin zu schicken, und beide dann auf einem und demselben Schiffe nach Frankreich zurückzuführen? (Jakob und sein 235
236
Herr, lf., siehe hierzu auch Warning: Opposition und Kasus) Denn wenn, um mit dem 'Herausgeber' des Agathon zu sprechen, niemand denkbar ist, der unter den besonderen Bedingungen, unter denen Agathon lebt, tugendhafter handelt, dann ist eben überhaupt niemand denkbar, der unter diesen Bedingungen auch nur anders handeln würde (siehe erste Ausgabe, Vorbericht, 2f). Zu dem Dauerthema, das der Aufklärungsroman im 'commercium mentis et corporis' fand, siehe Schings: Der anthropologische Roman. Kein Zufall, daß Blanckenburg gerade anläßlich der Rezension Werthers in den Er-
ziehungsunterricht ein Kapitelchen Ober die Art, wie man die Dichter lesen müsse, um sie zu nützen, einzuflechten wünschte (Wie wenige seiner Leser werden ihn [den Dichter] recht lesen, werden alles in ihmfindenkönnen, wai in ihm zu finden ist!; 237 238
M, 94). MDC 4, 1, 1775, 68. Siehe hierzu Jäger: Wertherwirkung, 394-404. Von einer Fehlrezeption spricht etwa Link. Anzumerken bleibt, daß einige namhafte Autoren (Klinger, Schleiermacher) zu den heftigsten Betreibern des Wertherkults gehörten (Link: Rezeptionsforschung, 58ff; zum Wertherkult siehe Engel: Weither und die Wertheriaden, 91ff.).
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der Zeit diesem Roman nicht nur künstlerische Perfektion, sondern auch höchste Erkenntnisvermittlung bescheinigen ließ? Und was war es andererseits, das gerade diesen Roman so geeignet machte für die 'erbaulichen1 Rezeptionsformen der ungeübteren Leser? Identifikationsfiguren anzubieten war ja schon lange erklärtes romanpoetologisches Programm und von etlichen Autoren auch mit großer Sorgfalt versucht worden (Fräulein von Sternheim, 1771). Werther war demgegenüber ja keineswegs ein ungebrochen tugendhafter Held. Hieran zeigt sich, daß die Untermauerung erzählliterarischer Wahrheitsansprüche mit Hilfe des literarischen Charakters eine literarhistorische Episode bleiben mußte. Gerade die interne Rationalisierung, die hier am Beispiel des 'Charakters' verfolgt wurde, hatte dem Roman zur Kompensation von Faktizitätsdefiziten gedient, doch ließ sich diese Form innerer Schlüssigkeit allein auf logischem Wege nicht zu höchsten Ansprüchen fortentwickeln. Und vor allem geriet man auf diesem Wege in Widersprüche. Wenn die besonderen Möglichkeiten des Romans darauf beruhen, daß er dem neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriff des 'kohärenten Kontextes' in seiner Form ähnelt,239 dann ist damit noch nicht beantwortet, weshalb manchen Romanen besondere Glaubwürdigkeit oder gar Wahrheit zugesprochen wird von den Lesern. Denn (einigermaßen) widerspruchsfreie Kontexte, eigene Welten, lassen sich unbegrenzt viele entwerfen. Die historische Rekonstruktion der Abwehrbewegung des Romans gegen die sich andrängenden Glaubwürdigkeitsprobleme ist somit an dem Punkt angelangt, wo sich zeigt, daß allein über die Vermeidung von Illusionsstörungen diese Schwierigkeiten nicht grundsätzlich zu lösen waren. Literarische Glaubwürdigkeit war nicht allein eine Frage der erzählerischen Raffinesse. Die Animation der Leser zu einer fiktionalen Lektüre, in welcher das neue empiristische Wirklichkeitsverständnis ausgesetzt wurde, beantwortet lediglich die Frage von fiktionalen versus nichtfiktionalen Texten, gibt aber noch keinen Hinweis auf das inhaltliche Äquivalent, auf das eine Lektüre verwiesen wurde, die an literarischen Erzähltexten den Tatsächlichkeitsbezug zugunsten anderer Referenzen zurückzustellen gelernt hatte. Von diesen anderen Referenzen aber muß eine Untersuchung des historischen Genese von fiktionaler Lektüre sprechen, denn nur in diesem Äquivalent wird das Motiv greifbar, das den Leser veranlassen konnte (kann), die Umbesetzung vorzunehmen, die fiktionales Lesen ausmacht. Wie der Roman aber seine Wahrheitsfrage in der mimetisch-inhaltlichen, der picturaDimension historisch zu beantworten versuchte, soll im folgenden thematisiert werden.
239
Siehe Blumenberg: Wirldichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans.
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Die Wahrheit der Romane. Von der gelungenen Verlagerung des literarischen Referenzbezuges
Das Schlagwort von der Menschen(er)kenntnis avancierte schnell zum entscheidenden Argument der Romanverteidigung. Den lobenswerten Exemplaren der Gattung wurde nun die Fähigkeit zugesprochen, Auskunft über 'den Menschen* selbst zu geben. Wenig konnte den Wahrheitsansprüchen des Romans dienlicher sein als das von Richardson entworfene Angebot, daß sich der Mensch im Roman selbst gegenübertreten konnte.240 Zum legitimen Gegenstand der Beschäftigung wurde der neue Roman erst, als er sich auch ein neues Sujet erkor, welches für die veränderte Publikumsmehrheit die äußerste Würde besaß: den Menschen. Gerade die starke Reduktion von äußerer Handlung bei Richardson machte augenfällig, daß in diesen Texten nicht einem müßigen Leser leidige Zeit durch erfundene Abenteuer verkürzt werden sollte, sondern hier - wenn auch auf unterhaltende Weise - Erkenntnisse gewonnen werden konnten von 241
größter Dignität, nämlich die zärtlichsten und feinsten Bewegungen des menschlichen Herzens, die natürlichste Abschilderung des menschlichen Gemüthes 42 zu finden waren.243 Allerdings blieben solche Ansprüche auf die Illustration detaillierterer Wahrheiten der menschlichen Natur noch immer abbildtheoretischen Prämissen verpflichtet. So kam es zu eigentümlich widersprüchlichen Formulierungen wie der, daß die Schilderey eines ausdifferenzierten literarischen Charakters mit dem Original - im Sinne 'des Menschen überhaupt' - aufs genaueste übereinstimmen IAA müsse. Zugleich wurden aber auch Romane wegen der ausgeprägten Verschie240
241
Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert siehe Voßkamp: Dialogische Vergegenwärtigung. The proper study of Mankind is Man, hieß es in Popes Essay on Man schon 1730.
Und diese neue Maxime der Epoche sieht Fabian von Pope zu Lessing und zu Goe242
243
244
the wandern, der sie in den Wahlverwandtschaften von Ottilie ins Tagebuch notieren ließ (Newtonische Anthropologie, 120). [Neugebauer:] Der teutsche Don Qvichotte, 263f.
In der FGZ (9, 1743, lOf.) stand über eine Anti-Pamela: Gleichwie die Pamela jungem Frauenzimmer zum Muster geschrieben worden; also wurden hier den jungen Manns-Persohnen die listige Betrügereyen eines leichtfertigen und scheinheiligen Weibs-Bildes zur Warnung vorgestellet. Zum Verhältnis von Empfindsamkeit und höfischem Verhaltenscodex siehe Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, 58-70. [Neugebauer:] Der teutsche Don Qvichotte, 264. Dort auch: Denn ein Roman muß
den Menschen und seine Leidenschaften zum Original haben: er schildere ihn nach der Natur, oder so wie er ist, allezeit sich selbst gleich, er sey tagend oder lasterhaft. Daß dies nicht nur eine wenig präzise, idealisierende Nachahmungsformel ist, belegt der Zusammenhang der schon zitierten Stelle, in welcher der Widerspruch zur individualisierenden Ausdifferenzierung greifbar wird (263f.): In der Mariane
finden Sie die zärtlichsten und feinsten Bewegungen des menschlichen Herzens: Die
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denheit der Charaktere245 gelobt. Das Paradox ist offensichtlich: entweder es handelt sich eben nicht um individualisierte literarische Figuren, oder an ihnen kann nichts Allgemeines über 'den Menschen' erfahren werden. Die Ermöglichung von beidem lag in 'der Natur' - als dem zentralen Inhalt jener oben angedeuteten 'einen Welt', in der die Anzahl der Gesetze der menschlichen Natur begrenzt sein sollte. In diesem Sinne wurde 'Natur' als ein Regelzusammenhang vorgestellt, tatsächlich aber erfuhr sie ihre Ordnung durch Normen. Nach solchen 'Naturgesetzen' wiederum ließen sich unbegrenzt viele, immer wieder unterschiedliche Charaktere erfinden, die gleichwohl zu den realen Menschen einen mimetischen Bezug aufwiesen - Voraussetzung dafür war nur, daß die Figuren nach denjenigen Regeln konzipiert wurden, die als 'die Natur' galten. Die Mimesis bezog sich also auf die Vorstellungen über die menschliche Natur. Auf diese Weise ließ sich hoffen, daß selbst bei hochindividualisierten Charakteren das durch die Neuigkeit der gelesenen Geschichte verschaffte Vergnügen zugleich mit dem Nuzen verbunden seyn könnte, die Menschen zu kennen.2*6 Zum genaueren Verständnis der Wahrheitswirkungen der Romane bedarf es der Berücksichtigung der literarhistorischen Formierung der Lesererwartungen. Die aufklärerische Dichtungstheorie war in dem Bemühen, die wesentliche Leistung der Literatur in der Naturnachahmung zu behaupten, überaus erfolgreich gewesen. Mit der Verflechtung zwischen Dichtung und Naturgesetzlichkeiten (und das meinte vor allem die menschliche Natur) war der Referenzbezug der Dichtung auf einen imaginären Zusammenhang gelenkt worden, der gleichwohl allen als eine verläßliche und der eigenen Wahrnehmung zugängliche Größe erschien: In der literarisch nachgeahmten 'Natur' eröffnete sich dem Leser ein komplexes Regelsystem, dessen Kenntnis nicht nur Wissenschaftlern interessant, sondern vielmehr allen Menschen nützlich sein konnte - und sollte. Dabei mußten sich die Leseerwartungen der Rezipienten nicht wesentlich umstellen beim Wechsel von den beiden nächstgelegenen Textsorten zum Roman. Einerseits bezog die Erbauungsliteratur ihre Wirkung stets aus der Referenz auf als allgemein geltende Wahrheiten. Vor allem aber galt andererseits seit langem die Lektüre von historiographischen Darstellungen als lehrreich im Interesse einer Erkenntnis allgemeiner Wahrheiten. An der Erwartungshaltung der Leser gegenüber den
245
kleinste Rührung, die einen Eindruck auf uns machen kan, die wahre Beschaffenheit der Leidenschaften, besonders der Liebe, kurz die natürlichste Abschilderung des menschlichen GemQthes, wie man es alle Tage aus einer betrachtenden Erfahrung wahrnehmen kann.
Ebenda (über Prevosts Le Doyen de Killerine, 1735-39). 247 Ebenda. So spielten auch die Zwistigkeiten zwischen den einzelnen religiösen Richtungen in dieser Textgattung eine untergeordnete Rolle; siehe Sauder: Erbauungsliteratur.
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rezipierten Texten 248 brauchte sich also gar nicht viel zu ändern, war man doch gewohnt, am individuellen Fall ein Allgemeines zu studieren. Infolge der Transformationen des Wahrheitsbezugs der Romane in ein universales Fiktivum von anerkannter Dignität - Natur - konnten die durch Literatur vermittelbaren Wahrheiten erheblich erweitert und differenziert werden. 'Natur' war eine übergreifende Ordnungsinstanz fast ohne jede einschränkende Reglementierung, solange den Anforderungen der Wahrscheinlichkeit einigermaßen genügt wurde. So stand mit 'der Natur' ein nahezu unbegrenztes Fiktionsarsenal zur Verfügung. 'Natur' war aber nicht, wie allgemein suggeriert wurde, ein globaler Wirklichkeitszusammenhang, welcher sich der individuellen Anschauung darbot, sondern 'Natur' war das Ergebnis einer bestimmten ordnenden Wahrnehmung von Realitätsmomenten. Die Strukturierung dieser Wahrnehmung erfolgte über bestimmte Redeweisen und Diskurse. Gebündelt wurden die entsprechenden Vorstellungen von der 'menschlichen Natur' einige Jahrzehnte lang von den beiden sehr erfolgreichen Diskursen von Empfindsamkeit und Liebe. 249 Die mit ihnen vertrauten Rezipienten bezogen daher auch aus diesen Diskursen die Beurteilungskriterien für die Bewertung der internen Verknüpfungsleistungen wie der externen Wahrheitsbezüge von Romanen. Da diese Diskurse wesentlich in der Literatur ausdifferenziert und vorangetrieben wurden, produzierten die Texte in gewisser Hinsicht die Wahrheit selber, die von ihnen abgebildet zu sein schien und von den Rezipienten als neue, tiefe Einsichten in die menschliche Natur gepriesen wurde. Die Regeln der Diskurse schränkten also unbemerkt die unendliche Mannigfaltigkeit einer individualisierenden Figurenpsychologie ein, so daß der Eindruck der Zeitgenossen durchaus seinen Grund hatte, die Romane gäben Auskunft über die 'menschliche Natur'. 251 Allerdings blieben die theoreti248
In bezug auf die Hisoriographie siehe hierzu etwa Koselleck: Historia Magistra Vitae, sowie Heitmann: Das Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung, 249
259-279.
Siehe hierzu Wegmann: Die Diskurse der Empfindsamkeit, sowie Greis: Drama Liebe. Zur Entwicklungsgeschichte der modernen Liebe im Drama des 18. Jahr250 hunderts. Voraussetzung dafür war auf Leserseite natürlich eine gewisse Vertrautheit mit dem Diskurs, der vor allem in seinen integrativen, weniger radikalen Formen so sehr auf allgemeinen Vorstellungen der Aufklärung aufsaß, daß diese Bedingung für Romane wie die von Richardson - ebenso wie in Deutschland etwa die von La Roche 251 weithin erfüllt war. Daher gehört es keineswegs zum Konzept des pragmatischen Romans hinzu, daß menschliches Verhalten zu allen Zeiten und überall nach den gleichen anthropologischen und sozialpsychologischen Regeln verlaufe, sondern war ein spezifischer Effekt der Stützung literarischer Wahrheitsansprüche durch den Anschluß der Fabeln an einige zentrale Diskurse des 18. Jahrhunderts bei gleichzeitiger Deklarierung der
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sehen Schwierigkeiten nicht unbemerkt, die sich aus den immer weiter ausdifferenzierten Einzelcharakteren für die von den Texten behauptete Erkenntnisleistung in bezug auf ein (inhaltlich begrenztes) Allgemeines wie 'den Menschen' ergaben. Blanckenburg sah das Problem genau und lavierte einigermaßen hilflos herum: Und wenn auf den ersten Anblick die Voraussetzungen des Dichters, und Werthers angenommener Charakter zu ausschließend, zu besonders, und nicht die allgemeine Wahrscheinlichkeit der Dinge dieser Welt zu haben scheinen solten, die man mit Recht auch von dichterischen Charaktern fodert, so ergiebt sich doch bey genauer Untersuchung, daß die Grundlage zum Wertherischen Charakter sich in der menschlichen Natur genug findet, und daß die angenommenen Umstände gar nicht außerordentlich in ihrer Art sind, wenn sich gleich beides selten in der Welt wirklich so zusammen trifft. 252
Fragt man danach, was denn der 'denkende Kopf", der gern das sonderbare Ding, 253
das menschliche Herz, anatomiren wollte, über den Menschen zu erfahren hoffte aus einer vollständig individualisierten Geschichte, so tauchen Schwierigkeiten auf. Welches sind denn die 'Gesetze der menschlichen Natur', die an einer fingierten Biographie zu studieren waren, von der zugleich immer wieder betont wurde, daß ihre besondere Stimmigkeit aus der vollständig individualisierten Einzigartigkeit eben dieser einen Ereignisabfolge entspringe? Für diesen Zusammenhang, den die Zeitgenossen so gem mit 'Natur' benannten und der sowohl in der literarischen Welt als auch in der außerliterarischen galt, hat die Kulturwissenschaft seit einigen Jahren einen neuen Namen in Mode gebracht: Diskurs. 254 Die Genese des Liebesdiskurses aus dem Diskurs der Empfindsamkeit ist jüngst von Greis rekonstruiert worden. Dabei hat sich gezeigt, daß der Liebesdiskurs von Anfang an das Risiko, das in der Freiwilligkeit dieser Kommunikationsform besteht, von der Empfindsamkeit ererbte. Je mehr nun der
252
so illustrierten 'Regeln' als 'Natur' (siehe aber Dammann: Die Entstehung des Romans aus der Moralischen Wochenschrift, Zitat 135). NBWK 18, 1175, 81 f; siehe zum Problem auch Garve: Aber gesetzt, wir wären so
gute Schöpfer, daß wir wirklich neue individuelle Naturen hervorbringen, und sie hinlänglich abwechseln könnten: was können uns alle diese Wesen angehen, die wir niemals um uns herum gesehen, mit denen wir niemals in irgend einem Verhaltnisse gestanden haben? (Über das Intereßirende, 232f.) 254 EGZ 6, 1774, 737. Siehe zur Geschichte des Begriffs und seiner Rolle in den Sozialwissenschaften Schüttler: Sozialgeschichtliches Paradigma und historische Diskursanalyse; hier wird der Begriff benutzt im Sinne der Foucault-Applikationen von Wegmann (Diskurse der Empfindsamkeit; Zurück zur Philologie?) und Greis (Drama Liebe). Zum Stand der Forschungsdebatte siehe insgesamt den Band: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. 253
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Liebesdiskurs Identitätsfunktionen für den einzelnen übernahm, desto schwerwiegender mußten sich die Folgen bei nicht erwiderter oder aus anderen Gründen aussichtloser Liebe für den Betroffenen auswirken. 255 Eben dieses Risiko illustrieren Werthers Leiden an einer Figur, die als eine der ersten im deutschsprachigen Raum die Empfindsamkeit zum modernen Liebesdiskurs hin überschritt. So gründet die Überzeugungskraft der inneren Notwendigkeit, mit der Werther sich erschießt, weniger in den Gesetzen der menschlichen Natur als in der Logik des Liebesdiskurses. Gerade in dieser Verwechslung bestand ja die oft behauptete Fehlrezeption deijenigen Leser oder Leserinnen, die sich von der Lektüre solcher Romane zu der Annahme verleiten ließen, so sei die menschliche Natur. Dem historischen Problemstand des Liebesdiskurses entsprangen auch Stimmigkeit und Relevanz des romanhaften Experimentalarragements 256
Gott, wohin kann die Liebe führen! - wem schaudern nicht? fragte ein Rezensent. Überwältigt von der präzisen Verschränkung der literarischen Handlung mit den Gesetzmäßigkeiten und den aktuellen Schwierigkeiten des Diskurses in seiner sich vollziehenden Ablösung aus der Empfindsamkeit, 257 stammelten die Zeitgenossen eine vielfach hilflose Bewunderung, die sich mit Schlagworten wie Menschenkenntnis, Tiefe, Natur, menschliches Herz, Seele und der ständigen Berufung auf die emotionale Stimmung des Werkes behalf. Dabei dürfte die ΛΤΠ
255
Siehe Greis: Drama Liebe, bes. Teil 2, danach auch im folgenden; zum Problem Luhmann: Liebe als Passion, 123-136. 256 257 MDC 4, 1, 1775, 62. Im Gegensatz zum Werther ist in Rousseaus Nouvelle Hilol'se eine emphatische Formulierung des Liebesdiskurse noch eingebettet in die Empfindsamkeit, welche am Ende das romantische Liebesempfinden von Julie und St. Preux sozusagen zu einem Sprechversuch relativiert, der vor seinen individualisierenden, die empfindsame Sozialität sprengenden Konsequenzen (noch) zurückschreckt. Vom Werther aus, der einen weiter fortgeschrittenen Stand der Ablösung des Liebesdiskurses aus der Empfindsamkeit repräsentiert, könnte daher Rousseaus Roman als uneinheitlich oder weniger konsequent erscheinen (so zum Beispiel Weydt: Der deutsche Roman, 1295f.) Andere diskursgeschichtliche Zuordnungen am Werther illustriert MeyerKalkus: Werthers Krankheit zum Tode. Zum Zusammenhang von Liebesdiskurs und Empfindsamkeit siehe Greis: Drama Liebe. 258
Zum Beispiel: Und nun - Werther und Lotte! und hier erst - aufmerksames Bemerken, warmes Geflihl; dann Liebe, Enthusiasmus, Begränzung alles Glücks auf die Liebe dieser Einzigen - aber doch noch Entschlossenheit diese Einzige zu verlassen, die er nicht besitzen konnte - dann Trennung, aber bald wieder Rückkehr, und nun edles überströmender Enthusiasmus, Taumel der Liebe, Schwinden des Himmels und der Erde, und endlich - Gott! wohin kann die Liebe führen! - wem schauderts nicht? - Jünglinge hört es! - fühlt es! - endlich - Selbstmord! (MDC 4, 1, 1775, 62) Blanckenburg: so wird freylich dennoch eine trockene Auseinandersetzung nicht den Geist, das Leben athmen können, der in dem Werke selbst lebet. (NBWK 18, 1775, 94)
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'endlos' 260 auslegbare Semantik dieses Romans, seine Wahrhaftigkeit, darin liegen, daß er die Logik des Diskurses durchgespielt hat. Eben dies macht die Differenz aus zu den hunderterlei möglichen Geschichten Nicolais.261 Unter den 'Gesetzen der Natur' summierten sich die Diskursregeln, von denen Reduktionswirkungen gegenüber der unbegrenzten Fülle des Möglichkeitsbegriffs ausgingen. Denn ganz offenbar wurde ja das Vermögen, der unendlichen Mannigfaltigkeit in der 'Natur der Erscheinung' Schranken zu geben und in ihr einzelne Gegenstände abzusondern, wie Lessing es nannte,262 nicht von allen Menschen verschieden ausgeübt. Im Gegenteil gab es hierin bestimmte, historischem Wandel unterworfene Reglements der Ordnung der Dinge und des Sprechens über sie, und diese Regeln gestatteten die Beurteilung der literarischen Geschichte eines Charakters nach den Prinzipien der Wahrscheinlichkeit oder der inneren 'Notwendigkeit'. Lessing unterschied in diesem Zusammenhang eine Nachahmung der Natur der Erscheinung und der Natur unserer Empfindungen und Seelenkräfie. Daran wird exakt die entscheidende Funktion der Diskurse gegenüber einer Wirklichkeit kenntlich, in der alles mit allem verbunden ist, alles sich durchkreuzt, alles mit allem wechselt, alles sich eines in das andere ändert:263 Gegenüber einer in solcher Weise als ineinander verschwimmend wahrgenommenen Realität wird die Ordnungsfunktion der Diskurse deutlich. Die prätendierte Zugänglichkeit ihrer Semantik für jeden einzelnen gewährte diesem die Kriterien zur Bewertung einer innerliterarischen hohen Wahrscheinlichkeit nach einem immerhin begrenzten Regelkanon: die Diskurse boten daher den Bewertungs260
Wollt ich alles sagen, was ich bey diesem vortreflichen Buche gedacht, bewundert, empfunden, untersucht habe: so maßt ich ein dreymahl so starkes Buch schreiben, als es W.L. sind. Wollt ich nur alles das sagen, was dieser vortrefliche Roman als Regel, als Muster für unsre Romanschreiber enthält: so müßt ich doch noch immer ein Buch schreiben. (MDC 4, 1, 1775, 63) 261 Die von Nicolai gewählte Lösung zum glücklichen Ausgang entspricht einer verbreiteten Form, absehbare Handlungsabfolgen zu variieren, indem nachträglich die Regeln verändert werden, nach denen die Charaktere bisher handelten. Während bei Goethe der Konflikt gerade auf der Unmöglichkeit fur Albert beruhte, den (Liebes-) Diskurs zu verstehen, den Werther spricht und nach dem er handelt, läßt Nicolai Albert unverhofft zu der souverän-überlegenen Figur werden, die Werther genau versteht und daher sein Handeln kalkulieren (und die Pistole mit Hühnerblut laden) konnte. Diese Manipulation entspricht genau Nicolais Versuch, den Liebesdiskurs als jugendliche Schwärmerei abzutun und noch einmal in die Empfindsamkeit zu reintegrieren. Deshalb ist auch immer wieder von der 'Geselligkeit* die Rede, einem zentralen empfindsamen Schlagwort. 262 Hamburgische Dramaturgie, Sämtliche Schriften 10, 82 (70.St.). Ebenda. 264 Denn die 'Notwendigkeit', von der Lessing in diesem Stück der Hamburgischen Dramaturgie auch spricht, war ja lediglich eine gesteigerte WahrscheinlichkeitsSuggestion.
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maßtab für die Beurteilung der literarischen Handlungen. Für die Texte bedeutete diese Unterwerfung unter die Geltung des Diskurses
einen entscheidenden
Gewinn an Konsistenz, weil aus dem Bezug auf Grammatik und Semantik des Diskurses eine gesteigerte Plausibilität der jeweiligen Fabellogik in der Beschneidung der Unendlichkeit der Variationen zu erzielen war. Die verbreitete Rede von der tatsächlichen Notwendigkeit in einer literarischen Geschichte wird daher verständlich als Benennung des konsequenten Vollzuges der Diskurslogik 266
durch einen Text. Dabei setzte die beschriebene Überlagerung der Grenze zwischen Literatur und Wirklichkeit durch die 'Natur 1 , also eigentlich durch die Diskurse, keineswegs die bisher nachgezeichneten Eigendynamiken literarischen Erzählens außer Kraft, sondern trat mit ihnen in eine mitunter produktive Antinomie. Jenes Experimentalarrangement, nach dem in der geschilderten Entwicklung die fingierten Charaktere auf ihre wahrscheinliche (oder 'notwendige') Reaktion in einer bestimmten Ausgangssituation befragt werden konnten, erlaubte es nicht nur, den Protagonisten mit dem Diskurs auszustatten, sondern ließ solche Ausstattung unvermeidlich werden. Wenn einige Zeitgenossen also von jener äußerst künstlichen Lebensgeschichte des Agathon begeistert waren, dann nicht wegen einer etwaigen historischen Präzision und vermutlich auch nicht allein wegen der Launigkeit des Wielandschen Erzählers, sondern zu großen Teilen, weil hier mit Genauigkeit
die
Diskursprobleme
einer
schwärmerischen
Empfindsamkeit
265 Resewitz benannte die Kompetenzen eines Autors so: da es doch Männer von ge-
prüftem Geschmack seyn sollten, die mit der feinern Welt und mit den mannigfaltigen charakteristischen Wendungen des menschlichen Herzens hinlänglich bekannt wären (ADB 1, 2, 1765, 228). Ein solches Wissen ist aber nichts anderes als die Kenntnis der Regeln der hier einschlägigen Diskurse von Liebe und Empfindsamkeit. Zur großen Überraschung weiter Teile des Publikums beschrieb Rousseau im wohl erfolgreichsten Roman des 18. Jahrhunderts, der Nouvelle Hilotse, nicht eigene Erlebnisse. Worauf der Schweizer zurückgriff, war die Beherrschung von Empfindsamkeit und Liebesdiskurs und seine lebhafte Phantasie (siehe Rousseau: Les Confessions, 547f.). Hierzu auch Weinrich: Muß es Romanlektüre geben?, sowie Bauer: Einführung in einige Texte von Jean-Jacques Rousseau; außerdem Darnton: Rousseau und sein Leser, 138, 141, sowie über den Brief einer Leserin an Rousseau
(140): Eine junge Frau schrieb, daß sie sich mit Rousseaus Personen völlig anders als mit denen in allen anderen Romanen, die sie gelesen hatte, identifizieren könne, weil sie keinen spezifischen sozialen Rang inne hätten, sondern vielmehr eine allgemeine Denk- und Fahlweise darstellte, die jedermann auf sein eigenes Leben anwenden könne. Eben dies ist ja dann auch in einzigartiger Weise geschehen, so daß Rousseaus Roman als ein wichtiger Katalysator zwischen Empfindsamkeit und Liebesdiskurs, also bei der kulturhistorischen Vorbereitung 'romantischer Liebe', angesehen werden muß. Siehe hierzu auch Guthke: Zur Frühgeschichte des Rousseauismus in Deutschland; zum Problem Greis: Drama Liebe.
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durchgespielt werden. Je präziser aber der Text nur nach den 'Regeln des Erzählens' gearbeitet, je genauer also - nach den Worten der Zeitgenossen - die narrative 'Maschine' berechnet war, desto mehr ließ sich über die Logik des in diese Maschine eingespannten Diskurses und seiner Evolution erfahren. Denn mittels der Kategorien der Wahrscheinlichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit waren ja die allgemeinen Rationalitätsstandards mit der Logik des Erzählens verknüpft worden. In diesem Sinne konnte also auch im Roman die Natur genötigt werden, auf die Fragen des Naturforschers zu antworten (um Kants berühmte Definition des Experiments zu verwenden).267 Diese Überlegungen machen verständlich, weshalb die vielfach logisch gut geschulten Rezensenten immer wieder 'die Natur' in einzelnen Texten zu finden glaubten.268 Der jeweils in einem Text aktualisierte Diskurs kann verstanden werden als eine zusätzliche Beschränkung der schieren Möglichkeitsvielfalt literarischer Handlungsvariation, ohne gleichwohl den Handlungsverlauf zu determinieren, da ein Diskurs eine Summe von Regeln ist, welche noch immer eine Fülle von möglichen 'Redeformen' zuläßt. Deshalb wurden durch die Reduktionsleistungen des Diskurses nicht die oben betonten Glaubwürdigkeitseffekte der internen Handlungsverknüpfung aufgehoben, sondern nur ergänzt. Goethes Anwendung der Romanmaschinerie auf den zum Liebesdiskurs hin radikalisierten Diskurs der Empfindsamkeit illustrierte die kulturellen Risiken einer vollständigen Individualisierung, welche zugleich in die soziale Isolation fuhren konnte.269 Der schon die Empfindsamkeit kennzeichnende 'Konstruktionsfehler', kein Kompensationsverhalten für Frustrationen, sondern einzig gelingende Verständigung vorgesehen zu haben, führt im Liebesdiskurs beim Enttäuschungsfall zur Katastrophe, weil hier nur der Verständigung mit dem einen ausgewählten anderen Identitätsfunktionen zugewachsen sind.270 Mit dem Auf267
269
Siehe: Kritik der reinen Vernunft, Einleitung, Β XHIf. Etwa FGZ 21, 1756, 521: Juliens Charakter ist ganz Natur; oder Neue Erweiterungen der Erkenntnis und des Vergnügens 5, 334: Fielding läßt alle Personen so reden, wie sie es von Natur müssen. Diese Gefahren werden in Nicolais fingiertem Gespräch über Werther präzis benannt: Aber wohl könnt [ihr Springinsfelde] am guten Werther von weitem sehen, wohin's führen muß, wenn einer auch beim besten Kopfe und beym edelsten Herzen, immer einzeln für sich seyn, immer Kräfte anstrengen, und immer dabey außerm Gleise ziehen will. Wenn dabey Kraft und Statigkeit in der Seel' ist, [...] und ein Unglück stemmt sich dawider, wo will da Trost und Entschluß herkommen? (Freuden des jungen Werthers, 1 lf.) Diesen Zusammenhang zwischen den neuen Identitätsfunktionen des Liebesdiskurses (siehe Greis: Drama Liebe, V, und Luhmanns 'Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation') und der Individualisierung beschrieb Blanckenburg so: Wenn das ganze Glück, das Leben und die Freude eines Menschen, seine ganzen Empfindungen, sein ganzes Seyn, in Eine einzige Person einmal verwebt sind, und diese Per-
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zeigen solcher Gefahren deutet Goethes strikte Umsetzung der Forderung nach interner Stimmigkeit in dem literarischen Durchbuchstabieren des Liebesdiskurses zugleich das Scheitern der aufklärerischen Hoffnung an, in Diskursen neue Selbstverständlichkeiten an Stelle der alten lebensweltlichen Orientierungen 271
künstlich zu etablieren. Was für einige Zeit möglich geschienen hatte, konturiert sich als hypertropher Traum vom Konsens. Die Kohärenz der 'eigenen Welt' eines Erzähltextes reicht für die historische Erklärung besonderer Glaubwürdigkeitsbescheinigungen gegenüber einzelnen Texten nicht aus. Einerseits ist die Einhaltung eines bestimmten Maßes an innerer Wahrscheinlichkeit in einer Romanhandlung ein rein technisches Problem der psychischen Handlungsmotivierung und der Vermeidung krasser Unstimmigkeiten. Andererseits können im Erzählen einer Geschichte keine notwendigen Handlungsabfolgen aufgebaut werden. Immer mischen sich in eine solche Fabel Zufalle, die lediglich mit erzählerischem Geschick einigermaßen kaschiert 2T2 zu werden vermögen. Romantheoretische oder literaturtheoretische Forderungen nach Kausalität und Notwendigkeit waren im logischen Sinne immer Hypertrophien. Vor allem aber dürften diese logischen Probleme die Breite der Leserschaft gar nicht so sehr gekümmert haben. Zwar wurden solche Kriterien etwa von dem zitierten Kritiker im Vergleich zwischen Goethes Leiden und Nicolais Freuden Werthers herangezogen, aber die Vorstellung, daß Werther mit Folgerichtigkeit so enden mußte, resultierte nicht aus der Anlage der Figur - gerade die Behauptung einer solchen Notwendigkeit galt es ja im Gegenteil aus moralischen Gründen zu vermeiden; die Notwendigkeit von Werthers Ende ergab sich also nicht aus der Figurenanlage, sondern aus den kultursemantischen Kontexten, die mit diesem literarischen Charakter abgerufen wurden. Durch die Frage, was fiktivitätsbewußte Leser an einer erfundenen Geschichte 'wahr' finden konnten, wird eine literarhistorische Untersuchung zum Roman im 18. Jahrhundert zu methodischen Konsequenzen geführt, die über einen fiktionstheoretischen Rahmen hinausführen. Die eher gattungsgeschichtlich ausgerichtete Arbeit kann die von den Zeitgenossen wahrgenommene Glaubwürdigkeit literarischer Erzähltexte ohne Bezug auf bewußtseinsgeschichtliche Begriffe nur unzureichend beantworten. Wegen der Orientierung an der Glaubwürdigkeitsfrage ging es dieser Untersuchung von vornherein nicht um eine klare gattungsgeschichtliche Abgrenzung gegen andere Erzähltextsorten, sondern um son nun JÜr ihn weg, aus seinen Augen gewisser [gerissen?] wird, muß er nicht gleichsam nach? Und wie? in dieser Welt? Dann ist sie fllr ihn nicht mehr in dieser Welt. (NBWK 18, 1775, 81) Siehe Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, 13f. Zum Problem siehe K.-D. Müller: Der Zufall im Roman, sowie in einer Reihe von literarhistorischen Einzelanalysen Frick: Providenz und Kontingenz.
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spezifische Aspekte der literarischen Narration überhaupt. Der Diskursbegriff bietet sich in diesem Zusammenhang an als eine inzwischen geläufig gewordene bewußtseinsgeschichtliche Kategorie für geschichtlich wirksame Strukturen, welche die Formen des Redens über das Wirkliche reglementieren. Insofern der Diskurs eine Ordnung der Dinge war, bezeichnet er eine Wahrheit, die von den Wahrnehmungen oder den Erscheinungen der empirischen Realität ebenso zu unterscheiden ist wie von den theoretischen Wirklichkeitskonzepten. Gerade darin aber gewinnt der Diskursbegriff seine Illustrationskraft in einer Untersuchung zum literarischen Erzählen im 18. Jahrhundert: denn für die Selbstbehauptung des Erzählens kam es darauf an, die Anwendung der neuen Realitätsbegriffe einer empirischen Faktizität (und einer theoretisch anspruchsvollen systematischen Realitätskonzeption) für den Rezeptionsakt von literarischen Erzähltexten zu entmachten. Die Stärken möglicher Veranschaulichungsleistungen 273
des Romans bezogen sich nicht auf die Faktenwirklichkeit und nur begrenzt auf logisch plausible Konstruktionen. In der einen Richtung lag die Gefahr der Selbstaufgabe zugunsten der Historie und die Gefahr des 'Kaltstellens' der Phantasie als wesentlichem Potential des Unterhaltungsgewinns. In der anderen Richtung drohte die Langeweile, denn der Markterfolg von Aussagekalkülen ist vergleichsweise gering. Um sich die Freiheit zum Geschichtenerfinden ebenso zu erhalten wie die Möglichkeit des interessanten Erzählens, mußte der mimetische Bezug des Romans verändert werden. Die Natur, die im Roman nachgeahmt wurde, war keine faktische Wirklichkeit, sondern diejenige 'Natur des Menschen', die nach zeitgenössischer Vorstellung anthropologisch gegeben war. Daß diese 'Natur' jedoch kulturhistorischen Bedingungen unterworfen war und eine Geschichte haben konnte, darauf pocht der Diskursbegriff. Dabei waren gattungsgeschichtliche Gründe dafür verantwortlich, daß im Roman überwiegend die sozusagen emotionalen Diskurse (Empfindsamkeit, Liebe) thematisiert wurden, denn das 275 Liebessujet war der Gattung seit dem Barock vornehmlich eingeschrieben. Gerade der besondere kulturelle Einfluß der Empfindsamkeit zu Beginn der 1770er Jahre könnte den einzigartigen Erfolg zweier Romane erklären, die die273
275
Siehe etwa ADB 76, 1787, 437f.: Daß diese Briefe, wie der Herausgeber versichert, nicht erdichtet sind, sondern wirklich also gewechselt worden, glaubt Recensent gern, denn sie sind langweilig genug fllr jeden nicht dabey interessirten Leser, um die wahrhafte, zu unserm Unglück aufbewahrte Corresponded zwischen ein Paar verliebten Leuten und ihren höchst unbedeutenden Vertrauten ausgemacht zu haben; aber, daß ein Mann die Impertinenz begehen kann, dergleichen nichtswürdiges Zeug auf so viel Bogen abdrucken zu lassen, und dazu noch in der Vorrede sich etwas darauf zu gute zu thun - das ist zu arg. Siehe hierzu grundsätzlich Vietta: Literarische Phantasie. Siehe hierzu Voßkamp: Romantheorie, 45-52, 73-77.
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sen Diskurs aufgriffen, thematisierten und ausdifferenzierten: Rousseaus Nouvelle Hilol'se und Goethes Werther. An einem Text interessiert war nach Garves Überlegungen der Leser dann, wenn seine 'Seele* beteiligt war. Eben dies bewirkte die virtuose Realisierung erzähltechnischer Plausibilisierungsverfahren in der Anwendung auf diejenigen Diskurse, welche gerade besonderen Einfluß auf die Gefühlshaushalte des lesenden Publikums gewonnen hatten. Die 'Wahrheit', denen die Leser mit Betroffenheit im Werther begegneten, ist die Wahrheit des Diskurses, des Reglements, nach dem er das emotionale Verhalten deijenigen prägte, die sich auf ihn einließen. 276 Dabei muß berücksichtigt werden, daß die Literatur die Diskurse selbst ausdifferenzierte und ihnen Geltung verschaffte, mit den Worten Manfred Schneiders: Die Umwälzung des Familienlebens erfolgte am Ende des 18. Jahrhunderts keineswegs [...] durch eine spontane Umbenennung der Beziehungen, sondern in einer schwierigen und ungewissen Verarbeitung neuer Lebenserfahrungen im Horizont bereits literarisch vorgeformter ethischer Standards und emotionaler Codes. [...In die] Spielräume freier und fluktuierender familaler Beziehungen senkte sich die bürgerliche Literatur als literarische Regelstruktur neuer moralischer 277 Verhaltensnormen. Werthers besonderer Rang bestand darin, den Diskurs fortzuschreiben und zugleich Konsequenzen möglicher Entwicklungen der Empfindsamkeit zu illustrieren. Doch ist Werther ein besonderer Fall, der hier nur als Beispiel dafür herangezogen werden sollte, daß die Konzentration in einem Roman auf einen Diskurs zu außergewöhnlichen Glaubwürdigkeitseffekten führen konnte, wenn dieser Diskurs einen großen Einfluß unter den Lesern hatte und der Text bis dahin unbemerkte Konsequenzen zu illustrieren vermochte. Unter dieser Bedingung konnten die Urteile der breiteren Leserschaft und der Literaturexperten sogar zusammenfallen - auch wenn etliche die illustrierten Konsequenzen wegen ihrer sozialen Bedeutung fürchteten und deswegen den entsprechenden Roman verdammen wollten. Doch sollte das Beispiel hier nur veranschaulichen, warum in einer sich insgesamt eher am Roman als Gattung ausrichtenden literarhistorischen Untersuchung der Diskursbegriff benutzt wird: er steht für denjenigen 276
277
Als historisches Beispiel von der Erfaßtheit durch die lebensgefährlichen Konsequenzen des in der Empfindsamkeit entstandenen Liebesdiskurses kann Cornelia Goethe gelten - nach der Untersuchung von Ulrike Prokop: Die Melancholie der Cornelia Goethe. Schneider: Die kranke schöne Seele der Revolution, 14.
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Wahrheitsbezug der Erzählliteratur, der es gestattete, von literarischen Charakteren, die man als erfunden durchschaute, zu sagen, sie seien wahr. Der Diskurs bezeichnet eine Wirklichkeit, die nicht der Fall war, nicht als theoretisches Konzept entworfen war und dennoch als eine virtuell jedem Rezipienten zugängliche 278
Wirklichkeit zum Gegenstand literarischer Mimesis geworden war. Diese Nachahmungsleistung blieb der Erzählliteratur noch, als sie begonnen hatte, die Fiktivität ihrer Geschichten einzugestehen mit der Zufälligkeit ihrer HandΠ9 und *' lungskonstruktionen ironisch zu spielen: als Äquivalent für die immer offensichtlicher fehlende Faktizität wurde ein abstrakterer Referenzbezug den Lesern angeboten. In seiner Glaubwürdigkeit lag das Motiv dafür, im Lesevorgang eine Umbesetzung vorzunehmen und 280 nicht mehr der faktischen Wahrheit höchste Aufmerksamkeit zu schenken. Die Thematisierung des Menschen im literarischen Charakter hatte dem Erzählen ganz neue Möglichkeiten der internen Verschränkung gewährt. Neben der Erweiterung des Arsenals der Handlungsmotivierungen ins schier Unbegrenzte dehnte die Psychologisierung der literarischen Figuren auch die zur Verfügung stehenden Sujetmassen in ganz neue Dimensionen aus. Die durch beides 278
Die Behauptung eines eigenen Wahrheitswertes der Literatur sieht Seiler historisch entstanden durch eine Verlängerung der Wahrscheinlichkeit gleichsam ins Dunkle hinein zu einer 'Wahrheit der Dichtung', die sich dann von der anderer Weltauslegungen - und vor allem der wissenschaftlichen - unterschied: nur dqß sich damit die Frage stellte und noch immer stellt, wem diese andere, nicht in der Wahrscheinlichkeit gründende Wahrheit noch zugänglich ist, in wessen Lebenserfahrung sie ihren Platz hat (Leidige Tatsachen, 58). Darauf sollte hier unter Zuhilfenahme des Diskursbegriffs geantwortet werden. Es war die Wahrheit derjenigen, die sich auf den entsprechenden Diskurs eingelassen hatten, seine Regeln und seine inneren Konsequenzen kannten und daher die Folgerichtigkeit der literarischen Handlung wahrnehmen und bestätigen konnten. Am Beispiel Werther: diese Wahrheit hat noch immer in der Lebenswirklichkeit all derjenigen Platz, die mit solchem Einsatz an Identität lieben, daß ihnen im Fall der Enttäuschung das Leben sinnlos geworden 279 scheint. Siehe hierzu auch eine bezeichnende Stelle bei Garve: Wenn die Erscheinung nicht so gewöhnlich wäre, so würde es uns wunderbar vorkommen müssen, dqß der gemeinste elendeste Kopf unter den Zuschauern einer Minna, der, wenn er einen Wirth, einen Major Teilheim, einen Wachtmeister wie Paul Werner, selbst reden lassen sollte, nicht ein Wort würde zu finden wissen, wodurch sich diese Stände oder diese Charaktere unterschieden, doch, wenn diese Sprache von dem Manne von Genie gefunden ist, sie sogleich für die rechte eigentliche erkennet, und ihre Richtigkeit gleichsam durch seine eigenen Erinnerungen 'bestätigt'. (Garve: Über das Intereßirende, 235, Hervorhebung nicht im Original) Zweifellos gab (und gibt) es auch noch andere Formen abstrakter Referenzen. Doch zeigt die anhaltende Vormacht von Identitätsthemen, welche besondere Rolle die hier angedeuteten Formen des Bezuges auf zentrale kulturelle Diskurse in der Literaturgeschichte spielen.
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gewonnene Chance zur flexibleren Handlungsführung griffen aber selbst diejenigen Texte auf, die ihren Unterhaltungswert vor allem durch das Angebot 'äußerer' Handlung zu erhöhen suchten. So gehörte die Schilderung von 'Charaktern', und das hieß von individualisierten, stark ausdifferenzierten Figuren, seit den 1770er Jahren zu den standardisierten Beurteilungskriterien auch für weniger anspruchsvolle Romane.281 Mit der Darbietung erheblich subtilerer Handlungsbegründungen wuchsen im Laufe der Zeit zugleich die Erwartungen gegenüber den Texten. Das Maß, nach dem Motivierungen als unwahrscheinlich bestimmt wurden, schraubte sich in diesem Prozeß kontinuierlich höher.282 Gleichzeitig untergrub die fortschreitend differenzierende Beschreibung des inneren Lebens einer fingierten Psyche die ursprünglich einzig funktionale Konstanz und Eindeutigkeit der Charaktere. Ethische Vorbilder konnten aber nicht recht mehr mit Hilfe eines Erzählmodells vermittelt werden, das moralische Eindeutigkeiten allein noch auf Kosten wahrscheinlicher Motivierung herzustellen vermochte, seitdem die Ansprüche an die internen Handlungsbegründungen so deutlich gestiegen waren.283 Deshalb verlagerten sich die Wahrheitsansprüche der Texte allmählich fort vom moralischen Vorbild und hin zu der Illustration 281
282
283
Schon 1766 hieß es in der ADB über die Briefe des Herrn von S** kurz und bündig: Von der Klasse der gewöhnlichen deutschen Romane, ohne Charaktere, ohne Erfindung, ohne Witz, ohne Interesse. (ADB 2, 2, 1766, 271) ADB 65, 1785, 426: Charakter sucht man vergebens. Walch, ADB 85, 1789, 440f.: ohne Interesse, ohne Handlung, ohne gute Charakterzeichnung, ohne feines Raisonnement, ohne gute hinreißende Sprache, kurz, ohne alles, wovon auch der schlechteste Roman ein oder das andere zu haben pflegt! Aber auch noch Manso in der NADB 10, 1794, 277: Uebercdl verräth sich ein glücklicher Scharfblick des Vf. und eine mehr als gemeine Aufmerksamkeit auf sittliches Benehmen und abstechende Charakterzüge. (Über Knigges Reise nach Braunschweig) Weil seit Aristoteles die Nachahmung der Natur die Nachahmung der Natur des Menschen bedeutet, vermutete Garve allein noch auf dem Gebiet der Darstellung 'innerer Vorgänge im Menschen', dem Mechanismus nach welchem die Seele bey ihren Operationen verführt, der Triebwerke und Gesetze ihrer Bewegungen Fortschritte und Verfeinerungen. (Betrachtung einiger Verschiedenheiten in den Werken der ältesten und neuern Schriftsteller [190], wo Garve eine eigene Theorie der Epochendifferenzen skizziert) Das dementsprechend gewandelte Erzählkonzept wurde im TM (30, 1780, 237) so gekennzeichnet (über Wezeis Hermann und Ulrike)·. Weder Ideale von Laster und Tugend, sondern eine Art von raisonnierender Biographie wollte der Verfasser entwerfen. Die Probleme der moralischen Uneindeutigkeit differenziert gezeichneter Charaktere belegt auch eine Formulierung Carl Nicolais aus umgekehrter Perspektive. Damit die 'schlechten' Charaktere in den Romanen ja nicht zu viel Verständnis erweckten, erschien es ihm noch 1819 am besten, wenn sie bei der Entwickelung der Geschichte in einem gewissen Zweifelsschein verschwänden: Mag der Schriftsteller es dem Leser überlassen, darüber nachzudenken, welches wohl ihr Schicksal gewesen sey (Versuch einer Theorie des Romans, 110f.).
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der Gesetze der menschlichen Natur in kohärenten narrativen Modellen. Wenn es dabei zutrifft, daß die inhaltliche Dimension der von den Romanen beanspruchten Wahrheit, die 'Natur' angemessen als die Benennung deijenigen Funktionen beschrieben werden kann, welche die Diskurse erfüllten, dann wäre die Wahrheit der Werke eine zweigliedrige gewesen: der Form nach die Autonomie der auf wahrscheinliche ('notwendige') Art verschränkten Erzählkohärenz und strukturell die Heteronomie des Diskurses, der auf eine experimentell erzähllogische Weise in den literarischen Text integriert wurde. Die eigenen Erkenntnisleistungen solcher spezifischen Diskurspraxis resultierten dabei aus jener besonderen, konzentrierten Form, die den Diskurs (im günstigsten Fall) zwang, über sich und seine Natur Auskunft zu geben. Λ OA
5.8
Fiktionale Lektüre. Historische Ausdifferenzierung einer neuen Rezeptionsform
Mittels der Wahrscheinlichkeit hatte der Roman das Glaubwürdigkeitsdefizit kompensiert, das sich bei immer mehr Lesern in einem geschärften Fiktivitätsbewußtsein gegenüber erfundener Erzählliteratur einstellen konnte. Dabei war es gelungen, Wahrscheinlichkeit zu einer abstrakten Bedingung zu stilisieren, die es zu erfüllen galt, nämlich lediglich die offensichtliche Unmöglichkeit einer erzählten Geschichte auszuschließen. Wäre die Wahrscheinlichkeit in dem Sinn auf die Romane bezogen worden, daß der jeweilige Wahrscheinlichkeitsgrad einer Handlung eruiert worden wäre, dann hätte die wichtigste Funktion dieser Kategorie als Produktions- und Rezeptionsanweisung nicht realisiert werden können: die Entschärfung der Frage nach der faktischen Wahrheit. Erst mit den Techniken der Figurenpsychologisierung jedoch konnte auch eine inhaltliche Kompensation der in der fiktiven Romanhandlung entbehrten Tatsachenwahrheit glaubwürdig angeboten werden. Konnte 'die Natur' für die Erzählliteratur zum wahrheitsliefernden Fiktionsarsenal funktionalisiert werden, so erfuhr diese Natur ihre konkrete und interessierende Anschaulichkeit in der psychologischen Ausdifferenzierung der Charaktere. Auf diese Weise ließe sich von einer Überlagerung von autonomen und heteronomen Effekten sprechen. Dadurch könnte die spezifische Widersprüchlichkeit veranschaulicht werden, welche die seither als modem eingestufte Literatur 284
Siehe NBWK 44, 1791, 4, wo eben diese beiden Dimensionen miteinander verknüpft werden: Für den denkenden Kopf sei der besprochene Roman eine Reihe von Begebenheiten, die aufi innigste mit einander verknüpft sind, eine Kette von Ursachen und Wirkungen, deren Resultat die Losung eines psychologischen Problems ist.
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kennzeichnet: daß die Stimmigkeit des Textes einerseits die immer wieder betonten Selbständigkeitseindrücke des Textes hervorbringt, dadurch aber andererseits nicht die Doppelpoligkeit von Sein und Bedeuten, von Sache und Symbol, von Gegenstand und Zeichen zerbrochen wurde. Fiktionstheoretisch formuliert: wenn literarische Fiktionalität dadurch gekennzeichnet sein soll, daß das Sprecher und Hörer gemeinsame semantische Bezugsfeld ausgeschaltet ist, der fiktive Text vielmehr ein eigenes Bezugsfeld aufbaut, 286 dann entsteht eine Begründungsschwierigkeit dafür, daß auch fiktionale Texte überhaupt verstanden werden. Nun haben jedoch die Zeitgenossen solche Romane nicht nur verstanden, sondern ihnen in bestimmten Fällen Wahrheit zugesprochen, was schwerlich auf die mythischen Funktionen der sozialen Institution Kunst oder ihre Selbstdarstellung zurückgeführt werden kann, weil solche Wirkungen kein differenzierendes Beurteilungskriterium liefern. Auf diese Frage sollte hier unter Heranziehung des Diskursbegriffs geantwortet werden. Neben den theoretischen Problemen, wie im literarischen Text trotz seiner 'Autonomie' die Verständigung mit den Rezipienten gesichert wird, ging es aber auch darum, erst einmal zu zeigen, auf welchen Wegen die Referentialität des literarischen Sprechens in der Werkeinheit ausgesetzt werden konnte, es sollte also der Genese jener Eigengesetzlichkeit also nachgegangen werden, die seit der klassisch-romantischen Ästhetik gern zum Ausweis der Literatur überhaupt erklärt wird. Wollte man die bisherigen Ergebnisse der Untersuchung in einem Satz zusammenfassen, so müßte man sagen, daß das Legitimationsproblem des Romans durch eine allmähliche Entmachtung des faktischen Referentialbezuges gelöst wurde. Je stärker als Sujet und als Instrument einer immer flexibleren Handlungsmotivierung das Innere des Charakters von den Romanen genutzt wurde, desto unwichtiger konnten unmittelbare referentielle Bezüge werden. Die Wahrscheinlichkeit eines Werkes resultierte im wesentlichen aus den so auf ein neues Niveau gesteigerten Verknüpfungsleistungen. Mit den raffinierten Charakterisierungen der Figuren wurde also nur die für den ganzen unter der Kategorie Wahrscheinlichkeit thematisierten Komplex geltenden Tendenzen fortgesetzt. Zwar änderten sich mit der Zeit auch die Maßstäbe für wahrscheinliche Charaktere, was etwa zu vermehrter Kritik der Clarissas und Grandisons führte, aber tatsächlich gab es fast keine UnWahrscheinlichkeit an einer literarischen Figur, die mittels der neuen Techniken nicht auch hätte motiviert und begründet werden können. Deshalb ergibt sich aus diesen erzähllogischen Veränderungen und den ihnen entsprechenden Rezeptionsformen noch keine Antwort auf die Frage, warum die Texte tatsächlich solchen Erfolg hatten. 285 286
So aber Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, 22. Siehe Anderegg: Fiktion und Kommunikation, 27-41.
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Die übliche literarhistorische Favorisierung des Legitimationsproblems der Fiktion - und des Romans - könnte übersehen lassen, daß mit der Entmachtung von Fiktivitätsvorbehalten und der kulturhistorischen Herausbildung der Fähigkeit zu fiktionaler Lektüre noch lange nicht der immense Erfolg des Romans erklärt wird. Erst in dem Glauben einiger Rezipienten (infolge des Anschlusses der Romane an einige der zentralen kulturellen Diskurse), in den literarischen Erzählungen von fingierten Charakteren die Gesetze der 'menschlichen Natur' kennenzulernen, zeichnen sich Anhaltspunkte für die individuellen Motive einer breiten Leserschaft ab, sich auf die angebotene Vernachlässigung des Referenti287
albezuges wirklich einzulassen. Nur in solch einem kompensatorischen Wahrheitsangebot kann der Grund dafür vermutet werden, daß die Texte tatsächlich auf die Regeln der Diskurse, als der konkreten kulturhistorischen Ausprägung der 'menschlichen Natur', hin gelesen wurden. Darin lag die Veranlassung für die Leser, an der zunehmend wahrgenommenen Fiktivität der Romane keinen Anstoß zu nehmen und statt dessen von den Texten bestimmte Erkenntnisse zu erwarten, die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen. 288 Der Effekt dieser Entwicklung war enorm. Konstatierte ein Romanautor noch 1743, daß auf niedern und289hohen Schulen die Jugend vor Romanen wie vor dem Fegefeuer gewarnt werde, so war die Gattung bis Ende der 1770er Jahre nicht 290
nur theonerähig geworden, konnten ihr nicht nur höhere Erkenntnisleistungen zugeschrieben werden als der Historiographie selbst, sondern die Romane hatten 287
In einer Rezension Knigges von 1795 in der NADB (17, 194) hieß es: Das ist der Plan von diesem Romane, der übrigens nicht durchaus schlecht geschrieben ist, aber auch keinen wichtigen Beytrag zur feineren Seelenkunde liefert. Ob denn alle jungen Leute Gelegenheit hätten, Welt und Menschen zu studieren, fragt in einem fingierten Gespräch über den Roman die Figur Minchen ihren romanfeindlichen Bruder und hält ihm schließlich entgegen: Und ich hob in dem Roman das menschliche Leben im Kompendio. (Timme: Faramonds Familiengeschichte 2, 237) Der Vorwurf des Bruders, daß die jungen Frauen nicht nur die Gefahren der Liebe, sondern die Liebe selbst erst aus den Romanen kennenlernen würden, ist historisch ohne Zweifel berechtigt. Deshalb ist die Entgegnung Minchens aufschlußreich, weil sie den Verdacht präzis abzuwehren sucht: Denkst du denn, daß unsere Empfindungen warten, bis der Romanschreiber sie in uns erregt? Du wirst nicht so einfältig sein, Brüderchen1, das zu behaupten. Das Mädchen auf dem Dorf, und unter dem Dache, lernt empfinden, ohne den Namen Roman gehört zu haben: und die Natur lehrt sie die Befriedigung ihrer Empfindung suchen [...]. Nein Bruder! der Roman bleibt uns eine Schule, worinne wir die Welt leichter, in kürzerer Zeit, und ohne Gefahr und Schaden studiren können. (240) Etophilus [Pseudonym]: Die Obsiegende Tugend, Vorrede A5V. Der Westfälische Beobachter hatte 18 Jahre vor Blankenburgs Versuch über den Roman sich bei der Rechtfertigung mancher tugendhafter Romane noch ganz sicher gefühlt, daß ein angehender Gelehrter sich ohne Zweifel übel raten würde, wenn er seine Gelehrsamkeit in einer Romanenwissenschaft suchte. (1756, 601)
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vor allem einen neuerlich zunehmenden Erfolg, obwohl (beziehungsweise auch dort, wo) sie immer mehr als fiktiv durchschaut wurden. Ein größer werdender Teil der Rezensenten las offenbar die Romane als eigene kohärente Welten die gleichzeitig allerdings beherrscht waren von den 'Gesetzen der menschlichen Natur'. Auch für die zuletzt beschriebenen Kohärenzeffekte literarischen Charakterisierens muß die erwähnte Gegenläufigkeit unterstellt werden: mit dem zunehmenden Verweis des Lesers an die interne Stimmigkeit der erzählten Handlung wuchs auch die Rezeptionskompetenz des Publikums als Fähigkeit, die Techniken des überzeugenden Fingierens zu durchschauen. Dabei ist bisher noch gar nicht eine besondere Schwierigkeit erwähnt worden, die mit den neuen Erzählverfahren der Figurenpsychologisierung heraufbeschworen wurde. Denn die Benutzung des Seeleninneren der Charaktere zu den Zwecken einer ebenso subtileren wie flexibleren Handlungsführung brachte Legitimationszwänge für den Nachweis Ober den Zugang zu solch vermeintlich privatem Wissen mit sich. Richardson war dieser Herausforderung noch hinreichend mit dem fingierten Briefwechsel begegnet, doch erwies sich diese Form auf die Dauer dann nicht als genügend beweglich, wenn das Werk den verbreiteten Bedürfnissen nach 292
äußerer Handlung genügen sollte. Doch auch eine ganze Reihe anderer Legitimationsvarianten führte aus dem Dilemma nicht heraus, daß gerade deren massenhafte, unterschiedlich sorgfältige Benutzung ihre Wirkung untergrub. So schrieb Schatz 1792: Umsonst setzen eine Menge Romanschreiber auf den Titel ihrer Bücher: eine wahre Geschichte - umsonst erschöpfen sie sich in Wendungen, es dem Leser wahrscheinlich zu machen. Man glaubt ihnen nicht, und kann ihnen nicht glauben. Der Verf. der angezeigten Lebensbeschreibung hingegen würde diesen Glauben, den er jedoch nicht ausdrücklich fordert, leicht erhalten. 294
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178S konnte in gänzlicher Umkehrung der ehemaligen Verhältnisse die Faktizität einer Handlung allenfalls noch als Rechtfertigung für die künstlerischen Mängel des Romans angeführt werden: Wenn nicht etwa eine wirkliche Geschichte zum Grunde liegt, so möchte dem Verf. darüber, daß er so plötzlich an einem Orte abbricht, der, besonders jungen Lesern unsittliche Bilder in der Seele zurück laßt, ein Vorwurf zu machen seyn, den er dadurch nicht wird abwenden können, daß der Schluß neu ist (ADB 65, 1786, 136; über J.C.F. Schulze: Moritz, ein kleiner Roman). Über die zweite Auflage des Pfarrers Müller und seiner Kinder bemerkte Walch in der Ν ADB 4, 1792, 418: Auch hat die Briefform den Verf. in die Notwendigkeit gesetzt, daß er Personen aneinander schreiben läßt, die unter einem Dache wohnen. Über eine andere beliebte Form solcher Beglaubigung urteilte 1777 die FGA (400): Die Leser sind ohnehin geneigt, solche Tagebücher flir erdichtet zu halten, und die höchste Wahrscheinlichkeit wird zur Erfüllung ihres Nutzens erfordert. Schatz, ADB 109, 1792, 141.
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Die in diesem Zitat aufgemachte Opposition illustriert deutlich, was hier erläutert werden sollte: das Auseinandertreten der Wahrheitsansprüche. Denn als Begründung des diesem Werk gespendeten Lobs führte der Kritiker nichts anderes an als: die in den Charakteren herrschende Natur und Wahrheit. Nicht der wirkliche Fiktivitätsstatus der - schlechten - Romane galt als ihr Mangel, auch nicht, daß man ihn ihnen ansah, sondern daß sie nicht wahr hätten sein können infolge der offensichtlichen Mißachtung der 'Gesetze der menschlichen Natur'. Die Wahrheit der Werke entstammte also inhaltlich ihrer Orientierung an den Diskursen ('Natur') und formal den Rationalitätseffekten der internen Verknüpfung. In der Rezeptionshaltung hatte sich eine Veränderung vollzogen. Eine gestiegene Rezeptionskompetenz trennte das Fiktivitätsbewußtsein - ohne es außer Kraft zu setzen - von demjenigen Umgang mit dem Werk, bei dem über seinen Wert entschieden wurde. Durch diese Operation konnten die scheinbar inkompatiblen Einstellungen, um die Fiktivität eines Romans zu wissen und dessen Erzähler gleichwohl alles zu glauben, in ihrer Widersprüchlichkeit aufgehoben und in eine 'angenehme' Spannung verwandelt werden. In der Bildlichkeit eines Kommunikationsprozesses: Fiktivität wurde zur äußeren Kommunikationsbedingung verschoben, auf die es sich allererst einzulassen gilt, bevor man die Botschaft empfangen kann, die dann anhand anderer Beurteilungskriterien zu werten wäre. Dadurch bleibt aber zugleich dieses Wissen um die Fiktivität in der Virtualität, in der es beständig aktualisiert werden kann. Die so bewirkte Veränderung des Rezeptionsverhaltens muß als eine wesentliche Kulturtechnik verstanden werden, die seither an unterschiedlichen Fiktivitätsmedien immer wieder neu eingeübt wurde und wird. Das gilt nicht nur für einzelne technische Neuerungen - man denke an die panikhaften Reaktionen der ersten Filmzuschauer, die durch die Perspektive einer zwischen den Gleisen positionierten Kamera über diese einen Zug fahren sahen -, sondern ebenso für einzelne Genres, seien es zunehmend unter ästhetischen Gesichtspunkten rezipierte Werbespots oder etwa 'Horrorvideos', denen gegenüber sich Jugendliche planvoll abzuhärten suchen. Jedesmal geht es darum, sich auf die spezifische Kommunikationsform von möglicher Erfahrung als äußerer Kommunikationsbedingung einzulassen, die Fiktivität des Wahrgenommenen als eine Art Basiswissen aus der Aktualität des Bewußtseins herauszunehmen, um das Mitgeteilte 295
So sprach zum Beispiel Diderot in bezug auf das Theater von einer gewissen Täuschung, über die man vorher einig geworden sei. (Dorval et moi; in der Übersetzung von Lessing: Das Theater des Herrn Diderot, Lessing, Werke 11, 94) Ein vergleichbares Phänomen dürfte es sein, wenn die Analyse pornographischer Comics in einer erzähltheoretischen Fachzeitschrift eingerückt und dort der künstlerische Wert einzelner Exemplare dieser Gattung herausgestellt wird. Siehe Höste: Die schwarze Romantik des Porno-Comics.
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ernst nehmen zu können und es nicht durch die Aktualität des Wissens um seine Fiktivität entwerten zu müssen. Dabei wird das Fiktivitätswissen jedoch in der Latenz gehalten, wo es gerade dazu dienen kann, die Chance zur Relativierung der von den evozierten Bildern möglicherweise ausgeübten Pein zu bieten. Dieser Aspekt einer erwünschten Wirkung des Fiktivitätsbewußtseins macht schon deutlich, daß es bei solchen Einübungen von Ausdifferenzierungen im Rezeptionsverhalten nicht einfach um die Entmachtung des Fiktivitätswissens zugunsten eines ungestörten Sich-Einlassens auf die jeweilige Geschichte geht. Im Gegenteil tritt beides immer wieder in ein spielerisches Wechselverhältnis, welches nicht zuletzt dadurch ein besonderes Vergnügen gewährt, daß die Gewichte zwischen beiden Einstellungen immer wieder verändert werden können. Fiktivitätsbewußtsein ist kein allgemeines Wissen, sondern eine Fähigkeit, an bestimmten Texten die faktische Erfundenheit wahrzunehmen respektive zu erschließen. Dabei ist die Frage, ab wann Rezipienten diese Fähigkeit besaßen, im Grunde falsch gestellt, besser hieße es: ab wann bedeutete das Wissen um die Fiktivität einer literarisch erzählten Geschichte eine Information, gewann also Differenzqualität? Wenn als 'fiktionale Lektüre' diejenige Rezeptionsform bezeichnet werden sollte, die dem Status literarischer Texte in der Moderne am ehesten angemessen ist, dann ergibt sich bereits aus den bisherigen Ergebnissen, daß es bei fiktionaler Lektüre nicht so sehr auf die tatsächliche Fiktivität der erzählten Geschichte ankommt. Denn indem die Aufmerksamkeit in erster Linie auf die textimmanenten Stimmigkeiten oder die abstrakten Veranschaulichungsleistungen gelenkt werden konnte, wurde die Frage der Erfundenheit der Handlung abgewertet. Das ist auch der Grund dafür, daß die Erzählliteratur der Moderne keineswegs stets erfundene Geschichten liefert. Wechselt man hierbei jedoch die Perspektive und fragt nicht mehr, wie die Texte die Höchstwertigkeit des faktischen Referenzbezuges haben entmachten können, sondern sieht auf die Leser, dann zeigt sich sofort, daß auch fiktionale Lektüre nicht einfach ab einem bestimmten Zeitpunkt von den Lesern beherrscht wurde. Vielmehr wurde solches 'Lesen-Können' zuerst von der bildungsprivilegierten Schicht erlernt. Aber auch unter den Lesenden des 18. Jahrhunderts gab es große Unterschiede im Grad der Vorbildung und der Lektürehäufigkeit. Dies war ja die entscheidende Besonderheit des Romans, erstmals einer literarischen Gattung ein breites Massenpublikum zu erschließen. Innerhalb dieser Leserschaft gab es ein offenes Spektrum zwischen den geübtesten Lesern, für die die komplexen Konstruktionen eines Wieland geschrieben waren und den wenig geübten Romanlesern, die zu dem gerade seit den 1770er Jahren neu gewonnenen Publikum gehörten. Wegen dieser Inhomogenität der Leserschaft auch in Hinsicht auf ihre Lektürekompetenzen findet sich in vielen Romanen die in sich
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widersprüchliche 'Bedienung' ganz unterschiedlicher Rezeptionsniveaus - etwa die Gleichzeitigkeit von subtilen Fiktionssignalen und von Quellenfiktionen. Fiktionale Lektüre als eine besondere Kulturtechnik besteht also nicht vornehmlich im fiktivitätsbewußten Lesen, sondern in der Fähigkeit, einen Text auf etwas anderes hin zu lesen als einen faktischen Referenzbezug. Was dieses andere ist, steht für die Literatur der Moderne keineswegs ein für allemal fest. Die am Werther illustrierte Konzentration eines Textes auf die mimetische Auseinandersetzung mit vornehmlich einem Diskurs sollte ja nur eine, literarhistorisch sehr wichtige und bis heute erfolgreiche Option bezeichnen. Weil aber die abstrakten Veranschaulichungsleistungen der Texte variieren können, hatte sich das Rezeptionsvermögen erst auf die jeweiligen Geltungsansprüche eines Textes einzustellen. Für die Rezeption jeweils neuer Geltungsansprüche der Literatur mußte sich die Rezeptionskompetenz jeweils neu schulen, hatte dann aber das eigene Arsenal möglicher Rezeptionsoptionen wiederum erweitert. Fiktionale Lektüre ist kein Können, über das man einfach verfügt oder nicht, sondern eine komplizierte Kompetenz, die immer weiter verfeinert werden kann. Doch schon bei der Herausbildung der retrospektiv am einfachsten erscheinenden Fähigkeiten, die diese Lesekompetenz ausmachen, gab es historische Schwierigkeiten, die einerseits im sprunghaften Anstieg der Romanleserschaft bedingt waren, andererseits aber mit der Umstellung der Vertextungsformen im Verlauf der Aufklärung zusammenhingen. Diese Schwierigkeiten wurden von den Zeitgenossen thematisiert in der Debatte um die sogenannte 'Lesesucht1. Der erneute Aufschwung der Romane in den 1770er Jahren provozierte noch einmal eine heftige Welle der Fiktionskritik.297 Daß die Zeitgenossen selbst in diesen Auseinandersetzungen dem Begriff der 'Lesewut' eine so herausragende Rolle einräumten, signalisiert bereits in der darin sich ausdrückenden Verlagerung der Verantwortung die kulturhistorische Funktion dieser Debatte: Neben den Romanen, die nun kaum noch als Gattung, sondern überwiegend im Einzelfall wegen mangelnder Tugendhaftigkeit oder wegen Unwahrscheinlichkeiten beschimpft wurden, galt die Kritik nun zunehmend dem ' Lesesüchtigen' oder sogar '-wütigen' Publikum. Während also traditionell vorwiegend die Romane gescholten wurden, verlagerte sich der Schwerpunkt der Auseinanderset• 700 zung jetzt auf das Leseverhalten der Rezipienten. Zwar stand meist die Ex-
297
Siehe hierzu Bracht: Der Leser im Roman des 18. Jahrhunderts, besonders Kap. 4 und die Literaturhinweise dort; außerdem den Band: Leser und Lesen im 18. Jahrhundert, sowie besonders darin den Beitrag von Kreuzer: Gefährliche Lesesucht?, sowie mit einer Fülle von Quellennachweisen von König: Lesesucht und Lesewut. Siehe hierzu von König: Lesesucht und Lesewut, der Morgensterns Propagierung des klassischen Lesers als signifikanten Ausdruck des Ergebnisses der Lesesucht-
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tensität der Romanlektüre im Zentrum der Polemik, doch tatsächlich ging es in erster Linie um einen Mangel an Rezeptionskompetenz. Die gern angeführte ungenügende Lete/uerfahrung vor allem der jungen Leserinnen dürfte überwiegend ein Mangel an Leseerfahrung gewesen sein, sofern man darunter die angeführte Kompetenz versteht, Texte wahlweise auf unterschiedliche Wahrheitsansprüche hin zu lesen. In der beschrieenen Gefahr, daß dem Rezipienten durch 299
die Romanlektüre der 'Kopf verrückt' würde, findet sich die unterstellte Unfähigkeit eines Lesers benannt, der fingierten Handlung in der eigenen Alltagswirklichkeit einen angemessenen Stellenwert zu geben. Was oftmals als mangelndes Differenzierungsvermögen zwischen Traum und Wirklichkeit beklagt wurde, 300 war also eigentlich die Unfähigkeit zum rechten Gebrauch,301 zur 'richtigen Lektüre' von Romanen, der in der Lebenswelt ein solcher Ort zuzuweisen war, an welchem dem Genuß der illusionierten ÜfW Wirklichkeit ungefährlich für den übrigen Alltag nachgegangen werden konnte. Geläufig war der Vorwurf - insbesondere gegenüber Frauen -, die taglichen Pflichten zu vernachlässigen infolge einer übertriebenen Lektüre. Doch selbst wenn viele Kritiker der 'Lesesucht' dem 303 weiblichen Publikum wegen verhängnisvoller Folgen für die soziale Ordnung die Romanlektüre gern vollständig untersagen wollten, so war der Effekt solcher Bemühungen doch nur die Durchsetzung einer strengen Alltagsreglementierung, welche das Lesen der Romane in die Freizeit bannte und zugleich half, den 'wahren Nutzen' dieser Literatur als einer Quasierfahrung von Welt und Gesellschaft richtig einzuschätzen und auszukosten. Die Gefahr wurde ja nicht vollständig zu Unrecht wahrgenommen, daß die Romanlektüre die Unterscheidungsfahigkeit zwischen Fiktion und Wirklichkeit schwäche. Denn wie erläutert tendierte die Literatur selbst dazu, diese Grenze zu vernebeln. Deshalb galt es bei dem raschen und starken Anstieg der Lektüre
299 300
Debatte herausstellt (106; das Zitat Morgenstern: Plan im Lesen, 1808, 80). Ähnlich Kreuzer: Gefährliche Lesesucht? Siehe das Gespräch in Timme: Faramonds Familiengeschichten in Briefen 2, 235. So schrieb 1788 etwa Carl Friedrich Pockel über die Frauenzimmerlectüre, in der
neuerdings die Romane vorherrschten: Solche empfindsamen Helden der Liebe und Zärtlichkeit finden sich in dem gewöhnlichen Menschenleben nicht, die sie sich durch ihre Romane zu erträumen pflegen. Daher die vielen unharmonischen Ehen, wo das Weib, voll von jenen Idealen, den weniger feinen Mann mit Verachtung begegnet, und der Gatte das empfindelnde Weib für eine Närrin ansieht (Fragmente
303
zur Kenntnis und Bildung des menschlichen Herzens, 67). Siehe ganz ähnlich Heinzmann: Feyerstunden, 106. Faramonds Familiengeschichte in Briefen 2, 240. Siehe hierzu Schön und seine These von der Departementalisierung des Alltags (Verlust der Sinnlichkeit; zusammengefaßt 325-329). Daneben furchtet Pockels sogar Konsequenzen für den Nationalcharakter (Fragmente, 61-68); siehe auch von König: Lesesucht und Lesewut, 97f.
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gerade diejenige Besonderheit zu regulieren, die Haller noch 1753 an den Romanen so gelobt hatte: daß ihre Eindrücke vom Herzen gerade in die Sinne gingen, 304
o h n e daß sie sich bei dem Urtheile und der Vernunft aufhielten.
In diesem Z u -
sammenhang hatten eher simple mechanische Vorstellungen über die Gleichzeitigkeit von prodesse und delectare geherrscht, gänzlich durch das Dogma von der untadeligen Moralität der Handlung dominiert, so daß die Idealisierung der Protagonisten eine systematische Indoktrination der Leser erfüllen sollte. Das historische Scheitern des Programms zur Leserdidaxe über die Präsentation idealer Romanfiguren gründete in dem ungelösten Glaubwürdigkeitsproblem. Der Wahrheitsgehalt einer Figur wie Clarissa lag in der von ihr illustrierten abstrakten Tugendnorm. Eine sich schulende Rezeptionskompetenz vermochte immer genauer die didaktische Instrumentalisierung zu durchschauen, wodurch die Geltungsansprüche des Textes relativiert wurden. Folgerichtig kritisierte man mehr und mehr die UnWahrscheinlichkeit solcher Figuren. Dagegen mußte der strategische Versuch, die Dichtung mit der Natur zu korrelieren, dem Text also vor allem Erkenntnisleistungen über die 'Natur des Menschen' zuzusprechen, literarisierte Tugendideale gerade zurückweisen, weil sie sowohl für die meisten Menschen unnütze Informationen boten als auch den Glaubwürdigkeitsanspruch selbst untergruben.305 Die beiden sich widerstreitenden Prinzipien blieben306lange Zeit sehr stark und evozierten auch immer wieder Kompromißversuche. Entsprechend waren die viel beklagten Verwirrungseffekte einer über304
r
[Haller: Vorbericht,])(3 . Die seit Bayle und Heidegger geläufige Variante der Kritik an Romanen, daß sie dazu verleiteten, Fiktion und Realität zu verwechseln, betont eigentlich nur die geringe Differenz zwischen Historien und Romanen. Denn ob man Tacitus, Buchholtz oder die Aramena las, immer ist es eine Geschichte aus einer 'fremden Welt', zu der der Rezipient Distanz aufrechterhalten oder wiederherstellen muß, wenn er in seinem Alltag zurechtkommen will. So wollte Blanckenburg in einem vollkommenen ' dichterischen Ideal' nun ein richtig ineinander gegründetes werdendes Ganze verstanden wissen, zur Abbildung eines sittlichen Ideals dagegen sei der Dichter nicht verpflichtet (NBWK 18, 1775, 81, 84). Miller allerdings versuchte das durch die Herausbildung der neuen Rezeptionsweisen bewirkte Auseinanderfallen von Sein und Sollen noch einmal zusammenzubringen. Er stimmte mit den Kritikern der idealen Romane Qberein, daß man in einem Roman die Menschen darstellen solle, wie sie sind, nicht blos, wie sie seyn sollen. Darauf folgte aber der Einwand: Aber dann glaub ich auch, daß ein Romanschreiber sich umsehen muß, ob es denn nicht noch Menschen in der Welt gibt, die so sind, wie sie seyn sollten. (Karl von Burgheim, Vorrede, 32f.) Das geläufige Modell von Bildung und Erziehung durch Lektüre erwies sich zunehmend als zu wenig flexibel. So gehörten zum Beispiel zum Programm der empfindsamen Codierung nicht nur die Propagierung von Keuschheit und Unschuld, sondern ebenso die Brandmarkung der 'Sprödigkeit'. Blanckenburg benannte die inzwischen unzureichende Flexibilität der ethischen Nonnen in seiner Werther-Rezension so: Unsre Sittenlehrer sehen, zum Teil, die Sache [den moralischen Wert
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triebenen Romanlektüre nichts anderes als die Wirkungen von Vermischungen zwischen den diesen beiden literarischen Produktionsformen angemessenen Rezeptionsweisen. Wenn Johann Georg Heinzmann 1780 die Hauptgefahr der Romanlektüre darin zu erkennen glaubte, daß sie den Menschen den Kopf mit Idea307
len anfülle und um sich herum eine ganz andere Welt als die wirkliche ist, schaffe, so wurde damit eben ein Mangel an Fiktivitätsbewußtsein gegenüber den idealisierenden Werken beklagt, die lauter Muster von Statthaftigkeit, von Muth, Treue, Verleugnung, Aufopferung darstellten. Solche Effekte konnten nur dadurch entstehen, daß die nach dem Idealisierungsverfahren chiffrierten Texte nach den Nachahmungstheorien 308 dechiffriert wurden. Und tatsächlich belegen ja die überlieferten Beispiele von realer Nachahmung empfindsamer Romanfiguren von Siegwart bis Werther - eine Vermischung der Rezeptionsformen. Es war zweifellos der zunehmende Erfolg der im Nachahmungsbegriff aufgebauten Abbildlichkeitssuggestionen, des Anschlusses der Romane an die Diskursregeln, wodurch die Lesesucht-Debatte in Gang kommen konnte. Denn wegen des Erfolgs dieser Wahrheitsbehauptung erhielten einzelne Diskurse - wie Empfindsamkeit oder Liebe - ungeahnte Macht über die Romanleser, woraus sich der konkrete Anlaß der Polemiken ergab. Die bewirkte Korrektur betraf also gerade die Verstärkung von Fiktivitätsbewußtsein auf der Bedeutungsebene des Textes. Gerade üdie 10 besondere Nutzung rhetorischer Verfahren durch die empfindsamen Texte machte angesichts des durchschlagenden Erfolgs dieser Mode es erforderlich, vor allem die jungen Romanleser lesen zu lehren,311 den aktiven Anteil im Rezeptionsakt in Richtung auf eine reflexive Haltung zu stärken, die es gestattete, sich den (rhetorischen) Codierungseffekten der Texte zu entziehen. Beim Werther wurde dies zu einem zentralen Problem: weil einerseits die künstlerische Perfektion des Werkes kaum zu bestreiten war, andererseits aber identifikatorische Rezeptionen nicht zu Unrecht befürchtet wurden, mehrten sich die Ermahnungen zur 'richtigen Lektüre', zur Einnahme der Perspekeines jeden Gegenstands im Zusammenhang der Freitodproblematik] noch sehr ein-
seitig an; und es war eine Zeit, wo man sie noch einseitiger ansah. (NBWK 18, 307
1775, 83)
Heinzmann: Feyerstunden, 106; das folgende Zitat 10S. Zu Heinzmann siehe auch 308 Sauder: Gefahren empfindsamer Vollkommenheit fur Leserinnen. Die Begrifflichkeit könnte hier leicht Mißverständnisse provozieren. Mit der literarischen Aufstellung von Tugendidealen sollte nicht deren Imitation im eigenen Alltag der Rezipienten evoziert werden, sondern die Einschleifung der dort illustrierten Normen. In Nachahmungstheorien stand dagegen nicht die Normativität im Vordergrund, sondern die Behauptung von der literarisch eher deskriptiven Veranschaulichung geradezu anthropologischer Allgemeinheiten. 309 Siehe auch Jäger: Wertherwirkung. Siehe Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, 32-36. 1 Timme: Faramonds Familiengeschichte 2, 246.
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tive des kalten Menschenbeobachters. 312 Deshalb wurden Identifikationen immer 313 wieder zurückgewiesen. Die poetologischen Beschreibungen und die Selbstrepräsentationen der Texte bewirkten offenbar überschießende Effekte, die Wahrheitsbeteuemngen der Werke erzielten bei manchen Rezipienten zu große Erfolge. Das sich im Werther-Stteit wie in der Lesesucht-Debatte ähnlich auftuende Problem, war das der Neueinstellung einer 'angemessenen' Rezeptionshaltung. Wer einerseits sich davon überzeugt hatte, daß auch fiktive Geschichten Wahrheiten vermitteln können, der mußte andererseits noch die rechte Einschätzung dieser Wahrheiten, die angemessene Einordnung in die eigene Lebenswirklichkeit, üben. Eine Hierarchisierung zwischen fiktionaler und auf Repräsentation gerichteter Lektüre mußte ausprobiert und geübt werden. In einem längeren Abschnitt seiner Wm/wr-Besprechung setzte Blanckenburg sich mit der 'richtigen' Rezeptionsform dieses Romans und der Werke der Dichter überhaupt auseinander. 313 Ausdrücklich wies er das Konzept der literarischen Bildung durch eine empfohlene Nachahmung von in den Werken316aufgestellten Tugendidealen als historisch gescheitert und als illusionär zurück. Hier ist vor allem von außerordentlicher Bedeutung, daß er statt dessen sowohl eine nachvollziehende Identifikation mit dem Protagonisten als auch eine nüchtern räson317 merende Beurteilung
empfahl, die dann auch Relativierungen einer zu stark
verallgemeinernden Rezeption gestattete:
312
315
316
MDC 4, 1, 1775, 68; siehe auch Blanckenburg, Rezension NBWK 18, 1775, 84. Aber welch ein Thor! der die Beschönigungen seines Verhaltens in dem Munde eines Romanhelden, der, so ein guter Mensch er ist, immer noch ein sinnlicher Mensch ist, zu seiner Moral machen kann. (MDC 4, 1, 1775, 65.) Eine generalisierende Überbewertung einzelner (vor allem empfindsamer) Werke beschrieben oder befürchteten die meisten der 'Lesewut-Kritiker'. Zum Beispiel Zöllner: Kaum war 'Siegwarth' erschienen so sähe man seufzende Schönen im Mondschein wandeln. Sie wollten durchaus 'Marianen' seyn, und der erste beste Geck, der ihnen eine alberne Schmeicheley vorsagte, mußte ihr 'Siegwarth' werden. (Moralische Encyklopedie 3, 374). 93; siehe 82-93. Die 'Pamelan' und 'Henrietten' werden allenhalben als weibliche Muster angesehen und angepriesen; wieviele Damen thun nicht alles, um ihnen ähnlich zu werden, und wo sind denn nun die 'Pamelan' und 'Henrietten'? Eigene Verfassung steht ihren sogenannten Nachahmerinnen im Wege, etwas mehr als 'verzogene' Kopien zu werden. Also 'kann' man auch beim besten 'Vorsatze', nicht dichterische Muster erreichen. (NBWK 18,1775, 91). 87; ebenda: Aber, wann wir das Spiel unserer Empfindungen sind, in dem wir die Empfindungen und Leidenschaften anderer beurtheilen, so kann denn dieß auch nicht 'Beurtheilung' heissen. Dazu gehört auch ein Blick auf das wahre 'Verhältniß', daß die Sache zu den Dingen hat, auf welche sie wirken soll.
184
Wahrscheinlichkeit und Illusionsbildung Der Irrthum hierbey entstehet aus der Leichtfertigkeit, oder Gewohnheit, weil es jetzt regnet, uns vorzustellen, das es immer regnen werde. 318
Die Debatten um Werther und die sogenannte Lesesucht waren im Effekt also nur Korrekturversuche der Rezeptionshaltungen. Diese Korrekturen etablierten zunehmend anspruchsvollere Rezeptionsformen, die aber gerade durch die Gleichzeitigkeit räsonnierender und identifikatorischer, fiktivitätsbewußter und 'naiver' Rezeption gekennzeichnet waren. Die antinomische Spannung zwischen diesen ganz unterschiedlichen Verstehensweisen von Dichtung und den ihnen korrespondierenden Zugängen zu den Texten hat eine immense theoretische Relevanz. Denn erst die Berücksichtigung der paradoxalen Konstellation macht die Literaturtheorie gegen die Versuchung gefeit, Dichtung ab einem bestimmten Zeitpunkt per se fur autonom zu erklären, wogegen zu Recht die Fülle von unmittelbaren referentiellen Bezügen in (fast) allen Literaturformen seither betont wird.319 Wichtig ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Berücksichtigung des gerade am Ende des 18. Jahrhunderts sich wandelnden Geschichtsverständnisses. Die Autonomisierung des Romans zum Kunstwerk darf nicht ohne den Blick auf die Ausbildung der Historiographie zur Wissenschaft gesehen werden. Bisher waren das behauptete Erkenntnisinteresse von erfundener und realer Geschichte weitgehend zusammengefallen, woraus die Romane und ihre Theorie nachhaltigen Nutzen gezogen hatten. Dementsprechend war auch die von beiden Textgattungen nahegelegte Rezeptionsform sehr ähnlich gewesen, darauf zielend, die Geschichten an die 'eine' Wirklichkeit anzuschließen. Roman und Geschichtsschreibung wurden vielfach im Gattungssystem noch derselben Kategorie zugeordnet. Die sich zunehmend ihrer methodologischen Probleme bewußt werdende Historiographie begann gerade erst, sich als eigene Wissenschaft zu profilieren und benutzte oft genug die der poetologischen Tradition entstammenden Begriffe 320
der Handlungseinheit, des Ganzen im Dienste der Sinnvermittlung. Ist zunächst die Forderung nach 'pragmatischer' interner Verknüpfung in beiden Gattungen gleichzeitig realisiert worden, so erfolgte nun ein allmählicher Dis318
319
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NBWK 18, 1775, 82. Jetzt vor allem von Seiler: Die leidigen Tatsachen. Das hier herausgestellte Gleichzeitigkeitsverhältnis zwischen referentieller und autonomer Lesart gestattet jedoch auch, nicht zu einem 'Litteratur'-Begriff des 18. Jahrhunderts zurückkehren zu müssen, der die kategoriale Differenz zwischen Dichtung und diskursiven Texten nicht kannte (siehe: Leidige Tatsachen, 56). Siehe hierzu Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, 324-337, sowie zu dieser sehr lebhaften Debatte etwa die Beiträge der Sektion 'Erzählung und Geschichte' in: Erzählforschung, Hg. Lämmert, und dort auch: Baumgarten, Rüsen: Erträge der Diskussion.
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soziierungsprozeß, in dem der Verwissenschaftlichung der Geschichte die Fik321
tionalisierung der Romanlektüre gegenüberstand. Die durch ein zunehmendes Fiktivitätsbewußtsein bewirkte Möglichkeit einer rezeptiven Differenzierung der Wahrheitsansprüche setzte nun nicht mit einem Schlag eine andere Lesart literarischer Texte durch. Schließlich gelten die für die Romane aufgezeigten internen Kohärenzeffekte grundsätzlich für alle Texte, auch für historiographische, so daß sich zunächst nur die Frage der Integration des Gelesenen in den Kontext der 'bekannten Dinge' stellte. Gerade hiervon profitierten ja die Selbstkaschierungsbemühungen der Romane. Solche Anschlußfahigkeit realisierte sich jedoch nicht erst im Ganzen eines Textes, sondern immer wieder in einzelnen Details. Deshalb wurde die ihr gemäße Rezeptionshaltung historisch auch nicht ad hoc, sondern sukzessiv durch andere ersetzt - ohne die Möglichkeit solchen Anschließens an die Alltagswirklichkeit auch von Passagen fiktionaler Texte gänzlich zu verschließen. Im Gegenteil vermag eine geübte Rezeptionskompetenz zwischen beiden Rezeptionsoptionen äußerst subtil zu variieren. So kann der Wechsel zwischen den beiden Lesarten sowohl einer noch mangelhaft ausgebildeten Rezeptionskompetenz als auch einer bereits besonders ausdifferenzierten entspringen. Eine solche neuartige Konstellation von Rezeptionshaltungen reflektierte bereits Wielands Agathon, der vor allem in der zweiten Fassung in das eigentümlich widersprüchliche Erzählarrangement zwischen Historizitätssuggestion und offenen Fiktivitätssignalen eingefügt wurde. 323 Diesen Bedingungen auf der Rezeptionsseite entsprach es, wenn die Texte mit dem Heraufziehen der klassischen Ästhetik in Komplementarität mit der gestärkten Konsistenz der Fabel zwar deren Fiktivität zunehmend deutlicher signalisierten, die Geschichten aber dennoch weiterhin überwiegend in die Alltagswirklichkeit 'hineinfingiert' wurden. In der Aufrechterhaltung des möglichen Anschlusses der erzählten Handlungen an die Erscheinungswirklichkeit äußert sich also nicht Konzilianz gegenüber 'naiven' Lesern, die reale Historien rezi321 322
Siehe hierzu Hahl: Reflexion und Erzählung, 43-84, und Jäger: Empfindsamkeit und Roman, 114-126.
Wenn das Charakteristische der literarischen Illusion gerade ist, daß die Geflihle, die wir in ihrem Bann empfinden, im Gegensatz zu unserer lebensweltlichen Praxis, im Gegensatz zur Realität, nicht zum praktischen Handeln überleiten, dann zeigt
323
sich an solchen Auseinandersetzungen wie der Lesesucht- (oder der Werther-) Debatte, daß solcher relativierende Umgang mit literarischen Welten kulturhistorisch erst eingeübt werden mußte. Allerdings muß die zitierte Bemerkung Horns (Literarische Modalität, 29) noch dahingehend präzisiert werden, daß die von Literatur evozierten Gefühle keineswegs gänzlich und immer ohne Einfluß auf unser Handeln bleiben. So erklärt sich zum Beispiel das Entstehen von 'Kultbüchern'. Siehe hierzu auch Frick: Providenz und Kontingenz 2, 463-466.
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pieren wollten. Insbesondere die am meisten auf die Unterhaltungsbedürfnisse des breiten Publikums abgestellten Texte weisen ja krasse Unwahrscheinlichkeiten, logische Unstimmigkeiten und gegebenenfalls auch Wunder und Geister auf - man denke nur an den Schauerroman des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Hieran zeigt sich schon, daß der Wirklichkeitsbegriff zu schlicht ist, mit dem das Vorherrschen der wahrscheinlichen Literatur auch nach der literarischen Klassik als Beleg für die ungebrochene Referentialität der Dichtung verbucht werden soll.324 Die Aufklärung hatte ja gerade erst einen einsinnigen, letztlich (natur-) wissenschaftshörigen Wirklichkeitsbegriff, gereinigt von allen Wundern und allem Übernatürlichen zu etablieren versucht. Einer solchen rational-kohärenten Wirklichkeit versuchten die wahrscheinlichen Romane zu genügen - und waren damit selbst zum Instrument der Aufklärung und ihrer Realitäts-Purgation geworden.325 Zu den strategischen Implikationen dieser Bemühungen gehörten die in der Widerspruchsfreiheit gesuchten Universalitätsansprüche. Gegen die Eindeutigkeitsprätentionen dieses Wirklichkeitsbildes ist insbesondere die Romanliteratur seit der Spätaufklärung in ihren exponierten Werken immer wieder zu Felde gezogen. Das hat jedoch auch diese Texte nicht gehindert, zumindest an den Rändern ihrer geographischen und zeitlichen Verortung sich an die geläufigen Realitätsvorstellungen anzulehnen, fast immer geht es nur um Gradunterschiede in der Präzision der 'Einlagerung' einer erzählten Geschichte in die Erscheinungswirklichkeit. Obwohl die Wilhelm-Meister-Hnfidlung nicht genau lokalisiert ist, tauchen sozusagen an ihren Rädern Italien und Amerika auf, 'schwebt* die Mi
Fabel aber gleichzeitig geradezu über den deutschen Ländern. Dabei nahm sicher mit der Zeit unter einer zunehmend genaueren Detailkenntnis bei den Lesern die Toleranz gegenüber solchen Unbestimmtheiten ab. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet: je mehr Einzelheiten zum 'allgemeinen' Kenntnisstand gehörten, desto deutlicher wurden solche Unbestimmtheiten als Wider324 325
326
327
Siehe Seiler: Leidige Tatsachen, 55ff. Diese Zusammenhänge machen verständlich, warum während der gesamten Aufklärung die Klage über eine Vielzahl von unwahrscheinlichen und phantastischen Romanen nicht verstummte. Denn das Rationalisierungsniveau der Texte entsprach den Ansprüchen auf rationale Weltbild-Kohärenz bei den jeweils anvisierten Lesern. Die in dieser Untersuchung vorwiegend thematisierten höheren Anforderungen geben jedoch den Blick frei auf Entwicklungskonsequenzen, die auch auf die weniger anspruchsvollen Texte nach und nach einwirkten. So Adolf Stahr: Der politische Roman, 1078. Dabei gab es parallel zu den literaturtheoretischen Bemühungen um die Bestimmung einer allgemeinen, aber nicht explizierbaren literarischen Wahrheit eine klassische Tendenz zur Veruneindeutigung in der Verortung literarischer Fabeln - als Kontrast zu den vorhergehenden Bestrebungen um Konkretion (siehe hierzu Seiler: Leidige Tatsachen, 127f.). Hierin ist Seiler sicher zuzustimmen, siehe aber im folgenden.
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Sprüche zu den übrigen in der Handlung gelieferten Bedingungen und Situierungen rezipiert. Das Kohärenzsystem einer literarischen Fabel wird durch jedes erwähnte historische oder geographische Detail im geläufigen Wirklichkeitsbild als seiner Bezugsbasis fixiert. DaB durch diese Einlagerungstechnik jedoch nicht alle Texte nur Intarsien zu einem einstimmigen großen Kontext sind, wie das tendenziell für den Aufklärungsroman galt, ist eine der zentralen auszeichnenden Besonderheiten des modernen Romans. Wenn sich die seither kontinuierlich angestiegene Tendenz der Texte zur Konkretion ihrer Welt in den 'Tatsachen' als Reaktion auf die gewachsene Unduldsamkeit der Rezipienten gegenüber logischen Inkonsistenzen darstellen läßt, dann allerdings wäre als Grund hier nicht nur die absolute Zunahme von Detailwissen und seine Verbreitung anzuführen, sondern auch eine davon kaum scharf zu trennende vermehrte Rezeptionskompetenz.328 Weil die Autonomie literarischer Texte also gar nicht in erster Linie in der Fingierung eigener im Sinne fremder Welten beruht, sondern allenfalls eine gleichzeitige Existenz vieler möglicher (Sinn-) Welten in dieser einen Wirklichkeit aufzeigt, greifen auf sie die Fabelkonstruktionen immer wieder zunächst als 'wahren' Kontext zurück. Das hat insbesondere damit zu tun, daß fremde Welten sehr mühsam auszudenken (oder zu rekonstruieren) sind. Deshalb streben derartige Versuche danach, die Summe der variierten Bedingungen gering zu halten - wenn nicht in den 'technischen' und äußeren Faktoren, so kompensatorisch in den psychischen (science fiction). Wo dagegen beides in hohem Maße bei gewahrter Kohärenz gelingt, stehen die Chancen für einen Erfolgsroman nicht schlecht (Der Name der Rose). Die Situierung der meisten Romanfabeln in der vermeintlich gegebenen Wirklichkeit belegt also nicht den abbildlichen Realismus, die ungebrochene Referentialität aller Literatur. Und die romantischen Irritationsversuche, in scheinbar realistischen Wirklichkeitsausschnitten Geister, wundersame Tiere oder Mysterien wiedererstehen zu lassen, markieren gerade die Insistenz auf den anderen Bedeutungskontexten in dieser selben Welt. Anhand der Kategorie der literarischen Wahrscheinlichkeit läßt sich in verschiedenen Hinsichten nachzeichnen, wie der Aufklärungsroman auf die Erwartungen und Vorbehalte seines neuen Massenpublikums reagierte, es bei seiner 'referentiellen' Rezeptionshaltung sozusagen abholte und auf die Lektüre fingierter literarischer Texte einstellte. Die Aufwertung des Romans zum Kunstwerk ist in diesem Sinne ununterscheidbar verbunden mit der Herausbildung einer neuen Lektüreform.
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Siehe hierzu aber Seiler: Leidige Tatsachen, 83-91.
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Höchstens einen kleinen Schritt konnte die fingierte Selbstverleugnung der Romane immer nur hoffen, der wachsenden Urteilsfähigkeit der geübteren Leser vorauszueilen. Eine auf Unkenntlichkeit der Gattung zielende Anlehnung an Erbauungs- und Dokumentationsliteratur und alle Formen der Historie wurden kontinuierlich vom eigenen Erfolg und der inflationären Nachahmung untergraben. Gegenüber diesem aussichtslosen Dilemma war die Stärkung der internen Wahrscheinlichkeits-Relationen eine systematische Entlastung, die komplementär in der Rezipientenperspektive die Möglichkeit zur Differenzierung zwischen Fiktivität und innerer Stimmigkeit im Rezeptionsakt hervorrief. So konnte es gelingen, die durch den gewünschten Erfolg der Romane notwendig geschürte Rezeptionskompetenz in Bahnen zu lenken, die dem weiteren Erfolg nicht schadeten. Man bediente sich dabei der wissenschaftstheoretisch und popularphilosophisch schon seit langem konstatierten UnUnterscheidbarkeit der rationalen Leistungen von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit. Je präziser die Texte 'wahrscheinlich' verknüpft waren, desto mehr konnten die Kohärenzeffekte einer 'einstimmigen Syntax von Elementen' greifen, die allemal den der Neuzeit einzig möglichen umfassenden Begriff von Wirklichkeit bildeten,330 konnten die Romane also zu eigenen Wirklichkeiten werden. Mit der so gelingenden partiellen Entmachtung der Fiktivitätsfrage vermochte die Beweislast umgekehrt zu werden. Nicht seine eigene Authentizität mußte der Text länger unzweifelhaft versichern können, zunehmend war es genug, wenn man ihm nicht seine Erfundenheit anhand von Unmöglichkeiten, Widersprüchen also, nachweisen konnte. Die erzählerische Realisation eigener stimmiger Welten war aber nur die formale Bedingung für den Erfolg des Romans in der Moderne, es war die Möglichkeit zur Entmachtung der Fiktivitätsfrage. Seine erfolgsgarantierende Aufmerksamkeit erlangte der Roman auf der inhaltlichen Ebene, durch die sukzessive Modifikation seines mimetischen Bezuges. Seit der Roman insbesondere sich an die neuen identitätsbildenden Diskurse anschloß und deren Logik als die 'Gesetze der menschlichen Natur' mit seinen Techniken der Charakter-Entwicklung durchbuchstabierte, hatte er einen ebenso würdigen wie interessanten Gegenstand gefunden - den Menschen. Im gelungenen Fall wurde dem einzelnen Roman nun zunehmend ein eigener Wahrheitsanspruch geglaubt, der mit einer faktischen Authentizität nichts, mehr gemein hatte. In der Glaubwürdigkeit dieses ganz anderen Wahrheitsanspruchs, der zunehmend in den Umschreibungen des Allgemein-Menschlichen benannt wurde, 329 Bezeichnenderweise führte schon Breitinger Belesenheit als notwendige Voraussetzung zur Beurteilung literarischer Wahrscheinlichkeit an (und nicht die Kenntnis der 330 Welt); siehe Critische Dichtkunst 1, 140f. Siehe Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, 21.
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muß das Motiv vermutet werden für den tatsächlichen individuellen Vollzug jener Verlagerung des Aufmerksamkeitsschwerpunktes beim Lesen.331 Nur über einen solchen Umweg ist die Bewältigung des Widerspruchs zwischen Fiktivitätsvorbehalten und massenhafter Lektüre von als fiktiv durchschauten Romanen nachvollziehbar; einen direkten Übergang zwischen beiden gibt es nicht. Immerhin macht dieser Umweg über die vorübergehende Verunmöglichung der Fiktionsentlarvung die allmähliche Aufwertung der internen Textkohärenzen verständlich. Den Grund dafür, daß Leser dann auch noch weitergelesen haben, als sie die Fiktivität des Textes durchschauten, kann nur in der etablierten Gewißheit gesehen werden, daß es sich in der fingierten Geschichte um mehr handelt als nur ein Spiel. Auf das spielerische 'Als-Ob' der Fiktion ließ man sich ein in dem Bewußtsein, nicht nur zu spielen, sondern von den entfalteten 'Themen' selbst betroffen zu sein. Denn die fiktive Wirklichkeit war nicht nur irgendeine mögliche Welt, sondern immer eine Welt, die einen Bezug 332
zur eigenen Realität - und sei er metaphorisch - figurierte. Auf die Frage der Rezeptionskompetenz gerät eine Untersuchung der Aufrechterhaltung und Realisierung literarischer Wahrheitsansprüche im Roman des 18. Jahrhunderts notwendig wegen der Fiktivitätsvorbehalte des neuen Publikums. Im Wechselspiel zwischen den Fingierungstechniken der Fiktivitätsverschleierung und der Fähigkeit der Leser, Fiktivität zu durchschauen, lag das Gattungsproblem des Aufklärungsromans. Die dem Roman gelungene Verlagerung der von ihm behaupteten Wahrheit von der Ebene des faktischen Wirklichkeitsbezuges auf die der internen Fabelkonsistenz vermochte das (mögliche) Fiktivitätsbewußtsein der Rezipienten zu entwerten, mitunter vermutlich einzuschläfern, aber nicht auszusetzen. Seit den Romanen in der Geschichte eines 331
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Dabei darf nicht vergessen werden, daß sich der Wahrheitsanspruch, von dem hier gesprochen wird, noch immer in der pictura-Dimension bewegt, vor allem die theoretisch engagierten Vorstellungen einer literarischen Wahrheit des Romans knüpften sich dagegen weitgehend an das Fabelprinzip an, von dem noch zu sprechen ist. Naheliegend könnte anstelle solcher Erklärung auch der Versuch sein, das Motiv zum Weiterlesen trotz Fiktivitätsdurchschauens in der schlichten Dominanz der Unterhaitungsbedürfnisse über die moralischen Fiktivitätsvorbehalte zu suchen. Solch eine Erklärung verbietet sich aber, weil die Unterhaltung selbst ja zunächst verdächtig war und über die Nützlichkeitsimplikationen der Wahrheitsbegriffe erst legitimiert werden mußte. Freie Zeit zu haben, respektive sie als solche wahrzunehmen, war eine neue Erscheinung in bestimmten bürgerlichen Gruppen. Solche Zeit der Lektüre zu widmen ließ sich noch am Ende des 18. Jahrhunderts nur unter Hinweis auf den daraus entspringenden Nutzen rechtfertigen (siehe hierzu ausführlich Schön: Verlust der Sinnlichkeit, 233-287). Wer sich also Rechtfertigungszwängen überhaupt unterworfen fühlte, für den bot jener Umweg der Transformation literarischer Faktizitätsbehauptungen in abstrakte Wahrheitsansprüche ein weithin akzeptiertes Glaubwürdigkeitsangebot.
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Individualcharakters ein Darstellungsmodus zur Verfugung stand, der den äußersten Plausibilitäts- und Erklärungsanforderungen selbst unter Vernachlässigung der Probabilität äußerer Handlungsteile genügte, ließ sich Fiktivität sogar offen andeuten. So eröffnete sich die Möglichkeit, mit der Fiktivitätsdimension eines Romans 'ironisch' zu spielen. Durch den aktiven Versuch, die Ebene der inneren Wahrheit mit deijenigen des äußeren Realitätsbezuges, wo sich Fiktivitätsbewußtsein einstellt, in ein Spannungsverhältnis zu setzen, eröffnete sich eine reflexive Multidimensionalität des Sinns. Diese belebende Relationalität entsteht jedoch nur, wenn beide Ebenen sich nicht gegenseitig relativieren oder außer Kraft setzen. Eine solche Ausgangsposition würde der Literaturtheorie die Entscheidung ersparen, die Dichtung entweder per se für die Konstitution eigener Welten oder eben doch für referentiell zu erklären.333 Durch ihren Anschluß an die virtuell allen Rezipienten zugänglichen Diskursregeln verstand die Literatur den durch allmähliche Offensichtlichkeit der Fiktion zur Aporie reifenden Gegensatz von referentieller und kohärenter Wahrheit in einen eigenen Reiz zu verwandeln. Deshalb steht auch bei streng eigengesetzlichen literarischen Fiktionen die mittelbare Bezüglichkeit des literarischen Textes auf den jeweiligen Kulturkreis nicht in Frage. Dabei ergab sich durchaus eine Bandbreite möglicher Präsentationshaltungen auf seiten des Textes, der eine Vielfalt von variierenden Rezeptionshaltungen bei den Lesern korrespondierte. Erst dies Potential macht die Menge so unterschiedlicher Bedeutungsdimension literarischer Texte sinnvoll, ihre fortbestehenden Möglichkeiten, zusätzlich zu den neu etablierten Sinnkonstituierungen mit allen Mitteln traditioneller Rhetorik auch referentiell noch auf die Wirklichkeit Bezug zu nehmen.
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Ohne Schwierigkeiten ließe sich die skizzierte Entwicklung des Romanerzählens im 18. Jahrhundert an die von Hayden White herausgestellten historischen Grundfiguren der Sinnvermittlung beim Erzählen von Geschichten anschließen. Dann müßten die Metonymie mit dem faktischen Wahrheitsbezug, die Metapher mit der internen Kohärenz (respektive mit dem noch zu behandelnden Fabelprinzip), die Synekdoche mit dem Diskurs und die Ironie mit den literarischen Fiktionssignalen parallelisiert werden. Besonders für die hier behandelte Zeitspanne ist die Nähe zwischen Historiographie und literarischem Erzählen ja unstrittig, wobei zu vermuten steht, das die bewußte Anlehnung einzelner Historiker an die Literatur eine Folge der Erfolgsgeschichte des Romans war, die hier in einigen Aspekten erörtert werden soll. Zu den vier master tropes siehe Kenneth Burke: Grammar Notes; hierzu White: Auch Klio dichtet, sowie dort das Vorwort von Koselleck; außerdem aus literaturwissenschaftlicher Sicht zu der Debatte Lützeler: Fiktion in der Geschichte - Geschichte in der Fiktion; Lämmert: Geschichte ist ein Entwurf, sowie zum Problemzusammenhang Stierle: Erfahrung und narrative Form.
6. Das 'Paradox des menschlichen Herzens' zur Fiktionalität
Es ist in der That eben nicht zu verwundern, daß der menschliche Geist durch die Fantasie gereizt und durch das Vergnügen angezogen werden sollte; daß wir aber das Stöhnen und die Seufzer des Elends mit Aufmerksamkeit anhören und ein Vergnügen an dem Jammer von aufgehäufter Seelenangst finden; daß wir freywillig wählen, den Busen mit eingebildeter Furcht auszufüllen, und die Augen wegen eines fingierten Schmerzes überfliessend zu machen, scheint ein Paradox des menschlichen Herzens zu seyn, und könnte nicht geglaubt werden, wenn es nicht allgemein gefühlt würde.1
Aus der bisher nachgezeichneten Entwicklung der Relation zwischen Romanen und Lesern unter dem Aspekt der Wahrheitsfrage ergibt sich eine eigene Beschreibungsfigur literarischer Fiktion. Deshalb mag es angebracht erscheinen, diese Figur noch einmal im Lichte der fiktionstheoretischen Debatte darzustellen.2 Dabei stellt sich zunächst heraus, daß die literarhistorische Überprüfung des Fiktionsbegriffs anhand der Gattungsgeschichte des Romans, respektive des literarischen Erzählens, im 18. Jahrhundert die theoretischen Erklärungsversuche gerade dadurch in erhöhtem Maße herausfordert, daß zu dieser Zeit die Dissoziation von Roman und Geschichtsschreibung erst einsetzte. Daraus ergeben sich für die Beschreibung literarischer Fiktion Vorteile, weil die Historiographie besonders schwer von bestimmten Romanformen abgegrenzt werden kann und damit einen wichtigen 'Testfall' für Fiktionsmodelle darstellt. Denn jeder historiographische Text erfüllt eine ganze Reihe von Bedingungen, welche in geläufigen Fiktionsbestimmungen herangezogen werden: Er ist 'entpragmatisiert',3 er 'vergegenwärtigt' Nicht-Gegenwärtiges, das sich der Überprüfung durch den [Anonymus:] Ueber die Romane, Litteratur und Völkerkunde 6, 1785, 190. Selbstverständlich können hier nur selektiv einzelne Aspekte herangezogen werden, da die gesamte Diskussion fast nicht mehr zu übersehen ist. Einen systematisierenden knappen Überblick gibt Hoops: Fiktionalität als pragmatische Kategorie; siehe auch Assmann: Legitimität der Fiktion, 9-17, sowie den Band Funktionen des Fiktiven (dazu die kritische Rezension von Zielkowski). Zur Gegenüberstellung von ftktionalen und pragmatischen Texten oder Kommunikationssituationen im Anschluß an Stierle (Was heißt Rezeption bei fiktionalen Texten?) siehe Gumbrecht: Fiktion und Nichtfiktion. Zur Kritik dieser Opposition siehe Hoops: Fiktionalität als pragmatische Kategorie 300f.
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Leser entzieht,4 und er kann sogar den Verweis auf den eigenen Entwurfscharakter beinhalten und damit unter die Kategorie der sich selbst entblößenden Fiktion fallen.5 So wirft die Geschichte des Romans im 18. Jahrhundert ein erhellendes Licht auch auf die lebhafte fiktionstheoretische Debatte, in der seit Ende der 50er Jahre zunehmend versucht wird, die nun eher mit Skepsis betrachteten Begriffe der 'Dichtung', des 'Literarischen' oder des 'Ästhetischen' zu ersetzen respektive zu präzisieren.6 Die literaturwissenschaftliche Hoffoung aber, im Fiktionsbegriff ein Definens der Literatur fassen zu können, ist vor allem von zwei Seiten bedroht. Erstens sind nicht alle literarischen Texte fiktiv (oder sie sind nicht nur fiktiv), und zweitens sind nicht alle Aktiven Texte literarisch. Auf den ersten dieser Einwände gegen die Bestimmung von Literatur mit dem Fiktionsbegriff wird gern einschränkend geantwortet: in diesem Sinne sei es auch nicht gemeint, vielmehr stehe das Kriterium der Fiktionalität für die 'Situationsabstraktheit' oder für die Polyfunktionalität literarischer Texte.7 Allerdings wird so nur auf weitere Begriffe verwiesen, von denen allemal vorher festzustehen scheint, daß sie sich auf literarische Texte beziehen. Auf solche Weise lassen sich die Probleme jedoch nur überdecken, indem man sich des scheinbar Selbstverständlichen unter Benutzung neuer Namen vergewissert. Wenn Situationsabstraktheit erst das eigentlich trennscharfe Kriterium ist, dann wäre der Fiktionsbegriff ja entbehrlich.8 Für die Entscheidung, ob eine vorliegende Autobiographie etwa als ein literarischer Text einzustufen ist, helfen beide Begriffe nicht weiter. Ein historischer Roman ist nicht fiktiv, und situationsabstrakt oder entpragmatisiert ist jede historische Abhandlung und jeder philosophische Essay auch. Das zweite Problem, daß nicht alle fiktiven Texte literarisch sind, muß selbst in zwei Hinsichten erörtert werden. Zunächst hängt mit diesem Punkt eine besondere Schwierigkeit der Fiktionstheorie zusammen. Spätestens seit Kant die Λ
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Iser: Die Wirklichkeit der Fiktion, 291; zu diesem Kriterium siehe kritisch Anderegg: Zum Problem der Alltagsfiktion, 381 f. Iser: Akte des Fingierens, 135 u.ö.; ein solcher Text würde auch von Isers Kriterien der Selektion und Kombination betroffen (siehe dort). Kritisch zu Isers Entblößungs-These siehe auch Haverkamp: Die neueste Krankheit zum Tode, 189ff. Diesen Verdacht hat auch Anderegg: Das Fiktionale und das Ästhetische, 153. A. Assmann setzt Fiktionalität mit Bezeichnungen wie Dichtung oder sogar Kunst in eine Reihe. Demgegenüber soll dann Fiktivität in Opposition zu Faktizität stehen (Legitimität der Fiktion, 157). Siehe sehr deutlich etwa S.J. Schmidt: Fiktionalität, 67. Situationsabstrakt aber ist die sogenannte engagierte Literatur des 20. Jahrhunderts oder die politische Lyrik des Jungen Deutschlands höchstens auf eine Weise, die wiederum genauerer Präzisierung bedürfte.
Das 'Paradox des menschlichen Herzens' - zur Fiktionalität
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grundsätzliche (transzendental-) subjektive Bedingtheit menschlicher Wirklichkeitswahmehmung erläutert hat, ist es schwer geworden, Fiktion gegen das Reale abzugrenzen. Die in allen Wissenschaften fortgeschrittene methodische Reflexion des Setzungs-Charakters der jeweiligen Erklärungsmodelle macht 'die1 Wirklichkeit immer weniger verfügbar, gegen die sich Fiktion deutlich absetzen ließe. Aus diesen Zusammenhängen hat Nietzsche weitreichende Schlufifolgerungen gezogen, die Vaihinger dann in die Philosophie des Als Ob ausformulierte. Für die literaturwissenschaftlich inspirierte Fiktionstheorie müßte demnach die Frage lauten: Was kann das Fiktionale der Fiktion noch sein, wenn die Welt uns nur in Modellen und Entwürfen zugänglich ist, um deren Künstlichkeit wir sehr genau wissen? Oder, noch weiter zugespitzt: Wenn alle Texte notwendig fiktional sind, was könnte dann noch das Eigentliche der literarischen Fiktion sein? Hier scheint jedoch gerade die philosophische Grundsätzlichkeit des Gedankens einen Ausweg zu liefern. Denn ohne Zweifel besteht in der Alltagswahrnehmung die Differenz von Fiktion und Wirklichkeit fort, scheinbar unbeeindruckt von den fundamentalen philosophischen Relativierungen des Realitätsgehalts unserer Wahrnehmungsformen. Auch wenn uns die Wirklichkeit nur in Modellen zugänglich ist, verfügen wir doch über ein Weltbild, das wir selbst gegenüber anderen Vorstellungswelten mit einem besonderen Realitätsbonus abgrenzen.® Bezeichnet man unsere Wirklichkeitswahrnehmung - und deren Beschreibungen - als Fiktion, dann gäbe es dennoch nach unserem eigenen Weltmaßstab innerhalb dessen noch weitere Fiktionen - ganz so wie innerhalb einer Fiktion eine weitere Geschichte erfunden werden kann. Die unhintergehbar erscheinende erkenntnistheoretische Relativierung der Wirklichkeit zur Welt des Als-Ob bedroht den Fiktionsbegriff gerade nicht, der sich vielmehr als ein relativer herausstellt. Doch (zum anderen) reagiert die fiktionstheoretische Debatte auf diese Zusammenhänge mit der inzwischen deutlichen Tendenz, die ursprüngliche Opposition von real versus fiktional wenigstens zu modifizieren,10 wenn nicht sogar fallen zu lassen.11 Ohne auf die intendierten Erklärungsvorteile für den Literaturbegriff zu verzichten, gelingt dies nur durch eine Abwendung von ontologi9
Siehe hierzu grundsätzlich Alfred Schütz: Don Quixote und das Problem der Realität, und: Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten. Unter diese Intention stellt Iser seinen Beitrag Akte des Fingierens; siehe Iser: Die Doppelungsstruktur des literarisch Fiktiven, 497ff. Der entsprechende Vorschlag Marquards, angesichts der aus erkenntnistheoretischer Sicht fortschreitenden Verwandlung der Wirklichkeit zur Fiktion die Kunst als Antifiktion zu verstehen, wird von Iser allerdings zurückgewiesen (siehe: Marquard: Kunst als Antifiktion, und: Das Fiktive als ens realissimum; Iser: Die Doppelungsstruktur).
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sehen Differenzbestimmungen der Fiktion und unter Hinwendung zur Rezipientenperspektive. Denn trotz allen erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten scheint der Leser meist eine recht deutliche Vorstellung davon zu haben, ob ein Text fiktional ist oder nicht. Und so zeichnet sich längst ein Konsens darüber ab, daß Fiktionalität nur im Rahmen von 'Kommunikationsprozessen' beschrieben werden kann. Mit dieser immer wiederkehrenden Formel12 wird allerdings meist nur überspielt, daß sich die Opposition von real und fiktional nur aufrechterhalten läßt unter konsequenter Einnahme der Rezipientenperspektive.13 Das aber würde bedeuten, es jedem Leser freizustellen, ob er einen Text fiktional liest, ob er ihn also - denn darum geht es ja eigentlich - als 'Literatur' liest oder nicht. Verstärkt wird diese Problemlage noch durch die geschichtliche Dimension der literarischen Texte. Wenn als wirklich das gelten soll, was bestimmte Menschen für wirklich halten,14 dann könnte die sich davon absetzende Fiktionalität dem historischen Wandel unterworfen sein, so daß 'reale' oder 'pragmatische' Texte von einst nun fiktional wären oder umgekehrt. So findet sich oftmals noch ein textontologischer Rest in den rezeptionsorientierten Beiträgen zur Fiktionstheorie, die Betonung von 'Steuerungsleistungen', von eindeutigen Signalen des Textes, denen gegenüber unangemessene, naive oder illusionäre Rezeptionsformen abgegrenzt werden können und von denen sich angemessene Rezeptionsformen leiten lassen sollen, so unendlich vielfältig diese selbst auch sind.15 Eigentümlicherweise spielt in der fiktionstheoretischen Debatte der phänomenologisch inspirierte Hinweis auf die subjektive Selbstverständlichkeit der Opposition von real/ fiktional nur eine geringe Rolle. Vielmehr sucht die literaturwissenschaftliche Fiktionstheorie in der 'Selbstentblößung' der literarischen Fiktion das stärkste Argument bei dem Versuch, das Spezifische der Literatur mittels der Fiktion zu bestimmen. Denn gerade dies schien eine literarische Beson12
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Anderegg faßt die Diskussion mit der Bemerkung zusammen: 'Fiktion' oder 'Fiktionalität' [.··] werden heute weitgehend als Bezeichnung gebraucht für Modelle von Kommunikationsweisen im Rahmen einer fimktionalen Ästhetik. (Das Fiktionale und das Ästhetische, ISS). Isers frühe Beiträge sind in der Intention, gegen die noch vorherrschende 'Darstellungsästhetik 1 die semantische Offenheit des literarischen Textes herauszustellen, stärker von dem Moment der sinnkonstitutiven Tätigkeit des Lesers geprägt. Daher auch Stierles Vorwurf an Iser, durch eine Überbewertung der kreativen Selbsttätigkeit des Lesers die textliche Unbestimmtheit zu verdecken statt sie aufzuhellen - das 'Auffüllen' der Leerstellen nivelliert demnach die strukturelle Offenheit des Textes. (Was heißt Rezeption, 374) Landwehr: Fiktion und Nichtfiktion, 389. Siehe etwa Iser (Im Lichte der Kritik, 328), der den Leerstellen zutraut, den Leser in einem Text zu steuern. Stierle spricht dem Text die Konstitution einer primären Relevanzfigur zu, auf die alle sekundären Relevanzbildungen bezogen bleiben müssen (Was heißt Rezeption, 371).
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derheit gegenüber anderen Fiktionen zu sein: daß die Literatur aus ihrer Fiktionalität keinen Hehl macht. 16 Der in dieser Untersuchung genommene Umweg über die historische Rekonstruktion des Aufkommens massenhafter Lektüre von Romanen als Fiktionen hat jedoch schon deutlich gemacht, daß die Unterscheidung von fiktiven und nichtfiktiven Texten nicht grundsätzlich an Textsignalen festgemacht werden kann. Denn nicht nur gibt es einzelne Genres, die ihre Fiktionalität kaschieren (historischer Roman, fiktive Autobiographie), sondern auch eine ganze literarische Epoche lang konnte der Roman mit Sorgfalt Fiktionssignale vermeiden und mit einer Fülle von Kaschierungstechniken die Fiktivität seiner Geschichte zu verschleiern suchen.17 Das bringt aber für die Selbstentblößungsthese mehrere Schwierigkeiten mit sich. Wenn zum Beleg dieser Überzeugung oft hochreflexive Texte angeführt werden, die unzweifelhaft solche Fiktivitätshinweise enthalten, dann gerät der Vertreter dieser Auffassung zumindest in die latente Gefahr, die erwähnten Texte aus dem Kanon auszugrenzen, 18 welche solche offensichtlichen Signale nicht aufweisen ('realistische' Romane) oder ihre Fiktivität sogar offensiv verschleiern. 19 Dagegen wäre eine Verteidigung denkbar, die versuchte, etwa auch an den sogenannten realistischen Roman des 19. Jahrhunderts subtile Fiktivitätshinweise aufzuspüren. Eine solche Bemühung wäre vielleicht erfolgreich, ließe allerdings die Möglichkeit außer Betracht, daß zu solchen Identifikationsleistungen ein geübtes Rezeptionsvermögen erforderlich ist, daß sowohl historischem wie individuellem Wandel unterworfen bleibt. Anders gewendet: wenn man weiß, daß die Geschichte nicht wahr ist, dann entdeckt man auch überall Fiktivitätssignale, die in anderen Texten als Besonderheiten oder Mängel der Kom20
Positionen gewertet werden würden. Angesichts der Schwierigkeit, daß sich ein solches Signalrepertoire nicht ausschließlich an linguistischen Zeichen der Texte festmachen läßt, hat Iser die Identifi16
Iser: Von einer solchen [alltagskommunikativen oder wissenschaftlichen] Vorkom-
mensweise der Fiktionen unterscheidet sich der fiktionale Text der Literatur dadurch, daß er seine Fiktionalität entblößt. (Akte des Fingierens, 136) So stellt auch Gumbrecht im Zusammenhang mit dem 'realistischen Roman' des 19.
Jahrhunderts fest: Die SelbstentblößungfiktionalerTexte als fiktional ist ein historisch durchaus begrenzbares Phänomen (Lebenswelt als Fiktion, 244). 18
In diesem Zusammenhang dürfte Isers strenge Normativität stehen und die bevorzugte Illustration seines Modells an Texten, die unzweifelhaft dem 'Höhenkamm' der Literatur zu entstammen scheinen (zum Normativitätsproblem siehe auch Hoops: Fiktionalität als pragmatische Kategorie, 291ff.). Auf das Problem solcher scheinbaren literarhistorischen Anachronismen macht etwa Harth aufmerksam (Romane und ihre Leser, 167) Für solches 'überschießendes' Fiktivitätsbewußtsein liefert Booth einige sehr anschauliche Beispiele aus dem 20. Jahrhundert. (Siehe: Rhetorik der Erzählkunst 2, 102f.)
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kationsmöglichkeit dieser Signale an bestimmte historisch variierende Konventionen
geknüpft, die Autor und Publikum teilen.21 Eine so weitreichende Relativierung legt allerdings den Verdacht nahe, daß diese Konventionen - Gattungskennzeichen etwa - überhaupt nichts mit der Frage der Fiktionalität zu tun haben, sondern lediglich anzeigen, daß es sich um Literatur handelt.22 Historisch variierende Konventionen steuerten das Verständnis davon, was Literatur ist und was nicht. So war im 18. Jahrhundert Geschichtsschreibung dem damaligen 'Litteratur-Begriff ebenso eingeordnet wie die sich als Historien kaschierenden Romane. Weil nicht alle Texte eindeutige Fiktionssignale aufweisen, wird von Iser das konventionelle Einvernehmen herangezogen. Dies aber regelt bereits selbst den Literaturkanon, so daß der Umweg der Literaturbestimmung anhand von Fiktivität gespart werden könnte.23 Der Begriff der Fingierung weist in diesem Zusammenhang auf eine weitere Schwierigkeit. Weil die Selbstentblößung vielfach als das Charakteristikum der (literarischen) Fiktion betont wird, steht dagegen die mit Täuschungs-Absichten vorgehende Fingierung. Ein Text, dem es gelang, die Leser über seine Fiktivität zu täuschen (etwa die Lettres portugaise, 1669), müßte demnach aus dem Literaturkanon ausgegrenzt werden, was insbesondere auch deshalb begriffliche Verwirrung stiftet, weil ja nach dem Wirklichkeitsverständnis dieser (getäuschten) Leser die Geschichte durchaus zur Fiktion zu rechnen wäre.24 Das Kriterium der 21
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Akte des Fingierens, 135; siehe auch Warning: Man kennt zur Genüge die immer wieder neu gestarteten und immer wieder gescheiterten versuche, Fiktionalität mit Hilfe linguistischer Kriterien zu definieren (Der inszenierte Diskurs, 193). Isers Formulierungen geraten hier in die Gefahr der Zirkelhaftigkeit: wenn es die Literatur kennzeichnet, daß sie sich durch ein Signalrepertoire als fiktional zu verstehen gibt und damit anzeigt, daß sie eben Literatur und damit etwas anderes als Wirklichkeit sei, zugleich aber die Eindeutigkeit dieser Fiktionssignale abhängig bleibt von historisch variierenden Konventionen und sich im Extremfall nur in dem Zugehörigkeitsindiz zu einer literarischen Gattung erweist, dann vermag das Gattungskennzeichen zu garantieren, daß es sich um Literatur handelt, und wer Literatur für fiktiv hält, kann so auch eine Information über den Fiktivitätsstatus des Textes erhalten, nicht aber anhand der Fiktivitätssignale literarische Texte erkennen. (Akte des Fingierens, 135) Wer zum Beispiel Wolfgang Hildesheimers Marbot aufschlägt, erwartet einen Roman, wenn er den Namen des Autors als den eines 'literarischen' Schriftstellers kennt. Und die Erwartung eines Romans ist vielfach mit der von Fiktivität verknüpft. Vermutlich werden die meisten Leser dieses Textes dagegen während der Lektüre mehrfach zweifeln, ob es sich um die raffinierte Fingierung oder um eine historische Biographie handelt. Bei seiner Fiktional itätsdefinition in strenger Abhängigkeit vom Kriterium der vom Autor gelieferten Fiktivitätsindikatoren ist Hoops diesen Schritt konsequent gegangen und hat solche Texte, die von der Mehrzahl der Leser tatsächlich ftlr authentisch gehalten wurden, höchstens als Vorlaufer fiktionaler Texte gelten lassen. (Fiktionalität als Pragmatische Kategorie, 300)
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fiktionalen Selbstentblößung scheint also ebenfalls keine Möglichkeit zu bieten, den Gegenstand der Literaturwissenschaft mittels des Fiktionsbegriffs wissenschaftlich zu präzisieren. Mögen literarische Texte bestimmte Signale aufweisen, die Fiktionalität anzeigen - eindeutig sind solche Signale nie. Die Desillusionierung der Hoffnung, Literatur über den Begriff der Fiktion bestimmen zu können, wurde vor allem durch solche Beiträge noch forciert, die zunächst vom Fiktionsbegriff selbst und weniger von literarischen Texten ausgingen. So kommen in der Alltagskommunikation nicht nur Fingierungen (im Sinne von Täuschungen) vor, sondern auch Fiktionen in der Weise, daß die Zuhörer auf die Zuordnung von Referenzen bewußt verzichten, und es konnte gezeigt werden, daß selbst in Erlebnisberichten offenbare Übertreibungen im Kontext einer funktionalen Integration in übergeordnete Selbstdarstellungs- oder Unterhaltungsabsichten problemlos toleriert werden.25 Kann also einerseits nicht von allen literarischen Texten mit Evidenz die Selbstentblößung ihrer Fiktionalität behauptet werden, so drohen auf der anderen Seite Alltagsfiktionen, die sehr wohl ihren Modalstatus preisgeben. Angesichts dieser Probleme verwundert es nicht, daß die Hoffnung inzwischen vielfach skeptisch beurteilt wird, aus der 'Fiktionalität' begriffliche Vorteile für die wissenschaftliche Selbstbestimmung der Literaturwissenschaft zu ziehen. Jürgen Landwehr beantwortet die Frage, ob literarische Texte fiktional seien, mit der Benennung folgenden Kriteriums: Lite26 rarische Texte sind nur dann fiktional, wenn das ästhetische Moment dominiert.
Wenn das Ästhetische selbst wieder als Distinktionskriterium zwischen literarischen und nichtliterarischen Fiktionen dienen muß, dann scheint nicht viel gewonnen zu sein. Der Blick auf das Verhältnis zwischen Roman und Leser im 18. Jahrhundert legt eine andere Beschreibung des Zusammenhangs von Literatur und Fiktion nahe. Vom Zwang zur systematischen Entfaltung des Fiktionsbegriffs befreit, braucht sich die Rekonstruktion von der Genese des Phänomens massenhafter Lektüre auch fiktiver Texte um die literaturtheoretischen Folgelasten zunächst nicht zu bekümmern. Die hier vorgeschlagene Rekonstruktion der kulturhistorischen Herausbildung einer Dissoziation von externer Faktenwahrheit und interner Textkohärenz in zwei unterschiedliche Beurteilungsdimensionen mit der Möglichkeit, die Valenzpriorität zwischen beiden zu wechseln, vermag einige Besonderheiten fiktionaler Rezeption zu veranschaulichen. Zunächst bedeutet der Modus der Fiktivität eines literarischen Textes noch nicht, daß dieser nicht zugleich auch 'authentisch' sein könnte. Dies gilt für historische Romane, für Dokumentarliteratur, gegebenenfalls für Autobiographien, aber es gilt ebenso 25
Siehe hierzu Stempel: Fiktionen in konversationellen Erzählungen. Landwehr: Fiktion und Nichtfiktion, 401.
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für realistische Passagen, Ebenen oder Details in ansonsten fiktiven Texten: das 'Danzig' der Blechtrommel nicht mit der damaligen Freien Stadt Danzig zu referentialisieren dürfte nicht nur eine unmögliche vorstellungsakrobatische Leistung sein, sondern auch eine wichtige Dimension dieses Romans ausschalten.27 Mit der Unterstellung, daß Romanleser die Kompetenz erst herausgebildet haben, zwischen mimetischer und fiktionaler Rezeptionspriorität zu wechseln, gewönne man ein flexibles Modell, das es gestattete, die unhaltbare Entgegensetzung von fiktiven und realen Texten aufzuheben, die Opposition in die Lektüre zu verlegen und damit ganz unabhängig von der Instanz des Textes zu beschreiben, der nun auf verschiedene Weisen gelesen werden darf, ohne daß zwischen diesen die üblichen normativen Bewertungen vorgenommen werden müssen. So berechtigt die Versicherung ist, daß die Leser meist sehr genau zwischen fiktiven und realistischen Darstellungen zu unterscheiden wissen, so zweifelhaft wird dieses Ausgangsdatum, wenn man erst einmal die Gleichzeitigkeit oder Überschneidung von fiktiven und realistischen Aspekten in Texten anerkennt, wenn es also darum geht, zu sagen, wieweit die Fiktivität einer Erzählung reicht. Nur relativ wenige Leser des Namens der Rose dürften in der Lage gewesen sein, während der Lektüre darüber Auskunft zu geben, wo in diesem Text die Grenzen zwischen Fiktivität und Mimesis liegen. Der entscheidende Schluß, der daraus zu ziehen bliebe, lautet: es kommt der Mehrzahl der Leser auch nicht darauf an - jedenfalls nicht in dem Sinne, daß sie von der Fiktivität der Handlung die Einschätzung eines Textes als 'Literatur' oder 'Nicht-Literatur' abhängig machen würden. Mit der Fiktivität der Geschichte ist also kein Differenzkriterium für die Bestimmung literarischer Texte zu gewinnen. Gerade an der gemächlichen Sukzession, mit der im 18. Jahrhundert die Romane sich stärker als Fiktion zu erkennen gaben, läßt sich ablesen, daß auch aus Sicht der Rezipienten nicht fiktive und realistische Texte sich kontradiktorisch gegenüberstehen; viel•·
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mehr vermag der Leser die Richtung seiner Lektüreintention zu variieren. Allerdings werden auch in der hier vorgenommenen Beschreibung von der Herausbildung einer fiktionalisierenden Lektüre den Texten Steuerungsfunktionen im weiteren Sinn zugeschrieben. Nur bleibt dieser Befund erst einmal auf der deskriptiven Ebene: ohne Zweifel haben bestimmte benennbare Veränderungen der Texte zu Wandlungen im Rezeptionsverhalten geführt. Gerade darin ist ja die Voraussetzung des epochalen Erfolges des Romans zu sehen, der sich 27
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In dieser Weise könnte ein literaturwissenschaftlicher Fiktionsbegriff die Kritik aufnehmen, die Seiler mit seinen detaillierten Nachweisen referentieller Aspekte in vermeintlich fiktiven Texten gegen die 'herrschende' Meinung der Literaturwissenschaft vorbringt (Leidige Tatsachen, Zitat 10). Dann wäre es auch nicht mehr grundsätzlich eine 'Fehlrezeption', etwa in bestimmten literarischen Figurenreden die Auffassungen des Autors zu suchen.
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immer offensichtlicher als Fiktion zu erkennen gab. Der Frage nachzugehen, wie neue Formen der Rezeption - und eine damit rechnende Romanproduktion gegen Ende des 18. Jahrhunderts erklärt werden können, ist Anliegen dieser Untersuchung. Doch ist dies die deskriptive Perspektive der Literarhistorie. Von dort gelangt man nicht ohne weiteres zur Literaturtheorie - sofern jedenfalls Literaturwissenschaft nicht vollständig in der Historiographie aufgehen will. Man wird also bei der Beurteilung literarischer Fiktion berücksichtigen müssen, daß die Differenz zwischen Fiktion und Nichtfxktion erst eine kulturgeschichtlich erlernte ist. Dabei barg diese Differenz zunächst ein beachtliches Bedrohungspotential, das von den Romanautoren des 18. Jahrhunderts immerhin als so groß eingeschätzt wurde, daß sie für einige Jahrzehnte eindeutige Fiktivitätssignale in den Texten lieber vermieden. Allmählich folgte dann dem Erlernen der Differenz das Erlernen ihrer Entschärfung. Allerdings wurde dieser Gegensatz nicht durch Wiederaufhebung entwertet, sondern durch die Herausbildung einer anderen Lesetechnik kultiviert, in welcher der nunmehr bewirkte Verlust an Wahrheitswerten der Referenz durch die Aufmerksamkeit auf andere 'Wahrheiten' ersetzt wurde. Der Weg des Romans im 18. Jahrhundert ging über Texte, die belegbare Realitätsreferenz behaupteten und zugleich die Aufmerksamkeit auf die interne Kohärenz lenkten, also zunehmend mit einer Lektüre rechneten, die man 'fiktional' nennen könnte. Am literarhistorischen Erfolg solcher Texte, die mit beiden Lesarten rechneten, wird eine simple, aber gewichtige Einsicht ablesbar: kulturhistorisch sind literarische Erzähltexte erst durch die Herausbildung einer neuen Lektüreform zu Fiktionen geworden. Wie aber historisch Romane erst durch das Erlernen von fiktionaler Lektüre optional zu Fiktionen wurden, so wird jeder einzelne Erzähltext erst im je individuellen fiktionalen Lektüreakt zur Fiktion. Diese erlernte Technik einer nicht hauptsächlich referentialisierenden Leseform kann grundsätzlich auch auf solche Texte angewandt werden, die als 'nichtfiktiv' (historische Roman etc.) oder als 'nichtfiktional' (also nicht-literarisch)29 gelten. Folglich stellt sich die Frage, ob oder inwieweit solche fiktionale Lektüre 'literarisierend' wirkt, durch sie also Texte zu 'Literatur' werden. Eine positive Antwort dürfte nun naheliegen, da die (zumindest virtuelle) Aufhebung referentieller Bezüge eines der Hauptmerkmale für Literatur zu sein scheint. Doch wenn unter der Aufhebung der Referenz keine textontologische oder kulturdeterminierte Gegebenheit verstanden werden kann, dann ergeben sich nach dem bisher Dargestellten mehrere Konsequenzen: die faktische Referenz wird erst im Lektüreakt vom Rezipienten auf29
Ein besonders markantes Beispiel wäre hier ein Text, der gleichzeitig unter die Kategorien 'fiktiv' und 'nichtfiktional' fallen würde - etwa Leibniz' Nouveaux essais sur l'entendement human (1765), in denen der fingierte Dialog mit einem außerirdischen Besucher zur Entfaltung der Kritik an Lockes Erkenntnistheorie benutzt wird.
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gehoben; sie muß aber nicht vollständig ausgesetzt werden, es genügt, wenn dem denotativen sprachlichen Wirklichkeitsbezug nicht die höchste Priorität der Lektüreintention eingeräumt wird. Die Folge davon ist zunächst allein das Freiwerden von Valenzen (respektive der Valenzpriorität) - und die Lektüre würde sicher abgebrochen, wenn diese Valenzen nicht in neue Verbindungen eingefügt würden. Das kann - in der Alltagskommunikation - das Vergnügen an einer Anekdote sein; das kann - wie oben skizziert - eine abstraktere literarische 'Wahrheit' sein, wobei der textliche Wirklichkeitsbezug sozusagen metaphorisiert und ein traditionelles Modell literarischer Kommunikation aufrechterhalten wird; das kann - wiederum im Bereich der Literatur - das ästhetische Wohlgefallen sein, aber auch jegliches Interesse an technischen Aspekten eines Textes und vieles mehr. Fiktionale Lektüre dürfte also eine Bedingung fur die Rezeption eines Textes als Literatur sein, nicht aber schon selbst literarisierend wirken. Indem in der fiktionalen Lektüre Valenzen freigesetzt werden, entsteht die Möglichkeit, daß statt des Referenzbezuges solche Valenzrelationen eingesetzt werden, die für uns 'Literatur' ausmachen, möglich sind aber auch andere Bezüge, wie etwa das erwähnte alltagskommunikative Unterhaltungsbedürfnis. Vielfach ist versucht worden, der kommunikationspragmatischen Dimension von Fiktion im Begriff des fiktionalen Kontraktes gerecht zu werden. Doch auch diese Vertragsmodelle helfen in literaturwissenschaftlicher Hinsicht nicht weiter. Der Kontraktbegriff gestattet nur eine soziologisch-deskriptive Perspektive auf Fiktions-Rezeptionen, eine eigene wissenschaftliche Präzisierung des Literaturbegriffs gelingt so nicht. Kein Wunder daher, daß man auch bei diesen Fiktionskonzepten normative Wendungen findet, nach denen es eine Fehlrezeption sein soll, wenn sich der Leser nicht auf den fiktionalen Kontrakt einläßt. 30 Zu einem gleichberechtigten Partner wird man den Rezipienten in einem pragmatisch orientieren Fiktionskonzept erst werden lassen, sobald man die geschichtliche Genese fiktionalisierender Rezeptionsformen von Literatur ernsthaft berücksichtigt. Denn unter dieser Perspektive gehen alle normativen Verbindlichkeiten von bestimmten Rezeptionshaltungen gegenüber bestimmten Texten sofort verloren. Welchem Wirklichkeitsbegriff gegenüber können wir mittelalterliche Epen als fiktive bestimmen; wie sollte präzisiert werden, daß ihre Rezi31 pienten nicht das Bedürfnis verspürten, eine Referentialisierung vorzunehmen? 30 31
Warning: Der inszenierte Diskurs, 205. So bestimmt Anderegg unter deutlicher Modifizierung früherer Positionen einen kommunikativ situierten Fiktionsbegriff (Zum Problem der Alltagsfiktion, 379; siehe dagegen: Fiktion und Kommunikation, 98f.). Auch gegen diese Bestimmung des Fiktionsbegriffs ließe sich allerdings Andereggs eigener Hinweis auf historisch verbürgte oder persönlich erlebte Sachverhalte anführen, die doch wohl durchaus vom Rezipienten bei der Lektüre referentialisiert werden.
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Selbst wenn man einen historischen Index benutzt und Fiktion nur gegen diejenige Wirklichkeit abgrenzt, die bestimmte Menschen für wirklich halten,32 arbeitet man mit einer Opposition, die erst mit einem spezifisch modernen Realitätsbegriff relevant wurde, welchem die faktische Erscheinung zum Bürgen der Wahrheit geraten war. Angesichts dieser einschneidenden Veränderung im Wirklichkeitsbild sich noch immer auf Texte einzulassen, die solchem Wahrheitsgebot nicht entsprachen, dürfte erst durch den Erwerb einer komplexen Kulturtechnik möglich geworden sein, die hier fiktionale Lektüre genannt wird und die es gestattet, Texte auch unter einem anderen Aufmerksamkeitsschwerpunkt zu lesen als dem der Anschließbarkeit an das jeweilige Wirklichkeitsbild in seinem individuellen Zuschnitt. Das Entscheidende, das es an dieser Technik zu beherrschen galt, war nicht der grundsätzliche Verzicht auf Referentialisierung, sondern die beständige Möglichkeit zur Veränderung der Bewertungshierarchie zwischen fiktionaler und referentialisierender Rezeption, einem Wechsel, der sich nicht allein von Text zu Text vollziehen, sondern auch die Handhabung von beiden Lesarten im selben Text gestatten mußte.33 Dabei ist es von Bedeutung, den negativen Charakter der fiktionalisierenden Rezeption zu beachten. Bestand ihre historische Funktion darin, die Höchstwertigkeit der referentiellen Dimension von Texten zu relativieren, um deren 'Lügenhaftigkeit' zu entschärfen, so wurden dadurch zugleich andere sprachliche Funktionen der Texte reziprok aufgewertet - etwa der emblematischen oder metaphorischen Aussage über 'Realität'. 34 Diese Technik ist zunächst in einem nur begrenzten Kreis von passionierten Lesern (infolge von komplizierten Veränderungen auf der Textseite, die von ganz anderen Interessen bestimmt waren) als eine Option herausgebildet worden. Seitdem hat sich die Verfügung über diese Option erheblich ausgeweitet - was nicht bedeutet, daß nicht auch diese Kulturtechnik erst vom einzelnen eigens erlernt werden müßte. An dieser Stelle scheint es angebracht, noch einmal die Geschichtlichkeit der Kommunikationssituation zu beleuchten, in der solche Rezeptionstechniken herausgebildet wurden. Schließlich sind Geschichten schon immer erfunden worden, und wer nicht Homer oder Äsop las, der kannte aus der Alltagskommunikation Witze, Schwänke und Anekdoten, über deren Erfundenheit er hätte Aus32
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Landwehr: Fiktion und Nichtfiktion, 389. Auf ein anderes Medium bezogen: ein zwölfjähriges Kind dürfte heute im allgemeinen in der Lage sein, die meisten Werbespots im Fernsehen als Fiktion zu durchschauen und zugleich den referentiellen (informativen) Aussagewert aufzunehmen (zum Problem siehe Juhl: On the Relation between Fictional Sentences and NonFictional Truth-Claims). In diesem Sinn wäre die Jakobsonsche Dominante nicht im Text, sondern im Blick des Lesers zu verorten; siehe hierzu Jakobson: Die Dominante, und: Linguistik und Poetik.
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kunft geben können. Vertrautheit mit Fiktionen muß also eher als die historische Normalform zu Beginn des 18. Jahrhunderts angesehen werden. Die Faktizitätsverpflichtung des Erzählens im Zusammenhang der Aufwertung eines faktengestützten ('modernen') Weltbildes war demgegenüber die historische Neuerung, vor der nun durchschaute Fiktionen zu einem Normenkonflikt Anlaß zu bieten vermochten ('Lügen lesen'). Zugespitzt wurde diese Problematik erst dadurch, daß die Romane den Anspruch auf Faktentreue gerade selbst favorisierten, ja darin die Chance eines neuartigen Erfolges ergriffen und so zu einer faktenbezogenen, referentialisierenden Lektüre aufforderten. Bei der Lektüre eines philosophischen Essays stellt sich die Fiktivitätsfrage nicht, und in ähnlicher Weise hat sie sich für die epischen Großformen vor dem 18. Jahrhundert auch nicht gestellt. Die Romane selbst konturierten also einen neuartigen Gegensatz, denjenigen zwischen faktisch und fiktiv, und daraus erwuchs erst das Problem, Rezeptionsformen, die in einigen Kommunikationssituationen (siehe Tierfabel) geläufig waren, auf Texte anzuwenden, die scheinbar referentiell gelesen werden wollten.35 Nunmehr waren die Kommunikationssituation und die ihr jeweils angemessene Rezeptionsform nicht mehr sauber getrennt. Die Kunst des Lesens sollte in Zukunft gerade darin bestehen, zwischen den verschiedenen Rezeptionsformen variieren zu können - und dadurch zugleich ganz neue Dimensionen der Rezeption zu eröffnen. In der Pluralisierung möglicher Aufmerksamkeitsschwerpunkte bei der Lektüre bestand erst der eigentliche 'Literarisierungs'-Effekt. Durch die Aufwertung der Tatsachenwahrheit wurde in das tradierte Weltbild die Grenzlinie zwischen Fiktivität und Faktizität mit scharfem Strich eingetragen, und erst dadurch schärfte sich auch das Bewußtsein für Fiktionshaftigkeit und das Vergnügen, mit ihrer literarischen Form umzugehen. Unter dem Einfluß tiefgreifender Wandlungen des Wirklichkeitsverständnisses gelang es also einer schlecht legitimierten Gattung, die neuartige Opposition von fiktiv und faktisch für den eigenen Erfolg zu instrumentalisieren. Dazu stellten sich die Texte in ihrer Selbstpräsentation eindeutig auf die eine Seite des Gegensatzes (Faktizität) - und erst dadurch wurde die immer offensichtlichere Zugehörigkeit zu der anderen Seite (Fiktivität) zu einem markanten Problem. In dieser Situation hing das Überleben der Gattung davon ab, die Bedeutung des Faktizitätskri35
Selbst wenn die Künstlichkeit im ersten Satz eines Textes angezeigt wird, zielt die fiktionale Suggestion auf die Imagination eines ganz konkreten Fabelzusammenhangs, zu dem jedes Fiktivitätsbewußtsein kontradiktorisch bleibt (siehe zum Beispiel: Eduard - so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter - Eduard hatte in seiner Baumschule [...]; und dagegen das abstrakte Statement aus einem philosophischen Traktat wie Wittgensteins berühmtes: Die Welt ist alles, was der Fall ist).
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teriums wieder zu entwerten. Da dies aber nicht grundsätzlich als eine Umkehrung der allgemeinen kulturhistorischen Entwicklung im Wirklichkeitsbild gelingen konnte, bestand die Konfliktlösung für die Erzählliteratur darin, für sich ein Eigenrecht, eine besondere Behandlung zu erwirken: eben ein Aussetzen der neuen Höchstwertigkeit von faktischer Wahrheit zumindest für die Lektüre literarischer Texte - und zugleich jene Vervielfachung der möglichen Aufmerksamkeitsschwerpunkte. Die sukzessive Entmachtung der referentiellen Wahrheitsforderung erfolgte auf dem Umweg entweder der scheinbaren Erfüllung oder der Verunmöglichung von dezidierten Entscheidungen über die (faktische) Wahrheit. Dadurch wurde bei den Lesern allmählich eine Relativierung der Höchstwertigkeit von (faktischer) Referentialität zugunsten anderer Dimensionen provoziert. Die immanente Konsistenzbildung erhielt im Prozeß dieser Umhierarchisierung größeres Gewicht, und die textinternen Kohärenzen wurden dadurch frei für den Anschluß an andere Wahrheitsbegriffe.36 Und diese 'Wahrheiten' vermochten die immer schneller und präziser wahrgenommenen faktischen Wahrheitsdefizite zu kompensieren. Die neuartige und immer mächtigere kulturelle Bedeutung, die der Gegensatz von Fiktivität und Faktizität in der Neuzeit erhalten hat, ist der Ermöglichungshintergrund für den Versuch, die Besonderheit von Literatur mittels des Fiktionsbegriffs zu präzisieren. Die fiktionstheoretische Debatte stand dabei seit je in der Tradition des Mimesisbegriffs, so daß die Erörterungen immer wieder von Nachahmungs- und Abbildungsfragen, vorhandenem oder fehlendem Wirklichkeitsbezug geprägt blieben. Dadurch ist ein wichtiges Moment an Fiktion immer leicht aus dem Blick geraten, ein Aspekt, der vor allem dann auffallt, wenn das Problem aus Sicht der Rezeption fiktiver Texte thematisiert wird - und der sich mit Hilfe der sprachwissenschaftlichen Begriffsklärungen Ferdinand de Saussures deutlicher veranschaulichen läßt. Denn die Differenz zwischen fiktiv und faktisch ist mit der Unterscheidung vergleichbar, für die bei de Saussure die Termini signify und chose stehen, also dem Gegensatz von Konzept und Referenz. Die Rezeption von Texten könnte in diesem Sinne als ein zunächst innersprachlicher Vorgang angesprochen werden, insofern Zeichenträger und Bedeutung bereits in einer Relation stehen und damit im Rezeptionsvorgang nur die Verbindung zwischen zwei Größen realisiert wird, die allemal zusammengehören wie die berühmten zwei Seiten eines Blattes.37 Die im Rezeptionsakt stattfindende Vergegenwärtigung von den zu einzelnen Zeichenträgern gehörenden 36
Dabei ist die kulturhistorisch relativ junge Aufwertung der Faktizität wohl zugleich die Bedingung für das leichte Erlernen der rezeptionstechnischen Aussetzung dieses Aufimerksanikeitssch werpunktes. Siehe F. de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 76-79.
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Konzepten wird bei der Rezeption eines jeden Textes vollzogen, ganz unabhängig vom Modalstatus des darin Berichteten. Ob dem Konzept jeweils ein konkreter außersprachlicher Referent, dem signifte tatsächlich eine chose entspricht, ist Gehalt einer weiteren Information, die mit dem Rezeptionsakt selbst zuallererst nichts zu tun hat. 38 Einen Bedeutungsträger wie 'Schloß Lindenberg' können wir mit Konzepten verbinden und in diesem Sinne 'verstehen', auch ohne daß wir wissen, ob dieser Ort wirklich existiert oder nur der Phantasie J.G. Möllers entsprungen ist. Die Frage von Fiktivität oder Referentialität betrifft einen sprachüberschreitenden Bezug, wohingegen die rezeptive Imagination des Gelesenen als innersprachlich verstanden werden könnte. Hier stehen sich, systematisch gesehen, zwei völlig unterschiedliche Rezeptionsschritte gegenüber, die zwei verschiedene Dimensionen der Rezeption betreffen. Beide Vorgänge können sogar in einem zeitlichen Nacheinander stehen, wenn man etwa erst am Ende der Lektüre eines Textes diesen als fiktiv einschätzt. So zeigt sich: die imaginierende 39 Vergegenwärtigung in der Rezeption kann erfolgen, ohne daß der Rezipient die Frage der Fiktivität oder Faktizität des Rezipierten bereits entschieden hat. Diese Frage läßt sich während der Rezeption zurückstellen, und gerade daraus resultiert der Reiz des immer wieder versuchten Spiels mit der Grenze zwischen beidem in literarischen Texten. Das Wissen um den Modalstatus eines rezipierten Zusammenhangs ist also nicht immer schon mitgewußt. Diese Vorstellung ist allerdings weit verbreitet und beruht meistens auf einer Begriffsvermischung in fiktionstheoretischen Erörterungen. Aus den oben bereits angedeuteten Schwierigkeiten bei der Präzisierung eines literarischen Fiktionsbegriffs heraus wird hierzu oft statt auf die Fiktivität (Erfundenheit) des Erzählten auf die Situationsabstraktheit oder Entpragmatisiertheit literarischer Kommunikation verwiesen. 40 'Situationsabstrakt' mag 38
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Diesem Sachverhalt hat Stierle Rechnung getragen mit der Annahme, daß eine angemessene Rezeption vonfiktionalenTexten sogar eine doppelte Lektüre erfordere: Der Horizont der zweiten Lektüre erst kann von der quasipragmatischen ersten, illusionserzeugenden Lektüre in diefiktionserfassendeLektüre überführen. (Was heißt Rezeption, 367f.; siehe auch 375ff.) Auf die komplizierte lesetheoretische Debatte der letzten Jahrzehnte braucht zur Beschreibung der hier aufgegriffenen Differenz nicht eigens zurückgegriffen werden; siehe hierzu etwa die Forschungsberichte: Kaiser: Zur Schematheorie des Verstehens fiktionaler Literatur; Fritz, Suess: Lesen. Stierle benutzt in diesem Zusammenhang den Begriff der Illusion, mit dem er drei Dinge zugleich bezeichnet: die in jeder Rezeption notwendige Imagination der im Text abgerufenen Konzepte, die fälschliche Einschätzung dieser Vorstellung für faktisch wahr (Entsprechung zwischen Sachgehalt und Sachverhalt) und die Verwechslung einer gelesenen Welt mit der eigenen Lebenswelt (Don Quijote). Dabei bringt gerade die von Stierle besonders profilierte Kategorie des Entpragmatisierten der Literatur einige terminologische Schwierigkeiten mit sich, weil dabei ein
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die Literatur vielleicht sein, doch läßt sich so der Fiktionsbegriff keineswegs erläutern, wie das folgende drastische Beispiel illustriert. In einer DPA-Meldung vom 31.7.1989 wurde berichtet: Für gutes Straßentheater hielten die Besucher einer Sonnenterrasse in Nimwegen eine blutige Szene zwischen zwei Männern - und applaudierten. Doch als einer der Schauspieler nach vier Schüssen nicht wieder aufstand, sondern stark blutend am Boden liegen blieb, wurde plötzlich der Ernst der Situation klar: Ein 31 Jahre alter Mann hatte einen 23jährigen mit mehreren Schüssen in Brust und Bauch kaltblütig niedergeschossen. [...] die Polizei sprach von einer 'Abrechnung' unter Kriminellen. Der geschilderte Vorfall zeigt auf makabere Weise, wie schwer zwischen Spiel und Ernst mitunter zu trennen ist. Er illustriert aber auch, daß in Hinsicht auf Spiel oder Ernst, situationsabstrakte oder -konkrete Rezeption jedem Rezeptionsakt eine Entscheidung schon zugrunde liegt. Die den Beobachtern dieser 'Szene' nachträglich aufgezwungene Um-Interpretation ist so schwerwiegend, nicht weil aus Fiktivität Faktizität geworden ist, sondern weil sich retrospektiv eine situationsabstrakte Rezeptionshaltung als falsch, als möglicherweise sogar gefahrlich zeigte. 41 Diese Differenz bestimmt auch den Betroffenheitsunterschied zwischen einem Kriminalfilm und der Fernsehfahndung.42 Der Unterschied zwischen situationsabstrakter und -konkreter Rezeption ist es, der immer schon mitgewußt oder immer schon gemacht worden ist, nicht die Differenz zwischen fiktiv und faktisch. Hierin also müssen Situationsabstraktheit und Fiktivität streng unterschieden werden. Eine situaüonskonkrete
oder pragmatische Rezeption aller-
dings widerspricht im allgemeinen unserem Literaturbegriff; das bedeutet jedoch sehr eingeschränkter Praxisbegriff zugrunde gelegt werden muß. Liest der Literaturkritiker unangemessen? oder der Autor, der seinen Roman zugleich auch verkaufen will? wenn ja, so würde man hier auf Implikationen stoßen, die einem sehr traditionellen Literatur- (Dichtungs-) Begriff entstammen, der sonst kaum noch dezidiert vertreten würde. Zudem paßt solche Entpragmatisiertheit der Literatur begrifflich kaum zu den vorherrschenden Bemühungen, den Fiktionsbegriff pragmatisch (i.S. von kommunikativ) zu fassen. Zur Kritik siehe auch Landwehr: Fiktion und Nichtfiktion, 381-386. 41
Ein solches Beispiel wäre auch der in jüngster Zeit besonders geläufigen These entgegenzuhalten, die Wirklichkeit verschwinde zunehmend in der Fiktion. Die 'widerständige Wirklichkeit' - nach Blumenberg der Wirklichkeitsbegriff der Moderne läßt sich durch die Fiktionen nicht aufheben. Ebensowenig aber verschwindet die Realität hinter den Simulationen, wie gelegentlich suggeriert wird (siehe hierzu Dirk Schümer: Simulanten. War der Golfkrieg echt?). Im Vergleich dazu würde die Veränderung in der Einschätzung viel geringer ausfallen, wenn jemand nach der Lektüre von Ecos Roman erführe, daß es das Foucaultsche Pendel, von dem der Rezipient vielleicht vor der Lektüre noch nie etwas gehört hatte, gar nicht gäbe.
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noch nicht, daß durch eine situationsabstrakte Rezeption bereits eine Fiktion oder gar ein literarischer Text angezeigt ist. Die Rezension eines bereits gelesenen Romans zum Beispiel wird man gewöhnlich in einer situationsabstrakten Rezeptionshaltung wahrnehmen, und doch würde eine solche Besprechung in der Regel nicht als Fiktion verstanden werden.43 Wie bei der Fiktivität ist also weder alle Literatur (bzw. ihre Rezeption) situationsabstrakt, noch sind alle situationsabstrakten Texte (Rezeptionen) literarisch. Doch es gibt den einen wichtigen Unterschied zwischen Situationsabstraktheit und Fiktivität: über die Rezeptionshaltung muß vor der Rezeption entschieden werden, die Frage von Faktizität oder Fiktivität des Vergegenwärtigten dagegen kann zurückgestellt werden. Genauso wie die Aufwertung des Kriteriums der Tatsächlichkeit von jedweden rezipierten Zusammenhängen erst allmählich und kulturhistorisch relativ spät erfolgte, ebenso ist Fiktivität versus Tatsächlichkeit kein jedem Rezeptionsakt vorausgesetztes Wissen - respektive keine ihm vorausgehende Entscheidung. Daß sich die Situationsabstraktheit auf die Rezeptionshaltung bezieht, scheint diese Kategorie in der anderen Richtung in die Nähe des hier favorisierten Begriffs der fiktionalen Lektüre zu rücken, doch kann dieser nicht nur die Rezeptionen von Fiktionen jeder Art bezeichnen, sondern kann zugleich auch illustrieren, warum nicht alle Literatur fiktiv sein muß: und er kann vor allem Literatur als ein besonderes Ergebnis von fiktionaler Rezeption überhaupt erläutern. Mit Begriffen wie Situationsabstraktheit oder Entpragmatisierung läßt sich also weder Literatur noch Fiktion, noch die Definition von Literatur als Fiktion hinreichend präzisieren. Vor dem Hintergrund dieser terminologischen Klärungen lassen sich nun die Begriffe noch einmal schärfen. Fiktivität bezeichnet demnach die Einschätzung eines rezipierten Zusammenhangs als erfunden und wird als Modalität stets diesem Zusammenhang selbst zugeschrieben.44 Dabei gilt Fiktivität nicht nur für Literatur, sondern kann grundsätzlich die Differenz einer Geschichte von der jeweils für verbindlich gehaltenen 'tatsächlichen' Geschichte markieren.43 Da 43
Umgekehrt liefert die Kategorie der Situationsabstraktheit nur eine äußerst unscharfe Beschreibung literarischer Texte, gerät dieser Begriff doch in die gleichen Probleme wie die 'Entpragmatisiertheit' mit ihrem relativ naiven Praxisbegriff. Ohne sprachliche Rezeptionsprozesse kann es daher auch keine Fiktion geben, so wird bei Musik oder bildender Kunst der Fiktionsbegriff so gut wie nie verwendet. Nur psychologisch, nicht aber textwissenschaftlich ließe sich die Unterscheidung zwischen Lüge und Fiktion aufrechterhalten, denn das Differenzkriterium soll in der vorhandenen oder fehlenden Täuschungsabsicht stecken. Die entsprechenden Signale hierzu im Text sind jedoch nicht eindeutig, und so weiß es am Ende nur der Sprecher selbst - und oft nicht einmal der. Zudem dürfte, wie gesagt, die Vorstellung doch etwas anachronistisch sein, daß literarische Autoren grundsätzlich nicht täuschen wollten.
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die Fiktivitätseinschätzung einer Geschichte auf die vom Rezipienten als gültig unterstellte Wirklichkeitsvorstellung bezogen bleibt, ist 'Fiktivität' als Kategorie prinzipiell an einen naiven Wirklichkeitsbegriff gebunden. Fiktivität bleibt eine Größe von alltagspragmatischer Bedeutung, die weiterreichenden Präzisierungsansprüchen nicht genügen kann. Jenseits unmittelbarer Praxis (Situationskonkretheit) aber ist auch im Zeitalter der faktenbezogenen Wirklichkeitsbilder Fiktivität eine problemlos tolerierbare Modalität. Dabei können im Alltag die Bedeutungsfelder, in denen Fiktionen hingenommen werden, mit den praxisrelevanten aufs engste aneinandergrenzen: mittels subtiler Rezeptionskompetenzen können wir die fiktive Fabel eines Werbespots leicht von den Informationsanteilen unterscheiden. Dies gelingt allerdings nur dort so leicht, wo der Werbefilm die Differenz offensichtlich hält, also die Fiktivität mit Signalen entblößt, welche, bezogen auf einen bestimmten Standard an Rezeptionskompetenz, als einigermaßen eindeutig gewertet werden können (- für mit solcher Werbung wenig Vertraute sind diese Signale keineswegs eindeutig). Dort hingegen, wo es der Werbung darauf ankommt, die Grenze zwischen Fiktion (Suggestion) und Realität zu verschleiern, fallt es auch dem geübten Rezipienten schwer zu entscheiden, ob etwa der behaupteten gleichbleibenden Reinigungskraft des weniger umweltbelastenden Putzmittels zu trauen ist oder nicht. Der immer neue Versuch zur Verschleierung der Grenze zwischen Fiktivität und (pragmatischer) Tatsächlichkeit bleibt also das dauernde Übungsobjekt der fiktivitätserkennenden Rezeptionskompetenz, des Fiktivitätsbewußtseins.47 Je mehr dieses sich schult, desto größere und einfallsreichere Anstrengungen müssen zu einer erfolgreichen Verschleierung unternommen werden. Doch diese besondere Kompetenz zum Erkennen von Fiktivität muß sich an jedem Medium, an (fast) jeder Textsorte neu einüben, weil die Differenz fiktiv/ faktisch der prinzipiellen Imagination des Rezipierten stets nachgeordnet ist, so daß man immer wieder neu lernen muß, wie sich das Faktische vom Fiktiven in dieser Textsorte oder in diesem speziellen Medium überhaupt unterscheidet. JA
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Siehe etwa Hamburger: Logik der Dichtung, 15. Gemäß der begrifflichen Unterscheidung zwischen Fiktivität und Fiktionalität wäre es sinnvoll, auch FiktivitätsbewuBtsein und Fiktionsbewußtsein zu trennen. Ersteres würde sowohl die Kompetenz zum Erkennen von Fiktivität als auch die Fähigkeit zum geübten Umgang mit diesem Modalstatus bezeichnen, wohingegen Fiktionsbewußtsein die Erwartungshaltung beschreiben würde, daß es sich bei einem Text um Literatur handelt, in welcher dann auch Fiktivität vorkommen kann (nicht muß, aus den erläuterten Gründen). Zudem ist die Fiktivität als eine Oppositionsgröße zu Realität von den jeweils geltenden Bildern über die 'Faktenwirklichkeit' abhängig, und das bedeutet unter anderem, daß die Kompetenz zum Erkennen von Fiktion auch vom Kenntnisstand abhängt, sowohl vom individuellen als auch von der Entwicklung der als allgemein
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Fiktionalität ist demgegenüber Ausdruck eines Rezeptionsmodus, bei dem der Aufmerksamkeitsschwerpunkt von der Referenz abgezogen wird - in erster Linie zugunsten der internen Kohärenz. Andere, ästhetische Aspekte etwa, können sich an diesen Rezeptionsmodus anlagern. In diesem Fall ließe sich von einer literarischen Rezeption sprechen, also von deijenigen Rezeption, die in unserer Kulturtradition als für die 'literarischen Texten'49 angemessene gilt, obgleich auf diese Weise grundsätzlich jeder Text rezipiert werden könnte. Die Rezeptionstechnik der fiktionalen Lektüre hat es erlaubt, Imagination und Fiktivitätswissen zusammen zuzulassen.50 Von einer gleichzeitigen Realisierung des Rezipierten und des Fiktivitätsbewußtseins kann jedoch nicht gesprochen werden.51 So wie das Wissen um die Fiktivität nicht der Rezeption zugrunde liegt, die Entscheidung darüber immer erst nachträglich getroffen werden kann, so kann auch nicht das schließliche Wissen (oder Vermuten) über die Fiktivität der jeweiligen Geschichte gleichzeitig mit ihrer fortgesetzten Rezeption realisiert werden. Das läßt sich daran ablesen, daß wir von der Imagination zur Aktualisierung des Fiktivitätswissens wechseln können, wenn die Geschichte zu bedrängend wird.52 Gerade die Erzählliteratur aber ist von sozusagen deiktischer Natur, immer so konkret, daß sich ein bestimmter Zusammenhang imaginieren
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geltenden Wissensbestände; siehe hierzu Seiler: Die leidigen Tatsachen, etwa 149183. Literarische Texte wären in diesem Sinne Texte, die qua Institutionalisierung oder Kunstdiskurs als der Literatur zugehörig ausgewiesen - und vom Buchhändler etwa im Regal 'schöne Literatur' piaziert - werden. Durch diese Operation beugte der Leser der von so vielen Zeitgenossen befürchteten Gefahr vor, durch die Lektüre der nur fingierten Geschichte eines Romans verrückt zu werden (etwa G.F. Meier: Untersuchung Einiger Ursachen des Verdorbenen Geschmacks der Deutschen, 25). In diesem Zusammenhang hat der 'Weltbegriff eher Verwirrung gestiftet. Gerade weil literarische Texte immer wieder als 'Welten' bezeichnet wurden, geriet die prinzipielle Differenz zwischen der erlebten ErfahrungsWirklichkeit und jeder qua Rezeption imaginierten 'Welt' (ob nun fiktiv oder faktisch, literarisch oder nicht) leicht in Vernachlässigung. So entstanden lebhafte Debatten darum, wie es möglich sei, daß wir literarische Welten zugleich fllr wirklich und unwirklich halten. Dieser Widerspruch aber gilt für jede Vergegenwärtigung eines nicht aktuell gegebenen Vorstellungszusammenhanges von Wirklichkeit. Stets kann man zugleich wissen, daß man sich gerade auf ein nur imaginiertes Bild bezieht. Der hier thematische Widerspruch wäre aber der, ob solchem Bild ein faktischer Referent entspricht oder nicht. (Das Zitat Horn: Literarische Modalität, 30; dort auch ein kurzer Abriß dieser Diskussion über den Widerstreit der 'Urteile' über literarische Welten, 30-35). Auf eine solche Möglichkeit hatte 'Tante Usche' die junge Agnes Miegel aufmerksam gemacht und ihr mit dem Hinweis, daß doch das ganze dicke Buch Robinson hieße und sie erst auf Seite 25 wäre, way doch fllr Robinsons Rettung spräche, aus einem Meer von Tränen wieder herausgeholfen und so das Weiterlesen überhaupt erst ermöglicht. (Siehe oben S. 4)
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läßt, demgegenüber Fiktivitätswissen eine Relativierung bedeutet - wenn auch dank der Beherrschung fiktionaler Lektüretechnik diese Relativierung keine notwendige Abwertung zur Unwürdigkeit, zur Zeitverschwendung oder gar zur Lüge bedeutet.53 Die kulturhistorische Herausbildung fiktionaler Lektüretechnik war die Entstehensbedingung der modernen Literatur als einer Textsorte, deren Aufgabe, Funktion oder Wert innerhalb der kulturellen Gemeinschaft nicht mehr einfach feststand. Wer also auf die beschriebene Weise 'fiktional' las, der nahm zunächst nur eine evaluative Umbesetzung zwischen Referentialität und anderen Aufmerksamkeitsschwerpunkten vor (allem voran der internen Kohärenz). Dadurch wurde eben nicht der Referenzbezug völlig ausgesetzt, sondern er konnte eben soweit, wie dies der Text dem Leser zuzulassen schien, auch realisiert werden. Die Differenz zur neuen Lektüreform war denkbar gering und bedeutete lediglich: daß die Referentialität der Texte sich mitunter als begrenzt herausstellen konnte, mußte bei einem Leser, der solche Um-Hierarchisierung vornahm, nicht mehr zu normativen Konflikten oder einer Abwertung des Textes führen - sofern dieser Leser in dem Werk Ersatz für die fehlenden faktischen Wahrheitswerte zu erhalten glaubte, und sei es auch 'nur' ein bene trovato für das vero.54 So wird verständlich, warum auch ein historischer Roman fiktional gelesen werden kann. An der Tatsache, daß viele Rezipienten solche Texte auch referentiell lesen, zeigt sich, warum Coleridge über die Fikrtion von einer willing suspension of disbelief5 sprach: die fiktionale Rezeption ist prinzipiell vom Wollen des jeweiligen Rezipienten abhängig. Auch wenn sich historisch fiktionale Lektüre aus dem Wissen um die Defizite an faktischer Beglaubigung von Erzähltexten herausgebildet hat, ist fiktionale Lektüre und der Begriff des Fiktionalen, wenn man ihn denn für die Literatur reklamieren will, grundsätzlich unabhängig 53
Gleichwohl gibt es Textformen, in denen sich die Fiktivitätsfrage nicht mit solcher Deutlichkeit stellt, besonders in der Lyrik, aber auch bei Fabeln oder Märchen. In diesem Sinne kann Käte Hamburgers strikte Trennung der Bereiche Kunst und Wahrheit zurückgewiesen werden. Der Widerspruch zwischen faktischer Wahrheit und literarischer Fiktion ist, nachdem er erst einmal im Gefolge eines faktenbezogenen Wirklichkeitsbegriffs scharf herausgebildet wurde, kulturhistorisch entschärft worden in der Rezeptionsform des 'suspension of disbelief, welche die Wahrheitswerte literarischer Texte auf einer anderen Ebene beurteilt als ihr - mehr oder weniger abstraktes - referentielles Verhältnis zur 'Wirklichkeit'. Hamburger verwendet in ihrer Argumentation einen (in scholastischen Traditionen stehenden) simplifizierten Begriff der adaequatio-Wahrheit - und kann daher nicht sehen, daß sich die Literatur qua Wahrscheinlichkeitsbegriff die alte Differenz von Tatsachen- und Vernunftwahrheit zunutze gemacht hat, wie sie fur das 18. Jahrhundert von Leibniz noch einmal aufbereitet worden war. Biographia Literaria, 2, 6.
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von der Fiktivität einer literarischen Geschichte. Zu einem 'textontologisch' auszeichnenden Kriterium läßt sich die Fiktion nicht in die Texte projizieren, weil erst die fiktionale Lektüre die Texte zu fiktionalen werden läßt.56 Daß dem so ist, läßt sich jedoch nur an den Grenzfällen (historischen Romanen, Autobiographien) oder in kulturhistorischer Rekonstruktion klären, weil im Normalfall eingespielte Verfahren vorab eine kulturelle Verständigung darüber hergestellt haben, welche Texte wie zu lesen sind. Ein Problem muß in diesem Zusammenhang notwendig noch aufgegriffen werden. Was die Textontologie für die Unterscheidung zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Texten offenbar nicht leistet, könnte man versucht sein, von der Kultur, dem Kunstdiskurs oder anderen überindividuellen Kommunikationseinheiten zu erwarten. In eben dieser Weise ist auch ein kommunikativ gewendeter Fiktionsbegriff immer wieder gefaßt worden. Das hieße also, daß nicht der einzelne Leser darüber entscheidet, ob er einen Text fiktional rezipiert oder nicht, sondern der gesellschaftliche Kunstdiskurs hat darüber schon entschieden, und auf diesen sind auch die entsprechenden textlichen Steuerungssignale ausgerichtet. Dieser Ansatz erlaubt jedoch auch keine Überwindung der Probleme des Fiktionsbegriffs, gerät vielmehr in die gleichen Widersprüche. Denn er muß neuerlich die, wenn nun auch kulturbezogene, Eindeutigkeit von Entblößungssignalen literarischer Fiktionen unterstellen. Angesichts der realen unterschiedlichen Lesarten desselben Textes wird deshalb oft eine Normativität aufgestellt, nach der dann meist die weniger literaturwissenschaftlichen Rezeptionsformen zu 'Fehlrezeptionen' werden.57 Tatsächlich ist mit solchen Annahmen selbst dann nicht viel gewonnen, wenn keine eindeutigen Entblößungssignale angenommen werden. Die vorhandenen Unschärfen des Fiktionsbegriffs werden dann lediglich überspielt, man unterstellt einfach, es wäre innerhalb einer Kultur ausgemacht, was zur Literatur ge56
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Dabei ist diese Projektion für den Einzelfall durchaus berechtigt, unterschlägt allerdings, daß andere Leser sich von denselben Textmerkmalen überhaupt nicht zu einer fiktionalen Lektüre motivieren lassen müssen, also unter Umständen denselben Text nicht als fiktional werten (etwa Die Ästhetik des Widerstands) oder das Durchschauen und Einschätzen als Fiktion ihn für sie entwerten würde. Zwar gibt es Romane, die, etwa mittels eingeflochtener Wunder, kaum einem Leser gestatten, ihre Fiktivität nicht wahrzunehmen, aber wer wollte jemanden kritisieren, der solche Texte als albern oder unsinnig verwirft, weil er die insinuierten Wahrheitswerte abstrakterer Sinnebenen nicht glaubt? Ebensowenig läßt sich bei Texten, die keine der beiden Lesarten nahelegen, eine bestimmte Rezeptionsform dekretieren - daß etwa Hildesheimers Mozart fiktional zu lesen sei. Auch für das Problem fiktiv versus fiktional erhält man mit dem Rekurs auf die Kultur oder den Kunstdiskurs keine Erklärungsvorteile. Fiktive und nichtfiktive literarische Erzähltexte gibt es innerhalb derselben Kultur, im Geltungsbereich ein und desselben Kunstdiskurses oder Erwartungshorizontes.
Das 'Paradox des menschlichen Herzens' - zur Fiktionalität
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höre und was nicht, weil, mit den Worten S.J. Schmidts, literarische Kommunikation als Ganze unter die Geltungs- bzw. Einschätzungskategorie [+ Fiktionalität] falle und deren Regelvollzug im Rahmen der gesellschaftlichen Institution "Kunst' stattfinde. Wenn so die schwierige Frage beantwortet wird, warum etwa ein grammatisch einwandfreier literarischer Text anders rezipiert und bezüglich der Verbindlichkeit seiner Aussagen anders beurteilt wird (oder werden muß) als jeder andere Texttyp,58 dann zeigt sich, daß es gar nicht mehr der Text ist, der sich (qua Fiktivität) als zur Literatur gehörig erweist, sondern bestimmten gesellschaftlichen Kommunikationsinstanzen unverhofft normsetzende Kraft zugebilligt wird. Aber ohne den Übergang von der Deskription zur Normierung gelingt in diesem Zusammenhang auch nicht der Sprung von der Fiktionalität zum Abgrenzungskriterium für Literatur. So wird allerdings keine Präzisierung des Gegenstands Literatur erreicht, sondern nur seine Benennung mit einem scheinbar wissenschaftlicheren Terminus. Bleibt man jedoch bei der Deskription, dann wäre der Beobachtung nicht zu widersprechen, daß wohl für die meisten Leser die Wahl der Rezeptionshaltung von den Erwartungen gegenüber einem Text - und seinem Autor - gesteuert wird. Diese von der Kommunikationsgemeinschaft ausgeübte Steuerungsfunktion ist aber nicht übermächtig - Rezeptionshaltungen können während der Lektüre verändert, 'korrigiert' werden. So erhält der einzelne Leser auch nach diesem Ansatz über 'Fiktionalität' keinen Maßstab, mit dessen Hilfe er je konkret Literatur von Nicht-Literatur differenzieren könnte. Und für die Literaturwissenschaft ist nichts gewonnen, weil sie sich der normativen Kraft traditionellen Verständnisses und historischen Kanonisierungsergebnissen bei der Frage fügen müßte, was Literatur ist. Ob ein bestimmter Text zu Recht fiktional rezipiert wird oder nicht,59 kann nur unter Bezugnahme auf die in der jeweiligen Lektüre gebilligten und realisierten Interessen und Rezeptionsmaßstäbe entschieden werden. Daraus ließen sich durchaus Kriterien der Kritik entfalten. Die müßten jedoch immanent bleiben, weil sie lediglich Inkonsequenzen des Lektüreverhaltens aufdecken könnten. Fiktionale Rezeption erweist sich unter historischer Perspektive als die Fortsetzung der Lektüre eines als fiktiv durchschauten Textes, welcher für den Rezipienten durch den Verlust des referentiellen Wahrheitswertes nicht wertlos oder uninteressant wird, weil eine Umbesetzung der Relevanzebenen vollzogen werden kann. Solche Umbesetzung zu beherrschen wurde zu einer wichtigen Kulturtechnik erst durch die literarische Benutzung eines neuen faktengläubigen 58
59
Fiktionalität, 67. Diese normative Problembeschreibung ist nur die Umformulierung der Schwierigkeit, literarische Texte als Gegenstand einer Wissenschaft zu isolieren - sofern dies mit der Kategorie Fiktion gelingen soll.
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Das 'Paradox des menschlichen Herzens' - zur FiktionalitOt
Wahrheitsbegriffs und die gleichzeitig zunehmende Unglaubwürdigkeit dieser literarischen Faktizitätsversicherungen. Würde fiktionale Lektüre in der hier angedeuteten Weise verstanden, ließe sich tatsächlich in ihr ein wichtiges Konstituens von Literatur beschreiben. Dazu müßte auch die Differenz 'fiktiv' und 'fiktional' aufrechterhalten werden, 60 denn nicht die tatsächliche Erfundenheit einer Handlung spielt hier die entscheidende Rolle, sondern ob der Rezipient der Referentialisierbarkeit des Textes höchste Bedeutung einräumt oder anderen Prinzipien der Textorganisation. 61 Friedrich Schlegel zum Beispiel wußte um die subjektive Macht des Lesers im Rezeptionsverhalten. Durch eine gezielte Kultivierung des Sinns für das Groteske sollten ihm selbst gelehrte Zeitungen zu literarischen Farcen werden. Das gipfelt in dem Ratschlag, das Land der Mathematiker aus Gullivers Reisen noch im schlechtesten Buch zu suchen: Laputa ist nirgends oder überall, liebe Freundin; es kommt nur auf 62
einen Akt unsrer Willkür und unsrer Fantasie an, so sind wir mitten darin. Solche Rezeptionsformen können zu beachtlichen vorstellungsakrobatischen Leistungen gesteigert werden. So wird bereits von Fielding berichtet, daß er sich während seiner Arbeit am Tom Jones so sehr in die darin vorkommende Figur Sophie verliebt habe, daß er jedesmal, so oft er ihren Namen niederschrieb, vor Entzücken Goldsand darauf streute.63 Auch für diese Fiktion dürfte wenigstens das bene trovato gelten - wobei die Identifikation mit einer erfundenen Figur an sich ja nicht ungewöhnlicher ist, als etwa im Kino zu weinen. Ihren Reiz bezieht die Anekdote vor allem daraus, daß nach ihr sich hier die Identifikation nicht einmal von der eigentlich störenden abstrakten Medialität der Schrift hat irritieren lassen. Das Beispiel zeigt in extremem Maße noch einmal, worauf es hier besonders ankommen sollte: Fiktivitätsbewußtsein und Imagination sind keine sich ausschließenden oder widersprechenden Möglichkeiten, beides kann nebeneinander in sehr hohem Maße realisiert werden. Doch mußte diese Fähigkeit kulturhistorisch erst eingeübt, kultiviert werden, man mußte lemen, den Gegensatz auch dort zu handhaben, ohne 'verrückt' zu werden, wo er besonders kraß aneinandergrenzt. Fiktivitätswissen und Imaginationsfähigkeit sind historisch zu immer differenzierteren vorstellungsartistischen Vermögen kultiviert worden, ohne daß die 60
Siehe hierzu Landwehr: Fiktion und Nichtfiktion, 388-392, 388.
61
62 63
Diese freilich bleiben überwiegend auch im Fall einer 'pragmatischen' oder referentialisierenden Lektüre nicht völlig ohne Belang. Daher versagt auch der Gegensatz von Referentialität und Autoreferentialität zur Bestimmung von Fiktion, wie er in der französisch-struktural istischen Literaturtheorie viel verwendet wurde. Siehe hierzu kritisch Warning: Der inszenierte Diskurs, 198-200. Brief über den Roman, KA 2, 332. Mündt, Blätter für literarische Unterhaltung, 1830, 1062.
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Spannung zwischen beidem immer stärker geworden wäre. Dies lag eben daran, daß dieser Gegensatz in der Kulturtechnik der fiktionalen Rezeption grundsätzlich zu einer angenehmen Spannung entschärft werden konnte. Strukturelle Voraussetzung dafür war, daß Fiktivitätsbewußtsein und Imagination keine sich unmittelbar widersprechenden Urteile sind. Selbstverständlich gibt es 'Illusionsstörungen', 64 aber man mu3 sich von diesen Störungen nicht stören lassen - wie die Anekdote von Fielding illustriert.65 Bei solchem Verhalten scheint jene Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Aufmerksamkeitsschwerpunkten eine Rolle zu spielen, die es gestattet, das Fiktivitätsbewußtsein zugunsten der Illusion zurückzustellen.66 Die Beseitigung solcher Illusionsstörungen, die Brecht fürs Theater wieder eigens hervorrufen wollte, erfolgte im Roman des 18. Jahrhunderts im allgemeinen Prozeß der internen Rationalisierung der Erzählliteratur. Als eine Illusionsstörung wurden zunehmend auch die unterbrechenden Erzählerreflexionen ausgetrieben. Die Funktion der reflexiven, ironischen Wendungen wurde in Klassik und Romantik auf nicht-explizite rhetorische Verfahren übertragen, die nicht mehr den narrativen Fluß unterbrachen.67 Mag fiktionale Lektüre ein wichtiges Kriterium zur Bestimmung von Literatur sein, so dennoch kein hinreichendes. Gleichwohl ließe sich unter Berücksichtigung der zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Rezipientengruppen geltenden Konventionen mit einer relativ geringen Unsicherheitsrate feststellen, welche Texte jeweils fiktionaler Rezeption offen standen und welche nicht. Allerdings gestattete ein solcher Umriß von Fiktionalität noch keineswegs eine hinreichende wissenschaftliche Isolierung der Literatur als Gegenstand der Literaturwissenschaft. Gerade der Hinweis auf konversationelle Erzählungen 64
Siehe zu 'Illusionsforderung' und 'Illusionsstörung' Horn: Literarische Modalität, 37-49. So wie aber die vergegenwärtigende, 'illusionierende' Imagination nicht nur an literarischen (fiktiven) Texten, sondern auch an faktischen (nicht-literarischen) Texten vollzogen wird, so kann Illusionsstörung auch derjenige erfahren, der in einem Handbuch einmal nachlesen will, wie es 'denn mit der Schlacht bei Cannae war' und zunächst auf komplizierte quellenkritische Ausführungen und Relativierungen stößt. Aus demselben Grund lassen sich auch an offensichtlich erfundenen Geschichten noch interne Unstimmigkeiten als störend wahrnehmen, obwohl es ja auch denkbar wäre, eine erfundene Geschichte grundsätzlich fur albern und unsinnig zu halten, so daß daran allemal alles unstimmig sei. So mag ein Kinobesucher sich auf die Fiktion eines Wildwestfilms problemlos einlassen und es trotz Fiktivitätsbewußtsein als störend empfinden, wenn in einer Szene ein Kameramann zu sehen wäre. Ähnlich kann man sich gestört fühlen, wenn in einem Werbespot ein Schauspieler ungeschickt seinen Text aufsagt. Siehe hierzu ausfuhrlicher unten Kap. 8.
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belegt ja, daß solche fiktionale Rezeption nicht allein von literarischen Texten ausgelöst wird. Deshalb ist vielfach in die fiktionstheoretische Debatte eine andere Kategorie verwoben worden, die strenggenommen mit den Begriffsderivaten von fictio nichts zu tun hat und in diesem Zusammenhang wohl eher deshalb auftaucht, weil sie ebenfalls zum Literaturbegriff zählt, von dem aus viele fiktionstheoretische Darstellungen entfaltet werden: die Vieldeutigkeit.68 Manches scheint sogar dafür zu sprechen, daß erst über sie und fiktionale Lektüre zusammen die Literaturwissenschaft ihren Gegenstand benennen kann.69 Auch die Vieldeutigkeit - vorläufig als ein Sammelbegriff für Doppel- und Mehrdeutigkeit, Polyvalenz, Polysemie, Ambiguität etc. verstanden - ist kulturhistorisch herausgebildet worden in der in dieser Arbeit thematisierten literarhistorischen Phase, wenn auch mit einer gewissen Zeitversetzung. Der Genese dieser Eigenart moderner Literatur soll daher im folgenden nachgegangen werden.
68
Anderegg versucht es mit der Kreuzung der beiden Kategorien Fiktion und poetische Sprache (Das Fiktionale und das Ästhetische). Siehe aber auch all die autoreferentiellen Aspekte bei Stierle: Was heißt Rezeption; Der Gebrauch der Negation in fiktionalen Texten; Fiktion als Vorstellung, als Werk und als Schema; Iser versucht das 'Ästhetikspezifische' der Fiktion in den Fingierungsakten der Selektion, Kombination und Entblößung zu beschreiben (siehe: Akte des Fingierens und: Die Doppelungsstruktur). Doch muß vor übertriebenen Erwartungen in dieser Richtung gewarnt werden. Als nicht mehr sicher zu sein schien, was Dichtung eigentlich ist, griff die Literaturwissenschaft dankbar zum Fiktionsbegriff; auf die Frage, was damit eigentlich über Literatur gesagt ist, entgegnet man vielfach mit dem Hinweis auf 'Vieldeutigkeit'. Nicht mehr verwunderlich daher, daß bei den Erörterungen von Vieldeutigkeit immer wieder die Fiktion ins Spiel gebracht wird.
Zweiter Teil:
Von der unendlichen Möglichkeitsvielfalt der literarischen Handlung und dem unbegrenzten Textsinn. Die Rationalität des Erzählens
7.
Entwürfe im Barock. Strukturelle Überlegungen zum 'hohen' Barockroman
7.1
Die Logik des Glücks. Sinnstiftungsfunktionen eines neuen Erzählmodells
Ging es bisher in der Untersuchung vornehmlich um die mimetischen Dimensionen der Erzählliteratur, so ist dies keineswegs der einzige Bereich, in dem literarische Texte im 18. Jahrhundert ihre Wahrheitsansprüche aufzubauen versuchten. Von einer ganz anderen Form der Wahrheitsvermittlung, nämlich der vollständigen Instrumentalisierung der literarischen Geschichte für die Vermittlung einer außerhalb des Textes liegenden 'Wahrheit' soll nun die Rede sein. Während die mit der literarischen Wahrscheinlichkeit zusammenhängenden Probleme zum Begriff der Fiktion führten, mit dem heute gern Literatur überhaupt bestimmt wird, leitet die Geschichte des Fabelprinzips im 18. Jahrhundert zur Kategorie der Vieldeutigkeit, die vor allem zur besonderen Kennzeichnung der modernen Literatur gegenüber der literarischen Tradition benutzt wird. Dabei muß die literarhistorische Rekonstruktion der hier als Fabelprinzip bezeichneten Vertextungsform ebenfalls im 17. Jahrhundert einsetzen. Denn vorbereitet wurde diese prägende Form modernen Erzählens im narrativen Modell des 'hohen' Barockromans. Wie oben im Zusammenhang mit der literarischen Wahrscheinlichkeit bereits angedeutet, ordnete die barocke Romantheorie diese Gattung im Zuge allgemeiner Legitimationsbemühungen einem moralischen Nutzen unter. Dies ging einher mit der generellen Moralisierungskampagne, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts dann zu einer kulturbestimmenden Strategie wurde. Sie fand ihre Umsetzung in Form der Opposition von Tugend und Laster, ihre neuartige Virulenz gewann sie dann in der Frühaufklärung durch umfangreiche Ausweitung auf bürgerliche Adressaten, waren doch zuvor in erster Linie Standespersonen als diejenigen in Betracht gekommen, deren tugend- oder lasterhaftes Verhalten allein 'Bedeutung' haben könnte. Die rechtfertigende Verpflichtung des Romans auf das Tugend-Laster-Schema jedoch führte zur Herausbildung des äußerst ein-
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Entwürfe im Barock
flußreichen Musters von Tugendlohn und Sündenstrafe.1 Über diese narrative Organisationsform ist hier eingehender zu sprechen, weil sie für die Geschichte des literarischen Erzählens eine erheblich größere Bedeutung erlangen sollte, als in der Forschung bisher herausgearbeitet werden konnte. Nicht die Moralisierungsabsichten sind bei diesem Erzählmuster von epochalem Rang, sondern die besondere Form der erzählerischen Glaubhaftmachung von Wahrheitsansprüchen und die sich aus dieser Vertextungsform ergebenden technischen Optionen, die eigentlich erst den universalen Erfolg der Gattung Roman in der Moderne erlaubten. Schon Opitz hat in der Widmung seiner /ir^cn/i-Übersetzung die TugendLaster-Formel eingeführt, und die Romantheorie der zweiten Jahrhunderthälfte forderte bereits allgemein die moralische Zweckbestimmtheit aller Romanerzählungen2
Alle Fundamentalzweifel an geschichtlichem Sinn und an Gerechtigkeit
wurden mit dem Hinweis auf Gottes gerechte Providenz beruhigt. Die humanen Sinnansprüche an die Geschichte sollten im Paradox befriedigt werden: sie wird als sinnvoll behauptet, obwohl dem Menschen jede Möglichkeit zur Einsicht in ihre übergeordneten Zusammenhänge fehlt. Erzähltechnisch realisierte sich dieser Auftrag an den hohen Roman in der Entfaltung einer unüberschaubaren Handlungsverwicklung und -fülle. Verwirrung des Lesers ist hierbei Konstruktionsprinzip, wie Alewyn es anschaulich beschreibt: Kein heroischer Roman von Anspruch begnügt sich mit einem Heldenpaar oder auch nur mit zweien oder dreien. In der 'Römischen Octavia' sind nicht weniger als vierundzwanzig solcher Paare beschäftigt, von denen jedes für den größeren Teil der Handlung getrennt ist und von deren zwei Partnern jeder für sich den geschilderten Gefahren [Seestürme, Schiffbrüche, Erdbeben, Überfälle, Vertreibungen, Verschleppungen, Verfuhrung, Erpressung] ausgesetzt wird, so daß sich also zwei mal 24 = 48 Lebensläufe ergeben. Man muß sich nun vorstellen, was geschieht, wenn die Erzählung der meisten dieser Lebensgeschichten wiederum mehrfach unterbrochen wird und zwischen die entstehenden Fragmente sich andere Erzahlstücke einschieben, die ihrerseits fragmentarisch bleiben, so daß zwischen dem Anfang und der Fortsetzung einer solchen Erzählung Lücken von Tausenden von Seiten entstehen können, während derer der Leser die Bekanntschaft von Hunderten von anderen Personen gemacht hat. Man muß sich ferner vorstellen, daß die Erzähler dieser Ich-Geschichten kaum einer wichtigeren Figur begegnen, die nicht ihrerseits das Bedürfnis hat, ihre Geschichte zu erzählen, so daß wir innerhalb der Ich-Einlagen weitere Ich-Einlagen zweiten Grades und womöglich innerhalb solcher Einlagen noch solche der dritten Potenz erhalten, um zu ermessen, welche Anstrengung dem Leser, aber auch dem Verfasser solcher Romane abverlangt wird. 3
2 3
Siehe hierzu grundsätzlich Schäfer: Tugendlohn und Sündenstrafe. 487. Alewyn: Gestalt als Gehalt, 123f.
Entwürfe im Barock
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Über die Funktion solcher Erzählform ist man sich in der Forschung weithin einig - alles zielt auf den Schluß, an dem sich die Fortuna-Welt als Schein enthüllt, die sittliche Weltordnung in einer Schlußapotheose triumphiert, die alle Verwirrung und Verirrung korrigiert. 4
Wenn die hohen Romane des Barock menschliches Vertrauen auf die Gerechtigkeit göttlicher Providenz empfahlen, wenn sie im Muster von Verwirrung und entknötung (Leibniz)5 eine literarische Theodizee entwerfen wollten, dann mußte sich Gerechtigkeit am Ende der jeweiligen Geschichte einstellen, welches nicht identisch war mit dem Ende der Weltgeschichte. Die Parallelisierung von Geschichte und Roman bedeutete den notwendigen Zusammenfall der Gerechtigkeit herstellenden Schlußbilanz mit dem Ende der literarischen Fabel, und das hieß: die Gerechtigkeit mußte sich innerhalb der Lebensgrenzen der Hauptfiguren herstellen. Denn die vorherrschende Orientierung des barocken Romans an bestimmten abendländischen Traditionen des heroischen Erzählens7 verpflichtete die Werke darauf, mit der Handlung nicht die Lebensspanne ihres Helden zu überschreiten. Überwiegend legte man die Vorschrift von der 'Einheit' der Handlung sogar so rigide aus, daß die eigentliche Handlungszeit, in welche die vielen Vor- und Nebengeschichten eingelegt wurden, nur einen Bruchteil einer Lebensspanne ausmachte.8 Die Ausrichtung an der (fingierten) Biographie eines Helden nötigte die Strategie der literarischen Illustration providentieller Weltgerechtigkeit zur Verlagerung der 'Effekte' des Weltgerichts in den einen Lebenszusammenhang. Ist in christlicher Tradition die Bilanz von Gut und Böse, deren Bestrafung und Belohnung, auf die Ewigkeit berechnet, so schnurrt der Konnex von Tugend und Lohn im Roman auf die Endlichkeit einer Liebesgeschichte (Lebensgeschichte) zusammen.
4
6
Singer: Der galante Roman, 15. Siehe zu dem Zusammenhang etwa auch Rötzer: Roman des Barock, 82-93; Meid: Barockroman, 50-57, sowie Bender: Verwirrung und Entwirrung. Zwar hat Weydt - vor allem unter Hinweis auf die Octavia, beim Arminius bestehen allemal Zweifel - die strikte Geltung des Konzepts von Tugendlohn und Sündenstrafe bestritten, aber einzelne Ausnahmen und Widersprüche können an der Bedeutung dieses Erzihlmusters für den hohen Barockroman nichts ändern. (Siehe Weydt: Der deutsche Roman, 1269; zum Arminius siehe Rötzer: Roman des Barock, 31) Im Brief an Anton Ulrich vom 26.4.1713 (Leibnizens Briefwechsel mit Anton Ulrich, 233). Siehe zu dem Zusammenhang auch Voßkamp: Romantheorie, 15-20. Voßkamp: Romantheorie, 17. Hier sind vor allem Scaligers Kanonisierung von Heliodors Aithiopika zum musterbildenden Roman, was vermittelt über die französischen Romane auch in Deutschland wirksam wurde, und der poetologisch-normative Anschluß des Romans an das Epos zu nennen (Literaturhinweise hierzu bei Meid: Barockroman, 13). Die Scud6ry hatte ein Jahr empfohlen (siehe Meid: Barockroman, 51).
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Entwürfe im Barock
Zu betonen bleibt dabei, daß diese Konsequenz keiner 'sachinternen' Notwendigkeit folgt, sondern den Imperativen von Traditionskräften. Immerhin war in den nordeuropäischen Sagas - oder im Nibelungenlied - die Erzählmöglichkeit ausgebildet, schließliche Gerechtigkeit in der Beschreibung der Lebensspanne mehrerer Generationen episch herzustellen. Gerade der Amadis war durch viele Bearbeiterhände zu einer grundsätzlich offenen Geschichte geworden, zu einer Fortsetzungsserie,9 in der auch die Abenteuer nachfolgender Generationen erzählt werden. An diese Erzählformen hat der Barockroman nicht angeknüpft, und zwar im wesentlichen deshalb, weil der Anschluß an den spätantiken Roman, also das Heliodorsche Konzept der Konzentration auf eine zeitlich begrenzte Begebenheit in einer Lebensspanne, mehr funktionale Möglichkeiten der Gattungslegitimation bot. 10 Keineswegs originär barock war die Vorstellung vom Wankelmut des Glücks, sie blickte vielmehr im 17. Jahrhundert bereits auf eine nicht geringe Tradition zurück und war literarisch vor allem als Göttin Fortuna" bekannt oder als 'Welt', denn wegen ihrer Unbeständigkeit wurden beide im Mittelalter fast synonym gebraucht.12 Geradezu als Resümee der historischen Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges verdichtete der Barock den Topos vom Glückswechsel zum Ausdruck des grundsätzlichen Verhältnisses zwischen Mensch und Realität. Unzuverlässigkeit und Unkalkulierbarkeit des Glücks, individuelles Ausgeliefertsein an die ständigen historischen Veränderungen und die daraus resultierende notwendige Erfolglosigkeit planenden menschlichen Handelns galten - be9 10
11
12
Meid: Barockroman, 11. In einer bestimmten Perspektive sind allerdings Zweifel an der These nicht ganz unberechtigt, daß Tugendlohn und Sündenstrafe allgemein galten. Allein aus Gründen der Handlungsmotivierung, der Herstellung moralischer Eindeutigkeiten (auch von gerecht erscheinenden Kriegsgründen) verzichteten die hohen Barockromane nicht auf die zum Teil sehr blutrünstigen Schilderungen von geradezu himmelschreienden Ungerechtigkeiten, deren 'unschuldige' Opfer dann eindeutig dem Muster von Tugendlohn und Sündenstrafe entzogen blieben. In Ziglers Asiatischer Banise (1689) zum Beispiel läßt Chaumigrem bei seiner Eroberung des Königreichs Martabane den gesamten königlichen Stamm, das königliche Frauenzimmer, insgesamt 140 der noch lebenden Frauen und 400 Kinder aus den aristokratischen Familien, umbringen. Zwar findet der sich noch durch manche andere Bluttat hervortuende 'grausame Tyrann' schließlich den 'gerechten' Tod, aber für die Opfer ist vielfach der Mechanismus von Tugend und irdischem Lohn außer Kraft gesetzt. (Siehe [Zigler:] Asiatische Banise, 148-152) Siehe hierzu ausführlich Kirchner: der zeigt, daß es vielfach im Barock nicht gelang, den weit über die Literatur hinaus wirksamen Glauben an Fortuna als eine reale Macht einzudämmen. Fortuna übernahm Funktionen der Welterklärung reziprok zum erschütterten Vertrauen in die kirchlichen Lehren (Fortuna, bes. 161167). Siehe hierzu Skowronek: Fortuna und Frau Welt, hier bes. 49-67.
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sonders in Deutschland - zunehmend als die Grundbedingungen menschlicher Existenz. Die Romane nutzten die Möglichkeiten ihrer Stoffülle zu eindrücklichen Illustrationen dieser vorherrschenden Wahrnehmung der condition humain. Dabei machte es sich die niedere Romantradition zu ihrem Konstruktionsprinzip, ihre 'Anti-Helden' vom Schicksal hin- und herschleudern zu lassen wie ein Boot im Sturm und allenfalls ihnen am Ende die Einsicht in die Eitelkeit dieser Welt und eine Einsiedlerexistenz zu gönnen. Weitreichendere sozialpragmatische'nützliche' - Intentionen offenbaren dagegen die hohen Barockromane in den durch ihren Handlungsverlauf empfohlenen Verhaltensnormen. Schon der soziale Rang von Figuren und Publikum dürfte den hohen Barock13
roman dazu verpflichtet haben, in der Vanitas nicht die einzige Bilanz seiner Fabel zu präsentieren. Die Unerforschlichkeit des göttlichen Ratschlusses ist nicht das letzte Wort dieser Texte. Das läßt sich zum Beispiel an der Asiatischen Banise sehen, wo ein Priester den Tyrannen Chaumigrem über die angemessene Deutung von dessen Kriegsglück gegen Xemindo und sein Reich belehrt: Xemindo, das unglückselige Beispiel aller Regenten, ist der Spiegel, welchen die Zeit und das Verhängnis E.M. vorhalten, sich darinnen wohl zu besehen, und zu bedecken: das Glück sei eine Tochter des Schicksals, um welche man zwar freien, nicht aber sich vermählen könne. Auch sei Chaumigrem nichts anders denn eine feurige Rute der Götter, womit Martabane um seiner Sünden willen heimgesuchet worden sei: Solches nun wolle E.M. ja nicht eigner Macht noch Tapferkeit zuschreiben, sondern vielmehr wissen, daß Gott und das Verhängnis dieses Schwert oder Rute als mächtige Hände regieren.14 Aus diesen Darlegungen leitet der Priester allerdings nicht die - durchaus mögliche - fatalistische Empfehlung ab, stets nach dem jeweiligen Belieben zu handeln, sondern er ermahnt den Tyrannen mit dem Hinweis auf das wechselhafte Glück, sich bei den fremden Untertanen nicht durch übertriebene Härte verhaßt zu machen. Aber die Illustrationsleistungen des 'hohen Romans reichen noch weiter. In Harsdörffers Frauenzimmer Gesprechspielen wurde bereits 1641 von einem Verteidiger der Romane das Muster von Tugendlohn und Sündenstrafe für alle 13
14
Die Verknüpfung von Liebes- und Staatsroman, wie sie nach dem Vorgang Barclays vor allem von den Scud£rys und La Calprenfede vollzogen wurde, war ein wichtiger Legitimationsschritt für den Roman im 17. Jahrhundert. Prodesse und delectare schlossen sich so - über den Anspruch der Fürstenerziehung durch Vermittlung staatspolitischer Kenntnisse - auf höchstem sozialem Niveau zusammen. [Zigler:] Asiatische Banise, 232, 231.
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diese Lust- und Liebsgedichte als geltend behauptet, die einen annemlichen Vnterscheid/ zwischen dem Guten und Bösen vorstellen: Sie erweisen ja mit vielen Beyspielen/ wie glükselig der würkliche Tugendruhm/ wie gefährlich und besorglich der Lasterschein/ und wie selbe endlich nach langer Gewissensplage mit Schand und Spott am Tag/ ihre Nachfolgere in eusserstes Verderben stürtzen.1 Aus der fingierten ProzeßSituation ist dabei leicht abzulesen, daß dies eher ein normativer Befund ist als eine angemessene Bestandsaufnahme. Entsprechend werden schließlich auch die guten Werke aufgelistet und die unverständigen und unartigen Dichter verurteilt.16 Dennoch ist dieses Beispiel von äußerster Wichtigkeit, weil hier eindeutig bereits Tugendlohn und Sündenstrafe als literarisches Schema beschrieben sind: die entscheidende Differenz ist dabei die erzählerische Veranschaulichung als Sichtbarmachung von Lohn und Strafe aufgrund einer bestimmten Lebensführung; es wird sozusagen ein literarischer Beweis geführt (erwiesen). Deshalb ist hier bereits von mehr gesprochen als nur von der Preisung der Tugend und der Verurteilung des Lasters durch den Erzähler. Denn im Leben kann ein solcher Wirkungszusammenhang gerade nicht wahrgenommen werden. Daher bezog sich der literarische 'Beweis' auf die Herstellung von Gerechtigkeit im Diesseits, wodurch dem einzelnen wiederum ein Anreiz zur rational kontrollierten Auseinandersetzung mit dieser Welt entstehen konnte. Die suggestive Sinnstiftungsfunktion, die hier an dem epischen Tugendlohnkonzept herausgestellt wird, zeigt sich deutlich im Vergleich etwa mit den philosophischen Schwierigkeiten von Justus Lipsius. Er verwandte in seiner Abhandlung über die Beständigkeit großen Argumentationsaufwand, um die göttliche Bestrafung der Lasterhaften behaupten zu können, obwohl dies ja nicht den vorherrschenden Erfahrungen der Zeitgenossen entsprach. Dazu betonte Lipsius neben der sichtbaren Eusserlichen die erheblich schwerwiegendere Innwendige und die Nachfolgende Strafe, so daß die Frage der Gerechtigkeit von der Wahrnehmung durch Dritte abgekoppelt wurde.17 Eben diese Wahrnehmung aber gestattete (scheinbar) das providente Erzählmuster von Tugendlohn und Sündenstrafe im hohen Barockroman. Die funktionale Dimension - als einer kulturhistorischen Verarbeitung eines gravierenden Sinnlosigkeitsverdachts - läßt sich auch an den einzelnen favorisierten Tugenden dieses Erzählkonzepts nachweisen. Sieht man auf die positiv konnotierten Figuren der Banise etwa, so erweist sich sofort, welche Haupttugend am Ende honoriert wird: Treue, constantia. Gleichmäßiges, berechenbares Handeln schuf dem einzelnen im Kontext ständiger Situationsumschläge eine 15 16 17
Nach der 2. Aufl. 1644, 1, 243. 263, siehe 265-269. De constantia, 111.
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Kontinuität, welche im historischen Horizont der Ungewißheiten die alleinig verläßliche Sicherheit zu bieten schien. Treues Festhalten an einmal ins Auge gefaßten Zielen, disziplinierte Unterordnung unter die bestehenden Verhaltensnormen, die im Ehrenkodex präzis reglementiert waren, und schließlich die kompensatorische Abrundung dieses höfischen Verhaltensmusters durch klaglose, affektkontrollierte Erduldung von Enttäuschungen verringerten das Risiko innenpolitischer Planungen im absolutistischen System. Die Umstellung der Handlungsmotivationen auf durchsichtige und rationalisierbare Prinzipien bedeutete für den einzelnen Handlungsbeschränkung und räumte komplementär dazu dem System größere Möglichkeiten ein. 18 Leicht läßt die constantia-Propaganda des Barock das gesellschaftliche Interesse an der Berechenbarkeit des Handelns erkennen. Das historische Projekt einer friedlich organisierten Gesellschaft erforderte die Unterordnung aller spontanen Handlungsbedürfnisse unter feststehende und kalkulierbare Prinzipien. Treue in der Liebe, im gegebenen Wort, gegenüber einmal gesetzten Zielen verringert jenseits aller Schicksalsrhetorik die Zahl der in individueller momentaner Motivation gründenden Verhaltenswechsel. Subjektiv kann solch eine 'Rationalisierung' des eigenen Agierens jedoch nur über ein hohes Maß an Affektkontrolle realisiert werden, die im 17. Jahrhundert einen hohen Tugendwert erhielt. Da der Mensch sich die Passionen offenbar nicht einfach aberziehen kann, wurde die Frage zu einem theoretischen Dauerthema der Epoche, in welchen Lebensbereichen die Affekte ihren rechten Ort hätten und wo sie zu kontrollie19
ren seien. In den deutschen Ländern erfolgte die Herausbildung des Absolutismus erheblich später und in spezifischen, von den eigenen Bedingungen in den jeweiligen Staaten abhängigen Modifikationen.20 Vor allem war hier die zweite Jahrhunderthälfte zentral von den Bemühungen um die Bewältigung der Kriegserfahrungen geprägt. 21 Abstrakte Formen ihrer Verarbeitung müssen in den hohen 18 19
Für den deutschen Zusammenhang siehe hier Frühsorge: Der politische Körper, Kap. II. Siehe hierzu Rotermund: Der Affekt als literarischer Gegenstand; Wiegmann: Einleitung, sowie generell Elias: Prozeß der Zivilisation. Siehe hierzu die Beiträge des 3. Teils (Strukturmerkmale des Absolutismus) in: Absolutismus, sowie Hinrichs: Zum Stand und den Aufgaben gegenwärtiger Absolutismusforschung. Zur Genese des Absolutismus aus den Erfahrungen des religiösen Bürgerkrieges siehe Koselleck: Kritik und Krise, 11-39. Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund siehe auch Philipp: Das Werden der Aufklärung, 74-97. In der im 'hohen' Roman veranschaulichten Rationalität der constantia spiegelt sich auch ein kulturhistorisches Gefecht gegen den Machiavellismus, wie ihn etwa in der Asiatischen Banise Chaumigrem vertritt. Ganz im Sinne der Absolutismusdurchsetzung desavouierte der Roman in dieser Figur die Hoffnung, man könne, auf eigene Machtfulle und ei-
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Romanen schon deshalb erwartet werden, weil Krieg und das Verhalten zwischen Fürsten und Königen zum traditionellen Sujet dieser Gattung gehören. Ziglers Asiatische Banise veranschaulicht mit großer Deutlichkeit eine Dialektik zwischen Schicksalsrhetorik und dem Gewinn an Handlungsoptionen, zwischen fehlender Übersicht und Sicherheit, zwischen Affektkontrolle und Glückseligkeit. 22 Der Topos vom unerforschlichen göttlichen Ratschluß dient hier immer wieder dazu, fortgesetzte Reflexion abzuschneiden, Zweifel und Zögerlichkeit zu überwinden und bestimmte Situationen - oder Entscheidungen - als die gegebenen zu werten. 23 Hier wie an vielen anderen Stellen erweist sich die Rede von der göttlichen Lenkung der Geschichte als funktionales Instrument der Komplexitätsreduktion durch die Bereitstellung von Letztbegründungen. Der Mechanismus dieser Strategie läßt sich beschreiben als der einer selbstverordneten, kontrollierten Einsetzung der Vernunft. Nicht ihre - durchaus mögliche fatalistische Entmachtung ist die Funktion der göttlichen Fügungen, sondern die Errichtung von Grenzen, jenseits derer das menschliche Räsonnement die Komplexität der Situation nicht mehr bewältigen kann. Daraus entsteht die Möglichkeit, die Vernunft sozusagen instrumentell zu domestizieren und lediglich auf pragmatische Fragestellungen 'anzusetzen', denen sie grundsätzlich gewachsen scheint. 24 Die Dialektik zwischen Schicksalsglauben und Handlungskompetenz
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genes Kalkül gestützt, sich sein schließliches Glück selbst verschaffen. Siehe Pfeiffer-Belli: Nachwort, 480, sowie im Roman die schon erwähnte Auseinandersetzung zwischen dem Priester, der für vernünftigere Politik plädiert, und Chaumigrem, der sich dagegen auf die ratio status beruft (233). Wie genau dieser Roman für den Absolutismus votiert, zeigt die Priesterrede, mit der Balacin schließlich als Kaiser von Pegu eingesetzt wird und die unschwer als ein Manifest absolutistisch-rationaler Staatsführung identifiziert werden kann (416-418). Siehe hierzu auch Frick: der diesen Roman als eine Spiegelung der zentralen Struktur- und Begründungsprobleme des europäischen Absolutismus und seiner politischen Philosophie liest (Providenz und Kontingenz, 62; siehe 61-69). Dieser Zusammenhang bleibt dabei von den Figuren undurchschaut, auch wenn Ziglers Roman ihn teilweise mit äußerster Präzision illustriert. Siehe etwa Prinz Balacins Rat an den Kaiser von Pegu. ([Zigler:] Asiatische Banise, 154f.) Ähnlich benutzt der Prinz Zarang die Vorsehung zur Begründung seiner schließlichen Erhörung der Prinzessin Savaady (391). Allerdings ist die Zusammenfiigung weniger ein Schluß des Himmels als des Autors, der die bis dahin von Zarang geliebte Banise dem Prinzen Balacin zugedacht hat. In Anton Ulrichs Aramena ist diese pragmatische Entlastungskonsequenz der göttlichen Fügung nicht so deutlich faßbar wie in der Banise. Der Akzent liegt stärker auf der Herausstellung menschlicher Ohnmacht. Dennoch ist die Logik jener Dialektik stets erkennbar. Als im dritten Buch des vierten Teils Aramena nach Damaskus entfuhrt wird, tröstet sie sich sprachlos: und damit die äugen und fiände gen himmel kehrend/ sich dessen Verordnung und Schickung in gedult unterwarfe (4, 516-518). Kurz zuvor nutzte Abimelech auf fatalistische Weise den 'Zufall', daß er eine Nachricht nur unvollständig erhalten hat, nach der er die Aramena nicht heira-
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bestimmt jedoch nur die Mitglieder der gesellschaftlichen Elite, die überhaupt in Entscheidungssituationen geraten. Den anderen bleibt schlichte Normerfüllung übrig, welche die Fürsten (bestenfalls) mit Gnadenbezeugungen zu belohnen wissen. Den untergebenen Vollstreckern der Normengebote sind - dem Ideal nach - schon die irdischen Herren Garanten des Tugendlohns. Auch aus individueller Sicht erweist sich die constantia durch die Schaffung von Sicherheiten als identitätsstabilisierend. Die Hoffnung, im Wechselspiel der Mächte noch beim eigenwilligen Verfolgen der eigenen Ziele nicht zerrieben zu werden, wird ersetzt durch die Gewißheit, daß im Mechanismus der unvorhersehbaren Situationsumschläge die Zahl der unbekannten Größen durch eigene Kontinuität verringerbar ist. Mit der strategischen Suggestion des Tugendlohns wird dazu das schließliche persönliche Glück als sicher prätendiert.25 Birken hat in seiner Aramena-Vorrede diese Logik mit großer Präzision formuliert: Wir lernen auch daraus ["den Schriftarten", die "uns zur Gottes erkenntnis füren/ und zur Tugend anweisen"]/ die Tugend lieben und Laster hassen: weil wir lesen/ wie es mit beiden endlich wol und Obel abzulaufen pflege. Wir lernen das Übel dulten: weil wir an den Beispielen sehen/ daß viel tausend 26 andere auch eben das erlitten/ und das ende davon erlebet. ten soll: Demnach bediente er sich dessen zu seinem trost/ indem der himmel es so wunderbar gefllget/ daß dieses t/tfelein [mit der Nachricht] maßen zerbrochen werden. Zwar stellt sich dieser Trost als vergeblich heraus, da es zu der Heirat nicht kommt, aber mit seinem mit gewalt angenommenen ganz munterem wesen ist er immerhin in der Lage, in der unmittelbar folgenden Schlacht sich tapfer und erfolgreich zu behaupten (4, 513). Ist auch diese Schlacht wiederum nur Teil einer gegnerischen Intrige, so hebt der Roman alle daraus ableitbare Kleinmütigkeit in dem Universaltrost auf, daß gegen Gottes Vorsicht jede Intrige machtlos bleibt, jeder einzelne sich also um nichts mehr als Konstanz und Tugendhaftigkeit zu bemühen braucht. 25
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Die starke Prägung des literarischen Tugendlohn-Konzepts durch seine kulturhistorische Funktionalität wird mittelbar auch durch die Kuriosität unterstrichen, daß es in aristotelischer Tradition gegen Aristoteles entworfen worden ist, also neuen Bedürfnissen folgt. Aristoteles hatte bereits gemischte Charaktere gefordert, hielt es aber fur schlicht abscheulich, wenn untadelige Figuren vom Glück ins Unglück stürzen. Auch wollte er nicht den Glückswechsel durch Charaktermängel verdient wissen, denn dadurch würde das Mitleid verringert werden. Daß man in den didaktischen Zielen der Poetologie vorrangiger noch auf die Tugend-Laster-Opposition als auf Katharsis setzte, wird nur angesichts jener erläuterten Funktionalität des Tugendlohnes verständlich (siehe Aristoteles: Über die Dichtkunst, Kap. 13; 1452bf.). [Anton Ulrich:] Aramena 1, )( iijr. Hervorhebung nicht im Original. Am Schluß seiner Vorrede verteidigt Birken noch einmal die Beschreibung von Lastern in dem Roman: Wer von einem laster liset/ findet/ in erfolg der Geschichte/ auch dessen Straffe: deren er sich ebenfalls zu versehen hat/ wann auch er selbigem laster sich ergeben wolte. 0( )(ij r ).
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Hier wird mit aller Klarheit die Botschaft ausgesprochen, die Birken von den gelobten Schriften erwartet, und es zeigt sich auch, daß diese Botschaft eine persönliche ist, die zu individuellem Vorteil umgesetzt werden kann (wir lernen daraus). Das Schema von Tugendlohn und Sündenstrafe ist ein Moment der in Romanen entfalteten barocken Wirklichkeitsdeutung, das vor allem in dieser Gattung wirken konnte. In ihr kontrastiert die beinahe endlose Ungewißheit scharf mit dem sicheren bösen oder guten Ende einer Figur. Man darf sich dabei von der christlichen Rhetorik dieses Nexus nicht täuschen lassen: er verlegt das Lebensgericht in die Zeitspanne der irdischen Existenz, ersetzt geradezu den Blick auf die Ewigkeit durch den auf das hiesige Leben. Und das ist im langwierigen kulturhistorischen Vollzug einer gegengöttlichen Emanzipation ein gewaltiger Schritt, der vorerst nur am Beispiel von Führungsschichten durchgespielt werden konnte. 27 Die göttliche Providenz wurde für eine positive Weltinterpretation funktionalisiert. Noch stand nicht das Vertrauen auf die eigene menschliche Kraft ein für den Entwurf irdischen Glücks, sondern es blieb die transzendente Instanz, die das Weltvertrauen rechtfertigte und so Handlungsmotivationen lieferte. Aus den Erzähltraditionen bot sich dem hohen Barockroman die Möglichkeit an, die auf die Ewigkeit berechnete Gerechtigkeit der Welt in der Spanne eines Heldenlebens zu entfalten. Diese scheinbar kleine Differenz zwischen UrBild und literarischem Nachbild28 ist gleichwohl keine geringere als die zwischen ewiger und diesseitiger Gerechtigkeit. In den hohen Romanen trat den Rezipienten ein Angebot zur Weltdeutung entgegen, das mit den bitteren Erfahrungen der Wirklichkeit versöhnen konnte. Seinem erklärten Ziel nach war die hohe Prosaform eine Theodizee, aber ihren Erfolg verdankte dieses Erzählmuster sicher nicht nur seiner Rechtfertigung Gottes, sondern mindestens ebenso auch dem Entwurf einer weltimmanenten Sinnsetzung. 29 Daß die tröstende Kraft die27
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Von Säkularisation kann dabei nicht gesprochen werden, weil hier nicht ein christliches Traditionsgut verweltlicht wird - wie sollte das bei der Providenz auch möglich sein? Vielmehr handelt es sich um eine erst allmählich erfolgreiche Vereinnahmungsstrategie. Siehe zu dem Problem Blumenberg: Säkularisation; Oeing-Hanhoff: Psychotherapie des philosophischen Bewußtseins; Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie; Blumenberg: Säkularisation und Selbstbehauptung, Teil 1. Ohne ein zusätzliches Argument will Frick hier aber an der Kategorie festhalten (siehe: Providenz und Kontingenz, 201 f.). Greiffenberg: Uber die Tugend-vollkommene unvergleichlich-schöne Aramena, )( vj r . Dieses barocke Konzept abstrakt am Begriff moderner rationaler Autonomie in Theorie und Praxis zu messen und entsprechende Defizite festzustellen scheint wenig erkenntnisträchtig. Die emanzipationsteleologische Retrospektive läßt hier zu leicht verzerrende 'Freiheitsmängel' in den Vordergrund treten und verdeckt die
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ses Modells im Verlauf von drei Jahrhunderten auch dann noch nicht erlosch, als man seine Konstruiertheit immer deutlicher zu durchschauen lernte, läßt sich an dem fortbestehenden Erfolg dieses Erzählmusters (als happy ending) ablesen. Schwerlich wird sich ein romanpoetologisches Zeugnis finden, welches jene Verkürzung des Gerechtigkeitsnachweises in ihrer Mechanik benennt. Das ist schon deshalb nicht zu erwarten, weil das so aufgebaute 'Projekt' einer Versöhnung mit der Realität nur Erfolg haben konnte, sofern das Funktionieren seiner Suggestionswirkung undurchschaut blieb. 30 Denn für eine diskursive Behauptung der diesseitigen Gackseligkeit des Tugendhaften1 stehen die starken religiösen Argumente nicht zur Verfügung - und auf die politischen und sozialen Wirklichkeitserfahrungen der Individuen im Deutschland des 17. Jahrhunderts hätte man sich kaum zu stützen versucht. Leibniz, der als ein guter Kenner des hohen Romans gelten kann und dem die Analogisierung von Autor und Werk mit Gott und seiner Welt geläufig war, übergeht in einer bezeichnenden Bemerkung über den Ausgang von Geschichte und Roman gerade diese Differenz zwischen beiden im Zeitrahmen, wenn er an Anton Ulrich schreibt: Ich hätte zwar wünschen mögen, daß der Roman dieser Zeiten eine beßere entknötung gehabt; aber vielleicht ist er noch nicht zu ende. Und gleichwie E.D. mit ihrer Octavia noch nicht fertig, so kan Unser Herr Gott auch noch ein paar tomos zu seinem Roman machen, welche zulezt beßer lauten möchten. Es ist ohne dem eine von der Roman-Macher besten künsten, alles in Verwirrung fallen zu laßen, und dann unverhofft herauß zu wickeln. Und niemand ahmet 32 unsern Herrn beßer nach als ein Erfinder von einem schöhnen Roman.
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konstruktive Kraft, welche in dieser 'Entlastungs-Hermeneutik' lag. Zitat: Frick: Providenz und Kontingenz, 48f.; siehe auch dort das Kapitel Providentielles Geschichtsdiktat und menschliche Heteronomie (44-49). Frick schätzt offenbar die Sicherheit bietenden und entlastenden Funktionen des Konzeptes sehr gering ein. Bacon, der die dichterische Verbesserung der wahren Geschichte durch die hohen Romane bereits 1605 pries, konnte sich eine so deutliche Benennung dieser künstlichen Korrektur offenbar nur 'leisten', indem er sie auf psychologische Bedürfnisse der menschlichen Seele zurückführte und ihren pragmatischen Charakter zunächst unerwähnt ließ. Immerhin muß Bacons Position als eine weitreichende Legitimation menschlicher Interpretationfreiheit gegenüber historischer Faktizität gelten. Gleichwohl hat selbst Bacon den Mechanismus der Selbstermächtigung menschlicher Vernunft hier nicht benannt. Siehe: Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften, 232, sowie zu Bacon Greiner: Entstehung der englischen Romantheorie, 126ff., und Wahrenburg: Funktionswandel, 85f. In ihr sieht Martens - als einer geheimen und ungemein folgenreichen Revolution die eigentliche Bedeutung der Tugendlehre der Moralischen Wochenschriften des 18. Jahrhunderts (Die Botschaft der Tugend, 403). Zum barocken Vorstellungskreis des 'wahren' (jenseitigen) Glücks siehe Kirchner: Fortuna, 118-123. Leibnizens Briefwechsel mit Anton Ulrich, 233f. (26. 4. 1713)
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Erst die Verschleierung dieses Unterschiedes zwischen Gott und Autor sichert die Überzeugungskraft des providenten Romankonzepts. Wie in der Literatur, so findet auch der Roman der Zeiten erst am Ende der Geschichte seine entknötung. Wenn Anton Ulrich zu seiner Octavia noch ein paar tomos verfaßte, so dehnte er die Handlung sozusagen nur in der Mitte aus, denn das Ende stand ja fest. 33 Daher weiß man auch immer, ob ein solcher Roman bereits zu Ende ist oder nicht. Bei dem Roman dieser Zeiten wußte Leibniz eben dies nicht so genau, und es bedurfte komplizierter begrifflicher Argumentationen, um die grundsätzliche Offenheit des Ausgangs dieses 'Romans 1 , also der Geschichte, nicht aber Gottes Freiheit zu bestreiten. Die Wirkungsmöglichkeiten des beschriebenen Erzählkonzepts beruhten also auf der Unauffälligkeit der Differenz zwischen literarischer und realer Geschichte. Dennoch gibt es Indizien, welche die Rede von einem historischen Projekt rechtfertigen - wenngleich es auch gerade nicht rational geplant, entworfen worden ist. Zigler von Kliphausen benutzte zum Beispiel für seine Banise umfangreiches Quellenmaterial, und vieles von dem, was späteren Lesern Gottsched allen voran - als typisch barocke Übertreibung erscheinen sollte, ist in Wahrheit um Präzision bemühte Geschichtsschreibung. Vor allem eine Veränderung gegenüber den Vorlagen sticht allerdings markant heraus: realgeschichtlich hat nicht, wie in Ziglers Roman, das Gute und Edle gesiegt, sondern Chaumigrem, das 'verdammte Mord-Aas'?* Und die historische Banise wurde nicht für ihre Tugendliebe mit dem Prinzen von Ava belohnt, sondern auf dem Rücken ihres Vaters Xemindo erdrosselt. Zigler hat also zur providentiellen Abrundung seiner Fabel die historischen Fakten verändert und damit von der freiheit Gebrauch gemacht/ unter der decke die Wahrheit zu reden, wie Birken es den Verfassern der Geschichtgedichte zubilligte. - Daß diese Wahrheit aber eine ist, die aus der Faktengeschichte nicht einfach sich ergibt, war für Birken eindeutig, denn nur deshalb konnte er ja die gelobten Geschichtgedichte, also Schlüsselromane und ganz erdichtete Historien, für zweifelsfrei weit nützlicher erklären als die wahrhafte Geschichtschriften.35 In eben dieser Weise hatte Zigler in seinem Roman
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Mit G. Heidegger zu sprechen: Alle [Romane] sind über einen Leist geschlagen/ und wer einen gelesen/ errathet das End des andern schon bey dem Anfang. (Mythoscopia Romantica, 86) Siehe Pfeiffer-Beili: Nachwort, 476-479, das vorhergehende Zitat 478. Siehe auch die von Gottsched als unwahrscheinlich kritisierten Fabelelemente (Beyträge zur Critischen Historie, 1733, 6. St., 288f.). v Birken in: [Anton Ulrich:] Aramena 1, )( iiij . Der Wahrheitsbegriff, an den Birkens Konzept anschließt, traf sich mit dem Topos von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, der prompt sich gleich am Anfang der Vor-Ansprache zum Edlen Leser findet ([Anton Ulrich:] Aramena, 1, 98 iijr.) So verstandene Geschichte ist geradezu
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also eine Wahrheit illustriert, die keineswegs offensichtlich war. Präzis kritisierte Gotthard Heidegger in seiner sprachgewaltigen Generalabrechnung mit dem Roman an eben diesem Punkt der 'wohlwollenden Korrektur' an den überlieferten Ereignisabfolgen die barocken Romane: sie liegen [lügen] nicht allein/ sonder affrontieren auch höchlich die unschuldige Wahrheit/ und indem sie mit ihrem Lügenschmier dieselbige verstellen/ und/ was einem nachsinnenden Gemüth/ das ärgste und unerleidlichste ist/ fälschen und erstücken sie auß eignem Stör-Kopff die Eventus und Verläuffe/ die der Höchste der in dem Himmel ist/ und schaffet was Er will/ auß geheimen Rath-Schluß/ zu seiner Ehr/ auff seine Weise geordnet. 36
Genauer hat wohl kein Zeitgenosse die Anmaßung beschrieben, die es bedeutete, an Gottes Weltgeschichte in eigenen Darstellungen bewußt herumzubessern. Die hohen Barockromane sind oftmals als durch die Opposition von Schein und Sein organisiert beschrieben worden; 'hinter' der Erscheinungswelt tue sich dem Rezipienten schließlich die eigentliche Wirklichkeit der göttlichen Ordnung auf. 37 Eine providente Weltordnung zu behaupten war jedoch keine originäre Leistung dieses literarischen Genres des 17. Jahrhunderts, neu entwickelte es allerdings die Darbietungsform als Verwirrung und entknötung. Dieses Muster läßt sich auch verstehen als der allegorische Hinweis auf die Notwendigkeit, die Geschichte aus der 'richtigen' Perspektive zu betrachten, damit sie als sinnvoll erscheint. So könnte der formale /Mrse/charakter38 dieser Werke darauf deuten, daß sie im strengen Sinne als 'Entwurf zu lesen sind, als Entwurf einer positiven Geschichtsdeutung - gegen die historische Erfahrung der Unabsehbarkeit politischen Handelns. Es war ein schließlich den Menschen selbst ermächtigender Generalkredit, welcher dem Schicksal eingeräumt wurde. Die zunächst ungedeckte Unterstellung eines glücklichen Ausgangs schaffte Handlungsmotivationen und erhöhte damit die Chancen, zu ihm selbst beitragen zu können. Vertritt der Prinz Balacin in der Asiatischen Banise an einer Stelle genau die gegenteilige, grundsätzlich pessimistische Erwartungshaltung, so wendet die Gegenrede des Talemon diese Sicht nicht nur in die erwähnte Unterstellung des guten
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darauf angewiesen, in einer Weise gedeutet zu werden, in der das Regelmäßige und Immergleiche kenntlich hervortritt. Mythoscopia Romantica, 74. Daß Heidegger hier eigens von den Eventus spricht, deutet an, wie genau er das Providenz-Schema verstanden hatte. Siehe zum Beispiel Spahr: Der Barockroman als Wirklichkeit und Illusion, hier bes. 22-24; präziser bereits Lugowski: Märchenhafte Enträtselung, 383ff. Die neueste und die Forschung resümierende Darstellung liefert Frick: Providenz und Kontingenz, 1. Kap. Birken in: [Anton Ulrich:] Aramena ! , ) ( ) ( i i j v .
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Endes, sondern illustriert zudem die Funktionalität der Topoi barocker Wirklichkeitsdeutung: 'Ach, treuesten Freunde', sagte hierauf der Prinz, 'diesen Schaden kann fast kein Pflaster, weder der Geduld noch Hoffnung heilen. Denn in der Liebe muß man stets das Schlimmste hoffen, und alsdenn den Göttern danken, wenn das Beste erfolget.' - 'Und wenn alle Welt verzagte', hub endlich Talemon an, 'so muß doch ein Prinz nicht kleinmütig werden, sondern er soll auch sogar alles Unglück eher überwinden als fliehen. Es behalte derowegen mein Prinz auch in diesem Fall ein beständiges tapferes Gemüte, und lasse sich von den Drohungen künftigen Unfalls nicht abschrecken: denn unterweilen heben uns die Wellen aus einem sinkenden Schiffe, und werfen uns in ein anders, welches glücklich in den Hafen lendet. Ja einem solchen Herzen ist der Himmel günstig, und lasset nicht geschehen, daß es in seiner Hoffnung zuschanden werde. Derowegen, so bilde man sich gewiß ein, die [verloren geglaubte] Prinzessin sei annoch im Leben, und bemühe sich äußerst, ihren Zustand zu erforschen. Nach dessen Erfahrung ein kluger Geist und tapfere Faust viel verrichten kann; ja es wird unfehlbar die Eroberung dieser Schönen alle Bemühung versüßen, und sotane Beständigkeit belohnen. Hätten aber ja die Götter es über das unschuldige Blut verhangen, daß sie auch durch diesen Kaisermörder [Chaumigrem] gefallen sei, so soll nicht nur der Prinz, sondern auch ich und mein Sohn, getrost ihr im Tode nachfolgen, jedoch nicht eher, bis jeder seine Faust mit dem mörderischen Blute des Tyrannen besprützet habe [...]' - 'Eure Klugheit', erholte sich Balacin, 'trautester Talemon! ist kräftig, auch die toten Steine zu bewegen [...]. So versichere ich Euch denn, Eurer Lehre gemäß mich zu verhalten, geduldig zu leiden, getrost zu hoffen, und aller Widerwärtigkeit mit tapferem Mute entgegenzugehen. Inzwischen ratet nur [...und schließlich:] 'Diesen Vorschlag', sagte Balacin ganz freudig, 'haben Euch ohne Zweifel die '39 Götter eingegeben, und kann ich kaum das morgende Licht erwarten. In dieser Wechselrede ist die Logik des Glücks, Weltvertrauen in der Schicksalsrhetorik und der daraus abgeleiteten constantia zu gewinnen, präzis entfaltet. Zunächst bietet Fortuna auf einen positiven Schicksalsumschlag Aussicht, deren Kraft der himmlische Tugendlohn noch verstärken kann; selbst für den Fall des Unglücks steht aber eine Verhaltensnorm bereit (Rachegebot), die dem weiteren Leben und Sterben Orientierung gibt. Damit kann die Verzweiflung des Prinzen (als einer Art rationalen Rückkoppelungseffekts) allein durch die Selbstbeschränkung der Vernunft, ihre Ausrichtung auf fraglos nachvollziehbare Regeln in neuen Handlungswillen verwandelt, und dieser auf die nächstliegenden 39 [Zigler:] Banise, 32f. (Hervorhebungen nicht im Original). Siehe aber Frick, der eben diese Stelle vor allem unter dem Aspekt fremdgesetzlicher Beschränkung liest: Vernunft äußert sich nach dieser aristokratischen Aktionsethik vornehmlich als Erkenntnis ihrer eigenen Grenzen (Providern und Kontingenz, 48). Gerade diese Lehre aber galt es, historisch durchzusetzen im Interesse eines (Wieder-) Gewinns an pragmatischen Handlungsmöglichkeiten.
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Schritte gelenkt werden. So tritt am Streit dieser zwei kontrastierenden Wirklichkeitssichten die von Birken behauptete 'Nützlichkeit' der von Geschichtgedichten unter der decke gesprochenen Wahrheit prägnant zutage: der Roman als Medium positiver Sinnpropagierung. Am Ende dieser Beschreibung der Sinnstiftungsfunktionen des ProvidenzSchemas im hohen Barockroman ist es allerdings noch notwendig, eine literarhistorische Einordnung dieses Erzahltyps vorzunehmen, der ja nur in recht wenigen Exemplaren realisiert wurde. Die Literaturgeschichtsschreibung tut sich seit je schwer mit den weitreichenden Diskrepanzen zwischen den hohen und den niederen Barockromanen. Möglicherweise rührt die Hartnäckigkeit, mit der den niederen Genres kein rechtes Repräsentationsvermögen für 'das Weltbild des Barock' zugestanden wird, 40 nicht nur auf der von Beginn an tradierten theoretischen Vernachlässigung und Abwertung dieser Romanformen.41 Es könnte auch an der Schwierigkeit liegen, die man immer damit hatte, eine Literaturgeschichte zu schreiben, in der Gegensätze und Differenzqualitäten bestehen bleiben konnten. Denn die niederen Romanformen haben nicht nur aus der Opposition zu den hohen ihre eigenen Traditionen begründet, sondern in Deutschland hat der niedere Roman - vor allem durch Grimmelshausen - dezidiert polemischen Einspruch erhoben gegen das kulturstrategische Projekt der höfisch-historischen Weltdeutung. Richard Alewyn hat wohl zuerst vorgeschlagen, den picaro-Roman gerade in seiner Spannung zum heroischen zu verstehen.43 Durch Alewyns sicher wichtigen Hinweis auf den dogmatischen Wirklichkeitsbegriff auch des niederen Romans geriet jedoch die hier herausgestellte Differenz zwischen beiden Gattungssträngen in den Hintergrund. Diese wurden vielmehr beide zu kontradiktorischen Realitätsverzerrungen erklärt, die sich als entgegengesetzte Pole in der Literatur des 17. Jahrhunderts gegenüberstanden.44 40
Zuletzt hat Frick im gesamten Barockkapitel seiner Untersuchung zur Schicksalssemantik Grimmelshausens oder andere niedere Romane nicht erwähnt. Zuvor beispielhaft Spahr: Barockroman; zur Kritik Voßkamp: Romantheorie, 29, Anm. 4. In Frankreich allerdings war ihre theoretische Position auffallend stärker als in Deutschland, was Voßkamp mehr noch auf Sorels poetologische Abhandlungen zurückfuhrt als auf die Romanpraxis von Sorel, Scarron und Furetifere (Romantheorie, 42 29). Siehe hierzu etwa Voßkamp: Romantheorie, Kap. 2. 43 Siehe etwa Alewyn: Gestalt als Gehalt; die folgenden Zitate 127, 132. Zwar lassen sich etliche Gemeinsamkeiten zwischen heroischem einerseits und picaro und roman comique andererseits aufzeigen, wenn es einem um die 'Einheit' der Epoche zu tun ist, aber der historische Einspruch rückt auf diese Weise aus dem Blick, den der niedere Roman gegen das Projekt des hohen erhob. Etwa die sozialpädagogische Intention (siehe Voßkamp: Romantheorie, 37f.). Wenn der Hinweis auf solche Gemeinsamkeiten jedoch soweit getrieben wird, daß beide Literaturformen dann wieder zum Ausdruck des gleichen Weltbilds werden, dann gerät die Li-
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Mag es auch nicht 'die Realität' sein, welche in den Texten Grimmelshausens (und Beers) zur Darstellung gelangt, so muß man dennoch zunächst die Rhetorik des Einwandes gegen die heroischen Romane ernst nehmen. Denn die Berufung auf Wirklichkeitserfahrungen, die dem hohen 'Idealismus' widersprechen, belegt, wie deutlich dieser von einzelnen Zeitgenossen als ein Entwurf - so bilde man sich gewiß ein, sagt Ziglers Talemon - durchschaut werden konnte. Die dezidiert einfacher und kunstloser sich präsentierende Erzählform der Simpliziaden markiert immerhin den gestischen Verweis auf die eine selbständige Wirklichkeit," die vom Menschen nicht physisch und nicht rational beherrscht werden kann und 'innerhalb' derer es für ihn keine Sicherheit gibt.46 Jene Proklamation eines Wahrheitsbegriffs, der hinter aller empirischen Faktizität erst sichtbar gemacht werden soll, wird im niederen Roman als eine willkürliche und interessierte Weltdeutung entlarvt - ganz so wie der Satyr auf dem Titelkupfer von Grimmelshausens berühmtem Roman die schönen Masken zu Boden wirft. Die in der Forschung viel diskutierte mittelalterliche Wirklichkeitsauffassung im Simplicissimus verweist durchaus zurück*1 in eine vergangene Epoche - jedoch in dem Sinn, daß der frühneuzeitliche (16. Jahrhundert) Anspruch auf humane Weltbeherrschung vor dem Erfahrungshintergrund eines Krieges, während dessen in Mitteleuropa ein Drittel der Bevölkerung hingerafft wurde, eine radikale Absage erhält. Mag ein solches Resümee genauso 'entworfen' sein wie die Sinnbehauptungen der hohen Romane, die Bilanz einer solchen Weltfahrt, wie sie am Simplex illustriert ist, muß vielleicht zunächst einmal ernst genommen werden als ein genuiner Ausdruck historischen Erlebnisgehalts - bevor man sich der Aufgabe widmet, nun umgekehrt die 'Modernität' des Textes in seinen Brü-
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teraturgeschichtsschreibung leicht in erhebliche Selbstwidersprüche (siehe Hillebrand: Theorie des Romans 1, 48f., 51, 53, 68). Hier ist bereits die chronologische Erzählweise (ordo naturalis) signifikant, war sie doch seit dem frühen Renaissance-Humanismus immer wieder der Historiographie zugeordnet worden, wogegen die in-medias-res-Form als ordo artificialis der Dichtung zukam (siehe Heitmann: Das Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung, 252f.) Wenn in der Continuatio die Faktizitätsbehauptungen des Simplicissimus wieder in Frage gestellt werden, so hebt solche 'Bloßstellung der Fiktivität' jene Gestik noch nicht auf (siehe hierzu Gersch: Geheimpoetik, 34). Die damit entstandene Spannung reflektiert lediglich die Bedingungen literarischer Wirklichkeitsabbildung, der Anschluß an ein religiös-christliches Weltbild ist dadurch noch nicht aufgehoben - wie Brenner annimmt. Siehe hierzu auch Tarot, der mit seiner These von der fingierten Wirklichkeitsaussage die hier angenommene Gestik auch dann bestätigt, wenn man die dichtungslogischen Voraussetzungen seines Begriffs von Realismus nicht teilt (siehe: Grimmelshausens Realismus, Zitat 246). Brenner: Krise der Selbstbehauptung, 27; siehe zur Sache auch Heselhaus: Grimmelshausen.
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chen nachzuweisen.48 Nur geschichtsteleologische Prämissen können aus dem Traditionsbruch, der uns von der Weltdeutung des Simplicissimus trennt, den gelegentlich erhobenen Verdacht des literarhistorischen Anachronismus gegen den wohl wichtigsten deutschen Roman des 17. Jahrhunderts herleiten. Die Differenz zwischen hohem und niedrigem Roman läßt sich sehr präzis am Muster von Tugendlohn und Sündenstrafe als dem von der Providenz garantierten diesseitigen Glücksanspruch des Tugendhaften ausmachen. Eben diese Vorverlegung des Lebensgerichts in die hiesige Existenz verweigert die Simpliziade und konterkariert mit dem Beharren auf radikaleren christlichen Positionen den Versuch der funktionalen Vereinnahmung der Religion. Wie sehr die beiden Gattungsstränge mit der divergierenden Behandlung dieses Punktes verwoben waren, belegt Grimmelshausens Einschwenken auf das Tugendlohn-Muster in Proximus und Lympida (1672), dem Versuch eines hohen Romans. 50 Auch in Deutschland ist also die Anfechtbarkeit des kulturhistorischen Entwurfs der 'idealistischen' (hohen) Romane mit Präzision formuliert worden. 51 Die Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges hatten dem picaroschen Pochen auf der Unzuverlässigkeit der Welt neue Intensität in den Simpliziaden verliehen. In feinsinnger Dialektik entworfene Selbstbehauptungsfunktionen im heroischen Modell lagen geradezu im Streit mit äußerst sublim gearbeiteter VanitasProsa. Der historische Befund dieser Konstellation wirft noch einmal ein anderes, vereindeutigendes Licht auf die theoretischen Konzepte zum hohen Barockroman. Sie trugen die überbietende Abgrenzung der 'Geschichtgedichte1 gegen die Historiographie in eher tradierten Argumentationsbahnen vor. Schon Aristoteles hatte ja diese Figur in seiner Poetik entwickelt und mit dem berühmten Ausnahmeparagraphen52 die Spanne zwischen Mimesis und poetischer Frei48
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Siehe etwa Knopf: Frühzeit des Bürgers, 59-83. Der Simplicissimus scheint insofern nicht ein eigener Sinnentwurf zu sein, sondern die Zurückweisung der menschlichen Versuche zu einem solchen. (Zitat Brenner: Krise der Selbstbehauptung, 31) Siehe hierzu ausführlich Schäfer: Tugendlohn und Sündenstrafe, 491-500. Siehe hierzu ausführlich Schäfers Hinweis auf Grimmelshausen Rathsübel Piatonis, wo eine exakte Kritik an der Gerechtigkeits-Didaxe der hohen Erzählform ausgearbeitet ist. Damit wird jedoch nicht nur das Muster von Tugendlohn und Sündenstrafe desavouiert, sondern die Künstlichkeit des epischen Sinnstiftungsprojekts insgesamt bloßgestellt. In Frankreich hat Sorel, der wichtigste Theoretiker des niederen Romans im 17. Jahrhundert und deutlicher Inspirator Grimmelshausens, mit noch größerer Schärfe diese Zusammenhänge kritisiert (hierzu auch Schäfer: Tugendlohn und Sündenstrafe, 491-500). Zur Kritik am hohen französischen Roman durch niedere Formen siehe Greiner: Entstehung der englischen Romantheorie, 175187. Zum Zusammenhang von Erzähltheorie und rhetorischer Exempellehre siehe die Literaturhinweise bei Kleinschmidt: Wirklichkeit der Literatur, 174f. Kap. 24, 9 (1460a).
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heit geöffnet. Denn die Nachahmung hatte er weniger an Faktizität als an das Allgemeine angebunden.53 Der erwähnte Begründungsversuch Birkens wandelt also auf gut aristotelischen Wegen. Denn Aussicht auf poetologischen Erfolg konnte er sich nur versprechen, insofern seine Darlegungen, durch Tradition legitimiert, geradezu als Gemeingut erschienen. Der energische Widerspruch der niederen Romanform zeigt jedoch, wie wenig jenes Konzept einfach gültiger Ausdruck barocken Weltverhältnisses war:54 im hohen Roman und seinem Erzählmodell rang vielmehr, theoretisch geschützt durch Prätention von Traditionalität, eine positive Anthropologie mit einer negativen um die Deutungshegemonie. 55 Die Romanproduktion im 18. Jahrhundert hat sich vor allem an die niederen Erzähltraditionen angeschlossen - nur in dem einen Punkt der Providenz nicht. 56 Solche uneinheitliche Auswahl im Rückgriff auf tradierte literarische Verfahren stellt die Frage nach den spezifischen Differenzen zwischen der gewählten und der verworfenen Technik. Da in Hinsicht auf Personnage, Sujets und Stil sich überwiegend die niederen Erzählverfahren durchgesetzt haben, war die schlechte poetologische Reputation der niederen Prosatexte57 offenbar kein Grund für die Aussichtslosigkeit der von ihnen transportierten Wirklichkeitsdeutung. Selbst der große Publikumserfolg dieser Romane in allen lesekompetenten Schichten58 vermochte die Vanitas-Semantik nicht über die Epochengrenze hinweg zu stützen. Die kulturhistorische Funktionalität des mit den hohen Romanen verknüpften Projektes war zu groß, als daß der von ihm angebotenen 'Versuchung' dauerhaft hätte widerstanden werden können. Kenntlich wird diese Folgerichtigkeit allemal an der Kontinuität, mit der das im heroischen Roman entfaltete Erzählmodell über ein ganzes Jahrhundert lang für die deutsche Romanliteratur 53
Kap.9; siehe hierzu auch Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie, 7754 82.
So knüpfte Birkens Argumentation zwar an eine lebhafte Tradition an, in der der Wahrheitsgehalt der Dichtung von dem der Geschichte abgegrenzt und entweder geringer oder höherwertig eingeschätzt wurde. Daneben gab es aber auch einen Traditionsstrang, der die Unwahrheit der Dichtung streng von der Wahrheit der Geschichtsschreibung (res fictae, res factae) unterschied. Siehe Heitmann: Dichtung und Geschichtsschreibung, 260-275. Siehe zur Opposition von positiver und negativer Anthropologie im 17. und 18. Jahrhundert Stierle: Die Modernität der französischen Klassik. Zur Verwendung des Providenzschemas im 18. Jahrhundert siehe insgesamt Frick: Providenz und Kontingenz, hier bes. 16-24. Grimmelshausen veröffentlichte die niederen Erzähltexte anonym, die - auch im weiteren Sinne - hohen dagegen unter seinem Namen (Histori vom keuschen Joseph in Egypten, 1666; Dietwalt und Amelinden, 1670; Proximus und Lympida, 1672). Siehe Weydt: Nachahmung und Schöpfung im Barock, 428.
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prägend bleiben sollte und selbst bis heute nicht nur in den trivialisierten Genres Bedeutung hat. Zwar setzten die Romane im Verlauf der Aufklärung zunehmend inividuell-rationales Agieren in die Verantwortung für einen glücklichen Ausgang ein. Dennoch konnte auf die Providenz als letzte Garantin für die irdische Glückseligkeit des Tugendhaften nicht gänzlich verzichtet werden - auch wenn dem Namen nach der 'Zufall' die Verantwortung trug. Als poetische Gerechtigkeit blieb die Providenz in den romanpoetologischen Erörterungen des 18. Jahrhunderts so selbstverständlich, daß lediglich ihr Fehlen bemängelt wurde. 59 Daß dasselbe Erzählmodell allerdings einen solch paganen Titel erhielt, belegt noch einmal, wie wenig es an seine kulturelle Herkunft gebunden war, die mit der religiösen Rhetorik lange betont wurde. Obwohl nur wenige Exemplare verfaßt wurden und schon bald die Polemik gegen den Stil des hohen Barockromans einsetzte, war er ungewöhnlich erfolgreich - nämlich mit seinem märchenhaften Erzählmodell. Dieses vermochte die Fremdheit zwischen der menschenabgewandten Realität und dem vergebens sich abmühenden Menschen 0 aufzuheben. Im Rahmen der erwähnten Dialektik zwischen Ohnmachtsrhetorik und Handlungsermächtigung gab es schon bald Erzählprosa, die viel eindeutiger und unmittelbarer auf die Kompetenzen und Möglichkeiten des Menschen vertraute. 61 Zwischen den beiden entgegengesetzten Polen der Erzählprosa - wie Alewyn es nennt - entwickelten sich allerdings nicht erst gegen Ende des Barock unter allmählicher Lockerung der pathetischen Spannungen andere Romanformen, indem sich vom Picaroroman der 'Politische Roman' und vom Heroischen Roman der 'Galante Roman' abzweigte. 62 So einleuchtend eine solche Vorstellung ist, widerspricht ihr doch die Werkchronologie. Denn Weises politische Romane erschienen nahezu gleichzeitig mit der Aramena und den Simpliziaden Grimmelshausens, gegen die sie sich explizit absetzten. Das galante Genre kann schon eher als eine literarhistorische Übergangserscheinung zwischen den Epochen gefaßt werden. Aber die satirischen Erzählungen Weises, Beers und Reuters 63 erschienen keineswegs deutlich später als einige der wichtigsten heroischen Romane. Daher läßt sich sicher nicht behaupten, jene in der heroischen Tradition entfaltete Dialektik zwischen Weltundurchschaubarkeit und Hand59
62
Wörtlich zum Beispiel in den Rezensionen in NBWK 2, 1766, 355; Walch, NADB 5, 1, 1793, 299; der Sache nach siehe etwa FGZ 8, 1743, 458; Schatz, ADB 111, 1792, 124-128; NBWK 58, 1796, 368f. Lugowski: Märchenhafte Enträtselung der Wirklichkeit, 386. Zur besonderen Rolle Lohensteins und des Arminius siehe Bender: Lohensteins Arminius Alewyn: Gehalt als Gestalt, 13lf. Zu den theoretischen Konzeptionen dieser niederen Romanformen siehe Voßkamp: Romantheorie, Kap. 2; siehe auch Rötzer: Roman des Barock, 110-124, siehe dort auch die ausführliche Werkchronologie, 135-155.
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lungsmacht sei die Voraussetzung gewesen für eine nachfolgende weltlichere Handlungs- und Verhaltensorientierung, die erneute Hoffnung auf erfolgreiche Umsetzung eigener Ziele im klugen Arrangement mit den gegebenen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen.64 Vielmehr muß davon ausgegangen werden, daß die Erzählliteratur des 17. Jahrhunderts sich der Herausforderung des Sinnverlustes, den Erfahrungen menschlicher Vergeblichkeit mit unterschiedlicher Radikalität und Intensität gestellt hat. Gleichwohl können gerade an den formalen und inhaltlichen Extremen grundsätzliche Bedingungen der Strukturgeschichte des Romans erläutert werden. In einigen wenigen Exemplaren arbeitete das hohe Romanerzählen eine äußerst wirkungsmächtige Figur literarischen Sinnentwurfs heraus. Nicht die Propagierung von Tugendlohn und Sündenstrafe war das Erfolgversprechende an diesem Erzählmodell, sondern daß durch die literarische Illustration des Tugendlohns in einer Lebensspanne die traditionsgesicherte Behauptung von der göttlichen Gerechtigkeit umschlägt in die Suggestion der bereits irdischen Glückseligkeit des Tugendhaften, war es, was dieses Erzählmuster zu einer in der Lektüre erfahrbaren Sinnversicherung diesseitigen Handelns werden ließ. So veränderte sich in der erzählliterarischen Veranschaulichung die Providenz als Topos christlicher Lehre zu dem Versprechen, daß der Mensch für sein irdisches Glück selbst etwas tun könne. In der Logik dieses Versprechens liegt der Erfolg des providenten Erzählschemas begründet, das den deutschen Aufklärungsroman dominierte und das seinen Ursprung in einer komplexen Sinngewinnungs-Anstrengung gegen die historischen Erfahrungen des 17. Jahrhunderts hatte. Diese epische Sinnversicherungssuggestion ist von epochaler kultureller Bedeutung und muß als eine geradezu geniale Lösung eines strukturellen Problems gewertet werden. Die im providenten Erzählkonzept wirksame Gerechtigkeitssuggestion vermochte den Lesern einen Lektüreanreiz zu bieten - in der inhaltlichen Dimension auf höchster Hierarchieebene ein Interesse des Publikums zu befriedigen, nämlich das wohl erste Bedürfnis von Lektüre überhaupt: Sinnversprechen. Man braucht keine Psychologie, um zu sehen, daß dieses Erzählmuster deshalb bis heute nicht überholt ist; denn die Entlastung solcher Sinnsuggestion wirkt auch dann, wenn der Rezipient sich der Konstruktion bewußt ist. Doch dieses Erzählmuster bedeutete nicht nur einen kulturellen Sinnentwurf, sondern hatte auch für die Organisation der Erzähltexte selbst einflußreiche erzähllogische Konsequenzen. Denn das inhaltliche Sinnversprechen solcher Texte schlug sich nieder als Gewinn eines wirkungsvollen Einheitsbegriffs. Diese narrativen Konsequenzen waren von äußerster Bedeutung für die Romane des 18.
64
Siehe hierzu auch Grimminger: Roman, 648-655.
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Jahrhunderts, weil sich aus dieser Tradition die zweite prägende Variante zum Aufbau literarischer Wahrheitsansprüche herleitete - das Fabelprinzip.
7.2
Die Verkürzung der Unendlichkeit. Funktionale Implikationen des epischen Providenz-Schemas 'Aber haben wir denn, so fragt der Oberramstädter Pfarrerssohn, ein Wort Gottes außer der Vernunft?' (Schöffler, Lichtenberg, 213)
Das Erzählmodell von Tugendlohn und Sündenstrafe hat neben den inhaltlichen Dimensionen von suggestiver Sinnstiftung auf den Roman im Verlauf des 18. Jahrhunderts vor allem in einer strukturellen Dimension Einfluß gehabt. Diese erzählerische Organisationsform war nicht nur für das Erzählen in der Moderne in einem technischen Sinne prägend, sondern es bestimmte auch das moderne Literaturverständnis ganz außerordentlich. Deshalb muß hier auf diesen in der Forschung bisher kaum beachteten Aspekt genauer eingegangen werden, weil nur vor diesem Hintergrund die Rolle einiger zentraler Begriffe des Romanverständnisses im 18. Jahrhundert nachvollziehbar wird. Dabei ist dieses Verständnis nicht ein begrenzter Teil einer historischen Literaturtheorie geblieben, sondern hat die geläufigsten Vorstellungen in der Moderne über Literatur mitbestimmt. In erzähllogischer Dimension liegt die Bedeutung des hohen Erzählmodells auf einer sehr allgemeinen Ebene. Dieses Erzählmuster realisierte eine verein/tii/lichende Funktionalisierung der gesamten Fabel, deren sämtliche einzelnen Teile virtuell auf die sich am Ende ergebende Einsicht in die göttliche Providenz bezogen waren. Manche Verfasser verstanden ihre Kunst gerade darin, noch die abgelegensten Episoden auf diese Weise in ihr Werk zu integrieren. Die Extremfälle verdeutlichen dabei aufs schärfste die innovative Leistung des Romanaufbaus nach einem organisierenden höchsten Prinzip - eine 'sinnvolle' Integrierbarkeit schier unbegrenzter Stoffmassen. Daß diese Konzeption nicht verwechselt werden darf mit dem allen Literaturformen gerne zugeschriebenen 'Ausdruck einer Weltanschauung', zeigt die Differenz zur niederen Erzählform. Auch ihre Werke können bestimmte Wirklichkeitsdeutungen propagieren, doch verpflichtete die dabei vorherrschende Tendenz zur Wiedergabe von Formen historisch-faktischer Erfahrung zu einer eher episodischen Reihung der Fabelelemente, deren Vermehrung oder Verringerung am so verstandenen Gehalt der Texte kaum etwas geändert hätte. Diese Romane waren grundsätzlich fortsetzbar, ihr konstruktives und inhaltliches Ende konnte sich allein aus dem Tod des Helden ergeben.
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Der entscheidende Unterschied zum hohen Roman liegt in dessen Bauprinzip, das mit Verwirrung und entknotung benannt ist. Darin ist ein Spannungsbogen entworfen, der dem Rezipienten die Einsicht in die Gerechtigkeit göttlicher Providenz als aus eben dieser einen Geschichte resultierend suggeriert.65 Der Sinn der jeweiligen Geschichte zeigt sich auf diese Weise als ein einzigartiger, der allein in diesem Text sich ergibt. Die Möglichkeit, mittels dieser spezifischen Erzählform, in der erst die ganze Geschichte den Sinn konstituiert, für jeden Text eine individuelle Bedeutung zu vermitteln, wurde jedoch zunächst nicht genutzt. Grundsätzlich gestattete aber der 'Sinn' der Geschichte zugleich dem Leser die nachträgliche Beurteilung des Werkes in allen seinen Passagen, denn virtuell muß sich jede einzelne in ihrem nachvollziehbaren Bezug zum Ende und zu jenem Sinn des Ganzen erschließen lassen.66 Einige hohe Romane trieben die Möglichkeiten des neuen Erzählmusters in gewaltige Dimensionen und reizten seine verborgene Logik bis zu Extremwerten aus, welche diesen Texten in den folgenden Epochen das Etikett der Unlesbarkeit eintrugen: je mehr Figuren einer Geschichte in die Bewegung zu ihrem sinnvollen Ende, zur Offenbarung ihres Zwecks integriert werden konnten, desto weitreichender war die Ordnungskraft des so realisierten Prinzips, desto anspruchsvoller präsentierte sich sein Sinnpotential. Die gesteigerte Zahl der Figuren, die in den Erzählmechanismus eingewoben waren, die größtmögliche Verwirrung der Handlung steigerte neben dem Ruf des Verfassers auch die Kraft 65
Siehe hierzu auch Haslinger, der die besondere Ausrichtung des Mechanismus von Ver- und Entwirrung auf den Rezipienten im Werk Anton Ulrichs herausarbeitet: Alle seine erzähltechnischen Formen sind funktional auf den Leser gerichtet. (Epische Formen im höfischen Barockroman, 370) Das erzählerische Dogma, daß jede 'wichtigere' Figur am Schluß wieder auftauchen, ihre Geschichte im Rahmen des Gesamtzwecks zu Ende erzählt werden soll, nahm literarhistorisch hier seinen Ausgang. Daran tritt erneut der krasse Unterschied zum niederen Roman hervor, von dem Alewyn feststellt: Auch die Nebenfiguren sind nur Episodenfiguren. Daß eine von ihnen mehr als einmal auftritt, ist eine Seltenheit. (Gestalt als Gehalt, 122) Abbt bemerkte in seiner Don Sylvio-Rezension 1765 in der ADB wohl wollend: Man sieht wohl, daß alle in der Geschichte gebrauchten Personen bey der Entwickelung wieder vorkommen, sogar der kleine Hund, Namens Simpimp; nur der Procurator und seine Nichte zeigten sich nicht mehr. Der Verfasser hätte sie also vieleicht ganz weglassen können (1, 2, 1765, 103). Karl Friedrich Troeltsch behauptete 1753 einen Zusammenhang dieser Regel mit dem Schauspiel: In Schauspielen dürfen keine Personen vorkommen, die nicht zur Geschichte gehören, und es wird beim Ausgange gemeiniglich ihrer insgesammt wieder gedacht. Dieses ist bei Romanen eben so zu beachten, und insonderheit, wenn eine Neben-Person so ist gebildet worden, daß der Leser vor sie eingenommen ist, [...] so ist billig, daß man am Ende der Geschichte, ihr Schicksal dem Leser bekandt machet, und dessen Begierde befriediget. (Geschichte einiger Veränderungen, Vorrede, 21f.) Diese Regel wurde jedoch schon lange vor der Orientierung des Romans am Drama im 18. Jahrhundert befolgt.
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des Trostes, daß sich selbst auf die aussichtsloseste, die verwickeltste Situation noch eine Perspektive ergeben kann, die eben diese Lage zum sinnhaften Element einer Geschichte verwandelt.67 Das ideale, sozusagen klassische Werk würde in dieser Hinsicht aufgehen wie eine Patience, im Leser dürfte auch nicht das Bedürfnis nach dem stimmigen Zu-Ende-Erzählen der Geschichte 'einer' Figur unbefriedigt bleiben. Sinnstiftende Bedeutung gewinnt dieses Erzählmuster aus der Selbsterklärungskraft seiner Konstruktion, die es ermöglicht, Geschichten zu Ende zu erzählen. Die theoretischen Gefahren des Unendlichen, seine Drohung, die menschliche Vernunft zur Vergeblichkeit zu degradieren, wurden im Verlauf des 17. Jahrhunderts immer deutlicher wahrgenommen.68 Angesichts dessen sind die Leistungen der neuen Erzählmöglichkeit kaum zu hoch zu bewerten. Daraus erklärt sich auch ihre enorme Durchsetzungskraft und Wirkung im 18. Jahrhundert und weit darüber hinaus - was um so bemerkenswerter ist, da sich in bezug auf fast alle übrigen Erzähltechniken eher die niederen Formen durchgesetzt haben. Während der gesamten Aufklärung gehörten Ver- und Entwickelung zum standardisierten Kategorieninventar in den Rezensionen und 69
Erörterungen von Romanen, selbst wenn die Geschichten bei weitem nicht so verwickelt dargeboten und bald auch andere Formen der Entfaltung literarischer Providenz gefunden wurden. Ein zusätzlicher Aspekt dieser Erzählweise bleibt noch herauszustellen, der zugleich einen wesentlichen Faktor der weiteren Gattungsgeschichte des Romans verständlich macht. Wenn dem Leser eines Werkes am Ende das Prinzip sich zeigt, nach dem der ganze Text organisiert ist und das jeder Episode ihren bestimmten Ort im ganzen Sinngefüge zuweist, dann hat dieser Leser nicht nur den Roman verstanden, sondern er kennt seine Konstruktionsregel, das oberste Maß seiner Stimmigkeit - und verfügt damit über die Möglichkeit, die Geschichte selbst an jeder beliebigen Stelle weiterzudenken, ohne gegen jenes Gebot der Stimmigkeit zu verstoßen. Indem der Roman von der Faktizitätspflicht der Historiographie gelöst war, behielt er auch nach seiner Unterwerfung unter ein 67
68
69
So entstehen die Massenhochzeiten am Schluß etwa der Aramena oder der Octavia. Noch im Artikel Welt von 1747 in Zedlers Lexikon wird vehement gegen die Unendlichkeiten des Raums und der Zeit argumentiert, obwohl damit auch der sonst so geschätzte Wolff kritisiert werden muß. Die Gefahren beider Unendlichkeiten ergeben sich aus den Kontern mit großer Präzision (siehe Universal-Lexicon 54, 1747, 1648-1661, zu Wolff 1653f., sowie 1667-1670; zu den Bedrohungen durch die unendlich vielen wirklichen [fremden] Welten siehe 1672f.) Zum Problemzusammenhang siehe Koyri: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, sowie in kulturhistorischer Sicht Guthke: Der Mythos der Neuzeit. Einige beliebige Beispiele: ADB 1, 2, 1765, 103; EGZ 3, 1771, 36; Schubart, Vorlesungen, 89; ADB 65, 1786, 136; ADB 76, 1787, 438; ADB 85, 1789, 440; ADB 96, 1790, 139; ADB 109, 1792, 147.
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sinnstiftendes Organisationsprinzip, das seine Handlung beendete, also über die auf Fortsetzung hin angelegten älteren Erzähltraditionen (Amadis)70 hinaus seine virtuelle Unendlichkeit, seinen Verweis aufs Und-so-weiter. Für den Leser schließt sich hieran die Hoffnung, die Bedeutung eines Textes auch dann verläßlich bestimmen zu können, wenn sie nicht explizit im Text benannt ist. Diese paradoxe Konstellation sollte den Roman - und vor allem ihn - für die nächsten Jahrhunderte prägen. Schon bald zog man aus dieser eigentümlichen Widersprüchlichkeit den Nutzen, die Fabel erheblich zu vereinfachen: denn die virtuelle Unendlichkeit bleibt genauso groß, wenn das Modell kleiner ist. Es war also nicht eine spezifische Weltdeutung der irdischen Gerechtigkeit, welcher diese Erzählform ihr Sinnpotential verdankt, sondern die Technik, mit der diese Perspektive präsentiert wurde. Das eigentümliche Verfahren von Ver- und Entwicklung schuf Sinn als eine einsehbar stimmige Art, eine Geschichte zu erzählen. Der weithin gepriesene in-medias-res-Anfang war die Ebene, auf der die Zeitgenossen das Problem thematisierten.71 Gegen Ende der unumschränkten Herrschaft des providenten Erzählmusters wird Sulzer die Funktion des in-medias-res-Einstiegs mit großer Präzision beschreiben, und zwar nicht zufallig unter den Lemmata Ende und Ganz.71 Die Ausgangsproblematik benennt er dabei in der Perspektivierung der Welt als dem (im strengen Sinne) einzigen Ganzen zu einer isolierten Geschichte. Eine solche kann gewonnen werden durch die Befolgung jener Regel, wodurch die nothwendige Absonderung des Stoffes von der Hauptmasse, davon er nur ein 7heil ist, gelingt. So vereinigten die Dichter sogleich unsere Aufmerksamkeit auf das, was wir als eine jür sich bestehende Sache ansehen sollen.™ Auf diese Weise wird dann ein Teil der (Welt-) Geschichte zu einer eigenen ganzen Geschichte perspektiviert. 74 Neben dem Anfang ist aber auch das 70
71
72 73
74
Der Amadis war grundsätzlich nicht abgeschlossen - dieser Tatsache tragen die Ausgaben von A. Keller und der neue Reprint Rechnung, die jeweils nur das erste Buch, respektive die ersten sechs Bücher, bringen. Seit Heliodor war aber dieser Einstieg nicht allein eine Technik, sondern bereits mit Wahrheitsfunktionen verknüpft - als der Illustration göttlicher Providern (siehe hierzu Voßkamp: Romantheorie, 16f.). Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste 1, 316-318, 416-421. 418. Als Beispiel nennt Sulzer die Geschichte der Aufopferung der Iphigenia, welche ein Theil der Geschichte des trojanischen Krieges sei: dieser ist ein Theil der Geschichte der alten Griechen und Asiater, die wieder ein Theil der allgemeinen Geschichte der Menschen ist. Der Dichter, der diesen einzeln kleinen Theil der Geschichte als ein besonderes Ganzes vorstellen will, muß die Aufmerksamkeit von allen Dingen, womit die Aufopferung der Iphigenia zusammenhänget, abwenden, und sie als eine an sich selbst sehr wichtige Sache vorstellen. Deswegen soll er nicht vom trojanischen Krieg, von den Ursachen desselben, von den Zurüstungen dazu, sondern so
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Ende einer Geschichte problematisch: Nur alsdann ist das Lezte in einer Sache das Ende derselben, wenn man daraus erkennt, daß die Sache nun ganz sey, und daß nichts mehr darinn folgen könne.15 Eine solche Einsicht in die Vollständigkeit einer Geschichte ergibt sich aber einzig in Relation zu einem sinngebenden Prinzip, zu einer Absicht, wie Sulzer längst sagen kann: Indem man sich die Theile eines wohlgeordneten Werks nach und nach vorstellt, so merkt man eine gewisse Bestimmung derselben. Man erkennt oder vermuthet eine Absicht, warum sie aufeinander folgen. An dem End erkennet man die völlige Erreichung der Absicht, zu deren Vollkommenheit nichts mehr hinzu gethan werden kann.76 Wenn im Zusammenhang der hohen Erzählkonzeption die Gleichsetzung des Romanautors mit Gott nicht selten auftauchte, weniger Blasphemie
78
metaphorische 77
so mag dies
als Entlastung gewesen sein - die bildhafte Kaschierung
der Bürden, denen der Autor auf diese Weise ausgesetzt war: keine anderen Garantien von Wahrheit mehr zu haben. Das hohe Romankonzept wies dem Verfasser aber vor allem strukturell die Rolle Gottes zu. 79 Wie allein Gott die ganze Weltgeschichte in ihrem Sinn überblickt und aus dieser Kenntnis heraus jedem
75
79
gleich von der Hauptsache sprechen, und uns den Agamemnon in der aussersten Verlegenheit zeigen, damit wir gereizet werden, diese Verlegenheit recht zu fühlen und den Ausgang der Sache zu beobachten. Kann er dieses thun, so sehen wir diesen einzigen Umstand des trojanischen Krieges als die Hauptsach an. (417f.) 317. Ebenda. Zur Tradition der Gottesgleichsetzung siehe Curtius: Europäische Literatur, 541ff., sowie Rüfher: Homo secundus Deus, und von Tiedemann: Fabeis Reich, 90-97. Tigerstedt nennt als ersten Verwender der Metapher vom Dichter als Schöpfer einer eigenen Welt C. Landino (The Poet as Creator, 456-460). Cramer weist darauf hin, daß in der bildenden Kunst die Metapher bereits erheblich früher benutzt wurde; Scaliger selbst zog aus dieser Vorstellung noch keine Konsequenzen fur die Regelpoetik, und trotz des maßgeblichen Einflusses von Scaliger ist sein Gedanke von der Gottgleichheit des Dichters im 16. und 17. Jahrhundert nördlich der Alpen nicht aufgegriffen und ausgebaut worden. (Cramer: Solus creator est deus, 27f.) Das Empörende solcher Gleichsetzungen wurde im 18. Jahrhundert durchaus noch von einigen Zeitgenossen wahrgenommen und angeprangert. Einige Beispiele liefert Rüfner: Homo secundus Deus, 280f. Im Zusammenhang Wolffschen Denkens konnte diese 'Blasphemie' übrigens nicht auftauchen, weil nach ihm die prinzipielle Bedingtheit der menschlichen Vernunft jede 'ganzheitliche' Erkenntnis ausschließt im Gegensatz zur monadischen Weltrepräsentation bei Leibniz und zu entsprechenden, den ganzen Menschen betreffenden Erkenntnismodellen in der BaumgartenTradition (siehe Kimpel: Wolff und das Programm der literarischen Bildung, 215f., sowie van Peursen: Ars inveniendi im Rahmen der Metaphysik Christian Wolffs, 82-84). Siehe auch Bender: Lohensteins Arminius, 389-391.
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einzelnen seinen Platz und sein eigenes gerechtes Schicksal zuweist, so kennt allein der Erzähler eines solchen verworrenen Romans den Fortgang der Geschichte und weiß um die Belohnung oder Strafe für ein tugend- oder lasterhaftes Handeln, das erst noch erfolgen wird. Diese Parallele zwischen Autor und Gott macht noch einmal auf den kulturhistorischen Versuch aufmerksam, den die hohen Romane markieren: In konkreter Auseinandersetzung mit faktischer Geschichte ein sinnhaftes Verständnis der Welt gegen die Vanitas-Dogmatik durchzusetzen, die Wirklichkeit angesichts ihrer Mängel als ein sinnvolles Ganzes zu entwerfen war ein Ausdruck humaner 80
Selbstbehauptung. Ohne Zweifel ist die Funktion dieser providenten Weltdeutung in der Ermächtigung der menschlichen Vernunft zu sehen und nicht in der Restitution christlicher Glaubensinhalte. War die deutsche Erzählprosa des 15. und 16. Jahrhunderts weltzugewandt im Interesse einer neugierigen Er-Fahrung der Wirklichkeit, deren Begriff geradezu spielerisch nicht allein mehr auf göttliche Garantien bezogen wurde, so war die Prosa des hohen Barock von dem bitteren historischen Erleben einer aus solchen Garantien entlassenen Realität durchdrungen. Der Verlust an Sicherheiten verwies die Menschen auf ihre Vernunft. Ihr wurde die gesamte Deutung der Wirklichkeit in den Romanen Anton Ulrichs und Lohensteins nicht weniger als in der Philosophie eines Wolff und eines Leibniz unterworfen. Gerade die Leibnizsche Philosophie, so 'märchenhaft' sie sich nach einer Bemerkung Nicolai Hartmanns für uns ausnehmen mag, wird erst verständlich als Ausdruck einer tiefen christlichen Resignation.81 Dennoch funktionalisierte diese Philosophie Gottes Gerechtigkeit zur Realisierung der Allzuständigkeit und Unabhängigkeit der Vernunft,62 Gott wurde zwar benutzt, aber gleichzeitig vollständig in die Transzendenz abgedrängt.83 Mag die Aufklä80
81
82
Diese höchste Ebene des Zweifels an der Welt wird verfehlt, wenn Brenner - unter eigentümlicher Berufung auf Blumenberg - Selbstbehauptung als eine Emanzipation des Menschen von heteronomen Zwängen versteht. (Die Krise der Selbstbehauptung, 5; siehe dagegen Blumenberg, der einen ganz anderen Selbstbehauptungs-Begriff profiliert: Säkularisierung und Selbstbehauptung, 240-266) Schepers: Problem der Kontingenz bei Leibniz, 347. Brenner übersieht diese zentrale Differenz in seiner Analogisierung, wenn er den hohen Barockroman mit Descartes' methodischem Zweifel in den Meditationen vergleicht (Krise der Selbstbehauptung, 25f.). Zwar wird auch in Descartes' Zweifeisfigur Gott am Ende der Vernunft unterworfen, doch erst Leibniz' - in dieser Hinsicht ähnliche - Philosophie ist getrieben von einem fundamentalen Zweifel an Gottes Schöpfung. Daran tritt zutage, wie wenig sich am Ende des 17. Jahrhunderts der Mensch einfach klug (siehe aber Brenner) seiner Heteronomie entschlug und wie sehr vielmehr jene Selbstbehauptung eine auf äußerst verunsichernde historische Erfahrungen reagierende Wendung einer Not war. Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, 67. Indem Leibniz bestritt, daß Gott in die Welt eingreift (Auseinandersetzung mit Clarke/ Newton), konnte die Natur vollends zum Mechanismus werden, in welchem
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rung dieser Welt gegenüber grundsätzlich skeptisch geblieben sein, insofern sie für verbesserungsbedürftig gehalten wurde;84 solche Haltung war bereits erheblich wohlwollender als der barocke Verdacht, das Diesseits sei gänzlich eitel, für jede Verbesserung untauglich. Das historische Projekt einer positiven Wirklichkeitsdeutung hatte durchschlagenden Erfolg. Welcher Anteil an ihm auf philosophische Traktate und welcher auf Romane zurückgeht, läfit sich nicht bestimmen. Die Erzählprosa verfügte jedoch über einige wichtige Rezeptionsvorteile. Denn die Romane waren unterhaltsamer - wie ihre Apologeten nicht müde wurden zu betonen85 - als die wissenschaftlichen Schriften, die vor Thomasius und Wolff auch nicht in der Landessprache erschienen. Außerdem gab sich ein Roman in seinem obersten Prinzip als notwendig zu erkennen, verschleierte den Entwurfs-Charakter seiner Konstruktion. Und schließlich präsentierte er die Wahrheit erzähltechnisch dem Rezipienten als eine gerade aus dieser Geschichte resultierende, die sich darüber hinaus mit bekannten Lehren deckte. Dies alles führte dazu, daß der Roman nicht nur mehr Leser gefunden haben dürfte als philosophische Abhandlungen, sondern daß durch seine Geschichten auch viel mehr verschiedene gesellschaftliche Gruppen angesprochen wurden.86 Das erhöhte die Wirkung seiner Botschaft die Gesetze ablaufen wie eine Uhr (machina mundi; siehe Natur, HWP, 469ff. [Kaulbach]). Wie sehr Gottes Handlungsfreiheit in der Leibniz-Wolffschen Philosophie zugunsten der unbeschränkten Geltung der menschlichen Vernunft eingeschränkt wird, geht aus etlichen Formulierungen des Artikels Welt bei Zedier hervor. Etwa im Referat einer Dissertation von Johann Friedrich Jacobi von 1734: Denn da die völligbeste Welt nothwendig erfordert, daß einige Substantzen die Freyheit zu handeln haben, und gutes und böses erwählen können. So muß es GOtt zulassen, wenn dieselben ihre Freyheit übel brauchen [...]. Er kan es auch nach seiner Weisheit nicht verhindern (Universal-Lexicon 54, 1727). Um derartige Schwürigkeiten u. Gefährlichkeiten zu vermeiden, schlägt der Referent vor, in der Frage nach dem Ursprung des Übels in der Welt lieber des Menschen Unwissenheit festzustellen (1717). Zur Freiheitsbeschränkung Gottes durch die Vernünftigkeit des zureichenden Grundes siehe auch Koyr6: Von der geschlossenen Welt, 218, und zum Problemzusammenhang der Physikotheologie ausführlich Philipp: Das Werden der Aufklärung, 140-168. 84
Siehe Blumenberg: Paradigmen einer Metaphorologie, 34, So läßt bereits der Verteidiger der Romane in Harsdörffers Gesprechspielen (1644) die Fabel sagen: Die Wahrheit ist an sich selbsten unbeweglich/ und lasset sich noch bügen/ noch wiegen: Meine Gedichte aber gestalten sie auf so vernehmliche Art/ daß man sie leichtlich fassen/ den Sinnen behaglich eindrucken/ und in stetswehrendem Angedenken behalten kan. (1, 253) Bis hin zu Gottscheds Critischer Dichtkunst wird dies eines der zentralen Argumente der Verteidigung der Fabel bleiben (siehe dort 167). Der Anstoß von kirchlicher Seite an der Romanlektüre hing von Beginn an deutlich mit der durch den Buchdruck bereitgestellten Möglichkeit der Einzellektüre zusammen, wodurch die literarischen Werke nicht mehr zu einer planvoll gestuften Welt,
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immens, insbesondere seit er eine gattungsstifiende Form gefunden hatte, welche die Dialektik von Providenz und Handlungskompetenz einzigartig anpries: nämlich seit der Neubegründung des Abenteuerromans durch die Robinsonade.87 Daß sich das providente Erzählmuster auch jenseits dieser (Sub-) Gattung fast konkurrenzlos durchsetzte in der deutschen Aufklärungsprosa, dürfte einem be88
sonders ausgeprägten Bedürfnis nach einer positiven Anthropologie entsprochen haben, wie sie das hohe Erzählmodell des barocken Romans in einer 89 Suggestionstechnik entwarf, der schwer zu widerstehen gewesen sein dürfte. Die eigene Leistung des Erzählprinzips, das durch den hohen Barockroman herausgebildet worden war, bestand in der Möglichkeit, einen Gesamtkontext (durch den Bezug auf eine übergeordnete Sinndimension) als in sich sinnvoll zu entfalten. Dadurch wurden nicht nur virtuell alle Fabelelemente integrativ an einen Zweck rückgebunden, von dem sie ihre Funktion im Gesamtkonstrukt bezogen. Wer diesen Sinn - als das Bauprinzip der fiktionalen Welt - kennt, hat das Werk 'verstanden' und kann zugleich von dessen Details abstrahieren. In diesem Zusammenhang wurzelt systematisch die Möglichkeit (moderner) literarischer Werkinterpretationen, die auch als Anweisungen dafür verstanden wer-
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in der die verschiedenen Stande ihre Sendung und ihr irdisches Anrecht besessen haben, gehörten, sondern sich nunmehr an den unbekannten Leser, an eine anonyme Allgemeinheit richteten (Krauss: Die Kritik des Siglio de Oro am Ritter- und Schäferroman, 152). Zwar benutzte sie nicht die in-medias-res-Technik, sondern erzählte ab ovo, gewann aber ihre hierarchiehöchsten Sinnebenen aus einer allgültigen Providenz. So bedurfte das wohl erfolgreichste Romanmodell der Aufklärung nicht mehr ausschließlich des Verwicklungsmodus zur Vermittlung letztbegründender Wirklichkeitsgarantien. Siehe hierzu Fohrmann: Abenteuer und Bürgertum, wo die Dialektik von transzendenten Gerechtigkeitsversicherungen und bürgerlicher Handlungskompetenz präzis herausgearbeitet wird, zur Providenz in den Robinsonaden siehe etwa 69-72, 104-106, 187-189. Siehe hierzu Stierle: Die Modernität der französischen Klassik. In Frankreich vermochte die im 18. Jahrhundert dominierende positive Anthropologie der wesentlichen Geschichtlichkeit des Menschen die negative Anthropologie keineswegs so restlos zu verdrängen wie bei den deutschen Nachbarn, wo kaum Vergleichbares zu einer von Autoren wie Prevost, de Sade, de Laclos, Chamfort und Voltaires Candide markierten Tradition entstand - zumindest bis zum Belphegor. (Zitat: Stierle: Die Modernität der französischen Klassik, 122, siehe auch 120123) Zwar traten einige solcher Tendenzen gerade in der galanten Erzählliteratur auf, wo grausame und trostlose Begebenheiten etwa den Carneval der Liebe (1712) von Corvinus prägen, aber diese Beispiele blieben vereinzelt (Singer: Roman zwischen Barock und Rokoko 94). Siehe hierzu auch Grimminger, der diesen Aspekt des galanten Romans besonders herausstellt, jedoch ebenfalls seine kulturhistorische Unterlegenheit konstatiert (Roman, 661-664). Diesem Befund entspricht das Fehlen einer nihilistischen (und einer materialistischen) Strömung in der Theoriegeschichte der deutschen im Gegensatz zu anderen europäischen Aufklärungen (siehe Kondylis: Aufklärung, 537f., 544).
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den können, in welcher Weise alles Mögliche je einzeln auf den Text zu beziehen ist: die Interpretationsmacht des Hermeneuten, der glaubt, den Text seinem Prinzip nach verstanden zu haben. So liegt im Erzählkonzept des hohen Barockromans der literarhistorische Anfang des Kunststücks, mit einem endlichen lite90
rarischen Text einen unendlichen Sinnkontext zu repräsentieren. Hier ist diese Erzählform zunächst als Vorstufe dessen relevant, was Gottsched dann als Fabelprinzip konzipieren wird, also als Regel, eine bestimmte abstrakte Wahrheit mit Hilfe einer literarischen Geschichte zu illustrieren. Aufgetreten ist diese Form eines großen Handlungsentwurfs, in dem jedes Detail seine integrierende Sinnzuweisung von der 'Bedeutung' erhält, zunächst in dem hohen Barockroman.91 Welche Bedeutung die integrativen Möglichkeiten des 'hohen' barocken Erzählkonzepts im Verlauf des 18. Jahrhunderts noch gewinnen sollte, zeigt sich allein an der Ausformulierung des literarischen Einheitsbegriffs, wie er nun in Mode kam. Ein typisches Beispiel hierfür mag vorerst der anonyme Essay Etwas über Roman, Heldengedicht und Drama von 1803 liefern, wo es unter anderem heißt, in der schließlichen Bestrafung eines Lasterhaften innerhalb der literarischen Fabel liege die Einheit des Ganzen, denn: jede Gesinnung, jede Begebenheit [im literarischen Text] zweckt auf den Ausgang ab, es kann nichts fehlen und darf nichts überflüssiges seyn. Jede mithandelnde Person giebt das Ihrige mit dazu. Auch die oben erwähnte strukturelle Analogie zwischen Gott und Autor tritt in diesem Text mit äußerster Klarheit hervor, wo übergangslos aus der Schreibanweisung für Autoren Schicksalsmetaphysik wird: und selbst der Zufall, der bisweilen sein Spiel treiben kann, muß durch die Menschen vermittelt seyn. In ihm führt die Gottheit die Menschen durch die Menschen zum Ziele und das Schicksal ist 92 aus ihrem Kreise entfernt.
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Die theoretisch-systematische Illustration dieser Bewältigung von Unendlichkeit lieferte zur gleichen Zeit der Leibnizsche Weltbegriff, wie er in Leibniz' TheodizeePhilosophie ausformuliert wurde. Dieser Zusammenhang wird allerdings an einem anderen Ort dargestellt werden. Allerdings wird Gottsched sich auf die Gattungstradition der Fabel berufen - aus Gründen, Ober die noch zu sprechen ist. NBWK 68, 1803, 185f.
8.
Der 'eigentliche Gegenstand der Poesie' 1
8.1
Das Fabelprinzip als poetologisches Angebot zu einer integrativen Instrumentalisierung des literarischen Textes
Von den zur literarischen pictura zählenden Aspekten läßt sich in der Aufklärungspoetik das Fabelprinzip als ein prägender Problemkontext abgrenzen. Auffälligerweise ist hierüber von den Poetologen deutlich weniger gesprochen worden als über all die Fragen der poetischen Malerei, der Nachahmung und Abbildung, obwohl unzweifelhaft die Zusammenhänge des Fabelprinzips hierarchisch höher angesiedelt werden.2 Diese Priorität ist in Gottscheds Critischer Dichtkunst dem Fabelprinzip auch noch deutlich eingeräumt, erst später, unter dem Vorrücken der sensualistisch begründeten Kunst- und Dichtungstheorie, gewannen die pictura-Themen immer mehr an Raum. Im Fabelprinzip hatte Gottsched ein simples Kommunikationsmodell benutzt, nach dem die literarische Fabel als Kodierung einer zuvor ausgewählten moralischen Wahrheit, eines Lehrsatzes fungiert. 3 Der Autor ist in diesem Modell sozusagen der Sender, der nach seiner Intention eine Botschaft einspeist, die vom Rezipienten als Empfanger eindeutig dekodiert werden kann. Durch die kommunikationstheoretische Lesart von Gottscheds Poetik lassen sich diejenigen Besonderheiten des Modells beleuchten, die im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts zu gravierenden Veränderungen des Fabelprinzips führten - vor allem die Frage der Eindeutigkeit solcher vermittelten Botschaften, also sozusagen der 'Kodierungsschlüssel'.
Lessing: Laokoon, Sämtliche Schriften 9, 95. Siehe hierzu wie zum Zusammenhang Brunemeier: Vieldeutigkeit und Rätselhaftigkeit, 12-42, hier bes. 14ff. Der Fabelbegriff tauchte im 18. Jahrhundert vornehmlich in drei Bedeutungen auf, als Gattungsbezeichnung, als Charakterisierung einer Geschichte als erfunden und in dem viel benutzten Sinn der Präsentationsform einer literarischen Handlung; siehe hierzu ausführlich Briegel-Florik: Geschichte der Fabelforschung in Deutschland. Gottsched übertrug die Gattungsmerkmale der (äsopischen) Fabel insgesamt auf die Dichtung.
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Gottsched war mit Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, daß der durch die vom Autor ersonnene Fabel veranschaulichte ethische Lehrsatz unzweifelhaft durch den Leser identifiziert werden konnte, daß sozusagen der Schlüssel, nach dem kodiert und dekodiert wurde, eindeutig und allen potentiellen Rezipienten zur Verfügung sei. Diese Prämisse sollte sich mit zunehmender Zersetzung der 'einen Welt' als falsch herausstellen. Parallel dazu mußte auch die Hoffnung schwinden, mit dem Verweis auf 'die Sittenlehre' ein begrenztes Arsenal möglicher literarischer Botschaften abzurufen. Dadurch aber entfiel eine wichtige Begünstigung der rezeptiven Dekorierung, deren Erfolg in einer eindeutigen Entschlüsselung durch die Erweiterung des Möglichkeitshorizontes der literarischen Nachrichten erheblich gefährdet wurde. Bei diesen Schwierigkeiten verwundert eine weitere der hier nur anzudeutenden Entwicklungen nicht. Als Motiv für diesen ganzen Kodierungsaufwand hatte Gottsched die wirksamere Veranschaulichungsleistung der moralisch funktionalisierten literarischen Fabel angeführt. Die Tugendlehren sollten dem aufzuklärenden Publikum mit der Fabel stärker eingeprägt werden, als es ethische Lehrbücher vermochten. Gerade hier setzte eine maßgebliche Entwicklung des weiteren Jahrhunderts an, denn: von vornherein sollte die literarische Fabel eben mehr sein, als nur die Kodierung einer moralischen Wahrheit. Um die am Fabelprinzip ansetzenden Dynamiken erfassen zu können, muß die literarhistorische Rekonstruktion das von Gottsched formulierte Prinzip genau in den Blick nehmen. Seine Leistungen müssen dabei aus Sicht der literarischen Texte beschrieben werden, obwohl Gottsched den logischen Ausgang bei der zu illustrierenden Wahrheit nahm, also bei der Fremdlegitimation der Dichtung. Zwar mag die Möglichkeit, die Poesie von ihren Wahrheitsleistungen her zu rechtfertigen, vornehmster Grund für die Explikation des Fabelprinzips gewesen sein4, dennoch reichten dessen Funktionen für die Texte weit darüber hinaus. Die neuem Theorieniveau genügende grundlegende Legitimation der Dichtung durch deren Unterordnung unter die ethischen Illustrationszwecke pointierte nur schon erprobte literarische Praxis in einem Prinzip, welches die dynamischen Entwicklungen im 18. Jahrhundert fokussieren läßt. Dabei galt das Fabelprinzip für all diejenigen Texte, die sich den Rechtfertigungsanforderungen Auf das hohe Ansehen, das die Fabel als Gattung im 18. Jahrhundert wieder gewann und die philosophischen Weihen, welche Wolff dieser im Barock wenig gelesenen Textform verlieh, ist vielfach hingewiesen worden; ebenso auf die in der literaturtheoretischen Debatte der Aufklärung eingetretene unauflösliche Verquickung des speziellen Gattungsbegriffs als äsopischer Fabel mit der allgemeinen Bestimmung als dichterische Eifindungsstruktur (Voßkamp: Romantheorie, 146). Siehe hierzu Jäger: Lehrdichtung, 535-544, sowie Harth: Christian Wölfls Begründung des Exempel- und Fabelgebrauchs.
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aussetzten und Wahrheitsansprüche trugen. Es ist eine der aufschlußreichsten Fragen für die Erklärung des gewaltigen Reputationsgewinns der Dichtung im 18. Jahrhundert, was den kontinuierlichen Zuwachs am Einfluß des Fabelprinzips für die Literatur bewirkte. Erprobt und eingesetzt worden ist das Fabelprinzip in gewisser Hinsicht bereits im Modell des hohen Barockromans, an dem sich auch die Leistungen der Reduktion und der Sinnzuweisung bewährten.5 Die Realisierung des Musters von Tugendlohn und Sündenstrafe gestattete den erzählenden Nachweis einer schon diesseits erfahrenen Gerechtigkeit der Welt - für die Sicht des Rezipienten, der sich zu solcher Erkenntnis erst durcharbeiten muß. Im Schema des hohen Barockromans fand sich jedoch ein wesentlicher Unterschied zu Gottscheds Fabelprinzip. Zunächst war nur die Erzählform für den Illustrationszweck instrumentalisiert, nicht aber die spezifische Fabelvariante. Weil es im Barock noch um die Durchsetzung eines allgemeinen Weltvertrauens im Horizont der positiven Anthropologie gegen einen Vanitas-Fatalismus ging, war das Modell einer Fabelkonstruktion selbst für die Sinnproduktion funktionalisiert. Die veranschaulichte Wahrheit blieb aber ein und dieselbe, unabhängig von der jeweiligen individuellen Handlung des Romans. Daher wies die sich am Ende zeigende providentielle Gerechtigkeit zwar jedem einzelnen Handlungsmoment nachträglich seinen Sinn in der Gesamtkonstruktion zu, umgekehrt aber konstituierte der Handlungsverlauf insofern nicht die Bedeutung des Textes, als streng genommen nur eine einzige Fabel6 erzählt werden durfte. Für Gottsched dagegen war die positive Anthropologie gültiger Sinnhorizont, innerhalb dessen der Wirkungsmechanismus des Fabelprinzips entfaltet wurde. Daher waren es im Versuch einer Oitischen Dichtkunst auch mehrere Wahrheiten, auf die sich die Verbildlichungsfunktion der literarischen Fabel beziehen konnte (hier befand man sich innerhalb der 'einen Welt')· 7 Indem in Gottscheds Fabel5
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Selbstverständlich dachte im 17. Jahrhundert kein Poetologe daran, die Wirkungsweise des hohen Romans mit der der wenig geachteten Fabel zu vergleichen. Auch wird Gottsched der aus der TextkOrze resultierende enge Zusammenhang zwischen erzähltem Exempel und vermittelter Lehre, wie er der Fabel traditionell eignete, gereizt haben, gerade dieses Gattungsmuster für die umfangreichen literaturtheoretischen Systematisierungen zu benutzen. Davon sollte jedoch der Blick für die funktionale Ähnlichkeit zum hohen Barockroman sowie die Vorbereitung des Gottschedschen Zugriffs auf die Fabel im Topos von prodesse und delectare nicht verstellt werden. Hier in Kaysers Sinne des reinen Schemas (W. Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, 77); zum Begriffsgebrauch siehe auch Lämmern Bauformen des Erzählens, 24ff. (Geschichte - story versus Fabel - plot), sowie Volek: Die Begriffe Fabel und Sujet in der modernen Literaturwissenschaft. Kayser hat schon früh darauf hingewiesen, daß die Fabel als literarische Gattung auf ein starres Lehrgebäude, einen verbindlichen Normenhorizont angewiesen war,
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definition der Lehrsatz bereits gegeben ist, überspielt sie allerdings, daß aus der Perspektive des Rezipienten die Moral erst gefunden werden muß. Sobald die zu erfahrende Wahrheit nicht mehr qua Gattungsdefinition unzweifelhaft feststand, eröffnete sich den Rezipienten die Schwierigkeit einer angemessenen Entzifferung. Wenn jeder Text seine eigene, nach den Intentionen des Autors ausgewählte Bedeutung haben konnte, stellten sich völlig neuartige Anforderungen an die Textrezeption (und -interpretation). Den Gefahren hermeneutischer Unbestimmtheiten und 'willkürlicher Dekodierungen' beugten zunächst etliche Steuerungsmechanismen vor. In erster Linie war dies die explizite Herausstellung der vom Autor ins Auge gefaßten Wahrheit in eingestreuten Reflexionen, Sentenzen und Kommentaren. Obwohl Gottsched in seiner Beschreibung der allegorischen Wahrheitsvermittlung durch die literarische Fabel8 eine sonnenklare9 Entsprechung zwischen der erzählten Handlung und dem zu illustrierenden Lehrsatz annahm, orientierten sich die meisten zeitgenössischen Erzähltexte an prosaischer Explizität, hoben vielfach sogar die gerade zu lernenden Tendenzen im Fettdruck heraus.10 Gottsched, der an eine vollständige Allegorisierung der literarischen Handlung für die transportierte Wahrheit dachte, sah solche Steuerungsmittel der Dekorierung als systematisch eingesetzte Hilfsmittel nicht vor. Er überspielte die
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und gerade deshalb im 16. und 18., nicht aber im 17. Jahrhundert großen Erfolg hatte. Wo der Sinn des Ganzen fraglich geworden ist, können keine verbindlichen Einzellehren allegorisiert werden. Von einem 'allegorischen' Verhältnis kann hier trotz der von Hermann betonten Ablehnung der eigentlichen Allegorie durch Gottsched gesprochen werden, wird doch in der Critischen Dichtkunst ausdrücklich die Fabel über die vier Eigenschaf-
ten charakterisiert: 1) Sie ist allgemein, 2) nachgeahmt, 3) erdichtet, 4) allegorisch, weil eine moralische Wahrheit darinn verborgen liegt (162; siehe zur Allegorie bei 10
Gottsched Hermann: Naturnachahmung und Einbildungskraft, 126). Critische Dichtkunst, 161. Ein besonders markantes Beispiel ist der 1709 anonym erschienene politische Roman Der Raffinierte Statist, worin die Lehrsätze und Einsichten nicht nur fett abgehoben sind, sondern mitunter auch in gebundener Rede erscheinen. Dieser Text ist deshalb auch ein bezeichnendes Beispiel für die erst allmählich vollzogene gänzliche Funktionalisierung der Fabel, weil hier der normativ lehrhafte Tonfall über weite Strecken vorherrscht. Obwohl hier die Lehren in einem Roman allegorisiert werden sollten, verliert der Text im Laufe des Erzählens immer mehr seinen kompositorischen Zusammenhalt und wird gegen Ende zur reinen Exempellehre. Der am Anfang in die Handlung eingeführte Ich-Erzähler gerät völlig zur Nebenfigur, auch andere Charaktere, die gelegentlich zur Hauptfigur geworden zu sein schienen, treten im Gang der Geschichte wieder völlig an den Rand. Die von einem solchen, in gewisser Hinsicht 'realistischer' erzählten Text bei modernen Rezipienten ausgelösten Widerstände verweisen ex negatione auf die Leistungen des Fabelprinzips: Die Ausrichtung der gesamten Handlungsstrukturen auf einen Bedeutungssinn schafft die Einheit der Komposition und erleichtert die Rezeption.
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Schwierigkeiten eines richtigen Verstehens der in Handlung umgesetzten Lehre in seiner Darstellung, indem er einfach bei der ausgewählten Wahrheit begann: Zu allererst wähle man sich einen lehrreichen moralischen Satz, der in dem ganzen Gedichte zum Grunde liegen soll [...]. Hierzu ersinne man sich eine ganz allgemeine Begebenheit, worinn eine Handlung vorkömmt, daran dieser erzählte Lehrsatz sehr augenscheinlich in die Sinne fallt.11
Indem der gesamte Text auf eine Bedeutung bezogen wurde, ergab sich aber aus der Rezipientenperspektive ein ganz anderer Eindruck. Was nämlich 'die Bedeutung des Textes' ist, seine von ihm veranschaulichte Wahrheit, ergibt sich für den Leser erst aus der Berücksichtigung aller Handlungssegmente. Dadurch konnten die hermeneutischen Probleme ungehindert in das Verhältnis von Text und Rezipient einbrechen, und die kritische Entscheidung darüber, was sich zu einer Fabel schicketn, wurde strenggenommen unmöglich. Denn dazu hätte der Rezipient die zur Illustration stehende Wahrheit zuvor erschlossen haben müssen. Wer sie aber zu kennen glaubte, konnte immer noch kein Urteil über die Angemessenheit einzelner Passagen des Textes abgeben, denn durch deren mögliche Veränderung oder Weglassung hätte sich ja auch die Materialbasis gewandelt, von der aus der Beurteilungsmaßstab, die Bedeutung, gewonnen worden war: der hermeneutische Zirkel literarischer Textinterpretation.13 Diesen Gefahren beugte Gottsched mit der Allgemeinheit der zu wählenden Wahrheit vor. Das bedeutete nicht nur die Bekanntheit - und daher leichtere Erschließbarkeit14 - des Lehrsatzes, sondern zugleich auch immer eine Begrenzung der möglichen Bedeutungen. Schon das zentrale Beispiel Gottscheds für die Arbeit mit dem Fabelprinzip illustriert, wie sehr die Verbindlichkeit eines normativen Vorwissens eigentlicher Garant eines problemlosen Leserunterrichts durch die Fabel war. Denn daß 'Ungerechtigkeit und Gewaltsamkeit' ein 'abscheulich La-
ster' seien, war wohl kaum die in Handlung umgesetzte Scharfe in Vernunftschlüssen und weniger ein Lehrsatz als eine Banalität.15 Die Simplizität von Gottscheds Poetik der Sentenzen-Amplifikation berücksichtigte die Grundbedingung von
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Critische Dichtkunst, 161. Ebenda. Ihm versucht zum Beispiel die ideologiekritische Hermeneutik zu entkommen, indem sie das Werk an einen textextern gewonnenen Maßstab, etwa den Stand der literarischen Produktivkräfte, das fortgeschrittenste Bewußtsein anlegt (Adorno: Ästhetische Theorie, 285). Siehe Gaedes Deutung von Gottscheds Fabelprinzip als Korrelat eines logischen Schlusses (Gottscheds Nachahmungstheorie und die Logik). Critische Dichtkunst, 161, 167, 161; mit den übrigen von Gottsched angeführten Beispielsätzen verhält es sich ähnlich.
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Verstehensprozessen, die immer nur in bezug auf etwas Bekanntes gelingen können.16 Derartig rabulistisch anmutende Schwierigkeiten wurden bei Gottsched mit der stupenden Eindeutigkeit der Beispiele einfach abgeschnitten, denn die leichte und eindeutige Erkennbarkeit schien im Kontext einer aufklärerischen Tugendlehre gewahrt. Je stärker sich aber im Verlauf des Jahrhunderts die Geltung des Sinnhorizonts zersetzte, in welchem die Wahrheit solcher allgemeinen Sentenzen verortet war, desto mehr trat die angedeutete hermeneutische Dekodierungsproblematik hervor. Weshalb gleichwohl bis heute die Hoffnung auf angemessene Interpretation von literarischen Texten nicht aufgegeben worden ist, macht ein Blick auf die Leistungen des Fabelprinzips kenntlich, wie sie in Gottscheds Formulierungen hervortreten. Seine oben zitierten Ausführungen machen nämlich deutlich, daß es beim Fabelprinzip um die allegorisierende Übersetzung einer allgemeinen Wahrheit in eine abstrakte Handlungsabfolge ging, die dann erst nach bestimmten Gattungsreglements ausgeschmückt werden sollte. Die Perspektive des Rezipienten, der sich einer ausführlichen Geschichte gegenüber sieht und aus ihr den gemeinten Sinn erschließen soll, taucht in dieser Beschreibung nicht auf. Dennoch zeigen Gottscheds Formulierungen exakt den Wirkungszusammenhang des Fabelprinzips. Erst die Zwischenebene der ganz allgemeinen Begebenheit, des 17
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ersten Entwurfs einer poetisch-moralischen Fabel, des 'Schemas', verspricht eine reibungslose Transformationsmöglichkeit von Lehre in literarische Handlung und umgekehrt. In diesen Verweisungsmechanismen bestand die Funktion des Fabelprinzips, das sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer größere Geltung für die Literatur verschaffte. Durch jene schematische Ebene der Fabel erfuhren alle Handlungselemente integrative Sinnzuweisungen, durch die ein kohärenter Kontext konstituiert wurde. Zugleich gewann man so ein Stimmigkeitskriterium, das von der literarischen Kritik angeführt werden konnte. Eine Handlung hat ihre eigene, immanente logische Folgerichtigkeit. Diese wiederum liefert scheinbar auch die Reduktionsanweisungen, mit deren Hilfe es gelingen kann, von der Gänze eine Erzählung auf das Schema der Fabel zu schließen. Darin liegt der systematische Grund für die bis heute im Schulunterricht geübten 'Inhaltsangaben', deren methodische Berechtigung mit guten Gründen bestritten werden mag.19 Doch ohne solche Reduktionen kommt keine Interpretation eines längeren Er16
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Siehe Gadamer: Wahrheit und Methode, bes. 250-360. Critische Dichtkunst, 96. Wichtig ist, dafi Gottsched sowohl dieses Schema als auch die ausgeführte literarische Handlung mit 'Fabel' bezeichnet. Die begrifflichen Uneindeutigkeiten hat er sich hier extensiv zunutze gemacht. Siehe ebenda. Siehe auch Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, 73.
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Zähltextes aus; erst derartige Schemen und Inhaltsresümees gestatten den Schluß von einer Fabel auf eine Bedeutung. Bei etwas komplizierteren Handlungen ergeben sich hier leicht große Zuordnungsprobleme, was Gottsched offenbar unterschätzte, zum Amüsement seiner Kritiker aber mit den eigenen Interpretationsversuchen reichlich illustrierte. So hatte nach Gottscheds Darlegung Homer die Ilias allein zur Illustration der einen moralischen Wahrheit geschrieben: 'die Mißhälligkeit unter den Großen eines Volkes, ist verderblich; die Eintracht aber überaus zuträglich'.™ Die eigene Logik einer Handlung kann der Rezipient gerade dann erfassen, wenn er mit der 'Natur des Menschen', der Gesetzmäßigkeit seines Handelns, vertraut ist. Für den Kontext der Früh- und Hochaufklärung war diese Rationalität menschlichen Handelns im Horizont aufklärerischer Normativität verbindlich gegeben. Sie ist daher sozusagen als der Reduktionsschlüssel anzusetzen, nachdem die ausführlichen Erzählungen auf ein Fabelschema einzuschränken waren und umgekehrt die allgemeine Wahrheit eines Fabelentwurfs in ausführliche, anschauliche und unterhaltsame Handlung ausgeweitet werden konnten. Auch als die Eindimensionalität der 'einen Welt' aufklärerischer Vernunft- und Tugendverbindlichkeit durch die Ausdifferenzierung verschiedener, zum Teil divergierender Diskurse zunehmend ersetzt wurde, verfiel der Verweisungsmechanismus zwischen Bedeutung, Fabelschema und erzählter Handlung noch nicht beliebiger Vieldeutigkeit, denn indem die literarischen Texte an die Gesetze der menschlichen Natur und der Diskurse angeschlossen wurden, blieben die Rezipienten bei Kenntnis der jeweiligen Diskursgrammatik fähig, die eigene Rationalität der geschilderten Handlung zu erfassen und daher Geschichten auch auf ihr Schema zu reduzieren. Damit war eine Ausgangsebene gewonnen, die zwar eine große Zahl von Übersetzungen in Bedeutung zuließ, aber dennoch keine völlige Beliebigkeit freigab. Gottsched beschrieb also mit seinen Formulierungen ein dreigliedriges Modell von enormer Wirkung. Dabei entstand zwischen Bedeutung, Schema und Erzählung21 offenbar eine funktionale Spannung, welche die Nutzung dieses Modells aus Autoren- wie aus Rezipientensicht immer stärker empfohlen haben dürfte. Die besondere Eignung des Fabelprinzips in dieser Dreigliedrigkeit lag in der Chance, die beiden wichtigsten, kontrastiven Formen der literarischen Wirklichkeitspräsentation hier systematisch zusammenzufassen. Denn während das Fabelschema die traditionelle allegorische repraesentatio übernahm, ließ sich der 'Ausschmückung' dieses Entwurfs zu einer eigentlichen Erzählung die Auf-
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Critische Dichtkunst, 472. Gottscheds Begriffe sind: Wahrheit/ Lehrsatz - Entwurf der Fabel - Ausschmückung/ Naturnachahmung.
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gäbe der abbildlichen Wirklichkeitsnachahmung (im Sinne von Gottscheds ersten beiden Formen der Nachahmung)22 zuweisen. Zugleich waren aber beide Ebenen instrumentell an die Wahrheitsillustration gebunden, so daß im Fabelprinzip auch ein überzeugendes Kriterium der Handlungsbegrenzung und der Handlungseinheit bereitstand.23 Damit war zugleich jedoch noch mehr gewonnen: nämlich die potentiell vollständige Einbindung aller Textmomente in den Sinnzusammenhang der gesamten Verweisungskonstellation. Was in diesem Systematisierungsentwurf von Dichtung angeboten wurde, verband mit der moralischen Legitimation der poetischen Erfindung eine integrale Verschmelzung des prodesse mit dem delectare. Indem das prodesse in der Fabel vollständig mediatisiert werden konnte, bedurfte die so gearbeitete Dichtung keiner Störungen des Leserinteresses durch eingeschobene, legitimierende moralische Reflexionen und Sentenzen.24 Diese Konsequenz des Fabelprinzips mußte besonders dem Roman als einer Gattung entgegenkommen, welche ihren epochalen Erfolg bei den neu gewonnenen Leserschichten allemal mehr der Befriedigung der delectare-Interessen verdankte. In der funktionalen Verschmelzung von Nutzen und Vergnügen im Fabelprinzip lag vermutlich 'die' prägende Dichtungskonzeption der Neuzeit, im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer mehr an Einfluß gewinnend. Das ist insofern ein erstaunlicher Befund, als in den theoretischen Debatten des Jahrhunderts das Fabelprinzip nur selten auftaucht, von allen möglichen Fragen der pictura aber immer wieder die Rede war. Hier tut sich eine beachtliche Differenz zwi22
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Das hieß für Gottsched: die mimetischen Dimensionen titerarischer Vertextung (Wahrscheinlichkeit, Naturnachahmung) konnten begrifflich-logisch ins Fabelprinzip integriert werden. Hermann übersieht diese besondere Polyfunktional ität des Fabelprinzips und konstatiert nur kommentarlos, daß Gottsched die Fabel eben an die Stelle der traditionellen Instrumente der Einheitsstiftung, decorum und Wahrscheinlichkeitsgebot, setze. Daran, daß beide aber nach Hermann damals und später ohnehin galten, zeigt sich schon, wie wenig dies jeweils ausgezeichnete Mittel zur Begrenzung der Handlung waren (Hermann: Naturnachahmung, 131). Siehe hierzu bereits das Raisonnement über die Romane, worin 1708 eine forcierte Mediatisierung des prodesse ins delectare gefordert wurde - unter Berufung auf die verbreitete Klage, daß die zum Nutzen in die Romane eingeschobenen herrlichsten Discourse von Ländern/ und Insuln/ und derer Beschreibung/ die schönsten Morgensegen/ und Disputationes gern überschlagen wurden: Ich wollte haben/ sie [die Erfindungen] sollten zugleich belustigen und auch zugleich nutzen! und betaure ich von Hertzen/ daß der pretendirte Nutzen mehrerwehnter Autorum mehrentheüs/ wo nicht allemal QberhQpffiet wird/ wovon ich keine andere Raison zu geben weiß/ als daß die Historie, wegen ihrer Annehmlichkeit gerne will continuiret seyn/ jene Materien aber/ die viel zu ernsthafflig sind/ sehr Obel dazwischen gemenget worden/ diese Annehmlichkeit zu hindern. Kurtz zu sagen: daß sie sich gar nicht zusammen schicken. (15; 16)
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sehen der Theoriegeschichte und der tatsächlichen Entwicklung der Texte auf. Das ganze poetologische und literaturkritische Begriffsarsenal der Aufklärung wurde von pictura-Termini und pictura-Metaphorik beherrscht,25 gleichwohl gewann die Logik des Fabelprinzips kontinuierlich an Macht. Ablesen läßt sich dies zum Beispiel indirekt an der immer kritischeren Bewertung von fabelunabhängigen Einschüben, Episoden und Abschweifungen durch die Romanrezensio26
nen. Trotz mancher theoretischer Abhandlungen über die Fabel (vor allem als Gattung)27 spielte der Fabelbegriff selbst in den Romanrezensionen kaum eine Rolle. Einen gewissen Anhalt für die zunehmende Macht der von Gottsched skizzierten Konzeptionen bieten Handlungs- und Einheitsbegriff, ein deutliches Signal dagegen ist das immer häufiger auftauchende 'Ganze' eines Textes. Dieses zeigt signifikant die entscheidende Funktionalität des Fabelprinzips als eines totalisierenden Integrals aller Textsegmente an. Doch was in Gottscheds Versuch einer systematischen Dichtungstheorie sich zunächst als Möglichkeit abzeichnete, bedurfte noch eines langwierigen Durchsetzungsprozesses gegen die vorherrschende literarische Praxis gerade der anspruchsvollen Texte, in denen nach 25
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Uberraschenderweise vermittelt ausgerechnet H.C. Buchs Untersuchung mit dem Titel Ut Pictura Poesis einen anderen Eindruck. Dies liegt aber an der Konzentration der Arbeit auf die als eigenes Genre thematisierte malende Poesie (von Brockes, Kleist, Haller). Dadurch wird Buch zu der (ungewöhnlichen) relativierenden Einschätzung auch von Lessings Laokoon verleitet, daß dessen tatsächliche Bedeutung sehr viel geringer gewesen sei, als einige berühmte Äußerungen - vor allem Goethes viel zitierte Bemerkung aus Dichtung und Wahrheit - suggerierten: Die beschreibende Poesie war, in praktischer und theoretischer Hinsicht, gestorben, lange bevor Lessing ihr offiziell den 'Todesstoß' versetzte. (58) So unzweifelhaft richtig diese Einschätzung ist, geht doch die damit zusammenhängende Relativierung der pictura-Topologie an der literarhistorischen Realität von Dichtungstheorie und -praxis der Aufklärung vorbei. Siehe auch 57f.: Darüber hinaus war die Gleichsetzung von Malerei und Poesie, die Lessing so energisch bekämpft, als handele es sich um eine höchstgeftthrliche Irrlehre, nie viel mehr gewesen als ein rhetorischer Topos. Lessings Kontrahent im Laokoon war aber nicht die malende Poesie eines Hallers gewesen, sondern die gesamte Orientierung der Dichtung an der Malerei (siehe hierzu etwa auch Peter Kobbe: Symbol, in: Reallexikon 4, 312f.). Ein sehr wichtiges Beispiel ist Wezeis Kritik an Hermes und seinem an sich so edeln und rühmlichen Vorsatze, wo Vergnügen, Gefallen, Kunst der Nützlichkeit und dem Unterricht untergeordnet seien; dadurch könne wohl ein gutes, brauchbares, lehrreiches Buch entstehen, das Genie aber laufe zu sehr Gefahr, in den Fesseln, die ihm die Hauptabsicht anlege, einen nicht hinlänglich 'freyen', einen unsicheren Gang anzunehmen, Begebenheiten oft, um einen zufälligen moralischen Nutzen zu erhäschen, anders zu verknüpfen, Situationen anders anzulegen, als es der Effekt des Ganzen verlange (NBWK 19, 1776, 270; siehe dort auch ausführlich den Zusammenhang). Siehe hierzu Leibfried: Fabel.
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der im 17. Jahrhundert eingespielten Horaz-Deutung das prodesse neben dem und nicht durch das delectare realisiert wurde. Der Prozeß dieser fortschreitenden instrumenteilen Totalisierung der Texte blieb ohnehin abhängig von der Rezeptionskompetenz der Leser, zu deren Verstände der Romanschreiber Vertrauen haben mußte, wenn er nicht aus einer ieden Geschichte einen moralischen Satz zog 28
und denselben mit grossen Buchstaben drucken
ließ.
Allerdings scheint es grundsätzlich kaum möglich, den Rezeptionsprozeß so zu steuern, daß die intendierte Bedeutung auch sicher von den Lesern aus der ersonnenen Fabel erschlossen wird. Schon die 1744 erschienenen Einigen Gedanken und Regeln von deutschen Romanen erörterten diese Frage ausführlich. Gerade im Interesse eines ungestörten Lesevergnügens, das zugleich nützlich sein sollte, plädiert der anonyme Romantheoretiker für eine vollständige Mediatisierung der Handlung im Sinne des Fabelprinzips. Das literarische Beispiel sollte durch sich selbst lehrreich sein, nicht aber erst durch die ethischen Erläuterungen und Ausdeutungen des Erzählers. Inhaltlich wurde dazu allerdings als mögliche Botschaft allein Tugendlohn und Sündenstrafe in Erwägung gezogen. Unter dieser Bedingung hätte eine 'richtige' Entschlüsselung des fabula docet wahrlich kaum die Fähigkeit des geringsten Verstandes überschritten : Ich gestehe, daß dieser Einwurf [über die Notwendigkeit der erzählerischen Erläuterungen] Grund haben würde, wenn zu der Erfindung der moralischen Wahrheiten aus den erdichteten Begebenheiten eine grosse Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten erfordert würde. Aber was ist leichter als dieses, wenn nur der Roman gut geschrieben ist? Dem Leser werden die Handlungen einiger Personen förgestellet, welche diese in gewisse Umstände versetzen, darinnen sie glücklich oder unglückselig sind. Welcher Schluß ist nun wol leichter, und der menschlichen Natur gemässer, als dieser: Jene Handlungen müssen nachgeahmt, und diese vermieden werden?29
Wer also eine konsequente Funktionalisierung des Erzähltextes im Dienste einer figuralen Wahrheitsillustration propagierte und damit den künstlerischen Möglichkeiten des Romans einen großen Freiraum gestattete, der mußte offenbar zugleich das Allegorisierungsverfahren bis zur Banalität vereindeutigen. Größere Freiheit im Umgang mit den Unterhaltungsbedürfnissen der Leser war nur zu erkaufen mit einer vollständigen regulativen Beschränkung des dichterischen Aussagenrepertoires. Die hier aufscheinende Relation erhellt, wie präzis der 'Dekodierungsschlüssel' sein muß, wenn man bei dieser literarischen Kommunikationsform kein Risiko von Mehrdeutigkeit eingehen will. Unter dem noch starken Legitimations28 29
Solches Vertrauen empfahlen schon Einige Gedanken und Regeln 1744 (Zitat 39). Einige Gedanken und Regeln, 40f.
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druck besonders der Prosadichtung in den mittleren Dekaden des Jahrhunderts waren daher weitere Steuerungsmittel der Rezeption gefragt, denn so weitgehend ließen sich die Produktionsanweisungen für die Romanciers nicht mehr harmonisieren, die unterschiedlichen Autorintentionen nicht im Bann der fundamentalen Sinnfrage bündeln, wie das für den hohen Barockroman gegolten hatte. Gerade weil die irdische Glückseligkeit des Tugendhaften im Horizont der aufklärerischen Öffentlichkeit (für etwa ein halbes Jahrhundert) nicht zweifelhaft war, konnten die allegorischen Aussagen der Erzähltexte nicht mehr auf diese Gerechtigkeitsversicherung uniformiert werden. Auch die barocke Romantheorie hatte unterschiedliche Autorenintentionen 30 gekannt, doch trat deren Wertigkeit angesichts der übergeordneten semantischen Alternative vom umfassenden Vanitas-Verdacht und der Versicherung diesseitiger Gerechtigkeit zurück. Da die hierarchiehöchste Botschaft der Romane in der Hochaufklärung also fast zu einer - künstlich etablierten - Selbstverständlichkeit geworden war, erhielten die darunter liegenden, von den differenzierenden Verfasser-Intentionen abhängigen Aussagevarianten, wie sie sich in der jeweiligen Fabelgestaltung realisierten, größere Relevanz. Vor dem verbindlichen Kontext diesseitiger Sinnhaftigkeit avancierte das je individuelle Textgepräge zur eigentlich differenten Information. Denn sobald die Sinnhaftigkeit der Welt nicht mehr fraglich war, verlor diese höchste Sinnebene des Erzähltextes ihren Informationswert. Deshalb konnte nun grundsätzlich jede einzelne Fabel eine eigene Bedeutung transportieren. Dem versuchte Gottsched vorzubeugen, indem er nur eine durch die Tugendlehre begrenzte Zahl von möglichen Aussagen zuließ und ein sehr genaues Entsprechungsverhältnis zwischen solchen Lehrsätzen und den zu ihrer ('sonnenklaren') Illustration ersonnenen Fabeln forderte.31 Selbst diese Begrenzungsversuche ließen sich aber nur aus der Produktionsperspektive einigermaßen schlüssig entfalten. Die Abhandlung von den Einigen Gedanken und Regeln dagegen reflektierte die Rezipientenperspektive und vermochte dann die Eindeutigkeit der literarischen Botschaft nur dadurch sicherzustellen, daß das Publikum die Texte auf Tugendlohn und Sün30 31
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Siehe etwa Birken in: [Anton Ulrich,] Aramena 1,)(iiij . Novalis schrieb noch über den Fabeldichter: Er komponirte eine Begebenheit - eine
hieroglyphische Formel - die nichts, als den Satz, enthielt, und so physiognomisch sprechend war, daß man ihre Seele nicht verfehlen konnte - daß man bei ihrer Anhörimg, bey dieser geistigen Nachbildung, nothwendig den darinn verborgenen Satz nothwendig mit nachbilden - und auch sogleich weil man wissentlich ein Menschenwerck, das Produkt einer Absicht, nachbildete, denselben durch Aufinercksamkeit absondern, und als Zweck des Wercks anerkennen mußte. Eben diese unverfallbare Eindeutigkeit der Gattung Fabel wollte sich Gottsched fur die literarische Kommunikation insgesamt zunutze machen. (Novalis: Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen [Nr. 2141, Schriften 2, 571)
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denstrafe hin lesen, also das inzwischen Geläufige noch einmal als Information rezipieren sollte. Bot das Fabelprinzip also einerseits sehr willkommene Legitimationseffekte für die Dichtung insgesamt, indem diese der Vermittlung eines nützlichen Sinns unterworfen werden konnte, so barg das Konzept andererseits vor allem eine gravierende Gefahr: selbst wenn die Autoren ihr Werk solchen untadeligen Zwecken dienstbar machten, blieb die 'richtige' Entzifferung der Botschaft durch die zu belehrenden Rezipienten zweifelhaft. Angesichts dieser Problematik verwundert es nicht, daß schon Gottsched trotz seiner Priorisierung des Fabelprinzips zur Kontrolle des literarischen Kommunikationsprozesses zugleich auf mehrere pictura-Verfahren setzte. Alle die großen dichtungstheoretischen Themen des 18. Jahrhunderts gehören zum pictura-Bereich, die Erörterungen sämtlicher Fragen der poetischen Malerei, der Gegensatz vom Wunderbaren und Wahrscheinlichen und die Naturnachahmung. Dennoch sind selbst in Breitingers Critischer Dichtkunst, die sich so vornehmlich mit diesen pictura-Themen befaßt, systematisch diese dem Fabelprinzip untergeordnet, sollen alle dichterischen Bemühungen der allegorischen Übermittlung einer moralischen Wahrheit und der Bildung eines künstlerischen 'Ganzen' dienen. Den besonderen Möglichkeiten und Problemen der erzählenden Gattungen, aber auch insgesamt der literarischen Handlung, wurde die dichtungstheoretische Fixierung auf die bildende Kunst jedoch wenig gerecht. Lessing versuchte, die fallige Umbesetzung im Laokoon-Aufsatz einzuleiten und die Theorien vom 'ut pictura poesis' auf die Binnenrationalität der Fabel umzulenken. 32 Lessings Argumentation belegt dabei die eigentümliche Leistung der literarischen Handlung, die an die Stelle der poetischen Malerei und der Beschreibung treten soll. An den verschiedenen Beispielen der poetischen Schilderung von körperlicher Vollkommenheit wird die prinzipielle Unfähigkeit der dichterischen Sprache zu 'Malerei' und unmittelbarer Nachahmung illustriert. 33 Homer, dem man Blind32 Siehe hierzu (mit den oben erwähnten Bedenken) Buch: Ut Pictura Poesis, 30-60, sowie die Beiträge des von Gebauer herausgegebenen 'Laokoon '-Projekts, worin Lessings Text als der Anhing einer semiotischen Ästhetik erörtert wird; zum wirkungsgeschichtlichen Aspekt siehe etwa Hamm: die Argumentation des Laokoon. Hier zum Beispiel Laokoon, Sämtliche Schriften 9, 129.: So weis auch Lucian von der Schönheit der Panthea anders keinen Begriff zu machen, als durch Verweisung auf die schönsten weiblichen Bildsäulen alter Künstler. Was heißt aber dieses sonst, als bekennen, daß die Sprache vor sich selbst hier ohne Kraft ist; dqß die Poesie stammelt und die Beredsamkeit verstummet, wenn ihnen nicht die Kunst noch einigermassen zur Dolmetscherin dient? Dagegen steht das Lob Homers, der nicht die Schönheit der Helena beschreibt, sondern das Urteil eines Greises aus dem Trojanischen Ältestenrat, der nach dem Anblick Helenas diese für einen würdigen Kriegsgrund hält: Was kann eine lebhaftere Idee von Schönheit gewähren, als das kalte
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heit nachsagte, diente Lessing als Parade-Beispiel für eine dichterische Kunst, die ihre ganz eigene Kommunikationsleistung in der durch die Erzählung (von 34
Bewegung oder Handlung) vermittelten Rationalität umzusetzen sucht. Der Blick auf die poetologische Konzeption des Fabelprinzips im 18. Jahrhundert zeigt einige grundlegende Bedingungen dieser äußerst wichtigen Vertex tungsform von Erzählliteratur. In der bisherigen Forschung meist nur im Zusammenhang der aufklärerischen Standardpoetiken von Gottsched35 und Breitinger am Rande behandelt, ist dieser theoretische Entwurf zur gezielten Ausstattung eines literarischen Textes mit Wahrheit überwiegend als allzu simples Konzept typisch rationalistischer Aufklärungspoetik belächelt worden. Dabei werden meist ganz andere Traditionsanschlüsse als die hier betonten hergestellt. 36 Einerseits geht es hier um den formalen Zusammenhang des Fabelprinzips mit dem im hohen Barockroman entwickelten Erzählmodell, dem es gelungen war, eine 'sinnvermittelnde' Integration aller Textmomente im Bezug auf eine übergeordnete Bedeutung zu entfalten. Überzeugungskraft hatte diese Erzählweise gerade dadurch gewonnen, daß die erzählte literarische Handlung gerade nicht von jeder Textstelle aus auf den vermittelten 'Sinn des Ganzen' hin durchschaut werden konnte. Zwar klingt Gottscheds Formulierung des Fabelprinzips demgegenüber tatsächlich einigermaßen einfach, und Gottsched dürfte es durchaus wichtig gewesen sein, daß im Lesen ständig die übergeordnete Wahrheit erkennbar war. Aber sowie diese Vertextungsform auf den - Gottsched zunächst fernstehenden Roman bezogen wurde, zeigten sich sogleich jene Vorteile eines integrativen Erzählens, wie sie die Einigen Gedanken und Regeln von deutschen Romanen illustrieren. In Anwendung auf die Erzählliteratur zeigt das Fabelprinzip leicht seine Möglichkeiten, delectare und prodesse buchstäblich miteinander zu vermitteln,
Alter sie des Krieges wohl werth erkennen lassen, der so viel Blut und viel Thränen kostet (Schriften 9, 130). 34
36
Eben der Homer, welcher sich allen stückweisen Schilderungen körperlicher Schönheiten so geflissentlich enthalt [...], weis dem ohngeachtet und von ihrer Schönheit einen Begriff zu machen, der alles weit übersteiget, was die [bildende] Kunst in dieser Absicht zu leisten im Stande ist. (Laokoon, Sämtliche Schriften 9, 129; siehe hierzu auch die Argumentation in Kap. XVI, 94-101) Da Lessing allerdings bereits die Eigentätigkeit des Lesers im Rezeptionsakt angeregt, die Einbildungskraft gestärkt sehen wollte, ging es ihm auch weniger um die kontrollierte Vermittlung literarischer Botschaften - ein Problem, das durch die gesamte Unterordnung der Laoλοο/ι-Abhandlung unter Mimesisfragen vermieden wird, die Legitimation der Dichtung ist wegen ihrer grundsätzlichen Nachahmung der schönen Natur gar nicht fraglich. (Siehe Laokoon, Sämtliche Schriften 9, 19) Siehe etwa Hermann: Naturnachahmung und Einbildungskraft, 124f. Hermann sieht die strenge Funktionalität der Fabel vor allem in der Rhetorik-Tradition der persuasio (Naturnachahmung und Einbildungskraft, 129).
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indem erst aus der Kenntnis der ganzen Fabel die Bedeutung erschlossen werden kann. Allerdings wurden die vom Fabelprinzip für die Erzählliteratur bereitgestellten Möglichkeiten während der Hochaufklärung weitgehend durch die Sorge gebremst, daß die Kommunikation mit dem Leser nicht genügend kontrolliert werden könne, der Leser sozusagen zum Verstehenssouverän werde. Dieser Bremseffekt lenkt den Blick auf den zweiten hier zu betonenden Traditionsanschluß des Fabelprinzips - den zukunftsweisenden zur 'modernen' Genieästhetik. Die Autorintention nämlich steht in deutlicher Tradition des Fabelprinzips, auch wenn die freie Wahl der Absichten in Barock und Hochaufklärung noch von übergeordneten normativen Verbindlichkeiten eingeschränkt wurde. Mit der Freigabe dieser normativen Kontrollen (oder Sicherheiten) mußte die individuelle Intention an Bedeutung gewinnen. Denn je weniger alle inhaltlichen Vorgaben literarischer Vertextung unter vorgängiger Normierung standen, desto mehr gewann der Erzähltext allein aus dem Bezug auf die Autorintention seine Einheit. So gestattet die literarhistorische Rekonstruktion des Fabelprinzips einen vielleicht ungewöhnlichen Blick auf den literaturwissenschaftlich nur noch wenig geschätzten Einheitsbegriff.37
8.2
Die literarische Fabel als Medium zwischen Text und Sinn
Was die romantheoretische Reflexion der Einigen Gedanken und Regeln schon 1744 normativ als die streng funktional gestraffte Realisierung des Fabelprinzips explizierte, kann als ein Angebot verstanden werden, auf das die Gattungsgeschichte des Romans bei Bedarf zurückgriff. In der deutschen Romanpraxis der ersten Jahrhunderthälfte allerdings gab es nur vage Realisationen des Fabelprinzips. Von Loens Redlicher Mann am Hofe ist da schon eher eine Ausnahme, und auch bei ihr geht es mehr um die Exemplarizität einzelner Figuren oder Höfe als um die kompositorische Durchorganisation der gesamten Geschichte auf eine zu übermittelnde Bedeutung hin, so daß eher von einer Nutzung des Fabelprinzips für einzelne Episoden gesprochen werden könnte.38 Die übrigen Romane vor der 37
38
Neuerdings wird dieser gerade in der systemtheoretischen Beschreibung des Kunstsystems wieder herausgehoben; siehe Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, 628 u.ö. Siehe hierzu auch die Vorrede, wo diese Technik explizit genannt ist. Immerhin beruft sich von Loen auch auf die Verknüpfung von Ernsthafftigkeit und Munterkeit, prodesse und delectare ():( 2 r ). Zur humanistischen Tradition rhetorischer Pragmatik, an die sich von Loen ungebrochen anschließt, siehe Harth (Romane und ihre Leser).
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Jahrhundertmitte waren vielfach dadurch gekennzeichnet, daß an ihnen neben den Unterhaltungszwecken kaum eine übergreifende Intention zu erkennen war, noch viel weniger war eine solche als in der Fabelstruktur mediatisiert auszumachen. Mit einer Fülle von Episoden und Einschüben wurde die Haupthandlung, kaum eindeutig zu erkennen, immer wieder unterbrochen, ohne daß sich daraus ein kunstvoller Schachtelbau ergab, der - nach dem Modell des hohen Barockromans - mit den Retardationen die Spannung verlängerte.39 Vielmehr scheint es den Autoren weitgehend auf die Fabel gar nicht angekommen zu sein, so daß mitunter die scheinbare Haupthandlung eines Romans ohne erkennbare inhaltliche Abrundung, ohne Pointe abbricht. Auch die Episoden lassen oft jede Andeutung ihres funktionalen Stellenwertes im Rahmen der gesamten Geschichte vermissen, behalten 'Klatsch'-Charakter.40 Zwar wird in vielen Texten das allgemeine Muster einer bürgerlichen Aufstiegsbiographie eingehalten (also eine überwiegende Nutzung des Providenzschemas), aber die Episodenerzählung sprengt oftmals diesen Rahmen. Unterstellt man nicht einfach, daß, binnen weniger Jahrzehnte, die komplexe Bautechnik des hohen Barockromans unverständlich geworden sei,41 dann lohnt es sich, einmal nach den Kommunikationsbedingungen eines literarischen Erzählens zu fragen, daß einer ordnenden Präsentationstechnik offenbar weniger bedurfte. Eine Antwort könnte in der weitgehenden Deckung der Bewußtseinshorizonte zwischen einem in seiner sozialen Schichtung recht harmonischen Publikum und den Autoren zu suchen sein. 'Klatsch' wird nur innerhalb eines begrenzten, bekannten Rezeptionskontextes interessant, in dem die Voraussetzungen nicht mitgenannt werden müssen, unter denen das Berichtete zur Information wird.43 Bezeichnenderweise nahmen die Romane vor der Jahrhundertmitte die aufklärerischen Moralisierungstendenzen - außer mit Beteuerungen in den Vorworten - nur zum Teil auf.44 Daher erklärt sich auch die auf die 'bürgerlichen' Abenteuer- und Robinsonadenromane übertragene Romanfeindlichkeit der moralischen Wochenschriften, die an diesen Werken doch die sonst befehdete erotische Libertinage nicht beanstanden konnten. Positiv formuliert heißt das für 39 40
41 42
43 44
Schnabels Wunderliche FATA waren hier eine der wenigen Ausnahmen. Siehe hierzu wie zu dem Zusammenhang ausführlich Goetz: Der frühe bürgerliche Roman, 99-122. Goetz sind nur zwei Beispiele begegnet, in denen nicht nach dieser rein assoziativen Episodentechnik erzählt wird, sondern die Handlung einsträngig fortläuft (Brandenburgischer Robinson; 1744; Schweizerischer Avanturier; 1750). Siehe auch Fohrmann: Abenteuer und Bürgertum, 165-170. So etwa Goetz: Der frühe bürgerliche Roman, 127. Siehe hierzu etwa die Untersuchungen Fohrmanns über die möglichen Rezipienten und Autoren der Robinsonaden (Abenteuer und Bürgertum, 26-41). Siehe hierzu auch Stempel: Fiktion in konversationellen Erzählungen. Siehe Goetz: Der frühe bürgerliche Roman 136.
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die Erzählform des neuen Romans in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Solange für ein begrenztes und in seinen Normen und Kenntnissen berechenbares Publikum geschrieben wurde, war der erzählerische Aufwand zu einer komplexen hypotaktischen Integration der Stoffmassen in einem präzis kalkulierten Fabelaufbau für eine hinreichende Befriedigung der Leserinteressen kaum nötig, die eben auch mit assoziativ eingeschobenen Episoden bedient werden konnten. Auch das moralisch-didaktisch instrumentalisierte Erzählen, dem sich die moralischen Wochenschriften bedienten, verwandte keine Fabeltechnik, sondern einfache Exempel von unmittelbar eindeutiger Anschaulichkeit. Diese Praxis ähnelt also in gewisser Hinsicht der der so gescholtenen gleichzeitigen Romane und blieb einer noch relativ gering ausgebildeten Reflexion der realen Differenzen im Bewußtseins- und Normenhorizont zwischen Autoren und Rezipienten verpflichtet.4S Immerhin folgten jedoch diese Zeitschriften im Aufgreifen der traditionellen Exempellehre insofern dem Fabelprinzip, als es nach allgemeiner Programmatik darum gehen sollte, das Angenehme mit dem Nützlichen46 zu verbinden, das prodesse also im delectare zu vermitteln. Bisher hat die Forschung zum (späteren) Aufklärungsroman, eher an Gattungstraditionen interessiert, kaum zur Kenntnis genommen, daß neben manchen anderen genetischen Einflüssen durchaus mit Recht von der Entstehung des Romans aus der moralischen Wochenschrift4 gesprochen werden kann. Naheliegenderweise hat zuerst Martens bei seiner ausführlichen Analyse dieser Zeitschriften deren strukturellen Nähe i d
zum Roman in mehrerlei Hinsicht herausgestellt. In einem zentralen Gattungsmerkmal unterscheiden sich die moralischen Wochenschriften allerdings von den assoziativen Reihungen in den meisten zeitgenössischen Romanen der ersten Jahrhunderthälfte, nämlich in der Einfügung alles Episodischen in ein übergreifendes Figurenensemble mit einer fest vorgegebenen Gesprächssituation. Gerade diese Dialogfingierung reagierte auf das grundsätzliche Problem der Bewußtseinsdifferenzen mit der Fiktion einer dialogischen Vermittlung. Die Universalität der moralisierenden Geltungsansprüche stand im antinomischen Ge45 47
Siehe hierzu Martens: Die Botschaft der Tugend, bes. Teile 1 und 2. So der Titel einer moralischen Wochenschrift, die 17SS-S6 in Zürich erschien. Siehe Günter Dammanns gleichlautenden Beitrag (1986) über J.G. Müllers Komi-
48
sche Romane. Der vom späteren Gattungssystem ausgehende retrospektive Blick auf die Geschichte der jeweils untersuchten Gattung übersieht solche Zusammenhänge natürlich leichter als die Untersuchung einer historisch einmaligen Textgattung. Siehe Martens: Die Botschaft der Tugend, 519f., aber auch 508ff., 33-69, zum folgenden auch 74-85, sowie die Andeutungen bei Spiegel: Der Roman und sein Publikum, 54f.
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gensatz zur Wahrnehmung tatsächlicher Interessen- und Positionsunterschiede. Ihre zentrale Antwort auf dieses Problem übte die Aufklärung wohl nirgendwo in solcher Intensität und Breite ein, wie in den moralischen Wochenschriften: den argumentativen Dialog.49 Angeregt von einigen bekannten barocken oder frühaufklärerischen Vorbildern, wurde hier sozusagen die intersubjektive Horizontabgleichung in der fingierten rationalen Auseinandersetzung unter Verwendung tradierter rhetorischer Mittel wie Exempel oder eingeschobener Episoden durchgespielt. Bedingungshintergrund dieser aufklärerischen Dialogizität war der seine Imperialität stets verleugnende allumfassende Geltungsanspruch, der sich statt dessen auf die vermeintliche Überlegenheit des kritisch-rationalen Verfahrens berief. Das dialogische Prinzip, dem sich die moralischen Wochenschriften so extensiv unterordneten, wies nun in vielfacher Hinsicht voraus auf den erfolgreichen deutschen Aufklärungsroman, der seine wichtigsten Erfolgsgenres ganz auf den Dialog abstellte - den Briefroman und den Dialogroman. Aber auch in denjenigen Romanen, die den Dialog nicht zu ihrem zentralen Strukturmerkmal machten, wird viel gesprochen, und zwar nicht - wie im Barockroman - als Schachtelung von Erzählungen oder gelegentlich als Rede- und Gegenrede, sondern in prägnanter Häufigkeit als rationale Auseinandersetzung, also unter der regulativen Idee einer 'vernünftigen' Verständigung. Diese aufklärerische Hoffnung auf einen dialogisch-rational vermittelten übergreifenden Konsens schien für einige Dekaden mächtige Integrationswirkungen freizusetzen. Doch vor allem die Spätaufklärung reflektierte intensiv das Illusionäre an dieser Hoffnung. Je mehr aber die Inhomogenität der Normenwelt wahrgenommen wurde, desto mehr geriet auch der Verstehenshorizont zur Illusion, innerhalb dessen die Kommunikation zwischen Autor und Leser, über die Fabel vermittelt, als kontrolliert gelten konnte. An der unter dem Stichwort positive Anthropologie zusammengefaßten aufklärerischen Überzeugung von der irdischen Glückseligkeit des Tugendhaften lassen sich diese Zusammenhänge illustrieren. Diese grundsätzliche Gewißheit ist oben als die selbstverständliche Voraussetzung des Fabelprinzips in Gottscheds Formulierung diagnostiziert worden. Schon in den 1750er Jahren konnte die Aufforderung zur romanhaften Umsetzung von Tugendlohn und Sündenstrafe den darstellungsstrategischen Charakter dieses Providenzmodelles offen zu erkennen geben: Wenn ja Romanen seyn sollen, so müssen sie die Menschen nach ihrer natürlichen Beschaffenheit darstellen; sie müssen ihre Schwachheiten und Laster entdecken, und zwar auf eine solche Art, die einen Abscheu verursachet. Sie müs49
Zum Stand der Dialogforschung siehe den Band: Das Gespräch, zur Dialogizität der Aufklärung etwa Fritz Schalcks Artikel Aufklärung, HWP 1, 63.
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sen denselben die Strafen auf dem Fuße folgen lassen, [...] sie müssen seinen [des Lasterhaften] Handlungen die Handlungen eines Tugendhaften entgegenstellen, und den letztem mit Glückseligkeit belohnen, wenn der erstere sich durch seine Ausschweifungen in Schande und Elend gestürzet hat.50 Dabei mochte Haller durchaus noch von der natürlichen Häßlichkeit51 des Lasters und dem wahren Werth der Tugend52 überzeugt gewesen sein - wie wohl die meisten Zeitgenossen -, doch zeigt allein eine solche Formulierung, wie sehr das Projekthafte und Strategische des von der irdischen Gerechtigkeit erzählenden Modells an die Oberfläche getreten war. Gerade mit Beginn der 1770er Jahre häuften sich Anzeichen für das Fortschreiten solcher Diversifikation der Weltbilder, die in etlichen Romanen bereits reflektiert wurde. Nicolais Sebaldus Nothanker (1773-1776) ist geradezu eine ausführliche Anklage der Intoleranz gegenüber ideosynkratischen Weltsichten, durchgespielt an der menschenfreundlichen Häresie des Magisters. Mit radikaler Tabufeindlichkeit stellte Wezel im Belphegor (1776) die mögliche Konsequenz dreier sich widersprechender Weltsichten gegeneinander. Die Beispiele lassen sich beliebig vermehren. In einer Rezension von 1793 wird bereits eine vollständige Individualisierung der rational konstruierten Weltbilder unterstellt, wonach jeder "sein System' habe, zugleich aber in typisch spätaufklärerischer Manier der EinfluB solcher Grundsätze auf das Handeln der jeweiligen Person relativiert gedacht wird. Diese Passage verdeutlicht außerdem, wie notwendig es in diesem Zusammenhang bleibt, zwischen Weltbildern im Sinne von rationalisierten Konstrukten und dem unkontrollierbaren Zusammenspiel von verschiedenen kulturellen Wahrnehmungsmustem, Kultursemantiken in der jeweiligen Brechung der individuellen Biographie als einer individualisierten Wirklichkeitssicht zu unterscheiden eine Differenzierung, welche dem späten 18. Jahrhundert wenig geläufig war: Sein [des Verfassers] Zweck ist, zu zeigen, daß die meisten Menschen in Absicht ihrer Theorie und Praxis höchst inconsequent sind, daß man sie ge50
[Haller:] Vorbericht, in: [Colleyer,] Felicia,X^f. Westfälischer Beobachter 1756, 1, 602. In Einigen Gedanken und Regeln wurde sogar ganz explizit Tugendlohn und Sündenstrafe zu einer Hauptkonstruktionsregel der literarischen Fabel ausgeweitet, indem der Zusammenhang jeder Handlung mit Strafe oder Belohnung behauptet wurde (siehe 267f.). FGZ, 1743, 458. Im Fraulein von Sternheim gibt es einen Rat zur Lektüreauswahl von Romanen (219): Suchen Sie, soviel Sie können, nur solche, worin die Personen nach edlen Grundsätzen handeln und wo wahre Szenen des Lebens beschneben sind. Mit Recht weist Kurth darauf hin, daß vielen Zeitgenossen der Widerspruch, der diesen und vielen ähnlichen Ratschlägen innewohnt, noch nicht bewußt war (Formen der Romankritik, 687)
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Der 'eigentliche Gegenstand der Poesie' meiniglich besser oder schlimmer findet, als es ihr theoretisches System verspricht [...] daß selbst die allmählige Bildung unsers Systems durchaus niemals das Werk unserer freyen Vernunft ist, sondern daß tausend Dinge um uns her mehr oder weniger Antheil daran haben. Ohnstreitig ein reichhaltiger und zugleich nützlicher Stoff! [...]. Nicolai in seinem Nothanker, Wieland in seinem Agathon, Müller und Knigge in mehreren ihrer Romane haben auf ähnliche Art das dulce und utile zu verbinden gewußt.53
Gerade auch in den ungezählten theoretischen und religiösen Debatten, welche im Roman geführt wurden, offenbarte sich bei zunehmender Konsistenz der dort entfalteten Argumentationen die Möglichkeit, mit guten Gründen mehrere Positionen zu verteidigen. Je stärker aber diese Diversifikation fortschritt, je mehr sich daher die prinzipielle Möglichkeit offenbarte, mit rationalen Gründen für ganz verschiedene, ja entgegengesetzte Positionen zu votieren, desto mehr wurde die Belehrungsmöglichkeit durch die literarische Fabel auch noch von der Pluralität vertretbarer Realitätsauffassungen beim Publikum relativiert. Der allmähliche Schwund jener Gewißheit über die gerechte Providenz54 illustriert die zweigliedrige Problematik nur im Extrem: Wenn der Leser an die irdische Glückseligkeit des Tugendhaften nicht (mehr) glaubte, konnte er einerseits bei der Rezeption die Fabel falsch dekodieren, sie sozusagen auf ein falsches Ziel hin lesen. Andererseits mußte dieser Leser, selbst wenn er durch entsprechende Vereindeutigungstechniken zur 'richtigen* Entschlüsselung der Geschichte genötigt wurde, keineswegs mehr durch das literarische Exempel überzeugt werden, konnte das dichterische Werk vielmehr einfach als eine fremde 'Meinung' gelten lassen - und damit relativieren.55 Der im Fabelprinzip nur auf seinen prägnanten Begriff gebrachte pädagogische Auftrag der Dichtung drohte an mehreren Faktoren gleichzeitig zu scheitern. Zum einen konnte das Publikum nicht belehrt werden, wenn die in der Romanfabel kodierte Botschaft nicht eindeutig entschlüsselbar war. Wie ange53
54
NADB 3, 1793, 266. Zur Zersetzung des Providenzglaubens und der Problematisierung der ihm entsprechenden Erzählmuster siehe auch Sagmo: Zur Funktion des Schicksalsbegriffs, und Frick: Providenz und Kontingenz, hier vor allem Kap. 4-6. Gegen das Ergebnis dieser Entwicklung focht noch Schreiber 1809: Auch hier [im Roman] muß die Nemesis eintreten, die man so oft mit Unrecht als poetische Gerechtigkeit gehöhnt hat, wenn wir uns nicht niedergedrückt oder erbittert fühlen sollen durch den Uebermuth des Lasters. (Lehrbuch der Aesthetik, 326) Auf diesen Sachverhalt machte Wieland mit feiner Ironie aufmerksam, mit der er die Providenz als eine willendich zu ergreifende Sicht- und Deutungsweise der Menschen kennzeichnet: Ein glücklicher Zufall - doch, warum wollen wir dem Zufall zuschreiben, was uns beweisen sollte, daß eine unsichtbare Macht ist, welche sich immer bereit zeigt, der sinkenden Tugend die Hand zu reichen? - fügte es, daß Agathon [...]. (Geschichte des Agathon, Hg. Schäfer, 246, Buch 8, Kap. 5)
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deutet, war sie das nie vollständig.56 Darüber täuschte die äsopische Fabel hinweg, in der das Fabelprinzip rein aufzugehen schien. Jedenfalls hatte die humanistische Tradition die Fabel immer wieder zur anschaulichen Unterweisung empfohlen. Jedoch war dabei der Rückgriff auf einen eng begrenzten Kanon allgemeingültiger Wahrheiten, verbreiteter Sentenzen, die Voraussetzung, das Lernziel mußte also im voraus bereits bekannt sein. 57 Die besondere prodesseLeistung bestand darin, von etwas Bekanntem eine überzeugende Anschauung zu liefern. Daraus ergab sich ein doppeltes Risiko: Je mehr ein einheitlicher Normenhorizont unter den Lesern zerbrach, desto größer war die Gefahr, daß einzelne Leser gar nicht merkten, was es im jeweiligen Fall zu lernen galt. Zum andern wurde der persuasive Nutzen des Fabelprinzips durch einen geschärften Blick der Rezipienten für die Künstlichkeit der Konstruktion bedroht; die 'Wahrheit' der Bedeutung geriet zur individuellen Intention des Autors. In der Folge verschob sich der 'Wert' eines literarischen Textes von seiner Wahrheit zur Raffinesse seiner Gestaltung, nicht die Botschaft, die nun als Meinung relativiert werden konnte, sondern die 'geniale' Umsetzung der Intention wurde zum Besonderen. Der ethisch engagierten Dichtung mußte also die Möglichkeit einer individualisierten Diversifikation der Weltbilder zu einem grundsätzlichen Problem werden, j e mehr sich die Autoren dieses Sachverhalts und seiner Wirkungen auf die literarische Verständigungsleistung der Texte bewußt wurden. Dabei waren die Romane selbst an diesem Diversifikationsprozeß nicht ganz unbeteiligt, denn die oben beschriebenen Tendenzen zu einer immer subtileren Konsistenzbildung ihrer jeweiligen Geschichte konnten sich nur vollziehen auf Kosten allgemein verbindlicher Realitätsbilder. Eine zunehmende Ausstattung der einen Geschichte und ihrer einmaligen Charaktere mit innerer Plausibilität mußten normierte Vorstellungszusammenhänge relativieren. Jeder einzelne Roman konnte nur zu einer eigenen Welt werden, indem er auf seine Weise die (allgemeingültige) 'eine Welt' entmachtete. Suchte ein Text einmal dezidiert den Anschluß an die Welt eines anderen, bereits bekannten, wie Sebaidus Nothanker an Thümmels Wilhelmine, dann bemerkte der Rezensent sofort die unvermittelte Differenz zwischen beiden Welten:
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Schon in der Vorrede zu Schnabels Wunderlichen Fata wurde dem angesprochenen
Freund entgegengehalten: All diejenigen [Robinsonaden-Autoren], so du anitzo ge-
tadelt hast, haben wohl eine gantz besondere gute Absicht gehabt, die du und ich erstlich errathen müssen Q:( 31). Weshalb schon Luther den Übungseffekt der Enträtselung bei den Fabeln betonen konnte. Siehe [Luther,] Vorrede zu Ettlichen Fabeln aus Esopo, in: Texte zur Theorie der Fabel, 5-11, hier 10.
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Der 'eigentliche Gegenstand der Poesie' Wir werden gleichsam durch die Luft, von einem Zustande in einen beynahe entgegen gesetzten geführt (wenn wir nach Zumachung der Willhelmine, sogleich den Sebaldus Nothanker aufschlagen), ohne die mittleren Zustände zu berühren, ohne welche es uns doch unmöglich wird eine Verbindung zwischen diesen beiden Zuständen, und gleichsam den Weg zu finden, der von einem zum andern führt.
Blanckenburg glaubt hier noch unbeirrt an die Möglichkeiten solcher Vermittlung durch den Einbau von Zwischenschritten. Doch zeichnet sich in diesen Formulierungen das Entstehen der Voraussetzungen für die uns so geläufig gewordene Anwendung des Welt-Begriffs auf einen einzelnen Text ab, nämlich die in Einzigartigkeit mündende Abgrenzung seiner jeweiligen Kohärenz gegen andere kohärente Kontexte. So leicht im 18. Jahrhundert die Benutzung des Weltbegriffs in mannigfaltigen Versionen und Kombinationen war, die Rede über einen Roman als eine eigene Welt findet sich fast nicht.59 Gleichwohl zeichnet sich die Möglichkeit eines solchen Sprechens über Romane in den Formulierungen von Blanckenburgs Nothanker-Rezension ab: Die ähnliche äußere Form dieser beiden Schriften hat wenigstens ebenso wenig, als die ähnlichen darin vorkommenden Namen, dem Rezensenten (wenn er sich so ausdrücken darf), die Brücken schlagen helfen, vermöge welcher er aus 60 einer in die andere hinüber gekommen ist.
Die Schwierigkeiten, in die Blanckenburg mit der gewagten Bildlichkeit - von der Brücke zwischen den Schriften - gelangt, sind von besonderer Anschaulichkeit, gerade weil hier eine metaphorische Konsequenz naheliegt, die Blanckenburg noch nicht zu ziehen bereit gewesen wäre: von der je eigenen Welt eines Textes zu sprechen. An den vorsichtigen Andeutungen der historischen Genese solchen metaphorischen Sprechens wird so aber dessen Problematik deutlich: daß nämlich ein Text immer nur bedingt eine 'eigene' Welt sein kann, wenn er überhaupt noch verstanden wird. In diesem Widerspruch lag auch die Problematik des Fabelmodells: auf einer Verständigungsbasis aufzusitzen, welche die Einigkeit über diejenigen Fragen schon enthielt, die mittels der literarischen Fabel beantwortet werden sollten. Diese Schwierigkeit versuchte man teilweise in der Theorie mit der Unterstel58
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NBWK 17, 1775, 264. Solche Redeweise wurde vor allem durch Blanckenburg initiiert, der jedoch noch weniger den autonomen Aspekt der jeweiligen Erzählwelt herausstellte, sondern in der Formulierung von der 'kleinen Welt' diese in einen abhängigen Bezug zu der 'großen' setzte. Trotz aller späteren Polemik hat die Literatur diesen Bezug nicht eigentlich aufgelöst, sondern nur subtilste Formen der Verweisung kultiviert. 257f.
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lung unaktivierten Wissens bei den Rezipienten zu überspielen, das durch die literarische Veranschaulichung belebt werde.61 Grundsätzlich half bei dem schwerer zu kontrollierenden Kommunikationsprozeß mit dem Leser vor allem stärkere Kenntlichkeit der Intention des Autors: Entweder stekt in diesen Zaubergeschichten eine so tiefe Weisheit, daß es schwer ist, ihr auf die Spur zu kommen; oder was wir eher glauben möchten, der Verfasser weiß selbst nicht, was er eigentlich haben will, und überläßt sich seiner absichtlosen wilden Phantasey, in der Hofaung, daß seine Leser schon irgendeine Weißheit hineindenken werden. Im ersten Falle mögte der Nutzen wohl schwerlich die Mühe belohnen, die Moral aufzusuchen; im anderen hätte man den Verf. im Namen der meisten Leser zu bitten, daß er weniger Zutrauen zu ihrer ScharffsInnigkeit habe, und selbst etwas mehr Mühe über sich nehmen möchte. 62
An der zitierten Passage lädt sich eine fundamentale Bedingung am Verhältnis des Lesers gegenüber Literatur in der Moderne ablesen: man kann nicht mehr entscheiden, ob der Text wirklich etwas zu bedeuten hat. Daher die in allen Literaturkursen wohl am häufigsten erörterte Frage, ob sich der Autor denn bei diesem oder jenem Detail 'etwas dabei gedacht habe'. An dieser unhintergehbaren Problematik ändert man übrigens überhaupt nichts, wenn man statt von der Autorintention von der 'Bedeutung des Textes' spricht. Eine größere Durchsichtigkeit der literarischen Geschichte, ihres Plans, mußte die Leistung des Fabelprinzips beeinträchtigen, seine Vermittlung des Nützlichen mit dem Angenehmen stören. Zwischen den beiden Problemen des Fabelprinzips entfaltete sich eine klare Reziprozität. Zwar konnte die Überzeugungskraft der literarischen Fabel gesteigert werden durch eine möglichst weitreichende Kaschierung ihrer Künstlichkeit; dazu muBten aber zugleich die Mittel der Vereindeutigung der Fabel zurückgenommen werden. So entschied sich die Mehrzahl der aufklärerischen Romanautoren für die umgekehrte Option, lieber die moralische Integrität eines Werks mit typisierenden Tugend-Laster-Opposi61
Solche Beyspiele nun, für die meisten, flir die brauchbarsten unserer allgemeinen Begriffe, soll uns der Dichter durch seine Nachahmungen geben; und eben dadurch werden dieselben einer moralischen Absicht fähig, weil sie alle die Grundsatze der Tugend und alle die Regeln der Klugheit, die in unserm Gedächtnisse todt liegen, gerade auf diejenige Art uns eingedenk machen können, aufweiche allein sie einen Einfluß auf unser Verhalten haben. (Garve: Über das Intereßirende 253f.) Bezeichnenderweise stellte sich das Problem in solcher Schärfe bei einer Feengeschichte, im Bereich der Phantastik also, die ja eigentlich aus dem Feld der wahrscheinlichen und daher akzeptablen Dichtung ausgeschlossen war, wo referentielle Lesarten grundsätzlich ausschieden, das Fabelprinzip daher als einzige mögliche Form der Sicherung von Wahrheitsansprüchen dienen konnte (ADB 6, 2, 1768, 309f.)
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tionen, klar normierenden Kommentaren und Wertungen unzweifelhaft zu lassen und dafür Abstriche bei der Glaubwürdigkeit der Illusion, bei der Überzeugungsleistung - und der Unterhaltung und Abwechslung - hinzunehmen. Hier lag ein unlösbarer Widerspruch zwischen dem dogmatischen und dem illustrativen Moment des Fabelprinzips. Wenn die Fabel wirklich mehr leisten sollte als die mediatisierte Botschaft selbst, dann bestand das Risiko, daß dieses 'Mehr' ganz anderen als den gewünschten Funktionen diente oder dienstbar gemacht wurde. Denn die scheinbar glücklich gewonnene Verbindung von prodesse und delectare gelang im Fabelprinzip ja nur, wenn der Nutzen wirklich in dem Vergnügen mediatisiert war, also nicht durch beständige Einfügungen lehrreicher Sentenzen der Erzählfluß unterbrochen und die richtige Deutung vorgetragen wurde.63 So drohten der Vermittlung der beiden horazischen Dichtungsanforderungen antinomische Gefahren durch die schwer auszuräumende Uneindeutigkeit. Dabei stellten sich diese Gefahren erst in einem langwährenden Prozeß deutlich heraus, vor allem weil die aufklärerischen Autoren eben mit etlichen Instrumenten immer wieder eindeutige Rezeptionen zu garantieren suchten. Erfolgen konnte dies jedoch nur auf Kosten des Fabelprinzips, unter Beeinträchtigung der fabulösen Unterhaltungsqualität. Und schließlich ist noch auf eine weitere Schwierigkeit des Fabelprinzips aufmerksam zu machen. Die lange beibehaltene Vorliebe für moralisch eindeutig konnotierte Figuren entsprach nicht nur den weit verbreiteten affekttheoretisch begründeten Auffassungen über literarische Wirkungen, sondern auch den geläufigen Rezeptionsformen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts veränderte sich grundlegend die in den Schulen gelehrte Form des Lesens. Den angehenden Lesern wurde beigebracht, nicht mehr, wie bisher üblich, sich vor allem auf die einzelne Stelle zu konzentrieren, sondern man übte das kursorische Lesen, das auf das 'Ganze' des Textes, auf die größeren Sinnzusammenhänge achtete.64 Dieser neuen, 'schnelleren' Form des Lesens entsprach die hier im Fabelprinzip erörterte Vertextungsform von Romanen sehr genau, wie deutlich geworden sein dürfte. Denn hiernach wurde die Aufmerksamkeit zunehmend auf die Gesamtkonzeption der Fabel gelenkt, die als ganze erst in den Blick genommen sein muß, bevor man den Text 'verstehen' kann.65 Doch stellte sich das Rezeptionsverhalten erst ganz allmählich um und war vorläufig noch weitgehend auf das ut
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Siehe im vorhergehenden Kapitel Anmerkung 24. Siehe hierzu Kopp, Wegmann: Niemand wisset noch wie Leser lieset, sowie: Das Lesetempo als Bildungsfaktor? Es dürfte daher kein Zufall sein, daß Johann Matthias Gesner die von ihm cursorisch genannte neue Lektüreform (gegenüber der alten statarischen) an Romanen beobachtet hat (siehe Kopp, Wegmann: Wenige wissen noch, wie Leser lieset, 98).
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pictura poesis abgestellt.66 Jedenfalls wird diese Auskunft von demjenigen Reflex der Lesergeschichte geliefert, der in den Romanrezensionen aufbewahrt ist. Mit erstaunlicher Regelmäßigkeit wurden an den Erzähltexten Situationen gelobt oder eingefordert:67 einprägsam und aussagekräftig arrangierte Handlungsmomente, welche einer auf sie ausgerichteten Lesererwartung entgegen kamen und die oftmals noch als eingeheftete Kupferstiche veranschaulicht wurden und so der Geschichte tatsächlich bildlichen Charakter verliehen.68 Schon 1753 warnte Troeltsch, obwohl völlig am Tugendlohn-Konzept orientiert, vor einer zu kräftigen Ausschmückung der Bewährungsproben des Helden: Aber man muß ihr [der Hauptperson] Unglüke nicht so weit treiben, daß der Leser in Mitleid gesezet wird, und wohl gar wider das Schicksal der Menschen murret, denn es wäre kein zureichender Grund hiezu anzugeben.69 Die hier angesprochene Gefahr liegt darin, daß die Aufmerksamkeit des Lesers zu punktuell bleibt und das Mitgefühl mit dem Helden schon einsetzt, bevor die Konstanz seiner Tugend am Ende belohnt wird. Mit dem Stichwort Mitleid sind in dieser Passage die wirkungsästhetischen empfindsamen Modelle und die ihnen entsprechenden Rezeptionsformen deutlich abgerufen.70 66
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Ein Schwanken zwischen den beiden Rezeptionsmodi gibt ein Rezensent der ersten beiden Bände von Wezeis Tobias Knaut zu erkennen: Wir wollten Anfangs das Ende dieses Romans abwarten um ein desto bestimmteres Urteil über das Ganze fällen zu können; da aber die Theile so langsam aufeinander folgen, so möchte der Schluß noch lange ausbleiben, und so wollen wir unseren Lesern die Notiz dieses Buches nicht langer vorenthalten. (EGZ 7, 1775, 162) Zum Beispiel ADB Anhang 1-12, 2, 1771, 865: Reich an Imagination ist er [der Verfasser] eben nicht; doch ist sein, so weit man ihn übersieht, ziemlich einfacher Plan, nicht arm an guten Situationen. Solcher Rezeptionsform gemäß ist in von Loens Redlichem Mann am Hofe eine Anweisung an den Buchbinder mit gedruckt: Die Kupfer sind nicht nur vor die Pagina sondern gegen dieselben zusetzen, damit man die Materie und Kupfer zugleich in Augenschein nehmen könne, und nicht erst umwenden dörffe 0:(lv). In den Rezensionen betonte man diese 'Kupfer' meist eigens, und sie wurden in einer kaum glaubhaften Vielzahl Chodewiecki zugeschrieben; siehe hierzu: Die Buchillustration im 18. Jahrhundert. Geschichte einiger Veränderungen des menschlichen Lebens, Vorrede, 21. Wie wenig noch Ende der 1760er Jahre eine kursorische Lektüre vorgeherrscht haben dürfte, belegt eine Stelle aus Sonnenfels Wochenschrift Theresie und Eleonore, wo selbst Clarissa, als Umsetzung des Fabelprinzips betrachtet, nicht für die dem weiblichen Charakter angemessene Lektüre gehalten wird: Ich habe nichts gegen den Satz, den der Verfasser dieser Geschichte in ein Licht zu setzen, sich vorgenommen; er ist an sich selbst richtig. Aber ein junges Madchen nimmt sich die Mühe nicht, den Lehrsatz aus einigen Banden herauszuholen; das ist sogar selten unsre Sache, wenn unsre Vernunft schon ganz entwickelt und ausgebildet ist. Das ganze also eines Buches ist für solche Leserinnen, änderst, als in so ferne es das Schicksal
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Neben den Problemen der Eindeutigkeit der in einer Fabel kodierten Botschaft, der Mannigfaltigkeit möglicher ' Sichtweisen' auf eine Geschichte, dem allmählichen Schwund an verbindlichen lehrbaren Wahrheiten und dem Auseinandertreiben des Verständigungshorizonts der aufklärerischen Öffentlichkeit rang das Fabelprinzip also zusätzlich mit dem Hindernis, eine noch weitgehend unübliche Rezeptionsform vorauszusetzen. Einigen Vorteilen bei der Verwendung des Fabelprinzips als einer besonderen Vertextungsform standen mithin auch gravierende Schwierigkeiten gegenüber. Deshalb stellt sich die Frage noch einmal neu, was denn den allmählichen Geltungszuwachs des Fabelprinzips in der Erzählliteratur bewirkt hat. Die zunächst naheliegende Antwort, daß mit einer strengeren Anwendung des Fabelprinzips im Sinne einer durchgehenden Organisation der Handlungspräsentation auf eine bestimmte Bedeutung hin einfacher, geradliniger, weniger umständlich und damit 'interessanter' erzählt werden konnte, genügt vor allem deshalb noch nicht, weil auch die umständlicheren Erzählweisen der frühen bis mittleren Aufklärung durchaus Leser fanden. Warum die Geduld der Leser und ihr Interesse gegenüber den Texten sich veränderten und welche Rolle dabei das Fabelprinzip spielen konnte, steht also noch der Erörterung aus.
8.3
Erzählgeschwindigkeit, Spannung, narrative Integration und das 'Interesse' des Textes
Trotz all der genannten Schwierigkeiten läßt sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine zunehmende Umverlagerung der Erzählmodi vom pictura- zum Fabelprinzip konstatieren. In den Rezensionen mehren sich die hierfür signifikanten Begriffe, es wurde mehr von dem Ganzen des Werks gesprochen, die Einheit der Handlung spielte als Beurteilungskriterium ebenso eine immer wichtigere Rolle wie die abnehmende Toleranz gegenüber Abschweifungen und Einschüben. Deutlich lauter wurden parallel dazu die Forderungen nach einem ge-
der Hauptperson betrifft, ohm Wirkung. Das ist von einem flüchtigen Geiste zu viel gefodert, daß er den weitgedehnten Faden der Geschichte beständig in den Augen behalten, immer die Folgen an einander reihen, die vorhergehende als eine Ursache, die nachkommende, als Folge und Ursache zugleich betrachten, schließen, erwägen, urtheilen soll. Für sie sind eigentlich nur die einzelnen Auftritte der Geschichte, wo die Folge mit seiner Ursache unmittelbar verbunden, und daher auf ihre noch lebhafte gerührte Einbildung zu wirken, fähiger ist. (3. und 4. St., 25f. [1767]) Hieran tritt deutlich zutage, wir sehr schon die Zeitgenossen es für eine Frage der Schulung hielten, dem Fabelprinzip entsprechend zu lesen. Zur punktuellen Rezeption siehe auch Bracht: Der Leser im Roman, 552-559.
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radlinigen Handlungs- und Erzählverlauf.71 Christian Ludwig Willebrand zum Beispiel wollte 1774 die Mechanik des Fabelprinzips auch in allen kürzeren Erzählungen realisiert wissen. Alles an dem Werk sollte auf einen moralischen Hauptzweck bezogen sein. In der gemeinsamen Unterordnung von Erzählungen und Romanen unter dasselbe funktionale Konstruktionsprinzip wurden die traditionellen Gattungsgrenzen auf ein Minimum reduziert: Willebrand spricht nur noch von der unterschiedlichen Länge und den sich daraus ergebenden Konsequenzen. Seine gesamte romantheoretische Reflexion ging bereits streng vom Fabelprinzip aus und ordnete ihm alles andere in hierarchischer Systematik unter. Dem Machtgewinn des Fabelprinzips entsprach auch, wenn die Revision der teutschen Litteratur es für eine allgemeine Regel hielt, daß auch die eingelegten Episoden in einen Roman sich in ihrer Funktion zur Fabel bestimmen. So kritisiert der Rezensent Nicolais Nothanker: In welcher Poetik oder in welchem Versuch über den Roman stehts wohl, daß man Episoden auf eine solche Art einschieben darf, ohne sie nur mit einem Faden an die Hauptgeschichte anzuknüpfen; oder heißt genug angeknüpft, wenn wir nur wissen, daß wir einen Vetter oder eine Baase von der Hauptperson vor uns haben diese mag dann bleiben wo sie will? 72
Nicolais Manier, in einer gelehrten Ausführlichkeit die einzelnen Passagen inhaltlich nur wenig ineinander zu verflechten, stieß nur auf wenig Gegenliebe. Bei genauerem Hinsehen allerdings erweist sich auch am Sebaldus Nothanker bereits die Einhaltung des Grundgesetzes moderner Erzählliteratur: daß alle Teile mit der Haupthandlung zusammenhängen müssen. Denn selbst die krassen Ortswechsel zwischen dem jeweiligen Aufenthalt des Sebaldus und den Erlebnissen Marianes rechtfertigen sich nachträglich durch die schließliche Zusammenführung der Familie. Insofern scheint es sich mehr um relative denn um absolute Kategorien der Kritik zu handeln, welche der Rezensent verwandte, wonach eine Sequenz genug oder eben ungenügend angeknüpft sein kann. Der Verdacht, daß sich die für diese Frage gültigen Standards verändert haben könnten, leitet zu einer für den Bedeutungsgewinn des Fabelprinzips äußerst wichtigen Hintergrundentwicklung über. Vom barocken bis zum romantischen Erzählen hat sich die Geschwindigkeit des Erzählens erhöht, während gleichzei71 72
Siehe hierzu auch Vaget: Johann Heinrich Merck über den Roman. Revision der teutschen Litteratur, 3. St. 1776, 225f. Nach Auffassung dieses Kritikers schadeten all die Entführungen und Wiederfindungen in Wäldern, welche Nicolais Roman so weit unter den englischen Roman stellten, dem Buche kaum halb so viel, als die Menge von Personen selbst, die vorgeführt, und blos zum Sehen vorgeführt würden. (223f.)
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tig die Geduld der Leser gegenüber einem lang währenden, ausschweifenden, als umständlich empfundenen Erzählstil abnahm. Daß es sich dabei nicht nur - wie oft unterstellt wird - um aufklärerische Abgrenzung gegen den Barock handelte, deutet schon die Alltagserfahrung an, die nämlich vielfach auch das dem 18. Jahrhundert bereits schneller erscheinende Erzählen der Aufklärung für langatmig und umständlich hält. Es muß bei dieser Beschleunigung also ein übergreifendes Problem vorliegen. Zweifellos handelt es sich während des hier thematisierten Zeitraums um einen beständigen Prozeß, was vor allem dadurch belegt wird, daß die Aufklärung selbst ihre jeweils früheren Texte als zu langsam wahrnahm. Wie Ian Watt bereits betont, beruhte der Erfolg des von Defoe popularisierten neuen Romans wesentlich darauf, daß er geradliniger erzählt war und daher den Rezipienten weniger Mühe abverlangte.73 Zwei Generationen später wiederum rügte Campe die zu große Weitschweifigkeit an Defoes Robinson neben der mangelnden Detailintegration.74 Ähnlich empfahl Schilling 1795, bei einer neuen Übersetzung der Qarissa, diesen Roman in einer gedrängten Form mit Auslassung mancher moralischer Diatriben Obersetzt zu liefern, wodurch zugleich der Gang der Handlung, die nach dem Urtheil mehrerer im Original etwas zu langsam 75
fortschreite, rascher gemacht werden könne.
Hierbei ist aber zunächst die Frage zu stellen, was denn dort rascher gemacht werden sollte. Denn offenbar ging es ja nicht einfach darum, kürzere Texte entstehen zu lassen. Ebensowenig dürfte mit diesen Forderungen größere Handlungsfülle eingeklagt worden sein, die ja an den barocken Romanen im Gegenteil kritisiert wurde. Bei dem an einer Masse von Zeugnissen ablesbaren Prozeß, der auch von Zeitgenossen mit Metaphern der Beschleunigung belegt wurde, handelt es sich um die Veränderung einer Relation, nämlich des Verhältnisses zwischen aufgebauten Erwartungen über den Fortgang der Handlung und der Erfüllung dieser Erwartungen. Nur ihnen gegenüber läßt sich sinnvoll von einer Retardation im Erzählten sprechen. Wenn zum Beispiel in der Asiatischen Banise Prinz Balacin im Eingang über die grausame Herrschaft Chaumigrems klagt, so wird schon hier die Erwartung des Lesers auf des Tyrannen Untergang gelenkt, dem gegenüber der gesamte Roman als Retardation wirkt. Zwar arbeitete der hohe Barockroman mit einer Vielzahl weiterer Spannungsbögen, aber wie die Massenhochzeiten am Ende andeuten, wurden viele dieser zusätzlich aufgebauten Erwartungen auch erst am Schluß erfüllt. Das 18. Jahrhundert nun übte sich allmählich in einem segmentierenden Arbeiten mit kleineren Spannungsbögen, die ständig gelöst und wieder aufgebaut wurden, so daß mit einem solchen 73 74 75
Watt: Der bürgerliche Roman, 54. Siehe hierzu Brunner: Kinderbuch und Idylle, 101. NADB 14, 1795, 160.
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wechselnden Erzählverfahren das Leserinteresse auf möglichst gleichmäßigem Niveau gehalten werden konnte. Betrachtet man Aufbau und Lösung einer solchen Erwartung, einen solchen Spannungsbogen als eine Einheit, dann ließe sich der hier zu beschreibende Prozeß der Beschleunigung des Erzählens als eine Erhöhung des 'Taktes', der 'Frequenz' metaphorisieren. So ähnlich haben es manche Zeitgenossen auch empfunden, wenn etwa ein Roman dafür gelobt wurde, daß die Handlung so rasch fortschreite, daß alles Schlag auf Schlag folge. 76 Wenn die Lektüreumstellung, die Engelsing als die Entwicklung vom 'intensiven' zum 'extensiven Lesen* thematisiert hat, als eine Veränderung im Lesetempo eingeschätzt werden kann, 77 dann korrespondierte diesem Prozeß zumindest auf Seiten der Erzählliteratur auch eine Steigerung des 'Erzähltempos'. Zweifellos dürften all diese Phänomene mit der von Koselleck herausgestellten Verzeitlichung der Geschichte und den zeitgenössischen Beschleunigungserfahrungen in der 'Sattelzeit' kulturhistorisch zusammenhängen. 78 Unter dem Stichwort 'Verzeitlichung' läßt sich das Wechselverhältnis zwischen einer generellen Umstellung der Art des Lesens und dem Fabelprinzip durchaus aufgreifen. Dabei ergibt sich zugleich ein Hinweis darauf, warum der Erzählliteratur im Fabelprinzip das Mittel zur Verfügung stand, zu einer der erfolgreichsten Textsorten der Moderne überhaupt zu avancieren. Erich Schön hat Verzeitlichung für das 18. Jahrhundert als eine Tendenz der zunehmenden Ausnutzung der Zeit im Dienste der Belesenheit aufgezeigt. Demnach wurde die Zeit des Lesens nicht nur in den Abend und die Nacht ausgeweitet, sondern zu einer besseren Zeitnutzung sogar während etwaiger Tätigkeitslücken im Alltag oder während der Mahlzeiten die Lektüre in pädagogischen Schriften, Konversationsbüchlein und Kaiendarien empfohlen. 79 Hintergrund solcher Alltagsrationalisierung war die Vorstellung der Kostbarkeit der Zeit, die jedoch nun nicht mehr durch weltliche Lektüre der Arbeit am Seelenheil geraubt wurde, sondern durch das Lesen der falschen Bücher (schlechter Romane etwa) 80
der eigenen Bildung abging.
Von hier aus ergibt sich dann ein Hinweis auf die
veränderten Lektüreerwartungen - auch gegenüber der Erzählliteratur. Denn die 76
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NADB 8, 1794, 329. Siehe Kopp, Wegmann: Das Lesetempo als Bildungsfaktor? sowie: Wenige wissen noch, wie Leser lieset. Anmerkungen zum Thema: Lesen und Geschwindigkeit. Siehe hierzu Geschichte, Historie, in: Geschichtliche Grundbegriffe 2, 695-706, sowie Koselleck: Standortbindung und Zeitlichkeit. Siehe: Verlust der Sinnlichkeit, 233-287 (Die Zeit des Lesens). In einer Formulierung aus den FN von 1745 deutet sich dies Motiv bereits an, jedoch noch unter moralischem Imperativ: Der Verlust der edlen Zeit ist der Schade,
den man davon hat, indem dieses Buch - [eine Romanübersetzung] - den Leser auch in keinem bessern Zustand verläßt, als in welchem es ihn angetroffen (FN 2, 1745, 10).
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unter dem Gebot der Zeitknappheit notwendige Unterscheidung von sinnvoller und sinnloser Lektüre bleibt abhängig vom eigenen Verstehen des Gelesenen, also von seiner Anschließbarkeit an eigene Wissensvoraussetzungen - des Vorverständnisses oder des bereits Gelesenen. Anders gesagt: die kulturelle Einstellung der Rezipienten auf das Gefühl von Zeitknappheit mußte das Leserinteresse beeinflussen, die Entscheidungen darüber, ob etwas als interessant gelten konnte oder nicht, wurden schneller getroffen, das heißt der Versuch früher abgebrochen, Gelesenes an eigene Verstehensmöglichkeiten anzuschließen. Diese Beschreibung deutet bereits an, daß die Geduld gegenüber umständlichem oder ausführlichem Erzählen nicht einfach kontinuierlich abgenommen hat, denn sie blieb abhängig von den jeweiligen Verständigungsvoraussetzun81 82 gen. Den belesenen Dorfpastor, auf den Nicolai als Leser des Sebaldus Nothanker hoffte, werden die theologischen Debatten des Romans über die symbolischen Bücher und die Ewigkeit der Höllenqualen weniger gelangweilt haben als manchen theologisch wenig vorgebildeten Leser. Mit all diesen von Nicolai ironisch bis sarkastisch aufgegriffenen Themen war zum Beispiel der Rezensent der Erfurtischen gelehrten Zeitung von 1776 so sehr vertraut, daß es ihm überhaupt nicht auf eine sorgfältige Integration in dem Fabelverlauf ankam, vielmehr die Besprechung mit einem wohl doch überraschenden Lob beschließt: Lieber Autor, hör' an [...] ist mehr für uns werth, dein teutsches Büchel, als alle englische, spanische, französische Klarissen, Grandisone, Donquischotte, Emile und Candide.83
Auf die Rezeptionsbedingung eines gemeinsamen Verständigungshorizonts für diesen Roman machte Nicolai selbst aufmerksam, der in der Vorrede bekannte, daß es ihm mehr um die Verbreitung von Meinungen ging als um Geschichte und Handlung. Zugleich vermutete der Berliner Aufklärer den Kreis derjenigen gering, welche die Verstehensvoraussetzungen teilten, unter denen ein solches Werk nicht langweilig wirken mußte.84 Der schon erwähnte Kritiker der Revision
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Mit solchen Erfahrungen der Ungeduld gegenüber einem nun als zu langsam erfahrenen Erzählstil bei einem späteren Wiederlesen des einst begeistert rezipierten Robinson Crusoe rechtfertigte sich der Herausgeber einer späten Robinsonade (siehe: Robert, der einsame Bewohner einer Insel im Südmeer; Vorbericht). Nicolai; Sebaldus Nothanker, Vorbericht, )(6 V . S3 ·· EGZ 8, 1776, 376. Ahnlich positiv war bereits die Kritik des ersten Teils 1773. 84 Nothanker, Vorrede, )(5 V , )(5 r . In den GZGS bescheinigte (vermutlich) Kästner dem Roman, daß er wirklich nur für Gelehrte geschrieben sei - obwohl der Verfasser tadele, daß in Deutschland die Gelehrten nur fiir Gelehrte schrieben (58. Stück, 1773, 500). Musäus schilderte in seinem Grandison dem Zweiten einen Junker, der zwar durchaus eine romantische Muse besitzt, dem aber die weiblichen Schicksale
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der teutschen Litteratur formulierte, obwohl er gewiß auch zu den Gelehrten von Profession 5 gehörte, für die der Nothanker in erster Linie geschrieben sein sollte, demgegenüber mit Präzision die Leseinteressen eines breiteren Publikums: denn es war uns nun nicht darum zu thun, etwas unterschiedenes zu sehen, sondern die Progression des historischen Gemilds zu sehen, dessen ersten Auftritte schon unsere Empfindung erregt und uns zu andern vorbereitet ha, 86 ben.
Hier zeigt sich ein wesentlicher Grund für den unaufhaltsamen Sieg des Fabelprinzips. Es gewährte nicht nur den Poetologen systematische Legitimationsmöglichkeiten für die Dichtung, gestattete nicht nur den Autoren die Vermittlung des Widerspruchs von prodesse und delectare,87 sondern die technische Realisierung der Integration aller Textelemente in einen Handlungsstrang bot sich als integratives Steuerungsinstrument des Leserinteresses an. Die Abwechslung allein bot noch keine Unterhaltung, wie Hunold 1713 noch unterstellt 88
hatte. Vielmehr mußte das Differente vom Leser in einen größeren Zusammenhang eingefügt werden können. Als ein solcher Anschlußkontext bot sich die Fabel an, deren Kohärenz durch die Applikation der Alltagsrationalität aufgebaut wurde. Eine forcierte Einforderung der Nutzung dieses Angebots erfolgte als Reaktion auf den Zerfall jener aufklärerischen Diskurshomogenität, den Zerfall der 'einen Welt'. Die Fabel sollte also das Leserinteresse weitertragen, eine erste Verstehensebene aufrechterhalten, bevor die Transformation in 'Sinnverstehen', die Deutung des jeweils Ganzen erfolgte. Dabei hatte diese Verlagerung auf das Fabelprinzip zwei verschiedene Dimensionen. Denn einerseits entsprach das Fabelprinzip der sich verändernden (kursorischen) Lesetechnik. Dies bedeutete aber für den Roman, daß die Leser sich darin üben mußten, auch Texte von nicht gleichmäßiger Durchsichtigkeit zu lesen: dazu bedurfte es der Steuerung des Interesses durch die Handlung. Andererseits waren die von der Fabel eröffneten Möglichkeiten zur integrativen Lenkung des Leserinteresses überschießend
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der Pamela und der Clarissa so fern lagen, daß er sich statt dessen lieber aus dem Grandison vorlesen läßt. (98) Nothanker, Vorrede, )(6r. Revision der teutschen Litteratur, 3. Stück 1776, 226. Dieser Widerspruch muß hier auch verstanden werden als der Gegensatz unterschiedlicher Ansprüche von verschiedenen Rezipientengruppen an die Autoren: den ethischen und poetologischen Anforderungen der literarischen Öffentlichkeit respektive der Literaturkritik einerseits und den Unterhaltungsbedürfnissen einer breiten Leserschaft andererseits. Menantes Academische Nebenstunden, 57.
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groß, indem sie erlaubten, auch solche Leser zu gewinnen, die an den anspruchsvollen dogmatischen Gehalten {Sebaldus Nothankers etwa) zunächst gar kein Interesse hatten oder denen die böse Satire auf die neue Pädagogik in Schummeis Spitzbart zum Beispiel unwichtig war. Weil die Relation zwischen Erzählung und Fabelschema von der Rationalität menschlichen Handelns bestimmt zu sein scheint, gewannen die Romane so eine andere, leichter zugängliche Verstehensmöglichkeit, welche die Kommunikationsrelation zwischen Text und Leser entlastete und daher die Zahl potentieller Rezipienten vergrößerte. Bezogen auf den Roman ergibt sich eine genaue Entsprechung zwischen Fabelprinzip und der neuen Lektüreart: Zeitknappheit diktierte ein anderes, am 'Ganzen' ausgerichtetes Lesen, das selbst wiederum die vom Fabelprinzip vorauszusetzende Rezeptionsform ist. Innerhalb der narrativen Realisation des Fabelprinzips wurden zugleich Techniken der Steuerung des Leserinteresses - qua Spannung - eingespielt. So erwies sich diese Vertextungsform als diejenige, die den Bedingungen eines anonymen und divergenten Massenpublikums am ehesten entsprechen konnte - mit der Integration variierendster Erwartungen in die Spannungsbögen des Fabelverlaufs. Dieser Zusammenhang muß allerdings noch einmal eingehender aufgegriffen werden. Bis hierher ist das Fabelprinzip aus Sicht der Poetologen, der Autoren, der (dekodierenden) Rezipienten und in Hinsicht auf die Verständigungsgemeinschaft der aufklärerischen Öffentlichkeit erörtert worden. Dabei ergaben sich im einzelnen gewisse funktionale Gewinne, die eine zunehmende Etablierung des Fabelprinzips zum Teil plausibel machten. Der Rückgriff auf eine übergeordnete kulturhistorische Entwicklungslinie - wie der angedeutete Beschleunigungsprozeß - liefert aber an sich noch keine hinreichende Erklärung für den Erfolg des Fabelprinzips. Eine stärkere Wahrnehmung der Zeitknappheit würde hierbei nur wirklich etwas begründen können, wenn die rezipierten Texte auch kürzer gegA
worden wären. Zwar tauchte diese Empfehlung tatsächlich vereinzelt auf, doch eine generelle Tendenz zur Verkürzung der Texte läßt sich wohl kaum nachweisen. Den bisher erörterten Wirkungszusammenhängen des Fabelprinzips ist der funktionale Rahmen jedoch noch übergeordnet, in welchem der schleichende 89
In Willebrands Lob der kurzen, von ihm episodische genannten Erzählungen spielt die Zeitknappheit unausgesprochen eine entscheidende Rolle: Da nun jede episodische Erzählung ihren moralischen Hauptzweck ebenso gut hat, wie der große Roman, und weit mehrere Erzählungen ausgearbeitet, und gelesen werden können, als größere Romane: so folgt, daß ein Romanendichter, der sein Genie zu episodischen Erzählungen anwendet, weit mehrere moralische Wahrheiten behandeln, mithin weit öfterer und mannigfaltiger auf das Herz seiner Leser wirken können, als ein andrer, der sich durch Einen, oder ein paar große Romane auf einmal erschöpft. (Von Romanen überhaupt, LVI)
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Sieg dieser Vertextungsform evident wird und der erst in der Betrachtung der literarischen Kommunikationssituation des Romans im 18. Jahrhundert greifbar wird. Auf die entsprechende Fährte wird man durch einige zunächst unscheinbare Details an den Texten gelockt. Eine noch kaum ins Zentrum der romangeschichtlichen Forschung gerückte äußere Veränderung der Textgestalt betraf nämlich die Durchsichtigkeit in der Strukturierung der Bücher. Viele Romane des Barocks weisen ausführliche Inhaltsverzeichnisse auf, die schon fast Inhaltsangaben sind; außerdem sind die Kapitel oftmals mit sprechenden Überschriften versehen. Auch die Romane der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts behielten solche Mittel zur Strukturierung des Textes bei, dabei wurde die Steuerung der Lesererwartungen nun vielfach noch 90
verstärkt durch recht detaillierte Handlungsabrisse auf den Titelblättern. Daraus ist zumindest zu schließen, daß das Spannende an diesen Texten für die Zeitgenossen nicht aus dem ungewissen Fort- oder Ausgang der Handlung entsprang.91 Diese Form der äußeren Präsentation veränderte sich im Laufe des Jahrhunderts drastisch. Seit den 1760er Jahren wurden sprechende Kapitelüberschriften immer seltener, allenfalls die Mode ihrer ironischen Variante in den berühmten 'Fieldingschen Überschriften'92 steckte hier noch eine gewisse Gegentendenz ab, welche aber die generelle Tendenz nur betonte, nach der über den konkreten Fortgang der Handlung immer weniger vorher gesagt wurde. Inhaltsverzeichnisse wurden nicht nur sehr viel knapper,93 sondern fielen bald auch ganz weg. Berücksichtigt man, daß später zum Teil sogar die Kapiteleinteilungen respektive die Untergliederung der 'Bücher' in 'Teile' ausblieb, so liegt eine Parallelisierung dieses Wandels bei den äußeren Textstrukturierungen mit den generellen Veränderungen der Rezeptionsformen nahe. Die sukzessive Umstellung auf das kursorische Lesen orientierte den Verstehensprozeß am 'ganzen Text', so daß es schlüssig erscheinen könnte, wenn dessen kleingliedrige Binnenstrukturierung dieser Entwicklung zum Opfer gefallen wäre. Eine solche Erklärung würde um so plausibler durch die von Erich Schön verwendete Perspektive auf 90
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Siehe etwa den bereits zitierten Titel des Amerikanischen Freybeuters (oben S. 105) Siehe für den Barockroman hierzu Voßkamp: Romantheorie, 17f.; siehe auch Lugowskis am Decamerone gewonnene Unterscheidung der Spannung des 'ob Oberhaupt' von der Spannung des 'wie'. (Die Form der Individualität im Roman, 39-44) Hermes empfahl sie besonders zur Aufmunterung der Leser (Sophiens Reise 1, 126); Schilling erschienen sie 1793 wegen ihrer Verbreitung schon als Unart von der ihm, der immer einen ganzen Stoß Romane von der Messe erhalte, schon die Ohren gellten (NADB 7, 1793, 54). Noch die Inhaltsübersicht von von Loens Redlichen Mann am Hofe (1740) ist 7 Seiten lang (in einer kleineren Type).
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die Umstellung des Rezeptionsverhaltens zur Jahrhundertwende. Der diagnostizierte Verlust der Sinnlichkeit charakterisiert ja einen Abstraktionsvorgang in dem Verhältnis von Text und Leser. Die Verringerung von dessen sinnlicher Beteiligung am Leseakt könnte es schlüssig erscheinen lassen, wenn das Verstehen weniger durch unmittelbare optische Signale und durch auch strukturell oberhalb der Textebene liegende Voraussetzungen, sondern gänzlich in der inhaltlichen Dimension des Textes selbst organisiert wurde. Doch hat der Prozeß des Verlustes solcher formalen Durchsichtigkeit in der Textpräsentation auch noch andere Aspekte, welche ein Movens dieser Entwicklung in den Grenzen der erzählenden Textsorten freigeben, ohne daß man sich mit dem Anschluß an übergreifende kulturhistorische Tendenzen zufrieden geben muß. Trotz all der aufklärerischen Belehrungsimperative hatte schon Gottsched bei seiner Formulierung des Fabelprinzips auch das Interesse der Leser berücksichtigt. Dieser Zusammenhang wurde im 18. Jahrhundert aus dem schon erwähnten Grund immer wieder hergestellt, daß das Fabelprinzip eine übergangslose Vermittlung von prodesse und delectare gestattete. Reflexion auf die Bedürfnisse und Interessen des Publikums gehört zu den zentralen Kennzeichen romantheoretischer Überlegungen im 18. Jahrhundert, als sich die wichtigste literarische Erfolgsgattung je länger desto mehr einer anonymen, unberechenbaren und differenzierten Leserschaft gegenübersah. Anders als das Drama auf häusliche, zunehmend individuelle Lektüre angewiesen, mußte der Roman der Gefahr eines Lektüreabbruchs begegnen. Naheliegenderweise wurden sich die Autoren dieses Risikos immer stärker bewußt, was sich mit der Ausweitung und Verschiebung des Publikums vor allem daraus ergab, daß auch Leser ohne gelehrte Vorbildung Romane zu lesen begannen - Leser also, deren Wissen und deren Interessen weder einigermaßen homogenisiert waren, noch die Option garantierte, zu allen 'möglichen' Geschichten Anschlüsse des Verstehens und der Aufmerksamkeit herzustellen. Erst die wachsende Ungleichmäßigkeit der Leserschaft brachte die Gefahr des Lektüreabbruchs zur vollen Reife, denn für ein kalkulierbares, relativ homogenes Publikum läßt sich sehr viel leichter interessant schreiben als für eine anonyme, ganz unterschiedlich vorgebildete Leserschaft. Einer solchen pries der sich hinter dem Pseudonym Ormenio verbergende Verfasser höfisch-galanter Romane bereits 1719 in der Vorrede seine Liebes-Geschicht der Durchleuchtigsten Prinzessin Medea damit an, daß er alle verdrüßliche Weitläufigkeit vermieden und
es mit den Intriguen nicht zu bund gemacht habe. Offenbar verfügte Ormenio schon über die Erfahrung, daß, wenn man bei den durch die Gattung gebotenen Intrigen und Verwirrungen nicht Ziel und Maaß zu beobachten wisse, man einem neu-begierigen Leser die Gedult benehme, so daß er die erfodernde Aufinercksamkeit
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in einen Widerwillen verwandele und den Roman aus den Händen lege. Der Autor reflektierte sehr genau die im erst vorsichtig sich ausweitenden Publikum der galanten Romane sich abzeichnende Gefahr der Divergenz zwischen den Interessen der Lesenden und den Angeboten des Romantextes. An das Selbstlob der Vermeidung einer unnöthigen Weitläufigkeit schließt sich in der Vorrede die Bemerkung an: Ich weiß wie verdrüßlich es ist - wenn man etwas anhören muß - welches mit 94 unserm Temperamente nicht überein kommet. Gerade weil dieser Text gar nicht mit klassisch-aufklärerischer prodesse-Dogmatik auf die Probleme sieht, illustriert er Leistungen des Fabelprinzips, die unterhalb der Indoktrinationsproblematik, der Botschaftsvermittlung liegen. Indem Ormenio auf die Konzentration einer Haupthandlung und die Vernachlässigung von Nebenpersonen drängte, stellte er die Chance heraus, mittels der Fabel nicht nur die Handlung im Sinne eines abstrakten Einheitsbegriffs zu integrieren, sondern das Interesse vieler, sehr verschiedener, in jeweils anderem Temperamente befindlicher Leser zu bündeln. Was für den hohen Barockroman noch bedeutungskonstituierendes Mittel war, die immer wieder verschachtelte Verfolgung einer ganzen Fülle von Handlungssträngen, erwies sich in der Reflexion auf eine unhomogene Leserschaft als erfolgsmindernd. Der größer werdende Markt eines nach Interesse und Vorbildung diversifizierten Publikums verschaffte einer strukturellen Größe vor allem in der Gattung, die am direktesten vom Markt abhing - ungeahnte Bedeutung: die Spannung wurde zu einem Kalkulationsfaktor der Romanproduktion. Das Fabelprinzip als wahrheitsvermittelnde Instrumentalisierung des Erzählens leistete dabei funktional das Gleiche wie eine von manchen Rezensenten direkt im Sinne der Bündelung von Leserinteressen vorgeschlagene Konzentration auf einen Haupthandlungsstrang - weil diese Bündelung eine instrumenteile Implikation des Fabelprinzips war. So ist bei entsprechenden Belegen oftmals gar nicht genau zu unterscheiden, ob die Geschichte möglichst schlüssig und geradlinig erzählt werden soll im Interesse des fabula docet, oder ob allein noch die Unterhaltungsbedürfnisse der Leser im Vordergrund stehen. 95 In dieser im-
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V
[Ormenio 'Pseudonym':] Liebes-Geschichte, Vorrede, )(3 ; die vorhergehenden Zitate )(5. Siehe hierzu auch Weber: Die poetologische Selbstreflexion, 20-23. Etwa: sie [die Hauptfiguren] scheinen nur des wegen die Haupt-Personen zu seyn, um die Geschichte der andern anzuhören. Dieses unterbricht die Erzehlung gar zu oft, und benimt den Leser das Vergnügen, den Fortgang einer Begebenheit zu wissen, worauf vornemlich sein Verlangen gerichtet ist. (FGZ 6, 1740, 250, über von Loens Redlichen Mann am Hofe)
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pliziten Funktion, Organisationsinstrument der erzählerischen Spannung zu sein, dürfte der wesentliche Grund für den nachhaltenden Erfolg des Fabelprinzips liegen. Die ausführlichen Titel- und Inhaltsangaben hatten mit einem homogenen Publikum gerechnet, dessen Aufmerksamkeit nicht durch Spannung gewonnen werden mußte. Dabei dürften einige Genres auf eine eigene Leserschaft spekuliert haben,96 deren Interessen relativ gut zu kalkulieren waren, mochten sie nun gelehrter Vorbildung entspringen und auf die erzählerische Leistung, die Sprachbeherrschung, das historische Kolorit, auf intime Kenntnisse über Bekannte, 'verschlüsselte' Personen sehen oder auf detaillierte Informationen über Reisegeschichten achten. Dabei gab es durchaus auch vor 1750 einige Romane ohne Inhaltsverzeichnisse und Kapitelüberschriften; die sollten hier lediglich als auffallige Indizien herangezogen werden für die gravierende Veränderung der Kommunikationssituation, in der sich der Roman befand. Der Prozeß, in welchem Spannung als ein Instrument der Bündelung von Leserinteressen und der Lesergewinnung überhaupt entdeckt und genutzt wurde, währte fast über das gesamte Jahrhundert und stand keineswegs in unmittelbaren Relationen mit Markterweiterungen. Wurde er einerseits vorangetrieben durch die reflexive Reaktion von Autoren oder Romantheoretikern auf die Anonymität eines sich vergrößernden Publikums, so gelang es andererseits einzelnen Genres zwischendurch, für sich wiederum ein sehr homogenes Publikum zu mobilisieren (empfindsame Romane etwa), dessen Interessen berechenbar waren.97 Übergreifend allerdings erwies sich die Spannung als die Möglichkeit zur kontinuierlichen Anregung des Lektüreinteresses, von dem die neue Rezeptionsform, auf das 'Ganze* des Textes achtend, größere Geduld erwartete. Der Spannungstakt entschädigte auf einer mittleren Aufmerksamkeitsebene für den vom Leser geforderten 'längeren Atem' bei einer auf das 'Ganze' gerichteten Rezeption. So ist die generelle Tendenz zum vermehrten Einsatz der Spannung als eines Instruments der Modellierung von Leserinteressen deutlich an einer Fülle von Belegen nachweisbar. Zum Beispiel thematisierte ma sie gern und ausführlich unter dem Titel der Neugier des Publikums. Daß man diese wachhalten müsse, war 1793 längst eine Selbstverständlichkeit - Schilling braucht bei seiner Ablehnung der launigen Kapitelüberschriften nach Fieldingscher Art davon gar nicht mehr zu sprechen: 96 97
Siehe hierzu Weber: Nachwort 1, 620f. Köhler zum Beispiel richtete seinen Roman Szenen aus dem menschlichen Leben ausdrücklich an Liebende, von denen er sich erwartete, daß sie nicht rezensierten, und wollte ansonsten von den professionellen Kritikern nicht beurteilt werden, welche sein Werk dann auch prompt der Erregung von Langeweile beschuldigten (so EGZ 9, 1777, 678).
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Will man den Leser nicht gleich wissen lassen, was er finden wird, nun so mache man lieber gar keine [Kapitel-] Ueberschriften, als solche oft aberwitzige ['Fieldingsche']. 98
Spannung jedoch entsteht nicht nur aus Abwechslung, dem Aufbieten immer neuer Begebenheiten, sondern zwischen den Erwartungen und dem jeweiligen Fortgang der Handlung. Als Erzähltechnik zu lemen galt es daher, die Erwartungen der Leserschaft in der Geschichte selbst zu ent-individualisieren und auf Fortgang und Ende einer Handlung zu konzentrieren, deren Einheit in der Präsentation selbst als einem auszufüllenden Rahmen abgerufen werden konnte.99 Auf die Heirat des Liebespaares, die Errettung der Schiffbrüchigen, die Heimkehr des Abenteurers ließen sich im Titel oder am Beginn der Geschichte die Lesererwartungen eines diverifizierten anonymen Publikums mit Mitteln des Textes selbst ausrichten. Ein Roman wie Sophiens Reise von Memel nach Sachsen signalisiert dagegen schon im Namen den Versuch (in Anknüpfung an Sternes Sentimental Journey), mit plaudernder Launigkeit einen ganz bestimmten Rezipientenkreis zu unterhalten, der mehr an der munteren Wärme des Erzählstils selbst denn an der stimmigen Einheit der Handlung interessiert war. Hermes' Kalkulation auf empfindsame Leser war zwar äußerst berechtigt und erfolgreich, brachte ihm aber herbe Kritik der versierten Romantheoretiker ein, die das Ephemere von solchen Erfolgen offenbar ahnten.100 Zur Bezeichnung der Steuerungsgröße der Lesererwartungen in einem Text verwandte die Literaturkritik der Aufklärung den Begriff des als eines textinternen Moments verstandenen 'Interesses'. In diesem Punkt hatte Hermes nach Wezeis Auffassung versagt:101 98
Schilling, NADB 3, 1793, 54. Ahnlich argumentierte schon Wezel gegen die Fiel-
dingischen Ueberschriften mit dem Spannungsmoment: denn in einem ernsten Romane mit fortreissendem Interesse braucht, oder achtet man keine solche aufheiternden Mittel (NBWK 19, 1776, 277f., über Sophiens Reise). Daß es sich bei all diesen Fragen nicht bloß um eine simple Übertragung des dramatischen Einheitsbegriffs handelte, sondern um ganz eigene Probleme erzählerischer Präsentation von narrativen Texten, belegen viele Beispiele. Bei der Erzählliteratur dachte man von dem zu Erzählenden her, beim Drama standen Idee und Wirkungsabsicht im Vordergrund. (Siehe etwa ADB, 1780, 42, 96)
Johann Martin Miller hoffte mit seiner Geschichte Gottfried Walthers eines Tischlers, und des Städtlein Erlenburg, eines Buchs für Handwerker und Leute aus dem Mittelstande (1786) auf radikal-empfindsames Publikum - zu dem Veesenmeyer als einigermaßen bissiger Rezensent der ADB offenbar nicht gehörte. (ADB 85, 1789, 130)
Georg Wallers Leben und Sitten lobte der Kritiker der NADB 8, 1794 mit dem Hinweis, ihm sei nicht leicht ein Buch von der Art vorgekommen, wo die Handlung so rasch fortschreite und die Leser 'unauflialtsam' mit fortreiße: Man wird unvermerkt in Verwickelungen 'hineingezogen', deren Lösung nicht voraus zu sehen ist
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Der 'eigentliche Gegenstand der Poesie' Das Interesse muß sich von selbst dem Herze anbieten, nicht gesucht werden, darf nicht den mindesten Grad des Nachforschens erfodern und muß uns befeuern, ohne daß wir uns dessen bewußt sind.
Der heute ungewöhnlich erscheinende Begriffsgebrauch steht eben für eine vom Text ausgeübte Gewalt über den Leser, dessen Lektüremotivation sozusagen aufgenommen und auf den Handlungsprozeß hin umgelenkt wird. Was die Zeitgenossen als das 'Interesse' eines Romans bezeichneten,102 war seine noch in keiner Bedeutungsnuance pejorativ belegte Spannung. Die Beherrschung ihrer erzählerischen Ökonomie wurde im 18. Jahrhundert die zentrale Bedingung des unvergleichlichen Erfolges einer bis dahin verachteten literarischen Gattung, Voraussetzung für die Mobilisierung eines immer größeren Publikums, das viel zu unhomogen und viel zu sehr von individualisierten Lektüreinteressen bestimmt war, als daß auf deren vorausschauende Ausrechnung die Autoren noch hoffen konnten. Für ein anonymes Massenpublikum geschrieben, mußte der Roman die literarische Kommunikation ebenfalls anonymisieren, von der Spekulation auf Bedürfnisse und Vorbildung der Leserschaft absehen und zum Garanten der Verständigungsleistung die innere Folgerichtigkeit des Handlungsfortschritts einsetzen. Vorangetrieben wurde dieser Prozeß von der dem Spannungsmoment inhärenten Bündelungsenergie gegenüber der Rezipientenaufmerksamkeit, theoretisch formuliert und propagiert wurde diese Technik jedoch im Zusammenhang der systematischen Dichtungslegitimation und durch die organisatorische Ausrichtung des Textes auf eine zu illustrierende Botschaft. Doch ob es um die unmerkliche Anfeuerung des Leserinteresses oder um die belehrende Allegorisierung einer Wahrheit ging, in jedem Fall wurde der Erzählprozeß auf die Präsentation der in sich stimmigen Fabel ausgerichtet - weil so dem Text entweder 'Interesse' verliehen werden sollte oder die erhoffte Eindeutigkeit. Denn solche Form der Spannung erzielten die Autoren nicht einfach durch Weglassung aller Vorausinformationen über den Ausgang der Handlung, vielmehr war die Ökonomie des 'Interesses' ein kompliziertes Fach, in dem die angemessenen Verhältnisse zwischen Geradlinigkeit und Umwegen, Beschleunigung und Retardation zu erlernen waren.103 In diesem komplexen Beziehungsgeflecht hat es kulturhistorische Veränderungen gegeben. Hier ist die Folie zu (329, Hervorhebungen nicht im Original). Das folgende Zitat NBWK 19, 1776, 275. 102 Weil dieser historische Begriffsgebrauch schon mehrfach zitiert wurde, braucht hier wohl nicht weiter belegt zu werden, daß es sich um eine zentrale Kategorie der Romankritik handelt. Siehe etwa das Urteil eines Kritikers über Tobias Knauf, so gut auch 'die Geschichte des wiedergefiindenen Sohnes' enehlt ist, so müssen wir doch bekennen, daß sie 'als Episode', zu lang scheint. (MDC 3, 1, 1774, 191).
Der 'eigentliche Gegenstand der Poesie'
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suchen, vor der sich die oben erwähnten Beschleunigungsprozesse als Phänomen der Neuzeit abzeichnen. Schneller geworden ist das Erzählen in zweierlei Hinsicht. Die integrative Einsetzung des Fabelprinzips unter Spannungsgesichtspunkten oder im Interesse von Lehrsatzvermittlungen markiert eine kulturhistorische Grenze, welche die jenseits ihrer liegenden Romantexte für die meisten nicht professionell 'interessierten' modernen Leser zu 'langatmig' und daher langweilig werden ließ. In der so forcierten Nutzung der Relation zwischen textlich aufgebauten Erwartungen und ihrer Befriedigung ergab sich dann erst der Parameter, nachdem die übergreifenden Beschleunigungen des Erzählens gemessen werden können. Einerseits scheint es also noch eine generelle Grenze zu geben, vor der literarisches Erzählen sich nicht in erster Linie an der Fabelinstrumentalisierung und (oder) einem integrativen Spannungsaufbau orientierte. Dies dürfte der Grund dafür sein, warum insgesamt Erzähltexte aus der Zeit vor der Klassik auf weniger Interesse stoßen. Andererseits scheint es allerdings allgemeine Tendenzen zur Beschleunigung des Erzählens zu geben, das sich ja auch seit dem 18. Jahrhundert noch immer weiter schnelleren 'Takten' anzupassen fortfährt. Daß die der neuen Lektüreform entsprechenden Erwartungen auch wirklich vom Text erfüllt wurden, war demgegenüber eine erst noch zu etablierende Gewißheit, welche die Mechanismen des Fabelprinzips einschliffen. Vor allem war es die Einheit der Handlung, für welche die Romankritiker in mühevoller Rezensionsarbeit stritten. Zum Teil aus grundsätzlichen dichtungstheoretischen Erwägungen, zum Teil, um dem Spannungsverlust vorzubeugen, forderten sie die Konzentration auf einen Handlungsstrang. Daneben sollten die Romane zwar den Fortgang der Handlung im Ungewissen lassen, aber zugleich überzeugte man sich, daß die Theilnehmung ungleich stärker sei, wenn der Leser durch mannichfaltige Winke dahin geftOirt werde, den Ausgang zu vermuthen, und immer mit 104
schwebender Begierde ihm zuzueilen. Die Stärkung des 'Interesses' eines Textes erfolgte über seine vollständige Durchorganisation. Weder notwendig noch hilfreich war dazu die schnelle Auflösung des 'Knotens'. Statt dessen ging es darum, jene Begierde des Lesers in der Schwebe zu halten, in einem komplizierten Verfahren nach strenger Hierarchie unter der Hauptspannung immer wieder weitere kleine Spannungsbögen aufzubauen, die in genauer Korrespondenz zu ihrer Wertigkeit im Verhältnis zur Haupthandlung wieder aufgelöst werden mußten. Diese Spannungshierarchie mußte dem Hierarchiegebäude von Haupt104
Mit dieser Bemerkung wies Wezel (unter Berufung auf Lessing) Hermes' Vorschlag zurück, die Erwartungen der Leser auf einen bestimmten Punkt zu führen und sie dann einfach zu täuschen (NBWK 19, 1776, 276; siehe Hermes: Sophiens Reise 1, 123f.)
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Der 'eigentliche Gegenstand der Poesie'
und Nebenhandlungen genau entsprechen. Steuerungsinstrumente der Lesererwartung waren dabei jene kleinen Winke. 105 Die nachfolgende Resonanz des Handlungsverlaufs vergewisserte die Leser mehr und mehr, daß der Erzähler ihren Bedürfnissen folge und nicht auf 'sinnlose', weil auf den weiteren Fabelfortgang unbezügliche Abwege gerate. Dadurch wurde reziprok die Eigentätigkeit des Rezipienten angeregt, auf entsprechende Hinweise zu achten, was im Gegenzug wiederum die Erwartungen auf ein literarisches 'Ganzes', einen in allen seinen Teilen funktionalisierten Text hob. 106 Wezel hielt es schon für in der Natur des menschlichen Geistes begründet, daß eine Geschichte, wenn sie Ein Ganzes seyn soll, nur eine Hauptperson hat, in deren Begebenheiten die Schicksale der übrigen eingeflochten sind, deren Interesse dem Interesse jener untergeordnet ist, und die Stärke desselben zu erhöhen, daß sie der Punkt ist, aufweichen die Aufmerksamkeit und Empfindung des Lesers beständig gezogen werden müsse. 107 Wegen der Möglichkeit, mittels immer neuer Spannungsbögen die Aufmerksamkeit der Leser zu dirigieren, fiel die Durchsetzung des Fabelprinzips nicht einfach mit der Steigerung der Geradlinigkeit von Erzähl-
105
In Nicolais Nothanker wird schon auf der 19. Seite des ersten Bandes der umständliche Bericht vom Niedergang der Familie mit der Bemerkung eingeleitet: So vollkommen das Glück dieser Familie war, so drohte es doch ein kleiner Vorfall zu unterbrechen. Damit ist im voraus signalisiert, daß die folgenden Ausführungen unmittelbar mit Sebaldus' Geschichten zusammenhängen. Solche - vielleicht auch wohl etwas subtilere - Vorbereitung vermißt der Rezensent in Köhlers Geschichte einer Spröden, den Szenen aus dem menschlichen Leben·, man erwartet einen tragischen Ausgang, aber die Spröde wird zahm, welche Bekehrung durch nichts vorbereitet worden (EGZ 9, 1777, 676). Die inzwischen etablierte Differenz erläutert eine Bemerkung von Schatz über La Roches Roman Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane, den er traditionell als Reihe moralischer Exempel las: Ree. [...] gesteht sehr gern, daß der Werth dieser Briefe, als Werk der poetischen Kunst betrachtet, äußerst gering ist: davon aber ist er innig überzeugt, daß in allen Sprachen wenig Bücher geschrieben worden, die mehr verdienten das Handbuch der Frauenzimmer aus dem Mittelstande zu seyn (ADB 109, 1792, 146). 107 NBWK 19, 1776, 272. Die Vorstellungen darüber, was eine vollständige Geschichte ist, waren schnell sehr gefestigt. Strukturiert wurden die Erwartungen der Leser aber offenbar auch von der Gewißheit über die Konstanz des Erzähltaktes, der Geschwindigkeit: so spekulierte ein Kritiker 1790 anläßlich des zweiten Teils von Justus, Graf von Orthenburg, über den Fortgang dieses Romans: Gut gemeynt ist das Ganze, aber wahrlich herzlich langweilig. Er [Verfasser] verspricht bald einen dritten und vierten Theil zu liefern; und wir müssen ihm noch danken, wenn er uns so wohlfeil davon kommen läßt; denn da der eigentliche Held der Geschichte in dem vorliegenden Theile nur noch als ein unbedeutender junger Mensch erscheint und selten auftritt; so hatte sich dieser Roman zu zehen Bänden ausdehnen lassen. (ADB 98, 1790, 135) Das Erzähltempo ist die dieser Kalkulation zugrundeliegende Größe.
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Prozessen zusammen. Der Unterschied zwischen Romanen, in denen alles auf einen Sinn hin, nach einem 'Plan' organisiert und fiinktionalisiert war, und un108
integrierten Texten, in denen sich der Leser verirrt, konnte mitunter sehr gering scheinen. So berief sich nach Auffassung des oben bereits erwähnten Rezensenten Gustav Löffler zu Unrecht wegen des absichtlichen Zerreissens seines Romans auf Hermes und Müller: aber ist denn dies gerade das Nachahmungs- und Lobenswerthe an den Romanen des Hrn. 'Hermes Ί fragte der Kritiker noch in Übereinstimmung mit den inzwischen geläufigen Urteilen. 'Und Müller'? heißt es dann: Müller zerschneidet wahrlich nicht seine Romane in so viele bunte Lappen. Seine Episoden sind so geschickt angebracht, daß man sagen möchte, keine einzige dürfe feilen, wenn das Ganze ein harmonisches Ganze seyn sollte. In seinen Episoden liegt eine Kunst, die - es thut uns leid - Herr Gustav Löffler übersehen zu haben scheint, denn nach seiner Manier darf man nur einen Roman in die Länge und Breite durchschneiden und die Segmente wieder zusammenwürfeln. 109
Es ging also nicht einfach um Geradlinigkeit des Handlungsfortschritts.110 Gerade die in zeitgenössischen Urteilen über Erzähltexte des 18. Jahrhunderts zu findende Korrelierung des Handlungsbegriffs mit einer Geschwindigkeitsmethaphorik veranschaulicht, wie sehr es sich bei literarischer Handlung um eine relative Größe handelt. Denn auch bei der 'Beschleunigung' von Handlung ging es nicht allein darum, einfach stringenter zu erzählen, 'was geschieht', sondern es handelte sich um die Erlernung einer komplexen Technik im Spiel mit der Beziehung zwischen aufgegriffenen oder aufgebauten Erwartungen und deren fortschreitender Modellierung. Fielding konnte zum Beispiel gerade dafür gelobt werden, daß er nicht 'geradlinig' auf das Ende der Geschichte zusteuerte: Er hat so vielerley Sachen mit eingeflochten, daß die Aufmerksamkeit des Lesers in beständiger Munterkeit erhalten, und durch eine künstlich gereitzte Neubegierde angetrieben wird, der Heldin durch alle ihre Begebenheiten zu folgen, und mit Ungedult zu erwarten, [ . . . ] m .
Die so gearbeitete Erzählung leistete noch etwas anderes, als nur alltäglichen, als unspektakulär geltenden Gegenständen eine interessante Seite abzugewinnen. 108 109
111
Schilling, NADB 3, 1793, 54. Schatz, NADB 5, 1, 1793, 98f. Schließlich muß der literarische Handlungsbegriff auch als eine äußerst abstrakte Größe der Veränderung verstanden werden, welche Kriege, Piratenüberfälle und Entführungen ebenso meinen kann wie das Absenden von Briefen oder eine Gefühlsregung.
FN 9, 1752, 197, über Amaiia.
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Der 'eigentliche Gegenstand der Poesie'
Aber auch dieses Vermögen wurde immer mal wieder an einzelnen Erzählern gerühmt, die dem Gewöhnlichen ein Leben und Interesse mitzutheilen oder durch Beymischung eines Grans Sonderbarkeit demselben eine ausgezeichnete Eigenthümlich111 keit zu ertheilen vermochten. Es handelt sich hierbei zunächst um Fragen des technischen Könnens, um Stilformen, die in vielen Textsorten gepflegt oder beherrscht werden konnten und nicht allein literarische Erzähltexte auszeichneten. Um diesen aber als Ganzes 'Interesse' zu verleihen, bedurfte es der kontinuierlichen Verlängerung von Spannung, welche jedoch auf den Fortgang der Geschichte bezogen blieb. Insofern ging es hierbei um eine Modellierung der Rezipienteninteressen, welche auf die immanente Entwicklung der Handlung bündelnd ausgerichtet wurden. 113 Das konnte unter anderem bedeuten, die Episoden, Umwege und Abschweifungen zu verkürzen, denn ihre Länge mußte in ein akzeptables Verhältnis zu ihrer Relevanz für den Geschichtsverlauf gesetzt werden - was auch heißen konnte, daß die schließlich sich erweisende Bedeutung einer scheinbaren Nebenhandlung vorher angedeutet werden mußte. So kam es bei der 'Beschleunigung' des Erzählens lediglich auf den Takt an, in dem die Aufmerksamkeit modelliert, also bestimmte Erwartungen erfüllt und neue wieder aufgebaut wurden, wobei die 'meßbare' Handlung selbst langsam bleiben durfte: Er [der Verfasser] gibt auch nur einen Auszug [aus dem Tagebuch] mit Weglassung alles Unerheblichen, und so geht die Geschichte rascher fort, als in vielen Romanen, wenn sie hier gleich von einem Tage zum andern zu schleichen scheint.114 Diese Form der beständigen Bearbeitung der Rezipientenaufmerksamkeit zielte auf die fortgesetzte Rückbindung von Erwartungen an das Ganze der Geschichte, und dies auch ist die Gemeinsamkeit zwischen dem Fabelprinzip und dieser Technik der Spannungsaufrechterhaltung, beide benutzten zu unterschied-
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So ein Kritiker über den ersten Komischen Roman, aus den Papieren des braunen Mannes von J.G. Müller, ADB 71, 1787, 127. Das Scheitern ähnlicher Versuche wurde allerdings scharf kritisiert: langweilige Abhandlungen über alltägliche Gegenstände vermehren den Widerwillen, den man bey dem Lesen dieses schlechten Buchs empfindet (NADB 12, 1794, 404). Siehe etwa EGZ 9, 1777, 676: denn an ein lebhaftes und sich stets gleiches Interesse, welches diese Scenen zu einem guten Ganzen machte, ist nicht zu denken (über: Szenen aus dem menschlichen Leben, oder die Geschichte einer Spröden). FGA 1777, 389. Siehe auch Hupeis Formulierungen in der NADB (3, 1793, 56), der von der Kunst spricht, in die Begebenheiten ein anziehendes Interesse zu legen, wenigstens durch geschickte Verwickelungen zu Erwartungen zu spannen.
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liehen Zwecken die integrative Anbindung des gesamten Erzählprozesses an die Einheit der Fabel. Mit der sich recht unspektakulär ausnehmenden Einsicht, daß literarische Handlung nicht mit menschlicher Handlung der außerliterarischen Wirklichkeit gleichzusetzen ist und die 'Interessantheit' von Romanen nicht auf der schlichten Präsentation von Handlung, sondern auf der Modellierung von Leseerwartungen beruht, hätte eigentlich die lange währende Debatte darüber, ob Romane 'Handlung haben' und also eine Geschichte erzählen müssen, schon früh entschärft werden können.115 Daß dies nicht geschah, hing vor allem mit Gründen der Literaturtraditionen zusammen. Einerseits schrieben sie seit der Antike den meisten literarischen Gattungen die Nachahmung menschlicher Handlungen vor, zum andern hatten gerade die Romane ja ihren Erfolg in der Anlehnung an eine Textsorte gesucht (und gefunden), die sich ausschließlich mit menschlichen Handlungen befaßt - der Historie. Kein Wunder daher, daß im 18. Jahrhundert nicht streng zwischen literarischer und außerliterarischer Handlung unterschieden wurde. Gerade von dieser begrifflich unscharfen Identifikation profitierten die Romane. Streng nach dem Fabelprinzip gearbeitet, hätten sie nicht der Fingierung menschlicher Handlungen bedurft, um bestimmte Botschafben zu kodieren, das literarische Zeichen wäre gänzlich arbiträr gewesen, auch mit der Geschichte von der Wahl eines Königs unter den Bäumen lassen sich Wahrheiten vermitteln." 6 Doch die Romane standen in ganz anderen Traditionen, welche die Durchsetzung des Fabelprinzips erst allmählich gestattete - und so nutzten die Texte die in der Fingierung menschlicher Handlung liegende größere Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit, welche die Rezeption erleichterten. Daran hat sich bis heute wenig geändert, nur daß sich immer wieder einmal normative Erklärungen gegen diejenigen Erzähl werke Gehör verschaffen, welche diesen Weg der leichteren Zugänglichkeit verwehren und 'Handlung' weitgehend auflösen. Das 18. Jahrhundert jedoch, und darauf galt es hier hinzuweisen, verfügte über einen inzwischen abhanden gekommenen117 Begriff für die Bezeichnung
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1,6
117
Siehe hierzu etwa Löffler: Die Fabel als strukturbildendes Prinzip des traditionellen Romans; einen Überblick über die Debatte unseres Jahrhunderts gibt Reichel: Der Roman und das Geschichtenerzählen. Siehe Gottsched: Critische Dichtkunst, 15 lf. Vor allem die ästhetischen Konzeptionen der Interesselosigkeit verboten diese Redeweise für eine Gattung, die sich darum bemühte, zur Kunst zu gehören. Zur Begriffstradition siehe Stierle: Diderots Begriff des Interessanten, wo die verschiedenen Theorietraditionen für die Verwendung des Interesse-Begriffs in den Konzeptionen 'ästhetischer' Rezeption kurz skizziert werden, sowie allgemein: Interesse, HWP 3, 479-494 (H.-J. Fuchs; V. Gerhardt).
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des in manchen Texten realisierten Vermögens, auch die Bedürfnisse eines größer, anonymer, unhomogener und unkalkulierbarer gewordenen Lesepublikums aufzugreifen und zu steuern. Eine in dieser Weise veränderte Leserschaft in der gespannt-aufmerksamen Lektüre des Romans zu integrieren und dem Lektüreabbruch zu entgehen118 war aber eine erst neu entstandene Notwendigkeit für die Romane, die in der Rede vom 'Interesse des Textes' ihr historisches Indiz fand und erzähltechnische Verfahren umschrieb, welche den Tendenzen zur gänzlichen Individualisierung der Bewußtseinshorizonte zu begegnen wuß-
8.4
Intention, Leseanweisungen, Vieldeutigkeit
Die Konzentration der Erzähltexte auf den Handlungsverlauf stärkte die innere Kohärenz der Texte und erhöhte damit deren Anschließbarkeit an die je individuellen Vorbildungen und Verstehensbedingungen der Leser. Unterschiede im Sujet zwischen den Texten traten so zurück zugunsten der innertextlichen Bezüglichkeit, des Integrationsgrades der narrativen Präsentation. Unterstützung fand diese Tendenz noch durch eine thematische Beschränkung aller Genres auf die Minimalbedingung, daß die Romane die Natur des Menschen thematisierten. Diese Beschränkung erfolgte über den Markt (etwa die Ausscheidung von politischen und Staatsromanen)120 und hatte ihren Bedingungszusammenhang in der 118 Dieses Risiko hatten die Autoren vollständig zu tragen, denn die Romane erschienen immer nur in Teilen, so daß also die Marktreaktion auf den ersten bereits über die Publikationsmöglichkeiten des zweiten entschied. So erschien beispielsweise von Blankenburgs Beyträgen zur Geschichte Deutschen Reichs und Deutscher Sitten nur der erste Teil (mit drei Büchern). Umgekehrt wurden manche Romane auch in flexibler Reaktion auf den Erfolg des ersten Teils zusätzlich verlängert. So erschien vom Pfarrer Müller und seinen Kindern 1784 der dritte und letzte Theil, in der zweiten Auflage von 1792 aber auch ein vierter und 1793 noch ein fllnfter und letz119 ter Theil. In der Negation belegt diese Zusammenhänge noch einmal Knigges Verriß des Romans Leben, Reisen und Schicksal Georg Schweigharts, eines Schlossers, ein Büchlein fllr Meister, Gesellen und Lehrjungen: Daß Leser von einer gewissen Cultur dies dickleibige Buch unerhört langweilig finden müssen, das wird nun wohl der Hr. Vf. selbst einsehen; allein schwerlich wird es auch für die Meister, Gesellen und Lehrjungen, denen es eigentlich bestimmt ist, eine nützliche Leetüre werden. (NADB 4, 1793, 598f.) Quantitativ nimmt in den gesamten Romankritiken der ADB das Kriterium der 'Kurzweiligkeit' einen deutlich wichtigeren Platz ein als die 120 Frage der Nützlichkeit. Bezeichnenderweise wurde Wielands Goldener Spiegel gerade deshalb als 'politischer Roman' geduldet, weil in ihm alles Lebhafte in die angenehmste Erzehlung eingekleidet sei: Zwar haben wir schon, wie Sie wissen, der gleichen politischen
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Hegemonie der 'Diskurse vom Menschen'. In der forcierten Modellierung der Leserinteressen und der Herausbildung des 'Interesses' der Geschichte wurden also die Texte tendenziell in sich selbst zusammenhängender und damit leichter rezipierbar. Doch das Problem der Vieldeutigkeit war damit noch immer nicht gelöst. In dieser Frage bemühten sich die anspruchsvollen Texte um komplexe Reparaturversuche in der Problematisierung des Erzählvorganges selbst. Einschlägig 151 ist hier das Auftauchen des 'empfindsamen Erzählers' , also die mannigfachen Versuche in der Sterne-Nachahmung, anstelle einer Handlung vom Erzählen zu erzählen. Dies konnte grundsätzlich so geschehen, daß in der kenntlich gemachten Beziehung vom Erzähler zur Handlung die zweifelhaft gewordene Eindeutigkeit der Fabel (wieder-) hergestellt wurde, oder daß die Eindeutigkeit als ein erzählerisch nicht zu lösendes Problem thematisiert wurde. Die traditionellen moralisierenden Reflexionen und Sentenzen bedeuteten zwar auch einen 'Sprung' aus der Erzählung, waren aber überwiegend nicht zu längeren Unterbrechungen ausgeweitet und problematisierten so gut wie nie die Eindeutigkeit des Geschehensablaufs oder seiner (moralischen) Bedeutung. Beim 'empfindsa-
121
Romane; allein, sie sind theils in einem zu übermenschlichen, fabelhaften Gewände, wie der Telemach, theils in einer zu trocknen philosophischen Erhabenheit, wie der 'Usong' vorgetragen. (MDC 1, 2, 1772, 190f.) Gerade weil der Erzähler in Sternes Texten seine Betrachtungen und Digressionen in der so erfolgreichen empfindsamen Laune vorträgt, liegt es durchaus nahe, die deutschen Nachahmungen dieser Erzählweise mit dem Begriff des 'empfindsamen Erzählers' zu belegen. Selbst wenn die gemeinte Veränderung der Erzählinstanz in den Romanen nicht gänzlich der Empfindsamkeit zugeschlagen werden kann (siehe Voßkamps Einwand gegen N. Miller), so soll hier aus pragmatischen Gründen daran festgehalten werden. Zum einen ist der Begriff einigermaßen geläufig geworden, zum anderen haben auch andere Benennungen ihre Schwierigkeiten: ein 'persönlicher' Erzähler gestattet nicht mehr die Unterscheidung von solchen Erzählerfiguren, die selbst in die Handlung eingreifen, und ein 'anthropologischer' Erzähler scheint noch weniger das gesamte Phänomen zu bezeichnen (Halter: Anthropologische Kosmologie, 108 u.ö.), siehe zum Zusammenhang Miller: Der empfindsame Erzähler, sowie die kritische Rezension von Voßkamp, außerdem W. Kaysers Beiträge zum persönlichen Erzähler (Die Anfange des modernen Romans im 18. Jahrhundert; Das Problem des Erzählers im Roman; Wer erzählt den Roman?). Der vor allem von Kayser in die deutsche Debatte gebrachte Begriff des Erzählers korrespondierte der in der Erzählforschung vorübergehend wieder aufgeflackerten Hoffnung, die Percy Lubbock bereits 1921 formulierte: The whole intricate question of method, in the craft of fiction, I take to be governed by the question of the point of view - the question of the relation in which the narrator stands to the story. (The Craft of Fiction, 73) Siehe etwa Dolezel: Die Typologie des Erzählers; Friedman: Point of View in Fiction; Uspenskij: Poetik der Komposition; Stanzel: Theorie des Erzählens; Weimann: Erzählerstandpunkt und point of view. Mittlerweile ist diese Debatte wieder etwas erlahmt.
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men Erzählen' geschah oftmals beides, der Erzähler sprach eindeutige Wermi tungen aus und stellte diese zugleich mit Mitteln der Ironie in Frage. Sterne nutzte im Tristram Shandy die neu entdeckten Möglichkeiten sogar zu 123 · einem verwilderten
Erzählen, das die Abhängigkeit einer Geschichte vom Er-
zähler vorführt und das Gewicht zwischen Handlung und Erzähler sehr weitgehend zu dessen Gunsten verschiebt. Und dabei wurde der Hinweis auf das Artifizielle noch gesteigert durch die Betonung der sprachlich-zeichenhaften Medialität (etwa die berühmten schwarz gedruckten Seiten). Am Tristram Shandy, aber auch an Hippels Nachahmungen der Sterneschen Erzählweise 124 tritt deutlich hervor, daB diese Texte einen Leser voraussetzen, der entweder sich an dem empfindsamen Tonfall vergnügte oder an den Problemati sierungen der narrativen Technik interessiert war. Deshalb ist es durchaus erwartbar, daß selbst unter den professionell lesenden Zeitgenossen einige Sternes Erzählweise nicht völlig ohne Langeweile rezipierten - und mit einem entsprechenden Hinweis dann Wezeis Tobias kritisierten. Etwa: Wenn selbst Sterne mit aller seiner sentimentalischen Laune uns zuweilen durch seine weitschweifigen Digreßionen ermüdet, wenn das Interesse der Neugierde und die erhitzte Einbildungskraft ungern der moralischen Betrachtung weicht, und wenn diese den Faden der Geschichte abschneidet, eben indem wir begierig ihn fortgeführt sehen wollten [...]. Es mag sein, daß (nach S. 120) der Appetit der Leser einen halb verdorbenen Magen beweise, daß die nützliche Betrachtung eine solidere als die angenehme Erzählung sey: wir können dennoch die Natur nicht umändern, und müssen uns nach dem Geschmacke 125 richten, wenn wir gefallen und nicht bloß nur nützlich seyn wollen.
122 Ein anderer Fall liegt in fiktiven Autobiographien vor, in denen sich aus der zeitlichen Differenz von Erlebnis und Bericht oft eine reflexive Spannung ergibt, von der jeweils versucht wurde, sie in die Stimmigkeit einer gelungenen Interpretation der eigenen Rolle in der Wirklichkeit zu überführen. Siehe hierzu ausführlich Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. 123 Siehe hierzu auch ausführlich Miller: Empfindsamer Erzähler, 217-310, (zu Tntram Shandy 258-278), sowie Warning: Fiktion und Wirklichkeit. 124 Siehe hierzu Michelsen: Laurence Sterne und der Deutsche Roman des 18. Jahrhunderts, 274-311. 125 MDC 3, 1, 1774, 188. Zwar gelang es Hippel, unter den Rezensenten einigermaßen Anerkennung zu finden. Doch hatten diese Romane vor allem bei 'gelehrten' Lesern Erfolg, die auch den diskursiv eingestreuten Bemerkungen gegenüber aufgeschlossen und verständnisvoll geblieben waren. So wurden nach der ADB von 1785 die Leser, die sich mit Hippels Sonderbarkeit vertragen können, wegen seines eigentümlichen Witzes durch die Lebensläufe hindurch dennoch festgehalten, so sehr der V. diese Grundideen ins Lange und Breite dehne. (ADB, Anhang 37-52, 1, 1785, 382f.) Demgegenüber hatte die FGA 1778 das gleiche Werk trotz der Vernachlässigung der Handlung unter die ersten des Romanfaches gezählt (611).
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Wie die zitierte Stelle belegt, wehrte sich Wezel noch mit herabsetzenden Bemerkungen über den schlechten Geschmack der Leser gegen die Ungeduld gegenüber langen Einschüben und Abschweifungen. Doch bestätigt der rasch gewachsene Unmut über diese Erzählform, wie er an sehr vielen Rezensionen zu spüren ist, noch einmal die allgemeinen Tendenzen, welche zur Durchsetzung 126
des integrativen Erzahlens im Rahmen des Fabelprinzips führte. Gerade die Rede vom 'empfindsamen Erzähler1 liefert den Fingerzeig auf die anfängliche Kommunikationssituation, in der diese neue Erzählmanier aufmerksam und aufgeschlossen gelesen wurde. Im Kontext der Empfindsamkeit waren die Anschlußmöglichkeiten zur fortgesetzt interessierten Rezeption solcher Texte auch dann vorhanden, wenn die Neugier auf die reflexiven Problematisierungen des Technischen am Erzählen (noch) nicht ausgebildet waren. Der sentimentalische Monolog des Erzählers über sich, (s)eine Geschichte und die Welt 127 fand in der entsprechend eingestellten Leserschaft ein fasziniertes Publikum. Je mehr jedoch die Verständigungshorizonte auseinander traten, je größer, divergenter und unberechenbarer die Leserschaft wurde - und je mehr die Romane auf diese Veränderung reagierten -, desto weniger gelang es diesen Texten, für 'ihr Publikum' zu schreiben. Die Geduld gegenüber ausufernden Unterbrechungen der Narration nahm ab. So konnte diese Art des äußerst reflektierten Erzählens, die bis an die Grenze der Handlungsauflösung die Erzählerkommentare ausdehnte, sich nicht auf Dauer 'ihr' Publikum sichern. Dabei standen diese Werke in dem spezifischen Dilemma, in der Weise besonders anspruchsvoll zu sein, daß sie geradezu redlich auf die Probleme des Erzählens mit ironischen Brechungen und Anspielungen hinwiesen, mit der Deutlichkeit der Problematisierung aber zugleich die über Kohärenzeindrücke aufgebauten Wahrheitsansprüche zurücknahmen. Zumindest in der radikalen Weise von Sterne und seinen deutschen Nachahmern wurden gerade auch die Verfahren der inneren Handlungsverknüpfung ironisiert. Eben die Eindeutigkeit, 126 In einem 1795 anonym erschienen Aufsatz zu der Frage, warum man Bücher liest, wurde die gewandelte Rezeption der veränderten (erweiterten) Leserschaft dahingehend resümiert, daß es gewiß nur wenige Menschen gebe, die Geduld genug besäßen, ein Buch sey es übrigens noch so unterhaltend, durchzulesen, in welchem neben dem Belehrenden nicht noch auf irgendeine Weise fllr die angenehme Unterhaltung des Lesers gesorgt wäre. ([Anonymus:] Warum lieset man Bücher? und was hat man dabei zu beachten?, 5f. Hier kommt es vor allem auf die Entgegensetzung von 'übrigens noch so unterhaltend' mit 'angenehme Unterhaltung' an) Hierher gehört Jean Pauls Wort von der Sterne-Nachfolge in Deutschland, vom langen, wässerigen Kometenschweif damals sogenanter (jetz ungenannter) Humoristen, welche nichts wären als Ausplauderer lustiger Selbstbehaglichkeit (Vorschule der Ästhetik, 114 [§ 32]). Das mag die Häme des von solchen Vorwürfen mitunter selbst Betroffenen sein.
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mit der etwa Hippels Romane Fabelkonsistenz karikierten und als Suggestiv-Effekte 'entwerteten', kostete diese Texte schon binnen kurzem eine breitere Leserschaft. Gerade weil der 'empfindsame Erzähler' auf die Uneindeutigkeit literarischer Fabeln, die unter theoretischen Ansprüchen zunehmend als Problem empfunden wurde, vereindeutigend reagierte, indem er sie zum Thema machte, blieb er eine nur kurzzeitig erfolgreiche Reparaturleistung. Wieland stellte unter dem Titel Keine Vorrede der Geschichte des Weisen Danischmend, des Anhangs zum Goldenen Spiegel, einen kurzen Dialog voran. Darin wurde Bezug genommen auf die Frage der Eindeutigkeit literarischer Erzählwerke, doch mischte sich in die obligate Ironie bereits ein Schuß Resignation: Eine Vorrede vor ein Werk, wie die Geschichte des Filosofen Danischmend? Nein, bey allem was gut ist, ich werde keine Vorrede dazu machen, es erfolge auch daraus was will! Für den verständigen Leser würde die kürzeste zu lang seyn: und dem unverständigen hilft keine Vorrede, und wenn sie dreymahl länger wäre als das Werk selbst. [...] Aber es giebt nun einmahl solche Leser, gegen die man sich sehr kategorisch erklären muss, wenn man Unheil verhüten will. Ich dächte, Sie wärens Sich selbst schuldig, diesen Leuten ein für allemahl so deutlich, als nur immer möglich ist, zu sagen, wie Sie verstanden seyn wollen. Dieß ist längst geschehen, erwiederte ich. Wie kann ich mich deutlicher erklären, als ich im Goldenen Spiegel gethan? Wer nun nicht versteht, will nicht, - oder befindet sich im Falle des ehrlichen Mannes, der [...] weder mit noch ohne Brille lesen konnte.
Darauf betonte der Sprecher die Aussichtslosigkeit eines Autors, der unverstandige Leser zum Gebrauch des Verstandes zwingen wolle, und begründet damit das ΙΛΟ
Ausbleiben der Vorrede. Solche Resignation ist nicht ganz unverständlich, vermochten doch selbst die eifrigen Bemühungen zur Markanz und Eindeutigkeit 129 auch so scharf satirischer Romane wie des Goldenen Spiegels unterschiedliche Leseweisen nicht zu verhindern. Die Thematisierung und Problematisierung des romanhaften Gechichtenerzählens, die Karikierung der geläufigen Verfahren von narrativer Konsistenzbildung und die Versuche zur Leserlenkung durch den hervortretenden 'empfindsamen' Erzähler, dieser ganze Komplex von Relativierungsmaßnahmen, mit denen gerade die anspruchsvollen Romane ihre Wahrheitswerte noch in der Offenlegung zu retten versuchten, erfuhr sein Scheitern. Nicht nur nahm die Ungeduld gegenüber den Digressionen und Einschüben zu, nicht nur ließ sich die Eindeutigkeit der Fabel letztendlich doch nicht herstellen, 128
129
Alle Zitate Sämtliche Werke, 8, 3f. Immerhin bekam Wieland einige Passagen nicht durch die Zensur.
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sondern obendrein wurden die Schwierigkeiten auch durch Sichtbarmachung 130
noch nicht aufgehoben. Der sich immer wieder in die Narration einschiebende Erzähler läßt sich also verstehen als ein Problemlösungsvorschlag vor allem deijenigen Autoren, denen die Aufrechterhaltung der inzwischen aufgebauten literarischen Wahrheitsansprüche des Romans besonders am Herzen lag und die sich abstrakten Nützlichkeits- und Rationalitätsnormen tendenziell eher verpflichtet fühlten als den reinen Unterhaltungsbedürfnissen der Leser. Deshalb widmeten sich diese Autoren eher dem Problem der Eindeutigkeit als der Spannungssteigerung, waren sie doch alle mehr oder weniger anfallig gegen den potentiellen Vorwurf, auch lediglich ein einziges schwaches Herz nur einen einzigen Schritt von seiner erhabenen 131
Bestimmung zur Tugend abgehalten zu haben, wie Sattler es formulierte.
Die
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Evidenz der prinzipiellen Aussichtslosigkeit dieses Anspruchs trieb die Bemühungen zur Vereindeutigung durch den Erzählerkommentar hervor, wie die zitierten Bemerkungen Wielands zeigen. Langfristig erfolgreicher und für das moderne Verständnis von Erzählliteratur prägender war aber eine ganz andere Reaktion auf die Erfahrung, daß das Publikum sich hartnäckig allen homogenisierenden Bildungsanstregungen widersetzte. Zunächst mehrten sich die Stimmen, die allzu große Rücksicht auf die ungebildeteren Leser, von weniger kultiviertem Geschmack, tadelten. So verwarf ein Rezensent den 1793 erschienenen Roman Der Ehremisch, oder Erzählungen aus den Ritterzeiten mit den Worten: Der ehrliebende, verständige Schriftsteller hält den Lesepöbel nicht fur sein Publikum, und Leuten, die Geschmak und ein richtiges Gefühl haben, kann 133 dergleichen Waare nicht anders als anekeln.
Goethe und Schiller werden ähnliche Positionen zugeschrieben, wie man sie am Streit mit Nicolai abliest.134 Statt die pädagogische Verantwortung der Dichtung 130
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132
133
134
Zur Ungedult gegenüber Abschweifungen siehe etwa Mauvillon in der NADB, 3, 1793, 360: Wir wollen das unaustehliche seiner [des Verfassers] langen witzig seyn sollenden Zwischenbetrachtungen nicht in Erwägung ziehen. Schon 1772 verriß Musäus die 'Digressionssucht', der sich Schummel in Nachahmung von Sternes Yorik schuldig gemacht habe (ADB 16, 1772, 687). Siehe aber auch die scharfe Formulierung von Schatz, ADB 96, 1790, 136: Bey jeder Gelegenheit verliert er sich in die eckelhafiesten Digressionen. Friederike oder die Husarenbeute 1, Vorrede )(7. Siehe hierzu etwa .Sattlers Lob von Hermes' Sophiens Reise als von vorbildhafter moralischer Integrität, während Blanckenburg gerade in diesem Punkt den Roman rügt (Versuch über de» Roman, 276). NADB 12, 1794, 59. Siehe hierzu zum Beispiel Berghahn: Maßlose Kritik.
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für alle Leser zu betonen, scheinen die Weimarer Literaturstrategen in ihrem 'Commercium' eher Abschied genommen zu haben von der geläufigen Vorstellung, daß der Dichter das Publikum 'zu sich heraufziehen 1 und im Zweifelsfall eher der Durchsichtigkeit und Eindeutigkeit als der Spannung und dem Unterhaltungsbedürfnis treu bleiben solle. Heinz Schlaffer hat diese geläufige These mit der Beobachtung konfrontiert, daß Goethes Romane dem zeitgenössischen Publikum offenbar wenig interpretatorische Schwierigkeiten zu bereiten schienen. Bei der Exoterik ihrer klassischen Wahrheit, ja Glätte ihrer Sprache136, glaubten demnach die Zeitgenossen, sich über den Sinn der Texte nicht täuschen zu können. Neben dem Arbeiten für eine solche exoterische Rezeptionstradition habe Goethe jedoch zusätzlich eine esoterische Sinnschicht in seine Romane eingezogen, welche zugleich auf jene reflexiven Bezug nehme. Dennoch geben Goethes Romane, anders als es die Literaturfehden andeuten, keine eindeutige Entscheidung für esoterisches Lesen und esoterisches Dichtungsverständnis zu erkennen. Dieser Befund ließe sich durch den Blick auf den Erzähler in Wilhelm Meisters Lehrjahren weiter präzisieren, wodurch sich (mehr als nur exemplarisch) zentrale Veränderungen in der neuzeitlichen Erzählliteratur veranschaulichen lassen. Verglichen mit einem immer wieder sich kommentierend, reflektierend, abschweifend, ironisch in fingierten Gesprächen mit dem Leser in den Lauf der Narration einschiebenden (spätaufklärerischen) Erzähler ist der Erzähler im Wilhelm Meister deutlich zurückgenommen. Dieser Roman brach mit der Tradition einiger hochkomplizierter Texte, in der Kenntlichkeit der Erzählinstanz die Gewichtung zwischen Fabel und Erzählprozeß soweit zu verändern, daß dort eher vom Erzählen erzählt wurde als von einer Geschichte. Bei Goethe finden sich keine längeren Abschweifungen und Digressionen, keine Leseranreden, nicht einmal ein Vorwort, die Narration scheint ganz allein der inneren Logik der Handlung und den Unterhaltungsbedürfnissen der Leser zu folgen. Wilhelm Meisters Lehrjahre illustrieren eine Wende in der Romangeschichte, an der die Hoffnung auf Vereindeutigung literarischer Fabeln preisgegeben worden ist. 137 Goethes Roman leistete den Forderungen nach 'Handlung' und geradlinigem
135 137
Siehe hierzu den Band Unser Commercium. Heinz Schlaffer: Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen, 213.
'
In diesem Zusammenhang ist es sehr bezeichnend, daß das sechste Buch, die Bekenntnisse einer schönen Seele, selbst von vielen der 'gelehrten' Zeitgenossen kritisiert wurde, weil es den Gang der Handlung hemme (siehe Gille: Wilhelm Meister im Urteil der Zeitgenossen, 48f.). Friedrich Schlegel suchte die beispiellose Willkürlichkeit der Verflechtung dieses Teils mit dem Ganzen in abstrakteren Verweisungs- und Beziehungszusammenhängen zu rechtfertigen, (Über Goethes Meister, KA 2, 141).
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Erzählen Folge, wobei - wie angedeutet - sich hinter der vermeinten Präsentation von literarischer Handlung vor allem eine fortschreitende Modellierung von Lesererwartungen verbarg, das Spiel mit der kontinuierlichen 'Befeue138
rung 1
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der Spannung. Die Geschichte ist also 'gut erzählt'
, aber weder fin-
det sich irgendwo eine explizite Entschuldigung der für viele Rezipienten moralisch bedenklichen Stellen, 140 noch gibt es irgendeine ausdrückliche Leseanweisung durch Herausgeber oder Erzähler. Johann Martin Miller etwa hatte sich gegen die Gefahr, moralisch vielleicht nicht eindeutig genug verstanden zu werden, noch auf die Lauterkeit seiner Intention berufen. 141 Bei Goethe ist die Kenntlichkeit der Intention dagegen eingezogen, all die zuvor erprobten Techniken, die mit einem Roman verfolgten Absichten eindeutig herauszustellen, Mißverständnissen vorzubeugen, ungewünschte Rezeptionsweisen auszuschließen, sucht man in den Lehrjahren vergeblich. 142 Eher muß man zu dem Eindruck gelangen, daß Goethe noch jenseits seiner Werke eine Unzahl von Fährten gelegt hat, die in verschiedene Richtungen führten. Obendrein bestritt er immer wieder die Einheit der Textbedeutung. 143 Doch was Goethe gesagt oder gedacht haben mag, ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung, sondern vielmehr die Rolle seines klassischen Romans in der Geschichte der Relation zwischen Text und Rezipienten. Ihnen gegenüber markieren die Lehrjahre zunächst keine esoterische Ausgrenzung, sondern eher eine Vereinnahmung: die Versuche zum Ausschluß bestimmter Leseweisen sind aufgegeben, der Text ist stärker auf die neue, kursorische Lektüre hin berechnet, als dies die Werke Hippels, Wezeis, Wielands mehrheitlich taten. Gleichzeitig scheint sich Goethes Roman weder gegen ein naives noch gegen ein reflexives, quasi nur vorläufiges Sich-Einlassen auf die Fabel zu sperren. Dieser Einzug der 138
139 140
Siehe NBWK 19, 1776, 275. Manso war der Roman an manchen Stellen sogar 'zu schnell' (siehe NADB 3, 1, 1797, 213). Gerade in dieser Hinsicht erregte der Roman ja viel Aufsehen; siehe etwa Johann Georg Schlossers Bemerkung über die schöne Seele des sechsten Buchs: Ich kann
noch nicht meinen Verdruß verbeißen, daß Goethe dieser reinen Seele einen Platz in seinem B... [Bordell] angewiesen hat, das nur zur Herberge dienen sollte flir vaga141
bondirendes Lumpengesindel (in: Menge: Der Graf Leopold Stollberg und seine Zeitgenossen 2, 85). Siehe [Miller:] Geschichte Karl von Burgheims 1, Vorrede, 12f. Zugleich waren die Rezensenten solcher Freigabe der Lektüre gegenüber skeptisch, wie Walchs Bemerkung über einen anderen Roman illustriert: Der Verf. schreibt
[...], der Gesichtspunkt, aus dem man sein Buch zu betrachten habe, werde sich wohl von selbst finden [...]. Wir unsers Theils wollen uns nicht herausnehmen, den Gesichtspunkt bestimmen zu wollen. (NADB 14, 1795, 477) Siehe hierzu die Belege bei Brunemeier: Vieldeutigkeit und Rätselhaftigkeit, 209245.
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Intentionskennzeichen ließ der Pluralität der Deutungen und Rezeptionsweisen freien Lauf, nicht zuletzt deshalb, weil dieser Roman ja nicht einfach mit naiver Eindimensionalität eine Geschichte erzählt. Auch hier gibt es einen Erzähler, dessen Verhältnis zur Narration bestimmt werden kann, und an diese Relation lassen sich mit Recht subtile Interpretationen anschließen. Auch hier läßt sich Ironie aufspüren, wie die Erörterungen dieses Textes seit Friedrich Schlegels Rezension immer wieder betont haben. Doch handelt es sich ganz offenbar um eine andere Ironie als die eines Wielandschen Erzählers. An der Ironie der Lehrjahre fallt demgegenüber vor allem auf, daß sie so gut wie nie 'deutlich' wird, immer nimmt sie nur deijenige wahr, der 'noch genauer' liest oder, anders gesagt: der die Sinnrationaltität des Werks auf einer anderen Ebene verfolgt. Staiger zum Beispiel beobachtet, daß Goethe sich ein Vergnügen daraus mache, in seinen letzten Büchern auf einmal mit anderen Maßen zu messen. Bezeich-
nenderweise schließt sich an diese subtile Wahrnehmung der Versuch an, ihre Gültigkeit gegen polyvalente Relativierungen abzusichern: Daß dies geschieht, kann freilich auch dem blödesten Leser nicht entgehen.
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Immerhin ist aber etwa die zur Illustration angeführte Unstimmigkeit zwischen der moralischen Zweifelhaftigkeit von Lotharios Verhalten in einigen seiner Liebesgeschichten und seiner Bewertung durch den Erzähler auch Lesern wie Schiller und Schlegel entgangen. Goethes Ironie, am ehesten dort zu finden, wo die verschiedenen Rezipienten von der 'Leichtigkeit des Tons', dem 'Schwebenden' der Erzählung sprechen, ist eine Ironie, die nicht das positiv Gesagte konterkariert, sondern im Bemühen um die eigene Uneindeutigkeit Position und Konterkarierung im Vagen hält.145 Über wenige Texte der deutschen Literatur ist im Laufe des inzwischen fast 200 Jahre währenden Interpretationsgeschäftes so wenig Einigkeit erzielt worden wie über Wilhelm Meisters Lehrjahe.146 Eröffnet worden ist dieser Interpretati144
Staiger: Goethe 2, 146. Diese Differenz in der Haltung des Erzählers in den Lehrjahren hatte bereits Manso in seiner Rezension 1797 bemerkt: so kommt uns auch der ganze Ton und die Manier des Erzählers plötzlich verändert vor. (NADB 31, 1797, 213) 145 Siehe hierzu Cilien: Die Ironie in Goethes Wilhelm Meister. 146
Ob Wilhelm nun sich bildet oder nicht, ob die Turmgesellschaft eine Sozialutopie ist oder nicht, ob der Text eine soziale und liberale politische Option darstellt, ob Wilhelm, der Abbö, Lothario, Jarno, Friedrich, Laertes, ob Mariane, Philine, Aurelie, Therese, Nathalie oder Mignon Identifikationsfiguren sind oder nicht, ob es auf die Fabel in irgendeiner Weise ankomme oder nicht, die Reihe der unentschiedenen Fragen ließe sich noch um etliche verlängern. Siehe neben vielen anderen zu
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onsbetrieb durch den Roman selbst, der nicht nur die literarhistorische Aufkündigung aller Vereindeutigungsversuche anzeigt, sondern die Ambiguitäten selbst noch steigert durch alle diese wunderbaren Zufälle, weissagenden Winke und geheimnisvollen Erscheinungen,147 Denn auch die von all diesen Andeutungen ausgehenden Irritationen sind nicht so markant, daß sie sich in die Versuche einreihen ließen, die Rezipienten zu bestimmten Lesarten zu zwingen oder andere auszuschließen. Goethe hat für den Geschmack des zeitgenössischen Romanpublikums durchaus rasch und geradlinig erzählt, mit jenen technischen Mitteln aber dennoch zugleich den Horizont weiterer möglicher Sinnebenen eröffnet. So folgte Goethes klassischer Roman den im 18. Jahrhundert unter der Kategorie von Handlungsgeschwindigkeit erörterten Bedürfnissen der Spannungssteuerung und verzichtete zugleich auf Vereindeutigungen. Der dadurch erzielte und bis heute wirksame Effekt ist deijenige eines fortbestehenden Gestus von Wahrheitsansprüchen, die nach ganz anderen Vertextungsverfahren bis dahin aufgebaut worden waren und nun auch dort noch vom Leser unterstellt wurden, den Fragen der Utopie und Politik Baioni: Klassizismus und Revolution; Blessin: Die radikal-liberale Konzeption; Voßkamp: Utopie und Utopiekritik; zu den historisch-sozialen, gesellschaftlichen Implikationen etwa Fink: Bildung des Bürgers; Hahn: Zeitgeschichte; Janz: Zum sozialen Gehalt der Lehrjahre; Stadler: Wilhelm Meisters unterlassene Revolte; zum Bildungsroman Berger: Ästhetik und Bildungsroman; Jacobs: Wilhelm Meisters und seine Brüder; May: Wilhelm Meister Lehrjahre, ein Bildungsroman?; zu Figureninterpretationen zum Beispiel Ammerlahn: Wilhelm Meisters Mignon; Haupt: Die etwas materielle Therese; Schings: Wilhelm Meisters Geselle Laertes; außerdem generell Eichner; Zur Deutung; Kommereil: Wilhelm Meister; poetologisch gestützte Interpretationen etwa von Behler: Wilhelm Meisters Lehrjahre and the Poetic Unity; Pfaff: Plädoyer fur eine typologische Interpretation; Hannelore Schlaffer: Wilhelm Meister; einen Forschungsüberblick gibt Selbmann: Der deutsche Bildungsroman, 63-82. 147 Friedrich Schlegel: Über Goethes Meister, KA 2, 144. Hier ist allerdings noch einmal eine Präzisierung notwendig. Von einem 'Wegfall' der Intentionssignale und Lektüreanweisungen läßt sich fur die Lehrjahre eben nur im Vergleich mit den literarhistorischen Vorläufern und den prägenden Tendenzen gerade der anspruchsvollen Erzählliteratur sprechen. Tatsächlich gibt es in Goethes Roman eine Fülle von Hinweisen auf Sinnebenen, die nicht vom Fabelverlauf bestimmt werden; und die Wilhelm-Meister-Forschung ist solchen Indizien auch immer wieder nachgegangen. In diesem Text finden sich ebenfalls ungewöhnliche Handlungsverknüpfungen, wundersame Zufälle, aber die derart eingearbeiteten Irritationen sind nicht so offensichtlich, so zwingend, als daß sie nicht eine 'naive' Konzentration auf die Fabel (sozusagen gerade noch) gestatten würden. 'Einzug von Leseanweisungen' ist in diesem Werk nicht so weit getrieben worden, daß sich - etwa in der Reduktion von interner Fabelverknüpfung - wieder neue eindeutige Hinweise auf jenseits der Handlungsrationalität aufzuspürende Sinnschichten ergäben. Zu dem Programm der frühromantischen Schule, die gerade an Goethes Wilhelm Meister ihre Maxime erfüllt sah, alle Eindeutigkeit in ('unendliche') Reflexionsfiguren aufzulösen, siehe etwa Hörisch: Ein höherer Grad an Folter.
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wo die eindeutigen Signale eingezogen waren, die besagten, daß das Ganze 'etwas zu bedeuten habe'. Wie Fiktion sich als der Effekt des Weiterlesens von einer als fiktiv durchschauten Erzählung erwies, so ist Vieldeutigkeit der Effekt fortgesetzter Dekodierungsbemühungen an Texten, die weder ihre Kodiertheit noch ihren Kode zuverlässig zu erkennen geben. Die Frage der Eindeutigkeit literarischer Fabeln war zunächst als eine der moralischen Wertung aufgetaucht, und das heißt, als Problem der Vermeidung von Ambiguität im wörtlichen Sinne, also von zwei möglichen Beurteilungen. Sie wären beim Werther etwa zu vermeiden gewesen, indem Goethe noch eine kleine kalte Schlußrede angeführt hätte (je cynischer je beßer), wie Lessing es sich wünschte.148 Hier hatten sich die Romane noch gegenüber traditionellen ethischen Ansprüchen (Tugend-Laster-Opposition) zu behaupten. Dabei erwiesen sich die Versuche zur vereindeutigenden Kontrolle der Rezeption mittels klischeehafter Charakterzeichnungen, wertender Kommentare oder reflexiver Einschübe allerdings bald als untauglich. Die Unlösbarkeit dieser Probleme resultierte aus der Konfrontation der Romane mit zwei ganz konträren Lektüreformen: einer affektiven Rezeption (entspricht dem statarischen Lesen) und der neuen kursorischen Rezeption. Die für diese gearbeiteten Texte waren nicht nur komplizierter als jene schwarz-weißen Modelle, sondern standen auch infolge eigener Entwicklungslogiken sehr bald quer zu einfachen moralischen Bewertungsalternativen. Für beide Lektüren jedoch konnte nicht derselbe Text die gleichen Leistungen vollbringen. Daneben jedoch trieb das Fabelprinzip in der Vertextung der jeweiligen Botschaft noch weitere Vieldeutigkeiten hervor, denn keine Fabel kann mit Eindeutigkeit in eine Botschaft, einen wahren Satz trans149
formiert werden. Ahnlich wie bei den moralischen Eindeutigkeitsproblemen versuchten die Romanautoren dieser Konsequenz, durch Kenntlichmachung, durch reflexive Problematisierung und vielfach durch die Explizierung ihrer Intention vorzubeugen. Doch war die Aussichtslosigkeit der Reparaturversuche in dieser Hinsicht eher noch deutlicher. Mit dem Einzug solcher Intentionssignale in Romanen wie Wilhelm Meisters Lehrjahren oder auch Sternbalds Wanderungen wurde die Pluralität möglicher 148 149
Lessing an Johann Joachim Eschenburg, 26.10.1774, Sämtliche Schriften 18, llSf. Die zur Unübersetzbarkeit gewordene Differenz zwischen einem moralischen Lehrsatz und der literarischen Handlung eines Romans betonte Diderot in seiner Eloge
de Richardson: Mais un homme d'esprit qui lit avec rdflexion les ouvrages de Richardson, refait la plupart des sentences des moralistes, et avec toutes ces sentences ü ne referaitpas une page de Richardson. (Oeuvres completes 13, 192) Aus Sicht der hier verfolgten Entwicklung des Fabelprinzips und des sich wandelnden Umgangs mit den sich aus ihm ergebenden Problemen durch die Romane im 18. Jahrhundert überrascht es nicht, wenn Brunemeier eine besondere Wechselbezie-
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Sinnzuschreibungen zu den Fabeln freigegeben. Beschleunigung hatte dieser Prozeß seit langem durch die Notwendigkeit der Spannungsmodellierung gegenüber einem immer größeren, unhomogeneren und unberechenbareren Publikum erfahren. Doch stehen neben den langanhaltenden vorsichtigen Tendenzen hierzu Texte wie die von Goethe oder Tieck für eine offensive Forcierung jenes Einzugs von Merkmalen der Vereindeutigung oder der Intention. Für die Zeitgenossen war es ununterscheidbar, ob eine Geschichte nur im Interesse des Erfolges 'rasch erzählt' war, oder ob es sich um eine besonders konsequente Realisierung des Fabelprinzips handelte, dessen Wirkung je größer war, je mehr die Erkenntnis des zu veranschaulichenden Sinns erst die Frucht einer resümierenden Reflexion des Lesers war. Die Vermeidung von Vereindeutigungs- und Intentionssignalen konnte also sowohl erzählerischen Erfolgsinteressen als auch ausdifferenzierten Wahrheitsansprüchen folgen. Deshalb entsprach es der hier nachgezeichneten Tradition des Fabelprinzips, wenn die Zeitgenossen sich auch um die Dekorierung solcher Texte, um ihre Interpretation, die Bestimmung ihres Sinns bemühten. Die Erwartung, daß jeder Text einen eigenen Sinn transportiere, ein eigenes fabula docet, korrespondierte dabei mit der neuen Lektüreform des kursorischen Lesens, das so zum funktionalen Komplement der narrativen Vertextungstradition wurde.1 1 Die hartnäckig sich haltende Vorstellung, daß sich der Verfasser bei jedem Detail 'etwas gedacht1 haben müsse, ist seitdem im Intentionsbegriff historisch belegt.152 Hier wirkte das Fabelprinzip in der Erwartung einer erschließbaren Bedeutung auch für diejenigen Texte, welche keinen offensichtlichen Kodierungssinn mehr zu erkennen gaben. Dabei waren Fabelprinzip und Autorintention jedoch eigentlich außer Kraft gesetzt: denn ein Text, der nicht mehr unzweifelhaft signalisierte, daß in ihm eine Botschaft vermittelt sei, hätte auch nicht mehr auf diese hin gelesen zu werden brauchen. Daß man es bis heute trotzdem tut, verlängert auf widersprüchliche Weise die Geltung des Fabelprinzips und der historisch mit ihm verwobenen kursorischen Lektüreform. So wird seither die Hoffnung auf die eine, richtige (vielleicht sogar autorisierte) Bedeutung der Werke lebendig gehalten.
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hung zwischen dem Erscheinen der Lehrjahre und der Theorie von der Verschiedenverstehbarkeit der Kunstwerke annimmt. (Vieldeutigkeit und Rätselhaftigkeit, 143)
Der Vorstellung von einer Kommunikation mit dem Autor entspricht es auch, daß nun - etwa seit Goethe - die Publikation von Romanen unter dem Autorennamen vorherrscht. 152 In den sehr verbreiteten Reden von der 'Absicht' des Verfassers, seinem 'Plan', der 'Anlage' des Werks, dem rechten 'Gesichtspunkt'. Siehe etwa Mansos Kritik der Lehrjahre, welcher kontinuierlich den Gang der Handlung an des Dichters Aeußerungen mißt (NADB 31, 1797, 210).
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Mit dem wachsenden historischen Gewicht der zum Fabelprinzip gehörenden Erzähltechniken läßt sich auch eine gestiegene Übung der Rezeption in demjenigen Umgang mit Texten wahrnehmen, der diese als ein Ganzes1 zu betrachten weiß und erst im Blick auf die gesamte Fiktion eine Bedeutung erschließen will.2 Wie sehr sich diese neue Lesetechnik zumindest unter den geübteren Lesern gegen Ende des 18. Jahrhunderts durchgesetzt hatte, läßt sich an einem einfachen, aber folgenreichen historischen Faktum ablesen. Einige routinierte Leser lasen auch diejenigen Erzähltexte, die nicht mehr eine bestimmte Intention in vereindeutigenden Erzählerkommentaren oder Charakterzeichnungen zu erkennen gaben, noch weiterhin so, als wären sie nach dem Fabelprinzip vertextet. Seit diese Lektüreform im kulturellen Arsenal des möglichen Umgangs mit literarischen Texten vorhanden ist, können Texte grundsätzlich so gelesen werden unabhängig von der Autorintention oder den konkreten Textmanifestationen. Die nächstliegende und historisch auch zunächst favorisierte Reaktion auf den Einzug von Intentionssignalen - als des Unkenntlichmachens 'der' Intention wie von Intentionalität überhaupt - war der Versuch zur Wiederherstellung von Eindeutigkeit. Im weiteren Sinn gehörte hierzu auch die fortgesetzte Rezeption der
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Auf diese Weise ist - aus der Sicht der Rezipienten - die Unendlichkeit möglicher Welten im instrumentalisierenden Bezug jeder einzelnen fiktionalen Welt an die Vermittlung einer Bedeutung gebunden. So wurde die bis heute fortwirkende Überzeugung etabliert, daß Fiktionen auf metaphorischen oder symbolischen Wegen stets sich auf die Wirklichkeit beziehen. Von dieser Voraussetzung aus hat zum Beispiel Nelson Goodman die in der amerikanischen Fiktionsdebatte heftig diskutierte Frage nach dem Denotat der Fiktion zu entschärfen versucht, das eben nicht in den fiktiven Entitäten der möglichen Welten zu suchen sei (siehe hierzu Goodman: Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie, sowie das Nachwort von Schlaeger und: Goodman: Weisen der Welterzeugung, bes. 126-133, sowie Scholz: Fiktionale Welten). So heißt es etwa in einer frühen Rezension der ersten beiden Bücher der Lehrjahre: Freilich läßt sich nach dem ersten Theile nicht das ganze des poetischen Produkts beurteilen, am wenigsten hier, wo der Zweck und der Plan, nachdem dieser Zweck durchgeflihrt werden sollte, noch so versteckt liegen. (Annalen der Philosophie 179S, 163) Im Gegensatz dazu etwa glaubte sich der Rezensent des ersten Bandes von Nicolais Nothanker im Almanach der deutschen Musen 1774 bereits sehr wohl über den Plan äußern zu können (86).
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Texte auf eine Weise, als seien sie noch eindeutig.3 Neben solche sozusagen unwillkürlichen Versuche zur 'Wieder-1 Herstellung der Eindeutigkeit trat die reflektierte Form in Gestalt der (literarischen) Hermeneutik, die nun ihre eigentliche Karriere als Verstehenslehre begann.4 Dabei wurde rasch der Übergang von der philologischen zur philosophischen Hermeneutik vollzogen - und damit sind die Probleme des Verstehens von Literatur noch um diejenigen des Textverstehens überhaupt vermehrt worden.5 Die Versuche zur Herstellung von Eindeutigkeit qua (hermeneutischer) Interpretation als eines Reparaturversuches an der gestörten literarischen Kommunikationssituation stoßen auf einige grundsätzliche Schwierigkeiten. Die Frage, welcher Kontextanschluß, welche Rationalität, welcher Gesichtspunkt einen Text auf der Fabelebene schlüssig werden läßt, bleibt auf mehrere Weisen zu beantworten, wenn der Autor oder der Erzähler nicht durch eindeutige Hinweise diese Pluralität reduziert.6 Im Bemühen, die Relationen auch zwischen solchen Handlungssegmenten zu bestimmen, zwischen denen sie der Autor oder der Erzähler offengelassen hat, die 'Leerstellen' auszufüllen, ergaben sich also mehrere Möglichkeiten. Diese Form der Mehrdeutigkeit führt jedoch noch nicht zu einer an Beliebigkeit grenzenden Polysemie. Denn indem sich solche Verstehensbemühungen dezidiert an der Textstruktur orientieren, lassen sie sich unter Kohärenzgesichtspunkten kritisieren. Dazu bietet gerade die aus ganz anderen Zusammenhängen stammende (Fabel als Gattung; hohes Erzählmodell des Barocks) und aus wieder anderen Gründen (poetologische Systematik; Leserdidaxe; 'Interesse') fortgesetzte Tradition der Fabelpräsentation einige Hilfsmittel. In der Relation zwischen Fabelschema und Erzählung liefern die Texte eine Rationalitätsstruktur, welche jede
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August von Hennings zog fur seine Kritik der Lehrjahre Friedrich Schlegels Rezension heran und setzte sich vor, Vergleichungen anzustellen, um zu erforschen, woher es kommen könne, daß Freunde von einerlei Wissenschaften und Verehrer der Kunstwerke zu ganz verschiedenen Urteilen gefllhrt werden: Es ist natürlich, sagte ich nur, daß sie nicht mehr denselben Gegenstand vor sich sehen (Musaget, 1799, 6. St., 174). Zur Hermeneutik und ihrer Geschichte siehe etwa Japp: Hermeneutik; Szondi: Einfuhrung in die literarische Hermeneutik; Gadamer: Wahrheit und Methode, 162250; zur 'Vorgeschichte der Hermeneutik' siehe Beetz: Nachgeholte Hermeneutik, sowie zum Zusammenhang von Rhetorik und Hermeneutik Dockhorn [Rezension:] Gadamer, Wahrheit und Methode; Most: Rhetorik und Hermeneutik. Siehe Japp: Hermeneutica, 253f. Dabei wird die fortgesetzte Hoffnung, einen literarischen Text verstehen zu können, weitgehend durch die von ihm selbst vielfach gestützte Unterstellung getragen, daß in ihm von menschlichen Handlungen erzählt werde, über deren 'Logik' schließlich jeder Rezipient mit einer gewissen Kompetenz urteilen kann. Zu den an literarische Texte herangetragenen Sinnerwartungen, sofern sie von den lebensweltlichen Orientierungen der Texte geschürt werden, siehe auch Maurer: Für einen neuen Fiktionsbegriff.
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Vieldeutigkeit und Sinnerwartung
explication de texte grundsätzlich der Kritik zugänglich macht.7 Allerdings bleiben Interpretation und Kritik gebunden an den Horizont deijenigen Kultursemantik oder deijenigen Handlungsrationalität, mit deren Hilfe die Fabel plausibilisiert wird. Unter der Pluralität solcher möglichen Anschlüsse läßt sich oft mit Gründen kaum eine Rangfolge herstellen. Aber solange es lediglich um das 'Auffüllen von Leerstellen' geht, also um die Frage, aus Sicht welcher Handlungsrationalität (Kultursemantik/ Diskurs etc.) sich die Fabel als stimmig erweist, dürfte sich jene Pluralität in tolerierbaren Grenzen halten. Auch die Überführung der auf diese Weise als stimmig rezipierten Fabelstruktur in eine Bedeutung, ein fabula docet, gerät bei aller Unbegrenztheit der möglichen semantischen Anschlüsse noch nicht in eine Beliebigkeit. Denn diese Bedeutungszuweisungen bleiben, im kontrollierbaren Bezug auf die Kohärenz der Fabel, kompatibel. In systematischer Hinsicht muß von der Mehrdeutigkeit der Literatur in zweierlei Weise gesprochen werden. Mit dem Wegfall von (vereindeutigenden) Rezeptions- und Deutungsinstruktionen am Erzähltext wurde dieser deijenigen Vieldeutigkeit ausgesetzt, die sich als Wirkung der Multiperspektivität individualisierter Leser - und Interpreten - ergibt.8 Diese Form der Polysemie gilt aber grundsätzlich für jeden künstlerischen und nichtkünstlerischen Gegenstand, für alle literarischen und nichtliterarischen Texte. An ihnen allen wird die Unendlichkeit möglicher Betrachtungs- und Deutungsweisen allein durch die im Text realisierten Intentionen oder die am Gegenstand manifestierten Funktionen begrenzt. Nur wer sich auf die literarische Kommunikationssituation einließ, für den war es schon vor der 'Ambiguitäts-Wende' sinnvoll, seinen Umgang mit den Texten durch dasjenige steuern zu lassen, was er für die jeweilige Intention des Autors hielt. Auch bei dieser vergleichsweise unproblematischen Rezeptionsform gibt es 'Störungen' der Verständigung, an denen die Hermeneutik ihren jeweiligen Anlaß hat. Erst der Wegfall von Vereindeutigungsbemühungen, von expliziten Lektüreanweisungen macht die Möglichkeit aber offensichtlich, daß Texte auf immer wieder andere Weisen rezipiert werden können, ja gar nicht im strengen Sinne als Texte rezipiert werden müssen, sondern auch in mannigfaltigen Variationen zu Anlässen unterschiedlichster Erfahrungen, Erlebnisse und Reflexionen werden können. Solche 'ästhetischen' Rezeptionsformen9 sind 7
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Dabei steht 'Erzählung' hier für Erzähltes und Erzähler, die in vielen Fällen auch noch einmal in reflexiver Spannung zueinander stehen. Zur zeitgenössischen Erörterung dieser Problematik siehe Brunemeier: Vieldeutigkeit und Rätselhaftigkeit, 135-148. Da es in dieser Arbeit nur um die Herausbildung einiger zentraler Differenzen in der Wahrnehmung literarischer Erzähltexte geht, kann die breite Palette 'ästhetischer' Rezeptionsformen hier unaufgefächert stehen bleiben und in Opposition zu denjenigen Rezeptionsformen gesetzt werden, denen es auf die 'Bedeutung' eines
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grundsätzlich gegenüber jedem Text möglich; daß sie vor Ende des 18. Jahrhunderts wenig realisiert wurden, dürfte daran gelegen haben, daß man weder darin geübt war, noch dazu Veranlassung sah, die bisher für Texte vorherrschend unterstellte Kommunikationssituation (der Leser tritt in Kommunikation mit einer Repräsentation der Welt oder mit dem Autor) als in gewisser Hinsicht aufgehoben zu betrachten. Erst die Aufhebung von Vereindeutigungssignalen lieferte zu solch verändertem Umgang mit Texten den Anlaß - wie angedeutet. Es ist innerhalb der Literaturwissenschaft ziemlich verbreitet, die Pluralität der subjektiv gebrochenen Rezeptionen als untereinander kompatibel zu denken, so daß jeder Bewußtseinsakt, der überhaupt noch als von einem bestimmten Text ausgehend verstanden werden kann, als zu dessen Auslegung, Erläuterung, Kommentierung gehörend gefaßt werden könnte. Diese Form der Vieldeutigkeit wird heute oft - unter Beibehaltung der Kompatibilitätsannahmen - als entscheidendes Charakteristikum literarischer Texte herangezogen: So schreibt etwa Eco über eine Terzine aus Dantes Divina Commedia: Umgekehrt reichert sich bei jedem Wiederlesen der Terzine die [in ihr evozierte] Vorstellung des trinitarischen Mysteriums mit neuen Emotionen und neuen imaginativen Suggestionen an und scheint ihr Sinn, der klar und eindeutig ist, sich bei der Lektüre zu vertiefen und anzureichern.10
Unabhängig davon, ob nach dieser Unendlichkeitsfigur der Sinn tatsächlich klar und eindeutig bleiben kann, und auch unabhängig davon, ob all die erneuten 'Abenteuer des Verstehens* wirklich untereinander widerspruchsfrei bleiben, steht grundsätzlich noch eine andere und gravierendere Dimension von Ambiguität aus. Indem durch die Aufhebung der Intentionssignale die Leser sich aufgefordert fühlen konnten, selbst über die Hierarchie der Sinnebenen im Text zu entschei_ Textes ankommt. Zum Zusammenhang siehe etwa Jauß: Ästhetische Erfahrung und no literarische Hermeneutik, Teil 1, und jetzt Horn: Die zweifache subjektive Bedingth e i t des literarästhetischen Genusses. 'o: Das offene Kunstwerk, 86. Eine ausführliche Darstellung dieser Theorietradisolletufot e r S i c h anschließt) liefert Bode: Ästhetik der Ambiguität. Wie Brunemeier MusäusL hat, schreiben dabei viele Zeitgenossen lediglich Denkfiguren der klassischYorik schchen Ästhetik fort, ohne deren zeitbedingte Prämissen zu berücksichtigen. Formulieruttß an die seinerzeit geläufigen Theorien vom signum naturale gingen die sich in die eolVieldeutigkeitstheoretiker der Goethezeit von einer Korrespondenz 131 Friederike oder ((unbegrenzten) substantiellen Bedeutungsreichtum des literarischen daher untereinander komplettierenden - rezeptiv-interpreta132 Siehe hierzu etwa " ... | .*yngspluralität der Rezipienten aus, so daß Brunemeier in diesen moraiiscner imegrita jnterscheidung zwischen der Konstitution der Bedeutung durch rügt (Versuch über de Λ Γ β Γ Determinierung durch Werk und Autor fur unmöglich 133 NADB 12, 1794,59.