Von der Geometrie zur Naturalisierung: Utopisches Denken im 18. Jahrhundert zwischen literarischer Fiktion und frühneuzeitlicher Gartenkunst [Reprint 2011 ed.] 9783110932348, 3484810106, 9783484810105

In the mid 18th century an important reorientation became discernible in Enlightenment discourse. One-sided rationalism

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German Pages 307 [308] Year 1999

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Table of contents :
Einleitung
Das Paradies im Quadrat. Zur Entwicklungsgeschichte der Geometrisierung der Gartenkultur
Die literarische Utopie der französischen Aufklärung zwischen archistischem (Vairasse, Fontenelle, Morelly) und anarchistischem Ansatz (Foigny, Fénelon, Lahontan)
Die Venus von Tahiti. Über den Anteil der Südseeutopien an der Erotisierung des Utopischen
Utopie, Naturzustand und Vertragsdenken bei Rousseau
Kult der Primitivität im Klassizismus
Natur ordnen. Landschaftserfahrung im 18. Jahrhundert
Die Wörlitzer Anlagen zwischen Englischem Landschaftsgarten und Bon-Sauvage-Utopie?
Utopia realisata. Utopie und Umsetzung: Aufgeklärt-humanistische Gartengestaltung in Anhalt-Dessau
Wörlitz als höfische Veranstaltung? Eros zwischen höfischer Selbstreflexion, pädagogischer Kontrolle und naturalisierter Utopie
Antagonismus und Utopie: Georg Forsters Städtebilder im Spannungsfeld von ‚Wirklichkeit‘ und ,Idee‘
Arcadia, Utopia, America. William Dean Howells’ A Traveller from Altruria (1892/93) and the tradition of pastoral thinking in Utopian literature
Utopie und Industrielle Revolution bei William Morris und Oscar Wilde
Sexualität in Utopien – ein Forschungsgegenstand?
Verzeichnis der Abbildungen
Namenregister
Recommend Papers

Von der Geometrie zur Naturalisierung: Utopisches Denken im 18. Jahrhundert zwischen literarischer Fiktion und frühneuzeitlicher Gartenkunst [Reprint 2011 ed.]
 9783110932348, 3484810106, 9783484810105

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Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

10

Von der Geometrie zur Naturalisierung Utopisches Denken im 18. Jahrhundert zwischen literarischer Fiktion und frühneuzeitlicher Gartenkunst Herausgegeben von Richard Saage und Eva-Maria Seng

Max Niemeyer Verlag Tübingen

Wissenschaftlicher Beirat: Karol Bai, Manfred Beetz, Jörn Garber, Notker Hammerstein, Hans-Hermann Hartwich, Andreas Kleinert, Gabriela Lehmann-Carli, Klaus Luig, Frangois Moureau, Monika Neugebauer-Wölk, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Hinrich Rüping, Richard Saage, Gerhard Sauder, Jochen Schlobach, Heiner Schnelling, Udo Sträter, Heinz Thoma Redaktion: Sigrid Buthmann Satz: Kornelia Grün

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufhahme Von der Geometrie zur Naturalisierung: utopisches Denken im 18. Jahrhundert zwischen literarischer Fiktion und frühneuzeitlicher Gartenkunst / hrsg. von Richard Saage und Eva-Maria Seng. - Tübingen: Niemeyer, 1999 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung; 10) ISBN 3-484-81010-6

ISSN 0948-6070

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Geiger, Ammerbuch

Inhalt

RICHARD SAAGE, EVA-MARIA SENG: Einleitung

VE

PETER CORNELIUS MAYER-TASCH: Das Paradies im Quadrat. Zur Entwicklungsgeschichte der Geometrisierung der Gartenkultur

l

HANS-GÜNTER FUNKE: Die literarische Utopie der französischen Aufklärung zwischen archistischem (Vairasse, Fontenelle, Morelly) und anarchistischem Ansatz (Foigny, Fenelon, Lahontan)

8

JOACHIM MEISSNER: Die Venus von Tahiti. Über den Anteil der Südseeutopien an der Erotisierung des Utopischen

28

HEINZ THOMA: Utopie, Naturzustand und Vertragsdenken bei Rousseau

50

HUBERTUS GÜNTHER: Kult der Primitivität im Klassizismus

62

ULF KÜSTER:

Natur ordnen. Landschaftserfahrung im 18. Jahrhundert

109

EVA-MARIA SENG: Die Wörlitzer Anlagen zwischen Englischem Landschaftsgarten und Bon-Sauvage-Utopie?

117

ERHARD HIRSCH: Utopia realisata. Utopie und Umsetzung: Aufgeklärt-humanistische Gartengestaltung in Anhalt-Dessau

151

VI

MICHAEL NIEDERMEIER: Wörlitz als höfische Veranstaltung? Eros zwischen höfischer Selbstreflexion, pädagogischer Kontrolle und naturalisierter Utopie 180

JÖRN GARBER: Antagonismus und Utopie: Georg Forsters Städtebilder im Spannungsfeld von .Wirklichkeit' und ,Idee'

209

HANS ULRICH SEEBER: Arcadia, Utopia, America. William Dean Howells' A Traveller from Altruria (1892/93) and the tradition of pastoral thinking in Utopian literature 237

RICHARD SAAGE: Utopie und Industrielle Revolution bei William Morris und Oscar Wilde . . . 258

BETTIN A Ross: Sexualität in Utopien - ein Forschungsgegenstand?

280

Verzeichnis der Abbildungen

288

Namenregister

291

Einleitung

In dem Sammelband Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert wurde der erfolgreiche Versuch unternommen, eine neue Dimension des Utopischen zu rekonstruieren. Es ging um die Frage, „wie es zu einer Realisierung dessen kommen kann, was zunächst nur Fiktion ist".2 Ungeklärt blieb indes das Problem, in welchen Mustern und Konfigurationen sich diese Politisierung im Rahmen der „anthropologischen Wende" um die Mitte des 18. Jahrhunderts niederschlug. Dieser Vorgang ist in seiner ganzen Tragweite nicht hoch genug einzuschätzen. Die Aufklärung hatte den Menschen bis dahin als reines Vemunftwesen aufgefaßt, das im Sinne der cartesianisehen „res cogitans" interpretiert wurde. Jetzt begann sie, den sinnlichen Menschen zu entdecken, dessen Leiblichkeit sie als konstitutiven Bestandteil der menschlichen Existenz aufwertete. Daß durch diese Rehabilitierung der Sinne der Vernunft neue Erfahrungsräume erschlossen wurden, liegt auf der Hand. Doch wie wirkte sich die „Wendung zum Körper",3 zur Emotionalität und die damit verbundene Umorientierung von der Leitwissenschaft der Geometrie zu jener der Biologie auf das utopische Denken in Gestalt der literarischen Fiktion und der gestalteten Natur aus? Diese Frage stand im Zentrum des Symposiums „Von der Geometrie zur Naturalisierung. Utopisches Denken im 18. Jahrhundert zwischen literarischer Fiktion und frühneuzeitlicher Gartenkunst" am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung der Universität Halle-Wittenberg vom 22.-24.9.1997, dessen Referate in diesem Band abgedruckt worden sind. Den Veranstaltern war von Anfang an klar, daß die Fragestellung des Symposiums nur in einem interdisziplinären Forschungszusammenhang sinnvoll zu diskutieren ist. Jeder Versuch, die Korrelation von utopischem Denken und frühneuzeitlicher Gartenkunst in enger fachspezifischer Perspektive zu untersuchen, hätte eine Deformation des Forschungsgegenstandes bedeutet, dessen „Identität" doch gerade in der Totalität sozialwissenschaftlicher, kunst- bzw. architekturgeschichtlicher, historischer, ethnologischer, philosophischer und literaturwissenschaftlicher Elemente besteht. Daß es den Veranstaltern gelang, führende Repräsentanten dieser 1

2 3

Vgl. Neugebauer-Wölk, Monika/Saage, Richard (Hg.), Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert. Vom utopischen Systementwurf zum Zeitalter der Revolution. Tübingen 1996 (Hailesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 4). Neugebauer-Wölk, Monika, Zur Einführung, in: Die Politisierung, (wie Anm.l), S. VIII. Schings, Hans-Jürgen, Vorbemerkung des Herausgebers, in: ders. (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart/Weimar 1994,8.5.

Richard Saage, Eva-Maria Seng

Fächer zu gewinnen, die bereit waren, ihre engen fachlichen Grenzen zu überschreiten und ihr Wissen mit den Kenntnissen anderer Disziplinen zu verbinden, war die entscheidende Bedingung für das Gelingen des ganzen Unternehmens. Ein weiteres Problem kam hinzu. Die Veranstalter waren mit der Schwierigkeit konfrontiert, den mit der „anthropologischen Wende" des 18. Jahrhunderts verbundenen Paradigmenwechsel im Sinne ihrer Fragestellung zu konzeptualisieren. Den Schlüssel zur Lösung ihres Problems sahen sie in der Unterscheidung zwischen „archistischer" und „anarchistischer" Utopie. Erst verhältnismäßig spät, nämlich im Jahr 1906, hat Andreas Voigt darauf hingewiesen, daß die autoritäre Staatsutopie in der Geschichte dieses Genres stets auch von einer anderen Variante begleitet wurde, die gerade mit dem Antiindividualismus und dem repressiven Institutionalismus des Staatsromanes brach. Um ihr spezifisches Profil zu verdeutlichen, führte er eine analytische Trennung zwischen zwei Typen von Utopieentwürfen durch. Er begründete deren unterscheidendes Merkmal anthropologisch, nämlich „in dem verschiedenen Verhalten der Menschen zum Herrschen und Dienen, zu Zwang und Freiheit".4 Unselbständige Naturen, die der Hilfe, Fürsorge und Beratung bedürften, seien die einen bereit, sich der Herrschaft anderer zu unterwerfen, um bei ihnen Schutz, Frieden und materielle Sicherheit zu finden. Die anderen dagegen sähen den höchsten Wert in der als Selbstbestimmung verstandenen Freiheit, der sie Güter wie wirtschaftliche Sicherheit etc. unterordneten. Voigt zufolge entsprechen nun diesen beiden Charaktergegensätzen der Menschen zwei ebenso gegensätzliche Arten von Utopien, die freilich Mischformen nicht ausschließen. Die eine Variante kennzeichnete er durch den Idealtypus der archistischen Utopie. Ihr Ideal ist in der Regel das eines Staates mit starker, umfassender Zentralgewalt, welche alle Beziehungen der Staatsangehörigen aufs strengste regelt und diese in strammer Zucht hält. Freiheit ist nur für die Herrscher; die Masse hat sich den Gesetzen des Staates und den Verordnungen der Obrigkeit einfach zu fügen.5

Demgegenüber geht die anarchistische Utopie von dem Gesellschaftsideal der absoluten persönlichen Freiheit aus. Sie lehnt Jeden Zwang, jede Art der Herrschaft" ab und darum auch deren Organe wie Regierung, Polizei, Justiz und selbstverständlich auch den Staat als den Träger dieser Gewalten. Selbst geistige Mächte wie Autorität, Sitten und Religion verfallen dem Verdikt der Herrschaftslosigkeit.6 Ohne die konservativen und utopiefeindlichen Intentionen Voigts mit zu übernehmen,7 meinen wir, daß diese idealtypische Unterscheidung ein nützliches 4 5 6

7

Voigt, Andreas, Die sozialen Utopien. Fünf Vorträge. Leipzig 1906, S. 18. Ebd., S. 19. Ebd. So sieht Voigt den „Fehler des Utopismus" darin, „daß ihm die Welt zu einfach vorkommt und er die Lösung all ihrer Widersprüche gefunden zu haben glaubt" (ebd., S. V). Auch geht er von der „Verkehrtheit der utopischen Weltanschauung" und deren „Irrlichtnatur" (ebd.) aus.

Einleitung

IX

heuristisches Instrumentarium bietet, um das Thema dieses Bandes zu verdeutlichen. Es läßt sich nämlich nachweisen, daß die archistische Utopie durch spezifische Muster der Stadtplanung und der Architektur gekennzeichnet werden kann, die eine bemerkenswerte Kontinuität von der frühen Neuzeit bis zur russischen Avantgarde in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts aufweist.8 Wir möchten folgende Aspekte nennen: Zunächst fällt auf, daß die Stadtplanung auf die Rationalität geometrischer Basisfiguren wie Quadrat, Rechteck und Kreis festgelegt ist. Nicht zufällig entsteht die utopische Stadt der frühen Neuzeit auf einer „tabula rasa": Ihre Gründung setzt gleichsam voraus, daß von den ursprünglichen Gegebenheiten der Landschaft abstrahiert wird, um der Natur von außen rational durchdachte Formen aufzuzwingen. Die utopischen Städte selbst sind in ihrer Planung und Architektur vollständig transparent und homogen. Den seriellen Typenhäusern sind im Rastersystem oder in Kreisform angelegte Straßen zugeordnet. Da die Privatheit in einem Maße abgeschafft ist, daß selbst die Sexualität staatlicher Kontrolle unterliegt, stellt sie keine architektonische Herausforderung dar. Der städteplanerisch und architektonisch zu gestaltende utopische Raum ist per se „öffentlich" und läßt für die Entfaltung individueller Bedürfnisse nur einen begrenzten Raum: Sie sind als Rahmenbedingung für Stadtplanung und Architektur unerheblich. Ihre Zielperspektive besteht vielmehr darin, funktional auf die Hervorbringung eines kollektiven Gemeinwesens bezogen zu sein, dessen Träger ein „neuer Mensch" in einer „geometrischen Epoche" ist. Sein Auge will, um mit El Lissitzky zu sprechen, „reine einfache Formen sehen, die in klaren Proportionen gegliedert und zur genauen Orientierung im Raum exakt miteinander koordiniert sind".9 Im Gegenzug zu diesem Ansatz läßt die anarchistische Utopie ein ganz anderes Naturverhältnis erkennen. Sie strebt nicht Herrschaft über die Natur an; ihr Ziel ist vielmehr, die durch die Zivilisation depravierte Natur - einschließlich die des Menschen selbst - möglichst authentisch wieder herzustellen. In dezentralen und in von Institutionen weitgehend entlasteten Lebenswelten soll das zwischenmenschliche Verhalten gleichsam renaturalisiert werden: Nicht zufällig empfiehlt sie vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts das Leben der sogenannten Naturvölker als Vorbild für die in ihrer Sicht verkommenen Zivilisationen der westlichen Länder. Materieller Überfluß - durch die Natur direkt gesichert - soll den Zwängen der organisierten Arbeitsteilung den Boden entziehen, um ein authentisches Leben, das sich ausschließlich an natürlichen Normen orientiert, überhaupt erst zu ermöglichen. Auf den ersten Blick scheint der Gegensatz zwischen der geometrischen Ausrichtung der archistischen und der naturalisierenden Stoßrichtung der anarchistischen Utopie unüberbrückbar zu sein. Doch verbindet beide 8

9

Vgl. Saage, Richard/Seng, Eva-Maria, Geometrische Muster zwischen frühneuzeitlicher Utopie und rassischer Avantgarde, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 44. Jg. (1996), S. 677-692. El Lissitzky, Proun und Wolkenbügel. Schriften, Briefe, Dokumente. Dresden 1977, S. 61.

X

Richard Saage, Eva-Maria Seng

Utopietypen eine wichtige Gemeinsamkeit: Sie sind Konstrukte der menschlichen Vernunft, die sie als kritische Gegenbilder in Gestalt solidarischer und konfliktfreier Gemeinwesen der bestehenden Gesellschaft konfrontiert.10 Mit diesem Hinweis ist das Thema des vorliegenden Bandes hinreichend verdeutlicht. Ihm lag die Hypothese zugrunde, daß die Aufklärung vor der anthropologischen Wende mit ihrer einseitigen Betonung des Primats der Rationalität zugleich auch die Option für ein utopisches Gesellschaftsmodell bedeutet, das - in sich schlüssig und möglichst widerspruchsfrei - der individuellen Spontaneität wenig Raum läßt, dafür aber der rationalistischen Planung von einem übergeordneten Zentrum her hegemoniale Bedeutung beimißt. Umgekehrt implizierte diese Hypothese aber auch, daß die Aufwertung des dunklen „fundus animae" bzw. der „unteren Seelenkräfte" und des Unbewußten im Rahmen der anthropologischen Wende die Vernunft aus dem engen Korsett diskursiver Rationalität befreit." Ihr ist ein utopisches Gesellschaftsmodell zuzuordnen, in dem Herrschaft und repressive Institutionen auf ein Minimum reduziert und für das Individuum im Namen der Naturalisierung der Lebenswelten neue Räume der Spontaneität freigesetzt werden, die die ältere Aufklärung nicht kannte. Da sich nachweisen läßt, daß die auf geometrische Formen fixierte etatistische Utopie spezifische Muster der Stadtplanung, Architektur und Gartenkunst induziert hat, ist die Frage aufgeworfen, wie es sich in dieser Hinsicht mit den naturalisierten anarchistischen Utopien verhält. Gibt es Entsprechungen zwischen ihnen und bestimmten Formen der Gestaltung von Lebensräumen, wie wir sie in der klassischen archistischen Utopie beobachten können? Im Licht dieser übergreifenden Fragestellungen sollten die folgenden Beiträge gelesen werden. Daß sie von den jeweiligen Autoren kontrovers diskutiert wurden, versteht sich von selbst. Doch weisen die Herausgeber darauf hin, daß sie zu keinem Zeitpunkt von der Annahme ausgegangen sind, im Zuge der anthropologischen Wende und der von ihr ausgelösten Naturalisierungsdebatte sei das „archistische" Muster schlicht vom „anarchistischen" Utopietyp abgelöst worden.12 Frei von allen teleologisehen Unterstellungen sahen sie in jener Unterscheidung nichts anderes als einen heuristischen Fokus, der Licht werfen sollte auf einen Prozeß, welcher von Anfang an in Mischformen verlief. Doch dessen Elemente und ihre Gewichtung im Gesamtzusammenhang zu verdeutlichen, setzte eine Klärung der Begrifflichkeit voraus, die sich freilich in der Konfrontation mit dem zu untersu10

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Vgl. Saage, Richard/Seng, Eva-Maria, Naturalisierte Utopien zwischen literarischer Fiktion und frühneuzeitlicher Gartenkunst, in: Greven, Michael Th./Münkler, Herfried/SchmalzBruns, Rainer (Hg.), Bürgersinn und Kritik. Festschrift für Udo Bermbach zum 60. Geburtstag. Baden-Baden 1998, S, 207-238. Schings, Vorbemerkung, (wie Anm. 3), S. 5. Vgl. hierzu die Kritik an der Konzeption des Symposiums bei Hans-Günter Funke, Die literarische Utopie der französischen Aufklärung zwischen archistischem (Vairasse, Fontenelle, Morelly) und anarchistischem Ansatz (Foigny, Fdnelon, Lahontan), in diesem Band.

Einleitung

XI

chenden Material zu bewähren hatte. Weiterhin präsent, so ist zusammenfassend festzustellen, wurde das archistische Muster von naturalisierten Elementen zunehmend in dem Sinne überlagert, daß es von der Mitte des 18. Jahrhunderts an zu einer wichtigen Quelle der Delegitimation der Herrschaftsstrukturen des Ancien Regime avancierte und Modelle eines „dritten Weges" zwischen geometrischen Systementwürfen und naturalisierter Anarchie evozierte. Inwiefern sich diese von den Herausgebern unterstellten Hypothesen als fruchtbar und weiterführend erwiesen haben, muß der Leser selbst entscheiden. Abschließend danken die Herausgeber der Volkswagen-Stiftung für die Finanzierung des Symposiums ebenso wie Frau Dr. Sigrid Buthmann für ihre redaktionellen Hilfestellungen. Dank gebührt aber auch unseren Mitarbeitern Martin Kühnel, M.A. sowie stud. phil. Sebastian Putz für die kompetente Vorbereitung eines Personenregisters und Frau Kornelia Grün für die Erstellung der Druckvorlage. Halle, im Juni 1999

Richard Saage, Eva-Maria Seng

PETER CORNELIUS MAYER-TASCH (München) Das Paradies im Quadrat Zur Entwicklungsgeschichte der Geometrisierung der Gartenkultur Wie stark und wie nachhaltig archetypische und mythologische Grundmuster die menschliche Kultur prägen und begleiten, läßt sich auf mannigfache Weise belegen. Einen besonders überzeugenden Beleg hierfür erbringt die - buchstäblich über Jahrtausende hin dokumentierbare - Affinität der Gartenkultur zu geometrischen Formen. Vieles spricht für die Annahme, daß die ersten Gärten geometrisch gestaltete Gärten waren. „Der Urgarten", schreiben die Architekturhistoriker Moore, Mitchell und Turnbull, ist ein Triumph der Ordnung, ein Paradies im Quadrat, ersonnen in der ebenen Wüstenlandschaft Persiens. Eine Außenmauer schirmt ihn ab von der unordentlichen Welt. In der Mitte ist die Quelle. Ihr Wasser fließt nach Norden, Osten, Süden und Westen in vier Kanälen, die den Garten in vier Quadrate teilen.'

Die archäologische Spurensuche scheint diese These zu bestätigen. Die Palast- und Tempelgärten des Mittleren und Nahen Ostens waren unverkennbar strenge Gärten. Die Frage, wie es zu dieser Geometrisierung kam, liegt nahe. Einen ersten Schlüssel zum Verständnis dieses Phänomens bietet der Schöpfungsbericht des Alten Testaments. Die Besonderheit des Gartens, den „Gott der Herr [...] in Eden gegen Morgen" pflanzte, erschöpfte sich nicht in der Vielfalt „lustig anzusehen [der]" Bäume und dem Nebeneinander von Baum der Erkenntnis und Baum des Lebens (1. Mose 2,9); sie bestand nicht zuletzt auch in seiner Charakterisierung als Quellort des Lebens: „Und es ging aus von Eden ein Strom, zu wässern den Garten, und teilte sich von dannen in vier Hauptwasser" (1. Mose 27, 10). Wie zahlreiche archäologische Befunde belegen, wurde der Quellort des im Garten Eden entspringenden und sich dann in vier „Hauptwasser" teilenden Stroms bei der Umsetzung dieser Vorstellung in die Anlage früher Garten"paradiese" in die Mitte des Gartens verlegt.2 Die sich hieraus ergebende Viertelung wurde zum strukturellen Idealtypus einer als Spiegelung von Eden verstandenen Gartenarchitektur.3 Was das „Paradies im Quadrat" dann vollkommen machte, war die es Moore, Charles W./Mitchel, William J./Turnball Jr., William, Die Poesie der Gärten. Architektonische Interpretationen klassischer Gartenkunst. Aus dem Englischen von Anton Maria Belmonte. Basel/Berlin/Boston 1991, S. 23. Vgl. hierzu u.a. Moymban, Elizabeth B., Paradise as a Garden in Persia and Mughal India. London 1980. Auch im Medium sakraler Kunstwerke wird das Motiv der sich in vier Richtungen ergießenden „Hauptwasser" tradiert. Schöne Beispiele bilden das Antependium in der Kathedrale von Salerno und die Krümme im Stab des Bischofs Heinrich III. von Hildesheim. Vgl. hierzu Schlee, Ernst, Die Ikonographie der Paradiesflüsse. Leipzig 1937, S. 14, 17.

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Peter Cornelius Mayer-Tasch

umgebende Mauer, die ihm den Namen gab. Der Name des „Paradieses" nämlich ist aus dem altpersischen „pairi-dae-za" abgeleitet, was nichts anderes als „Umzäunung, Umwallung" bedeutet4 und insoweit ein Synonym zum indoeuropäischen Wurzelwort „ghordo-s" darstellt, aus dem sich u.a. das griechische „chortos", das lateinische „hortus" und der deutsche „Garten" gebildet hat.5 Die Viertelung als Grundmuster der antiken Gartenanlagen des Mittleren Orients - und damit wohl auch der ihm zugrundeliegende Mythos vom Wasser des Lebens, das sich aus einer mehr oder minder definierbaren Mitte heraus in alle vier Himmelsrichtungen ergießt - scheint jedoch vom Autor des Buches Mose einem uralten Traditionsstrom entnommen worden zu sein. Schon die frühbabylonischen Könige nämlich nahmen nach der Unterwerfung der Sumerer (um 2250 v. Chr.) den Titel „Herr der vier Quartiere" an,6 was nicht nur auf potentielle mythologische Konvergenzen, sondern auch auf die imperiale Wertigkeit einer solchen Symbolik verweist: Wer die vier Ecken eines Territoriums abzustecken und die Verbindungslinien zu sichern vermag, wessen Befehl in allen vier Himmelsrichtungen gehört und gehorcht wird, wessen Aura sich mit allen vier Elementen zu verbinden weiß, kann zumindest den Anspruch erheben, wenn nicht Herr der Welt, so doch Herr seiner Welt zu sein. Für den beispiellosen Erfolg, den der gartenarchitektonische Idealtypus der „vier Quartiere" im Laufe der folgenden Jahrtausende erfahren sollte, dürfte nicht zuletzt dieser Bedeutungsaspekt eine wichtige Rolle gespielt haben. Um sich als „Herr der vier Quartiere" fühlen zu können, brauchte man nicht .Persarum Rex' eine noch von Horaz als Chiffre der Glückseligkeit gebrauchte Metapher7 - zu sein. Als „Herr der vier Quartiere" fühlen konnte sich jeder, der es vermochte, einen diesem Strukturmuster entsprechenden Garten anzulegen. Und auch die „vier Hauptwasser", von denen in der Genesis die Rede ist, brauchten sich nicht - wie dies in vielen herrschaftlichen Gärten des Orients der Fall war - als Wasserführungen zu manifestieren; sie konnten sich auch - was in der Folge zur Regel wurde in Wege verwandeln. Daß der Symbolgehalt dieser Transfigurationen nach und nach ebenso in Vergessenheit geriet wie der Symbolgehalt der Quadrierung selbst, braucht nicht zu verwundern. Um so hartnäckiger wurde am Strukturmuster selbst festgehalten. Das Motiv hierfür mag nicht zuletzt in einem aus dem (para-)imperialen Gestus der

Vgl. Börner, Klaus H., Auf der Suche nach dem irdischen Paradies. Zur Ikonographie der geographischen Utopie. Frankfurt 1984, S. 17. Vgl. Der Große Duden. Bd. 7 (Etymologie), bearbeitet von der Dudenredaktion unter Leitung von Paul Grebe. Mannheim 1963, Stichwort .Garten' (S. 198). Vgl. Bianca, Stefano, Hofhaus und Paradiesgarten. Architektur und Lebensformen in der islamischen Welt. München 1991, S. 108. „Donec gratus eram tibi/Nec quisquam potior bracchia/Candidae cervici iuvenis dabat/Persarum rege viveo beatior" heißt es in einem elegischen Liebesgedicht des römischen Dichters Quintus Horatius Flaccus (65-8 v. Chr.).

Das Paradies im Quadrat

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Vierteilung resultierenden Hochgefühl zu suchen sein. Unverkennbar ist jedoch, daß neben den sich am Gleichmaß erfreuenden (um nicht zu sagen: berauschenden) ordnungsästhetischen auch praktische Erwägungen für die Wahl einer solchen Grundform gesprochen haben mögen - die vergleichsweise leichte Zugänglichkeit und Kultivierbarkeit eines derart strukturierten Gartengeländes nämlich. Und dies um so mehr, als diese Form beliebig oft teilbar war. Jedes „Quartier" ließ sich in weitere vier Quadrate teilen. Wenn der Garten groß genug war, ließen sich die so entstandenen 16 Quadrate wiederum quadrieren und so zu einem regressus bzw. progressus ad infmitum formieren. Je weiter dieser Teilungsprozeß fortgeschritten war, desto bedeutsamer wurde die Frage der Zugänglichkeit. Im Laufe der Jahrhunderte wanderte das quadrierte Gartenparadies nach Westen. Im Peristyl des griechischen und im Atrium des römischen Hauses lebte es in Variationen fort. Das sogenannte Paradies frühchristlicher Basiliken - ein dem Eingang vorgelagerter quadratischer oder doch rechteckiger Hof, dessen Umfassungsmauern einen zur Innenseite gewandten Arkadengang aufwiesen8 - bildete eine der ersten, wenn nicht die erste, Integrationsform(en) für den Rahmen, innerhalb dessen sich die hellenistisch vermittelte Rezeption des Strukturmusters der „vier Quartiere" in der Folge verwirklichen sollte. Quadriert waren diese „Paradiese" (von denen Kaiser Konstantins Hofsänger, der staatsfromme Bischof Eusebius von Caesarea sagte, es sei angenehm, sich in ihnen aufzuhalten) nach den uns bekannten baugeschichtlichen Zeugnissen nur selten. Nicht selten jedoch wurde in ihnen die - vielfach auch als Nachvollzug der alttestamentarischen (Aus)teilung des Wassers des Lebens verstandene - Taufzeremonie durchgeführt. Eine umfassende Rezeption der orientalischen Gartengeometrie im christlichen Kulturkreis erfolgte jedoch erst im Zeichen der mittelalterlichen Klostergärten. Die ab dem 5. Jahrhundert nicht selten auf den Fundamenten verlassener römischer Gutshöfe errichteten christlichen Klöster konnten das (garten-)architektonische Erbe der griechisch-römischen bzw. hellenistischen Formensprache in quasi direkter Erbfolge übernehmen. Zusatzimpulse kamen der Entwicklung der klösterlichen Gartenarchitektur dann aber auch noch über die spanischen und sizilianischen Fürstenhöfe zu, deren Nachbarschaft zu den vom Erbe des Orients durchdrungenen Kulturschöpfungen der Mauren bzw. Sarazenen mannigfache Kontaktmetamorphosen im Gefolge hatten. Für die Geometrisierung der Gartenkultur ist der mittelalterliche Klostergarten insofern von besonderer Bedeutung, als er mit der orientalischen Struktursymbolik der „vier Quartiere" eine Reihe spezifisch christlicher Symbolformen verbindet.9 In aller Regel bestand der Klostergarten aus drei Abteilungen - dem Gemüsegarten (hortus), dem Heilkräutergarten (herbularius) und dem Obstgarten (pomarius). Der 8 9

Vgl. hierzu ausführlich Schlee, Die Ikonographie der Paradiesflüsse, (wie Anm. 3), S. 133ff. Vgl. hierzu und zum folgenden Mayer-Tasch, Peter Cornelius/Mayerhofer, Bernd (Hg.), Hinter Mauern ein Paradies. Der mittelalterliche Garten. Leipzig 1998.

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Peter Cornelius Mayer-Tasch

Gemüsegarten war zumeist in 18 regelmäßige, zu einem Rechteck zusammengeschlossene Beete gegliedert. Das Motiv für diese Anzahl der Beete erschließt sich aus ihrer Quersumme: In der christlichen Vorstellungswelt (wie übrigens auch in der chinesischen) gilt die Zahl neun als Symbol der Heiligkeit, da sie nicht nur die Ordnung(en) der Engel bezeichnet, sondern auch noch die Dreizahl der heiligen Dreieinigkeit wiederum verdreifacht. Auch die Raumgliederung des Heilkräutergartens folgt einer meta-logischen Zahlensymbolik: 16 zweireihig entlang eines Mittelwegs angeordnete Beete werden von Rabatten zu einem Viereck zusammengefaßt. Während hier die Vierzahl im Sinne des Strukturmusters der „vier Quartiere" für die Erde bzw. die Welt steht, fügt die - sich als Quersumme der 16 Beete ergebende, auf die Zahl der Planeten verweisende - Symbolzahl Sieben der durch die Vier verkörperten Erdkraft ihre Himmelskraft hinzu. Seiner engen Beziehung zu Gott als dem Weltenschöpfer und Weltenrichter wegen dürfte dem Zusammenspiel der Vierzahl und der Siebenzahl im Hinblick auf die sich im Spannungsfeld von Gedeihen und Verderben, Wachsen und Vergehen bewegende Tätigkeit des Gärtners eine geradezu paradigmatische Symbolkraft zugewachsen sein. Neben zahlreichen Bilddokumenten sprechen dafür nicht zuletzt auch die Gartenkommentare des Reichenauer Abtes Walahfried Strabo in seinem - gegen Mitte des 9. Jahrhunderts entstandenen -, kurz „Hortulus" genannten, Über de cultura hortorum.'" Der von Strabo beschriebene Klostergarten entspricht in seiner von der Vierzahl bestimmten Gliederung der Beete den Vorgaben des St. Galler Klosterplans für die Anlage des Kräutergartens." Der im ersten Drittel des 9. Jahrhunderts entstandene St. Galler Klosterplan ist zwar als solcher nie zur Ausführung gekommen, wurde aber - zumindest ausschnittweise - immer wieder zum Vorbild für die Anlage von Kloster- und Domänengärten. Während das Capitulare de Vülis*2 den Kanon der anzubauenden Pflanzen normiert hatte, präsentierte der St. Galler Klosterplan nicht zuletzt auch den Kanon der hortikulturellen Gliederungs- und Strukturformen. Selbstversorgungslogik und sich in der Maßstäblichkeit „heiliger" Symbolzahlen vollziehendes - Gotteslob fanden in holder Eintracht zusammen. Im Übergang vom hohen Mittelalter zur Renaissance erfolgt dann eine allmähliche Entsakralisierung des Naturraumes. Neben den Klostergarten tritt der Burg-, Schloß- und (vorab patrizische) Stadtgarten. Auch bei der Anlage der ersten Burgund Stadtgärten hatte der Selbstversorgungsaspekt - insbesondere im Hinblick auf Krisensituationen - eine erhebliche Rolle gespielt. Mehr und mehr trat nun aber 10 11

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Vgl. Strabo, Walahfried, Liber de cultura honorum. In Auszügen übersetzt von Hans-Dieter Stoffler. Dannstadt 1985. Der St. Galler Klosterplan ist auszugsweise abgedruckt bei: Heyer, Hans-Rudolf, Historische Gärten der Schweiz. Bern 1980, S. 20ff. sowie bei Hauser, Alben, Bauerngärten der Schweiz. Ursprünge, Entwicklung und Bedeutung. Zürich/München 1976, S. 43. Vgl. Die Landgüterordnung Kaiser Karls des Großen (Capitulare de Villis vel Cunis Imperii), übersetzt von Wilhelm Fleischmann. Leipzig 1990.

Das Paradies im Quadrat

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neben dem Autarkiestreben auch die Schaffung der Voraussetzungen für körperliche Erholung und Freizeitvergniigen im Grünen als legitimes Ziel der Gartenkultur in Erscheinung.13 Auch die Lustgärten der Renaissance aber - all die giardini publici e segreti, die Fantasie- und die Liebesgärten - schwelgten in klaren Linien und trugen insoweit das Erbe des Mittelalters und der Antike weiter.14 Leon Battista Alberti (1404-1472) etwa schauen bei den in De re aedificatoria gegebenen Empfehlungen zur Anlage geometrischer Gärten Plinius, der Briefeschreiber, und Xenophon, der Beschreiber der Gärten des Cyrus, unverkennbar über die Schultern. Die römischen Gärten etwa der Villa Medici, der Villa d'Este, der Villa Lante und manch anderer Villen in ganz Italien zeigen diese Formensprache bis auf den heutigen Tag. Gegen Ende der Epoche wird die Strenge der formalen Gärten mehr und mehr durch manieristische Akzente aufgelockert - die geometrische Grundstruktur aber wird zumeist beibehalten. Was im Renaissancegarten noch „im Rahmen" blieb und an der anmutig mäandrierenden oder wohlgezirkelten Ausarbeitung der Details sein Genügen fand, dehnt sich im Barockgarten ins Breite und Weite. Die Sequenz der - wie an einer Perlschnur an Alleen und Kanälen aufgereihten - Parterres und Boskette verlängert oder verkürzt sich unter dem Diktat der Perspektive. Die Grundformen aber bleiben weiterhin geometrisch. Im Basisentwurf verdichtet sich sogar die Stringenz der Linienführung, fächert sich freilich auch in eine Vielfalt von Lineaturen und Legaturen auf. Und dies in einem solchen Maße, daß im Blick auf die überlieferten Gartenprospekte nostalgische Sehnsucht nach den schlichten Transfigurationen der „vier Hauptwasser" des Alten Testaments aufkommen mag. Immerhin bestimmen Parallelität und Symmetrie weiterhin den Duktus der barocken Gartenarchitektur. Die theoretischen Impulse gingen von Werken wie Olivier de Serres - um 1600 erschienenem - Theatre d'Agriculture aus; die praktische Umsetzung besorgten Gartenkünstler wie Etienne de Perac, Claude und Andre Mollet sowie schließlich Andre Le Nötre.15 Immer vollkommener geriet unter ihren unermüdlich ordnenden Händen die Verbindung von Schloß und Park, immer perfekter die Spiegelung, immer unterwürfiger der vor den Füßen der Herren ausgebreitete Gartenteppich und die vor ihm salutierenden Hecken, immer arroganter die weit ausgreifende Herrschaftsgebärde. In Frankreich, dem gegen Ende des 17. und Beginn des 18. Jahrhunderts weit ausstrahlenden Ausgangs- und Mittelpunkt der aufs äußerste verfeinerten formalen Gartenarchitektur, zeigten die Gärten von Vaux-Le Vicomte,

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Reiches Bildmaterial hierzu findet sich bei Hennebo, Dieter, Gärten des Mittelalters. München/Zürich 1987. Zu den Gärten der Renaissance vgl.: Thacker, Christopher, The History of Gardens. London 1979, S. 95ff. u.ö. Vgl. hierzu und zum folgenden Thacker, The History of Gardens, (wie Anm. 14), S. 139ff. u.ö.

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Peter Cornelius Mayer-Tasch

Fontainebleau, den Tuilerien und schließlich Versailles die Hauptstationen dieser Entwicklung. Im selben Maße, in dem sich die Geometrisierung der natürlichen Umwelt der Schloßherren in einem megalomanen Zugriff aufs tendenziell Grenzenlose ausdehnte, verflachte die Spiritualität der geometrischen Symbolik. An ihre Stelle trat die mehr oder minder transparente oder intrikate Allegorik der die Alleen, Kanäle und Parterres begleitenden und bevölkernden Skulpturen wie auch die schmeichlerische Ornamentik der Broderien. Was blieb, war bestenfalls Ausdruck einer gewissermaßen rektangularen Rationalität und schlimmstenfalls Ausdruck platter wenngleich durch die Gnade künstlerischer Camouflage überzeichneten - Machtgier, die nicht nur die menschliche, sondern auch die außermenschliche Natur unter ihr Diktat zwang. Als architektonische Inkarnation absolutistischen Durchdringungs- und Ausdehnungswillens ist der geometrische Garten des Barockzeitalters symbolische Politik par excellence. Und dies auf spirituell eher bescheidenem, jedoch künstlerisch und propagandistisch hohem Niveau. Im Mittelpunkt der als pars pro toto profilierbaren, hybriden Gartenwelt von Versailles kreiste der in die allegorische Lächerlichkeit einer pseudo-apollonischen Existenz hineingeratene Roi Soleil, der gegen Abend seines langen Lebens neben dem noch greiseren Le Nötre in seinem 'roulette' durch die weiten Alleen und Parterres gezogen und geschoben wurde, die er in jüngeren Jahren mit seinem Gefolge so unermüdlich durchschritten hatte,16 eine Sonne, die sich zur Ruhe begab. Die Faszination der künstlerisch überhöhten geometrischen Exposition hat diesen paradigmatischen Sonnenuntergang noch eine Zeit lang überlebt. Die letzten Sonnenstrahlen drangen nach Petersburg, Drottningholm, Herrenhausen, Schwetzingen und Schleißheim im Osten und nach Williamsburg, Middleton Place bei Charleston und Nottingham im Westen. Was dann aber Lord Shaftesoury 1709 im Moralist und Alexander Pope 1731 in der Epistle to Lord Burlington zu sagen hatten,17 wurde weithin gehört und befolgt. Es bildete den Auftakt des großen Paradigmenwechsels, der nicht zuletzt im Medium des Landschaftsgartens den sehr moderaten Aufstand der Natur wider die Dressur inszenieren sollte. Ganz hinweggefegt werden sollte die Freude an einer geometrischen Gartenarchitektur auch durch die Implikationen dieses Paradigmenwechsels noch nicht. Die Hoch-zeit ihrer Realisation jedoch war vorüber. Wie sich die Intuitionen, Instinkte und Impulse, die zur Geometrisierung geführt hatten, nachhaltig abschwächen sollten, so sollte auch ihre Formierungskraft jenseits gepflegter Musealität nur noch sanfte Nachgeburten erleben - in den Gärten großbürgerlicher Ästheten des 19. und 20. Jahrhunderts etwa, sowie auch in urbanen Großprojekten wie einer 16 17

Vgl. Thacker, The History of Gardens, (wie Anm. 14), S. 149. Vgl. ebd., S. 181f.: In dem Brief an U>rd Burlington spottet Pope über den schlechten Geschmack des reichen Timon, in dessen unnatürlich geometrisiertem Garten „Grove nods at Grove, each Alley has a Brother/And half the Platform just reflects the other".

Das Paradies im Quadrat

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Siedlung von Frank Lloyd Wright aus dem Jahre 1906 und Corbusiers Pariser Ville Radieuse aus dem Jahre 1930.18 Vor allem aber nach wie vor im Bauerngarten,19 in dem sich das alttestamentarische Strukturerbe mit dem mittelalterlichen Funktionserbe hie und da - vor allem in der Schweiz20 - noch erhalten hat, wenn auch die geistigen Hintergründe des einen wie des anderen Traditionsstroms weitgehend obsolet geworden sind.

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Vgl. hierzu McClung, William Alexander, The Architecture of Paradise. Berkeley/Los Angeles/London 1985, S. 137ff. Gute Beispiele hierfür finden sich u.a. bei: Nowak-Nordheim, Walter, Der Bauerngarten. München 1982, S. 33, 131 u.ö.; Dittrich, Werner, Bäuerliche Gärten. Stuttgart 1984, S. 13ff. sowie Engelbrecht, Jolanda, Blumen aus dem Bauerngarten. München 1993, S. 7ff. Vgl. oben, Anm. 11.

HANS-GÜNTER FUNKE (Göttingen)

Die literarische Utopie der französischen Aufklärung zwischen archistischem (Vairasse, Fontenelle, Morelly) und anarchistischem Ansatz (Foigny, Fenelon, Lahontan) Erich L·>os zum 85. Geburtstag

In den Idealstaatskonstruktionen der literarischen Utopien wie in den Realisierungen der Gartenarchitektur des 17. und 18. Jahrhunderts sind ähnliche Phänomene und Entwicklungen zu beobachten. So zeigt die Topographie der Staatsutopien nach dem Utopia-Modell eine Tendenz zur Umgestaltung der Natur, zur Geometrisierung des Raumes, die der Geometrie des französischen Barockgartens als einem symbolischen Ausdruck der absoluten Monarchie zu entsprechen scheint. Die utopischen Idealgesellschaften der anarchistischen „Republiques sauvages" oder bon sauvage-Utopien folgen hingegen den Gesetzen der Natur, begreifen sich als Teil der Natur und verzichten in der Regel auf deren Umgestaltung. Sie scheinen als ein Analogen zum englischen Landschaftsgarten interpretierbar, der auch eine utopische Komponente zur Anschauung gebracht haben könnte, wie dies am Beispiel des Wörlitzer Parks nachgewiesen werden kann.1 So ergibt sich die erkenntnisleitende Hypothese dieses Symposions, daß die ästhetische Gestaltung des Raumes im utopischen Denken des 18. Jahrhunderts sowohl im Bereich der literarischen Utopie als auch in dem der Gartenkunst als eine Entwicklung „von der Geometrie zur Naturalisierung" zu deuten sei. Diese Entwicklung sollte durch den interdisziplinären Dialog zwischen Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte geklärt werden. Die folgenden Ausführungen werden aus der Perspektive der literaturwissenschaftlichen Utopieforschung formuliert und beschränken ihre Gültigkeit auf den Bereich der Utopien der französischen Literatur.2 Sie gliedern sich in vier Abschnitte: l. das Resümee relevanter Ergebnisse eigener Forschung zur Entstehung und Differenzierung der Gattung Utopie wie ihrer Funktionen im 17. und 18. Jahrhundert, 2. die Analyse von drei repräsentativen Texten der Gruppe derjenigen Utopien, welche die Institutionen eines starken Staates entwerfen (Vairasse, Fontenelle, Morelly), 3. die Analyse von drei anarchistischen, also herrschaftsfreien

Vgl. Saage, Richard/Seng, Eva-Maria, Geometrische Muster zwischen frühneuzeitlicher Utopie und russischer Avantgarde, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 44 (1996), S. 677-692; vgl. auch die Einleitung der Herausgeber dieses Bandes wie den Beitrag Seng, Eva-Maria, Die Wörlitzer Anlagen zwischen englischem Landschaftsgarten und Bon-SauvageUtopie? Die Utopien der englischen Literatur z.B. kennen eine (wenn auch spätere) Entwicklung von der Geometrisierung zur Naturalisierung, vgl. den Beitrag von Hans Ulrich Seeber in diesem Band.

Die literarische Utopie der französischen Aufklärung

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Utopien (Foigny, F6nelon, Lahontan), schließlich 4. die Zusammenfassung der Ergebnisse als einen Beitrag zur kritischen Diskussion der erkenntnisleitenden Hypothese des Symposions.

1. Die Gattung der literarischen Utopie in Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert: Entstehung, Differenzierung und Funktionen Die literarische Utopie definiere ich als den Entwurf einer Idealgesellschaft mit der Funktion eines kritischen Gegenbildes zu der zeitgenössischen real existierenden Gesellschaft.3 Der Text jeder Utopie wird außerdem durch intertextuelle Bezüge auf Prätexte der Gattungstradition konstituiert, für die französische Utopie sind dies vor allem der Prototyp der neuzeitlichen Utopie, die Utopia (1516) von Thomas Morus, die ihrem Vorbild folgenden Renaissance-Utopien wie die authentische Reiseliteratur von Reisen nach Übersee.4 Die erste Utopie der französischen Literatur ist die 1616 anonym veröffentlichte Histoire du grand et admirable royaume d'Antangil, die im Rahmen einer erst dürftig entwickelten Reisehandlung nach dem Modell der Utopia den Entwurf eines protestantischen Idealstaats bietet. Mit der Herausbildung der Reiseutopie im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts (1676 Foigny, 1677-79 Vairasse, ca. 1682 Fontenelle) beginnt die Blütezeit der französischen Gattungsentwicklung der Utopie, die bis zur Französischen Revolution anhält.5

Zur Definition der literarischen Utopie vgl. Funke, Hans-Günter, Aspekte und Probleme der neueren Utopiediskussion in der französischen Literaturwissenschaft, in: Voßkamp, Wilhelm (Hg.), Utopieforschung. Stuttgart 1982. Bd. II, S. 192-220, hier S. 192-193. Vgl. die Renaissance-Utopien von: More, Thomas, The Complete Works of St. Thomas More. Vol. 4: Utopia, hg. v. Edward Surtz SJ und Jack H. Hexter. New Haven/London 1965 (The Yale Edition of the Complete Works of St. Thomas More); Bacon, Francis, Novus Atlas [1694], in: ders., Opera omnia, hg. v. Simon Joannes Amoldus. Leipzig, S. 976-994; Campanella, Tommaso, La citta del sole. Testo italiano e testo latino, hg. v. Norberto Bobbio. Torino 1941 (Nuova raccolta di classici italiani annotati 2); die Histoire du Grand et admirable Royaume d'Antangil [1616], in: Le Royaume d'Antangil (inconnu jusqu'a present) reimprim^ sur 1'unique edition de Saumur, 1616, avec des eclaircissements, hg. v. Fnideric Lachevre. Paris 1933 (Collection „Les Textes" 12); zur authentischen Reiseliteratur: Atkinson, Geoffroy, Les relations de voyages du XVIle siecle et Involution des idles. Contribution a l'ötude de la formation de l'esprit du XVIII e siecle. Paris 1924; Chinard, Gilbert, L'Amerique et le reve exotique dans la litterature francaise au XVIIf et au XVIII' siecle. Paris 1934; ders., L'exotisme americain dans la litterature franfaise au XVle siecle, d'apres Rabelais, Ronsard, Montaigne etc. Geneve 1970; Bitterli, Urs, Alte Welt - neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontakts vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. München 1986; Wolfzettel, Friedrich, Le discours du voyageur. Pour une histoire littoraire du rdcit de voyage en France, du Moyen Age au XVIII 6 siecle. Paris 1996 (Perspectives litteraires). Vgl. Funke, Hans-Günter, Die Utopie der französischen Aufklärung: Formen, Themen und Funktionen einer literarischen Gattung, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 12 (1988), S. 40-61; Trousson, Raymond, Voyages auxpays de nulle part. Histoire littoraire de la

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Hans- Günter Funke

Thematisch-inhaltlich wird die literarische Gattung der Utopie als Idealgesellschaftsentwurf definiert, formal-strukturell differenziert sich die Gattung Utopie im 17. und 18. Jahrhundert in ein System, das sieben Untergattungen umfaßt:6 die Reiseutopie (rocit de voyage utopique, Prototyp: Vairasse, Histoire des Sevarambes, 1677-79) - mit einer „realistischen" und einer phantastischen Spielart (Prototyp: Cyrano de Bergerac, L'Autre Monde ou les Etats et Empires de la Lune, 1657)-, den pseudohistorischen Reise- und Bildungsroman (roman pseudo-historique de voyage et de formation, Prototyp: Fenelon, Les Aventures de Telemaque, 1699), den philosophischen Dialog (dialogue philosophique, Prototyp: Lahontan, Dialogues curieux entre l'auteur et un sauvage de ban sens qui a voyage, 1703), den Reise- und Abenteuerroman mit utopischen Episoden (roman d'aventures ä episodes utopiques, Prototyp: Tyssot de Patot, Voyages et aventures de Jacques Masse, 1714), das utopische Drama (drame utopique, Prototyp: Marivaux, L'He des esclaves, 1727), den politisch-ökonomischen Verfassungs- und Reformplan (utopie-projet ou plan de constitution utopique, Prototyp: Morelly, Code de la nature, 1755), endlich die Uchronie oder Zeitutopie (Utopie dans le temps ou uchronie, Prototyp: Mercier, L'An 2440, 1770), welche allerdings erst im 19. und 20. Jahrhundert den älteren Typus der Raumutopie (utopie dans l'espace) zurückdrängt. de la pensee utopique, Deuxieme 6d. revue et augmentee. Bruxelles 1979 (Universito Libre de Bruxelles, Facult6 de Philosophie et Lettres 60), S. 87-181. Zur Gattungsdifferenzierung vgl. Funke, Hans-Günter, Zur Geschichte der Gattungsbezeichnungen der literarischen Utopie in Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert, in: Hempel, Wido (Hg.), Französische Literatur des 18. Jahrhunderts. Gedächtnisschrift für Fritz Schalk. Frankfurt/M. 1983 (Analecta Romanica, 48), S. 75-107, hier S. 86ff.; Funke 1988, (wie Anm. 5), S. 43ff.; Funke, Hans-Günter, L'evolution semantique de la notion d'.utopie' en fran9ais, in: Hudde, Hinrich/Kuon, Peter (Hg.), De ['Utopie a l'Uchronie. Formes, Significations, Fonctions, Actes du colloque d'Erlangen, 16-18octobre 1986. Tübingen 1988 (Etudes littöraires fran9aises, 42), S. 19-37, hier S. 25f.; Funke, Hans-Günter, Utopie. Utopiste. München 1991 (Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich, 1680-1820, 11), S. 22f. Textausgaben der Prototypen vgl.: Vairasse [Veiras] d'Allais, Denis, L'Histoire des Sevarambes, peuples qui habitent une Partie du troisieme Continent, communement appele La Terre Australe etc., Traduit de l'Anglois. 2 Bde. Paris 1681-1682, chez l'Autheur, Bruxelles, Lambert Marchand; Cyrano de Bergerac, Savinien, (Euvres completes, hg. v. Jacques Prevot. Paris 1977, S. 351-507: L'Autre Monde', ders., L'Autre Monde ou les Etats et empires de la lune, hg. v. Madeleine Alcover. Paris 1977 (Sociote des textes franfais modernes); Fonelon, Fra^ois de Salignac de la Mothe, Les Aventures de Telemaque, hg. v. Jeanne-Lydie Gorö. Paris 1968 (Garnier-Flammarion 168); Lahontan, Louis Armand Baron de, Dialogues curieux et Memoiren de l'Amerique Septentrionale, hg. v. Gilbert Chinard. Paris 1931; ders., (Euvres completes. Bd. I, hg. v. R6al Quellet u. Alain Beaulieu. Montreal 1990 (Bibliotheque du Nouveau Monde); Tyssot de Patot, Simon, Voyages et avantures de Jaqu.es Masse, hg. v. Aubrey Rosenberg. Paris/Oxford 1993 (Libre pensee et litterature clandestine 2); Marivaux, Pierre (Carlet de Chamblain de), L'lsle des Esclaves. Comedie en un acte. Paris 1725; Morelly, Code de la Nature ou le veritable esprit de ses lois, de tout temps neglige ou meconnu, hg. v. V. P. Volguine. Paris 1970 (Les classiques du peuple); Mercier, Louis-Sebastien, L 'An deux nulle quatre cent auarante. Reve s'il en fut jamais, hg. v. Raymond Trousson. Bordeaux 1971 (Coll. Ducros 12).

Die literarische Utopie der französischen Aufklärung

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Die dominante Gattungsvariante, die Reiseutopie (17. Jahrhundert: histoire, seit 1735 belegt: voyage imaginaire), ist im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts aus der Verschmelzung der Gattungstradition der Renaissance-Utopien (nach dem UtopiaModell) mit der des authentischen Reiseberichts entstanden.7 Das latente kritische Potential der authentischen Reiseliteratur, das den Leser zum kritischen Vergleich fremdkultureller Erfahrung mit der christlich-europäischen Eigenkultur veranlaßte, wurde in der Reiseutopie zum bewußt gewählten Gegenstand, zum Mittel der aufklärerischen Kritik an Frankreich und Europa. Im Rahmen der als authentisch ausgegebenen Ich-Erzählung einer Entdeckungsreise nach Übersee (voyage au long cours) wird die (mehr oder weniger) systematische Beschreibung einer Idealgesellschaft - in der Regel in der Nachfolge der t/fop/a-Tradition - dargeboten. Am Rande der jeweils bekannten Welt lokalisiert, konnten die Reiseutopien (zumindest von einem Teil des zeitgenössischen Publikums) als „authentische" Reiseberichte (relations de voyage) über „reale" Länder in Übersee rezipiert werden.8 Der Realitätsbezug der (Reise-)Utopien besteht in deren Charakter als epochenspezifischem Gegenbild zu Frankreich und Europa und, indirekt, in der Entlehnung realer Elemente fremder Kulturen aus der authentischen Reiseliteratur. Nach der überlieferten oder aus den Texten erschließbaren Intention ihrer Autoren wie nach den Dokumenten ihrer Rezeption durch das Primärpublikum haben die Utopien des 16. bis 18. Jahrhunderts vor allem eine kritische Funktion besessen.9 Sie dienten - wie schon Moms' Utopia - als Norm für die Kritik der defizienten Realität ihrer Epoche. Ihnen wurde in der Regel nicht die pragmatische Funktion eines realisierbaren Reformvorschlags zur konkreten Veränderung der bestehenden Gesellschaft zugeschrieben,10 so daß die Vorwürfe der Irrealisierbarkeit, der Weltfeme, des „Eskapismus" einen anachronistischen Charakter haben und diese Utopien nicht treffen können. Vorwürfe dieser Art entstanden vor allem im Kontext der bürgerlichen Sozialismuskritik wie der marxistischen Kritik an den Frühsozialisten nach der Revolution von 1848.n Die Utopien des 16. bis 18. Jahrhunderts können weder mit den Reformschriften der Frühsozialisten des 19. Jahrhunderts noch mit den totalitären Systemen und den diese kritisierenden Antiutopien des 20. 7

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Vgl. Funke, Hans-Günter, Studien zur Reiseutopie der Frühaufklärung. Fontenelles .Histoire des Ajaoiens' (Teil I). Heidelberg 1982 (Reihe Siegen 24), S. 111-128; Beleg für voyage imaginaire vgl. Funke 1983, (wie Anm. 6), S. 87-88; Funke 1991, (wie Anm. 6), S. 22. Vgl. die Rezeption der Histoire des Sevarambes von Vairasse: Funke 1982, (wie Anm. 7), S. 118-122; zur Utopierezeption: Funke, Hans-Günter, Utopierezeption und Utopiekritik in literarischen Zeitschriften der französischen Spätaufklärung (1750-1789), in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 7 (1983), S. 89-112. Zu Funktionen der Gattung Utopie vgl. Funke 1988, (wie Anm. 5), S. 58f. Vgl. unten den besonderen Fall der Basiliade von Morelly, Naufrage des Isles flottantes, ou Basiliade du celebre Pilpa'i. Poeme heio'ique; Traduit de Indien, par Mr. M******. 2 Bde. A Messine, Par une 5 de Libraires 1753 (Micro&iitions Kachelte, Paris, o.J.), gegen die zeitgenössische Rezensenten den Vorwurf der Unrealisierbarkeit erhoben, vgl. Morelly, (wie Anm. 6), S. 52. Vgl. Funke 1991, (wie Anm. 6), S. 83-88.

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Hans-Günter Funke

Jahrhunderts gleichgesetzt werden, weil dies zu anachronistischen Fehlurteilen führen muß. Das moderne Verständnis von Wertbegriffen wie „Individualismus", „persönliche Freiheit", „Demokratie", „Grundrechte" kann nicht uneingeschränkt auf die gesellschaftliche Realität der Ständegesellschaft des Ancien Regime des 18. Jahrhunderts angewendet werden. Die Utopien haben häufig die katalytische Funktion, ihre Leser auf die mögliche Veränderbarkeit der historisch gegebenen Realität zu verweisen. Sie können partiell eine pragmatische Funktion erlangen, die durch die spätere Teilrealisierung der von ihnen als existierend beschriebenen Einrichtungen bezeugt wird (z.B. die Salomonsgesellschaft in Bacons Nova Atlantis als Modell der „Royal Society" in London und der „Academie des Sciences" in Paris).12 Inhaltlich lassen sich zwei Idealtypen der Utopien unterscheiden, die archistischen und die anarchistischen Utopien, ein Begriffspaar, das der konservative Sozialwissenschaftler Andreas Voigt 1905 vorgeschlagen hat und das von Richard Saage und Eva-Maria Seng für das Symposion in Halle aktualisiert worden ist.13 Ich übernehme hier Voigts Neologismen Archie und archistisch, nicht ohne mich ausdrücklich von der wissenschaftlich unhaltbaren anthropologischen und biographistischen Begründung seiner Terminologie wie von dem utopiefeindlichen Charakter seiner Argumentation zu distanzieren.14 Analog zum Begriff der Anarchie, der Utopie der Henrschaftslosigkeit, der Nichtexistenz staatlicher Institutionen und damit der totalen individuellen Freiheit, prägte Voigt den Begriff der Archie, der Utopie des starken Staates, dessen rigide Institutionen allen Bürgern um den Preis des Verlusts ihrer persönlichen Freiheit materielle Sicherheit garantieren. In einem 1986 veröffentlichten Aufsatz habe ich die Gruppe der anarchistischen Utopien der französischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts unter dem zeitgenössischen Terminus „Republique sauvage" analysiert und als Ausdruck des „Mythos der egalitären Anarchie der Indianergesellschaft" interpretiert, der mit

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Vgl. Trousson, (wie Anm. 5), S. 83. Vgl. Saage, Richard, Gibt es einen anarchistischen Diskurs in der klassischen Utopietradition?, in: Süß, Werner (Hg.), Übergänge. Zeitgeschichte zwischen Utopie und Machbarkeit. Beiträge zur Philosophie, Gesellschaft und Politik. H. G. Bütow zum 65. Geburtstag. Berlin 1990, S. 41-56; vgl. Saage und Seng 1996, (wie Anm. 1); vgl. den Beitrag von E.-M. Seng in diesem Band. Voigt, Andreas, Die sozialen Utopien. Fünf Vorträge. Leipzig 1906, S. IV Vorträge 1905 gehalten, S. 20 anarchistische vs. archistische Utopie, S. 17-20 aus einer konservativ-apologetischen Haltung begreift Voigt beide Kategorien als pejorisierende Begriffe, die er aus ahistorischen anthropologischen Konstanten ableitet, den beiden Typen der „Herrenmenschen" und der „zum Dienen Geborenen", denen zwei Arten von Utopisten entsprechen sollen, die „Willensstarken", welche archistische Utopien entwerfen, und die „sanften Utopisten", welche anarchistische Utopien bevorzugen. Voigt setzt die Begriffe „Utopisten" und „Sozialisten" als Synonyme; die Realisierungsabsicht der Utopisten versteht er als deren entscheidendes Definitionsmerkmal.

Die literarische Utopie der französischen Aufklärung

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dem „Mythos des edlen Wilden" nahe verwandt, aber nicht identisch ist.15 Der Begriff der „Republique sauvage" ist mit dem von Saage und Seng verwendeten Terminus der bon sauvage-Utopie synonym. In einer Untersuchung aus dem Jahre 1990 hat Richard Saage Elemente eines „anarchistischen Diskurses in der klassischen Utopietradition" nachgewiesen und die „staatsfreien Utopien" als ideengeschichtliche Vorläufer des europäischen Anarchismus charakterisiert.16

2. Archistische Utopien (Vairasse, Fontenelle, Morelly) Drei repräsentative Textbeispiele sollen den Typus der archistischen Utopie, der Konstruktion eines starken Idealstaates, illustrieren:17 die Histoire des Sevarambes (1677-79) von Denis Vairasse, die Histoire des Ajao'iens (ca. 1682) von Fontenelle -beides Reiseutopien, die als authentische Reiseberichte ausgegeben werdenund der Code de la Nature (1755), der Prototyp der utopie-projet, der auf jede fiktionale Rahmenhandlung verzichtet und den Idealstaatsentwurf in der Form eines Gesetzestextes darbietet. Der südfranzösische Kalvinist Denis Vairasse (Veiras), der den „libertins erudits" geistig nahestand, hat 1677-79 den Prototyp der französischen Reiseutopie veröffentlicht, L'Histoire des Sevarambes qui habitent une partie du troisieme Continent, communement appele la Terre Australe.1* Das Buch erschien als der angeblich authentische Reisebericht des niederländischen Kapitäns Siden (ein 15

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Vgl. Funke, Hans-Günter, ,La Republique sauvage'; Anarchie als Utopie in der französischen Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts, in: Romanische Forschungen 98 (1986), S. 36-57, hier S. 39 der Begriff „Ripublique sauvage". Saage 1990, (wie Anm. 13). Voigts Begriff der „archistischen Utopie" entspricht dem Begriff des „Staats-Romans", den Robert von Mohl geprägt hat, vgl. Mohl, Robert von, Die Staats-Romane; ein Beitrag zur Literatur-Geschichte der Staats-Wissenschaften, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 2 (1845), S. 24-74. Im Abschnitt 2 beziehe ich mich auf meinen gattungsgeschichtlichen Überblick Funke 1988, (wie Anm. 5). Zur Gattungsgeschichte vgl. auch: Trousson, (wie Anm. 5); Kuon, Peter, Utopischer Entwurf und fiktionale Vermittlung. Studien zum Gattungswandel der literarischen Utopie zwischen Humanismus und Frühaufklärung. Heidelberg 1986 (Studia romanica 66); Yardeni, Myriam, Utopie et revolte sous Umis XIV. Paris 1980; Leibacher-Ouvrard, Use, Libertinage et utopies sous le regne de Louis XIV. Genf 1989 (Histoire des idees et critique litt£raire 267); Racault, Jean-Michel, L'Utopie narrative en France et en Angleterre, 1675-1761. Oxford 1991 (Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 280); Saage, Richard, Politische Utopien der Neuheit. Darmstadt 1991 und die Forschungsberichte zur französischen literarischen Utopie von Funke 1982, (wie Anm. 3), und zur Geschichte der politischen Utopien von Saage, Richard, Utopieforschung. Eine Bilanz. Darmstadt 1997; zum Zusammenhang von „Städtebau und Utopie" vgl. Schumpp, M., Städtebau und Utopie. Soziologische Überlegungen zum Verhältnis von städtebaulichen Utopien und Gesellschaft. Diss. Göttingen 1970. Zitierte Ausgabe: Vairasse, (wie Anm. 6); zu Vairasse vgl. Mühll, Emmanuel von der, Denis Veiras et son Histoire des Sevarambes. Paris 1938; Kuon, (wie Anm. 17), S. 307-376; Racault, (wie Anm. 17), S. 325-355.

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Hans-Günter Funke

Anagramm des Vornamens Denis!), der als Ich-Erzähler über seine mit Schiffbruch an der australischen Küste endende Ostindienfahrt berichtet, über den Kolonisierungsversuch der Schiffbrüchigen und die Entdeckung des Idealstaats der Sevarambier im Inneren der Terra Australis Incognita, jenes sagenhaften Südkontinents, dessen Existenz im Raum Australiens, des Stillen Ozeans und der Antarktis vermutet wurde. Sidens Bericht wird durch Herausgeber- und Übersetzerfiktion wie durch die Berufung auf historische Dokumente der niederländischen Ostindienkompagnie authentisiert. Die Beschreibung des Idealstaats Sevarambien erscheint zunächst als Reisebericht - Vairasse bemüht sich hier erfolgreich um die Fiktionalisierung seines Konstrukts -, dann als Geschichtsschreibung Sidens über die Staatsgründung durch Sevarias (ein Anagramm des Namens Vairasse!), den ersten theokratischen Herrscher Sevarambiens im 15. Jahrhundert, endlich als Referat aus den Geschichtsquellen des Landes, den Annalen aller sevarambisehen Herrscher. Hierzu gehört auch die Geschichte des religiösen Betrügers Stroukaras, eine religionskritische Satire auf die Religionsstifter Moses und Christus und deren Wundertaten. Mehrere z.T. umfangreiche Binnennovellen haben die Funktion, das utopische Konstrukt durch fiktive Handlung sinnfälliger zu machen. Sevarambien liegt in der „Terra australis incognita" (40°S) und wird durch natürliche Hindernisse von der Außenwelt isoliert: Sandbänke blockieren die Küste, hohe Gebirge umschließen das Zentrum des Staates, die nur mit Hilfe von Tunneln und Aufzügen der hoch entwickelten sevarambischen Ingenieurstechnik überwunden werden können. Die Technik beherrscht die Natur. Die natürliche Fruchtbarkeit des Landes wird durch die kunstvollen Kanal- und Dammbauten eines Bewässerungssystems noch erhöht. Der sevarambische Urbanismus zeigt eine markante Tendenz zur Geometrisierung. Alle Städte haben denselben symmetrischen Plan, bestehen aus gleichförmig gebauten Einheitshäusem mit quadratischem Grundriß, die regelmäßig um den Tempel der Sonne und den Palast des Herrschers (bzw. des jeweiligen Provinzgouverneurs) angeordnet sind. Die schier unbegrenzten Möglichkeiten der Naturbeherrschung durch den hohen Entwicklungsstand ihrer Technik werden von den Sevarambiern selbstbewußt aus der Leistungsfähigkeit ihres Kollektivismus abgeleitet: [...] rien dont les hommes puissent venir ä bout, n'est impossible ä notre nation, oü les particuliers n'ont rien ä eux, et oü le public possede de toutes choses, et dispose et vient ä bout de toutes les grandes entreprises, sans or et sans argent.

Sevarambien ist eine zentralistisch organisierte Theokratie und Wahlmonarchie. Ihre Verfassung beruht auf einer Reihe unaufhebbarer Grundgesetze (lois fundamentales), die auch den Monarchen binden, vor allem auf einem synallagmatischen Vertrag zwischen Herrscher und Volk, der diesem ein Widerstandsrecht gegen jeden tyrannischen Herrscher zuspricht. Produktion und Distribution der Wirtschaft werden durch den Staat kommunistisch organisiert und gelenkt nach den Grundsätzen der allgemeinen Arbeitspflicht und der Gütergemeinschaft. Die seva-

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rambische Gesellschaft erstrebt die Harmonie von Individual- und Sozialinteressen durch die relative Gleichheit ihrer Bürger und durch staatliche Institutionen wie Ehegesetze (Polygamie für die staatlichen Würdenträger), Gemeinschaftshäuser (Osmasies), welche Wohnungen und Arbeitsstätten von je l 000 Menschen vereinen, durch eine weitreichende Gleichstellung der Frau, durch ein staatliches Bildungswesen, endlich durch den Einsatz ausländischer Arbeitssklaven. Obwohl die Sevarambier großes Vertrauen in die Erziehungs- und Bildungsfähigkeit des Menschen setzen, haben sie eine negative Anthropologie. Sie begreifen die Natur des Menschen als grundsätzlich schlecht - offenbar ist dies eine Fortwirkung des christlichen Dogmas der Erbsünde bei dem Kalvinisten Vairasse - und verstehen die Erziehung daher als eine notwendige Korrektur angeborener Neigungen zum Laster, aber auch als ein Mittel zur Entwicklung positiver Anlagen: Leur sage Legislateur fesant de si belles Loix pour ses peuples, n'avoit garde de negliger le soin de faire Clever la jeunesse, S9achant bien que de leur iducation depend la conservation ou la ruine de ces memes Loix, & que la corruption des moeurs produit ordinairement de grandes illusions dans la politique. [...] Les hommes ont naturellement beaucoup de penchant au vice, & si les bonnes Loix, les bons exemples & la bonne iducation ne les en conrigent, les mauvaises semences qui sont en eux s'accroissent & se fortifient, & le plus souvent elles otouffent les semences de vertu [...] (linde P., 1.1, S. 157).

Die rationale Sprache der Sevarambier vermag es, die „Natur der Dinge" unmittelbar auszudrücken, so daß Sprachkompetenz und Erkenntnisfähigkeit identisch werden. Die deistische Staatsreligion, die sich mit einem äußerlichen Sonnenkult verbindet, toleriert religiöse Minderheiten, selbst Atheisten, um den Preis eines äußeren Konformismus. Sevarambien ist von der Außenwelt isoliert, wird aber durch seinen Spionagedienst über die Leistungen der Kulturentwicklung wie über die aggressive Politik der Europäer informiert und unterhält für den Verteidigungsfall eine Armee auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht. Der Idealstaat Sevarambien bildet gleichsam das Ergebnis einer weiterentwickelten merkantilistischen Reformpolitik im Sinne Colberts, eine Vorwegnahme mancher Züge des „aufgeklärten Absolutismus" (despotisme eclaire), eine „Utopisierung" des zeitgenössischen Frankreichs Ludwigs XIV. Unter intertextuellem Bezug auf Morus' Utopia, Vairasse' Histoire des Sevarambes und authentische Reiseberichte des 17. Jahrhunderts (v.a. Vries' CatayReise im Jahre 1643) hat der junge Fontenelle um 1682 eine ungleich kühnere Reiseutopie verfaßt, die Histoire des Ajaoiens, in der er eine kritische Gegenwelt zur absoluten Monarchie Ludwigs XIV. entwirft: Ajao, die kommunistische, repräsentativdemokratisch-föderalistische Insel-Republik tugendhafter Atheisten.19 Die 19

Zitierte Ausgabe: Fontenelle (Bernard Le Bovier de), Histoire des Ajaoiens. Kritische Textedition mit einer Dokumentation zur Entstehungs-, Gattungs- und Rezeptionsgeschichte des Werkes von Hans-Günter Funke. Heidelberg 1982 (Reihe Siegen, Editionen, 3); eine neue kritische Textausgabe auf der Basis des in Galatzi (Rumänien) wiederentdeckten Manuskripts des 17. Jahrhunderts wurde 1998 veröffentlicht: Fontenelle, Histoire des Ajaoiens, hg. v. Hans-

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Radikalität dieses utopischen Konstrukts mag erklären, warum die Histoire des Ajaol'ens erst 1768 postum veröffentlicht wurde und die Verfasserschaft Fontenelles bis heute nur mit höchster Wahrscheinlichkeit, nicht aber mit absoluter Sicherheit nachgewiesen werden konnte.20 Die Reiseutopie wird als Übersetzung eines Reiseberichts des niederländischen Seefahrers Doelvelt authentisiert, der 1675 bei dem Versuch, von Batavia (Djakarta) aus die Nordostpassage um Sibirien zu entdecken, angeblich auf der nordöstlich von Japan (im Ochotskischen Meer) gelegenen Insel Ajao gestrandet war. Die Topographie zeigt das seit Morus gattungstypische Merkmal der Isoliertheit: Felsklippen und Sandbänke schützen die Küste der Insel, welche die Form eines Dreiecks hat. Fruchtbare Ebenen und die reichen Bodenschätze eines Gebirges sichern die ökonomische Autarkie. Eine im Mittelpunkt der Insel gelegene Festung bildet das politische Zentrum der sechs völlig gleichartig strukturierten Stadtstaaten, die einen Bundesstaat bilden. Die Anlage der Städte wie die Struktur der staatlichen Institutionen Ajaos zeigen das von Morus und Vairasse entlehnte Prinzip geometrisch-rationaler Gestaltung: L'Isle d'Ajao est divis6 [sic] en six districts, [...] en six villes qui forment chacune une R6publique ä part. Ainsi cette Republique est composee de six petites Republiques particulieres. Quand on connoit la constitution de l'une, on connoit celle des cinq autres. [...] Ajao est divisee en six triangles, qui forment autant de quartlers: chaque quartier contient entre six a huit cents maisons. Chaque maison löge d'ordinaire vingt families. (S. 54)

Der Bundesstaat wie die Stadtrepubliken werden von repräsentativdemokratisch gewählten Kollegialregierungen (ohne personale Spitze) durch Mehrheitsentscheidungen geleitet. Allein Kompetenz und Tugendhaftigkeit gelten als Kriterium für die durch Wahl besetzten öffentlichen Ämter, die grundsätzlich jedem zugänglich sind. Die staatlich organisierte kommunistische Wirtschaft wird nicht ohne Widersprüche dargestellt: paradiesische Fruchtbarkeit des Landes, allgemeine Arbeitspflicht der Bürger und die Existenz von Arbeitssklaven stehen nebeneinander. Die Harmonie dieser Gesellschaft tugendhafter Atheisten wird realisiert durch die gleichartige Erziehung in dem utilitaristisch organisierten staatlichen Bildungswesen, durch ein für alle gültiges Normensystem von Sozialwerten, durch politische und ökonomische Gleichheit, endlich durch den Tugendwettstreit (aemulatio) bei der Besetzung aller öffentlichen Ämter. Das Skandalen der Fontenelleschen Utopie liegt in der materialistischen Weltanschauung, der autonomen

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Günter Funke. Oxford 1998 (Libre pensoe et litterature clandestine, 6); vgl. auch Funke, HansGünter, Un manuscrit retrouve: l'.Histoire des Ajao'iens' attribuoe ä Fontenelle, Utopie d'une ropublique d'athdes vertueux, in: McKenna, Antony/Mothu, Alain (Hg.), La Philosophie clandestine ä l'Age dassique. Actes du colloque de l'Universite Jean Monnet Saint-Etienne du 29 septembre au 2 octobre 1993. Paris/Oxford 1997 (Bibliographica, 4), S. 193-204; zu Fontenelles Utopie vgl. meine Hablitationsschrift 1982, (wie Anm. 7); Racault, (wie Anm. 17), S. 385-395. Zur Autorschaft vgl. Funke 1982, (wie Anm. 7), S. 44-67 und Funke 1997, (wie Anm. 19).

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Moral, dem atheistischen Menschenbild, ja der bloßen „Existenz" eines Atheistenstaates, welcher die berühmte Hypothese Bayles (Lettre sur la comete, 1682) „realisiert"21 und den Gottesbeweis „ex consensu omnium gentium" widerlegt: Die materielle Welt, die „Nature", und die in ihr waltenden Gesetze bestehen ewig; die menschliche Natur ist ursprünglich gut, der Mensch folgt den Gesetzen der Natur und unterscheidet sich nur graduell vom Tier, weil er, wie alle Lebewesen, nur eine materielle, sterbliche Seele besitzt. Als „Präadamiten" (S. 106: „des hommes qui, peut-etre, ne descendent pas d'Adam [...]") unterliegen die tugendhaften Atheisten Ajaos nicht der Erbsünde (S. 53: „corruption de la nature") und unterscheiden sich daher von der sittlichen Verkommenheit der Europäer: [...] je le repete, on ne doit pas juger des Ajaoiens par nous-memes; ils n'ont ni nos passions, ni nos inclinations, ni nos desirs; ils ne connoissent ni notre lubricitö, ni notre ambition, ni notre avarice; ils doivent ce bonheur ä leur education: qu'on en juge done sans la prevention de la corruption de nature. La Nature n'est corrompue que pour nous [...]; mais eile est saine ou on ne reconnoit que ses loix, & ou on ne mele point les mauvais exemples ä ses sains principes. (S. 52f.)

In der atheistischen Weltanschauung der Ajao'iens hat Fontenelle Elemente des antiken epikurisch-lukrezischen Materialismus wie des zeitgenössischen heterodox-gassendistischen Libertinismus verarbeitet.22 Fontenelle hat den Fortschrittsgedanken in die Utopie eingeführt.23 In der Histoire des Ajaoiens wird der Fortschritt in diachronischer Perspektive durch die Akkumulation der Kulturleistungen erklärt, auf der synchronischen Ebene durch den Austausch der Kulturleistungen der Völker. Durch die vorübergehende Rückkehr des zum Atheismus bekehrten Doelvelt nach Europa und seine definitive Heimkehr nach Ajao wird ein solcher Austauschprozeß eingeleitet: Doelvelt bringt den Atheismus Ajaos nach Europa, Buchdruck und Papierherstellung (als Symbole des europäischen wissenschaftlich-technischen Fortschritts) nach Ajao - eine frühe Repräsentation der Reziprozität zweier gegenläufiger Akkulturationsprozesse, der „Utopisierung" Europas und der „Europäisierung" Utopias, als literarisches Analogon der historischen kulturellen Austauschprozesse der europäisch-überseeischen Begegnung.24 Nach den Reiseutopien von Vairasse und Fontenelle betrachten wir kurz einen Text, in dem die Tendenz zur archistischen Staatsutopie kulminiert: Morellys Code de la Nature (1755), den Prototyp der utopie-projet. Morelly ist der Autor zweier 21

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Vgl. Bayle, Pierre, Lettre a M.L.A.D.C., docteur de Sorbonne, ou il est prvuve par plusieurs raisons tirees de la philosophic et de la theologie que les cometes ne sont point le presage d'aucun malheur (= Lettre sur la comete). Cologne, Pierre Marteau 1682. Zum Atheismus der Ajao'iens vgl. Funke 1982, (wie Anm. 7), S. 225-368). Vgl. Funke, Hans-Günter, Zur Geschichte Utopias. Ansätze aufklärerischen Fortschrittsdenkens in der französischen Reiseutopie des 17. Jahrhunderts, in: Voßkamp, Wilhelm (Hg.), Utopieforschung. Stuttgart 1982. Bd. II, S. 299-319. Zum entdeckungsgeschichtlichen Hintergrund vgl. Bitterli, (wie Anm. 4).

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Utopien, mit denen er innerhalb nur weniger Jahre seine Entwicklung von der anarchistischen zur archistischen Utopie, von einem anarchistischen Kommunismus zu einem zentralistischen Kommunismus, vollzogen hat. In dem allegorischen Prosaepos (poeme h6ro'ique) Le Naufrage des lies flottantes, ou Basiliade du celebre ( 53) entwirft Morelly, unter dem Eindruck der Lektüre von Reiseberichten über Amerika, eine kommunistische Idealgesellschaft, deren Geschichte und die ihres Herrschers (Zeinzemin) in zwölf Gesängen in einer Allegorie als Sieg der Wahrheit und der Natur über die Laster besungen wird.25 In vier Institutionen wird der Ursprung allen Zwanges und aller Korruptheit Europas aufgedeckt, und vier utopische Alternativen werden ihnen entgegengestellt: Gütergemeinschaft und Allgemeininteresse (communaute des biens, interet general) versus Besitz und Eigeninteresse (proprioto, intäret personnel), freie Liebe versus Ehezwang, aufgeklärt paternalistische Monarchie versus absolute Monarchie, endlich Deismus, Toleranz und natürliche Moral versus Offenbarungsreligion, Intoleranz und christliche Morallehre. Morelly hat mit dem Idealgesellschaftsentwurf seiner Basiliade eine seltsame Zwittergestalt erfunden, die archistische und anarchistische Elemente zu integrieren versucht: aufgeklärten Absolutismus und anarchistische Herrschaftsfreiheit, patriarchalische Familie und Ehescheidung, zentralistische Arbeitsorganisation und spontane Arbeitslust. Offenbar nach dem Vorbild idealisierter amerikanischer Indianervölker präsentiert Morelly seine Utopier als Naturkinder (t. I, S. 4 „enfans de la Nature"), weil sie nach den Gesetzen der Natur (t. I, S. 46f. „lois de la Nature") - nicht nach der positiven Gesetzgebung Europas - in sozialer Harmonie leben mit Gütergemeinschaft, freier Liebe, spontaner Konsensbildung und religiöser Toleranz. In der Topographie des Landes verbindet Morelly Züge des irdischen Paradieses (Selbsttätigkeit der fruchtbaren Natur, 1.1, S. 59: „une demeure qui renferme en abrego toutes les beautes de l'Univers") mit Merkmalen einer Tendenz zur Geometrisierung (Schachbrettmuster des Straßensystems, Symmetrie der Städte). Ein geometrisches Straßennetz teilt das Land in gleichgroße Quadrate, an den Straßenkreuzungen finden sich planmäßige Ansiedlungen, nach gleichem Schema erbaut und mit gleicher Einwohnerzahl. Die Architektur der Hauptstadt erinnert an die Symmetrie von Bienenwaben und symbolisiert in ihrer Uniformität die Gleichheit aller Bürger. Aufwendige Wasserbauten, Staudämme, Kanäle und Aquädukte (t. I, S. lOOff.) verwandeln das Land in einen einzigen Garten, in dem der regelmäßige Wechsel von Feldern, Obstbaumhainen, Wäldern und Wiesen die Symmetrie der klassischen französischen Gartenbaukunst widerspiegelt (t. I, S. 102). Nachdem zeitgenössische Rezensenten das kommunistische Gesellschaftsmodell und die „natürliche Moral" der Basiliade als unrealisierbar kritisiert hatten, stellte Morelly seinen Idealstaat im Code de la Nature (1755), einem systemati25

Zitierte Ausgabe: Morelly, (wie Anm. 10).

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sehen Traktat ohne jede Fiktionalisierung, erneut dar.26 Dieses Werk enthält als Anhang ein „Modele de legislation conforme aux intentions de la nature", gleichsam die Verfassung eines zentralistischen kommunistischen Idealstaats.27 Dem negativen Menschenbild, dem moralischen Verfall, Privatbesitz und Eigeninteresse in der gesellschaftlichen Wirklichkeit seiner Epoche stellt Morelly ein positives Menschenbild entgegen, eine natürliche Moral, Gütergemeinschaft und Gemeininteresse. In seiner archistischen Utopie entwirft Morelly die Institutionen eines starken Staates, eine demokratische Republik, in der das Rotationsprinzip über die Vergabe der Ämter entscheidet, in der rechtliche und ökonomische Gleichheit, kommunistische Planwirtschaft, ein staatliches Bildungswesen und eine deistische Religion für alle Bürger gelten. Morellys Code de la Nature ist in der Sozialismusdebatte des 19. Jahrhunderts als Vorläufer der französischen Frühsozialisten (Babeuf, Gäbet) kontrovers diskutiert worden.28 Nach der Auffassung Morellys entspricht allein die kommunistische Gesellschaftsordnung den Gesetzen der Natur. Er entwirft daher eine positive Gesetzgebung, durch welche die natürliche Ordnung (l'ordre naturel) wieder hergestellt werden soll. Morelly kritisiert die christliche Moral, die von der schlechten, erbsündigen Menschennatur ausgeht, und stellt dieser die „morale veritable" entgegen, die mit den Gesetzen der Natur übereinstimmt: „[...] comme je protends que la morale vulgaire s'est etablie sur les ruines des lois de la nature, il faudrait entierement renverser celle-lä pour r&ablir celles-ci" (S. 52). Morelly beruft sich auf das Vorbild der naturgesetzlich, in Gütergemeinschaft lebenden Gesellschaften indianischer Naturvölker. In einem Gedankenexperiment entwickelt er diese - unter Beibehaltung der Gütergemeinschaft - auf das Kultumiveau europäischer Völker und sieht in diesem hypothetisch realisierten Modell den Beweis (preuve rimentale, S. 54) für die Realisierbarkeit seines kommunistischen Idealstaats: Si vous prenez les hommes tels qu'ils sont dans l'etat de nature, passons en Amorique, nous y trouverons plusieurs peuplades dont les membres observent tres religieusement, au moins entre eux, les lois procieuses de cette mere commune [la nature] en faveur desquelles je reclame de toutes mes forces. Menons avec nous quelque logislateur vraiment sage qui, travaillant conformdment aux dispositions de ces lois divines deja pratiquees [les lois de la nature, la communaut£ des biens], loin de les contrarier ou les affaiblir, ne s'applique qu'ä etendre leurs consequences et ä tirer de leur sein fecond toutes les maximes qui rendront le peuple sauvage qu'il entreprendra de polir le plus doux, le plus humain, le plus sage et le plus heureux de toute la terre. (S. 56)

Allein das falsche Prinzip des Privatbesitzes und das falsche negative Menschenbild des Erbsünde-Dogmas führen, so Morelly, zur naturfernen Korruptheit der europäischen Gesellschaft. Die logische Konstruktion des kommunistischen Ideal26

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Zitierte Ausgabe: Morelly, (wie Anm. 6); Literatur: Coe, Richard N., Morelly. Ein Rationalist auf dem Wege zum Sozialismus. Berlin 1961 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 13). Morelly, (wie Anm. 6), S. 127-155. Morelly, (wie Anm. 6), S. 7-28 „Introduction" von V. P. Volguine, dort S. 7f., 20, 28.

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Staats Morellys findet ihren symbolischen Ausdruck in der Symmetrie der Städte, die der Grundform des Kreises folgt: II Autour d'une grande place de figure reguliere, seront origes, d'une structure uniforme et agroable, les magasins publics [...]. Ill A l'extdrieur de cette enceinte, seront regulierement rang6s les quartiers de la cito, ögaux, de meme figure, et rogulierement divisos par rues. IV Chaque tribu occupera un quartier, et chaque famille un logement spacieux et commode; tous ces edifices seront uniformes. (S. 132f.)

Morellys Utopie verbindet Züge der „Naturalisierung" und der „Geometrisierung": Er begreift seine archistische Staatsverfassung als den Garanten für eine Rückkehr zur natürlichen Moral, zur natürlichen Ordnung, zu den Gesetzen der Natur: als „Modele de legislation conforme aux intentions de la nature" (S. 127). Das Korpus der französischen Utopien des 17. und 18. Jahrhunderts umfaßt rund 90 Texte, in denen alle relevanten weltanschaulichen, moralischen, politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Themen der Aufklärung behandelt werden.29 Die wichtigsten Themen und Merkmale der literarischen Utopien dieser Epoche will ich hier - an einen früheren Versuch anknüpfend3" - in einer typisierenden Idealstaatsbeschreibung integrieren. Die Utopie der französischen Aufklärung ist eine Raumutopie: Utopia liegt in räumlicher Ferne als schwer zugängliche Insel und wird nach einer mit Schiffbruch endenden Überseereise von dem Ich-Erzähler entdeckt und beschrieben. Erst Merciers L'An 2440 (1770) schafft das neue Paradigma der Zeitutopie (oder Uchronie), dessen Utopia in eine zeitliche Feme projiziert wird. Die große Mehrheit der Utopien der Aufklärung (85 von 90 Texten) gehört zum Idealtypus der archistischen Utopie. Uniformität und Symmetrie ihrer Städte und ihrer Institutionen, in geringerem Maße auch ihrer Naturgestaltung (Tendenz zur „Geometrisierung"), symbolisieren den rationalen und transparenten Aufbau von Staat und Gesellschaft wie das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit der Institutionen. Utopia hat in der Regel die Staatsverfassung einer konstitutionellen Monarchie, seltener die einer repräsentativ-demokratischen Republik. Die utopische Idealgesellschaft der Anarchie ist vergleichsweise selten anzutreffen (in fünf von 90 Texten). In der Wirtschaft dominieren Landwirtschaft und Handwerk (selten die Manufaktur-„Industrie" und technischer Fortschritt, z.B. bei Vairasse). Die Wirtschaftsordnung wird bestimmt durch die staatliche Organisation von Produktion und Verteilung, durch allgemeine Arbeitspflicht, Verzicht auf Geld und Binnenhandel, häufig auch durch das Prinzip kommunistischer Gütergemeinschaft. Das Utopia der Aufklärung ist eine glückliche harmonische Gesellschaft gleichberechtigter Bürger, die alle (durch Wahl, Rotation, Tugendwettstreit) an den politischen Ämtern teilhaben können. Sie gewährt den Frauen 29

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Statistik und graphische Darstellung der französischen Utopieproduktion: Funke 1982, (wie Anm. 7), S. 567-572; chronologisches Verzeichnis der französischen literarischen Utopien: Fontenelle 1982, (wie Anm. 19), S. 134-151. Funke 1988, (wie Anm. 5), S. 57f.

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zumindest partielle Emanzipation (Bildung, Beruf, Gattenwahl, Scheidung). Utopia entscheidet sich für Außenhandel oder Autarkie, ist pazifistisch, aber für den Verteidigungsfall gerüstet (Milizheer, allgemeine Wehrpflicht). Ein staatliches Bildungssystem sichert die staatskonforme Erziehung der Jugend (allgemeine Schulpflicht). Das Utopia der Aufklärung hat eine deistische Staatsreligion (der Atheismus ist ein seltener Sonderfall, vgl. Fontenelle) und eine autonome Moral, gewährt religiöse Toleranz und verwehrt den Priestern jeden politischen Einfluß. Als höchstes Ziel erstrebt der utopische Idealstaat das Glück seiner Bürger durch Sicherung ihrer materiellen Existenz wie ihrer kulturellen Entfaltung nach dem Grundsatz einer naturgemäßen, das heißt vernunftgemäßen Lebensführung. Die Harmonie von Individuum und Gesellschaft, Individual- und Sozialinteresse, wird realisierbar durch die gute Menschennatur, durch die Übereinstimmung von Vernunft und Natur (Tendenz zur „Naturalisierung"), durch rechtliche und ökonomische Gleichheit, durch die gleiche Erziehung und die Verpflichtung auf die gleichen Sozialwerte. Die archistische Utopie der Aufklärung verbindet Tendenzen der Geometrisierung (Naturbeherrschung, Symmetrie der Städte und der politischen Institutionen) mit Tendenzen der Naturalisierung (gute Menschennatur, Leben gemäß den lois de la nature). Im Zentrum der Utopien der Aufklärungsepoche stehen Fragen der Religion und der Moral, die Kritik an der christlichen Offenbarungsreligion, die aufklärerische Propaganda für Deismus und autonome Moral. Die Zielsetzungen der Utopien entspringen eher einer moralischen als einer ökonomischen Begründung. Innovation und „Fortschritt" sind daher eher im weltanschaulich-moralischen und im politisch-sozialen Bereich anzutreffen als in denen der Wirtschaft, der Wissenschaft und Technik, die in der „science-fiction" des 19. und 20. Jahrhunderts dominieren.

3. Anarchistische Utopien (Foigny, Fenelon, Lahontan) In der französischen Literatur gibt es eine relativ kleine Gruppe von Texten (fünf von 90), die anarchistische Idealgesellschaftsentwürfe in einem fiktionalen Rahmen darbieten und zur utopischen Literatur gezählt werden: die Reiseutopie La Terre australe connue (1676) von Gabriel de Foigny, die Belique-Episode in Fenelons pseudohistorischem Reise- und Bildungsroman Les Aventures de Telemaque (1699), Lahontans Dialogues curieux entre l'Auteur et un Sauvage de bon sens qui a voyage (1703), ein philosophischer Dialog, das bereits erwähnte allegorische Prosaepos Le Naufrage des lies flottantes ou Basiüade du celebre Pilpal' (1753) von Morelly, endlich Diderots Supplement au voyage de Bougainville (1772, Erstausgabe 1796), das als eine dialogisierte Reiseutopie charakterisiert werden könnte. Die synonymen Termini „Republique sauvage", „bon sauvage-

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Utopie" und „anarchistische Utopie" erscheinen als Gattungsbezeichnungen für diese Textgruppe geeignet.31 Ansätze zur Ausbildung des „Mythos des guten (oder: edlen) Wilden" wie des „Mythos der Ropublique sauvage" finden sich in der französischen Literatur bereits in Übersetzungen und authentischen Reiseberichten des 16. und 17. Jahrhunderts (Thevet und Lery), werden durch Ronsard und Montaigne zum ersten Mal literarisch gestaltet und finden zu Beginn des 17. Jahrhunderts Eingang in die französischen Reiseberichte über die „Nouvelle France" (Kanada) und um die Mitte des 17. Jahrhunderts in die französischen Reiseberichte über die Antillen (Rochefort, Dutertre).32 Im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts wird der Mythos der anarchistischen Republique sauvage in den französischen Utopien fiktionalisert und ist dabei nicht mehr an die Kultur der Indianer Amerikas gebunden: Foignys „Australier", Lahontans Huronen oder Diderots Tahitianer sind Repräsentanten derselben Mythen des bon sauvage und der Republique sauvage. Als Ergebnis einer Analyse einschlägiger authentischer und fiktionaler Reiseberichte kann der folgende Merkmalskatalog der anarchistischen Republique sauvage des 17. und 18. Jahrhunderts aufgestellt werden: individuelle Freiheit und Gleichheit, Gütergemeinschaft, Herrschaftslosigkeit, Atheismus, sexuelle Freiheit, Bescheidung mit dem Notwendigen, soziale Harmonie und Glück.-13 Die erste Fiktionalisierung der Republique sauvage finden wir bereits in der ersten französischen Reiseutopie, Foignys 1676 in Genf erschienener Terre australe connue.34 Foigny lokalisiert seine Anarchie eines fiktiven Volkes von Androgynen in der „Terra Australis incognita". Mit einer gegen das christliche Europa gerichteten Tendenz beschreibt der Ich-Erzähler und angebliche Autor

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In Abschnitt 3 beziehe ich mich auf meinen Aufsatz über die „Republique(s) sauvage(s)", die anarchistischen Utopien, vgl. Funke 1986, (wie Anm. 15). Zum „Mythos des edlen Wilden", Textausgaben: Thevet, Andre, Les singularites de la france antarctique autrement nommee amerique et de plusieurs terres et lies decouvertes de notre temps par frere andre thevet natif d'angouleme, ä Paris 1558. (Facsimile-Ausgabe). Paris, le temps 1982; Lory, Jean de, Histoire d'un voyage fait en la terre du Bresil, hg. v. Jean-Claude Morisot u. Louis Necker. Genf 1975 (Les classiques de la pensee politique). Literatur: Chinard, (wie Anm. 4); Atkinson, (wie Anm. 4); Kohl, Karl-Heinz, Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation. Frankfurt/M. 1986 (suhrkamp taschenbuch 1272); Dickason, Olive Patricia, Le mythe du sauvage. Sillery 1993. Zur Wahrnehmung und Darstellung des Indianers: Gomez-Moriana, Antonio/Trottier, Daniele (Hg.), L',Indien', instance discursive. Actes du colloque de Montreal. Montroal 1991 (Collection „L'Univers des discours"). Zum „Mythos der Republique sauvage": Funke 1986, (wie Anm. 15), S. 38^8. Funke 1986, (wie Anm. 15), S. 47. Zitierte Textausgabe: Foigny, Gabriel de, La Terre Australe connue. Reproduction du texte original sur l'unique exemplaire de l'odition de Geneve, 1676, avec les variantes de l'edition de Paris [1692], in: Lachevre, Fredoric, Les Successeurs de Cyrano de Bergerac. Genf: Slatkine Reprints 1968 (Le libertinage au XVII6 siecle 12), S. 61-163. Literatur: Ronzeaud, Pierre, L'Utopie hermaphrodite: La Terre australe connue de Gabriel de Foigny (1676). Marseille 1982; Kuon, (wie Anm. 17), S. 258-306; Racault, (wie Anm. 17), S. 445-513.

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Sadeur die Idealgesellschaft der „Australier", einer seltsamen, den Europäern überlegenen Rasse, in deren Kultur sich Züge eines „primitiven" Naturvolks mit solchen einer technisch hochentwickelten Zivilisation verbinden. Auch Foignys Utopie bietet ein interessantes Beispiel der Verbindung archistischer und anarchistischer Züge. Die archistische Tendenz zur Geometrisierung von Natur und Gesellschaft erreicht gerade in der anarchistischen Republique sauvage der Terre Australe einen Höhepunkt. Foignys Australier haben ihr Land durch Abtragung aller Gebirge zu einer einzigen gigantischen schiefen Ebene nivelliert und alle natürlichen Gewässer in ein geometrisches System von Bewässerungskanälen umgewandelt: [...] toute la terre Australe est sans montagne, et j'ay appris de tres bonne part que les Australiens les avoient toutes aplanies. II faut ajouter a ce miracle de art o u de la nature l'uniformito admirable de langues, de coutumes, de bailments et de culture de la terre qui se rencontrent en ce grand pays. C'est assez d'en connoitre un quartier pour porter jugement de tous les autres. (S. 90)

Das ganze Land wird im Gartenbau kultiviert. Die Kanäle bewässern und begrenzen zugleich die 15 000 „seizains", die völlig gleichartig besiedelten und bebauten Grundeinheiten der territorialen und sozialen Gliederung der Terre Australe: On compte quinze mille seizains dans cette prodigieuse etendue de pays. Chaque seizain contient seize quartiere [...]. On trouve vingt-cinq maisons dans chaque quartier, et chaque maison a quatre separations qui contiennent chacune quatre hommes. II y a consequemment quatre cens maisons dans chaque seizain, et six mille quatre cens personnes, lesquelles multipliant par quinze mille seizains, on trouvera le compte de tous les habitans de la terre Australe qui sont environquatre-vingt et seize millions [...]. (S. 90)

Zählt man die 48 Millionen schulpflichtigen Jugendlichen und ihre Lehrer in den 60 000 Schuleinrichtungen hinzu, so ergibt dies eine Gesamtbevölkerung von 144 Millionen Australiern. Als typische Merkmale der anarchistischen Republique sauvage erscheinen die schamlose Nacktheit der Australier, ihre Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, ihre Gütergemeinschaft und soziale Harmonie, ihre Rationalität und Seelenruhe. Da die Freiheit des Menschen als naturgegeben gilt, wird die Herrschaft von Menschen über Menschen als Verstoß gegen die Gesetze der Natur wie gegen die Gesetze der Logik verworfen. Es gibt keine staatlichen Institutionen und - bei Androgynen ist dies ganz natürlich- keine Familie. Alle Aufgaben des Gemeinwesens werden mittels spontaner Konsensbildung bewältigt, welche durch gleiche Veranlagung und Bildung nach den Gesetzen der Vernunft erfolgt. Die Religion der Australier ist ein rationalistischer Deismus. Als „Präadamiten" sind sie frei von der Erbsünde, haben also eine gute Menschennatur: „A voir ces gens, on diroit facilement qu'Adam n'a pas peche en eux, et qu'ils sont ce que nous aurions ete sans cette cheute fatale" (S. 105).

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Unser zweites Textbeispiel für die anarchistische Utopie ist die Betique-Episode aus Fenelons Prosaepos Les Aventures de Telemaque, das 1699 gegen den Willen des Autors veröffentlicht und, als Schlüsselroman gegen Ludwig XIV. und den Hof von Versailles rezipiert, zu einem Bestseller des 18. Jahrhunderts wurde.35 Fenelon verfaßte den Telemaque 1694-96 als eine Art Fürstenspiegel für seinen Schüler, den französischen Thronfolger, den Due de Bourgogne. Die Handlung geht von einer Episode der Odyssee aus, der Suche Telemachs nach seinem Vater Odysseus, der bei der Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg verschollen ist. Von Mentor, der Inkarnation der Göttin Minerva (Athene), als Ratgeber begleitet, bereist Telemaque die Länder des Mittelmeerraums, die z.T. die Züge utopischer Idealgesellschaften tragen, wie z.B. Tyros, Kreta, vor allem aber Baetica (B6tique) in Südspanien und Salent (Salente) in Süditalien.36 La Betique ist eine Idylle des utopischen Primitivismus, die an den Mythos des Goldenen Zeitalters erinnert: „Ce pays semble avoir conserve les delices de Tage d'or" (S. 205). Die agrarkommunistische Hirten- und Bauerngesellschaft Baeticas lebt in Einklang mit der Natur (S. 212: „suivant la droite nature") und kennt keine staatliche Organisation, nur eine Gliederung in patriarchalische Großfamilien, deren Mitglieder das friedliche und tugendhafte Leben einer glücklichen Anarchie führen - ohne Schiffahrt, Handel, Geld, Krieg, Weinbau und technischen Fortschritt: [...] toute l'annee n'est qu'un heureux hymen du printemps et de l'autotnne [...]. La terre, dans les vallons et dans les campagnes unies, y porte chaque annee une double moisson. [...] Ils sont presque tous bergers ou laboureurs. On voit en ce pays peu d'artisans: car ils ne veulent souffrir que les arts qui servent aux vöritables nicessitos des hommes [...]. (S. 205f.) Ils vivent tous ensemble sans partager les terres; chaque famille est gouvernoe par son chef, qui en est le voritable roi. [...] ils s'aiment tous d'une amour fratemelle que rien ne trouble. [...] Us sont tous libres et tous dgaux. [...] La fraude, la violence, le parjure, les proces, les guerres ne font jamais entendre leur voix cruelle et empeste'e dans ce pays cheri des dieux. (S. 207f.)

Eine archistische Opposition zur anarchistischen Betique bildet der utopisierte Stadtstaat Salente des Königs Idomenee, der auf Grund seiner absoluten Macht sein Land durch eine „Reform von oben" in einen utopischen Idealstaat verwandelt, eine Monarchie vom Typus des „aufgeklärten Absolutismus". Der aus Südfrankreich stammende Frühaufklärer Baron de Lahontan hat als Kolonialoffizier zehn Jahre in Kanada gelebt, die „primitiven" Gesellschaften der Algonkin, Huronen und Irokesen aus eigener Erfahrung kennengelernt und seine Erfahrungen in einem 1703 in Den Haag veröffentlichten dreibändigen Werk verarbeitet. Es umfaßt den Reisebericht Lahontans in Briefform (Bd. I: Nouveaux Voyages de Mr. le Baron de Lahontan dans i'Amerique Septentrionale), eine sy35 36

Zitierte Textausgabe: Fenelon, (wie Anm. 6); Literatur: Kapp, Volker, Telemaque de Fenelon: la signification d'une aeuvre litteraire ä lafm du siede classique. Tübingen/Paris 1982. Fenelon, (wie Anm. 6), S. 205-212 Betique; S. 276-290, 318-322 Salente.

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stematische Beschreibung der „Nouvelle France" und ihrer Indianervölker (Bd. : Memoires de l'Amerique Septentrionale), endlich ein als authentisch ausgegebenes, tatsächlich aber fiktionales Supplement aux Voyages du Baron de Lahontan trouve des Dialogues curieux entre l'Auteur et un Sauvage de ban sens qui a voyage (Bd. III). Lahontan und der Huronenhäuptling Adario (Kondarionk oder le Rat) führen fünf kontroverse Dialoge über Religion, Gesetze und Rechtswesen, den Glücksbegriff, Heilkunst, Sexualität und Ehe bei den Huronen und den Franzosen.37 Hierbei übt Adario schärfste Zivilisationskritik an der christlichen Offenbarungsreligion, an der Immoralität und der Ungleichheit der hierarchischen Ständegesellschaft des Ancien Regime, der er das utopisierte Bild einer anarchistischen Ropublique sauvage, der glücklichen, egalitären, deistischen Huronengesellschaft, entgegenstellt. Adario wird durch einen „Perspektiventausch" als der „aufgeklärte Wilde" zum Sprachrohr des Autors, während der Dialogpartner „Lahontan" mit den schlechteren Argumenten und nur recht mäßigem Erfolg die Rolle des Verteidigers der christlich-europäischen Zivilisation übernimmt. Beide Gesprächspartner erstreben die „Bekehrung" des Kontrahenten zur eigenen Kultur. Dem Appell „Lahontans" zur „Europäisierung" stellt der welterfahrene Adario den Appell zur „Sauvagisierung" entgegen: „Croi-moy, fais toy Huron" (S. 184). Lahontans Huronengesellschaft zeigt noch einmal den Merkmalskatalog der anarchistischen R6publique sauvage: Herrschaftslosigkeit, Freiheit und Gleichheit, Gütergemeinschaft, Deismus, natürliche Moral, Gleichberechtigung der Geschlechter, Freiheit der vorehelichen Sexualität, Neigungsehe, Scheidungsrecht, soziale Harmonie und Glück. Adario preist die Anarchie der Huronen mit den Worten: Ha! vive [sic] les Hurons qui sans Loix, sans prisons, & sans tortures, passent la vie dans la douceur, dans la tranquillite, & joiiissent d'un bonheur inconnu aux Fran$ois. Nous vivons simplement sous les Loix de instinct, & de la conduite innocente que la Nature sage nous a imprimoe dös le berceau. Nous sommes tous d'accord, & conformes en volontez, opinions & sentimens. Ainsi, nous passons la vie dans une si parfaite intelligence, qu'on ne voit parmi nous ni procez, ni dispute, ni chicanes. (S. 187f.)

Im Gegensatz zu den archistischen Utopien kennen die anarchistischen Republiques sauvages keine Naturbeherrschung, keine Stadtkultur, keinen Staat und damit auch keine Tendenz zur „Geometrisierung". Die Bewohner der bon sauvage-\Jtopien haben eine gute Menschennatur, leben nach den Gesetzen der Natur und begreifen sich als Teil der Natur. Von Lahontans Dialogues curieux (1703) führt eine Entwicklungslinie über Morellys Basiüade (1753) zu Diderots Supplement au Voyage de Bougainville (1772), dem ambivalenten Bild eines „utopisierten" Tahiti, dessen Gesellschaft 37

Zitierte Textausgabe: Lahontan 1931, (wie Anm. 6); vgl. Lahontan 1990, (wie Anm. 6), S. 11199 „Introduction".

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durch Gütergemeinschaft, Atheismus und sexuelle Freiheit bestimmt wird, die von Diderot als eine dem Populationismus dienende und somit militaristische Sexualmoral umgedeutet wird.38 Diderots Supplement bezeichnet zugleich den künstlerischen Höhepunkt und das Ende der literarischen Gattung der anarchistischen Utopie oder Republique sauvage.

4. Zusammenfassung der Ergebnisse Am Ende meiner Ausführungen möchte ich deren Ergebnisse zusammenfassen als einen Beitrag der literaturwissenschaftlichen Utopieforschung zur kritischen Diskussion der erkenntnisleitenden Hypothese des Symposions. Die Grundhypothese, die ästhetische Gestaltung des Raumes im utopischen Denken des 17. und 18. Jahrhunderts sei sowohl für den Bereich der literarischen Utopie als auch für den der Gartenarchitektur als eine Entwicklung „von der Geometrie zur Naturalisierung" zu interpretieren, kann von der literaturwissenschaftlichen Utopieforschung im Bereich der französischen Utopien des 17. und 18. Jahrhunderts nicht bestätigt werden. Es gibt in der Gattungsgeschichte der französischen Utopie keine Entwicklung von einem früheren archistischen Typus zu einem späteren anarchistischen Typus. Beide Typen stehen zeitlich nebeneinander (z.B. Vairasse 1677-79 und Foigny 1676, die Beüque- und die Salente-Episode bei Fenelon 1699, Morellys Entwicklung von der anarchistischen Basiliade, 1753, zum archistischen Code de la Nature, 1755). Die Raumgestaltung bildet -im Vergleich zu Fragen der Weltanschauung, Religionskritik und Moral - kein zentrales Thema der französischen Utopie. Die Raumgestaltung der Utopien hat andere Funktionen als die der Gartenkunst. Die Geometrisierung des Stadtbildes und der Institutionen ist weniger eine symbolische Repräsentation der Staatsmacht (wie der französische Barockgarten) als vielmehr der symbolische Ausdruck von deren Rationalität, Transparenz und Gerechtigkeit und steht daher in einer kritischen Opposition zum zeitgenössischen Absolutismus. Im Bereich der Raumgestaltung der französischen Utopie gibt es keine erkennbare Tendenz zu einer (Re-)Naturalisierung der Außenwelt. Gerade die anarchistische Utopie Foignys zeigt eine kaum überbietbare Geometrisierung der Natur, in den übrigen Texten spielt die Natur (als Außenwelt) keine Rolle. Die Menschennatur wird in den anarchistischen Utopien wie in der großen 38

Textausgabe: Diderot, Denis, Supplement au voyage de Bougainville, in: ders., (Euvres completes, hg. v. Herbert Dieckmann u. Jean Varloot. Bd. XII. Paris 1989, S. 577-644. Literatur: Hinterhäuser, Hans, Utopie und Wirklichkeit bei Diderot. Studien zum .Supploment au voyage de Bougainville'. Heidelberg o.J. (Heidelberger Forschungen 5); Funke, Hans-Günter, Diderots ,Suppl6ment au voyage de Bougainville' und die Tradition der literarischen Utopie, in: Jüttner, Siegfried (Hg.), Presence de Diderot. Internationales Kolloquium zum 200. Todesjahr von Denis Diderot an der Universität-GH-Duisburg vom 3.-5. Oktober 1984. Frankfurt/M. u.a. 1990 (Europäische Aufklärung in Literatur und Sprache 1).

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Mehrzahl der archistischen Utopien (in Kontrast zum Dogma der Erbsünde) als grundsätzlich gut begriffen. Der Gegensatz von archistischer und anarchistischer Utopie kann im Bereich der Sexualität nicht grundsätzlich mit Zwang und Freiheit gleichgesetzt werden (vgl. Lahontan: voreheliche freie Sexualität versus eheliche Treue, vgl. Diderot: die scheinbare Liebesfreiheit gehorcht populationistischen Zielen). In der Gattungsgeschichte der französischen Utopie stehen die beiden Typen der archistischen und der anarchistischen Utopie von Anfang an in einem Verhältnis fruchtbarer Komplementarität synchronisch nebeneinander.

JOACHIM MEISSNER (Friedberg)

Die Venus von Tahiti. Über den Anteil der Südseeutopien an der Erotisierung des Utopischen Einleitung Mit der Südsee verbinden sich heute stets wiederkehrende, von Tourismus- und Werbebranche kolportierte Bilder palmenumsäumter türkisblauer Lagunen, unberührter weißer Sandstrände und - nicht selten - sich lasziv gebender, mit Blütenkränzen geschmückter Inselschönheiten. Im "Mythos Südsee" verdichten sich Träume vom exotischen Paradies und einem natürlichen Leben jenseits der Enge und Hektik des europäischen Alltags. Hier offenbart sich die utopische Qualität pazifischer Wunschräume - und dennoch: Utopische Konstrukte, fiktive Gesellschafts- und Idealstaatsentwürfe werden mit diesen Gefilden kaum in Verbindung gebracht. Obwohl es Südseeutopien bereits seit dem frühen 17. Jahrhundert gibt, hat die Utopieforschung sich ihrer bisher zumeist nur in Einzeluntersuchungen angenommen und dabei den Aspekt der Sinnlichkeit und Sexualität oft nur am Rande untersucht.' Dies ist um so bemerkenswerter, als sich an ihnen ein für die Utopiegeschichte nicht ganz unwichtiger Wandel des Utopischen nachzeichnen läßt, der allgemein mit der anthropologischen Wende im 18. Jahrhundert in Verbindung gebracht wird: die Naturalisierung des Utopischen und, damit in den Südseeutopien eng verbunden, die Erotisierung der Utopie. Vergleichbar mit Merciers Utopie L'an 2440, welche die säkulare Zeit als neue Qualität in die literarische Utopie einführte, "entdecken" die Verfasser fiktiver Gemeinwesen Mitte des 18. Jahrhunderts, beeinflußt sowohl vom Sensualismus englischer Prägung als auch von der nicht abreißenden Flut von Entdeckungsberichten, die über die Lebensweise exotischer Völker schier Unglaubliches berichteten, den Menschen als ein nicht nur rationales, sondern empfindendes und empfindsames Sinnenwesen. Aus dieser Entwicklung spricht ein anderes, neues Naturverhältnis. Aber so sehr natürlich-patriarchalische und unverdorbene Beziehungen in den frugalen Südseegemeinwesen beschrieben werden, die Naturalisierung zieht in der Regel keine Anarchisierung des Utopischen nach sich. Das Mißtrauen gegenüber der menschlichen Natur, auch wenn man ihre sinnlichen Qualitäten in immer neuen Zusammenhängen "entdeckt", bleibt bestehen und verbindet die Südseeutopisten des späten 18. Jahrhunderts mit jenen frühen Utopisten, die noch in der Tradition eines Platon oder Morus stehen. 1

Dieser Aufsatz basiert auf Ergebnissen meiner Dissertation zum Mythos ,Südsee\ Die Rolle des Mythos vom .Goldenen Zeitalter' bei der diskursiven Konstituierung des Bildes von der ,Südsee' im Zeitalter der Aufklärung. Unveröffentlichtes Manuskript. Friedberg/Berlin 1998.

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Die Fiktionalisierung der „terra australis" zur geometrischen Utopie Francis Bacons Wissenschaftsutopie Nova-Atlantis von 1627 kann als die erste Südsee-Utopie gelten, wenngleich sie selten als solche gelesen wird. Antike und Mittelalter hatten in Analogieschlüssen, aus Harmoniegründen oder aufgrund der Inversionsthese die theoretische Existenz einer „terra australis" in der seit Vasco Nunez de Baiboa „Südsee" genannten Region nachgewiesen, aber sie füllten diese Region weder mit Gesellschaften oder Institutionen noch mit Pflanzen, Tieren oder Menschen, wenn man von den nicht näher klassifizierten „Antipoden" einmal absieht. Bacon wird somit zum Begründer eines Zweiges des utopischen Denkens, der die noch unbekannten geographischen Gefilde der Südhalbkugel als Handlungsorte seiner politischen Ideen zu nutzen weiß.2 Für ihn wie für seine unmittelbaren Nachfolger aber gilt, daß die ersten utopischen Fiktionen der Südsee sich in den konsumtiven Rahmenbedingungen ihrer Form- und Erzählprinzipien vom Gros der frühneuzeitlichen Utopien nicht unterscheiden: Zunächst wird ein europäischer Reisender an fremde, exotische Ufer verschlagen und entdeckt dort irgendwelche Idealstaaten oder vorstaatliche Gesellschaften. Wieder zu Hause berichtet der Entdecker von den wohlgeordneten und idyllischen Verhältnissen der Gegenwelt. Wichtiger aber noch ist, daß Bacon - wie Morus und Campanella seine Utopie als Idealbild eines Staates entwirft, der vollkommen institutionell strukturiert ist und in dem sich das Wesen der utopischen Ordnung auch in der Symmetrie der utopischen Stadtanlagen spiegelt. Das Haus Salomon, eine straff organisierte Forschungsgemeinschaft, ist in Bacons hierarchisiertem Staat das eigentliche Zentrum der Macht und folglich im Mittelpunkt der Insel gelegen. Die exponierte Lage auf der Insel korrespondiert mit der politischen, strategischen und sozialen Bedeutung des Hauses im utopischen Gemeinwesen: als Staat im Staate sind seine Angehörigen nicht einmal dem König über ihre wissenschaftlichen Forschungsergebnisse Rechenschaft schuldig, die alleine Bestand und Überleben der Utopie zu gewährleisten scheinen. Diesem Konstruktionsprinzip der „geomotrie sociale" folgen auch Südseeutopisten wie Gabriel de Foigny, Denis Vairasse d'Alais und Simon Tyssot de Patot3 im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Daß Bacons Neu-Atlantis in der Südsee spielt, ergibt sich explizit: Auf dem Weg von Peru nach Japan kommt ein europäisches Schiff in eine Flaute. Die Mannschaft glaubt sich dennoch nicht verloren, weil sie, wie es heißt, weiß, „daß jener Teil der Südsee [zwar, J. M.] fast unbekannt" ist, aber „Inseln und Kontinente bergen könnte, die bisher noch nicht entdeckt waren." Die Hoffnungen waren berechtigt, denn man stößt auf eine bewohnte Insel Bensalem (Neu-Atlantis). Hier werden die Seeleute nach einigen Präliminarien wohlwollend aufgenommen. Es stellt sich heraus, daß die Bewohner der Insel Christen sind und trotz ihrer weltabgelegenen Lage sowohl die Bibelsprachen Hebräisch, Griechisch, Latein sowie Spanisch beherrschen als auch über Kenntnisse von der alten Welt verfügen. Bacon, Francis, Neu-Atlantis, in: Der utopische Staat, hg. v. Klaus J. Heinisch. Hamburg 1984, S. 176f. Foigny, Gabriel de, La Terre Australe connue. Vannes 1676; Vairasse (Veiras) d'Alais, Denis, L'Histoire des Sevarambes. Paris 1677/79 (dt. Ausg.: Geschichte der Sevaramben. Aus dem

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Jahrhundert, weshalb sie als „cartesiens utopiques" bezeichnet werden.4 Diese hugenottischen Utopisten nutzten ebenso wie Bacon den Südsee-Raum bzw. die dort vermutete „terra australis incognita" zur Darstellung ihrer idealen Staatsgebilde, die sie - mehr noch als der Engländer - in geometrisch-mathematischer Weise anlegten: So ist die Hauptstadt in Vairasse d'Alais' S6varambenutopie in der Mitte der Insel erbauet. Sie macht ein gleichseitiges Viereck, und enthält, außer dem Sonnenpallast, der im Mittelpunkt der Stadt liegt, zweyhundert sieben und sechzig Osmasien oder viereckige Gebäude. Jede Osmasia enthält über tausend bequem wohnende Personen, ist an jeglicher Seite fünfzig geometrische Schritt breit, (250 Fuß), hat vier große Thore gegen einander über, und in der Mitte einen geräumigen grünen Hof. Das Mauerwerk ist von Mamorartigen weißen Steinen, die viel Politur annehmen, und jedes Gebäude ist vier Stockwerk hoch. Die Straßen sind durchgehende sehr breit und schnurgerade.5

Foignys gesamte Utopie, einschließlich der Bevölkerungszahl und deren Aufteilung in soziale Einheiten basiert auf den Zahlen vier und fünf, die in der christlichen Tradition für Harmonie, Einheit und vollkommene Ordnung stehen.6 Die drei und die sieben sind ausgeschlossen, da sie sich für eine geometrische Ordnung nicht eignen. Ebenso fehlt die zwei, die für Teilung und Polarität steht.7 Und auch in Simon Tyssot de Patots Utopie herrscht eine ähnliche geometrische Ordnung.8 Anders als noch im mittelalterlichen Städtebau stellt in diesen Utopien nicht mehr die Kirche als Symbol der religiösen Oberhoheit das Herzstück der Gemeinde dar. Entweder bilden nunmehr wissenschaftliche Institutionen, wie das Haus Salomon, das räumliche Zentrum in diesen Utopien, oder es wird auf ein solches Zentrum zugunsten eines mit Hilfe mathematischer Verfahren ermittelten regelmäßigen Grundrisses verzichtet. Nicht mehr die tradierte scholastische Bibelexegese strukturiert das Chaos zum Kosmos, indem sie die im hierarchisierten, göttlichen Heilsplan offenbarte Ordnung interpretiert, sondern die neue Ordnung resultiert aus der empirischen Erkenntnis der Naturgesetze und der ihnen zugrunde liegenden Naturordnung. Die solchermaßen erkannte Natur wird zur Norm - auch in den Utopien. Das Prinzip der Zentralsymmetrie als Zeichen göttlicher Idealität und Vollkommenheit hat einem neuen Zugang zur Schöpfung Platz gemacht, in der der Mensch nach der kopernikanischen Wende seine Entfaltungs- und Gestaltungskraft entdeckt. Er kann, so Giovanni Pico della Mirandola bereits in seinem

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Französischen übersetzt von Johann Gottwerth Müller. 2 Bde. Itzehoe 1783); Tyssot de Patot, Simon, Lea Voyages et avanture.i de Jacques Masse. 2 Bde. Bordeaux 1710. Vgl. von der Mühll, Emanuel, Denis Veiras et son ,Histoire des Sevarambes' (1677-1679). Paris 1938, S. 183; Benrekassa, Georges, Le concentrique et iexcentrique. Marges des Lumieres. Paris 1980; Kuon, Peter, Utopischer Entwurf undßktionale Vermittlung. Studien zum Gattungswandel der literarischen Utopie zwischen Humanismus und Frühaufklärung (Phil. Diss.). Tübingen 1985, S. 284. Vairasse d'Alais, Denis, (wie Anm. 3), S. 204f. Kuon, Peter, (wie Anm. 4), S. 283. Foigny, Gabriel de, (wie Anm. 3), S. 90. Tyssot de Patot, Simon, (wie Anm. 3), Bd. I, S. 173.

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1486 verfaßten Gedicht De dignitate hominis, „herabsinken zu den niedersten Lebewesen, aber [sich, J. M.] aus eigenem Entschluß auch hinaufarbeiten zu den Himmlischen".9 Anders noch als im unbeweglichen mittelalterlichen Ständestaat, wo es die göttliche Ordnung zu empfangen, aber keinesfalls aktiv zu gestalten galt, ist es dem Renaissancemenschen, dem „uomo virtuoso" nunmehr möglich, auf seine politische und soziale Ordnung einzuwirken. Das gilt zunehmend auch für natürliche Phänomene. Im Unterschied zur alttestamentarischen Naturauffassung, die Katastrophen, Krankheiten und Hungersnöte als Folge des Sündenfalls interpretierte, sind die Menschen diesen „göttlichen Strafen" gegenüber nicht mehr willkürlich ausgeliefert und zur Passivität verdammt. Diese neuen gestalterischen Möglichkeiten muß der Staatsgründer in den frühen Südseeutopien auch zu nutzen wissen, da die natürlichen Zustände, die in der Südsee vorgefunden werden, keineswegs paradiesisch oder ideal sind. Wenngleich die utopische Südseenatur Elemente kennt, die von den ersten Reiseberichten über die Entdeckung Amerikas inspiriert sind, und natürlicher Überfluß durchaus vorkommt,10 so sind die Bewohner dieser Australutopien trotzdem auf sich selbst und ihren Erfindungsreichtum angewiesen, um die Idealität des Gemeinwesens herstellen und bewahren zu können. Ein Beispiel hierfür sind die Sovaramben in Vairasse' Utopie, die gezwungen sind, alle natürlichen Ressourcen zum Aufbau ihrer paradiesisch-utopischen Gemeinschaft zu mobilisieren, da das Klima der „Terra Australis" alles andere als „arkadisch" ist. Es gleicht eher den europäischen Verhältnissen, wenn sich dort sehr heiße Sommer, kalte Winter und Phasen intensiven Regens abwechseln.11 Aus beidem suchen die Sevaramben mit Hilfe 9

Zitiert nach Machiavelli, Niccolö, Politische Schriften, hg. v. Herfried Münkler. Frankfurt/M. 1990,5.25. 10 In de Foignys Hermaphroditenutopie, (wie Anm. 3, S. 92-95, 119f.) hat es den Anschein, als entspreche das Leben der Utopier dem im Goldenen Zeitalter der Antike, erweitert um Motive aus dem christlichen Paradiesmythos: Gemäß dem automaton-Motiv ist das Klima der „Terra Australis" optimal und kennt deshalb weder Regengüsse und Gewitter noch extreme Temperaturschwankungen zwischen Winter und Sommer. Aufgrund dieser optimalen klimatischen Verhältnisse können die Australier ihre Ernährung ausschließlich von den Früchten verschiedener Bäume bestreiten und bleiben auf diese Weise Vegetarier, wie dies schon in antiken Vorstellungen vom Goldenen Zeitalter nahe gelegt worden war. So kennen die Australier auch bestimmte Krankheiten der Europäer nicht, weil sie sich von ihren Früchten ernähren. Überhaupt gleicht das Leben der Australier dem Leben vor dem Sündenfall, weshalb sie ihre Nacktheit als natürlich und Bekleidung als unvernünftig empfinden. Giftige Tiere wie Spinnen oder Schlangen sind ihnen ebenso unbekannt wie Fliegen, Raupen oder andere Insekten. Wie sehr sich dieser präadamitische Zustand an biblische Motive anlehnt, zeigt sich daran, daß die Australier von der göttlichen Strafe, ihre Kinder in Schmerzen gebären zu müssen, verschont sind. Der Balf-Baum spielt dabei eine besondere Rolle, kann er doch Schmerzen lindem, in einen erholsamen Schlaf versetzen, Euphorie erwecken, aber auch zu einem Tod ohne Leiden verhelfen. In mancher Hinsicht übernimmt der Balf-Baum Funktionen, die später in den Reiseberichten Tahitis der Brotfrucht zugeschrieben werden. 1 ' So können zwar die Viehherden mitunter acht Monate auf den Bergweiden bleiben, aber dann „bringt man sie in die umliegenden Thäler hinab, weil der Schnee den Rest des Jahres hindurch diesen Berg unwirthbar macht" (Denis Vairasse d'Alais, (wie Anm. 3), Bd. L, S. 163f.).

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ihres Einfallsreichtums das beste zu machen: Der Regen wird von Baikonen abgehalten, die das trockene Umhergehen ermöglichen. Gleichzeitig sind die Häuser innerhalb der „Osmasien" genannten Stadtviertel so gebaut, daß das Regenwasser in Brunnen geleitet wird, die Dachgärten speisen, aber auch bei Feuer als Löschteiche gebraucht werden können. An heißen Sommertagen verbinden Planen die Dächer, so daß die Bewohner vor den Sonnenstrahlen geschützt sind.12 An anderer Stelle bemerken die Besucher, daß sie mit ausgeklügelten Konstruktionen große Höhen via Seilbahnen überwinden können, wobei eine Bahn durch ihr Gewicht eine andere hinaufzieht. 13 Auch ein Tunnel entpuppt sich als bloße Fortsetzung eines natürlichen Durchgangs.14 In Bacons Nova-Atlantis nutzen die Menschen ebenfalls ihre Intelligenz, um die von der Natur vorgegebenen Wege zu erkennen und für ihre Belange phantasievoll zu nutzen. Das Ziel ist schließlich eine ideale Gemeinschaft, die ihr Paradies der Natur abgerungen und auf künstliche Weise hergestellt hat.15 So sind Bacons Utopie am Ende Erfindungslisten beigegeben, aus denen sich ein Leben im Goldenen Zeitalter auf technischer und maschineller Basis erschaffen läßt. Die in den Listen16 genannten Innovationen erfüllen auf artifizielle Weise die Funktionen, die dem Menschen im Goldenen Zeitalter „automatisch", nur durch die Hinwendung der Natur zum Menschen gegeben waren: Hinderung des Alterungsprozesses, keine Krankheiten, vor allem ißt man gut und weiß die Genußfähigkeit der Sinne zu steigern und alle Menschen in einem fröhlich-euphorischen Zustand zu halten. Die modernen Naturwissenschaften haben die Aufgabe einer artifiziellen Restauration des ursprünglichen Goldenen Zeitalters übernommen und lassen so ein zweites, künstliches Goldenes Zeitalter entstehen. Dies schließt ein instrumentelles Naturverständnis mit ein, denn die an einer geometrischen Naturordnung orientierte Utopie verlangt ein nichtökologisches Verhältnis zur Natur. Drastisch wird dies in de Foignys scheinbar arkadisch gewachsenem Paradies deutlich, wo das Abtragen der Berge lediglich der uniformen Anlage geometrisierter Städte17 und die grausamen Kriege, welche die „Australier"

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Die Reise durch das Land muß unterbrochen werden, weil ein „starker Platzregen" fiel, der „den Fluß dergestalt anschwellte, daß sich kein vernünftiger Mensch auf denselben wagen konnte" (ebd., S. 166). Durch technische Hilfen muß man sich vor der großen Hitze schützen. „Vermittels aller dieser Bequemlichkeiten wird man den Sommer, der in diesen Ländern sehr heiß ist, zu Sevarinda fast gar nicht gewahr" (ebd., S. 206). Ebd., S. 205f. Ebd., S. 162f. Ebd., S. 169f. Vgl. hierzu Soeffner, Hans-Georg, Der geplante Mythos. Untersuchungen zur Struktur und Wirkungsbedingung der Utopie. Hamburg 1974. Die Erfindungslisten sind der Ausgabe Heinisch nicht beigegeben. Vgl. hierzu: Winter, Michael, Compendium Utopiarum. Typologie und Bibliographie literarischer Utopien. 1. Teilband: Von der Antike bis zur deutschen Frühaufklärung. Stuttgart 1978, S. 62. „Ce grand pays est plat, sans forets, sans marais, sans desert, et egalement habile par tout." (Foigny, Gabriel de, (wie Anm. 3), S. 93). „Toute la terre Australe est sans montagne, et j'ay appris de tres bonne pan que les Australiens les avoient toutes aplanies."

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gegen Meeresungeheuer,18 monströse Urvögel19 und Barbarenvölker (Fondins)20 führen, einem sicheren Leben darin dienen. Das Töten der heimischen Wildtiere hingegen geschieht aus reiner Bequemlichkeit, da sie den Australiern lästig sind und eine Domestizierung zu zeitaufwendig und letztlich auch aus Versorgungsgründen unnötig wäre.21 Die Natur gilt als Feindin, der in den geometrischen Südseeutopien entweder mit einem enormen technischen Aufwand oder mit gesteigerter Aggressivität begegnet wird. Eine sympathetische Naturverbundenheit, wie sie das Goldene Zeitalter kennt, ist hier nicht zu finden. Das gilt auch für die menschliche Natur, die im Hobbesschen Sinne als „wölfisch" angesehen wird: von Natur haben die Menschen viel Hang zum Bösen; wenn nun gute Gesetze, gute Beyspiele, und gute Erziehung sie nicht bessert, so wächst der böse Saame, der in ihnen ist, und wurzelt so tief ein, daß mehrentheils der Saame der Tugend, den die Natur ebenfalls gab, dadurch ersticket wird. Dann überlassen sie sich ihren unordentlichen Begierden, und es ist keine Art von Übel, worinn sie nicht von ihren ungestümen und wilden Leidenschaften, denen sie die Herrschaft über die Vernunft einräumen, gestürzt werden.22

Ihr destruktiver Charakter soll nach dem Willen der Staatslenker in den utopischen Institutionen neutralisiert werden. Für Individualität und Persönlichkeit ist auch in den frühen Südseeutopien kein Platz: der Mensch bleibt auch hier in die Funktionsimperative des utopischen Gemeinwesens eingespannt. Aufgrund der Bürgerkriegserfahrungen in England und der erneuten Verfolgungen der Hugenotten in Frankreich nach der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) war für die Südseeutopisten die Organisation einer idealen Gemeinschaft nur als Ordnungsgewinn vorstellbar. Der Südseebewohner der „geometrischen Utopien" ist noch nicht der „gute" oder „edle Wilde", als den ihn die Entdecker Tahitis Mitte des 18. Jahrhunderts beschreiben werden und als der er anschließend zumindest z.T. Aufnahme in die utopischen Konstrukte finden wird. Naturbeherrschung, Glaubensfragen und religiöse Toleranz sowie die Rationalität der Herrschaftsausübung stehen im Vordergrund dieser Staatsutopien, weniger Anarchismus, patriarchali1S 19

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Ebd., S. 147f. Ebd., S. 149f. Ebd., S. 141-146. Ebd., S. 134f. Denis Vairasse d'Alais, (wie Anm. 3 ), S. 338. Bacon formuliert in seiner Weisheit der Alten (Bacon, Francis, Die Weisheit der Alten, hg. und mit einem Essay von Philipp Rippel, aus dem Lateinischen und Englischen übertragen und mit Anmerkungen versehen von Marina Münkler. Frankfurt/M. 1990, S. 36), sich dabei an Platons Philosophenkönige anlehnend, die Aufgabe der Philosophie, „die Menschen zu lehren, sich zusammenzuschließen, sich das Joch der Gesetze aufzuerlegen, sich der Herrschaft unterzuordnen und ihre unbeherrschten Leidenschaften zu vergessen". Und in de Foignys Utopie, (wie Anm. 3, S. 106), spricht der „Australier" Sadeur davon, daß die Europäer stets eine Herrschaftsstruktur brauchen, um die Massen zu organisieren und zu lenken: „Je lui dis qu'on etoit persuade en notre pays qu'une multitude ne pouvoit pas etre sans ordre, qu'elle ne fut en confusion, et que l'ordre supposoit par nicessite un premier, ä qui les autres fussent obliges de se soumettre."

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sehe Herrschaft, natürlicher Überfluß oder der Stadt-Land-Konflikt, wie dies für die zweite Generation der Südseeutopien nach der Entdeckung Tahitis der Fall sein wird.

Die „Entdeckung" der Südsee als arkadisches Liebesparadies Mit dem Beginn des zweiten Entdeckungszeitalters (Bitterli), das seinen Höhepunkt in den Weltumsegelungen von James Cook und Louis-Antoine de Bougainville fand, schien auch das Ende der „terra australis" als utopischem Raum gekommen zu sein. Die drei Fahrten Cooks hatten die seit der Antike bestehenden Vermutungen von der Existenz eines Superkontinents in der südlichen Hemisphäre in das Reich der Legende verwiesen. Die halbwissenschaftlichen Spekulationen eines Charles de Brasses, Pierre-Louis Moreau de Maupertuis oder Alexander Dalrymple über große Bodenschätze, willige Verbündete oder strategisch-militärische Häfen waren mit einem Male hinfällig.23 Utopien hier ansiedeln zu wollen, schien nicht nur in dieser Region keinen Sinn mehr zu machen, sondern überhaupt ein problematisches Unterfangen geworden zu sein in einer Welt, die ihre weißen Flecken zunehmend verlor. Als Ausweg wurde deshalb von vielen Literaten die Projektion des idealen Gemeinwesens in die Zeit gewählt. Nicht mehr im U-Topos, im „Nirgendwo", sondern in der U-Chronie, in der „Nicht-Zeit", spielte die utopische Handlung. Den Anfang - zumindest der säkularen Entwicklung dieses Genres - machte Louis-Sebastien Merciers L'an 2440 von 177l.24 Doch auch wenn die Südseeutopie ihrer räumlichen Möglichkeiten beraubt schien, so kam sie doch keineswegs außer Mode - im Gegenteil. Denn was Entdecker und mitreisende Naturforscher, Maler und Literaten über die Beschaffenheit der im pazifischen Raum vorgefundenen Inseln zu berichten wußten, schien die zur Wirklichkeit gewordene Utopie zu sein. Besonders Tahiti übernahm in der Vorstellungswelt Europas die Leerstelle der „terra australis incognita": Nicht als Kontinent, nicht als unermeßliche Ausdehnung sollte der Ozean hinfort im allgemeinen Bewußtsein bleiben. Das Unwirkliche sollte sich mit dem Wirklichen mischen, das Dramatische mit dem Undramatischen. Alle Inseln waren diese eine Insel, und diese eine Insel ein tahitischer Traum.25

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Vgl. dazu die zwar alte, aber keineswegs veraltete Darstellung von Rainaud, Armand, Le Continent Austral. Hypotheses et decouvertes. Paris 1893 (Nachdruck Amsterdam 1965), sowie Vibart, Eric, Tahiti. Naissance d'un Paradis au siecle des Lumieres. Brüssel 1987. Die erste Ausgabe erschien zunächst anonym in Amsterdam. Erst 1799 konnte sie erstmals mit dem vollen Namen des Verfassers gedruckt werden. Eine deutsche Übersetzung erschien hingegen schon 1772 in Leipzig. Zur Wandlung der Utopie zur Uchronie vgl. Koselleck, Reinhart, Die Verzeitlichung der Utopie, in: Voßkamp, Wilhelm (Hg.), Utopieforschung. 3 Bde. Frankfurt/M. 1985. Bd. 3, S. 1-14. John Caute Beaglehole, zitiert aus dem Nachwort von Klaus-Georg Popp zu Bougainville, Louis-Antoine de, Reise um die Welt, hg. v. Klaus-Georg Popp. Stuttgart 1980, S. 443.

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Erheblichen Anteil an dieser Transformation hatten nicht zuletzt jene Reiseberichte vom Schlage eines Louis-Antoine de Bougainville, die aufgrund der in ihnen enthaltenen euphorischen Schilderungen von den stets liebesbereiten Dienerinnen der Aphrodite in Europa wie eine Bombe einschlugen. Das „paradiso amoroso" schien keine Fiktion, sondern auf den fernen paradiesischen Inseln Realität geworden zu sein: Der Anblick der Küste, die sich wie ein Amphitheater erhebt, bot uns ein reizendes Schauspiel. [...] Je näher wir dem Lande kamen, desto zahlreicher umgaben die Einwohner unsere Schiffe. Ihre Anzahl war so groß, daß wir viele Mühe hatten, unsere Schiffe inmitten der Menschenmenge und des Lärms zu befestigen. Alle schrien ,Tayo', welches soviel heißt wie .Freund', und gaben uns auf alle Arten ihre Freundschaft zu erkennen. [...] In den Pirogen fanden sich viele Weiber, die den Europäerinnen in Ansehung ihres schönen Wuchses den Vorzug streitig machen konnten und die auch sonst nicht häßlich waren. Die meisten dieser Nymphen waren nackend [und] machten allerlei freundliche Mienen gegen uns, beobachteten aber doch bei aller Naivität eine gewisse Art von Schamhaftigkeit; sei es, daß die Natur dem anderen Geschlecht allenthalben eine gewisse Scheu eingeprägt hat, sei es, daß sogar in einem Land, wo noch die Freiheit des Goldenen Zeitalters herrschte, die Frauen das zu verhehlen wissen, was sie am meisten wünschen. [...] Aller Vorsicht ungeachtet kam ein junges Mädchen auf das hintere Verdeck und stellte sich an eine der Luken über dem Gangspill. Diese Luke stand offen, damit die Leute am Spill frische Luft bekamen. Sie ließ ungeniert ihre Bedeckung fallen und stand vor den Augen aller da wie Venus, als sie sich dem phrygischen Hirten zeigte. Sie hatte einen göttlichen Körper. Matrosen und Soldaten drängten sich zu der Luke, und vielleicht ist niemals so fleißig an einem Spill gearbeitet worden.26

Bougainville stand mit seinen klassisch-erotischen Assoziationen nicht alleine: Sein Schiffsarzt und Botaniker Philibert Commerson schrieb 1769 in der angesehenen Zeitung Mercure de France: Diese Insel schien mir so beschaffen, daß ich ihr schon den Namen .Utopia' oder ,die Glückselige' gegeben hatte, womit Thomas Morus seine ideale Republik bezeichnet hatte: Ich wußte [zu diesem Zeitpunkt] noch nicht, daß Herr de Bougainville sie bereits ,Neu-Kythera' getauft hatte. Erst später erfuhren wir von einem Prinzen dieser Nation (und zwar demjenigen, den man nach Europa mitgenommen hat), daß sie bei ihren eigenen Bewohnern Tai'ti [sie!] heißt. Der Name, den ich für sie gewählt hatte, traf auf ein Land, und zwar vielleicht auf das einzige auf der Welt, zu, in dem Menschen ohne Laster, ohne Vorurteile, ohne Bedürfnisse, ohne Zwistigkeiten leben.27

Seine utopische Qualität gewinnt Tahiti jedoch für Commerson nicht, wie man durch den Vergleich mit der Morusschen Staatsutopie meinen könnte, aus seiner perfekten staatlichen Organisation und optimalen Produktions- und Distributionsleistung, sondern gerade durch das Fehlen dieser Attribute. In dem Artikel heißt es nämlich weiter:

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Ebd., S. 179, 181f. Brief von Herrn Commerson, Doktor der Medizin sowie königlicher Arzt und Botaniker auf der Isle de France vom 25. Februar 1769 über die Entdeckung der neuen Insel Kythera oder Tai'ti, in: Die großen Entdeckungen. Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion. Bd. 2, hg. v. Eberhard Schmitt. München 1984, S. 587.

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Joachim Meißner Geboren unter dem schönsten Himmel, genährt von den Früchten einer Erde, die fruchtbar ist, ohne kultiviert zu werden, regiert eher von Familienvätern als von Königen, kennen sie keinen anderen Gott als die Liebe; jeder Tag ist ihr geweiht, die ganze Insel ist ihr Tempel, alle Frauen sind ihre Idole, alle Männer ihre Anbeter. Weder die Schande noch die Scham üben ihre Tyrannei aus. [...] Ein strenger Zensor wird darin vielleicht nur Sittenverfall, eine entsetzliche Prostitution, den unverfrorensten Zynismus sehen. Aber handelt es sich nicht vielmehr um den Naturzustand des Menschen, der im wesentlichen gut geboren wird, frei von jedem Vorurteil, der den süßen Anstößen eines stets sicheren Instinkts ohne Mißtrauen wie ohne Gewissensbisse folgt, weil dieser noch nicht zur Vernunft degeneriert ist?28

Die Franzosen blieben in ihrer Verehrung dieser Insel keineswegs unter sich. Bougainvilles englischer Kontrahent James Cook und die mit ihm reisenden Deutschen Johann Reinhold und Georg Forster - sie alle bastelten kräftig mit am Mythos Südsee. Und nur zu willig folgte die Rezeption in Europa diesem Bild vom exotisch-arkadischen Sinnen- und Liebesparadies in der Südsee in ihren Pamphleten, Gedichten, Bildern, Theaterstücken, Gartenarchitekturen und Utopien. In den feinen Londoner und Pariser Salons der philosophierenden Gesellschaft wurden solche Berichte begierig aufgenommen, schien die Entdeckung dieser Eilande doch zu bestätigen, was Naturphilosophen schon immer ahnten: frei von zivilisatorischem Ballast, umgeben von einer paradiesischen, noch nicht von Menschenhand korrumpierten Natur, erweist sich der Mensch als unverdorben und „gut". Der „Edle Wilde" - in der Südsee schien es ihn wirklich zu geben.

Bürgerliches versus libertines Kythera Die Einflüsse der Entdeckung Tahitis und der ihr folgenden Berichte auf die Utopieproduktion ist unverkennbar - vor allem in Frankreich. Dies zeigen schon alleine die Titel der Utopien, die jetzt nicht mehr von „terra australis" sprechen, sondern den von Commerson im Mercure de France erwähnten Namen führen: „Tahiti" findet sich jetzt in vielen Utopien und in ebensoviel Schreibweisen als „O-Taheite", „O-Tahiti", „Tai'ti" oder in verfremdeter Form als „Tamoe", wie in der Südseeutopie des Marquis de Sade, der allem Anschein nach die Inseln Tahiti und Samoa zu einem Namen zusammenzog.29 Neben den für die polynesische In2!( 29

Ebd., S. 587f. Sade, Donatien-Alphonse-Franfois Marquis de, Aline et Valcour ou le roman philosophique. Ecrit ä la Bastille un an avant la Rivolution de France. Paris 1795. Eine deutsche Übersetzung der utopischen Südsee-Passage Die utopische Insel Tamoe aus Aline und Valcour findet sich in: Marquis de Sade, Schriften aus der Revolutionszeit, hg. v. Georg Rudolf Lind. Frankfurt/M. 1989, S. 23-143. Über diese augenfälligste Adaption der neuesten Südseereisen in den Utopien hinaus gehen aber auch geographische Besonderheiten, wie eine genauere topographische Situierung der Utopie nach Längen- und Breitengraden, Elemente aus der Botanik (besonders wird immer wieder der Brotfruchtbaum hervorgehoben) oder aus der Fauna (immerhin erwähnt Poncelin de La Roche-Tilhac in seiner Histoire des Revolutions de Taiti von 1782 (Band l, S. 6) Korallenriffe) in die fiktiven Reiseberichte ein. Des weiteren werden als Handlungsträger Beteiligte der Reisen in die Utopien mit aufgenommen, so bei Diderot Bou-

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selregion typischen Kulturleistungen, wie dem Pirogenbau, oder Ritualen, wie die Überreichung von Palmzweigen als Friedenszeichen, finden hauptsächlich Schilderungen der dortigen Lebensweise Eingang in die utopische Literatur. Daß vor allem jene sexuelle Praktiken, wie die Anbietung tahitianischer Frauen, die Aufmerksamkeit der Utopisten fesselte, läßt sich denken. Die naheliegende Folgerung aber, daß diese in allen gesellschaftlichen Kreisen diskutierten erotisch-paradiesischen Südsee-Motive jetzt vor allem fiktive Gesellschaften hervorbringen, die nur noch dem puren Hedonismus frönen, erfüllt sich jedoch in keiner der Südsee-Utopien. Diese Zurückhaltung gegenüber einer tendenziell frugal-anarchistisch erscheinenden Natur, in der alle Frauen allen Männern und vice versa gehören, läßt sich auch im politischen und ökonomischen Bereich beobachten: Eine herrschaftslose Inselgesellschaft beschreibt nur ein Teil der Südseeutopisten, und oft genug herrscht auf den von der Natur üppig ausgestatteten Eilanden Arbeitszwang. Die meisten Südseeutopien werden weiterhin als Staatsromane abgefaßt. Das ist überraschend, wo doch die Entdeckung Tahitis eher die Version einer „arkadischen Utopie" nahegelegt hätte. So scheint die Mehrzahl der Südseeutopisten auch nach der Entdeckung der Südsee die kursierenden Berichte zu ignorieren und lediglich die Tradition der „geometrischen Utopien" des 16. und 17. Jahrhunderts fortzusetzen. Tatsächlich aber griffen die Südseeutopisten Elemente aus diesen Berichten auf und, indem sie die „geometrischen Utopien" mit diesen Elementen verbanden, betrieben sie die Naturalisierung der Südseeutopien - ein Wandel, der nicht zwingend mit einer Anarchisierung der fiktiven Gesellschaft einhergeht. Im Unterschied zu den Südseeutopien der ersten Generation besteht die auffälligste Veränderung in diesem Prozeß der Naturalisierung des Utopischen in der Abwertung der Technik als einem Instrument zur Beherrschung der äußeren Natur. Die Natur selbst ist es, die sich in diesen naturalisierten Südseeutopien den Menschen zuwendet, alles im Überfluß gibt und somit den Einsatz von Maschinen und industriellen Produktionsweisen überflüssig macht. Die gesteigerte Gratuität der Natur ist Ressource und Garant für ein sorgenfreies Leben, das keine Hungersnöte und Krankheiten mehr kennt. Diese Naturnähe drückt sich auch in den Sozialbeziehungen aus, wie sie ein Teil der Südseeutopisten beschrieben hat, und setzt in direkter Linie die natürliche Verbindung von Mensch und Natur fort. Ihren Niederschlag finden solche patriarchalischen Gesellschaftsformen in den Utopien eines Denis Diderot, Nicolas Bricaire de La Dixmerie oder einer Mme de Montbart, die damit zuallererst die als denaturiert empfundene Lebensweise des Hofes, des Adels und des hohen Klerus zu kritisieren suchen.30 Aber selbst dort, wo die Utopisten

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gainville oder bei Retif de la Bretonne Cook, mitunter aber auch die von beiden Kapitänen mitgebrachten Insulaner Omai oder Aotourou, wobei letzterer bei Diderot Orou und ersterer bei de Sade Orai heißt. Diderot, Denis, Supplement au Voyage de Bougainville (dt. Ausg.: Nachtrag zu ,Bougainvilles Reise', in: ders., Philosophische Schriften. 2 Bde., hg. v. Theodor Lücke. Berlin 1984, (' 1967), Bd. II, S. 195-237); Bricaire de La Dixmdrie, Nicolas, Le sauvage de Ta'tti aux Fran-

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aufgrund eines negativen Menschenbildes, dies trifft in erster Linie auf den Marquis de Sade, Abb6 Baston, Poncelin de la Roche-Tilhac und Retif de la Bretonne31 zu, keine anarchistische Südseeutopie, sondern eine auf Herrschaft und Staatsraison basierende archistische Südsee-Staatsutopie entwarfen, richtet sich die Kritik gegen höfische Libertinage und Frivolität. Die Erotisierung des Utopischen kann somit als der wichtigste Unterschied zu den geometrischen Südseeutopien des 16. und 17. Jahrhunderts gesehen werden. Aber: Erotik ist hier keinesfalls mit Libertinage zu verwechseln, sondern ist auf die Entdeckung des ganzen Menschen bezogen, die auch seinen Leib und seine Sinnlichkeit umfaßt. Die Abwertung des Kampfes gegen die äußere Natur, der noch zentrales Thema der ersten Südseeutopien war, führt zur Aufwertung der Frage nach der Beschaffenheit der inneren Natur des Menschen: Was ist der Mensch? Eine Maschine, wie die Materialisten nahelegen, oder ein empfindsames Seelenwesen? Ist er trieb- oder vernunftgesteuert? Liebe, Leidenschaft und Sexualität spielen jetzt in den Utopien eine sehr viel größere Rolle, als dies zuvor in den geometrisierten Utopien der Fall war. Motive wie bürgerliche Treue und Liebe werden jetzt gegen aristokratische Verführung und „Seelenvernichtung" (Vibart) ins Feld geführt und betonen die natürliche Unschuld der Geschlechterbeziehungen, die jetzt selbstbestimmt vollzogen werden sollen. Dies wird im 20. Brief der von Mme de Montbart 1784 verfaßten Lettres Ta'itiennes, einem an Rousseaus Nouvelle Helo'ise orientiertem Briefroman, deutlich: diesen Brief erhält Ze'ir, ein Tahitianer, der auf eigenen Wunsch mit jener französischen Schiffsbesatzung nach Europa zurückkehrt, die die Insel zuvor entdeckt hatte, von seiner auf Tahiti zurückgebliebenen Geliebten Zulica. In dem Brief berichtet sie von der Ankunft der Engländer auf der Insel und davon, daß einer von ihnen sie vergewaltigt hat. Diese Gewalttat war aber nur möglich, weil Zulica sich entgegen der Landessitte, sich offenherzig und ohne Schamgefühl den europäischen Seereisenden hinzugeben, verweigerte und ihre unverständigen

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cais. Paris 1770. Microiditions Hachette 72/044 (= Herzog August Bibliothek: Microfiche 29); Monbart de Sydow, Marie-Josephe de l'Escun de, Lettres Ta'itiennes. Breslau 1784 (Zentralbibliothek Zürich: Sign. WC 901); die Autorin wählte für die Veröffentlichung die Kurzform „Madame de Montbart", unter der sie hier auch weiterhin zitiert bzw. genannt wird. Roche-Tilhac, Poncelin de la, Histoire des Revolutions de Taiti. 2 Bde. Paris 1782 (dt. Ausg., wobei nur der erste Band in Übersetzung vorliegt: Geschichte der Revolutionen von Tahiti, nebst einer Schilderung der Staatsverfassung, der Sitten, der Künste und der Religion der Bewohner dieser Insel, von Putavery, Groß-Earee von Tahiti, aus dem Tahitischen übersetzt von Mselle B.D.B.D.B. Gotha 1783); Marquis de Sade, Donatien-Alphonse-Francois, (wie Anm. 29); Bretonne, R6tif (Restif) de la, La Dicouverte australe par un komme volant, ou le Dedale fran9ais, nouvelle tres philosophique, suivie de la lettre d'un singe. 4 Bde. Paris 1781. Deutsche Übersetzung: Retif de la Bretonne, Der fliegende Mensch. Ein philosophischer Roman, hg. v. Klaus Völker, Frankfurt a.M./Berlin 1986; Baston, Abbo Guillaume-Andre-Ren6, Narrations d'Omai, insulaire de la Mer du SudL ami et compagnon de Voyage du Capitaine Cook. Ouvrage traduit de l'O-Täitien, par M.K. , et public par le Capitaine L.A.B. 4 Bde. Rouen/ Paris 1790 (Bibliotheque Public et Universitaire de Neuchätel: Sign. 78.18.08).

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Landsleute sie auslieferten.32 Die Autorin bemüht also in ihrer Utopie nicht die scheinbar sexuelle Freizügigkeit Tahitis,33 sondern läßt ihre Protagonisten als in der Liebe freie Individuen auftreten, die sich den tradierten Clan- und Moralvorstellungen auf Tahiti zu entziehen suchen. Liebe und Treue beseelen diese beiden Menschen - das sind Kategorien, die nicht nur in den frühen Südseeutopien fehlen, sondern auch in den Reiseberichten über die sich promiskuitiv gebenden Tahitianer. Doch Mme de Montbarts Utopie tritt nicht nur für eine selbstbestimmte und von bürgerlichen Werten geprägte Beziehung ein, sondern kritisiert zugleich den europäischen - hier englischen - Kolonialismus. Dessen gewaltsames Vorgehen entspricht offensichtlich derselben rücksichtslosen Brutalität wie sie das tradierte aristokratische Privileg der „prima nocte" mit sich brachte. Nicht minder kritisch beschreibt Denis Diderot die Differenz zwischen den natürlichen Sitten der Tahitianer und dem libertinistischen Gebaren seiner höfisch-aristokratischen Zeitgenossen in seinem in Dialogform gehaltenen Supplement: „Es gibt kaum etwas Gemeinsames zwischen der Venus von Athen und der Venus von Tahiti", führt B. gegenüber A. aus, denn „die eine ist buhlende Venus, die andere fruchtbare Venus".34 Dabei folgt Diderot ganz den physiokratischen Ideen, wonach der nationale Reichtum einzig aus der Bearbeitung des Bodens stamme, weshalb natürlich im Interesse des Gemeinwohls viele Hände gebraucht werden. Dient die tahitianische Venus dem Wohl der Allgemeinheit, indem sie den Reichtum des tahitianischen Volkes mehrt, so steht die athenische Venus lediglich für private Laster einer dekadenten Klasse. Hinzu kommt, daß die nur an Hedonismus und Galanterie interessierte Aristokratie sich zwar in Schäferspielen ergeht, sich aber keinesfalls mit den Folgen dieser T§te-ä-tetes auseinandersetzen will. Diese modifizierte Übernahme der erotisch-sexuellen Passagen aus den Reiseberichten und die darauf folgende rezeptive Bearbeitung der frühen Südseeutopien durch die Südseeutopisten der zweiten Generation ist Teil eines Diskurses gegen das tändelnd-galante arkadische Schäferspiel des Hofes. Arkadien wird so zu einem bürgerlichen Arkadien mit entsprechenden Vorstellungen von Moral, Sitte und Anstand. Die Bedeutung dieser Debatte ist vornehmlich aus dem Aufeinandertreffen von neuen Tugend- und Moralvorstellungen, wie sie in der nichthöfischen Aristokratie, aber vor allem auch im Bürgertum vertreten wurden, mit den sittlichen Auffassungen des höfischen Rokoko zu verstehen. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts drückte sich dieser Gegensatz in den Bildern von Rogence-Malern wie Watteau aus. Auf der einen Seite stand der Hof, dessen Künstlichkeit und schwelgerische Hingabe an Schmuck und Zierat sowie seine an der „amour ga32 33

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Mme de Montbart, (wie Anm. 30), S. 131 ff. Vgl. zur angeblichen Promiskuität der tahitianischen Gesellschaft Duerr, Hans Peter, ,La Nouvelle Cythere' oder Die Schamlosigkeit der Frauen von Tahiti, in: ders., Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. 4 Bde. Frankfurt/M. 1994. Bd. 2: Intimität, S. 179-199. Diderot, (wie Anm. 30), S. 219.

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lante" orientierte Moralvorstellung man verurteilte. Dem wurde auf der anderen Seite das neue Reich der Tugend gegenübergestellt, das wesentlich von Spontaneität, Gefühl, Häuslichkeit und ehelicher Treue gekennzeichnet war. Mit der Regence beginnt der Diskurs um den Vorwurf der Denaturierung des Hofes stärker hervorzutreten und sich zunehmend zu verdichten. Dabei sind die ihn tragenden Akteure keineswegs nur dem Bürgertum zuzurechnen. Werden Greuzes Sittenbilder, Diderots Theaterstücke und Rousseaus Romane zwar gelegentlich als .bürgerlich' eingestuft, ihre begeistertsten Anhänger aber fanden sie - und das ist entscheidend - an der Spitze der Gesellschaft.35

Die künstlerische Opposition der Aristokratie ist zugleich eine politische gegen die Entmachtung durch den Absolutismus. Es ist daher kein Zufall, daß gerade in der Regence, also mit dem Tode Ludwigs XIV. (1715) eine antihöfische Opposition des Adels sich zu formieren beginnt.36 Ein typischer Vertreter der Regence-Malerei ist Antoine Watteau, zu dessen bekanntesten Bildern die Einschiffung nach Kythera zählt. Dargestellt sind mehrere Liebespaare, die - ganz offensichtlich - nach einem Schäferstündchen sich auf das am Ufer wartende Schiff begeben, um zur Insel der Aphrodite, Kythera, zu fahren. Doch so sehr hiermit bereits Assoziationen nach freier Liebe (Libertinage) geweckt werden, so wenig entspricht ihnen Watteaus Bild. Anders als auf Tizians Gemälden vom Liebesfest (Bacchus und Ariadne und Andriern), wo die Teilnehmer ungeordnet und entblößt durcheinanderliegen und jede(r) sich jede(m) hinzugeben scheint, sind auf Watteaus Bild alle sittsam bekleidet und einander in Paaren fest zugeordnet. Die damit verbundene Vorstellung der Treue und Ehe lag den Bildern Tizians noch fern. Liebe als Leidenschaft höfischer Galanterie wird hier von Watteau der ehelichen Liebe strikt entgegengesetzt: Die außereheliche Liebe ist beendet. Der Aufbruch nach Kythera, wo die Venus Urania, Beschützerin der Ehe, verehrt wurde, kann nur bedeuten, daß dort die Liebe durch die Ehe besiegelt wird. Die ,Fete galante' ist nur noch Vorspiel, nicht mehr Selbstzweck.37

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Schama, Simon, Der zaudernde Citoyen. Rückschritt und Fortschritt in der Französischen Revolution. München 1989, S. 164. Zum Thema der bürgerlichen Treue als Gegenposition zur höfischen Galanterie vgl. Garber, Klaus, Arkadien und Gesellschaft. Skizze zur Sozialgeschichte der Schäferdichtung als utopischer Literaturform Europas, in: Voßkamp, Wilhelm (Hg.), Utopieforschung. Bd. 2, S. 37-81, hier S. 55f.; Elias, Norbert, Die höfische Gesellschaft. Frankfurt/M. 1983 (Darmstadt-Neuwied 969), hier S. 377f. Ebenso: Aries, Philippe und Duby, Georges (Hg.), Geschichte des privaten Lebens. Bd. 3: Von der Renaissance zur Aufklärung. Frankfurt/M. 1991 (Paris 986); Gewecke, Frauke, Wie die neue Welt in die alte kam. München 1992 (Stuttgart 986), hier S. 263ff.; Muchembled, Robert, Die Erfindung des modernen Menschen. Hamburg 1990 (Paris 988), hier S. 401ff. Held, Jutta, Einschiffung nach Kythera. Versöhnung von Leidenschaft und Vernunft. Frankfurt/M. 1987, S. 59f.

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Doch ist es gerade der Name Kythera, der in der klassisch gebildeten Aristokratie für die pure Liebeslust selbst steht. Nicht ohne Grund will der erste französische Weltumsegler, Antoine de Bougainville, nachdem er die sich den Matrosen und Offizieren auf freimütigste Weise hingebenden Tahitianerinnen gesehen hat, die Insel „Nouvelle Cythere" nennen.38 Für die monogamen, allerlei strengen Tabus unterworfenen Europäer war die sexuelle Unbefangenheit und die - oft nur vermeintliche - Promiskuität der Primitiven verständlicherweise eine weitere Motivation dafür, die ,aurea aetas', das Goldene Zeitalter, nicht wie die Alten in einer historischen Ferne, sondern in geographisch weit entlegenen Gegenden zu suchen.39

Die Erotisierung Arkadiens Damit aber die Südsee, speziell Tahiti, überhaupt den von Bougainville und anderen nahegelegten Ort der Liebe verkörpern konnte und dieser Topos auch Eingang in die der Entdeckung Tahitis folgenden Utopien finden konnte, mußte das mit ihm (ausdrücklich von Bougainville) identifizierte Goldene Zeitalter zunächst mit Liebe und Erotik in Verbindung gebracht werden. Die Einheit beider Topoi war in der antiken Ausstattung des Mythos von der Goldenen Zeit noch keineswegs gegeben und fehlte im Kanon der Mytheme des automaton-Motivs. Erst in der Folge der Auflösung mittelalterlicher Moral- und Sittlichkeitscodices unter dem Eindruck einer das Individuum freisetzenden neuen Weltsicht war diese Verbindung möglich. Mit dem Abschied von der mittelalterlichen Paradiesehe ging zugleich eine Rehabilitation der Lust im epikureischen Sinne einher. Der Vorwurf der epikureischen Sittenlosigkeit hatte, so Jochen Schmidt,40 die Funktion, die aufgeklärte Religionskritik moralisch zu diskreditieren. Eng verbunden mit der „Wiederentdeckung" der Lust ist die mit der Renaissance aufkommende Forderung nach Respektierung der individuellen und selbstbestimmten Liebe. Losgelöst von den mittelalterlichen Sippen- und Clanverbindungen suchen die Individuen als sich selbstgenügsame und damit unabhängige Monaden nach der Erfüllung eigenbestimmter Liebe und Sexualität. Shakespeares Romeo und Julia mag hierfür ein Beleg sein, wenngleich seine Protagonisten ihre emotionale und sexuelle Selbstbestimmtheit nur um den Preis des Todes aufrechterhalten können. Was also heute als selbstverständlicher Teil des Südseemythos gilt, daß das mit nackten Menschen bevölkerte Paradies zugleich ein erotisches Paradies darstellt, mußte erst noch 38 39 40

Bougainville, Antoine de, Reise um die Welt. Stuttgart 1980, S. 197. Gerhardi, Gerhard, Rousseau und seine Wirkung auf Europa, in: Propyläen Geschichte der Literatur. Bd. IV: Aufklärung und Romantik 1700-1830. Frankfurt a.M./Berlin 1988, S. 169. Schmidt, Jochen, Für und wider die Lust: Epikur und Antiepikureismus von der Antike bis zur Moderne. Mit einem Versuch über Hieronymus Boschs .Garten der Lüste', in: ders. (Hg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt 1989, S. 206-219, hier S. 208.

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herausgebildet werden. Erst danach war es für Südseereisende und -Utopisten möglich, in den tahitianischen Sitten nicht etwa eine gottlose und sittengefährdende Todsünde zu sehen, sondern sie mit natürlicher, unverstellter und vor allem selbstbestimmter Sexualität zu identifizieren und sogar den höfischen Gebräuchen in Europa kritisch entgegenzustellen. Abhängig war die Aufnahme erotischer Motive in den Mythos vom Goldenen Zeitalter von einem Amalgamierungsprozeß, der den Arkadientopos mit den Mythemen der aurea-aetas verband. Während bei Vergil noch ein Nebeneinander von Goldenem Zeitalter und Arkadien bestand,41 sind es Renaissancedichter wie Jacopo Sannazaro oder Torquato Tasso, die eine Verbindung herstellen und die „Liebe des Gallus", die von Vergil nicht näher ausgeführt wird und schon gar keine erotischen Anspielungen beinhaltet, aus einem platonischen Abstraktum in das epikureische Konkretum einer lustbetonten Sexualität überführen werden. In Jacopo Sannazaros Arcadia ist allein der Titel des Gedichts Programm. Nicht das christliche Paradies, sondern ein heidnisch-antiker Topos wird zitiert, um letztlich zu belegen, daß im einstigen Arkadien sich das Glück des Goldenen Zeitalters noch finden ließ. Sannazaros Protagonist, Opicio, ein alter Hirte, preist die Vergangenheit und setzt die Gegenwart herab, indem er das momentane Hirtenleben mit dem goldenen Zeitalter vergleicht. Damals, so sagt er, seien die Götter selbst Hirten gewesen: „sie verschmähten es nicht, die Schafe auf die Weide zu treiben, und sangen, wie wir es heute tun".42 Das Goldene Zeitalter, wie Opicio es anschließend beschreibt, wird damit zu einem überhöhten Arkadien, zur eigentlichen Schäferwelt, so wie umgekehrt das gegenwärtige Arkadien nur als ein letzter Abglanz und unvollkommener Ersatz jenes seligen Zustandes erscheint. Dieser Rekurs auf die Antike enthält zugleich einen Einspruch gegen das herrschende Christentum und dies vor allem hinsichtlich der moralischen Normen und Werte, wie sie die Gegenreformation repräsentierte. Denn was Opicio im Verlaufe seiner Klage besonders am vergangenen Ideal betont, ist die Liebesfreiheit, die damals vorherrschte: Jünglinge und Mädchen hielten ungehindert verliebten Umgang, sie kannten keine Eifersucht, sondern ergingen sich in süßem Reigen und tauschten jederzeit zärtliche Küsse.43 Sannazaro benutzt somit den Mythos des Goldenen Zeitalters und bukolische bzw. arkadische Motive, um Liebe und Liebende ohne Rücksicht auf moralische, gesellschaftliche oder sonstige Bindungen darzustellen, die es in jener arkadischen Welt des Goldenen Zeitalters nicht gibt. Eine Steige41

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So ist zwar in der berühmten 4. Ekloge von der Wiederkehr des „Goldenen Zeitalters" die Rede, aber nicht von Arkadien, wohingegen die 10. Ekloge, die „die qualvolle Liebe des Gallus" schildert, in Arkadien angesiedelt ist, aber nicht in einem Zusammenhang mit der „aurea aetas" steht. Automaton-Motive und Leidenschaften stehen hier noch unvermittelt nebeneinander. Sannazaro, Jacopo, Arcadia. Einleitung und Anm. von Enrico Carrara. (Collezione di classici Italiani con note, seconda serie). Bd. LII. Turin o.J., S. 50. Ebd., S. 50-52.

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rung in dieser Hinsicht stellt die Aminta des Torquato Tasso dar, die etwa 70 Jahre später als Sannazaros Gedicht erschien. Auch Tasso greift die christlichen Moralund Wertvorstellungen an, wobei er ebenfalls arkadische Motive und Goldenes Zeitalter miteinander verbindet. Doch wird letzteres nicht wegen seiner Automaton-Attribute gepriesen, sondern einzig und allein, weil, wie es heißt, der „leere gegenstandslose Namen", jener „Götze falscher Meinungen und Trüge, den Dummheit nennt die Ehre" noch „nicht mengte in das Leben Verliebter bittre Atzung, noch nicht die harte Satzung auf Seelen prägte", sondern vielmehr das goldene und glückliche Gesetz galt, das die Natur geprägt hat: „Erlaubt ist, was gefällt".·" Doch dieser Diskursstrang, der das Land gegen die Stadt und die Einfachheit bäuerlichen bzw. schäferlichen Lebens gegen höfisches und von der Etikette diktiertes Leben stellt, evoziert sofort einen Gegendiskurs. Auch Giambattista Guarinis // Pastor fido (Der treue Schäfer) von 1590 ist in „Arkadien" angesiedelt, doch anders als in Tassos Aminta steht Guarinis Arkadien im Zeichen von Schuld und Sühne. Sinnliche Liebe, verkörpert in der Frau und verunglimpft als Verfehlung, bedarf der Überwindung durch Disziplinierung. Dieses Tasso fremde Mißtrauen gegenüber der Natur und das Vertrauen in die Herrschaft von Vernunft war geeignet, Guarinis Drama dem monarchischen Absolutismus zu empfehlen. Der Dichter entwirft ein Bild des Helden und der Welt, das zur monarchischen Legitimation ebenso taugte wie zur Sanktionierung des .Gesetzes' als Chiffre staatlicher Gewalt. Dieses .Gesetz' ist ein weltumspannendes; symbolisch präsent ist es im Drama als Treue zwischen den Protagonisten der Handlung. Treue waltet im Goldenen Zeitalter, das so als Tugendzeit der Gegenwart kritisch entgegengehalten wird. Gibt es eine Opposition in der Gegenwart, so nicht die zwischen Liebe und Ehre wie bei Tasso, sondern die zwischen Sein und Schein.45

Und so endet Guarinis Stück auch nicht mit „erlaubt ist, was gefällt" wie noch bei Tasso, sondern mit „es gefällt, was erlaubt ist".46 Hinter diesen Sentenzen verbirgt sich eine Differenz in der anthropologischen Auffassung vom Menschen, wie sie auch das Verhältnis von arkadischer Utopie und Staatsutopie kennzeichnen wird. Betonen Sannazaro und Tasso die Vernunft des natürlichen Triebes des Menschen und stellen sich somit in naturrechtliche Traditionen, so ist Guarinis Haltung gegenüber der menschlichen Triebhaftigkeit von Mißtrauen geprägt. Guarini, gerade in der Rechtfertigung monarchischer Gewalt, antizipiert hier bereits Hobbes' negative Anthropologie. Wie sehr aber, abgesehen von Guarini, in der Arkadien-Dichtung der Renaissance bereits Motive vorgegeben werden, die später beispielsweise bei der Be44 45 46

Tasso, Torquato, Aminta, in: Arkadien. Landschaft vergänglichen Glücks, hg. v. Petra Maisak und Corinna Fiedler. Frankfurt/M. 1992, S. 28f. Garber, Klaus. (wieAnm. 36), S. 53. Guarini, Giambattista, // Pastor Fido, e il Compendio della Poesia Tragicomica, a cura di Gioachino Brognoligo. Bari 1914, wo es am Ende des 4. Aktes heißt: „Piacia, se lice".

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Schreibung Tahitis durch Bougainville wirksam werden, zeigt der Entwurf einer landschaftlichen Szenerie durch Tasso, in der die Hirten und Hirtinnen nicht nur süße Reigen aufführen, sondern an blumigen Ufern sitzen und dabei Flüsterworte, Liebkosungen und Küsse austauschen; außerdem sind sie nackt, wofür sich in den antiken Vorlagen keinerlei Andeutungen finden.47 In den beiden letzten Strophen werden Ehre, Sitte und Moral noch einmal gescholten, weil sie die Mädchen gelehrt hätten, ihre Reize zu verbergen, und damit das zum Diebstahl geworden sei, was vorher ein Geschenk der Liebe war.48 Sannazaro und Tasso, so Hellmuth Petriconi,49 haben in Arcadia und Aminta die Liebesfreiheit zum entscheidenden Merkmal paradiesisch-arkadischer Wunschvorstellungen gemacht. Vorbei sind die scholastischen sexualethischen Diskussionen über die problematische Paradiesehe von Adam und Eva. Künftig wird der Garten Eden auch das Paradies der Liebe sein und sich mit liebesbereiten Nymphen und Najaden bevölkern, die den Garten zu einem [...] .paradiso amoroso' [machen]. Und wenn man sich später auf die Suche nach dem Wunschbild der fernen seligen Inseln machen wird, dann wird es zugleich auch ein Aufbruch nach Cythera sein, dem sagenumwobenen Heiligtum der Aphrodite, und die schäferlich gestimmte Rokoko-Idealnatur wird sich zwanglos mit Vorstellungen vom irdischen Paradies, von Elysium, den Lebensbedingungen im Goldenen Zeitalter und den goldenen Äpfeln der Hesperiden [in einem Synkretismus aller Motive, J. M.] zum allgemeinen geographischen Wunschraum zusammenfügen.50

Die Befreiung des ganzen Menschen: anarchistische und archistische Südseeutopien Die topographische und anthropologische Beschaffenheit der Südsee, wie sie durch die Europäer wahrgenommen wurde, erweist sich somit als anbindungsfähiger Diskurs sowohl gegenüber den Bildern von europäischer ländlicher und alpiner Idylle, wie sie Watteau und Greuze geschaffen haben, als auch gegenüber den amourösen Arkadien-Dichtungen eines Sannazaro, Tasso und, wie sich zeigen wird, sogar eines Guarini. Dies spiegelt sich auch in den ländlichen und „erotischen" Beschreibungen der Südsee-Utopien wider. Doch wird mit der Adaptierung „natürlicher" Lebensformen und deren Übertragung auf die Eingeborenen der Südsee nicht nur eine äußerliche Identifizierung, sondern zugleich auch die Konstituierung eines moralischen Subjekts geleistet, an dessen Ende der „edle" Wilde steht. Denn so wie die diskursive Ausdehnung der Elitenkultur und -moral auf das Volk die Erziehung der Bauern und Schäfer zur Folge haben sollte, so wie also im 47

Tasso, Torquato, (wie Anm. 44), S. 29.

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Ebd., S. 30.

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Petriconi, Hellmuth, Das neue Arkadien, in: Garber, Klaus (Hg.), Europäische Bukolik und Georgilc. Darmstadt 1976 (= WdF 355), S. 181ff. Bömer, Klaus H., Auf der Suche nach dem irdischen Paradies. Zur Ikonographie der geographischen Utopie. Frankfurt/M. 1984, S. 41 f.

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18. Jahrhundert der Moraldiskurs der Eliten das kleinbürgerliche moralisierte Subjekt des Bauern und Schäfers hervorbrachte,51 so wurde in der Übertragung dieses Typs auf die Bewohner der Südsee der Wilde moralisiert und als „edler" oder „guter" Wilder geschaffen. In der Opposition gegen den Hof und dessen denaturierte Lebensform ging es den Denkern der Regence nicht um eine Entgegensetzung oder Propagierung einer zügellosen, „wilden" Natur. Der „Wilde" als ein Produkt der im heimischen Europa anhand von Bauern, Schäfern oder Savoyarden geführten Moraldiskurse war gar nicht „wild", sondern „domestiziert" oder, wie es Rousseau ausdrückte: „Vom wilden Menschen sprachen sie; den gesitteten beschrieben sie".52 So wird von den Südseeutopisten kein zügelloses anarchistisches „Geschlechtsgenußparadies" gepredigt, sondern zumeist eine „via media" eingeschlagen, um das theoretische Problem einer utopischen Gesellschaft zu lösen, wie sie mit Sexualität, Erziehung und Leidenschaften verfahren will, so daß einerseits die Stabilität der Gemeinschaft dabei nicht angegriffen wird, aber auch andererseits die individuellen Interessen berücksichtigt bleiben und sich der Mensch auch als Trieb- und Sinnenwesen anerkannt weiß. Hinsichtlich der Richtung, die es zur Erlangung dieser via media einzuschlagen gilt, gibt es jedoch unter den Südseeutopisten erhebliche Differenzen. Sie beruhen auf einer grundverschiedenen anthropologischen Einschätzung des Menschen und der damit verbundenen Frage nach seiner Fähigkeit zur Selbst- bzw. Notwendigkeit zur Fremdbehercschung nicht nur seiner sexuellen Triebstruktur. So reicht das Spektrum in den Südseeutopien von der freien bis freiesten und völlig ungehemmten Auslebung der Sexualität: Diderot,53 de Monbart54 über moderate Einschränkungen: Roche51

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Als Beispiel hierfür mag der Schweizer Musterbauer Jacob Gujer gelten, dessen vorbildlichem Arbeitsethos und moralischer Integrität der Züricher Arzt und Ratsherr Hans Caspar Hirzel 1761 in seiner Wirthschaft eines philosophischen Bauers ein Denkmal setzte. Vgl. hierzu mit Literaturangaben Lange, Thomas, Idyllische und exotische Sehnsucht. Formen bürgerlicher Nostalgie in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Kronberg/Ts. 1976, S. 76ff. Rousseau, Jean-Jacques, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: ders., Sozialphilosophische und politische Schriften. München 1981,5.60. Im Supplement, (wie Anm. 30), heißt es über die tahitianischen Sexualgebräuche u.a.: „Unsere Töchter und unsere Frauen gehören uns allen" (S. 204); „die junge Tahitianerin [gab] sich den leidenschaftlichen Regungen und glühenden Umarmungen des jungen Tahitianers ohne weiteres hin. [...] Sie war stolz darauf, Begierden zu erregen und die verliebten Blicke des Unbekannten, aber auch ihrer Eltern und ihres Bruders auf sich zu ziehen." (S. 206); „Mit Ausnahme derjenigen, die noch nicht das Recht haben, ihr Gesicht und ihren Busen zu zeigen, führten dir [dem Europäer, J. M.] die Mütter alle anderen unverhüllt vor. Schon warst du im Besitz solch eines zarten Opfers der Gastfreundschaft. Man streute für euch beide Blätter und Blumen auf den Boden; die Musikanten stimmten ihre Instrumente; nichts störte eure Wonne, nichts hinderte die Ungezwungenheit eurer Liebkosungen." (S. 207). Das Sexualverhalten der Tahitianer unterliegt bei ihr keinerlei Reglementierung, wenngleich hier schon Liebe im bürgerlichen Sinne von Sexualität zu trennen ist, denn Zulica liebt Ze'ir. Ansonsten aber heißt es: „l'amour est leur passion dominante, ou plutöt ils n'en connoissent point d'autre: tous les momens de leur vie lui consacres, l'Isle entiere est son temple, les ga-

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Tilhac,55 Retif de la Bretonne56 bis hin zu extremer Reglementierung bei de Sade,57 wobei die rigide Sexualmoral in de Sades Tamoe-Utopie seiner aristokratischen Lebens- und Sexualpraxis einigermaßen paradox gegenübersteht. Dabei wird eine grundlegende Differenz deutlich: Betonen die in der Tradition eines Sannazaro und Tasso stehenden arkadischen Südseeutopisten, wie Diderot oder Mme de Montbart, die Vernunft des natürlichen Triebes des Menschen und stellen sich somit in naturrechtliche Traditionen, so ist die Haltung der SüdseeStaatsutopisten - ganz im Sinne Guarinis - gegenüber der menschlichen Triebhaftigkeit von Mißtrauen geprägt. Letztere wie La Roche-Tilhac treten deshalb in ihrem als zweitem Goldenem Zeitalter wieder erschaffenen Gemeinwesen nicht für eine Deregulierung, sondern für Lenkung und Organisation durch Institutionen ein. Herrschaftstechniken und Machterhalt werden aus der Sicht der utopischen Reformer in der Südsee und damit in den Augen der Utopisten selbst zur notwendigen und unverzichtbaren Voraussetzung gesellschaftlicher Reformen. Die „Staatsraison" hält Einzug in die Südseeutopie, und alle anderen gesellschaftlichen Fragen wie Eigentumsorganisation und -Verfügung oder Liebe und Sexualität werden ihr zunächst untergeordnet oder aus ihrem Primat abgeleitet. Somit sind Herrscher in

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zons ses autels, et la bonne foi le garant de ses sermens." (Mme. de Monbart, Lettres Taitiennes, wie Anm. 30, S. 2f. der Introduction). Poncelin de la Roche-Tilhac greift zwar die freie Liebe, wie sie von Bougainville und anderen beschrieben und durch Literaten kolportiert worden war, auf, doch erlaubt er sie nur bis zur ersten Schwangerschaft. Diese hat eine dauerhafte und auf strikter Treueverpflichtung basierende eheliche Verbindung zur Folge. Untreue wird mit dem Tod bestraft, (wie Anm. 31, Bd. 2, S. 64f., 103-107). In Rotif de la Bretonnes Megapatagonen-Utopie herrscht eine Weiber- und Kindergemeinschaft, die Moral und Leidenschaften reguliert: „Wenn Dir unter dem Worte gemeinschaftlich versteht, daß die Vaterschaft ungewiß ist, und die Weiber sich auf eine der Fortpflanzung widrige Art hingeben, so habt Dir Unrecht. Das menschliche Geschöpf, welches keine gewisse Zeiten zur Brunst und Begattung wie die Tiere hat, muß seine Lust durch Vernunft mäßigen. Wollt Ehr aber soviel damit sagen, daß die Weiber nicht einem Manne allein auf immer zugehören, so sind die Weiber bei uns allerdings gemeinschaftlich. [...] Die Wahl der Weiber geht bei uns alle Jahr vor sich [...]. Wenn der Tag der Wahl erscheint, stellen sich alle Männer und Weiber, schwangere und stillende, einer jeden Kolonie in zwei gleiche Reihen einander gegenüber. [...] Am Ende der Reihe stellt man jährlich diejenigen Jünglinge und Mädchen, welche sich zum erstenmale verbinden, aber sie haben nicht die Wahlfreiheit, wie die schon verheirateten Personen. Das Verdienst gibt das Recht, das schönste Mädchen zu heiraten. Man ist eben nicht darum besorgt, der Neigung zu folgen, weil diese Ehen zu kurz sind, als daß sie die Verheiratung unglücklich machen könnten. [...] Ehescheidung fällt fast nie vor; weil allen nach dem Genuß lüstet, und die dadurch erworbene Freiheit, künftig nach Geschmack zu wählen, ihnen eine hinlängliche Entschädigung scheint. Ein Ehebruch während der jährlichen Verbindung ist bei uns gänzlich unbekannt und kein Beispiel davon vorhanden", (wie Anm. 31, S. 202f.). De Sades Utopie kennt keinerlei sexuelle Libertinage. Immerhin führt er die Scheidung ein und verbietet die Päderastie und den Inzest nicht aus moralischen Erwägungen, sondern aus Staatsraison: „der Inzest zerstörte die Gleichheit, die ich einführen wollte, indem er die Familien zu sehr vergrößerte und isolierte; und durch die Päderastie bildete sich eine abgesonderte Klasse von Menschen, die sich selbst genügten und das Gleichgewicht notwendig störten, das einzurichten ich für wesentlich hielt." (wie Anm. 29, S. 43).

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den Südsee-Utopien nicht nur gütige Patriarchen, als die sie von Bougainville und Commerson geschildert werden, sondern durchaus gewiefte und mit den Herrschaftstechniken moderner Staatslenkung vertraute Politiker. Hier wird der Unterschied zwischen „arkadischer" und „Staats-Utopie" sehr deutlich, denn erstere verzichtet aufgrund der Annahme einer völligen Harmonie zwischen Mensch und Natur und damit auch von Mensch und Mensch darauf, die Frage nach der Macht und der Herrschaftsverteilung sowie der gesteuerten und gewollten Aufrechterhaltung des staatlichen status quo zu stellen. Während sich La Dixmeries, Diderots und Mme Montbarts Utopien gerade durch den Verzicht auf Herrschaftstechniken und Arkanpolitik als Zeichen einer gestörten Natur auszeichnen, gründen die Verfasser der Südseestaatsutopien ihr paradiesisches Inselideal auf in der Wahl ihrer Mittel zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele skrupellose oder zumindest an Zweckdenken orientierte Fürsten: Zame (de Sade), Omai (Abbe Baston), Victorin (Retif de la Bretonne) und Otoo (La Roche-Tilhac). Zwar schildern auch Autoren wie de Sade oder Baston ihre Südsee-Utopien in denselben Topoi des Goldenen Zeitalters wie die Vertreter der „arkadischen Südseeutopie", doch ist neben dem bereits erwähnten Umstand, daß die „Staatsutopien" Resultat menschlicher Bemühungen und nicht ihnen vorgängige perfekte Gebilde sind, der entscheidende Unterschied die damit einhergehende Stabilitätsvermutung. Die „Staatsutopisten" zeichnet aus, daß sie alle auf Arkanpolitik und Staatsraison zurückgreifen, weil sie darin ein Instrument zur dauerhaften Sicherstellung des Staates (de Sade, Abbe Baston, Retif de la Bretonne) oder zumindest zur Verzögerung seines Niedergangs in einer zyklischen Utopiegeschichte (Roche-Tilhac) sehen. Die Arkanpolitik mißtraut dem Volk und weiß die Kompetenz zur Erhaltung und Stabilisierung sowie Schaffung eines optimalen Staatswesens bei der Herrschaftselite. Die „arkadische Utopie" hingegen begreift dieses Mißtrauen gegenüber dem Volk durch die Herrscherklique bereits als denaturierte Entfremdung moderner Staatswesen und sucht gerade in der Auflösung solcher Strukturen und in der Hinführung auf eine naturbelassene Form der patriarchalischen Herrschaft die Überwindung dieser Entfremdung. Bedeutet für die Vertreter einer Arkanpolitik der „arkadische Zustand" zwar ein Ideal, so wird es doch als fragil und als leicht verführbar eingeschätzt. Die Legitimität der Staatsraison besteht für sie gerade darin, die Utopie auf künstliche Weise mit Hilfe der Herrschaftsinstrumente aus dem Zustand der Fragilität und Erschütterungsanfälligkeit zu befreien und in eine dauerhafte, nicht mehr veränderliche Utopie zu überführen. Das Volk gilt ihnen dabei als die unberechenbarste Komponente, weshalb es in relativer Unwissenheit gehalten wird und Bildungsentzug für die unteren Volksschichten zu den beliebtesten Herrschaftstechniken in den Südseestaatsutopien zählt. Auf diese Weise verwandelt sich ihnen unter der Hand das arkadische Ideal, das es eigentlich zu erhalten gilt, in eine Staatsutopie, die damit gerechtfertigt wird, daß sie als Ziel ihrer Politik eine zweite „aetas aurea" hervorbringen will. Der Überfluß der Natur, das warme

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Klima, das Fehlen gefährlicher Tiere spielen - anders als bei der arkadischen Utopie - hinsichtlich der Legitimation von politischer Herrschaft keinerlei Rolle mehr. Im Unterschied zu den „geometrischen Südseeutopien" ist die äußere Natur auch keine Feindin mehr, die mit großem technischen Aufwand und naturwissenschaftlichem Know-how bekämpft werden muß. Als Gegnerin geblieben ist aber die in ihren Augen unberechenbare innere Natur des Menschen. Deshalb suchen die Staatsutopisten vor allem durch die Optimierung von Organisations- und Verteilungsleistungen die Stabilität des Gemeinwesens zu gewährleisten und so dem Individuum Entfaltungsmöglichkeiten zu eröffnen. Ganz anders dagegen die Arkadienutopie. Sie trennt nicht zwischen der Befreiung des Menschen im engeren ökonomischen und politischen Sinne und der Befreiung seiner Sexualität. Die arkadische Utopie zielt auf die Befreiung der Natur des Menschen von der Herrschaft des Menschen über seine Natur und nicht nur, wie bei denen, die in der Tradition Morus' stehen, auf die Befreiung des Menschen von den sozio-ökonomischen Verhältnissen, wie schlimm diese auch sein mögen. Diese utopische Sichtweise setzt, wie in der Renaissance die Staatsutopien die Entdeckung des Staates voraussetzten, die Entdeckung des ganzen Menschen als Seelenwesen voraus, dessen sexuelle und psychische Disposition nicht unter dem Makel des christlichen Dogmas von der Sündhaftigkeit des Menschen steht. Seine Befreiung im Sinne der Arkadienutopie kann dann sogar so weit führen, daß die äußeren Umstände (gesellschaftliche, politische, soziale und ökonomische Verhältnisse) zugunsten einer inneren Befreiung vernachlässigt werden bzw. das eine die Voraussetzung für das andere wird. Nicht umsonst werden seit der Renaissance „Wilde" mit dem Entwicklungsstand von „Kindern" verglichen, gilt der Ur- oder Naturzustand als die von Institutionen und „Erziehung" noch unbeeinflußte Kindheit.58 Dem Arkadientopos geht es dabei aber nicht um eine äußere Befreiung, d.h. lediglich die Abschaffung von repressiven Institutionen und deren Ersetzung durch andere Institutionen, sondern um die, dem Anarchismus nahestehende Forderung nach der Abschaffung von Institutionen überhaupt, um die innere Natur des Menschen freilegen zu können. Daraus spricht die Erkenntnis, daß die äußere Befreiung des Menschen keineswegs seine innere nach sich ziehen muß. Das Goldene Zeitalter meint in der Südseerezeption des 18. Jahrhunderts also nicht einfach nur eine natürliche Überflußgesellschaft ä la Schlaraffia oder eine nur gesteigerte Gratuität der Natur, die alles nach dem automaton-Motiv hervorbringt, was ansonsten die Erfindungen Bacons leisten würden - also puren Hedonismus -, sondern die „Naturalisierung der Utopie", in deren Folge die Maschinen, die Städte

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Vgl. zur Kindheitsauffassung des 18. Jahrhunderts als literarischem Topos: Fairchild, Hoxie Neale, The noble savage. A study in romantic naturalism. New York 1961 ( 928), S. 365ff. Weniger die idealisierend-literarische Auffassung vom Kind im 18. Jahrhundert als Aspekte sozialer Realität beschreibt: Marcard, Micaela von, Rokoko oder das Experiment am lebenden Herzen. Galante Ideale und Lebenskrisen. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 7ff.

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und die Institutionen abgeschafft werden können, schließt die „Erotisierung des Utopischen" und damit die Befreiung der inneren Natur des Menschen mit ein und zielt damit auf eine vollkommene Harmonie des Menschen mit der Natur überhaupt. Maschinen, Städte, gesellschaftliche Institutionen können soziale Gleichheit herstellen, aber keinen Menschen innerlich glücklich machen. Das ist der Einwand der Arkadienutopie gegenüber der Staatsutopie, daß „eudaimonia" für sie nur im technischen Sinne eine Rolle spielt. Glück ist damit auch kein institutionell vermittelbares Gut, sondern kann nur Ergebnis eines innerlich befreiten Menschen sein.

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Utopie, Naturzustand und Vertragsdenken bei Rousseau

I. Es gehört zu den Paradoxa der Ideengeschichte, daß das wissenschaftliche Interesse am utopischen Denken gerade zu dem Zeitpunkt besonders ausgeprägt schien, als der gern als Utopie geschmähte Marxismus praktisch und theoretisch an seinem vorläufigen historischen Tiefpunkt angelangt war.1 Auffällig hierbei ist der Parallelismus der Konjunktur der Utopieforschung mit der Konjunktur von .Anthropologie', die spätestens seit den achtziger Jahren ein neues wissenschaftliches Paradigma ankündigt, innnerhalb dessen ,Anthropologie' eine Art semantischen Schlüssel darstellt, der die Türen der disziplinären Diskurse aufschließen helfen soll, welche die Vernetzung und Globalisierung von Problemlagen zu erfassen offensichtlich nicht in der Lage sind. Diese Beobachtungen wollen andeuten, daß die Beschäftigung mit unserem Thema keineswegs archivarischer Natur ist. Wenn wissenschaftliche Konjunkturen gesellschaftliche Umbruchsituationen indizieren, so scheint die Hypothese keineswegs abwegig, daß wir uns in einer Situation befinden, die möglicherweise jener der Aufklärung nicht unähnlich ist. Das tertium comparationis wäre eine Gesellschaft mit hohem Änderungsbedarf, welche diesen im Medium der Anthropologie formuliert. Die Aufklärung wäre in dieser Sicht der Kulminationspunkt eines seit der Renaissance virulenten, die tradierten Denkformen gleichsam in der Form der ,Naivität' umwälzenden anthropologischen Denkens, zu dem utopisches Denken wie Kontraktualismus gleichursprünglich gehören. Die Jetztzeit stünde hierzu bei gleichem Modus der Denkform im Verhältnis der Reflexivität. Erste und zweite Moderne, oder, in den Termini von Mittelstraß, zweite und dritte Aufklärung, wären probate, wenn auch notwendig reduktive Kürzel für Gleichartigkeit und Differenz.2

Allein für die Jahre die Jahre 1982-1987 z.B. lassen sich ca. 375 Titel, darunter zahlreiche Monographien, ausmachen. Vgl. die von Peter Kuon erstellte Bibliographie in: Hudde, Hinrich/Kuon, Peter (Hg.), De l'Utopie ä l'Uchronie. Formes, Significations, Functions. Tübingen 1988, S. 157-171. Vgl. auch zu der Auffassung einer zweiten Moderne als „reflexive Modernisierung": Beck, Ulrich, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M. 1986.

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II. Bei näherem Besehen handelt es sich bei dieser Konstruktion natürlich um eine ungebührliche Vereinfachung, vollzieht sich doch die Auseinandersetzung mit dem tradierten Weltbild und dessen Wissensbeständen in der Aufklärung keineswegs nur vemunftuniversalistisch, sondern, in den vom gesellschaftlichen Entwicklungsstand gesetzten Grenzen,3 durchaus bereits reflexiv. Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte treten in produktive theoretische Interrelation, das wissenschaftliche Wissen über den Menschen nimmt rapide zu, der Blick auf fremde Ethnien in niederen Zivilisationsstufen erzeugt einen Kulturrelativismus, der für die Aufklärung eigentlich typische Denkmuster wie Vorurteil/Vernunft aufzulösen beginnt. Zugleich verweisen die verschiedenen Spielarten des anthropologischen Denkens auch auf je unterschiedliche philosophische und gesellschaftspolitische Optionen, die in den Werken der großen Autoren im Dialogverfahren aufeinander antworten.4 Dies läßt sich auch am hier zu erörternden Zusammenhang von Utopie und Kontraktualismus ablesen. Rekurriert man auf die Ergebnisse des, soweit ich sehe letzten, größeren Kolloquiums zur Utopie,5 so wurde dort die These vertreten, daß die Gattung von Thomas Morus' Utopia (1516, engl. 1551) bis zu Gabriel de Foignys La terre australe connue (1676) sich noch im theologischen Denkmuster bewegt, insofern ihre Konstruktionen einen von der Erbsünde freien Idealmenschen voraussetzen, während zuerst die Histoire des Sevarambes (1677-1679) von Denis Veiras mit diesen anthropologischen Prämissen bricht und bei der Konstruktion der Utopie vom wirklichen Menschen ausgeht. Dies führt im 18. Jahrhundert zu einem langsamen Wandel in der Fiktionalisierung: Statt einer reibungslosen Einpassung der Subjekte in das ideale Gemeinwesen rückt nun ins Zentrum die Gefährdung des Gemeinwesens durch die Subjekte selbst. Das empfindsame oder auch das tendenziell egoistische Individuum wird die Problemstelle in einer gleichwohl immer noch weitgehend auf Systembildung angelegten utopischen Ordnung. Diese kann sich nur mittels einer präventiven und punitiven Gesetzgebung durchsetzen. Statt eines gleichsam geometrisch konstruierten Alternativbilds zur bestehenden Gesellschaft wird die Utopie näher an die Wirklichkeit herangerückt. Zugleich rückt sie in die Funktion einer Antizipation besserer Verhältnisse, die nun in der Reichweite der Menschen liegen. Unterstellt man die Richtigkeit dieser Diagnose, so impliziert sie eine Krise der bisher dominanten Gattungsausprägung und könnte sie zugleich einem ebenfalls mit anthropologischen Grundannahmen operierenden Kontraktua3 4

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So gehört die Industrialisierung noch nicht zu den zentralen Denkkoordinaten. Vgl. hierzu am Beispiel von Voltaire, Rousseau und Diderot: Thoma, Heinz, Philosophie Anthropologie - Erzählen. Der Roman als Instrument der Selbstaufklärung der Aufklärung, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 21 (1997), Heft 1/2, S. 55-77. Vgl. Anm. 1.

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lismus kompatibel machen. Das Verhältnis von Freiheit und Zwang wäre der gemeinsame Nenner bzw. Legitimation für eine Annäherung zweier scheinbar kontradiktorischer Denkformen. Derartigen Zusammenhängen unter politikwissenschaftlichen Gesichtspunkten systematisierend nähergetreten ist Richard Saage in seinem Sammelband Vertragsdenken und Utopie* Dort vertritt er die Auffassung, daß Utopie und Kontraktualismus insofern Gemeinsamkeiten besitzen, als beide mit anthropologisch basierten Konstruktionen gegen das theologische und feudale Gesellschaftsmodell operieren, daß ihre Unterschiede in allen zentralen Bereichen (Wirtschaft, Eigentum, Gleichheit, Individuum, Privatsphäre) sie jedoch als zwei grundsätzlich geschiedene Denk- bzw. Entwicklungsmodelle der bürgerlichen Gesellschaft auswiesen, deren eines in den Liberalismus, deren anderes in das sozialistische Denken des 19. Jahrhunderts einmündeten. Neuerdings hat Saage diese Position insofern relativiert, als sich für ihn nun Kontraktualismus und Utopie in einem dialektischen Prozeß aufeinander zubewegen, innerhalb dessen die Utopie sich Reformvorstellungen öffne, also gleichsam politisiere, während in den Kontraktualismus utopische Momente einzögen, wofür Fichte als Beispiel steht.7 Diesem Gedanken möchte ich in der Folge näher nachgehen und am Beispiel der Nouvelle Heloise und des Contrat social den Zusammenhang von utopischem und kontraktualistischem Denken an einem Autor erörtern, der die Freiheit als sein zentrales Denkanliegen formulierte und doch ein Gedankengebäude schuf, dessen Zwangsmomente offen zutage liegen - was die Forschung nicht selten veranlaßte, Rousseau als Vorläufer des ,Totalitarismus' auszumachen. Zuvor ist jedoch kurz noch eine andere Sicht auf die Utopieentwicklung anzudeuten. So hat man nicht zu unrecht darauf hingewiesen, daß im 18. Jahrhundert eine Ablösung der Stadtutopie durch die Naturutopie auszumachen ist, wobei die Naturutopie sich in Kleinstterritorien mit dezentralen Lebensformen mit der Familie als der Kernzone der Lebensgemeinschaften realisiere.8 Wenn sich diese Entwicklungshypothese einer Naturalisierung der Utopie, was die Quantität der Gattungsrealisate angeht, vermutlich Einwänden aussetzt,9 so verweist sie doch auf Saage, Richard, Vertragsdenken und Utopie. Frankfurt/M. 1989. - Auffällig ist, daß das bisher größte, interdisziplinär angelegte Unternehmen der Utopieforschung keinen politikwissenschaftlichen Beitrag führt: Voßkamp, Wilhelm (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. 3 Bde. Stuttgart 1982. Saage, Richard, Zur Konvergenz von kontraktualistischem und utopischem Denken in Johann Gottlieb Fichtes ,Der geschlossene Handelsstaat', in: Neugebauer-Wölk, Monika/Saage, Richard (Hg.), Die Politisisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert. Tübingen 1996 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 4), S. 40-55. Garber, Jörn, Von der urbanistischen Großutopie zur naturalen Kleinutopie, in: Gaßner, Hubertus/Kopanski, Karlheinz/Stengel, Karin (Hg.), Die Konstruktion der Utopie. Ästhetische Avantgarde und politische Utopie in den 20er Jahren. Marburg 1992 (Schriftenreihe des documenta Archivs I), S. 13-30. Nimmt man jedoch Tahiti hinzu, das einen realen Ort darstellt, der, vor allem nach Bougainvilles Reisebericht, mannigfach utopisch besetzt wird, sieht das quantitative Verhältnis ver-

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den qualitativen Sachverhalt, daß der Zivilisationsfortschritt ein regressives Denken aus sich entlassen kann, das utopische Züge annimmt und das gattungskonstitutive Moment der strengen Regelung der Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens exklusiv in die agrarisch konzipierte Privatsphäre verlagert. Es ist evident, daß diese These von einer Naturalisierung des Utopischen das Gemeinwesen Ciarens aus der Nouvelle Helo'ise als privilegiertes Beispiel vor Augen hat.

III. Bei der folgenden Analyse geht es darum, die Nouvelle Heloise und den Contrat social im Zusammenhang der Werklogik Rousseaus so zu situieren, daß der literarische Text helfen kann, den politiktheoretischen Text zu erhellen, und dabei zugleich nähere Aufschlüsse über den Zusammenhang von utopischem Denken und Kontraktualismus gewonnen werden können. Ausgangshypothese ist, daß die Nouvelle Helo'ise den Versuch einer narrativen Auflösung der philosophisch-politischen Begründungsaporien der beiden ersten Preisschriften darstellt, daß dieser Versuch scheitert und daß der Contrat social - wie auf andere Weise auch der Emile - die Konsequenzen aus diesem Scheitern zieht.10 Rousseau hatte in seinen zwei Preisschriften11 eine pessimistische Geschichtsphilosophie entwickelt, in der die Fortschritte in Kultur und Zivilisation als gleichviele Verlusterfahrungen verzeichnet wurden und die scheinbare Perfektion der Individuen mit dem Verfall der menschlichen Gattung zusammenfiel: Ursache und Basis für diesen Verfallsprozeß ist nach Rousseau die ungehemmte Entwicklung des Eigentums, welche die legitime Selbstliebe („amour de soi-meme") zur illegitimen Eigenliebe („amour-propre") transformiert und jene im Naturzustand noch vorhandene Anlage zum Mitgefühl („piti6", „commiseration") erstickt, die zur Kohäsion des gesellschaftlichen Verbundes unabdingbar ist. Als Rousseau Ende der 50er Jahre seine Hauptwerke zu konzipieren beginnt - einen Roman, eine

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mutlich anders aus. Zur Gattungsentwicklung vgl. Funke, Hans-Günther, Die Utopie der französischen Aufklärung: Formen, Themen und Funktionen einer literarischen Gattung, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 12 (1988), Heft 1/2, S. 40-61. Zur ausführlichen Analyse der Nouvelle Helo'ise unter stärkerer Berücksichtigung romantheoretischer Gesichtspunkte vgl.: Thoma, Heinz, Utopie und Erzählen: Rousseaus .Novelle Helo'ise', in: Neugebauer-Wölk, Monika/Saage, Richard (Hg.), Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert. Tübingen 1996 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 4), S. 56-69. Discours aui a remporte le prix a l'Academie de Dijon. En l'annee 1750. Sur cette question proposee par la meme Acadömie: Si le rotablissement des Sciences et des arts a contribuö ä epurer les moeurs. Par un Citoyen de Geneve [Genf 1750], in: Rousseau, Jean-Jacques, (Euvres completes. Bd. 3, hg. von Bernard Gagnebin, Marcel Raymond u.a. Paris 1964 (Bibliotheque de la Pleiade 169), S. 1-30; Discours sur l'origine et les fondemens de l'inegalite parmi les hommes. Par Jean-Jacques Rousseau, citoyen de Geneve, [Amsterdam 1755], in: ders., (Euvres completes, Bd. 3, S. 109-223.

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Verfassungsschrift und einen Erziehungstraktat bzw. Erziehungsroman -, steht er vor dem Problem, wie er die in zwei Gelegenheitsschriften entworfene Kritik am Zivilisationsfortschritt bzw. an der sozialen Ungleichheit vertiefen und deren Aporien beheben kann. Die Abfassungszeit dieser drei Schriften fällt mit einem Dissoziierungsprozeß innerhalb des aufklärerischen Lagers zusammen, der zum schließlichen Bruch Rousseaus mit Voltaire und dem enzyklopädisch-materialistischen Flügel um Diderot und d'Holbach führen wird. Scharf ist zunächst besonders der Dissens mit Voltaire, der 1758 mit Candide einen geschichtsphilosophischen Roman en miniature vorgelegt hatte, in dem zwar ebenfalls dem Optimismus eine Absage erteilt wird, der jedoch eine, die Utopie im Namen einer Anthropologie der Differenz explizit ausschließende, eigentums-, produktions- und tauschorientierte Botschaft entläßt.12 In bestimmter Hinsicht ist die Nouvelle Helo'ise damit auch eine Antwort auf Voltaires Text.13 Aus der inneren Werklogik heraus ist der Roman der Versuch, das Ideal des Naturzustandes in die Wirklichkeit des 18. Jahrhunderts hineinzuholen: das Paradox einer realistischen Utopie. Die Liebesbeziehung zwischen dem Roturier Saint-Preux und seiner adligen Schülerin scheitert bekanntlich am ständischen Vorurteil, das auch wegen des fehlenden Vermögens von Saint-Preux nicht überwindbar ist. Im Blickpunkt steht also das Ancien Regime als ständische und zugleich bereits sozial durchlässige Gesellschaft. Der Hauptteil des Textes gilt jedoch der moralischen Heilung des Egoismus der Liebe zwischen Julie und Saint-Preux, die nach dem erzwungenen äußeren Bruch innerlich fortdauert. Geheilt werden soll dieser Egoismus im Mikrouniversum der Insel Ciarens, in dem das Gesetz der wirtschaftlichen Autarkie herrscht, der Handel auf ein Minimum und weitgehend auf Naturalientausch beschränkt ist, wo Einfachheit und Funktionalität dominieren und ein System wechselseitiger Kontrolle, die Trennung der Geschlechter sowie eine austarierte Kombination von Arbeit, Ritual (Gebet, Gesang) und Vergnügen das Gemeinwesen intakt halten, aus dem ausgeschlossen wird, wer sich nicht in dessen Regeln fügt. Diese Regeln, die deutlich an das strikte Kontroll system der Gattung Utopie erinnern, bestimmt in erster Linie der Graf Wolmar, der nunmehrige Gatte Julies, der, wie etwa die Figur des Valmont in der Utopie der Histoire des Galligenes (1765) von Tiphaigne de la Roche, die Rolle des „sage le"gislateur" spielt. Die Enklave birgt jedoch ein brüchiges System. Nicht weil sie auf der Hierarchie der Herrschaft über das Gesinde basiert, die als solche zwar problematisiert, jedoch nicht in Frage gestellt wird,14 sondern vor allem, weil der im Egoismus der Liebe chiffrierte 12 13 14

Vgl. hierzu: Thoma, Philosophie - Anthropologie - Erzählen, (wie Anm. 3). Wie Voltaires Text auch eine Antwort auf die beiden Preisschriften Rousseaus darstellt. So, wenn die „douce egalite" beim Weinlesefest als Wiederherstellung des „ordre de la nature" bezeichnet wird: Julie, u la Nouvelle Helo'ise. Lettres de deux amans, habitans d'une petite ville au pied des Alpes. Recueillies et public's par J.[ean]-J.[acques] Rousseau. Amsterdam [1761], in: ders., CEuvrex completes. Bd. 2, hg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond. Paris 1964 (Bibliotheque de la Pleiade 153), S. 1-793, 5. Teil, Brief VII, S. 608.

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Egoismus der societe civile in diese dem .Naturzustand' anverwandelte Mikrogesellschaft hineinwirkt und deren Ordnung zerstört. Bereits der zweite Discours hatte eine auf Ausschließlichkeit basierende Liebe mit dem Eigentumsvorbehalt in Verbindung gebracht und sie als schädliches Resultat des Zivilisationsprozesses kritisiert. Die Nouvelle Heloise greift dieses Thema erzählerisch auf, läßt die „concorde entre les 6gaux"15 des monage ä trois zunächst gelingen, jedoch am Ende am Egoismus zerbrechen, welcher der Einheit von Natur, Gefühl und Vernunft, welche diese Gesellschaft von Ciarens auszeichnet bzw. auszeichnen soll, keine Dauer ermöglicht. Was sich bereits seit der Histoire des Sevarambes abzeichnete, geschieht auch in der Nouvelle Heloise. Die Eigensinnigkeit der Individuen, welche dem Ideal der Auflösung von Intimität in Sozialität widersteht, gefährdet die ideale gesellschaftliche Konstruktion. Allerdings ragt der literarisch-philosophische Gehalt des Rousseauschen Textes weit über die meist nur notdürftigen Fiktionalisierungen der bisherigen und späteren Utopien hinaus. Rousseau unternimmt nichts weniger als den Versuch einer realistischen Gestaltung einer utopischen Ordnung auf konkretem historischen Boden. Die Übersetzung der Problematik der ersten beiden Discours in die Form der Narration16 scheint zunächst eine Aufhebung von deren Aporien zu versprechen, indem gezeigt wird, wie der Naturzustand gleichsam in der Gegenwart wiedergewonnen werden kann. Um so schwerer wiegt jedoch das letztliche Scheitern dieses Versuchs: Wolmar scheitert als Gesetzgeber des Kleinuniversums von Ciarens, weil sein planerisches und rationales Verhalten des Gefühls entbehrt, das er erst durch den Tod Julies gewinnt. Julie scheitert trotz ihrer als Pflicht der Natur dargestellten Unterwerfung unter die väterliche Autorität an ihrer ununterdrückbaren Liebe zu Saint-Preux, die immer wieder ihre scheinbar schon gesicherte Vernunft unterminiert. Der Roturier Saint-Preux ist schließlich die treibende Kraft, welche die Balance des Systems von Ciarens definitiv zunichte macht. Nichts zeigt die Bewußtheit des Rousseauschen Verfahrens deutlicher als die Doppelung in der Naturalisierung des Utopischen: Zu Ciarens hinzu tritt der Garten von Julie, eine Art englischer Garten in Miniatur, durch eine Tür von der Außenwelt abgeschirmt, von Julies Hand veredelt und der doch wie reine Natur erscheint. Diese Utopie in der Utopie, die implizit die Gefährdung des Gemeinwesens von Ciarens anzeigt, ist von jedem ökonomischen Zweck und damit von den Bedingungen der soci6t6 civile gänzlich entlastet.17 In ihr verspricht sich Saint-Preux Vergessen vor dem „ordre social",18 der ihn unglücklich machte und dessen Prägungen ihn gleichwohl

15 16 17 18

Ebd., 4. Teil, Brief VII, S. 608. Aus dem ersten Discours kehrt das Thema des Luxus bzw. der einfachen Lebensführung wieder. Der Text bezeichnet den Garten als „asyle", (wie Anm. 14), 4. Teil, Brief XI, S. 475. Vgl. ebd., S. 486.

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einholen werden. Der Name des Gartens - Elysee19 - macht ihn zu einem utopischen Ort ohne Geschichte.

IV.

Ciarens war ein Gemeinwesen ohne politische bzw. staatliche Dimension. Im zeitgleich zur Nouvelle Helo'ise entworfenen, aber erst nach dem Roman abgeschlossenen und publizierten Contrat social,20 wechselt Rousseau die Betrachtungsebene. Gefragt wird, wie die Menschen sind und wie die für sie beschaffenen Gesetze sein sollen („les hommes tels qu'ils sont, les lois telles qu'ellles peuvent etre")21 mit dem Ziel der Einheit von Gerechtigkeit und Nützlichkeit. Die eingenommene Perspektive ist hierbei, wie Rousseau unterstreicht, nicht jene des Machtträgers bzw. des Gesetzgebers, sondern die des wahlberechtigten Bürgers von Genf, was den Text umstandslos in eine demokratische Dimension rückt. Von Anfang an haben wir auch ein systematisches anthropologisch-politisches und ein zugleich an den realen Verhältnissen einer Stadtrepublik entlang operierendes Denkverfahren, so daß nicht immer leicht zu entscheiden ist, wie idealtypische Setzung und pragmatische Absicht sich im Argument zueinander verhalten. Wo in der Nouvelle Helo'ise ein idealer Privatraum konstruiert wurde, der zugleich als Vorbild für die societe civile in ihrer Gesamtheit gedacht war,22 da erfordert das Scheitern der rein privatförmigen Konstruktion die Reflexion auf die staatliche Einfassung des Privatraums, da dieser - unter den Bedingungen der Gegenwart - offensichtlich korrektur- bzw. regelungsbedürftig ist. Dies formuliert der Text gleich zu Beginn mit Nachdruck: „L'homme est ne libre et partout il est dans les fers."23 Die Formel, die nicht in erster Linie politisch zu verstehen ist, sondern zuvörderst auf die Situation der .Entfremdung' in der societe civile zielt, schließt ebenfalls an den geschichtsphilosophischen Pessimismus der beiden Preisschriften an. Abhilfe soll hier erfolgen durch Rekonstruktion bzw. das Insrechtsetzen des wahren Gesellschaftsvertrags. Wir sind damit auf dem Feld des „droit politique". Wie im zweiten Discours über den Ursprung der Ungleichheit ist das Verfahren der Urzustandskonstruktion hypothetisch und versteht sich zugleich als historisch.24 Aus der Sicht Rousseaus ist der Contrat social kein Herrschaftsvertrag, sondern ein Kontrakt unter Gleichen im Übergang vom „etat de nature" zum '» Ebd.

2(1

Du contrat social ou Principes du droit politique. Par J.[ean]-J.[acques] Rousseau, Citoyen de Geneve. [Amsterdam 1762], in: ders., (Euvres Completes, Bd. 3, (wie Anm. 11), S. 347-470. 21 Ebd., Livrel, S. 351. 22 Wie Anm. 14, 4. Teil, Brief X, S. 461. 23 Wie Anm. 20, Livre I, chap. I, S. 351. 24 Die ex- und implizite Auseinandersetzung mit den bisherigen Vertragstheoretikem wie Grotius, Hobbes u.a. bleibt hier weitgehend außer Betracht.

Utopie, Naturzustand und Vertragsdenken bei Rousseau

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„etat civil": ,,1'acte par lequel un peuple est un peuple [...] est le vrai fondement de la societe."25 Das Soziale und das Politische laufen also gleichsam parallel. Der Akt wird vollzogen, so heißt es, wenn im Naturzustand die Hindernisse für die Selbsterhaltung eines jeden einzelnen so groß sind, daß nur die Aggregation der Einzelkräfte die Selbsterhaltung aller einzelnen erlaubt: Trouver une forme d'association qui defende et protege de toute la force commune la personne et les biens de chaque associe, et par laquelle chacun, s'unissant ä tous, n'oboisse pourtant qu'ä lui-meme et reste aussi libre qu'auparavant. Tel est le probleme dont le contrat social donne la solution.26

Der Vertrag entsteht also einerseits aus nicht näher beschriebenen Zwängen27 und ist andererseits zugleich das Instrument der Freiheitssicherung des einzelnen. Die unvermittelte Abfolge beider Gedankengänge zeigt deutlich, wie Rousseau umstandslos vom genetischen zum idealtypischen Argument wechselt. Hier bereits scheint die tiefere Ursache auf, die das Zwangsmoment des Rousseauschen Denkens birgt, indem die historische mit der logischen Konstruktion letztlich zusammenfällt, die zugleich als Norm fungiert: Wenn jeder sich allen gibt, so heißt es, gibt er sich zugleich niemandem und bleibt frei. Jeder kontraktiert gleichsam mit sich selbst, und doch bilden alle die „volonte genorale", die, folgt einer ihr nicht, ihn zwingen wird, frei zu sein: „On le forcera d'etre libre."28 Der Übergang vom „e"tat de nature" in den „etat civil" beinhaltet auch eine Transformation des anthropologischen Materials. Zum Instinkt tritt das Gerechtigkeitsempfinden, zur „impulsion physique" die Moralität und die Stimme der Pflicht, zu den Neigungen („penchants") die Vernunft, schließlich entfällt die „inegalite physique" als herrschaftsbegründender Faktor: Aus dem „animal stupide et borne" wird also ein „etre intelligent et un homme".29 Zwar ist dieser Ausgang des Menschen aus der Naturgeschichte mit der Verlusterfahrung der „liberte naturelle",30 d.h. des unbegrenzten Rechts, alles zu erreichen, dessen man habhaft werden kann, verbunden, jedoch handelt es sich hierbei um einen von Rousseau überwiegend positiv markierten Vorgang, ist doch für ihn diese Übergangssituation der eigentliche Idealzustand,31 dem es nahe zu kommen gilt. Ist das Eigentum Voraussetzung und zugleich stabilisierendes Moment für den Kontrakt, so müssen ihm Grenzen gesetzt werden, 25 26 27 28

29 30 31

CEuvres completes, Bd. 3, (wie Anm. 20), Livre I, chap, l, S. 351. Ebd., chap. VI, S. 360. Im Discount sur [...] l'inegalite, (wie Anm. 11), S. 176-178, läßt Rousseau die „origine de la societe et des lois" als Resultat einer „guerre perpetuelle" um das Eigentum entstehen. Wie Anm. 20, Livre I, chap.VII, S. 364. Ebd. Ebd. „[...] ce periode du developpement des facultes humaines, tenant un juste milieu entre l'indolence de l'ötat primitif et la peMante activitö de notre amour propre, dut etre l'dpoque la plus heureuse et la plus durable.", Discours sur [...] l'inegalite, in: (Euvres completes, (wie Anm. 11), S. 173.

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damit die Stabilität des Vertrags erhalten bleibt: es darf niemand anderen gehören, es darf die zur Subsistenz des einzelnen notwendige Größe nicht überschreiten, und es muß bebaut werden.32 Dieses auf agrarischer Grundlage gedachte Kontraktmodell, das zunächst von der konkreten Herrschaftsform abstrahiert - „le pouvoir peut se transmettre, mais non pas la volonte"33 -, weiß um den ihm inhärenten Grundwiderspruch: „la particuliere tend, par sa nature, aux prefe34 rences, la gonorale ä I'6galit6." In diesem Rahmen kann nicht im einzelnen der Argumentationsgang des Rousseauschen Textes nachgezeichnet werden, der in der Folge mannigfache Abstriche in bezug auf die Applikabilität der von ihm aufgestellten Prinzipien machen wird.35 Was uns hier interessiert, ist der Zusammenhang von utopischem und kontraktualistischem Denken. Saage hat zu Recht darauf hingewiesen, daß Rousseaus ursprünglicher Vertrag die bei Locke getroffene Unterscheidung von Gesellschaftsvertrag und Herrschaftsvertrag nicht nachvollzieht, sondern den Herrschaftsvertrag vom Gesellschaftsvertrag konsumieren läßt.36 Genau dies macht die Nähe Rousseaus zum utopischen Denken aus. Der Berührungspunkt liegt an der Stelle, wo der „ generate" und ihrer Tendenz zur Gleichheit Priorität gegenüber der „tendance aux preferences" eingeräumt wird. Zwar soll die Gleichheit gerade die Freiheit garantieren, jedoch wird die theoretische Konstruktion der materiellen und anthropologischen Zwänge nicht ledig, aus denen heraus sie ihren Konstruktionsantrieb bezog, und tendiert selbst dazu, eine Theorie des Zwangs zu werden. Nichts zeigt dies besser als jene Passage aus dem vierten Kapitel des zweiten Buchs - „Des bomes du pouvoir souverain" -, wo mögliche Divergenzen zwischen Einzel- und Gesamtinteresse verhandelt werden. Jeder Akt der „ generate", heißt es da, verpflichte und begünstige gleichermaßen alle „citoyens". Er sei eine „convention legitime", weil er aus dem „contrat social" herrühre. Auch sei er eine gerechte Übereinkunft, weil er allen gemeinsam sei. Er sei nützlich, weil er kein anderes Ziel habe als das Allgemeinwohl (bien general), und er sei stabil, weil er als Garanten die „force publique" im Rücken habe.37 Das zirkelschlüssige Verfahren dient evidenterweise dem Ziel der Abschottung staatlichen Handelns gegen divergierende Interessen der Privatleute. Aus der durchaus gesehenen Möglichkeit von sozialem Dissens, der aus der „volonte particuliere" und dem nicht gelösten Widerspruch von „penchants" und „raison" resultieren kann, wird die Notwendigkeit, diesen Dissens mit staatlichen Zwangsmitteln zu unterbinden.

3

2 Wie Anm. 20, Livre I, chap. IX, S. 366. Ebd., Livre II, chap. I, S.368. 34 Ebd. 35 So wird die Ausdifferenzierung des Eigentums ebenso in Rechnung gezogen und toleriert, wie z.B. etwa die Wahlaristokratie als die beste Regierungsform erscheint. 36 Wie Anm. 6, S. 62-63. 37 Wie Anm. 20, Livre II, S. 374. 33

Utopie, Naturzustand und Vertragsdenken bei Rousseau

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Das Freiheitsmodell schlägt um in ein egalisierendes bzw. egalitäres Modell: Der Kontrakt mutiert tendenziell zur Utopie. Dies in mehrfacher Hinsicht:3* - Die Herrschaftsform der volonte g6nerale ist, ähnlich wie die Utopie, ein allen und auch den zeitgenösssischen Herrschaftsformen idealiter entgegengesetztes Konstrukt. - Der das Modell legitimierende Naturzustand ähnelt einer regressiven Uchronie.*» - Wie in den Utopien ist die jeweilige Form der Herrschaftsausübung relativ gleichgültig. - Das Privateigentum ist so begrenzt, daß es utopiekonform bleiben kann. - Der Text scheint wie die Utopie, e"tat civil und etat politique einzuebnen40 bzw. dem etat politique den Vorrang einzuräumen. - Schließlich läßt sich auch die Notwendigkeit einer kohäsionsstiftenden Staatsreligion, mit welcher der Text schließt und wodurch alle vorherigen historischen und pragmatischen Relativierungen gleichsam zurückgenommen werden, der Utopie zuordnen. Nimmt man nun umgekehrt die Perspektive des Kontraktualismus ein, lassen sich jedoch andere Übergänge ausmachen bzw. z.T. markante Unterschiede zur Gattung der Utopie festhalten: - Die in die Konstruktion des Naturzustands eingelassene anthropologische Figur des Hangs, das Eigentum zu erweitem, entspricht nicht dem statischen Menschenbild der Utopie. - Ferner liegt dem Text ein geschichtsphilosophisches Entwicklungsmodell zugrunde, das die Utopie so nicht kennt.41 - Dieses Entwicklungsmodell führt scheinbar zur regressen Utopie des Naturzustands zurück, als politische Theorie impliziert es jedoch Handeln in die Zukunft. - Dies gilt auch für die soziale Seite des Gesellschaftsvertrags, die, wird sie auf die Gegenwart bezogen, Eingriffe in die Sozialstruktur und in Wirtschaftsabläufe mindest nicht ausschließt.42 - Schließlich läßt sich der Versuch der Einebnung von otat civil und e"tat politique umgekehrt auch für den Kontraktualismus verbuchen, denn gerade beider Trennung bleibt die zentrale Problemachse, um die Rousseaus Denken kreist. 38 39 40 41 42

Bei der Typologie der Utopie folge ich Funke, (wie Anm. 9). Im Blick auf die zeitliche Rückverlagerung anstelle der in Louis Sebastien Merciers Vorverlagerung in L 'an 2240. Wie im übrigen der Feudalismus. Auch nicht die Uchronie Merciers, deren Verlagerung des Idealzustands in die Zukunft über den Kunstgriff nicht hinauskommt. Vgl. bereits die drohende Geste im Schlußsatz des zweiten Discours: „[...] il est manifestement contre la loi de la nature [...] qu'une poignöe de gens regorge de superfluitos, tandisque la multitude affamoe manque du nocessaire." - Vgl. ebenso die Wirkung Rousseaus in der Politik der Jakobiner während der Revolution.

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V. Wir haben es also bei Rousseau mit einem Denksystem zu tun, das zwischen utopischem und kontraktualistischem Denken steht. Zwischen beiden Denkformen vermitteln die Konstruktion des Naturzustands und dessen anthropologische und soziale Setzungen. Blickt man zurück auf die These von einem sich Aufeinanderzubewegen von Utopie und Kontraktualismus, so kann Rousseau nur bedingt für eine solche typologisierende Sicht reklamiert werden. Die Nouvelle Helo'fse zeigt keine Politisierung des Utopischen, sondern dessen Naturalisierung.43 Diese Naturalisierung erfolgt mittels der Verlagerung des utopischen Entwurfs in die Privatsphäre, schließt also auch die im „roman politique"44 übliche Fiktionalisierung des Politischen aus. Damit entbehrt der Text auch der präventiven bzw. punitiven Gesetzgebung, welche die Gattung, auch jene des Gefährdungstyps, charakterisiert. Die Kontrollmechanismen in Ciarens gelten nur für das Gesinde, nicht jedoch für die „egaux", welche die Affektkontrolle bzw. die für die Idealgesellschaft notwendige Einheit von Vernunft, Tugend und Gefühl gleichsam selbst leisten sollen. Mit diesem mentalen Gepäck wären sie im übrigen ideale Citoyens. Da das Hineinholen dieser, dem Naturzustand aus dem zweiten Discours nachempfundenen Konstruktion scheitert, bedarf es einer politischen Verfassung, die auch die notwendigen Zwangsmittel bereithält, um die Übereinstimmung von Privatmann und Staatsbürger zu sichern. Insofern ist der Control social eine Konsequenz aus der Aporie der Nouvelle Helo'ise.45 Er knüpft wiederum an den Naturzustand an, schließt jedoch nun in dessen Konstruktion die Institution der volonte generate ein, welche die ideale soci€te civile von möglichst autark operierenden Kleineigentümern, wenn nötig auch mit Gewalt, garantieren soll. Hierin unterscheidet sich der Text auch von der ,Normalform' des Kontraktualismus, indem er die Subsumtion des Herrschaftsvertrags unter den Gesellschaftsvertrag, d.h. im Zweifelsfall die absolute Einschränkung der individuellen Freiheit einschließt. Zugleich hat dieser Kontraktualismus durch seinen Egalitarismus im Namen der Freiheit aber eine revolutionäre Sprengkraft, die der Kontraktualismus so nicht kennt.46 Die aus der Naturzustandskonstruktion bezogene politische Dynamik des Rousseauschen Gesellschaftsvertrags als Beleg für eine Utopisierung des kontraktualistischen Denkens heranzuziehen, kann also eine gewisse Plausibilität für sich

43 \vo Voltaire die Utopie im Namen einer Anthropologie der Differenz ablehnte - mit dem Argument, in Eldorado wären sie nur wie anderen, begründet Candide gegenüber seinem Diener die Rückkehr in die societe civile -, da kritisiert Rousseau die soci£t£ civile, da sie das Projekt der freien Gleichen nicht zuläßt. 44 So lautet die übliche Gattungsbezeichnung für die Utopie im 18. Jahrhundert. 45 Liest man die Nouvelle Helo'fse als Präludium zum Gesellschaftsvertrag, so stellt sie sich zugleich wie ein Versuch dar, fiktional einzuholen, was theoretisch in den beiden ersten Discours nicht gelang. 46 Vgl. Anmerkung 42.

Utopie, Naturzustand und Vertragsdenken bei Rousseau

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beanspruchen, jedoch läßt sich umgekehrt die Utopie in der Nouvelle Helo'ise nicht für eine Politisierung des Utopischen unmittelbar verbuchen. Vielmehr hängen Utopie und Kontrakt, über den Naturzustand vermittelt, bei Rousseau direkt zusammen. Sowohl der literarische wie der politiktheoretische Text sind Ausfluß eines regressiv utopischen Denkens, das als Kritik auf die societe civile der Gegenwart zielt und sich in der Abfolge der beiden hier verhandelten Texte vom Privatraum ins Politische wendet. Naturalisierung des Utopischen und Utopisierung des Kontraktualismus sind bei Rousseau zwei Seiten einer Medaille. Relativierend bleibt abschließend anzumerken, daß nicht nur in die Nouvelle Helo'ise, sondern auch in den Contrat social Skepsis eingelagert ist. Wenn es an einer Stelle paradoxerweise heißt, daß gegenüber allen Gesetzen bzw. Formen des Rechts (Staatsrecht, Zivilrecht, Strafrecht) den „moeurs" und der „opinion" in letzter Instanz die größere Bedeutung zukomme,47 so scheint auch das Vertrauen, der sociote civile mit politischen Mitteln beizukommen, merklich eingeschränkt. Es bleiben also scheinbar alle Fragen offen bzw. es ist wieder von vorne zu beginnen. Dies unternimmt die dritte Hauptschrift, der Emile, der die Schaffung eines neuen Menschen prospektiert, ein Text, der in seinem systematischen Teil, nach Rousseaus Worten, wiederum nichts anderes sein will als die Reproduktion der „marche de la nature".48

47 48

Wie Anm. 20, Livre II, S. 394. Jean-Jacques Rousseau, Emile ou de education [1762]. Paris 1969 (Folio/Essais 281), Preface, S. 78. - In einem nachgelassenen Romanfragment Emile et Sophie zerstört die Stadt die Liebe des Idealpaars. In unserer Lesart des Gesamtwerks als einer Versuchsanordnung, in der das Altemieren von Philosophie und Narration Erkenntnissteigerung abbildet, wäre das Belassen im Fragment nur folgerichtig, da es nur eine Wiederholung der Nouvelle Heloise bei verlagertem Terrain bedeutet hätte. Wo auch die Erziehung scheitert, tritt schließlich in den Confessions an die Stelle des künftigen neuen Menschen die Vergangenheit eines als einzigartig vorgestellten Subjekts.

HUBERTUS GÜNTHER (Zürich)

Kult der Primitivität im Klassizismus

Einleitung Dieser Beitrag ging von dem Wunsch aus, bei der Betrachtung des utopischen Denkens Rousseau und seine Auswirkungen zu berücksichtigen.' Das Thema wird hier ausgeweitet, um die breite geistige Strömung, zu der Rousseau gehörte, in ihren diversen Aspekten aus der Warte der Kunstgeschichte zu betrachten. Demnach hätte der Beitrag auch einen Titel wie „Die Betrachtung des Naturzustands als Ideal im Klassizismus" tragen können. So wäre er dem utopischen Denken, dem unser Kongreß gewidmet ist, näher gekommen. Aber die Betrachtung der Natur als Ideal ist für das 18. Jahrhundert nicht besonders charakteristisch. Sie hat eine uralte, immer wieder belebte Tradition. Herkömmlich war die Idealisierung der Gesetzmäßigkeit, die in der Natur vorgegeben schien, das natürliche Ebenmaß. Sie war schon im Mittelalter und in der Renaissance die Norm, und sie blieb auch bis Ende des 18. Jahrhunderts bestimmend, jedenfalls dort, wo die Akademien den Ton angaben. Besonders charakteristisch für das 18. Jahrhundert erscheint dagegen ein neu erwachsendes Interesse für Primitivität. Eine wahre Begeisterung für Primitivität blühte damals vielfach auf. Sie wirkt im Rahmen der höfisch verfeinerten Kultur des Rokoko und des Rationalismus der Aufklärung etwas exaltiert. Darum wird hier vom „Kult der Primitivität" gesprochen. In der Kunstgeschichte werden die Werke, die Auswirkungen dieser Geistesströmung zeigen, als „klassizistisch" bezeichnet. Die Kunstgeschichte kennt nur die beiden Antipoden Spätbarock/Rokoko und Klassizismus. Der „Sturm und Drang", dem die Literaturwissenschaften ein Eigenleben gönnen, fällt hier mit dem Klassizismus zusammen. Im übrigen bildet der vorliegende Beitrag nur eine Gedankenskizze. Auch wenn wir 1

Literatur zum Thema allgemein: Lovejoy, Arthur Oncken/Boas, George, Primitivism and related ideas in antiquity. Baltimore 1935; Boas, George, Essays on primitivism and related ideas in the Middle Ages. Baltimore 1948; Lovejoy, Arthur Oncken, Essays in the history of ideas. Baltimore 1948; Bury, John Bagnell, The idea of progress. New York 1932; Rubel, Maximilien, Savage and barbarian. Historical attitudes in the criticism of Homer and Ossian in Britain, 1760-1800. Verhandelingen der K. Nederlandse Akademie van Wetenschappen. Amsterdam 1978; Rosenblum, Robert, Transformations in late J8th century art. Princeton 1967/1969/1974; Primitivisme et Mythes des Origines dans la France des Lumieres 16801820. Colloque tenu en Sorbonne les 24 et 25 mai 1988, textes rounis par Chantal Groll. Paris 1989, darin, S. 35—46: Michel, Christian, L'argument des origmes dans les theories des arts en France ä l'opoque des Lumieres; Connelly, Frances S., The sleep of reason. Primitivism in modern european art and aesthetics, 1724-1907. Pennsylvania 1995; Schama, Simon, Der Traum von der Wildnis. Naturals Imagination. München 1996.

Kult der Primitivität im Klassizismus

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uns allein auf die kunsthistorisch relevanten Aspekte konzentrieren, ist unser Thema weitläufig genug, um ein voluminöses Buch damit zu füllen. Um das breite Spektrum wenigstens andeuten zu können, muß ich die Materie schlagwortartig bündeln auf Kosten von Einschränkungen und Relativierungen, die an vielen Stellen nötig wären.

Ausgangspunkt: Rousseau Wir gehen, wie zu erwarten, von Jean-Jacques Rousseau aus und halten uns, wie es in unserem Kontext üblich ist, hauptsächlich an seinen Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen.2 Allerdings betrachten wir ihn weniger aus philosophischer Warte, als im Hinblick auf die Kunstgeschichte. 1754 stellte die Academic von Dijon für den Prix de morale die Frage, wodurch die Ungleichheit unter den Menschen begründet und ob sie durch das Naturgesetz autorisiert sei. Rousseau verfaßte seinen Diskurs als Antwort darauf. Im Unterschied zu fast allen anderen Bewerbern formulierte er die These: Die Ungleichheit widerspricht diametral dem Naturgesetz. Die Begründung liefert er im Sinn der Aufklärung, indem er induktiv vorgeht: Er will nicht spekulieren wie nach seiner Meinung bisher die Wissenschaftler, „die uns den Menschen so zu sehen lehren, wie sie ihn selbst gemacht haben".3 Er will die Evolution der Menschheit nachvollziehen, beginnend im Naturzustand und nacheinander die folgenden Stufen der Entwicklung betrachtend, um so zu demonstrieren, wie es zu der widernatürlichen Situation kam, daß die Starken die Schwachen unterdrücken. Rousseaus Ausgangspunkt, der ursprüngliche Zustand des Menschen, ist gewissermaßen natürlich ideal, in dem Sinne, daß er dem Menschen seiner Natur nach am angemessensten ist. Im Lauf der Zeit wachsen dem Menschen schrittweise die kulturellen Errungenschaften zu: von der Ausbildung der Vernunft und Reflexion bis zur Entwicklung von Philosophie und Wissenschaften, dazwischen kommen zunächst Handwerk und dann Ackerbau auf und infolge des Ackerbaus viele gesellschaftliche Bindungen, Gesetze, Eigentum, schließlich Luxusbedürfnis etc. Diese Entwicklung wertet Rousseau als einen Abstieg des Menschen. An die Stelle des geistig und seelisch ungebundenen Individuums, das die Natur geschaffen hat, tritt der unfreie Mensch: die Schwachen, die von den Starken unterdrückt werden, und die Starken, die von ihren Bedürfnissen abhängen.

Vgl. das Vorwort zu: Rousseau, Jean-Jacques, Diskurs über die Ungleichheit!Discours sur iinegalite. Kritische Edition Heinrich Meier. Paderborn 1997. Siehe auch: Gliozzi, Giuliano, Rousseau: mythe du bon sauvage ou critique du mythe des origines?, in: Primitivisme et mythes des origines dans la France des Lumieres 1680-1820, (wie Anm. 1), S. 193-204. Rousseau, (wie Anm. 2), S. 57 (Vorwort).

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Diese Entwicklungstheorie hat eine klassische Tradition, die über die Zeiten hinweg berühmt blieb: die Lehre von den Zeitaltern, wie sie besonders Hesiod und Ovid gefaßt haben. Sie konstruiert einen ähnlichen Ablauf wie Rousseau und enthält einen ähnlichen kulturpessimistischen Tenor: Am Anfang war das Goldene Zeitalter, mit paradiesischen Zügen, ideal und frei von Problemen, dann folgt der Abstieg durch Selbstsucht, Habgier, Krieg etc. Das vorletzte Zeitalter, das „Heroische", war zwar kriegerisch und grausam, verdiente aber immer noch Bewunderung wegen seines Heroismus. Es war die Zeit der großen mythischen Helden, des Herkules, der Argonauten, der mörderischen Medea ebenso wie des herrlichen Sängers Orpheus. Das eigene Zeitalter hat den Menschen durch die Zivilisation verdorben und ihm seine Freiheit genommen. Klassizistisch an Rousseaus Haltung ist das Anknüpfen an die klassische Tradition. Die klassische Tradition verbindet Rousseau mit einer Untersuchung des Mythos im Geist der Aufklärung: Der Mythos wird nicht durch philosophische Spekulation außer Kraft gesetzt (wie bei Voltaire), sondern bestätigt durch den Vergleich mit solchen Völkern, die dem Urzustand nahekommen. Rousseau kannte solche Völker nicht aus eigener Anschauung. Er profitierte von Reiseberichten und dergleichen. Die üblichen Schriften dieser Art waren großteils von persönlichen Vorurteilen gefärbt, anekdotisch ausgeschmückt oder eingebettet in Diskurse, die sich weit von Rousseaus Denken entfernen, wie etwa die verbreiteten Abhandlungen über die Frage, ob Neger Menschen sein könnten oder eher zu einer Zwischenstufe zwischen Mensch und Tier gehörten. Immerhin, auch Rousseau unterscheidet zwischen Negern und den Wilden, die als Vorläufer der zivilisierten Menschheit gelten können. Wichtig für Rousseau waren besonders die avantgardistischen Schriften, die zur Wissenschaft der Ethnologie hinführten, die begannen, die Naturvölker systematisch zu untersuchen, die anstrebten, in vergleichenden Beobachtungen die Merkmale zusammenzustellen, die für Naturvölker charakteristisch sind, wie besonders Joseph-Fran9ois Lafitaus Sitten der amerikanischen Wilden im Vergleich zu den Sitten der Frühzeit, die erstmals 1724 in Paris erschienen und 1752/53 in deutscher Übersetzung.4 Die Verbindung der mythischen Entwicklungslehre mit der objektivierten Betrachtung der Verhälnisse bei primitiven Völkern war bis zu einem gewissen Maße vorgebildet durch den Neapolitanischen Philosophen Giovanni Battista Vico. In seinem Hauptwerk Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker (1. Aufl. 1725, bis 1744 überarbeitet)5 postulierte Vico einen Lafitau, Joseph-Francois, Mceurs des sauvages americains comparees aux maeurs des premiers temps [Paris 1724]. Komm. Leipzig 1987 [= Reprint der dt. Ed. von 1752/53]. Komment, engl. Übers. William N. Fenton/Elizabeth L. Moore. Toronto 1974. Vico, Giambattista, Prindpi di una scienza nuova d'intorno alia communa natura delle nazioni. Neapel 1725/1744. Neuere Ausgaben: Vico, Giambattista, Opere hg. v. Fausto Nicolini. Mailand/Neapel 1953. Dt. komm. Übers. Vittorio Hösle/Christoph Jermann. Hamburg 1990.

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typischen Ablauf der Geschichte vom barbarischen Zeitalter durch Verfeinerung in ein humanes, das allmählich moralisch absteigt und seine Lebenskraft verliert. Um dies zu belegen, wertete er die verschiedensten Zeugnisse für frühe Kulturen aus: die Bibel, Homer, römische Berichte über die Frühgeschichte Roms wie über die Germanen und Gallier oder Reiseberichte aus der Neuen Welt. Nach Rousseau war der ursprüngliche Mensch mit Selbsterhaltungstrieb und Mitleid ausgestattet. Er lebte in der Weise, daß die Sorge um die eigene Erhaltung für die Erhaltung der anderen am wenigsten abträglich war. Er war ohne Sprache, ohne Reflexion, ohne Wissen um Gut und Böse und daher unfähig, Böses oder Gutes zu tun. Er hatte keinerlei Bindung, nicht an Familie und Gesellschaft und besonders nicht an Eigentum. Eigentum bildet für Rousseau den Anfang allen Übels, weil es nach seiner Meinung zu Selbstsucht führt. Wichtig für Rousseau ist auch, daß es keine Gesetze gab, denn Gesetze erzeugen nach seiner Meinung schlechte Regungen, weil sie das natürliche Genie knebeln. Besonders im Roman Emil oder über die Erziehung (1762) legt Rousseau dar, daß die Erziehung den heranwachsenden Menschen nicht unter Gesetze zwingen sollte, sondern erst dann seinem Wesen gerecht wird, wenn sie das natürliche Genie fördert. Das vertrat um die gleiche Zeit auch Johann Heinrich Pestalozzi, der eine ähnliche Entwicklung der Menschheit wie sein Landsmann Rousseau annahm. Insgesamt lebten die Menschen im Urzustand nach Rousseau ohne Kampf in Frieden, völlig ungebunden und frei. Die Urphase der Menschheit ist ein Konstrukt, das in Analogie zum Mythos von den Zeitaltern geprägt ist. Dahinter stand eine neue Wertung des Mythos als einer primitiven Form des Ausdrucks, die der Natur noch näher steht als die rationale Geschichtsschreibung und entsprechend ernst zu nehmen ist. Diese Sicht vertrat auch Vico. Die zweite Phase der Menschheit verkörpern die Wilden. Die Eingeborenen der Neuen Länder in Übersee zeigten für Rousseau noch diesen Zustand, zwar teilweise durch die Europäer schon verfälscht, aber noch rein genug, um die Nähe zur Natur erkennen zu lassen. Die Wilden, so wie sie sich Rousseau nach dem einschlägigen Schrifttum vorstellte, verfügen bereits über eine Sprache und primitives Handwerk; aber Ackerbau kennen sie noch nicht, überhaupt ist ihnen kontinuierliche Arbeit fremd, sie sind nicht seßhaft. Sie sind Hirten und Jäger. Erste soziale Bindungen an Familie und Stämme zeichnen sich ab. Aber bestimmend ist immer noch der einzelne für sich, ohne angewiesen zu sein auf die Hilfe anderer. Er ist unabhängig von überflüssigen Bedürfnissen. Seine Kleidung ist einfach, soweit er sich überhaupt bekleidet; als Unterkunft reichen ihm einfache Hütten aus Zweigen. Er lebt in Müßiggang, Gelassenheit und Freiheit. Allerdings ist dieses Leben nicht idyllisch. Der Wilde ist leidenschaftlich, rauh und grob, grausam und kriegerisch, eben wild. Er gleicht den Heroen des Heroischen Zeitalters. Entsprechende Vergleiche mit der antiken Mythologie läßt Rousseau auch fallen.

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Diese primitive Phase behandelt Rousseau am ausführlichsten. In ihr sieht er den glücklichsten Zustand der Menschen. Jede weitere Entwicklung hält er für ein Unglück. Trotz erster Verluste an Natürlichkeit, sagt er, muß diese Periode der Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten, da sie die rechte Mitte zwischen der Indolenz des anfänglichen Zustands und der ungestümen Aktivität unserer Eigenliebe hielt, so die glücklichste und dauerhafteste Epoche gewesen sein. Je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr findet man, daß dieser Zustand [...] der beste für den Menschen war und daß der Mensch nur auf Grund irgendeines unheilvollen Zufalls aus ihm herausgetreten sein muß.6

Rousseau bleibt jetzt nicht beim Mythos, sondern konkretisiert den primitiven Zustand des Menschen durch die überseeischen Wilden bzw. durch deren vergleichende Untersuchungen im Stil Lafitaus. Ideal, um den Zustand der primitiven Hirten und Jäger zu erkennen, waren für Rousseau besonders die Indianer Nordamerikas und die Südseeinsulaner. Bei ihnen fand er eben die Eigenschaften und Verhaltensmuster, die oben aufgezählt wurden. Nicht nur die einzelnen Gebräuche konnte er Lafitau entnehmen, sondern auch bereits die Idealisierung der Wilden. Die überseeischen Eingeborenen werden für Rousseau zum idealen natürlichen Gegenstück der Europäer: Welch ein Schauspiel muß die mühevolle und begehrte Arbeit eines europäischen Ministers für einen Kariben sein [...] Der Wilde lebt in sich selbst, der soziable Mensch weiß, immer außer sich, nur in der Meinung der anderen zu leben [...] wie wir, da wir immer die anderen fragen, was wir sind, und es niemals wagen, mit uns selbst hierüber zu Rate zu gehen, inmitten von so viel Philosophie, Humanität, Höflichkeit und erhabenen Maximen nichts als ein trügerisches und wertloses Äußeres haben: Ehre ohne Tugend, Vernunft ohne Weisheit und Vergnügen ohne Glück.7

Und: Das Beispiel der Wilden [...] scheint zu bestätigen, daß das Menschengeschlecht dazu bestimmt war, für immer in ihm [diesem Zustand der Entwicklung] zu verbleiben; daß dieser Zustand die wahrhafte Jugend der Welt ist; und daß alle späteren Fortschritte dem Scheine nach ebenso viele Schritte hin zur Vollendung des Individuums und in Wirklichkeit zum Verfall der Art gewesen sind."

Die Wilden in der Kunst Bilder von Wilden im Sinn Rousseaus, abgesehen von Illustrationen einschlägiger Bücher, kennt man schon in der Renaissance und dann bei den Niederländern des 17. Jahrhunderts. Dort wird, kurz gesagt, entweder in abstrakten allegorischen Zuft 7 8

Rousseau, (wie Anm. 2), S. 193f, vgl. auch S. 375ff. Ders., ebd., S. 269. Ders., ebd., S. 195.

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sammenhängen die Spezies durch charakteristische Attribute gekennzeichnet oder ihr Milieu naturalistisch geschildert. Der Klassizismus bringt die Idealisierung des Wilden hinzu, speziell des nordamerikanischen Indianers.9 Der amerikanische Maler Benjamin West, der nach England übersiedelte, stellte mehrfach Indianer dar. Meist fügt er sie paradigmatisch in Bilder der amerikanischen Geschichte ein. Seine früheste Darstellung von Indianern, „Abschied des Kriegers von seiner Familie" (siehe Abb. 1), folgt bei allem Realismus im Detail einer rein idealen Konzeption.10 Sie wirkt wie eine individuell amerikanische Antwort auf die Begegnung mit dem Klassizismus in Rom. 1760 kam West nach Rom und begegnete dort den Hauptmeistern der neuen Stilrichtung (Gavin Hamilton, Anton Raffael Mengs, Pompeo Battoni). Sein Bild orientiert sich offenkundig an klassischen Vorbildern. Das Sujet ist abgeleitet von damals beliebten Darstellungen aus dem Bereich der klassischen Geschichte wie „Hektors Abschied von Andromache". Die Gegenüberstellung des Mannes, der mutig in den Kampf geht, als Inbegriff des Heros, und der Frau, die mit dem Kind daheim bleibt, als Ausdruck des Gefühls von Furcht und Trauer, stammt von der dort üblichen programmatischen Disposition. Die edle Gestalt des Wilden in diesem wie auch in den folgenden Gemälden Wests gleicht klassischen Bildwerken. Ein berühmtes Beispiel für die romantische Idealisierung der Wilden bildet „The Indian Widow", die Joseph Wright of Derby um 1785 malte (siehe Abb. 2).11 Wright verkehrte in Kreisen, die Rousseau intellektuell nahestanden. Zu seinen Freunden gehörte Brooke Boothby, der Rousseau tatkräftig förderte. Wright stellt die indianische Witwe in edlem Habitus trauernd unter einem Baum sitzend dar, an dem die Waffen ihres gefallenen Gemahls, muß man wohl im Angesicht der heroi9

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Pearce, Roy, The savages of America. A study of the Indian and the idea of civilisation. Baltimore 1953; Bömer, Karl-Heinz, Auf der Suche nach dem irdischen Paradies. Zur Ikonographie der geographischen Utopie. Frankfurt/M. 1984; The noble savage. The american Indian in art. Ausstellungskatalog. Philadelphia 1958; Honour, Hugh, The new golden land: European images of America from the discoveries to the present time. New York 1976; Bitterli, Urs, Die ,Wilden' und die ,Zivilisierten\ Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. München 1976/1991; Bissei, Benjamin, The american Indian in the english literature of the 18th century. New Haven 1968; Chinard, Gilbert, L'Amerique et le reve exotique dans la litterature francaise au XVIle et au XVIIle siede. Paris 1913/Genf 1970; Bissel, Benjamin, The american Indian in the english literature of the 18th century. New Haven 1968; Y. Eriksson Gasser arbeitet derzeit bei mir an einer Dissertation über die Indianer im Spiegel der britischen Malerei des 18. Jahrhunderts. Die Gespräche mit Frau Gasser und ihre abgeschlossene Lizentiatsarbeit zum gleichen Thema haben mich seit langem auf das hier behandelte Thema eingestimmt. Honour, Hugh, Benjamin West's .Indian Family', in: Burlington Magazine CXXV (1983) S. 726-733. Alberts, Robert C, Benjamin West. A biography. Boston 1978, S. 39-40, 50. Erffa, Helmut von/Staley, Allen, The paintings of Benjamin West. New Haven/London 1986, S. 420f. Nicolson, Benedict, Joseph Wright of Derby. London/New York 1968. Bd. I, S. 65, 148 , 247. Bd. II, Nr. 243; ders., Two companion peaces by Wright of Derby, in: Berlington Magazine CIV (1962), S. 113-117. Wright of Derby. Ausstellungskatalog. Paris/London 1990, S. 144f.

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Abb. l:

Hubertus Günther

Benjamin West, Ein wilder Krieger nimmt Abschied von seiner Familie. Royal College of Surgeons of England, London

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Abb. 2:

Joseph Wright of Derby, Die indianische Witwe. Derby Museum and Art Gallery, Derby

sehen Atmosphäre des Bildes respektvoll sagen, aufgehängt sind, ein natürliches Tropeion. Eine dichte elegische Stimmung liegt über der weiten Landschaft. Sie wirkt, ähnlich den Werken C. D. Friedrichs, wie eine symbolische Vision der Natur. Die ganze Disposition des Bildes erinnert an zeitgenössische Darstellungen des Sängers Ossian aus der nordeuropäischen Urgeschichte. Allerdings hat Wright einen Vulkan in der Art des Vesuv eingefügt, um der Szene wenigstens einen Anklang an südliches Flair zu verleihen, wie es zur Nacktheit der Indianer paßt. Trotz aller Idealisierung bleibt die Szene nicht unrealistisch vage, sondern nimmt konkret Bezug auf einen Ritus der Indianer Nordamerikas, und die Akzessiores entsprechen der indianischen Realität. In der ersten Ausstellung des Bildes wurde das alles ausführlich erklärt. Der gehobene ethische Anspruch wird ohne viele Worte daran deutlich, in welcher Umgebung Wright das Bild präsentieren wollte: Ursprünglich sollte es zwischen einer „Penelope" und der „Corinthian Maiden" hängen, also zwischen zwei mythischen Frauen der griechischen Frühzeit: der Gemahlin des auf fernen Meeren umherirrenden Odysseus und der Dibutade, die ihren Geliebten im Bild festhält, bevor er Abschied nehmen muß. Schließlich

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Hubertus Günther

erhielt es ein romantisches Gegenstück: „The Lady in Milton's Comus", eine edle Jungfrau herumirrend durch wilden Wald auf der Suche nach ihren Brüdern, die Milton in einem pastoralen Drama besingt. Mit Ausnahme von West gaben die Indianer allerdings nur selten Sujets in der Malerei des 18. Jahrhunderts ab. Der Roman Atala, die bewegte und bewegende Liebesgeschichte eines Indianers mit einer christianisierten Indianerin, die Francois Rene de Chateaubriand 1801 verfaßte, lieferte zu Beginn des 19. Jahrhunderts oft Sujets für die Malerei, nicht nur für Salonbilder, sondern auch für den Dekor von Geschirr oder Pendülen. Das bekannteste Beispiel schuf Anne-Louis Girodet, ein wahrer Meister ausgefallener modischer Sujets, mit dem „Begräbnis der Atala" (1808), dem Girodets Lehrer David trotz der Differenzen zu seinem eigenen Stil hohes Lob spendete und das sogleich für die Kaiserin Josephine wiederholt werden mußte.12 Die Indianerin Hegt im Tod romantisch mit Mondschein übergössen fast so, wie Girodet Endymion, den Geliebten der Diana, im ewigen Schlaf darstellte (1791), während der Geliebte die ideale Schönheit der klassischen Heroen annimmt. Die Komposition ging wohl aus einem Entwurf für ein ossianisches Bild hervor: „Comala stirbt in den Armen ihres Geliebten Fingal". Die Stilisierung mit romantischen und klassischen Motiven ist schon bei Chateaubriand vorgebildet. Die Idealisierung der Indianer, die solche Bilder zeigen, bestätigen, wie weit die Vorstellungen verbreitet waren, die Rousseau vertrat. Unten wird behandelt, daß es seinerzeit sogar üblich war, die Indianer in Parallele mit den klassischen Griechen zu setzen.

Barbaren Die nächste Stufe des Abstiegs der Menschheit bezeichnen nach Rousseau die Barbaren. Rousseau behandelt diese Spezies nicht gesondert, erwähnt sie aber immer wieder.13 Zwar sind die Barbaren bereits zu Völkern zusammengeschlossen und sind mit weiteren primitiven Errungenschaften der Zivilisation geschlagen, aber in vieler Hinsicht sind sie noch den Wilden verwandt. Pestalozzi zählte die Barbaren wie die Wilden ausdrücklich zu den „Naturmenschen", den Menschen, deren Verhalten noch hauptsächlich von den Gesetzen der Natur bestimmt werde.14 Rousseau bezieht sich auf die Barbaren besonders um zu beweisen, welchen unbezähmbaren Freiheitsdrang der Mensch von Natur aus gehabt haben soll. Speziell die Barbaren der Völkerwanderung demonstrieren für ihn die Kraft, die natürliche

12 1J 14

Girodet 1767-1824. Austellungskatalog Musde de Montargis 1967, Nr. 38. Bemier, Georgs, Anne-Umis Girodet 1767-1824. Paris 1975, S. 132ff. Rousseau, (wie Anm. 2), S. 197, 231, 317ff. Pestalozzi, Johann-Heinrich, Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechtes [1780]. Bad Heilbrunn 1968, S. 56.

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Wildheit hervorbringt. Das viel behandelte Problem, aus welchen Gründen das Römische Imperium trotz seiner hoch entwickelten Zivilisation unterging, löst sich für ihn durch seine Entwicklungstheorie. Die ursprüngliche Kraft der Barbaren vermochte letztlich mehr als die technischen Mittel der denaturierten Römer. Das Paradigma für Barbaren in der europäischen Geschichte bilden die Germanen. Die antiken Berichte über sie, Caesars De bello gallico und vor allem Tacitus' Germania, sind im wesentlichen ähnlich realistisch wie Reiseberichte aus der Neuen Welt im 18. Jahrhundert. Tacitus idealisiert die Germanen etwas, aber nicht mehr als manche Reiseberichte der Aufklärung die überseeischen Eingeborenen. Wie derartige Reiseberichte streicht Tacitus die natürlichen Tugenden der Urvölker heraus als Exempel für seine Leser in Rom, die ihm inzwischen durch die Zivilisation verdorben scheinen. Tacitus charakterisiert die Germanen in vieler Hinsicht ähnlich, wie die Indianer geschildert wurden. So ähnlich, daß der niederländische Gelehrte Hugo Grotius 1643 ein Buch verfaßte, um, ausgehend von Tacitus, zu beweisen, daß die Indianer von den Germanen abstammten.15 Schon Marc Lescarbot verglich in seinem voluminösen Werk über Amerika (Histoire de la Nouveüe France, 1609) immer wieder die Indianer, ihr Aussehen, ihr Verhalten und ihre Sitten, mit den Germanen, wie sie antike Schriftsteller in Deutschland, Gallien und Britanien geschildert haben. Lescarbots Werk wurde sehr populär: 1613 erlebte es bereits seine 13. Auflage.16 Die Germanen erscheinen bei Tacitus als rauh und grob, streng und grausam, aber herzlich und offen, von ausgelassener Heiterkeit und freigiebig. Besitz macht auf sie keinen Eindruck. Ihre Kleidung ist einfach und natürlich. Sie leben zwar nicht mehr vereinzelt, aber ihre Siedlungen sind klein und weit voneinander abgelegen. Sie wohnen in primitiven Holzhäusern, Tempel bauen sie nicht. Sie verehren ihre Götter in freier Natur, in Hainen. Zwar betreiben sie dürftigen Ackerbau, aber ihnen fehlt noch die Ausdauer zu mühseliger Arbeit. In Müßiggang verbringen sie meist ihre Zeit. Tapferkeit und Freiheitsdang zeichnen sie besonders aus. Als die Germanen lange nach Tacitus ganz Europa eroberten, zerstörten sie, barbarisch und wild, wie sie waren, angeblich alles, was sie fanden. Durch ihren Einfall in das römische Imperium erlosch die Zivilisation für Jahrhunderte, so hieß es jedenfalls allenthalben. Seit Petrarca schlug ihnen deshalb der Haß der Kulturvölker entgegen. Die Humanisten der Renaissance waren sich selbstverständlich

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16

Grotius, Hugo, De origine gentium Americanarum dissertatio. Amsterdam u. Paris 1642. Gliozzi, Giuliano, Adanw e U nuovo numdo. La nascitä dell'antropologia come ideologia coloniale: Dalle genealogie bibliche alle teorie razziali (1500-1700). Florenz 1977, S. 444-454, 555. Vgl. die Edition der umgearbeiteten Auflage von 1617 u. engl. Übers. Biggar, Henry Percival/Grant, William L. Toronto 1907-14 (Reprint 1968).

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einig in der Verachtung der Barbaren, und das Verdikt über die Germanen blieb bis ins 18. Jahrhundert unter wahren Intellektuellen verbindlich.17 Aber im Klassizismus regte sich Interesse für die europäische Frühgeschichte.11* Man nahm die Germanen sogar im offiziellen Rahmen wahr als Teil des eigenen Erbes. Beispielsweise vor dem Haupteingang des Neuen Palais in Potsdam (ab 1763) stehen ein römischer und ein germanischer Krieger offenbar zum Zeichen der beiden Wurzeln der Kultur in Mitteleuropa. Auch zu den primitiven Vorfahren der europäischen Völker, ähnlich wie zu den Wilden in Übersee, setzten empirische Forschungen ein. 1787 bemerkte Rabaut de Saint-Etienne: „jamais on n'(a) fait de plus beaux efforts pour remonter aux peuples antorieurs que ceux qui ont ete faits de nos jours".i9 Man suchte weitere Quellen. Germanische Mythen wurden entdeckt. Schweizer Gelehrte und englische Schöngeister leiteten die Entwicklung ein. Im Zürcher Kreis von Bodmer und Breitinger fand sich das Nibelungenlied (1757). In London publizierte Joseph Strutt gewichtige Werke über die Frühgeschichte Englands und die Kultur seiner Ureinwohner.20 James Macpherson dichtete die Ossianischen Gesänge nach, elegische Balladen von urzeitlichen nordischen Heroen, die er angeblich aus dem Gälischen übersetzte (1760-63).21 Diese Dichtung wurde sogleich in andere europäische Sprachen übersetzt, erstmals schon 1760 ins Französische durch Denis Diderot,22 1762 ins Deutsche. Chateaubriand, der Autor des indianischen Romans Atala, gilt als einer der ersten unter den französischen Ossianern. Von führenden Politikern, wie Jefferson und Napoleon, ist überliefert, wie sehr sie die „Ossianischen Gesänge" bewunderten. Napoleon pflegte sie statt einer Bibel stets bei sich zu tragen. Sie verdrängten im Herzen des jungen Goethe nach eigenem Zeugnis den Homer.23 Turgot fand, daß der Stil der „Ossianischen Gesänge" auf ein Volk von einer so ärmlichen Sprache und von so primitiven Künsten schließen lasse, wie sie auch für die Germanen, die Ureinwoh17

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Stackelberg, Jürgen von, Tacitus in der Romania. Studien zur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich. Tübingen I960; Hay, Denys, Italy and barbarian Europe, in: Italian Renaissance Studies. London 1960, S. 48-68; Borchardt, Frank L., German antiquity in Renaissance myth. Baltimore 1971; Costa, Gustavo, Le antichitä germaniche nella cultura italiana da Machiavelli a Vico. Neapel 1977. Robson-Scott, William Douglas, The literary background of the gothic revival in Germany. Oxfort 1965. See, Klaus von, Deutsche Germanen-Ideologie vom Humanismus bis zur Gegenwart. Frankfurt/M. 1970. Rabaut de Saint-Etienne, Jean Paul, Lettres a Mr. Bailly sur l'histoire primitive de la Grece. Paris 1787, S. 301. Strutt, Joseph, The regal and Ecclesiastical Antiquities of England. London 1773; ders., Horda, Angel-cynnan: or, A compleat view of the Manners, Customs, Arms, Habits etc. of the inhabitants of England from the arrival of the Saxons till the reign of Henry Vlllth. 3 Bde. London 1775-76; ders., The cronicle of England. London 1777-78. Rubel, (wie Anm. 1). Tieghem, Paul van, Ossian en France. Paris 1917. Droixhe, Daniel, Le primitivisme linguistique de Turgot, in: Primitivisme et Mythes, (wie Anm. 1), S. 7 Iff. Goethe, Johann Wolfgang, Die Leiden des jungen Werther (1774), Teil II, Brief vom 12. Oktober 1772.

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ner Amerikas und die biblischen Hebräer charakteristisch seien.24 Klopstock meinte, daß Ossian eher zur deutschen als zur schottischen Kultur gehöre, da die Kelten ursprünglich aus Deutschland stammen würden.25 Mme. de Stael setzte Ossian in Parallele zu Homer als frühestes Zeugnis für nordische und mediterrane Gefühlswelt.26 In die Malerei hielt zunächst die Mythologie der Germanen Einzug. Der Zürcher Maler Johann Heinrich Füßli war der Protagonist dieser Entwicklung (siehe Abb. 3).27 Er bevorzugte auch andere urtümliche, wilde und schreckliche Sujets. So ungewöhnlich wie sein neuer Themenkreis war auch Füßlis Stil. Er zeichnet sich durch einen wild-heroischen Elan aus, der im Ganzen zu dem „barbarischen" Gehalt von Füßlis Sujets paßt. Bei Füßli trafen die Strenge und das Pathos, die den Klassizismus auszeichnen, mit der wüsten Derbheit des Primitiven zusammen. Der junge Füßli verteidigte 1767 in einem engagierten Artikel die grundlegenden Ideen, die Rousseau in seinem Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen dargelegt hatte. Auch dessen Gedanken über die Entwicklung, die zur Ausbildung zu Kunst und Wissenschaften führten, machte er sich zu eigen: Rousseau „stellte den Stammbau der Wissenschaften und Künste auf, zeigte, wie sie auf den Luxus und die Muße gepfropft wurden, diese auf den Reichtum und der Reichtum auf die Ungleichheit".28 Allerdings glaubte Füßli nicht, daß Rousseaus Vorstellungen im praktischen Leben brauchbar seien. Ossian wurde in Deutschland und Dänemark besonders viel illustriert.29 Asmus Jacob Carstens (1754-1798) und Nicolai Abraham Abildgaard (Kopenhagen 1743-1809) machten den Anfang. Auch hier verbindet sich das urzeitliche Sujet mit einem derben, ungelenken Stil. Allerdings fehlen die Gewalttätigkeit und die Verve, die Füßlis Bilder auszeichnen. In der französischen Malerei wurde Ossian gegen Ende des 18. Jahrhunderts populär (Gros 1795, Illustrationen von Girodet 1797). Manche Schüler Davids schätzten Ossian mehr als Homer und die Bibel. Als Grund dafür erklärte Maurice Quai: „il est beaucoup plus vrai, ecoute bien! il

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28 29

Droixhe, (wie Anm. 22), S. 73. Robson-Scott, (wie Anm. 18), S. 38ff. De Stael, Anne-Louise-Germaine, De la litterature consideree dans ses rapports avec les institutions sociales. Paris 1800. Bd. I, S. 11 (De la littorature du Nord). Vgl. neben der Füßli-Monographie von Gert Schiff (Zürich/München 1973) besonders die Kataloge der Füßli-Ausstellungen 1974/75 in Hamburg, London, Paris, die nach Sujets gegliedert sind. Füßli, Johann Heinrich, Remarks on the writings and conduct ofJ. J. Rousseau, hg. u. iibers. v. Eudo C. Mason. Zürich 1962, S. 114. Rosenblum 1974, S. 46ff.; Okun, Henry, Ossian in painting, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes XXX (1967) S. 327-356; Ternois, Daniel, Ossian et les peintres, in: Colloque Ingres. Montauban 1969, S. 165-213; Ossian. Ausstellungskatalog. Paris 1974. Ossian und die Kunst um 1800. Ausstellungskatalog. Hamburg 1974.

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Abb. 3:

Hubertus Günther

Johann Heinrich Fiißli, Thor und die Midgardschlange. Royal Academy of Arts, London

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Abb. 4:

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Jean-Baptiste Isabey, Titelillustration für „Ossians Gesänge". Bibliotheque Nationale, Paris

est plus primitif'.30 Neapoleon ließ für sich vielfach ossianische Sujets malen: Eugene Isabey illustrierte den Titel von Napoleons Exemplar der „Ossianischen Gesänge" (siehe Abb. 4). Girodet und Fran9ois Gerard malten ossianische Bilder für Schloß Malmaison (1801/02), Ingres schmückte Napoleons Schlafzimmer im Quirinalspalast mit „Ossians Traum" (1813). Die mystische Stimmung, die über den Bildern des greisen Barden in der einsamen Wildnis des eisigen Nordens liegt, weist bereits auf die Romantik voraus. Girodet behandelte in seinem Bild für

30

Delocluze, Etienne Jean, Umis David, son ecole et son temps. Paris 1860, S. 428. Levitine, George, The dawn of bohemianism: The Barbu rebellion and primitivism in neoclassical France. Pennsylvania 1978; Michel, (wie Anm. 1), S. 40f.

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Hubertus Günther

Malmaison das Sujet als eine Art von Symbol für die eigene Zeit. Er zeigte, wie Ossian und seine Heroen die französischen Helden empfängt, die während des Freiheitskampfes für das Vaterland starben. Im übrigen verbreitete sich die Historie der europäischen Urvölker erst im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts in der Malerei. Zusammenfassend gilt für sie wie für die Indianer: Sie kamen im Klassizismus als Bildsujet auf, aber sie blieben selten. In einer anderen Kunstgattung gewannen die Germanen für das 18. Jahrhundert allerdings weitreichende Bedeutung: in der Architektur. Die Barbaren, so las man bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein allenthalben, bildeten eine eigene Art von Architektur aus. Sie wurde gotisch nach dem Stamm der Goten genannt, oder auch deutsch, gelegentlich französisch, jedenfalls germanisch.31 Das Epitheton „gotisch" wurde in diversen europäischen Sprachen, im Englischen bis heute, im generellen Sinn von grob, bäurisch, barbarisch, primitiv gebraucht. Über germanische bzw. gotische Architektur stand aus der Sicht der klassischen Architekturgeschichte von der Renaissance bis ins 18. Jahrhundert folgendes fest: Sie war schon da, als die Germanen Rom zu Fall brachten. Sie lebte weiter, im Kern unverändert, bis zum Beginn der Renaissance und bei Unwissenden auch länger. Sie zeichnet sich aus durch barbarischen Dekor, der jedem kultivierten Geschmack widerstrebt. Sie ist oft überwuchert von regellosem Schmuck, Tabernakeln, Fialen und ähnlichem Tand. Ihr Kennzeichen bildet der Spitzbogen. In seiner Regellosigkeit bildete der Spitzbogen ein Paradigma für den barbarischen Charakter der Artefakte, die die Germanen hervorgebracht haben sollen. Der Spitzbogen ging angeblich direkt aus der natürlichen Schutzbehausung der alten Germanen hervor: Er entstand, indem man die Äste von Bäumen oben zusammenband, um ein Dach zu schaffen (siehe Abb. 5).32 Das wurde schon in der Renaissance vertreten und oft im 18. Jahrhundert wiederholt. Im Klassizismus wurde zunehmend herausgestellt, wie deutlich noch gotische Kirchenräume an die Natur bzw. an Wälder erinnern würden.33 Seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts verbreitete sich zunehmend Interesse für den barbarischen Stil.34 Er wurde sogar nachgebaut. Hier ist nicht der Ort, um 31 32

33 34

Frankl, Paul, The Gothic. Literary sources and interpretations through eight centuries. Princeton 1960. Sanzio, Rattaello, Tutti gli scritti, hg. v. Ettore Camesasca. Mailand 1956, S. 56f. Panofsky, Erwin, Das erste Blatt aus dem ,Libro' Giorgio Vasaris. Eine Studie zur Beurteilung der Gotik in der italienischen Renaissance, in: Stadel-Jahrbuch VI (1930), S. 39f. Bernheimer, Richard, Gothic survival and rivival in Bologna, in: The Art Bulletin XXXVI (1954), S. 270-74. Frankl, (wie Anm. 31), S. 275f. Wittkower, Rudolf, Gothic versus classic. London 1974, S. 83ff. Günther, Hubertus, Ein Entwurf Baldassare Peruzzis für ein Architekturtraktat, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte XXVI (1990), S. 137-170, insb. S. I52ff. Frankl, (wie Anm. 31), S. 390f., 444f, 481 ff., 457. Lovejoy, (wie Anm. 1), S. 136-165 (The first gothic revival and the return to nature); Frankl, (wie Anm. 31); Herrmann, Wolfgang, Laugier and J8th cent, french theory. London 1962;

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Abb. 5:

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In gotischer Weise aus Bäumen gebildete Architektur (Eremitage). Paul Decker, Gothic architecture, decorated. London 1759

einen geschlossenen Abriß über die Neugotik geben. Aber in unserem Kontext darf das Thema nicht übergangen werden. Daher wenigstens einige stark pointierte Sätze dazu: Wie auch in anderen Bereichen, aber hier besonders wiesen die Engländer den Weg. John Vanbrugh, berühmt als Schöpfer megalomaner barocker Schlösser und neuartiger Gartenanlagen, brachte zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Mode auf.35 Populär wurde sie durch den Schriftsteller Horace Walpole, der sein Haus bei London als Imitation der Gotik baute (Strawberry Hill, ab 1753). Er machte das Ergebnis durch eine Publikation bekannt und erklärte es. In der gotiMiddleton, Robin, The Abbo de Cordemoy and the graeco-gothic ideal: A prelude to romantic classicism, in: Journal of the Warburg and Courtuuld Institutes XXV (1962), S. 278-320; XXVI (1963), S. 90-123; Lang, Susan, Principles of the gothic revival in England, in: Journal of the Society of Architectural Historians XXV (1966), S. 240-267; Voss, Jürgen, Das Mitlelalter im historischen Denken Frankreichs. Untersuchungen zur Geschichte des Mittelalterbegriffes und der Mittelalterbewertung von der 2. Hälfte des 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts München 1972; Germann, Georg, Neugotik. Geschichte ihrer Architekturtheorie. Stuttgart 1974; Hesse, Michael, Von der Nachgotik zur Neugotik. Die Auseinandersetzung mit der Gotik in der französischen Sakralarchitektur des 16., 17., und 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1984. 35 Vanbrugh Castle (1718/19) gehört zu den richtungweisenden Werken. Downes, Kerry, Vanbrugh. London 1977, S. 99f.

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sehen Halle brachte er sogar seine Antikensammlung unter. Mit einiger Verzögerung wurde die Neugotik von England auf dem Kontinent rezipiert, speziell in Ländern mit barbarischen Wurzeln wie Deutschland. Frühe Beispiele bilden das sogenannte Gotische Haus in Wörlitz, das von Walpoles Wohnsitz angeregt war, oder die Nikolaikirche in Leipzig (1784-94), in der durch Palmsäulen die Metapher von der Entstehung der Gotik aus dem Wald evoziert wird (siehe Abb. 6). Das Interesse an der Gotik verband sich keineswegs mit Bewunderung künstlerischer Kultur. Das klassische Verdikt über den barbarischen Dekor und die Regellosigkeit der Gotik lebte mit einigen Veränderungen im Klassizismus fort. Auf die Veränderungen kann hier nicht eingegangen werden. Jedenfalls wurde über das gesamte 18. Jahrhundert hinweg immer wieder repetiert, wie barbarisch der gotische Dekor sei. Ungezählte Beispiele ließen sich dafür anführen. Ich erinnere hier nur an die zeitgenössischen Kommentare zum „Gotischen Haus" in Wörlitz, die ich selbst einmal zusammengestellt habe:36 Auch wenn der Bau als gelungen gerühmt wurde, galt der Stil allgemein als „geschmacklos". Was an dem Werk gefiel, war, daß hier die Vorstellung von der barbarischen Zeit des Mittelalters evoziert wurde. Nach August Rode trägt das Gotische Haus „ganz das Gepräge jener Jahrhunderte des Aberglaubens, der Zwietracht und der Galanterie". Das war es auch, was Walpole an der Gotik faszinierte. Walpole wurde besonders dadurch berühmt, daß er begann, Romane über mittelalterliches Milieu zu schreiben. Das sind Schauergeschichten in der grausigen Barbarei dieser dunklen Epoche. „Gothic novel" nennt man seitdem das Genre. Schon die Magdalenenklause im Park des Nymphenburger Schlosses (1725/26) demonstriert, wie sich die Gotik mit allem Primitiven verband: Der Bau trägt gotische Stilelemente und ist künstlich in einen verwahrlosten Zustand versetzt; innen ist er mit Naturmaterial ausgeschmückt.37 Nach der Mitte des 18. Jahrhunderts begann allmählich auch die Darstellung mittelalterlicher Sujets in Bildern.38 Schauerliche Geschichten zogen die Maler, vor allen anderen wieder Füßli, aus Dantes Göttlicher Kommödie (ein charakteristisches Beispiel: der Conte Ugolino, der zusammen mit allen seinen Kindern zu Pisa im Kerker verhungern mußte) und aus Shakespeares Königsdramen, wo Mord und Todschlag, Grausamkeit und Aberglauben zusammenkamen, oder Lear und Othello, wo alle Schleusen der Vernunft vor dem Rasen hemmungsloser Leidenschaft brechen, das mit dem Wüten der Natur in Wettstreit tritt. Zum Kult der Primitivität im Klassizismus, allerdings viel mehr in der Literatur als in der bildenden Kunst, gehört generell auch die Shakespeare-Renaissance. Faszinierend wirkte nun nicht nur die machtvolle Primitivität der Sujets, sondern auch der im Sinn von ,unklassisch' rohe Stil der Dramen selbst. Zum neuerwachten Interesse am Mittel36 37 3X

Günther, Hubertus, Anglo-Klassizismus, Antikenrezeption, Neugotik in Wörlitz, in: Weltbild Wörlitz. Ausstellungskatalog. Frankfurt 1996, S. 131-161. Vgl. Hager, Luisa, Eremitage, in: Reallexikon zur deutschen Kunst (1967). Pupil, Fran9ois., Le style Troubadour. Nancy 1985.

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Abb. 6:

Nikolaikirche, Leipzig

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alter gehörte auch, daß man begann, die Artefakte, um nicht euphemistisch zu sagen Kunstwerke, der Barbaren zu sammeln: Ein prominentes Beispiel dafür bildet die Sammlung der Glasfenster im Gotischen Haus zu Wörlitz. Die Schweizer waren auch auf diesem Gebiet führend: Bodmer entdeckte damals die Manessische Handschrift. Lavater half, die Glasfenster im „Gotischen Haus" von Wörlitz zusammenzutragen.

Klassische Primitive Wir haben bisher Bereiche betrachtet, die wohl eher als antiklassisch einzuordnen sind. Allerdings zeichnen sich schon da Verbindungen zur Klassik ab: wie die Parallelen zwischen den idealisierten Wilden oder Barbaren und dem Heroischen Zeitalter. Nach Tacitus verehrten die germanischen Barbaren Herkules als ihren Vorfahren. Aber auch die Klassik selbst lieferte Sujets für unseren Themenkreis, nämlich die Anfänge Alt-Griechenlands und Roms.39 Vico beschäftigt sich in seinen Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker ausführlich mit diesen Epochen und bezeichnet sie abwechselnd als „heroisch" und „barbarisch". Das antike Rom interessierte vor dem Klassizismus in erster Linie als Herrscherin über den Erdkreis und als Kulturstifterin für das Abendland. Man bewunderte die gewaltigen Bauten wie Pantheon und Kolosseum, Darstellungen von Schlachten und Triumphzügen, Berichte von der Größe der Herrscher. Das verlor im Zeitalter Newtons an Attraktion, während das Bewußtsein zunahm, daß die moderne Zivilisation endlich die Antike überflügelt habe. Dafür faszinierte jetzt zunehmend die Frühzeit Roms. Rousseau war Klassizist genug, um Alt-Rom über alle Nationen zu stellen, selbstverständlich nicht wegen seiner zivilisatorischen Errungenschaften, sondern wegen seiner natürlichen Tugenden. Wie die Anfänge Roms aussahen, das berichten Livius und noch anschaulicher Plutarch, Livius aus der Warte der Augustäischen Hofkultur distanziert und Plutarch als Grieche manchmal direkt abgestoßen.*' Plutarch wurde im Klassizismus vielleicht zum populärsten antiken Schriftsteller. Plutarch, Livius und andere berichten, daß die ersten Römer eine Horde von Hirten, entlaufenen Sklaven und Banditen gewesen seien, roh, grausam, ohne Recht, aber kühn, beständig, auf Freiheit bedacht.

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40

Caylus, Anne-Claude-Phillippe, Nouveaux sujets de peinture et de sculpture. Paris 1755; ders., Tableaux tires de illiade, de ['Odyssee et de l'Eneide de Virgile. Paris 1757; Bardon, Henry, Les peintures ä sujets antiques au XVIIIe siecle d'apres les livrets de salons, in: Gazette des Beaux-Arts LX1 (1969), S. 217-247. Livius I 8 (5-6). Plutarch, Große Griechen und Römer, Romulus 9.

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Die rauhen Gebräuche der primitiven Römer bildeten ein bevorzugtes Thema in der klassizistischen Malerei.41 Hier kommt Wildheit in ähnlichem Sinn wie bei Rousseau zum Ausdruck. Manchmal geht es einfach um ungezügelte Grausamkeit, wie etwa bei der hochmütigen Königin Tullia, die den Leichnam ihres Vaters auf offener Straße überfährt. Häufiger ist der Gegenstand die ungebrochene Grausamkeit, mit der Moral Vorstellungen durchgesetzt wurden. Ein Beispiel dafür bildet der Tod der edlen Virginia, die von ihrem eigenen Vater bei einer öffentlichen Gerichtsverhandlung erdolcht wird, um sie der Entehrung durch den Führer der Decemvirn zu entziehen. Auch stoische Grausamkeit gegen sich selbst (Mucius Scaevola, Selbstmorde) oder Trauer über die schrecklichen Folgen der Grausamkeit anderer waren beliebt. Die Unzahl der „schwarzen Sujets" fiel sogar dem Leiter des Kunstbetriebes, dem Comte d'Angivillers, auf (1786).42 In diversen Sujets wird die ursprüngliche Anspruchslosigkeit und Unabhängigkeit von Besitz variiert (Großherzigkeit des Scipio, Curius Dentatus weist die Geschenke der Samniter zurück, Fabricius Luscinus weist die Geschenke des Pyrrhus zurück, Timoleon und die Syrakusaner, Anklage des Caius Furius Cressinus). Das berühmteste Beispiel für diese neue Art von Sujets bildet Davids „Horatierschwur" (siehe Abb. 7).43 Das Bild gilt heute geradezu als Paradigma klassizistischer Malerei und löste schon zu seiner Zeit eine Begeisterung ohnegleichen aus. In neuerer Zeit wird das Bild m.E. zu idealistisch verklärt, weil die primitiven Sitten des frühen Rom inzwischen kaum noch als Bestandteil klassischer Bildung präsent sind. Es soll hier kurz aus der Warte unseres Themas betrachtet werden. Die Geschichte, die David darstellt, gehört in die Frühzeit Roms. Es geht um den Entscheidungskampf zwischen Rom und Alba Longa.44 Drei Brüder auf beiden Seiten sollen ihn austragen, obwohl sie untereinander verwandt sind. Die Vettern metzeln sich gegenseitig nieder. Übrig bleibt der Römer, Horatius. Er ist der Retter des Vaterlands. Als er triumphal in Rom einzieht, begegnet ihm seine Schwester. Sie war mit einem der Vettern von Alba Longa verlobt und klagt den Bruder bitter an, weil er ihren Geliebten umgebracht hat. Die Anklagen verletzen den „wilden" jungen Mann („feroci iuveni", Livius), und in jähem Zorn erschlägt er die eigene Schwester. Typisch für die Frühzeit sind die Grausamkeit des Kampfes unter Verwandten und Schwägern, ebenso der wilde Charakter des Horatius, sein furchtbares Verbrechen und dann noch die Reaktion des Vaters darauf. Dionysius von Halikarnassos kommentiert mit Abscheu:

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42 43 44

Rosenblum 1974, (wie Anm. 1); Triumph und Tod des Helden. Ausstellungskatalog. Köln 1987/88; Schneemann, Peter-Johannes, Geschichte als Vorbild. Die Modelle der französischen Historienmalerei 1747-1789. Berlin 1994. Rosenblum 1974, (wie Anm. 1), S. 67. Brookner, Anita, Jacques-U>uis David. London 1980, S. 68-80; Jacques-Umis David. Ausstellungskatalog. Paris/Versailles 1989/90,5. 138f., 162-174. Livius I 24-26.

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Abb. 7:

Jacques-Louis David, Schwur der Horatier, Nachstich von Antoine-Alexandre Morel, 1810

Und so groß waren damals der Frevelhaß, so wild die Sitten und Gemüter der Römer, und, wollte man sie mit dem heutigen Tun vergleichen, grausam und roh, der Tiematur ziemlich nahe, daß auf die Nachricht dieser so schrecklichen Begebenheit hin der Vater nicht nur nicht darüber zürnte, sondern das Geschehene als recht und gehörig billigte.45

Als David begann, sich für das Sujet zu interessieren, ging es ihm nicht gleich darum, Tugenden zu verherrlichen. Ursprünglich wollte er den Mord des Horatius an seiner Schwester malen (siehe Abb. 8). Da gab es nichts als ungezügelte Leidenschaft, Grausamkeit und Gewalttätigkeit. An der Szene war nichts zu verklären. Nur die Primitivität der frühen Römer konnte man bewundern. Im Zusammenhang mit seinem Bild vom „Raub der Sabinerinnen" wiederholte David selbst, wie roh und grausam Plutarch und andere die frühen Römer geschildert haben. Als Freunde ihm den Schwestermord ausredeten, wollte David statt dessen die Verteidigung des Verbrechens durch den Vater malen. Erst danach besann er sich darauf darzustellen, wie die Horatier dem Vater schwuren, für das Vaterland in den 45

Dionysius von Halikamassos, Urgeschichte der Römer III 21 (7-8).

Kult der Primitivität im Klassizismus

Abb. 8:

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Jacques-Louis David, Der siegreiche Horatier tötet seine Schwester. Graphische Sammlung Albertina, Wien

Kampf zu gehen. Hier gab es Beständigkeit, Kühnheit und Vaterlandsliebe zu rühmen. Aber die Bildgeschichte macht deutlich, daß man diese Vorzüge unlöslich verschmolzen mit der Brutalität der primitiven Römer zu verstehen hat. David repräsentierte diesen Aspekt, indem er der enthusiastischen Kriegsbegeisterung der Männer die Trauer der Frauen entgegensetzte. Mit aller Deutlichkeit stellte er heraus, daß die Szene in früher Zeit spielt: Ganz exakt (gestützt auf Monfaucons archäologische Studien) gab er primitive Rüstungen wieder, primitive, etruskische Architektur in heruntergekommenem Zustand, Ackergerät46 als Zeichen bäuerlicher Einfachheit. Im Verlauf der Französischen Revolution gewann der „Horatierschwur" große politische Bedeutung. Aber die erste Reaktion der Öffentlichkeit stand im Zeichen der Primitivität. Man bewunderte, David habe ein wahres Portrait der „einfachen und heroischen Zeit" gegeben und die „halbwilden Sitten" der damaligen Zeit charakterisiert. Das Bild löste den Effekt aus, daß die Akademie die Horatier als Sujet für den Wettbewerb um den Prix de Rom ausschrieb, aber nicht etwa eine Szene aus der Geschichte, die geeignet war, zur Tugend aufzurufen, sondern den

46

Ein Pflug, im Louvre-Bild jetzt nicht zu sehen, wohl aber in einer kleinen Version und in einem Stich des Bildes.

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„Schwestermord des Horatiers" (1785). Davids Schüler Girodet beteiligte sich, indem er Davids Zeichnung in ein Gemälde umsetzte. David und viele andere sahen in dem wilden Elan, der die frühen römischen Helden beseelte, die Basis für den Aufstieg Roms zur Weltmacht. Die französische Revolution nahm sich diesen Elan zum Vorbild. Die Romgeschichte des Charles Rollin (1730-38), während des 18. Jahrhunderts in ganz Europa wohl das bekannteste Geschichtswerk über das antike Rom, sah die Verhältnisse noch umgekehrt. Wegen der rohen Sitten der frühen Römer rechtfertigt sie die Einführung des Königtums in Rom als notwendig: Was hätte aus einer solchen Menge Hirten und zusammengelaufener Leute werden sollen, die durch Anreizung der Freiheit oder Unstrafbarkeit eine Freistatt in Rom gesucht hätten, wenn sie nicht durch Furcht einer unumschränkten Gewalt im Zaume gehalten worden wäre [...].47

Im Sinn Rousseaus bildete die Unterdrückung des Freiheitsdrangs und des ungezügelten Auslebens der Leidenschaft die nächste Stufe des zivilisatorischen Abstiegs. Allerdings im neumodischen Kulturbetrieb mißbilligte Rousseau die grausigen Sujets, die in Mode waren. In seinem offenen Brief an Jean d'Alembert gegen das Theater schrieb er: Verfolgt die Mehrzahl der Stücke des Theatre Fransais, Dir werdet fast in allen abscheuliche Ungeheuer und gräßliche Begebenheiten finden, die geeignet sein mögen, den Stücken Anteilnahme und den Tugenden ein Übungsfeld zu erschließen, die aber sicherlich in sofern gefährlich sind, als sie die Augen des Volkes an Abscheulichkeiten gewöhnen, die es nicht kennen, und an Schandtaten, die es nicht einmal für möglich halten sollte.

Als Beispiel für solche „Schandtaten" führt Rousseau den Schwestermord des Horatiers an.48 Davids nächstes Bild, „Brutus", wurde zu einer wahren Ikone der Revolution.49 Ursprünglich konzipierte David dieses Bild analog zum „Horatierschwur", aber dann trat die unbedingte Staatstreue mehr in den Vordergrund. Das Sujet besteht im Kern darin, daß Brutus der Freiheit zuliebe seine eigenen Söhne zum Tod verurteilt. Die griechischen Geschichtsschreiber Plutarch und Dionysius von Halikarnassos kehren bei dem Bericht über das Brutusurteil wieder heraus, daß die wilden, geradezu animalischen Sitten der primitiven Römer die Voraussetzung für die schreckliche Tat bildeten.50 Trotzdem galt dem Brutus die uneingeschränkte Be-

47

48 49

50

Rollin, Charles, Histoire romaine. Paris 1752. Bd. I, S. 184. Deutsche Ausgabe unter dem Titel Römische Historie. Leipzig/Breslau 1770 I, 264. Rousseau, Jean-Jacques, Schriften, hg. v. H. Ritter. München 1978. Bd. I, S. 365f. Herbert, Robert Louis, David, Voltaire, Brutus and the French Revolution. An essay in art and politica. London 1972; David 1989/90, (wie Anm. 43), S. 194-206. Plutarch, Publicola 6. Brutus d.J. 1. Dionysius von Halikamassos, Urgeschichte der Römer, V 8.

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wunderung Rousseaus. Das Todesurteil über die eigenen Söhne schien ihm sogar für das Theater geeignet. Hier sprach nicht nur Bewunderung für die primitiven Sitten, sondern auch bürgerlicher Traditionalismus: Brutus gehörte als Paradigma unbeirrbarer Gerechtigkeit seit dem Mittelalter zu den charakteristischen Darstellungen in Rathäusern und ähnlichen öffentlichen Anlagen. Das kannte Rousseau aus Schweizer Städten.51 Auch die griechischen Sujets folgen in der klassizistischen Malerei nicht der Tradition. Früher waren solche Elemente bildwürdig, die exemplarisch und richtungweisend für das Abendland werden sollten. Jetzt traten die Aspekte des Primitiven in den Vordergrund, die die Frühgeschichte Griechenlands reichlich bot. Man findet Roheit, Grausamkeit, Freiheitsliebe, Heroismus. Selbst die Götter sind grausam: Goya malte Saturn, der seine eigenen Kinder frißt. Schrecklich schildert Homer die wilden Völker, die den alten Griechen als Barbaren galten. Heinrich von Kleist widmete ein Drama der unbändigen Leidenschaft der Amazonenkönigin Penthesileia in Liebe und Haß. Aber auch die frühen Griechen selbst, obwohl zivilisierter als ihre Nachbarn, waren roh. Im Klassizismus wurden gem Beispiele für ihre Grausamkeit gemalt: Kindermord der Medea; Menschenopfer, die die Minoer dem Minotauros darbrachten, diverse Szenen ensprechender Art, die die griechischen Helden vor Troja vollbrachten, oder die Verwandtenmorde der Atreiden etc. Davids Meisterschüler Jean-Frangois-Pierre Peyron konnte solche Greueltaten besonders eindrucksvoll darstellen. Er malte auch, wie sich der Sohn des Milthiades dem Hungertod im Kerker weiht, damit der Leichnam seines Vaters bestattet werden kann (siehe Abb. 9). Schließlich werfen wir einen Blick auf das Verhältnis zur klassischen Kunst im Klassizismus. Damit erreichen wir eine Phase der Zivilisation, die schon weit vom Primitiven entfernt ist. Aber auch hier zeichnet sich ein ähnlicher Wandel in der Auffassung wie in den übrigen Gebieten ab, die wir behandelt haben. Einerseits wird die Sicht im Sinn der Aufklärung konkreter, historischer, andererseits werden sogar in diesem edlen Bereich Züge des Primitiven entdeckt. Um das deutlich zu machen, muß ich etwas ausholen. In der Renaissance lebte die alte Bewunderung für die griechische Kunst neu auf. Griechische Literatur wurde gesammelt, emendiert und publiziert, ebenso wurden griechische Plastiken oder solche, die man dafür hielt, gesammelt und nachgeahmt. Nicht minder rühmte man griechische Malerei und Architektur. Allerdings, und darum geht es hier zunächst, davon wußte man fast ausschließlich aus den alten Schriften. Vom Augenschein her waren griechische Malerei und Architektur kaum bekannt. Die Ma-

51

„Brutus! und du schläfst? ach, wenn du lebtest!". Das Zürcher Brutus-Bild des Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, in: Neue Zürcher Zeitung, 31. Juli/l. August 1993, S. 49-50.

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Abb. 9:

Jean-Fran9ois-Pierre Peyron, Cimon und Milthiades, Mus6e du Louvre, Paris

lerei war untergegangen. Die Architektur war weit weg, und wo sie nahe stand, da sah man nicht auf sie. Zwar wurden die Ruinen in Griechenland zu Beginn der Renaissance mit Enthusiasmus untersucht.52 Aber das Interesse erlahmte schnell. Um 1500 waren die Bauten in Griechenland so gut wie unbekannt. Und so blieb es bis ins frühe 18. Jahrhundert. Ausnahmen dazwischen bestätigen nur die Regel. Die großgriechischen Tempel, die wohl erhalten in Italien selbst stehen, wurden schlichtweg ignoriert. Das ist besonders erstaunlich bei den drei mächtigen Tempeln in Paestum, denn sie bilden einen markanten Blickpunkt in der Landschaft, und diese Region liegt nahe bei Neapel und Salerno, wichtigen Metropolen also.53 Das Phänomen läßt sich nicht mehr nur durch mangelndes Interesse erklären.

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53

Weiss, Roberto, The renaissance discovery of classical antiquity. Oxford 1969, S. 131-144; Günther, Hubertus, La rinascitä dell'antichitä, in: Rinascimento da Brunelleschi a Michelangelo. Ausstellungskatalog. Venedig 1994, S. 288ff. Laveglia, Pietro, Paestum dalla decadenza alia riscoperta fino al 1860, in: Scritli in Memoria di Leopolde- Cassese II. Neapel 1971, S. 183-276; Chevallier, Elisabeth/Chevallier, Raymond, her Italicum. Les voyageurs fran^ais ä la docouverte de l'Italie ancienne. Genf 1984; La Fortuna di Paestum e la Memoria Moderna del Dorico, 1750-1830. Florenz 1986; Lutz, Thomas, Die Wiederentdeckung der Tempel von Paestum. Freiburg i.Br. 1991.

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Diese Bauten stießen auf Abneigung. Sie erschienen häßlich und fremdartig; sie paßten nicht zum Geschmack der Renaissance.54 Um die Mitte des 18. Jahrhunderts oder etwas früher begannen die berühmten Forschungen zur griechischen Architektur: die Griechenlandreisen und genauen Bauaufnahmen von Julien-David Le Roy und James Stuart/Nicolas Revett;55 die großgriechischen Tempel in Italien und besonders in Paestum wurden „entdeckt", wie es hieß, bzw. eben erstmals zur Kenntnis genommen.56 Die Reaktion auf die griechische Architektur bestand bis Ende des 18. Jahrhunderts gewöhnlich in Erstaunen bis Erschütterung über die Häßlichkeit dieser Bauten. Das gilt besonders für die großgriechischen Tempel, aber sogar der Parthenon wurde kritisch aufgenommen. Diese Reserve zeichnete gerade Kunstkenner aus und solche, die es werden wollten, wie der junge Goethe. Als Goethe zum ersten Mal Paestum sah, notierte er, „daß uns diese stumpfen, kegelförmigen, enggedrängten Säulenmassen lästig, ja furchtbar erscheinen" (1787).57 Piranesi urteilte ähnlich und kehrte diesen Effekt in seinen Kupferstichen der Tempel heraus (1778) (siehe Abb. l O).58 Hinter den vernichtenden Urteilen stand die Enttäuschung darüber, wie abstoßend in Wirklichkeit das war, was so lange als klassisches Ideal gegolten hatte. Die Engländer zeigten sich hier wie in vielen Bereichen am liberalsten, am wenigsten voreingenommen. Aber als Stuart auf die Idee kam, einen griechischen Tempel im Park von Hagley nachzubauen (1558/59), erhob sich auch dort Empörung.59 Selbst da, wo sonst das Exzentrische erlaubt war, zwischen Chinoiserien und gotischen Skurilitäten, erschien die realistische Imitation eines griechischen Tempels manchmal zunächst abgeschmackt. Trotz alledem übten die Bauten der Griechen zunehmend Faszination auf die Klassizisten aus. Davon zeugen Reisen, Publikationen, Gemälde und die Integration urtümlich griechischer Elemente in die Architektur. In den Bildern, die Sujets aus der Frühzeit Roms darstellen, wurde diese Art von Architektur wiedergegeben. Die städtische Architektur rezipierte derart urtümliche Säulen vor der französi-

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55

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59

Vgl. die Reaktion auf frühe römische Architektur, die noch griechische Relikte zeigt: Günther, Hubertus, Gli ordini architettonici: rinascitä o invenzione?, in: Roma e l'Antico nell'Arte e nella Cultura del Cinquecento. Rom 1985, S. 272-310. Le Roy, Julien-David, Les ruines des plus beaux monuments de la Grece. Paris 1758; Stuart, James/Revett, Nicolas, The antiquities of Athens. London 1762-89; Dobai, Johannes, Die Kunstliteratur des Klassizismus und der Romantik in England 1700-1840; Bern 1974-84. Bd. II, S. 481ff., 486ff.; Kruft, Hanno Walter, Geschichte der Architeklunheorie. München 1985, S. 235ff. Laveglia, (wie Anm. 53); Chevallier/Chevallier, (wie Anm. 53). Lutz, (wie Anm. 53). Goethe, Johann Wolfgang, Italienische Reise; Lutz, (wie Anm. 53), S. 55. Piranesi, Giovanni Battista/Piranesi, Francesco, Differentes vues de quelques restes des trois grands edifices que subsistent encore dans le milieu de iancienne ville de Pesto. Rom 1778; Lang, S., The early publications of the temples of Paestum, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes XIII (1950), S. 48-64; Lafortuna di Paestum, (wie Anm. 53). Watkin, David, Athenian Stuart. Pioneer of the greek revival. London 1982.

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Abb. 10: Sog. Neptuntempel in Paestum. Giovanni Battista Piranesi/Francesco Piranesi, Differentes vues de quelques restes des trois grands edifices que subsistent encore dans le milieu de l'ancienne ville de Pesto. Rom 1778

sehen Revolution selten.60 Ein außerordentlich frühes Beispiel dafür findet sich in der Schweiz, in der ehemaligen preußischen Enklave Neuchätel, in der sich viele prominente Pariser Emigranten trafen, die Rousseau geistig nahestanden, und in der auch Rousseau selbst zeitweise lebte: Die Säulen in der weiten Empfangshalle des Rathauses, das die Bürger 1784-1790 errichten ließen, folgen dem Vorbild von Paestum (siehe Abb. II). 6 1 Pierre-Adrienne Paris, ein Bewunderer Rousseaus, schuf die Pläne, direkt nachdem er Paestum besucht hatte. Der Bau ist zwar enorm aufwendig für eine kleine Stadt, wie es Neuchätel seinerzeit war, aber in den zeitgenössischen Schriften wird immer wieder herausgestellt, daß er „simple et noble" sei. Hier steht die „primitive" Dorica anscheinend für ursprünglichen, geraden Bürgersinn. Ledoux inkorporierte die „primitiven" dorischen Säulen in die Zollhäuser von Paris (ab 1783), aber das waren nur Nutzbauten, wenn auch aufwendige, die am äußersten Stadtrand lagen. Für eigentlich städtische Bauten 60 61

Revolutionsarchitektur. Ein Aspekt der europäischen Architektur um 1800. Ausstellungskatalog. Frankfurt/M. 1990. Courvoisier, Jean, Les monuments d'art et d'histoire du canton de Neuchätel I. Basel 1955, S. 165-187; Castellani Zahir, Elisabeth, Ledoux oder Paris?, in: Schweizer Ingenieur und Architekt, Nr. 21, 28. Mai 1999, S. 27-32. Ich verdanke Frau Castellani Zahir neue Informationen über das Rathaus von Neuenburg und über P.-A. Paris.

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Abb. 11: Empfangshalle im Rathaus von Neuchätel, Schweiz

war dieser Stil selbst für Ledoux anscheinend zu grob. In Paris wurden die „primitiven" dorischen Säulen zunächst in Verbindung mit gotischen Bauten nachgeahmt, so etwa 1756 in St.-Germain l'Auxerrois oder 1784 in St.-Medard. PierreAdrienne Paris nahm sich im gleichen Jahr, als er das Rathaus von Neuchätel plante (1783), des Wiederaufbaus der gotischen Kathedrale von Orleans an. Der Vorhalle des Rathaues von Neuchätel wollte er eine flache Decke nach antikem Muster geben, aber die Bürger setzten eigenmächtig ein Gewölbe mit Korbbögen nach spätgotischem Muster an dessen Stelle. Sonst finden sich Beispiele für die Rezeption der „primitiven" Form von Dorica vor der französischen Revolution eher in der Gartenarchitektur, so etwa der Dianatempel in Gotha (Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff, 1778, zerstört)62 oder die massige dorische Ordnung im Untergeschoß des sogenannten „Römischen Hauses" im Park von Weimar, an dessen Anlage Goethe tatkräftig mitwirkte (1792).63 Eine skurrile Verbindung primitiver Bereiche stellt die Orangerie von Dunmore in Schottland dar (William Chambers?, 1761): Über einem Portikus mit primitiver etruskisch-dorischer

62 63

Hirschfeld, Christian, Theorie der Gartenkunst. Leipzig 1779-85 IV, Anhang 8, Abb. S. 236. Jericke, Alfred/Dolgner, Dieter, Der Klassizismus in der Baugeschichte Weimars. Weimar 1975, S. 137ff.

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Ordnung steigt steil ein Tambour mit gotischen Fenstern auf, der von einer Kuppel in Gestalt einer überdimensionalen Ananasfrucht bekrönt wird (siehe Abb. 12). Rasch wurde eine wissenschaftliche Theorie entwickelt um zu erklären, weshalb die Architektur der Griechen so klobig und roh sei. Ich kann die Argumentation, die damals aufkam, hier nicht erklären. Ich will nur betonen, sie war so schlüssig, daß sie bis heute in ihren Grundzügen maßgeblich für die Archäologie geblieben ist. Die Theorie ging von der altbekannten Annahme aus, daß die griechische Kunst am Anfang aller abendländischen Kunst steht, und schloß daraus, daß sie teilweise noch primitive Züge aufweise. Trotz aller Bewunderung für die griechische Klassik betonte schon Charles Perrault in seiner Parallele des anciens et des modernes (1688) diesen Aspekt und relativierte demgemäß generell den Wert der griechischen Kunst. Was speziell die Architektur angeht, so stützt sich die Theorie auf den Bericht antiker Schriften, wonach die dorischen Tempel noch die primitiven Holzhütten der frühen Griechen (siehe Abb. 35) nachahmen,64 also, darf man hier anfügen, im Grunde ähnlich wie die gotischen Bauten die ersten Unterkünfte der Germanen unter Bäumen zum Vorbild nehmen. In seinem großen Werk über die Architektur des Tempels von Jerusalem (1678) berücksichtigte Juan Caramuel de Lobkowitz bei der Darstellung der Entstehung der klassischen Architektur nach Vitruv Indianer und Palmen (siehe Abb. 13).65 Charles Perrault verglich die vielzitierte Urhütte, von der die griechische Architektur ihren Ausgang nahm, sogar mit den Hütten der Indianer (Abb. 13).66 Umgekehrt verglich Lafitau in seinem Werk über die Sitten der amerikanischen Wilden im Vergleich zu den Sitten der Frühzeit die Unterkünfte der Indianer mit den primitiven Unterkünften in den antiken Berichten.67 Die folgende Argumentation mündete in die historische These, die dorischen Tempel seien in einer primitiven Phase entstanden, als die Architektur noch nicht die Regeln der wahren Kunst gekannt habe.68 Erst allmählich habe sich dann das klassische Ebenmaß entwickelt. Das kann man etwa bei Winckelmann lesen (Anmerkungen über die Baukunst der Alten, 1762).6y Es wurde gleichzeitig in ganz Europa vertreten. Le Roy brachte die Theorie anscheinend auf (1758),70 Piranesi

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66 67 68 69 70

Herrmann, (wie Anm. 34), S. 44-52; Gaus, Joachim, Die Urhütte, in: Waüraf-Richartz-Jahrbuch XXXIII (1971), S. 7-70. Caramuel de Lobkowitz, Juan, Architectura civil recta y oblicua considerada y dlbuxada en el templo de Jerusalem. Vegeven 1678, S. 26ff., 89, Taf. 15. Perrault, Charles, Parallele des anciens et des modernes en ce aui regarde les arts et les sciences. Paris 1688, S. 129f. Lafitau 1752/53, (wie Anm. 4), S. 282. Günther, (wie Anm. 36), S. 147. Winckelmann, Johann Joachim, Anmerkungen über die Bauten der Alten. Leipzig 1762, S. 25f. Le Roy, (wie Anm. 55), Bd. II, S. Iff.

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Abb. 12: Schloß der Earls of Dunmore, Schottland

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Abb. 13: J. Caramuel de Lobkowitz, Architectura civil recta y oblicua considerada y dibuxada en el templo de lerusalem. Vegeven 1678, S. 26ff., 89, Taf. 15

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Abb. 14: Illustration zur Entwicklung der Architektur von ihrer Frühzeit zur Klassik. Giovanni Battista Piranesi, Delia magnificenza cd architettura de' Romani. Rom 1761

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entwickelte sie 1761 weiter (siehe Abb. 14).7I In der Architektur der folgenden Zeit wurden oft frühdorische und alt-ägyptische Elemente miteinander verbunden. Das werde ich an anderer Stelle mit Beispielen demonstrieren. Gute klassizistische Maler achteten darauf, die primitive Architektur, so wie sie die Theorie identifizierte, mit den Sujets zu verbinden, die sich in der Frühzeit Roms oder Griechenlands abspielten. Zum Beispiel: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein stellte im Hintergrund seines neuerdings wiederentdeckten „Brutusurteils" (Kunsthaus Zürich) einen dorischen Tempel nach dem Vorbild von Paestum dar. Pierre-Adrienne Paris benutzte diesen Stil, um Bühnen für Dramen zu gestalten, die vor Urzeiten spielten, wie etwa für Prometheus oder Numitor, den Vater von Romulus und Remus (siehe Abb. 15). Hinter den zunehmenden Forschungen zur griechischen Architektur im Klassizismus und dem wachsenden Strom von Besuchern in Paestum stand weniger das Ideal klassischer Kunst als das doppelte Interesse, das Rousseau leitete: Griechische Architektur interessierte wissenschaftlich als historisches Phänomen und erweckte Staunen als Zeugnis primitiver Zivilisation. So gesehen, waren die Motive gar nicht so anders als jene, die auch andere Forschungsreisen der damaligen Zeit leiteten, wie diejenigen zu den Wilden in Übersee oder diejenigen nach Ägypten, die hier wenigstens erwähnt seien. Die Entwicklungstheorie der Architektur reichte allein nicht aus, um die Primitivität der griechischen Architektur zu erklären. Es war nämlich bekannt, daß der berühmte Bildhauer Phidias zugleich der Baumeister des Parthenon war. Es bedurfte einer Erklärung, daß der Parthenon primitiv erschien, während die Plastiken, die Phidias schuf, allgemein als klassisch galten. Aus dieser Koinzidenz folgte die historische Theorie: die Künste hätten sich nicht gleichzeitig entwickelt, sondern nacheinander, und zwar in der Abfolge Plastik, Malerei, Architektur. Das vertritt Winckelmann in der Geschichte der Kunst des Altertums (1764).72 Noch Baudelaire hielt sich daran.73 Diese Theorie wiederum hatte ähnlich wie Rousseaus Theorie von der Entwicklung der Menschheit eine doppelte Basis. Einerseits ging sie aus von den wissenschaftlichen Überlegungen zur Entwicklung des menschlichen Denkens und der Sprache, die damals neu aufkamen und die auch Rousseau beeinflußten. Ein maßgebliches Werk dafür bildeten wieder Gio. Batt. Vicos Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Dort wurde versucht, als historische Entwicklung nachzuweisen, was Vico so formuliert: „Die Menschen empfinden zunächst, ohne aufzumerken, sodann merken sie auf mit bewegter und 71 72

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Piranesi, Giovanni Battista, Delia magnificenza ed architettura de' Romani. Rom 1761, Tafel 31. Winckelmann, Johann Joachim, Geschichte der Kunst des Altertums. Wien 1934 (Reprint 1993), S. 25, 137f. Baudelaire, Charles, Pounfuoi la sculpture est ennuyeuse. Salon de 1846, critique d'art, hg. v. C. Pichoise. Paris 1965, S. 166.

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Abb. 15: Pierre-Adrienne Paris, Bühnenbild für „Numitor" (1783). Bibliotheques Municipales, Besangen

erregter Seele, schließlich überlegen sie mit klarem Geist".74 Parallel dazu war wieder die klassische Tradition zur Hand. Für die Kunst ließ sich aus diesen beiden Grundlagen folgendes ableiten: Die Menschen gelangten vom spontanen, unreflektierten Abbilden der Natur zur Abstraktion in der Gestaltung. Hegel sah „die griechische Kunst als wirkliches Dasein des klassischen Ideals" an gerade wegen ihrer primitiven Züge, weil sie „die Mitte einer Bildung der Reflexion und zugleich einer Reflexionslosigkeit" markiere.75 Charles Perrault sah den besten Beweis für den urtümlichen Status der griechischen Kunst in den diversen antiken Berichten darüber, wie täuschend ähnlich griechische Bilder die Natur nachgeahmt hätten.76 Die Malerei imitiert die Natur, aber sie abstrahiert bereits, indem sie ihre Gegenstände umsetzt in die Fläche. Die Plastik dagegen hat diesen Schritt noch nicht getan. Sie gibt einfach die Natur 74 75

76

Vico 1744, (wie Anm. 5), Bd. l, S. 53 (218); 1990, (wie Anm. 5), S. 112. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm, Werke. Frankfurt 1986, Bd. XW, S. 320f. (Vorlesungen über Ästhetik II: Vom Klassischen überhaupt). Jauß, Hans Robert, Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der .Querelle des Anciens et des Modernes', in: ders., München 1964 (Reprint), S. 50ff.

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wieder, wie sie ist. Das war ein altbekanntes Argument im Paragone, im Wettstreit der Künste, um den größeren intellektuellen Anspruch der Malerei und damit ihren höheren Rang zu beweisen. Eine Bestätigung für die These, daß die Malerei wegen ihres höheren Grades an Abstraktion erst nach der Plastik entstand, sah Vico darin, daß Homer und die Genesis nur plastische Bildwerke und noch keine Gemälde erwähnen.77 Auch die Architektur nahm ihre Anfänge von der Imitation der Natur, nämlich von der legendären Urhütte (bzw. von der Baumbehausung der Germanen), aber sie führt am weitesten in den Bereich der Abstraktion. Schon die Urhütte war ja ein Artefakt, und die Elemente der dorischen Ordnung imitieren ihre Vorläufer dort nicht realistisch, sondern erinnern nur noch von fern an sie. Daher bildete die Architektur zuletzt ihre künstlerischen Maßstäbe aus, so spät, daß sie sich noch im primitiven Stadium befand, als der Parthenon und die Tempel von Paestum entstanden. So die damalige Theorie. Umgekehrt stand die Plastik demnach am Beginn des Abbildens. Sie ist die primitivste Art von Kunst. Die klassische griechische Plastik steht überhaupt am Anfang aller Kunstentwicklung. Wir sind mit ihr also immer noch in einem frühen Stadium der Zivilisation. Diese Sichtweise sollte man bedenken, wenn man Winckelmanns hochberühmte Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) liest.78 Winckelmann geht zunächst von der Idealisierung der griechischen Gesellschaft im Sinn Rousseaus aus. Dort hatte angeblich „ein gewisser bürgerlicher Wohlstand der Freiheit der Sitten niemals Eintrag getan". Die Sitten waren noch nicht durch zu strenge Gesetze gehemmt. Gute und natürliche Erziehung stand statt dessen im Vordergrund. Es gab keinen Zwang beengender Kleidung wie in der Neuzeit. Das war Winckelmann wichtig. Besonders kehrt er die körperliche Schönheit der alten Griechen heraus. In dem schönen Körper wohnte aber keine moralisch vollendete Seele, sondern natürliche Leidenschaft. Die Griechen waren nach Winckelmann „gütig und zugleich grausam, leichtsinnig und zugleich hartnäckig, brav und zugleich feige". Winckelmanns Griechen haben einiges gemein mit den primitiven Völkern in Übersee oder den germanischen Barbaren. Nahe beieinander sind nicht nur der Zustand der Zivilisation, Gebräuche und Charakter, sondern, was für die Entwicklung der Kunst wichtig wird, die körperliche Schönheit. Nach Tacitus waren die Germanen von Natur aus groß, schlank und gesund; wie die alten Griechen durch Leibesübungen gewandt und anmutig. Ganz ähnliches wurde allenthalben von den Indianern berichtet. Zudem bewegten sich die Indianer, wie man es von den alten Griechen annahm, angeblich nackt im täglichen Leben. Seit der Renaissance sah 77 78

Vico 1744, (wie Anm. 5), Bd. Ill, S. 2 (794); 1990, (wie Anm. 5), S. 451. Zum historischen Umfeld: Justi, Carl, Winckelmann und seine Zeitgenossen. Leipzig 1923. Himmelmann, Nikolaus, Utopische Vergangenheit. Archäologie und moderne Kultur. Berlin 1976, S. 18ff. (Utopisches bei Winckelmann und Heinse).

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man in der „idealen Nacktheit" eines der Phänomene, durch die sich die Antike auszeichnet. Kein Wunder unter diesen Umständen, wenn Winckelmann die alten Griechen mit den Indianern vergleicht: „Seht den schnellen Indianer an, der einem Hirsche zu Fuße nachsetzt: wie flüchtig werden seine Säfte, wie biegsam und schnell werden seine Nerven und Muskeln, und wie leicht der ganze Bau des Körpers gemacht. So bildet uns Homer seine Helden, und seinen Achilles bezeichnet er vorzüglich durch die Geschwindigkeit seiner Füße".7y Mit solchen Assoziationen stand Winckelmann damals nicht allein. Als Benjamin West bei seinem Besuch in Rom zum erstenmal den Apoll von Belvedere erblickte, rief er spontan aus: „My God, how like it is to a young Mohawk worrior". Den überraschten italienischen Freunden erklärte er, die Indianer, geübt durch Erziehung und Gebrauch im Leben, würden sich ebenso bewundernswert sportiv wie der Apoll bewegen.80 Seit langem wurden die Indianer wegen ihrer schönen Gestalt, aber auch wegen ihrer Gebräuche und ihrer Religion mit den alten Griechen, speziell mit den Spartanern, verglichen.81 Marc Lescarbot brachte diesen Vergleich in der überarbeiteten Auflage seiner Histoire de la Nouvelle France von 1617f. auf.82 Chretien Le Clercq (1691) und Lescarbot verglichen Indianer, die Tierfelle über der Schulter tragen, mit Bildwerken des Herkules, der sein Löwenfell ebenso trägt.83 Die Parallele zwischen Antike und Indianern kommt auch in klassizistischen Bilder zum Ausdruck, die Indianer nach dem gleichen Schönheitsideal wie die alten Griechen darstellen. Sogar die Illustrationen zu Berichten von den amerikanischen Wilden folgten diesem Muster, wenn auch meist etwas ungelenk (siehe Abb. 16 u. 17). Die Verbindung zwischen Indianern und alten Griechen war nach damaligen Vorstellungen gar nicht so abwegig, wie sie heute vielleicht scheint. Kurz nach der Entdeckung Amerikas durch Columbus kam der Gedanke auf, das neue Land sei identisch mit dem von Platon geschilderten Staat Atlantis, den schon zuvor namhafte Gäzisten wie Marsilio Ficino für eine Realität hielten und der aufgrund der Angaben Platons in der Richtung lokalisiert wurde, in die Columbus gesegelt war.84 Seit der Renaissance kursierte die These, daß die Indianer von einem der Urvölker des Mittelmeerraumes abstammten, freilich von sol-

79 80 81 82 83

84

Winckelmann, Johann Joachim, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Dresden/Leipzig 21756, S. 5. Galt, John, The life, studies, and works of Benjamin West [...]. London 1820 I, S. 105. Vgl. Alberts, (wie Anm. 10), S. 409f. Marouby, Christian, Utopie et primitivisme. Essai sur l'imaginaire anthropologique ä Page classique. Paris 1990, S. 152; Honour, (wie Anm. 9), S. 120. Chinard 1913, (wie Anm. 9), S. 111-114. Le Clercq, Chrestien, Nouvelle relation qui contient les mars et la religion des savages Gaspesiens Porte-Croix, adorateurs de soleil, et d'autres peuples de t'Amerique, dite le Canada. Paris 1691, S. 53. Wieder aufgelegt 1758. Englische Ausgabe: Toronto 1910, S. 93; Lescarbot 1907-14, (wie Anm. 16), Bd. III, S. 132, 373. Gliozzi, (wie Anm. 15), S. 177-246.

98

Abb. 16: Apoll von Belvedere. Museo Vaticano

Hubertus Günther

Kult der Primitivität im Klassizismus

Abb. 17: Karibischer Eingeborener. Jean-Baptiste Labat, Nouveau voyage aux isles de 1'Amerique. Den Haag 1724

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eben, die für die Griechen als Barbaren galten wie die Karthager oder Phöniker.85 Lafitau widmet dieser These das gesamte erste Kapitel seines Buchs über Die Sitten der amerikanischen Wilden im Vergleich zu den Sitten der Frühzeit. Die Griechische Kunst hält sich nach Winckelmann ganz an die Natur. Allerdings wählt sie aus der Natur das schönste aus. Das ist ihr oberstes Gesetz. Der Mensch wird nicht idealisiert im Sinn der Erfindung eines abstrakten Kanons von Schönheit. Auch den inneren Charakter idealisiert die griechische Kunst nach Winckelmann nicht. Sie gibt den Menschen so wieder, wie er war: gütig, grausam, leichtsinnig, hartnäckig, mutig und feige. Die ursprünglichen Leidenschaften werden dargestellt. Aus dieser natürlichen Haltung rührt der Eindruck der Bildwerke, und ebenso der griechischen Literatur, von „edler Einfalt und stiller Größe". Die „edle Einfalt" hängt offenbar mit dem frühen, dem Primitiven noch recht nahen Geisteszustand der alten Griechen zusammen, der sich noch nicht spekulativ weit von der Natur entfernt hat. Die Größe zeugt von dem noch nicht durch die Zivilisation geknebelten Charakter. Nach Winckelmann „zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele". Es ist der „Ausdruck des Humanen", das noch nahe dem ursprünglichen Sinn von „human", also noch nahe der unverdorbenen Natur ist. Mit dem Wort von der „edlen Einfalt und stillen Größe" traf Winckelmann offenbar den Nerv seiner Zeit. Das Wort kursierte rasch in ganz Europa. Es wurde geradezu zum Motto für die Betrachtung griechischer Kunst. Im übrigen war Winckelmanns Sicht unter Literaten seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts vorbereitet. Alexander Pope schrieb im Vorwort der Ilias-Übersetzung (1715-20), der Übersetzer habe die Aufgabe, die „pure and noble simplicity" (reine und edle Einfalt) Homers wiederzugeben. Hier sei ein Stil angemessen, der die Mitte zwischen dem Erhabenen und dem Ungeschlachten wahre: „Simlicity in the mean between ostentation and rusticity".

Primitive Rudimente in Europa zu Rousseaus Zeit Aus damaliger Sicht schienen die Primitivität oder Relikte von ihr in Europa während des Klassizismus fortzuleben. Generell schien das einfache Volk Züge des Primitiven bewahrt zu haben. Im Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen kommt Rousseau beiläufig darauf zu sprechen, anläßlich der Kritik der Reflexion, die den Menschen taub gegen natürliche Regungen mache, die Selbstsucht fördere und so die Menschen isoliere:

85

Gliozzi, (wie Anm. 15),S.493ff.

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Bei Unruhen, bei den Streitereien in den Straßen läuft der Pöbel zusammen, der kluge Mensch entfernt sich; es ist die Kanaille, es sind die Marktweiber, welche die Kämpfenden trennen und die rechtschaffenen Leute daran hindern, sich umzubringen. 86

Das einfach Volk wurde zum Sujet in der Literatur des Klassizismus: Hier seien nur Diderots Dramen erwähnt. Diderot hatte sich auch mit den Indianern im Vergleich zu den abendländischen Gebräuchen beschäftigt. Unter dem Eindruck von Rousseaus Gedanken gelangte auch er dazu, Grundlagen der hochzivilisierten Gesellschaft in Frage zu stellen. Er bezweifelte die natürliche Notwendigkeit von Macht und Gesetz zur Bändigung natürlicher Neigung des Menschen zum Verbrechen und leitete aus der Betrachtung der Indianer die umgekehrte These ab, daß Macht und Gesetz nur zum Nutzen einiger weniger eingeführt worden seien und daß sie erst Verbrechen erzeugt hätten.87 Jean-Baptiste Greuze widmete dem einfachen Volk um die gleiche Zeit seine Bilder (siehe Abb. 18).88 Einfaches Volk hatten schon die alten Niederländer gern dargestellt. Aber dort blieb es bei Milieuschilderungen, oder das einfache Volk erschien als Beispiel schlechter Moral. Greuze dagegen kehrt die Leidenschaften der einfachen Leute in ihrer ursprünglichen Intensität heraus und stilisiert sie manchmal zu geradezu heroischer Größe. Diderot bewunderte gerade dieses Pathos. David inszenierte den primitiven Enthusiasmus der Horatier mit den gleichen Bildmitteln wie Greuze: einfacher Bilddisposition statt raffinierter barocker Perspektive und markanter, wenig differenzierter, in diesem Sinn primitiver Gebärdensprache als Ausdruck der Leidenschaften, die noch nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt bzw. moderiert sind. Zudem rücken nochmals die Barbaren in unser Blickfeld. Wo die antike Zivilisation heimisch war, wurden die Germanen allmählich assimiliert: so in Norditalien; bis zu einem gewissen Grad in Frankreich. Wo sie unter sich waren, blieben die Germanen dagegen stark in ihrer Barbarei befangen: Das gilt speziell für den deutschsprachigen Raum aus der Sicht der Romania. Im 18. Jahrhundert wurden die Deutschen gewöhnlich noch ähnlich wie die Germanen bei Tacitus charakterisiert.89

86 87

88 8y

Rousseau, (wie Anm. 2), S. 149. Diderot, Denis, Supplement au voyage de Bougainville (verf. 1775, publ. 1796, vgl. Bitterli 1991, (wie Anm. 9), S. 41 If., 416-420), und insb. seine Beiträge zu: Raynal, Guillaume-Thomas Frar>9ois, Histoire philosophique et politique des etablissements et du commerce des EUropeens duns les deux Indes. Genf 1780 (vgl. Marouby, wie Anm. 81, insb. S. 155-158). Brookner, Anita, Greuz.e. The rise and fall of an 18th-century phenomenon. London 1972, insb. Kap. 2 (Sensibilite in literature). Amelung, Peter, Das Bild des Deutschen in der Literatur der italienischen Renaissance. München 1964; Der Volksname Deutsch. Ausg. Hans Eggers, Darmstadt 1970; von See, (wie Anm. 18); Zach, Wolfgang, Das Stereotyp als literarische Norm. Zum dominanten Denkmodell des Klassizismus, in: Erstarrtes Denken. Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorurteil in der englischsprachigen Literatur. Tübingen 1987, S. 97-113.

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Abb. 18: Jean-Baptiste Greuze, Der Fluch des Vaters. Mus6e du Louvre, Paris

Diese Sicht verband sich bei den romanischen Völkern seit Petrarca mit vehementer Verachtung der unzivilisierten Deutschen. Im 18. Jahrhundert kam ein weniger negativ voreingenommenes Interesse an diesen Barbaren auf: Ihre Artefakte und Literatur fanden Beachtung. Bildungsreisen führten in dieses Land, obwohl es schon Tacitus ganz unwirtlich fand.90 Berühmt ist der Bericht der Mme. de Stael über die Erfahrungen, die sie bei ihren Reisen 1803/04 und 1807/08 in Deutschland gemacht hatte: Sie berichtet, das Land sei nicht besonders schön und teilweise immer noch im Naturzustand. Die Menschen erschienen ihr oft rauh und wenig zivilisiert in den Umgangsformen. Dennoch wirkten sie moralisch erhaben; in ihnen lebte noch die mittelalterliche Tradition des Rittergeistes: sie waren geistig eigenständig, nicht so abhängig von Moden wie die Franzosen. Vor allem, muß man im Sinn von Rousseau sagen, hier sollen die Schwachen noch Hilfe gefunden haben.

90

Leiner, Wolfgang, Das Deutschlandbild in der französischen Literatur. Darmstadt 1991; Blaicher, Günther, Das Deutschlandbild in der englischen Literatur. Darmstadt 1992.

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Die Schweiz wurde während des Klassizismus besonders beliebt auf Kavalierstouren moderner Route. Hier fand man eine urwüchsige Bevölkerung in urwüchsiger Landschaft: „eine arme Landschaft", meinte Mme. de Stael, „von beschränktem Räume, ohne Luxus, ohne Glanz, ohne Macht", in der jedoch „Sitteneinfalt" herrsche.91 Der Berner Naturwissenschaftler und Ingenieur Albrecht von Haller, ein typischer Vertreter der Aufklärung, prägte das Ideal des helvetischen Naturmenschen. In seinem Epos Die Alpen (1732), das zahllose Auflagen bis ins späte 18. Jahrhundert erlebte und bald in alle bedeutenden europäischen Sprachen übersetzt wurde, besang er den Sennbauern, der, durch seine hohen Berge abgeschirmt von Luxus, Ausschweifungen, Gier und Mode, die in den Ländern um ihn herum herrschten, nach den Gesetzen der Natur lebte, in Bedürfnislosigkeit und Reinheit. Freiheitsliebend war sein Geist, offen seine Sprache, einfach war seine Nahrung, mit Tierhäuten bekleidete er sich, seine Wohnung war die primitive Holzhütte. Schinckel studierte in der Schweiz Bauernhäuser wie Beispiele für die Vitruvianische Urhütte. Hallers Vision prägte bald in ganz Europa die Vorstellungen von der Schweiz, und hat ihren Einfluß nie ganz verloren. Zeitgenössische Schweizer Dichtungen, besonders die Idyllen des Salomon Geßner, bestätigten das Bild. Goethe schildert, wie er und zwei Reisegefährten in der Schweiz durch diese Vorstellung und durch „jene unbedingte Richtung nach einer verwirklichten Naturfreiheit, die damals allgemein verbreitet war", dazu verleitet wurden, „ihre frische Jünglingsnatur zu idyllisieren" und nackt zu baden. Die guten harmlosen Jünglinge, welche gar nichts Anstößiges fanden halb nackt wie ein poetischer Schäfer, oder ganz nackt wie eine heidnische Gottheit sich zu sehen, wurden von Freunden erinnert dergleichen zu unterlassen. Man machte ihnen begreiflich: sie weseten nicht in der uranfänglichen Natur, sondern in einem Lande das für gut und nützlich erachtet habe an älteren, aus der Mittelzeit [dem Mittelalter] sich herschreibenden Einrichtungen und Sitten fest zu halten.92

In diesem Land konzentrierte sich das Interesse am Primitiven wohl mehr als irgendwo sonst in Europa: Der größte Teil unserer Protagonisten gehört hierher: neben Rousseau Pestalozzi, Lavater, Bodmer, Breitinger, Haller und Füßli, der klassische Maler der ungezügelten Leidenschaften im Klassizismus. Hier erscheint der „primitive" dorische Stil besonders früh in der städtischen Architektur. Rousseau widmete den Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen seinen Genfer Mitbürgern. In der Widmung stellt er fest, daß seine Heimat seinem gesellschaftlichen Ideal am nächsten komme: gerade weil es ein kleines Land sei, ohne Luxus, ohne Glanz, ohne Macht. Es lebe in Frieden, weil es zu unbedeutend sei, um den Neid der Nachbarn zu wecken, und selbst keinen Expansionsdrang habe. 91

92

Stael-Holstein, Anne Louise Germaine de, Über Deutschland. Komm. dt. Ausg.: Bosse, Monika. Frankfurt/M. 1985, S. 128ff. Goethe, Johann Wolfgang, Sämtliche Werke. München 1985. Bd. XVI, S. 794f. (Dichtung und Wahrheit).

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Er rühmt die freie demokratische Gesellschaft, die seinerzeit einzigartig war. Hier sei das Volk souverän und bestimme das Interesse am gemeinschaftlichen Glück. In ihrer weisen Verfassung überträfen die Genfer und überhaupt die Schweizer selbst die alten Athener, und in ihrer Freiheit überträfen sie das römische Volk, das „Musterbild aller freien Völker", denn nicht einmal dies war imstande, wie Rousseau bemerkt, sich selbst zu regieren.93 Vergleiche der eigenen Volksherrschaft mit der antiken Demokratie waren damals sehr verbreitet in der Schweiz.94 Rousseau war nach den Absichten, die er ausdrücklich formulierte, kein Utopist. Er strebte keine neue ideale Republik an. Er fürchtete vielmehr, daß ein theoretischer Gesellschaftsentwurf trotz, wenn nicht gerade wegen aller guten Vorkehrungen realiter nicht funktioniere.

Abschließende Gedanken Wir betrachten zusammenfassend, was den Kult des Primitiven im Klassizismus auszeichnet. Die Primitivität, die in der Frühzeit der menschlichen Entwicklung herrschte, wurde als derjenige Zustand hingestellt, der dem Menschen seiner Natur nach am angemessensten sei. Man erkannte sie mit verschiedenen Ausprägungen und Graden in mehreren Bereichen der Vorgeschichte des Abendlandes oder in der Gegenwart der Neuen Welt. Trotz der idealen Züge bildete dieser Zustand, so wie man ihn sich vorstellte, keine in die Vergangenheit oder in die Ferne projizierte Utopie. Es fehlt eine gesellschaftliche Konzeption, wie sie die Utopie auszeichnet. Im Gegenteil, der Primitivismus stellt die Grundlagen einer menschlichen Gesellschaft, Gesetz und Ordnung, zusammen mit den Auswirkungen der Zivilisation generell in Frage. Der Primitive ist ungebunden, Einzelgänger. So gesehen, ist der Primitivismus geradezu eine Anti-Konzeption zur Utopie. In mancher Hinsicht gleichen die Vorstellungen von Arkadien dem Primitivismus. Sie waren schon in der Antike ausgebildet und erlebten eine neue Blüte im 18. Jahrhundert, besonders im Rokoko.95 Auch dort wird eine primitive Welt von Hirten und Jägern evoziert. Obwohl das Milieu idealische Züge trägt, ist es nicht als irdisches Paradies, also als völlig sorgenfreier Zustand, gemeint, ebenso wenig wie die Vorstellungen vom primitiven Leben, die im 18. Jahrhundert kursierten. In Arkadien gibt es ebenfalls Gewalttätigkeit und Tod. Aber dies bleibt im Hinter93 94 95

Rousseau, (wie Anm. 2), S. 18-20. Capitani, Frai^ois de, Die Antike im Schweizerischen Staatsdenken des 18. Jahrhunderts, in: Vorromantik in der Schweiz? Fribourg 1982, S. 217-237. Maisak, Petra, Arkadien. Genese und Typologie einer idyllischen Wunschwelt. Frankfurt/Bern 1981; Feiten, Florens, Arkadien. Freiburg 1987.

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grund, während es im primitiven Leben bestimmend ist. Auch Arkadien ist erfüllt von Leidenschaft. Aber sie geht allein in Liebe auf. Hier herrscht nur milde elegische Stimmung im Unterschied zur ungezügelten Leidenschaft des Wilden. Die Gefühle halten sich im Rahmen des Zivilisierten, des Konventionellen oder Schicklichen, sie sind angekränkelt von des Gedankens Blässe. Im Grunde handelt Arkadien von Höflingen und Literaten bei der Erholung von der Zivilisation. Tatsächlich tragen die Protagonisten in arkadischen Bildern oft aufwendige modische Kleidung, wie etwa in Giorgiones „Fete champetre" oder in Watteaus Werken, in denen sich Arkadien zum irdischen Paradies oder Venusberg verklärt. Derart schöngeistige Spielereien haben mit dem Kult des Primitiven im Klassizismus wenig gemein. Auch sie bilden eher ein zivilisatorisches Gegenstück. Der Zusammenhang von Primitivität mit übermenschlicher Größe war das, was im Klassizismus besonders faszinierte. Was dem Wilden an zivilisatorischen Tugenden abgeht, das gewinnt er durch die Gewalt seiner ursprünglichen Leidenschaften. Plutarch kommentiert das Urteil des Brutus über seine Söhne fassungslos, er wisse nicht, wie man sie würdigen solle: „Denn entweder hatte die Höhe seiner Tugend seine Seele über jedes Erleiden emporgehoben oder die Größe des Leidens zur Gefühllosigkeit. Keins von beiden ist klein noch menschlich, sondern entweder göttlich oder tierisch". Der Kult der Primitivität färbte auch auf die Sicht vom Künstler, von künstlerischen Normen, vom Kunstwerk und seiner Wirkung ab. Der ideale Wilde in der Zivilisation war in der Sicht des Klassizismus gewissermaßen das Genie.96 Parallel zum Kult der Primitiviät setzte die Verherrlichung des Genies ein. Füßli in dem zitierten Artikel zu Rousseau setzte auf das Genie, um die Wissenschaft aus ihrer Verkümmerung zu retten, um die „epidemische Schreibsucht" und die „jeden Stand der Gesellschaft überschwemmende Flut von Unsinn" einzudämmen: „Schuld daran ist einzig und allein: ,Die Bildung leicht gemacht!' Das einzige Mittel, um der Gelehrsamkeit ihre Würde und Nützlichkeit zu erhalten, wäre nach meiner Ansicht, sie zum ausschließlichen Vorrecht des Genies zu machen".97 Das Genie folgt nur seiner eigenen Natur, nicht den Normen der Gesellschaft, die nach Rousseau das ursprüngliche Talent nur unterdrücken. Sein extremer Sujektivismus grenzt an Wahnsinn und Torheit. Nach Rousseau gehört Naivität zum wahren Genie. Das Urbild des Genies ist im 18. Jahrhundert der mythische Heros Prometheus, der Schöpfergeist, der alles aus sich selbst bewirkt, wie der junge Goethe in dem Prometheus gewidmeten Gedicht schreibt. So, als Einzelgänger, der nur seiner Natur folgt, wurde nun auch der geniale Künstler schlechthin konzipiert. Homer und Shakespeare repräsentierten den genialen Künstler, nicht weil sie einem klas-

% 97

Schmidt, Jochen, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Darmstadt 1985. Füßli, (wie Anm. 28), S. 114.

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sischen Kanon gefolgt wären, sondern weil sie sich über die Regeln hinwegsetzten und eigene Maßstäbe aufstellten. Ausgehend von England, sprengte die Kunsttheorie die Fesseln der normativen Ästhetik, die seit der Renaissance geherrscht hatten. Individuelle Einbildungskraft und Affekte ersetzten das Korsett akademischer Regeln. „Regeln sind wie Krücken, eine nothwendige Hülfe für den Lahmen, aber ein Hindernis für den Gesunden", urteilt Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie. Mit Regeln schafft man nur Gewöhnliches, erst das Ausleben der natürlichen gestalterischen Kraft hebt ein Kunstwerk in den Bereich des Erhabenen. Das meint das schöne Wort von Franfois Fonelon: „Le beau qui n'est que beau [...] n'est beau qu'ä demi". Auch die Rezeption von Kunstwerken erschien in dem neuen geistigen Umfeld in einem anderen Licht. Kunstwerke sollten nicht mehr in erster Linie auf die Ratio wirken. Der überwältigende Effekt wurde gesucht, der Effekt, der so grandios, so überraschend und unfaßlich ist, daß er den Verstand überwältigt und die Gefühle aufwühlt.98 An der primitiven Architektur der alten Griechen und der barbarischen Gotik zog zuerst der überwältigende Effekt an. Nach Pseudo-Longinos Traktat über das Sublime, das den Ausgangspunkt für alle Gedanken dieser Art gab, sind Artefakte eigentlich nicht geeignet, um diesen Effekt auszulösen. Sie sind zu schwach dafür. In erster Linie die Natur soll ihn hervorrufen, bei Vulkanausbrüchen, Stürmen oder Feuersbrünsten. Die Utopie forderte als philosophisches Gesellschaftskonzept stets die Ratio als Maßstab. Der Primitivismus ließ die natürlichen Regungen zu ihrem Recht kommen. Utopie und Primitivismus stellten also unterschiedliche Ansprüche an den Intellekt. Die theoretischen Schriften zum „Erhabenen" sprechen diesen Aspekt sogar ausdrücklich an. Davon zeugen Romane wie Robinson Crusoe (1719) oder die „gothic novels" und im Bereich der Architektur die Kommentare zum Gotischen Haus in Wörlitz oder das Schloß von Dunmore. Utopie und Primitivismus hatten dadurch auch unterschiedliche Wirkungsfelder. Utopische Konzeptionen blieben weitgehend auf den engen akademischen Bereich beschränkt. Der Primitivismus erreichte ein breiteres Publikum. Als „popular view" bezeichnet Paul Frankl die geistige Strömung, die hinter der Neugotik im 18. Jahrhundert stand, mit ihrem Sinn für die gefühlsmäßige Wirkung und setzt sie gegen die „serious judgements" ab, die er den Vertretern der normativen Ästhetik zuordnet. Mir scheint die Zuordnung der Ernsthaftigkeit etwas voreingenommen für die akademischen Kollegen, aber ich habe den Eindruck, sie ist generell typisch für die akademische Haltung, Kunst abzugrenzen gegen das, was man abschätzig populäre Unterhaltung nennt, auch wenn es noch so gut gemacht ist.

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Burke, Edmund, A philosophical enquiry into the origins of our ideas of the sublime and beautiful. Komm. Ausg.: Boulton, James Thompson. London 1958. Pochat, Götz, Die Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie. Köln 1986, S. 419ff.

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Freilich blieben die Ideen seinerzeit nicht immer so strikt voneinander getrennt wie hier in der theoretischen Unterscheidung. Die Beispiele von Rousseau und Pestalozzi zeigen, daß der Primitivismus offen genug war, um sich mit gesellschaftlichen Konzeptionen zu verbinden. Die Wildheit ließ sich auch in verschiedenen Graden zähmen. Der Primitive konnte eine zivilisierte Moral annehmen. In dieser Fassung, als „edler Wilder", wurde er besonders populär und erlebte eine lange Nachfolge von Karl Mays Winnetou über Tarzan bis hin zu aktuellen Einzelkämpfem in der Zigaretten-Werbung, die von ähnlich heroischer Statur, wenn auch technisch versierter sind. Manchmal näherte sich der Primitivismus arkadischen Verhältnissen an. Davon zeugen die englischen Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts und ihre Nachfolger auf dem Kontinent, wie diejenigen in Wörlitz und Weimar.99 Die freie Landschaft soll dort nicht künstlerischen Normen untergeordnet, sondern ihrem natürlichen Charakter gemäß gestaltet werden. Darin stehen primitive oder barbarische Bauten. Zum Wörlitzer Park gehören eine „Urhütte", frühgriechische Tempel und gotische Häuser. Hinzu kommt ein Pavillon für eine ethnologische Sammlung, die Georg Forster bei einer Forschungsreise zu den Südsee-Insulanern zusammengetragen hatte. Insgesamt geradezu ein Freilichtmuseum des Primitiven in all seinen unterschiedlichen Ausprägungen. Im Wörlitzer Park ist an prominenter Stelle eine Gedächtnisstätte für Rousseau nach dem Vorbild von dessen Grab in Ermenonville angelegt."10 Die Inschrift charakterisiert Rousseaus Leistung dadurch, daß er „[...] die Witzlinge zum gesunden Verstand/die Wollvestigen zum wahren Genuss/die irrende Kunst zur Einfalt der Natur [...] zurückwies [...]". Gleich zu Beginn des Rundgangs trifft man auf ein Denkmal für Lavater. Der Schriftsteller Friedrich Matthisson, seinerzeit ein viel gelesener Lyriker, verglich den „edlen und lauteren" Geschmack, der von Wörlitz ausgehe, mit der Wirkung, die Rousseau und Gleichgesinnte ausübten.101 Rousseau beschreibt in dem Roman Julie oder die neue Helo'ise (IV, 11) liebevoll einen kleinen Garten im englischen Stil und setzt ihn gegen die Unnatur eines geometrisch geregelten Parks im französischen Stil ab. Als „Elysium" bezeichnet er diesen Garten. „Elysische Gefilde" gehörten zu vielen englischen Landschaftsgärten. Goethe schrieb gerührt vom Wörlitzer Park, er habe im Ganzen „den Charakter der Elysischen Felder"."12 Rousseaus Roman übte beträchtlichen Einfluß auf die Landschafts-

99

Buttlar, Adrian von. Der Landschaftsgarten: Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik. Köln 1989. Weltbild Wörlitz. Ausstellungskatalog. Frankfurt 1996. 100 Hirsch, Erhard, .Anhaltdessaubiederkeit'. Dessau-Wörlitz und die Schweiz zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit. Schweizer Einflüsse auf den Dessau-Wörlitzer Kulturkreis, in: Europa in der frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Weimar/Köln/Wien 1997, S. 197-232. 101 Matthisson, Friedrich, Briefe. Zürich 1795. Bd. II, S. 195. 102 Brief vom 14. Mai 1778 an Frau von Stein. Riesenfeld, E. P., Erdmannsdorff. Berlin 1913, S. 71.

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gärten im englischen Stil auf dem Kontinent aus.l(B Allerdings den Aufwand an Bauten in solchen Anlagen, Ruinen oder Tempeln mißbilligt Rousseau ausdrücklich: Da die Gärten der Erholung und dem Zeitvertreib dienten, meint er, sollten sie den Eindruck von Leichtigkeit erwecken und nicht an den Ernst des Lebens erinnern. Für Rousseau bildet der Landschaftsgarten also ein irdisches Paradies und nicht eine unterhaltsame Bildungsanstalt wie der Park in Wörlitz und manche andere dieser Art.

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Lauterbach, Iris, Der französische Garten am Ende des Anden Regime. Worms 1987, S. 21 ff; Majos, Geza, Romantische Gärten der Aufklärung. Englische Landschaftskultur des 18. Jahrhunderts in und um Wien. Wien/Köln 1989, S. 39ff.

ULF KÜSTER (Leipzig)

Natur ordnen. Landschaftserfahrung im 18. Jahrhundert

Im ersten Kapitel seiner Vorlesung Anfangsgründe der Tiergeschichte verwendete Georg Forster 1781 ohne Änderung und ohne Angabe der Quelle eine Passage aus dem 12. Band von Georges Leclerc Comte du Buffons Histoire naturelle, der 1764 in Paris erschienen war. Aus diesem Text seien einige Passagen an den Anfang meiner Ausführungen gestellt, die man wie Leitmotive der Auffassung und Erfahrung von Natur im 18. Jahrhundert verstehen kann: Die Erdoberfläche ist vermöge ihrer höhern Lage vor den Ausbrüchen des Meeres gesichert. Ihre Oberfläche ist mit Blumen bestreuet, mit einem sich stets verjüngenden Grün geschmückt, mit vielen tausend Tierarten bevölkert; sie ist ein schöner freudiger Aufenthalt, wo der Mensch, hingestellt um der Natur zu Hülfe zu kommen, vor allen Wesen den Vorrang hat. Gott machte ihn allein fähig, ein Beschauer seiner Werke, ein Zeuge seiner Wunder zu sein. Der göttliche Funke, der in ihm lebt, macht ihn dieser Geheimnisse teilhaftig. Indem der Mensch die Natur, den Vorhof des Thrones göttlicher Herrlichkeit, betrachtet und ermißt, erhebt er sich stufenweise zum inwendigen Sitze der Allmacht und Allgegenwart. [...] Doch dieser Vorzug ist dem Menschen ausschließend eigen. Zur Anbetung des Schöpfers gemacht, gebietet er über alle Geschöpfe; als Vasall des Himmels, und König der Erde, veredelt, bevölkert, und bereichert er sie: er zwingt die lebenden Geschöpfe zur Ordnung, Unterwürfigkeit und Eintracht; er selbst verschönert die Natur; er bauet, erweitert und verfeinert sie. Er rottet Disteln und Domen aus, pflanzt Weinstöcke und Rosen an ihre Stätte. Dort liegt ein wüster Erdstrich, eine traurige, von Menschen nie bewohnte Gegend, deren Höhen mit dichten schwarzen Wäldern überzogen sind. Bäume ohne Rinde, ohne Wipfel, gekrümmt, oder vor Alter hinfällig und zerbrochen; andere in noch weit größrer Zahl, an ihrem Fuße hingestreckt, um auf bereits verfaulten Holzhaufen zu modern, - ersticken und vergraben die Keime, die schon im Begriff waren, hervorzubrechen. Die Natur, die sonst überall so jugendlich glänzt, scheint hier schon abgelebt; [...] die Erde, mit den Trümmern ihrer eigenen Produkte belastet, trägt Schutthaufen, anstatt des blumigen Grüns, und abgelebte Bäume, die mit Schmarotzerpflanzen, Moosen und Schwämmen, den unreinen Früchten der Fäulnis, beladen sind. In allen niedrigen Teilen dieser Gegend stockt totes Wasser, weil es weder Abfluß noch Richtung erhält; das schlammige Erdreich, das weder fest noch flüssig, und deshalb unzugänglich ist, bleibt den Bewohnern der Erde und des Wassers unbrauchbar [...] Sümpfe, die mit übel riechenden Wasserpflanzen bedeckt sind, ernähren nur giftige Insekten, und dienen unreinen Tieren zum Aufenthalt. Zwischen diesen Morästen und den verjährten Wäldern auf der Höhe, liegt eine Art Heiden und Gräsereien, die unsem Wiesen in nichts ähnlich sind. Die schlechten Krauter wachsen dort über die guten weg, und ersticken sie. Es ist nicht der feine Rasen, den man den Flaum der Erde nennen könnte, nicht eine beblümte Aue, die ihren glänzenden Reichtum von fernher verkündigt; es sind rauhe Gewächse, harte stachlichte, durch einander geschlungene Krauter, die nicht sowohl fest gewurzelt als unter sich verwirrt zu sein scheinen, nach und nach verdorren, einander verdrängen, und eine grobe, dichte, und mehrere Schuhe dicke Watte bilden. Keine Straße, keine Gemeinschaft, nicht einmal die Spur von einem verständigen Wesen zeigt sich in dieser Wüstenei. Will der Mensch sie durchwandern, so muß er den Gängen wilder Tiere nachspüren, und stets auf seiner Hut sein, wenn er ihnen nicht zum Raube werden soll. Ihr Gebrüll erschreckt ihn; ein Schauder überfällt ihn selbst bei dem Stillschweigen dieser tiefen Einöde. Plötzlich kehrt er um, und spricht: Die Natur ist scheußlich, und liegt in ihren letzten Zügen; ich, nur ich allein, kann ihr

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Ulf Küster

Anmut und Leben schenken. Auf! laßt uns jene Moräste trocknen, jenes tote Wasser beleben, fließend machen, Bäche und Kanäle damit anlegen! [...] Hüpfende Herden sollen diesen vormals unwegsamen Boden betreten, dort reichlichen Unterhalt, eine immergrüne Weide finden, und sich immer stärker vermehren. Diese neuen Hülfsmittel nutzen wir zur Vollendung unseres Werkes; wir beugen den Ochsen unter das Joch, und lassen ihn das Land mit Furchen beziehen; bald grünt die neue Saat auf unsern Äckern, und eine neue, verjüngte Natur geht aus unsem Händen hervor!'

Buffon beschreibt hier zweierlei: zum einen die Natur in ihrem Idealzustand, der aber ein Zustand ist, in dem der Mensch als Stellvertreter, als „Vasall" Gottes agiert und sich die Natur schon untenan gemacht hat. Er verschönert sie und gebietet über alle Geschöpfe. Zum anderen wird die Natur ohne Einfluß des Menschen beschrieben; es wird ein „Erdstrich" geschildert, der „eine traurige, von Menschen nie bewohnte Gegend" ist. Und diese Gegend, also die Natur ohne Mensch, ist „scheußlich", liegt in ihren letzten Zügen und wartet nur darauf, vorn Menschen verschönert und geordnet zu werden. Buffon schildert hier nur insofern eine Utopie, als es den glücklichen Zustand des Menschen als Herrscher über die Natur im 18. Jahrhundert nicht gab und bis heute nicht gibt. Die Natur als Chaos allerdings ist im 18. Jahrhundert mehr Realität gewesen, als man gemeinhin anzunehmen bereit ist. Die vom Menschen des 18. Jahrhunderts vorgefundene Natur war tatsächlich größtenteils schon abgelebt. Die von Buffon erwähnten dichten schwarzen Wälder allerdings gab es nicht: Man muß sich vorstellen, daß der größte Teil der Wälder Mitteleuropas wenn nicht abgeholzt, so doch heillos übernutzt war. Dafür gibt es einfache Gründe: 1. Holz war immer noch Hauptbrennstoff, wobei das Problem nicht nur war, daß Bäume gefällt wurden, sondern daß die Leute, die nur Reisig sammeln durften, Zweige von den Bäumen abschlugen, diese also in ihrem Wachstum behinderten. Hier spielt auch eine gewissermaßen „feudale", soziale Komponente mit. 2. Wälder waren seit dem Mittelalter Weideflächen. Das Vieh wurde hineingetrieben und fraß alles ab, was es erreichen konnte. Zudem wurde Laub gesammelt und der obere Waldboden abgetragen und als Viehstreu in den Ställen verwendet. Es bildeten sich extrem lichte Wälder ohne Unterholz, sogenannte Hude- oder Hütewälder, mit Bäumen, die die charakteristischen sogenannten Fraßkanten zeigen. „Bäume ohne Rinde, ohne Wipfel", wie von Buffon beschrieben, gab es tatsächlich. Resultat von Überweidung ist die Heide, auf der nur das wächst, was das

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Forster, Georg, Anfangsgründe der Tiergeschichte. Einleitung. [= Übersetzung Forsters aus: Buffon, Georges Louis Leclerc Comte de, Histoire naturelle, generate et particuliere. Bd. 12/13. Paris 1764/65], in: Forster, Georg, Werke in vier Bänden, hg. v. Gerhard Steiner. Bd. 2: Kleinere Schriften zur Naturgeschichte, Länder- und Völkerkunde. Ansichten vom Niederrhein. Frankfurt/M. 1969. Zitiert nach: Garten und Wildnis, Landschaft im 18. Jahrhundert, hg. von Hansjörg und Ulf Küster. München 1997, S. 51-53. Anregung zur Beschäftigung mit dem Thema fand ich, zusammen mit meinem Bruder, vor allem bei der Herausgabe dieser Anthologie, die ganz bewußt die „praktische" Landschaftserfahrung etwas mehr als bisher in den Vordergrund rückt.

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Vieh nicht frißt, also beispielsweise Heidekraut, und, in den Worten Buffon/ Forsters, „Disteln und Dornen". Buffons Text zeigt nun deutlich, wie sehr man schon im 18. Jahrhundert vergessen hatte, wer der eigentliche Urheber des katastrophalen Umweltzustandes gewesen ist, nämlich der Mensch selbst. Der Erdstrich, der von Buffon als nie bewohnte Gegend beschrieben wird, ist eigentlich Resultat der Übernutzung durch den Menschen. Nicht lange danach wird die übernutzte Natur, die für Buffon noch scheußlich war, positiv als romantische Urlandschaft beschrieben, aber vor allem gemalt und in den sogenannten englischen Parks konserviert. Die großflächigen englischen Parks des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts sind eigentlich künstlich angelegte oder konservierte Hudewälder.2 Den Forstleuten des 18. Jahrhunderts allerdings war bekannt, wo das Problem lag: Es gab eine Vielzahl von Bemühungen, den Raubbau an den Wäldern zu regulieren und des Holzmangels Herr zu werden - z.B. die Einführung schnellwachsender ausländischer Bäume. Schließlich führte dies zur Etablierung der Forstwissenschaft als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin. Nicht nur im Wald bestand Ordnungsbedarf. Es gab in Mitteleuropa im 18. Jahrhundert tatsächlich Landstriche, oder wenn man so will, Natur, die scheußlich, also vom Menschen noch nicht völlig geordnet worden war, aber doch schon genutzt wurde. Das sind hauptsächlich sumpfige Flußniederungen, in Brandenburg heißen sie Luch, die systematisch kolonisiert, d.h. durch Eindeichung landwirtschaftlich besser nutzbar gemacht wurden. Bis heute haben wir - denkt man an das Oderhochwasser im Sommer 1997 - mit den Folgen dieser Kolonisierung zu tun. Anton Friedrich Büsching schildert in der Beschreibung seiner Reise von Berlin nach Kyritz in der Prignitz, welche er vom 26sten September bis zum 2ten October 1779 verrichtet hat, den Zustand des havelländischen Luchs vor der Kultivierung, d.h. „Ordnung" durch König Friedrich Wilhelm I. und seinen Sohn Friedrich den Großen, was in gewisser Weise an Buffon erinnert: Der Boden quoll im Frühjahr von dem vielen Wasser an und erhob sich; das Vieh, welches sich zur Weide hinein begab, mußte entweder durch die tiefsten wässerigen und morastigen Gegenden (man nennet sie Lanken) bis an die Weideplätze schwimmen oder sonst mit größter Mühe durch dieselben setzen, davon es nicht nur ganz unflätig ward, sondern auch die Milch verlor. Oft blieb eine Kuh in dem Morast stecken und ward entweder mit unsäglicher Mühe auf Wagen und Schlitten, kalt, kraftlos und krank herausgebracht oder an dem Ort, wo sie versunken war, geschlachtet und zerstückt herausgetragen. Das Gras ward an den nassen und weichen Stellen so tief hineingetreten, daß es sich nicht wieder erheben konnte, es war auch überhaupt von saurer Art. Ward es gemähet und das Heu aufgehäuft, so mußte man es großenteils bis in den Winter stehen lassen und warten, bis der Boden gefroren war, damit man mit Wagen zu den Heuhaufen kommen konnte. Alsdenn aber waren sie gemeiniglich, inson-

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Vgl. Küster, Hansjörg, Geschichte der Landschuft in Mitteleuropa. München 1995, S. 233245.

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derheit wenn die Winter gelinde und naß waren, unten und oben verfault, ja zuweilen, wenn der Wind sie zerrüttet hatte, von dem eingedrungenen Regen durch und durch verdorben.3

In demselben Jahr, 1779, machte Friedrich der Große eine Inspektionsreise ins Havelländische Luch, um sich vom Erfolg der Kolonisierungsmaßnahmen selbst zu überzeugen. Auf einem Teil seiner Reise, die der König in der Kutsche absolvierte, begleitete ihn der Oberamtmann Fromme, der neben dem Wagen herreiten und dem König Auskunft über Land und Leute geben mußte. Fromme berichtete von diesem Gespräch seinem Onkel Johann Wilhelm Ludwig Gleim, der es 1784 in Dialogform in Halberstadt veröffentlichte. Theodor Fontäne hat in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg Auszüge daraus publiziert. Während der Reise fragte der König den Oberamtmann: Aber macht mir einmal eine Idee: Wie hat das Luch ausgesehen, eh es abgegraben war? Der Beamte: Es waren lauter hohe Hüllen [stehende Wasser, U. K.], dazwischen setzte sich das Wasser. Bei den trockensten Jahren konnten wir das Heu nicht herausfahren, sondern wir mußtens in große Mieten setzen. Im Winter nur, wenns scharf gefroren hatte, konnten wirs herausfahren. Nun aber haben wir die Hüllen herausgehaun, und die Graben, die Diro Majestät machen lassen, ziehen das Wasser ab. Nun ist das Luch so trocken, wie Ihro Majestät sehn, und wir können unser Heu herausfahren, wann wir wollen.4

Am Ende seiner Reise, auf den Stöllner Bergen bei Havelberg, machte sich der König ein abschließendes Bild von der Gegend, die er bereist hatte: Als Ihro Majestät ausstiegen aus dem Wagen, ließen Sie sich einen Tubum [Fernrohr, U. K.] geben und besahn die ganze Gegend und sagten dann: Das ist wahr, das ist wider meine Erwartung! Das ist schön! Ich muß euch das sagen, alle, die ihr daran gearbeitet habt! Ihr seid ehrliche Leute gewesen!5

Hier sei kurz innegehalten: Ich habe mich deswegen so lange beim ganz praktischen, landwirtschaftlichen Ordnen von Natur aufgehalten, weil ich glaube, daß bisher nicht genügend beachtet wurde, wie sehr im 18. Jahrhundert das Bedürfnis und die Notwendigkeit bestanden, die konkret vorgefundene Umwelt, für Buffon die „scheußliche Natur", zu ordnen. Mein zweites Anliegen war zu zeigen, daß das Ergebnis von Ordnungsarbeiten, die nicht unter primär ästhetischen Gesichtspunkten verrichtet worden sind, wie beispielsweise ein trockengelegtes Sumpfgebiet, als „schön" empfunden werden konnte. König Friedrich findet das Rhinluch „schön" und lobt dessen Schöpfer, nämlich seine Beamten: Ungeordnete Natur wird zu landwirtschaftlicher Nutzfläche, und diese wird zu Landschaft.

Büsching, Anton Friedrich, Beschreibung seiner Reise van Berlin nach Kyritz in der Prignitz,

welche er vom 26sten September bis zum 2ten October 1779 verrichtet hat. Leipzig 1780, in: Garten und Wildnis, (wie Anm. 1), S. 147f. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig, Reisegespräch des Königs im Jahr 1779. Halberstadt 1784, in: Garten und Wildnis, (wie Anm. I), S. 160. Ebd., S. 163.

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Landschaft ist unter sich verändernden ästhetischen Gesichtspunkten geordnete und subjektiv erfahrene Natur. Natur ohne Ordnung ist wenn nicht scheußlich, so doch ästhetisch ungenießbar. Landschaft ist ein Bild, sie ist Naturutopie und bezieht sich schon im 18. Jahrhundert auch auf Bereiche wie Landwirtschaft und Geographie. Sucht man allerdings nach Definitionen des Begriffes „Landschaft" im 18. Jahrhundert, stößt man fast ausschließlich auf den Bereich der Bildenden Kunst. Landschaft ist vor allem Landschaftsgemälde. Und auch dieses ist Resultat einer Ordnung von Natur: Der Maler skizziert im Freien verschiedene Ansichten nach der „leblosen Natur". Als solche bezeichnet sie 1774 Johann Georg Sulzer in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste. Im Atelier werden dann diese Versatzstücke der Realität zu einem Bild kombiniert, das aber im Sinne Sulzers nur eine wirklich gute Landschaft darstellt, wenn der Maler „sittliche und leidenschaftliche Gegenstände mit den Szenen der leblosen Natur verbindet". Als sittlichen und gleichzeitig leidenschaftlichen Gegenstand führt Sulzer die Geschichte vom barmherzigen Samariter an.6 Landschaft als Gemälde ist geordnete Natur, kommt aber im 18. Jahrhundert nicht ohne die Darstellung des Menschen aus, zu dem sie in eine Wechselbeziehung tritt, d.h. der Charakter der Landschaft muß der dargestellten Szene angepaßt sein und umgekehrt. Der Landschaftsmaler als jemand, der Natur zu Landschaft ordnen kann, ist in einer schöpferähnlichen Position. In den Salonkritiken der Bilder Claude-Joseph Vemets von 1767 schreibt dies Denis Diderot geradezu unverhohlen. Die im Freien erfahrene Natur mache einen viel geringeren Eindruck als die durch Vernet zur Landschaft geordnete Natur: Erstaunlich [...] ist, daß sich der Künstler in zweihundert Meilen Entfernung von der Natur noch an diese Effekte erinnert, obgleich das Modell nur in seiner Einbildungskraft gegenwärtig ist [...]. Er sagt: ,Es werde Licht', und es wird Licht; er sagt: ,Die Nacht folge dem Tag, und der Tag folge der Finsternis', und es wird bald dunkel, bald hell. Seine ebenso richtige wie fruchtbare Einbildungskraft liefert ihm alle diese Wahrheiten in so überzeugender Gestalt, daß derjenige, der sie am Ufer des Meeres kühl und ruhig beobachtet hat, auf der Leinwand von ihnen in höchstes Erstaunen versetzt wird. Tatsächlich verkünden solche Kompositionen die Größe, die Macht, die Erhabenheit der Natur besser als die Natur selbst. Es steht geschrieben: Coeli narrant gloriam Dei [Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, Psalm 19,3, U. K.]. Aber hier sind es die Himmel Vernets; hier ist es der Ruhm Vemets.7

Noch im 18. Jahrhundert wird das Ordnen von Natur in Frage gestellt. Am offensichtlichsten wird dies in der Kritik Carl Ludwig Willdenows an der Naturordnung Carl von Linnes, in die später auch Alexander v. Humboldt, Schüler Willdenows,

Sulzer, Johann Georg, Landschaft in: ders., Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Zweiter Theil. Leipzig 1774, in: Garten und Wildnis, (wie Anm. 1), S. 218. Diderot, Denis, Der Salon von 1767, in: ders., Ästhetische Schriften. Bd. 2, hg. von Friedrich Bassenge, übersetzt von Friedrich Bassenge und Theodor Lücke. Berlin/Weimar 1968, in: Garten und Wildnis, (wie Anm. 1), S. 240f.

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einstimmte. Linne" hatte sein in den Grundzügen ja noch bis heute gültiges botanisches System viel zu schematisch aufgebaut, seine Ordnung beruht beispielsweise auf der jeweiligen Anzahl von Blütenblättem oder Staubfäden in der Blüte, wobei sich teilweise ganz unsinnige Pflanzenverwandtschaften ergeben. Die Komplexität der Natur wird dadurch völlig unzureichend dargestellt.8 Gegenüber der Natur, die sich beim besten Willen nicht praktisch ordnen ließ, nämlich zum Beispiel die Alpen, stießen auch die Landschaftsmaler allmählich an unüberwindliche Grenzen. Die ebenfalls zu schematischen Ordnungsregeln der Kunsttheoretiker wie Sulzer konnten das Problem der überzeugenden Darstellung der Natur nicht lösen. Dem Landschaften malenden Laien Goethe war dies bewußt: In Dichtung und Wahrheit berichtet er über seine Schwierigkeiten mit der Darstellung der Alpen, die während seiner Reise in die Schweiz 1775 auftraten. Dieser Textausschnitt zeigt, wie sich 1811, zu dem Zeitpunkt, zu dem Goethe seine Erinnerungen niederschrieb, der Landschaftsbegriff in seiner Bedeutung weiter aufgefächert hatte: Ehe wir aber von diesen herrlichen Höhen wieder zum See und zur freundlich liegenden Stadt hinabsteigen, muß ich noch eine Bemerkung machen über meine Versuche, durch Zeichnen und Skizzieren der Gegend etwas abzugewinnen. Die Gewohnheit, von Jugend auf die Landschaft als Bild zu sehen, verführte mich zu dem Unternehmen, wenn ich in der Natur die Gegend als Bild erblickte, sie fixieren, mir ein sicheres Andenken von solchen Augenblicken festhalten zu wollen. Sonst nur an beschränkten Gegenständen mich übend, fühlte ich in einer solchen Welt gar bald meine Unzulänglichkeit. Drang und Eile zugleich nötigten mich zu einem wunderbaren Hilfsmittel; kaum hatte ich einen interessanten Gegenstand gefaßt und ihn mit wenigen Strichen im allgemeinsten auf dem Papier angedeutet, so führte ich das Detail, das ich mit dem Bleistift nicht erreichen noch durchführen konnte, in Worten gleich daneben aus und gewann mir auf diese Weise eine solche innere Gegenwart von dergleichen Ansichten, daß eine jede Lokalität, wie ich sie nachher in Gedicht oder Erzählung nur etwa brauchen mochte, mir alsobald vorschwebte und zu Gebote stand.9

Versuche, der Natur durch Sprache Herr zu werden, hat es im 18. Jahrhundert immer wieder gegeben. Johann Gerhard Reinhard Andreae beispielsweise, der 1763 auf den Gotthard reiste, gab jedem Landschaftsabschnitt, den er durchwanderte, einen Namen: „Tal des Todes", „Tal der Verzweiflung" usw.10 Wilhelm Heinse war 1780 angesichts des Rheinfalls bei Schaffhausen sogar davon über-

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Vgl. hierzu Linno, Carl von, Des Ritters Carl von Linne vollständiges Pflanzensystem, hg. von Georg Wolfgang Friedrich Panzer. Erster Theil: Von den Palmbäumen und ändern Bäumen. Nürnberg 1777, in: Garten und Wildnis, (wie Anm. 1), S. 76-81. Carl Willdenows Kritik an Linn6s System: Willdenow, Carl, Anleitung zum Selbststudium der Botanik, ein Handbuch zu öffentlichen Vorlesungen. Berlin 1804, in: Garten und Wildnis, (wie Anm. 1), S. 82-84. Zitiert aus: Goethe, Johann Wolfgang von. Poetische Werke. Berliner Ausgabe. Bd. 13: Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. 19. Buch. Berlin 1960, S. 801. Andreae, Johann Gerhard Reinhard, Briefe aus der Schweiz nach Hannover geschrieben, in dem Jahr 1763. Zürich, Winterthur 21776, in: Garten und Wildnis, (wie Anm. 1), S. 262-274.

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zeugt, daß die Naturschilderung durch Sprache der Malerei überlegen sei, unter anderem weil die Malerei Bewegung nicht darstellen könne: Auch das bestgemalte Bild von ihm [dem Rheinfall, U. K.] wird immer tot bleiben. Die Heftigkeit der Bewegung gibt ihm das Leben, welches warm und kalt ans Herz greift, daß einem vor Entzücken und Furcht der Odem außenbleibt. [...] Der Perlenstaub, der überall, wie von einem großen wütenden Feuer herum dampft und wie von einem Wirbelwind herumgejagt wird, und allen den großen Massen einen Schatten erteilt, oder sie gewitterwolkicht macht, bildet ein so fürchterliches Ganzes mit dem Flug und Schuß und Drang, und An- und Abprallen, und Wirbeln und Sieden und Schäumen in der Tiefe, und dem Brausen und dem majestätischen erdbebenartigen Krachen dazwischen, daß alle Tiziane, Rubense und Vemets vor der Natur müssen zu kleinen Kindern und lächerlichen Affen werden.''

Wie die von Goethe in Dichtung und Wahrheit erwähnten Versuche aussahen, Natureindrücke in Sprache zu übersetzen, zeigt ein nur schwer zu entziffernder Text, eine Landschaft in Worten, entstanden wohl 1775 auf der Schweizreise: Das nächste hell un[d] deutlich Alp Schnee im Vorgrund und weiße Runsen [Rinnen] Tanne[n] auf dem Rücken ab Berge gegen über mit Tan[nen] reihen deutlich in der Sonne schwarz die Tann[en] Seen grün u dunklich Zwischen allem Wolken Über allem Wolken Der Abstich des Trüben und klaren Das Trübe hell das klare schwarz fest bestimfmt] NB NB die Kontraste die Waldbewachsenfen] finstren Gipfel des Berges die Wolke licht die sich drauf aufhebt. Der See heller als der Nebel hoch dunkler ab Das Buschig Gehaune der Berge Das brockliche Absinken des Rasen durch Schnee und Gewässer. An den Tag komm[en] Felsen zusammen gebacken von Fluß stein[en] Fichten die Wurzelfassen und stürzen von den Felsen wenn der Rasen nicht mehr halten kann Meist kleine Fichten halbwüchsige viel gestürzte starke Das streifigte der bewachsnen Felsen vom Ablaufen des Wassers. Die Entdeckung der festen Felsen vom gesunkenen Rasen Oben Fichten tiefer ab Buchen, Ahorn, tiefe[r] Nußbäume. 12

Diese Versuche, Natur durch Sprache darzustellen, wirken ja doch sehr unbeholfen: Man kann sich vielleicht noch etwas vorstellen unter einem „grün und dunklichen See", aber was ist „das brockliche Absinken des Rasens" usw.? Vielleicht ist aufschlußreich, daß Goethe am Ende dieses Textes einfach nur noch wissenschaft11

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Heinse, Wilhelm, Sämtliche Werke, hg. von Carl Schüddekopf. Bd. 7: Tagebücher von 1780 bis 1800. Leipzig 1909, in: Garten und Wildnis, (wie Anm. 1), S. 246f. Goethe, Johann Wolfgang von, Tagebuch der Reise in die Schweiz. Juni 1775, in: ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 1.2.: Der junge Goethe 2, J757-1775, hg. von Gerhard Sauder. München 1987, in: Garten und Wildnis, (wie Anm. 1), S. 276f.

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liehe Beobachtungen mitteilt, nämlich die verschiedenen Vegetationsstufen, die man in den Alpen sehen kann: Oben wachsen Fichten, die zu einem gewissen Grad Kälte vertragen können, und ganz unten wachsen dann auch Nußbäume, die nur wärmeres Klima gewohnt sind. Das war damals ein ziemlich aktuelles Thema; Albrecht von Haller hatte darüber geschrieben und festgestellt, daß die Schweiz klimatisch wie ganz Europa sei: Auf den Gipfeln sei es wie auf Spitzbergen, und in Lugano habe man schon subtropisches Klima wie in Spanien. Auf solchen Beobachtungen gründet sich dann später die Höhenstufentheorie Alexander von Humboldts. "3 Goethe selbst, der später, wie er ja in seinen Erinnerungen schreibt, von der Methode, Bilder in Worten zu „malen", ziemlich überzeugt war, hatte 1775 damit seine Probleme und hat sich darüber auch in seinem Schweizer Reisetagebuch geäußert. Offensichtlich machte er sich damals Gedanken darüber, wie Natur darzustellen sei, ohne daß man sie zu Landschaft macht, also eine subjektive Ordnung zwischen Natur und den Rezipienten stellt: Wenn meine Gedanken Federn wären und den Weg ab Pergamente von Engeln auf und ab gerollt, das Unmittelbarer Ausdruck von der Natur, um sein selbst willen [...]14

Was Goethe meint, ist wohl: Wenn meine Gedanken Schreibfedern wären und alles das, was ich denke, sofort aufgeschrieben würde, was bedeutete, daß Engel immer genügend Papier oder Pergament den Weg entlang bereitstellten, dann wäre es möglich, die Natur so, wie sie wirklich ist, unmittelbar darzustellen. Deutlich zeigt Goethe hier die Unzulänglichkeit des Ordnens von Natur. Das Problem freilich, wie man denn den „Unmittelbaren Ausdruck von der Natur" darstellen soll, ist bis heute nicht gelöst.

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Vgl. Haller, Albrecht von, Sammlung kleiner Hallerischer Schriften, erster Theil. Bern 21772, in: Garten und Wildnis, (wie Anm. 1), S. 289-292. Goethe, (wie Anm. 12), S. 276.

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Die Wörlitzer Anlagen zwischen Englischem Landschaftsgarten und Bon-Sauvage-Utopie? Die Vorbildhaftigkeit englischer Landschaftsgestaltung für das Dessau-Wörlitzer Gartenreich wurde seit seiner Entstehung - den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts von Anbeginn an betont und hervorgehoben. So veröffentlichte August Rode, Hofmeister und Diplomat des Fürsten Franz und einer seiner engsten Mitarbeiter bei seinem reformerischen Werk, den offiziellen Wegweiser durch das Gartenreich unter dem Titel Beschreibung des Fürstlichen Anhalt=Dessauischen Landhauses und Englischen Gartens zu Wörlitz (1788, 1795, 1798, 1814, 1818).' Ebenso wurde die bald einsetzende Sekundärliteratur bis heute nicht müde, das englische Vorbild zu betonen, z.B. Adrian von Buttlar 1989: „Der Park von Wörlitz bei Dessau gilt als der erste Landschaftsgarten Deutschlands, der das englische Vorbild wirklich verständnisvoll übernimmt."2 Als zweite und damit zusammenhängende Inspirationsquelle wurde auf Italien und die Antike verwiesen. In der zwischenzeitlich zahlreich angewachsenen Literatur über das Gartenreich wurden darüber hinaus weitere Interpretationsmuster aufgezeigt: neben einem aufgeklärt-humanistischen konnte ein literarisch-mythologisches, ein politisch-weltanschauliches und nicht zuletzt ein kosmologischerotisches Programm des Fürsten Franz und seiner Berater und Mitarbeiter nachgezeichnet werden.3 Aufklärerisch-reformerisches Potential verband sich dabei nicht zuletzt auch mit den seit der Antike und dem frühen Christentum existierenden Topoi des Goldenen Zeitalters und paradiesischer Zustände.4 Beschreibung des Fürstlichen Anhalt-Dessauischen Landhauses und Englischen Gartens zu Wörlitz von August Rode, hg. v. Ludwig Grote. Dessau 1928. Die erste Beschreibung erschien 1788, eine zweite 1798, die noch ein weiteres Mal unverändert 1814 aufgelegt wurde. 1818 gab Rode dann eine Beschreibung des Gotischen Hauses und weitere Ergänzungen heraus. Grote legte seiner Ausgabe diejenige von 1818 zugrunde, vgl. ebd. das Nachwort S. 139. Rode, August, Beschreibung des Fürstlichen Anhalt-Dessauischen Landhauses und Englischen Gartens zu Wörlitz. Dessau 1798, in: Staatliche Schlösser und Gärten zu Wörlitz, Oranienbaum, Luisium (Hg.), Der Englische Garten zu Wörlitz. Berlin 1987, S. 9-139; Ross, Hartmut, August Rode und das Dessau-Wörlitzer Reformwerk, in: ebd., S. 143-164, v.a. S. 143ff. Buttlar, Adrian von, Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik. Köln 1989, S. 141. Vgl. hierzu auch die beiden Beiträge von Erhard Hirsch und Michael Niedermeier in diesem Band. Niedermeier, Michael, Aufklärung im Gartenreich Dessau-Wörlitz, in: Bechtoldt, Frank-Andreas/Weiss, Thomas (Hg.), Weltbild Wörlitz. Entwurf einer Kulturlandschaft. Katalog der

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Demgegenüber fand ein weiteres Mythem mit dem Hinweis auf zeitgenössische modische Exotismen, (oder vielleicht auch aus Angst, das Etikett eines „Disneylands des 18. Jahrhunderts" zu bedienen), kaum Beachtung, das vor allem zur Entstehungszeit des Gartenreiches die Phantasie und Gedankenwelt des 18. Jahrhunderts bewegte, nämlich die Bon-Sauvage-Utopie des „Edlen Wilden".5 Gerade diesem Element und den damit verknüpften Aspekten, die aus der altständischen Welt ausbrechen und wodurch der rückwärtsgewandten Perspektive wenigstens für zwei Jahrzehnte eine prospektive Sicht zur Seite gestellt wurde, gilt das Hauptaugenmerk meiner Ausführungen. Keinesfalls stelle ich damit in Abrede, daß die altständischen Bezüge abgelöst worden seien, vielmehr scheinen diese im Zuge der anthropologischen Wende in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit neuen Elementen durchsetzt worden zu sein. Dieser Spur will ich im folgenden nachzugehen versuchen. Hierzu möchte ich Überlegungen aus fünf Blickwinkeln anstellen. Zunächst wende ich mich dem „Faktischen", dem Dessau-Wörlitzer Gartenreich zu. Ein zweiter Abschnitt beschäftigt sich mit dem „Garten" und den mit ihm verbundenen theoretischen und symbolischen Implikationen. Alsdann werde ich das Augenmerk richten auf die „Bon-Sauvage-Utopie" und den damit im 18. Jahrhundert verbundenen Südseemythos. Ein weiteres Kapitel ist der spezifischen Ausformung des Englischen Landschaftsgartens gewidmet, um schließlich im letzten und fünften Teil Elemente dieser Vorstellungen in den Wörlitzer Anlagen aufzuzeigen.

l. Das Dessau-Wörlitzer Gartenreich 1764 begann der vierundzwanzigjährige Landesherr des lediglich 700 Quadratkilometer umfassenden Zwergstaates Anhalt-Dessau Leopold Friedrich Franz (17401817, reg. 1764-1817) mit seinem Lebenswerk, dem Umbau seines Territoriums in ein Musterland des 18. Jahrhunderts. Das Kernstück der Anlage bilden der Park und das Schloß in Wörlitz bei Dessau. Von hier aus griff sein Landesverschönerungs- und Reformprogramm auf das gesamte Land und auf sämtliche Lebensbereiche seiner Untertanen aus. So führte er eine Landesschulreform durch, gründete Erziehungsanstalten, sorgte dafür, daß die letzten Erkenntnisse des Medizinalwesens und der Hygiene zur Anwendung kamen, richtete eine vorbildliche Armenfürsorge ein ebenso wie Fabriken, Bibliotheken, Theater und baute vor allem eine Agrarwirtschaft auf, die

Ausstellung im Deutschen Architektur-Museum Frankfurt a. Main 1996. Ostfildern-Ruit bei Stuttgart 1996 (Kataloge und Schriften der Staatlichen Schlösser und Gärten Wörlitz. Oranienbaum. Luisium 1), S. 51-65, v.a. S. 51. Carl August Boetticher, Reise nach Wörlitz 1797, hg. v. Erhard Hirsch. Wörlitz 1988, S. 88, Anm. 204.

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durch neueste Anbaumethoden wie Fruchtwechselwirtschaft, Obstbau, Schaf- und Pferdezucht den Lebensstandard der Bevölkerung gegenüber den angrenzenden Ländern merklich hob.6 Ein Däne, der das Land 1780 und 1808 bereiste, charakterisierte Anhalt-Dessau deshalb folgendermaßen: „Das ganze Land ist so bebauet und bepflanzt, daß es einem großen Garten gleicht, die Dörfer zeugen alle vom Wohlstand der Bewohner."7 Vielfach sind diese Bestrebungen des Fürsten mit den in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts häufiger verbreiteten Maßnahmen aufgeklärt absolutistischer Landesherren erklärt worden, und dabei wurde als ökonomisches Modell auf physiokratische Lehren und neueste aus England importierte Agrarmethoden verwiesen. Doch ausschließlich wirtschaftliche und sozialreformerische Erläuterungsmuster können eine ein ganzes Land erfassende Umgestaltung in einen Garten kaum befriedigend erschließen. Es werden vielmehr antike Topoi, die sich mit zeitgenössischen Wunschträumen paarten, im Hintergrund sichtbar, worauf auch die weitgespannten literarischen, wissenschaftlichen und mythologischen Interessen des Fürsten schließen lassen. Dennoch soll aber auch nicht unerwähnt bleiben, daß bei Fürst Franz nach großen reformerischen Anstrengungen in den ersten beiden Jahrzehnten seiner Regentschaft, die hauptsächlich Landwirtschaft, Armen-, Medizinal- und Schulwesen gewidmet waren, den anschließenden freieren 80er und 90er Jahren mit der inoffiziellen Trennung von der Fürstin, die auch im Zusammenleben des Fürsten mit seiner Mätresse in Form einer persönlichen Libertinage, im Ausbau des Gotischen Hauses, in einer verstärkten Hinwendung zur Kunst und den Sammlungen ihren Ausdruck fanden, nach 1800 ein Nachlassen der Reformbestrebungen und eine gewisse Ernüchterung zu vermerken sind.

2. Gartenreich und/oder irdisches Paradies Der alte Menschheitstraum vom Leben in Harmonie und Einheit mit der Natur gewann in der „Dialektik der Aufklärung" und der Bewußtwerdung des Menschen ob seiner äußeren und inneren Natur schlagartig an Aktualität. Verschiedene Diskurs- und Motivstränge amalgamierten sich zu unterschiedlichen Konzeptionen,

Niedermeier, Aufklärung im Gartenreich Dessau-Wörlitz, (wie Anm. 4), S. 54ff.; Sühnel, Rudolf, Der Englische Landschaftsgarten in Wörlitz als Gesamtkunstwerk der Aufklärung. Fünf historische Rundgänge, in: Bechtoldt/Weiss, Weltbild Wörlitz, (wie Anm. 4), S. 67-84, v.a. S. 68ff.; Hirsch, Erhard, HORTUS OECONOMICUS: Nutzen, Schönheit, Bildung. Das Dessau-Wörlitzer Gartenreich als Landschaftsgestaltung der europäischen Aufklärung, in: Wunderlich, Heinke (Hg.), .Landschaft' und Landschaften im achtzehnten Jahrhundert. Heidelberg 1995 (Beiträge zur Geschichte der Literatur und Kunst des 18. Jahrhunderts, Bd. 13), S. 179-207. C. u. D. v. Eggers, zitiert nach Hirsch, HORTUS OECONOMICUS, (wie Anm. 6), S. 203.

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die sowohl negativ wie positiv - also in Kritik und Entwurf - auf häufig diametral entgegengesetzte Lebens- und Gesellschaftsmodelle zielten. Auf der einen Seite finden wir den Strang des auf Hesiods Werke und Tage (Verse 106-201) zurückgehenden Topos vom Goldenen Zeitalter, in dem zahlreiche später in den literarischen Utopien verwendete Mytheme genannt werden: So die Freiheit von Arbeit, kein drückendes Alter, eine Gütergemeinschaft, der durch die Natur hervorgebrachte Überfluß der Güter, keine Gesetze, Frieden, ebenso wie das Verweilen der Heroen nach dem Tode auf die Inseln der Seligen verlegt wird, wo sie ein sorgloses und heiteres Leben erwartet. Hesiod konterkariert dies, ähnlich wie später Ovid in seinen Metamorphosen, bei Nichteinhaltung der Grundlagen und Tugenden der Gemeinschaft mit dem Gegenteil bzw. der sukzessiven Umkehrung der Verhältnisse in den nachfolgenden Geschlechtern oder Zeiten.8 Ein weiterer Strang stellt der auf Theokrits Eidyllia und Vergils Bucolica verweisende Arkadien-Topos dar, der eine idyllische bukolisch-pastorale Ideallandschaft des Friedens, der Harmonie und des archaischen, bei Theokrit, oder des ländlich einfachen Lebens, bei Vergil, zeichnete.9 Daneben existierte die aus dem Orient stammende Vorstellung vom Garten oder Paradies, die mit dem Garten Eden auch Eingang in die Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments fand. Hierbei wurden in erster Linie Unsterblichkeits- und Ewige-Jugend-Verheißungen entwickelt, aber auch das sexuelle Element spielte eine Rolle.10 Erst christliche Moral- und Sittlichkeitscodices versahen dieses mit negativen Vorzeichen, wenn auch die Kombination von Erotik und Garten weiterhin bestehen blieb. Besonders deutlich tritt diese bei Priapus, dem antiken ityphallischen Gott der Gärten, hervor, dessen derb erotische Bedeutung unschwer auch an den ihm zu Ehren aufgestellten Statuen abzulesen ist. Den eher bäuerlichen Nutzgärten des Priapus fehlte jedoch, wie Michael Niedermeier ausführte, „in aller Regel [eigentlich] eine dezidiert künstlerische Gestaltung".11 Für den Topos eines irdischen, von erfüllter Liebe gekennzeichneten Paradieses ebenso wie für die in literarischen Utopien stets wiederkehrende Insellage des erträumten Wunschortes waren neben den schon erwähnten Inseln der Seligen Hesiods Homers Beschreibung der Elysischen Gefilde, die Menelaos im vierten Gesang der Odyssee in warmen Gegenden in Aussicht gestellt werden, und vor allem die Erzählung der Geburt Aphrodites von Bedeutung. Die aus einer Muschel 8

Bömer, Klaus H., Auf der Suche nach dem irdischen Paradies. Zur Ikonographie der geographischen Utopie. Frankfurt/M. 1984, S. 28f.; Meißner, Joachim, Mythos .Südsee'. Die Rolle des Mythos vom Goldenen Zeitalter' bei der diskursiven Konstituierung des Bildes von der Südsee im Zeitalter der Aufklärung. Diss. masch. Berlin 1997, S. 42ff. 9 Ebd., S. 44ff.; Börner, Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, (wie Anm. 8), S. 35ff. '" Ebd., S. 17ff.; Niedermeier, Michael, Erotik in der Gartenkunst. Eine Kulturgeschichte der Liebesgärten. Leipzig 1995, S. 23ff. " Ebd., S. 56-68, v.a. S. 66.

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oder dem Meer geborene Liebesgöttin schwamm nach ihrer Geburt an die Insel Cythera, die, mit Lust- und Paradiesgarten-Szenerien verbunden, zum Sinnbild der Liebesinsel wurde. 12 Im 18. Jahrhundert sollte die bildhafte Umsetzung einer Fahrt zu dieser sagenhaften Liebesinsel dann zu einem der Lieblingsmotive der Maler werden. Erinnert sei hier an Antoine Watteau, der zwischen 1710 und 1720 allein viermal dieses Motiv abbildete, worunter das 1717/18 entstandene Bild „Embarquement pour Cythere", das Friedrich der Große erwarb, das bekannteste sein dürfte.13 Italienische Dichter wie Jacopo Sannazaro in seiner Arcadia (1504) oder Torquato Tasso in seiner Aminta (1572) verbanden dann im 16. Jahrhundert die Topoi vom Goldenen Zeitalter, der Schäferwelt Arkadiens, der freien, von moralischen Bindungen unbeschwerten Liebe und dem Leben in Frieden ohne Not, Zwänge und Gesetze, sich ernährend aus der unendlichen Fülle der Natur. 14 Besondere Bedeutung kam dabei auch der geographischen Zuordnung zu. Handelte es sich nämlich sowohl im Falle des Paradieses als auch des Goldenen Zeitalters um längst vergangene und unwiederbringliche Sehnsuchtsorte entweder vor dem Sündenfall oder um einen früheren Zustand der Menschheit, so wurden die Inseln der Seligen, die elysischen Gefilde, die Insel Cythera auf einen Ort am Rande der Welt verlegt und damit in die geographische Wirklichkeit transponiert. Dies spornte nicht zuletzt die Forschungs- und Expeditionsreisen an und sollte im Zeitalter der Entdeckungen dann auch zur Projektion dieser jahrtausendealten Wunschvorstellungen auf die neuen Länder und ihre Bewohner führen. Christliche Endzeit- und Verheißungsvisionen wie der mittelalterliche hortus conclusus waren hingegen ins Jenseits verlegt.15 Eng verknüpft mit der Idealisierung der Vergangenheit, aber auch der Vorstellung von fremden, ursprünglich lebenden Völkern in weit entfernten Zonen der Welt war die Konstruktion von Gegengesellschaften im positiven wie im negativen Sinne. Arthur Oncken Lovejoy und George Boas haben dieses Phänomen unter dem Begriff „Primitivismus" für die Antike anhand literarischer Quellen untersucht. Zwei Hauptrichtungen wurden dabei ausgemacht, der weiche und der harte Primitivismus. Der positiv besetzte weiche Primitivismus als der Fiktion eines unbeschwerten Lebens im Einklang mit der Natur, aus der sich dann auch die Projektion des „Edlen Wilden" herausdestillierte, steht neben dem Deutungsmuster des harten Primitivismus, in dem sich der wilde und primitive Mensch durch harte Arbeit und mit göttlicher Hilfe emporarbeitet. Auch dieses zweite Modell konnte, wie vielfach aufgezeigt worden ist, positiv im Sinne eines einfachen asketischen

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Börner, Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, (wie Anm. 8), S. 30ff. Niedermeier, Erotik in der Gartenkunst, (wie Anm. 10), S. 138ff. Bömer, Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, (wie Anm. 8), S. 41ff.; Meißner, Mythos .Südsee', (wie Anm. 8), S. 50ff. Bömer, Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, (wie Anm. 8), S. 30ff.

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Lebensideals mit sukzessiver Ausbildung kultureller und technischer Fähigkeiten des Menschen gewertet werden. So wurden die Skythen in der Antike als besonders rauh und wild gekennzeichnet. Zum Teil wurden diese Eigenschaften dann etwa von Strabo, dem griechischen Geographen, als Zeichen der Anspruchslosigkeit und des Verzichts auf Luxus umgedeutet. Ähnlich verfuhren später die Römer mit ihren Skythen, den Germanen, deren einfache und unzivilisierte Lebensform von Caesar positiv in der Auswirkung auf die körperliche Ertüchtigung, die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Gastfreundschaft und den Mangel an Neid aufgrund des fehlenden Besitzes interpretiert wurde. Zahlreiche Beispiele solcher Bedeutungsänderungen haben Lovejoy und Boas angeführt, die sich schließlich auch im Bild des Europäers von den Indianern vom 16. bis zum 18. Jahrhundert wiederfinden.16 Die synkretistische Verbindung der einzelnen Motivstränge sollten dann Dichtung, Malerei und Gesellschaftstheorien prägen, die auch auf das Bild und die Gestaltung der Landschaft und der Gärten zurückwirkten. Gleichzeitig finden sich in den Beispielen die unterschiedlichen Vorstellungen der Gestaltung von Natur versammelt: Der Obstgarten des Paradieses, der im Mittelalter zunehmend geometrisiert wird, der Bauern- und Nutzgarten, der von Priapus bewacht wird, und die bukolische natürliche Landschaft Arkadiens, die zwar mit dem ursprünglichen gleichnamigen kargen Landstrich in Griechenland nichts zu tun hatte, von Vergil aber schon in die fruchtbaren Gefilde Siziliens transponiert worden war.

3. Die Bon-Sauvage-Utopie und der Südseemythos Die Utopieforschung arbeitet schon seit langem mit zwei Modellen utopischer Entwürfe: dem Idealtypus der archistischen versus demjenigen der anarchistischen Utopie. Unter dem Stichwort archistische Utopie faßt man das von Robert von Mohl 1855 in die wissenschaftliche Diskussion eingebrachte Modell alternativer idealer Gesellschaften, die er mit dem „Staatsroman" und der dort projektierten repressiven Ausbildung staatlicher Institutionen charakterisierte, die das Leben des Einzelnen in allen Bereichen reglementieren, ordnen und kontrollieren. Das so 16

Lovejoy, Arthur Oncken/Boas, George, Primitivism and Related Ideas in Antiquity. New York 1965 (A Documentary History of Primitivism and Related Ideas in Antiquity I); Pochat, Götz, Der Exotismus während des Mittelalters und der Renaissance. Voraussetzungen, Entwicklung und Wandel eines bildnerischen Vokabulars. Stockholm 1970 (Acta Universitatis Stockholmiensis, Stockholm Studies in History of Art 21), S. 45ff.; ders., Utopien in der bildenden Kunst, in: ders./Wagner, Brigitte (Hg.), Utopie: Gesellschaftsformen, Künstlerträume, in: Kunsthistorisches Jahrbuch Graz 26. Graz 1996, S. 69-99, v.a. S. 69ff.; Bitterli, Urs, Die .Wilden' und die .Zivilisierten'. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. München 21991, S. 367ff.

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beschriebene Bild vom „starken Staat" mit seinem politischen, ökonomischen und persönlichen Antiindividualismus zeichnete Mohl, ausgehend von Platons Politeia über Thomas Moms' Utopia (1516), Tommaso Campanellas Sonnenstaat (1623) bis hin ins 19. Jahrhundert zu Etienne Cabets Reise nach Ikarien (1839) nach.17 Diesem Modell der antiindividualistischen, repressiven Staatsutopie stellte Andreas Voigt 1906 dasjenige einer anarchistischen Utopie der absoluten persönlichen Freiheit, gepaart mit Herrschaftslosigkeit gegenüber, für die er dann auch das Begriffspaar archistische versus anarchistische Utopie in den Diskurs einführte. Er begründete sein Modell zeittypisch anthropologisch mit zwei Menschentypen, den Unselbständigen und den Selbständigen, die entsprechend zwei Utopietypen hervorbrächten.18 Beide Modelle lassen sich auf Denkmuster seit der Antike zurückführen. Für die anarchistische Utopie haben dies Rigobert Günther und Reimar Müller in ihrem Buch über Das Goldene Zeitalter. Utopien der hellenistisch-römischen Antike aufgezeigt. Wiederum ließen sich, ausgehend vom Goldenen Zeitalter in Hesiods Werke und Tage, die im vorangehenden Kapitel im Zusammenhang mit den Urvorstellungen der Menschen eines Lebens in Einklang mit der Natur bzw. den Träumen von einem irdischen Paradies oder dem Arkadien-Topos angeführten Werke für die anarchistische Utopievariante als Vorbilder nennen, während die archistische Utopievariante ihr Urmuster in Platons Politeia besitzt.19 Die archistischen Utopien, als Stadt- oder besser noch Großstadtutopien, entwickelten spezifische Muster der Stadtplanung als Ausdruck ihrer Gesellschaftsstruktur, die durch äußerste Rationalität in Form rasterförmiger Straßenführung, serieller und typisierter Bauweise und damit antündividualistischer Wohnund Lebensverhältnisse gekennzeichnet sind,20 während die anarchistische Utopie ein anderes, nicht instrumentelles Naturverhältnis erkennen läßt und folgerichtig ihre idealste Ausprägung nicht in der Stadt, sondern in der unbearbeiteten Natur oder freien Wildnis findet. Auch zwischen diesen beiden Polen gab es - wie Richard Saage und ich aufzuzeigen versucht haben - Zwischenstufen in den literari17

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Mohl, Robert von. Die Staatsromane, in: ders., Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften. In Monographien dargestellt. Bd. l, Teil 3. Erlangen 1855. Vgl. hierzu auch Saage, Richard, Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt 1991, S. lOff. Voigt, Andreas, Die sozialen Utopien. Fünf Vorträge. Leipzig 1906. VgJ. auch Saage, Richard, Utopieforschung. Eine Bilanz. Darmstadt 1997, S. 9f. u. 43ff. - Richard Saage und ich verwandten diese beiden idealtypisch definierten Utopiemuster zur Vorbereitungsgnindlage des Symposiums, da sie uns als Diskussions- und Unterscheidungsgrundlage sinnvoll schienen, wohl wissend um den problematischen Begründungsansatz von Voigt. Günther, Rigobert/Müller, Reimar, Das goldene Zeitalter. Utopien der hellenistisch-römischen Antike. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1988; Saage, Utopieforschung, (wie Anm. 18), S. 44ff.; Garber, Klaus, Arkadien und Gesellschaft. Skizze zur Sozialgeschichte der Schäferdichtung als utopischer Literaturform Europas, in: Voßkamp, Wilhelm (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. 3 Bde. Stuttgart 1985, hier Bd. 2, S. 37-81. Saage, Richard/Seng, Eva-Maria, Geometrische Muster zwischen frühneuzeitlicher Utopie und russischer Avantgarde, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Heft 8 (1996), S. 677-692.

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sehen Utopien der frühen Neuzeit, ohne daß die eine Utopieform die andere völlig abgelöst oder eliminiert hätte.21 Dennoch ist seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine deutlich spürbare Tendenz von der Stadt- zur Naturutopie zu verzeichnen. Jörn Garber formulierte dies in einem Aufsatz 1992 folgendermaßen: Die seit der Antike topische Alternative Natur oder Zivilisation verschärft sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts, wobei der Stadt die Attribute der Künstlichkeit, des Repräsentativen, des Höfischen, des Luxus, des Nützlichen, des Objektiven zugesprochen werden, während die Natur mit Ursprünglichkeit, Produktivität, Evidenz, Reinheit und Tugend etc. gleichgesetzt wird.22

Die anarchistische Utopie erfuhr in der französischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts vor dem Hintergrund von Entdeckungsreisen und einsetzender Reiseliteratur als Gegenentwurf zur eigenen defizitär empfundenen Gesellschaft eine Neubelebung. Zugleich beschäftigte der Topos vom „Edlen Wilden" besonders durch die überseeischen Entdeckungen - einsetzend mit Christoph Kolumbus im 16. Jahrhundert - verstärkt die europäische Vorstellungswelt. Beides verdichtete sich zur Projektionsfigur des Mythos vom „Edlen Wilden" und der mit ihm verbundenen „Republique Sauvage" als Mittel der Gesellschaftskritik.23 Damit mutierte der „Wilde" oder „Andere" vom „Fremden" oder „Gegenüber" zum Angehörigen des Goldenen Zeitalters ganz im Sinne Hesiods und steht so für die Frühform einer zwischenzeitlich von Dekadenz und Verfall gekennzeichneten, ihrer eigenen Natur entfremdeten späteren Stufe der europäischen Zivilisation. Der „Wilde" wird austauschbar, seine Funktion kann ebenso das Kind, der Bauer oder eben der Indianer oder Polynesier übernehmen. Nicht ethnologisches Wissen über fremde unbekannte Völker und Zivilisationen ist Sinn des Erkenntnisinteresses, sondern der Europäer selbst und die „Identität der Aufklärung".24

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Saage, Richard/Seng, Eva-Maria, Naturalisierte Utopien zwischen literarischer Fiktion und frühneuzeitlicher Gartenkunst, in: Greven, Michael Th./Münkler, Herfried/Schmalz-Bruns, Rainer (Hg.), Bürgersinn und Kritik. Festschrift für Udo Bermbach zum 60. Geburtstag. Baden-Baden 1998, S. 207-238. Garber, Jörn, Von der urbanisierten Großutopie zur naturalen Kleinutopie. Strukturmodelle utopischen Denkens in der frühen Neuzeit, in: Gaßner, Hubertus/Kopanski, Karlheinz/Stengel, Karin (Hg.), Die Konstruktion der Utopie. Ästhetische Avantgarde und politische Utopie in den 20er Jahren. Marburg 1992 (Schriftenreihe des documenta Archivs 1), S. 13-30, v.a. S. 21. Funke, Hans-Günter, La Republique Sauvage, in: Romanische Forschungen. Vierteljahresschrift für romanische Sprachen und Literaturen 98 (1986), S. 36-57, v.a. S. 37ff.; vgl. auch den Beitrag von Hans-Günter Funke in diesem Band. Meißner, Mythos ,Südsee', (wie Anm. 8), S. 177ff., v.a. S. 185; Kohl, Karl-Heinz, Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden. Frankfurt/M. 1986, S. 12ff; ders., Der Gute Wilde der Intellektuellen, in: Neugebauer-Wölk, Monika/Saage, Richard (Hg.), Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert. Vom utopischen Systementwurf zum Zeitalter der Revolution. Tübingen 1996 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 4), S. 70-86; Bitterli, Die .Wilden' und die .Zivilisierten', (wie Anm. 16), S. 367—425.

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Dementsprechend finden sich Elemente des Goldenen Zeitalters in den BonSauvage-Utopien eines Fenelon, de Lahontan oder Diderot wie: Der Verzicht auf den Bau von Häusern oder Städten und statt dessen das Leben in einfachen Hütten in einer vom Menschen nicht domestizierten Natur, die Reduktion menschlicher Arbeit auf ein unerhebliches Maß aufgrund des Überflusses der durch die Natur hervorgebrachten Güter, eine weitgehend entinstitutionalisierte Gesellschaft und eine frei ausgelebte Sexualität ohne staatliche Kontrolle oder Reglementierung.25 Diese Topoi der Bon-Sauvage-Utopien flössen schon frühzeitig in die Reisebeschreibungen ein, wie Karl-Heinz Kohl und Urs Bitterli aufgezeigt haben, und übertrugen sich so auf die Schilderungen der überseeischen Entdeckungen. Christoph Kolumbus projizierte 1492 selbst das Bild vom „Guten Wilden" durch seine Beschreibung der „Insel Hispaniola" auf die Völker der Neuen Welt, das dann nach der Entdeckung Tahitis im 18. Jahrhundert mit dem Mythos Südsee verknüpft wurde. So trugen Reisebeschreibungen, auf den Entdeckungsschiffen mitreisende Maler und Zeichner zu der Herausbildung des Mythos Südsee im 18. Jahrhundert bei ebenso wie zu den Verbindungen mit den alten Topoi des Goldenen Zeitalters und irdischen Paradieses.26 Louis-Antoine de Bougainville, 1768 der zweite Entdecker Tahitis nach Samuel Wallis, verglich aufgrund der beobachteten „scheinbar freien und ungezwungenen Liebe [...], [der] nackte[n] und offene[n] Darbietung der körperlichen Reize und [...] [des] zum Teil offen vollzogene[n] Geschlechtsverkehr^]" Tahiti mit der Insel der Venus Kythera und nannte sie „Neu-Kythera",27 während James Cook, der 1769 der dritte Entdecker Tahitis war, sie mit dem irdischen Paradies gleichsetzte, aufgrund seiner puritanischen Herkunft aber die freie Sexualität als unsittliches Laster abwertete.28 Johann Reinhold und Georg Forster, die Begleiter Cooks auf seiner zweiten Weltumsegelung, sollten dann auch durch ihr mehrfaches Zusammentreffen mit Fürst Franz von Anhalt-Dessau für den Einzug von Bon-Sauvage-Visionen und Südsee-Mythen ins Wörlitzer Gartenreich sorgen. So schenkten die Forsters 1775 Fürst Franz in London bei der ersten Zusammenkunft kurz nach ihrer Südseefahrt

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Saage/Seng, Naturalisierte Utopien zwischen literarischer Fiktion und frühneuzeitlicher Gartenkunst, (wie Anm. 21), S. 209ff.; Fenelon [Francois de Salignac de La Mothe-Fenelon], Die Abenteuer des Telemach. Aus dem Französischen übersetzt v. Friedrich F. Rücken, mit einem Nachwort hg. v. Volker Kapp. Stuttgart 1984; Lahontan, Baron de, Suite du Voyage de l'Amerique ou Dialogues de Monsieur le Baron de Lahontan et d'un Sauvage. Amsterdam 1704; Diderot, Denis, Nachtrag zu ,Bougainvilles Reise' oder Gespräch zwischen A. und B., in: ders., Philosophische Schriften, hg. v. Theodor Lücke. Bd. 2. Berlin 1961. Meißner, Mythos .Südsee', (wie Anm. 8), S. 124ff., 186ff.; Pochat, Utopien in der bildenden Kunst, (wie Anm. 16), S. 69-99, v.a. S. 76ff. Meißner, Mythos .Südsee', (wie Anm. 8), S. 143ff., S. 221 u. 234; Kohl, Entzauberter Blick, (wie Anm. 24), S. 214. Meißner, Mythos .Südsee', (wie Anm. 8), S. 231.

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zahlreiche mitgebrachte Objekte, die dieser 1785 in einem eigens errichteten Pavillon auf dem Eisenhart in Wörlitz als Südseesammlung präsentierte. Auch der Bau des „Badehauses" im Wörlitzer Park dürfte auf diese Bekanntschaft mit den Forsters zurückzuführen sein.29 Tahiti stand trotz der kritischen Sichtweise Forsters30 für die „Menschen [,die] noch naturnah und unverdorben von den negativen Einflüssen der Zivilisation zusammenzuleben schienen".31 Der Mythos vom „Edlen Wilden" erfuhr aber auch durch Jean-Jacques Rousseaus naturphilosophische Schriften weitere Belebung. So bediente Rousseau sich bei der Konstruktion seines „homme naturel" im Discours sur l'inegalite neben naturwissenschaftlichen Werken der Reisebeschreibungen der Missionare und Entdecker. Er zielte dabei aber nicht, wie in der neueren Rousseau-Rezeption aufgezeigt wurde, auf die Rückkehr in den - für Rousseau - dumpfen Naturzustand, sondern auf ein „Zurück zur Natur", eine Entwicklungsstufe, in der „noch die richtige Balance [...] zwischen der Lässigkeit des primitiven Zustandes und der ungestümen Aktivität unserer Eigenliebe" herrschte.32 Auf dieser Stufe befanden sich für ihn auch die „Wilden" oder Naturvölker. Fürst Franz, der Rousseau selbst in Paris 1775 aufsuchte,33 errichtete diesem in der getreuen Nachbildung seines Grabes von Ermenonville in seinem Wörlitzer Park ein Denkmal.34 Dieser Sichtweise auf die Südseeinsulaner läßt sich problemlos auch diejenige auf die alten Griechen und ihre Architektur in jener Zeit zur Seite stellen.35 Seit der Rückbesinnung auf die Antike in der italienischen Renaissance galt die einzig überlieferte schriftliche Architekturtheorie des römischen Architekten und Ingenieurs Vitruvius aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. De architectura libri decem als Grundlage für Architekten und Architekturtheoretiker. Zahlreiche Publikationen seit dem 15. Jahrhundert sorgten für eine allgemeine Verbreitung des Werks. Auch 29 30

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Ebd., S. 156ff.; Niedermeier, Erotik in der Gartenkunst, (wie Anm. 10), S. 221f. Rüffer, Michael, Grand-Tour - Die Reisen Leopolds III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau und Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorffs, in: Bechtoldt/Weiss, (wie Anm. 4), S. 117-130, v.a. S. 127. Ebd., S. 127. Rousseau, Jean-Jacques, Schriften zur Kulturkritik: Über Kunst und Wissenschaft [1750]. Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen [1755]. (Französich/Deutsch, eingel., übers, u. hg. v. Kurt Weigand), Hamburg21971, S. 209; Kohl, Der Gute Wilde der Intellektuellen, (wie Anm. 24), S. 74ff.; ders., Entzauberter Blick, (wie Anm. 24), S. 173-200. Handschriftliches Tagebuch der Fürstin Luise von Anhalt-Dessau, in: Bechtoldt/Weiss, (wie Anm. 4), S. 374-375. Rousseau-Denkmal auf der Pappelinsel, in: Bechtoldt/Weiss, (wie Anm. 4), S. 374; Rode, hg. v. Grote, (wie Anm. 1), S. 59 u. 132; Pochat, Gartenkunst und Landschaftsgarten vor Wörlitz, in: Bechtoldt/Weiss, (wie Anm. 4), S. 17-49, v.a. S. 39f. Schon im 16. Jahrhunden standen bei der Abbildung und Darstellung der Indianer antike Statuen im Hintergrund. Z.B. bei John Whites Aquarell des Häuptlings der Secota 1585, in dem das Vorbild des Apoll von Belvedere durchscheint. Vgl. Pochat, Utopien in der bildenden Kunst, (wie Anm. 16), S. 79.

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Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff, der Architekt des Wörlitzer Schlosses und eines Großteils der übrigen Gebäude des Gartens, berief sich auf Vitruv und betrieb Vitruv-Studien. Eine komplette Vitruv-Übersetzung wurde dann durch August Rode in Wörlitz erstellt und 1796 publiziert.36 Vitruv konstruierte in seinem Lehrgebäude als Ausgangspunkt der Baukunst die Idee der Urhütte, die die Menschen nach der Entstehung von Zusammenkünfte[n], Umgang und Gesellschaft [...] aus Lehm oder Reisern [...] zu ihrer Wohnung verfertigt[en] [hätten] [...] Zuerst errichtete man Gabelhölzer -furcae, - flocht Reiser virgultae, - darzwischen und bekleibete die Wände mit Lehm. Darauf trockneten einige Lehmstiicke und erbaueten davon, vermittelst Fachwerks - jugumentantes, - Wände, welche sie zum Schutz vor Regen und Sonnenhitze mit Schilf - harudines - und Laube bedeckten. Als aber nachmals während des Winters dieses flache Dach den Regen nicht abhielt, errichteten sie Giebel - fastigia, - überzogen diese mit Lehm, und leiteten, indem sie die Dächer schräg machten, die Traufe ab. Daß die ersten Gebäude wirklich den hier angegebenen Ursprung gehabt haben mögen, läßt sich daraus abnehmen, daß noch heutigen Tages bey auswärtigen Nationen die Häuser aus dergleichen Materialien erbauet werden; z.B. in Gallien, Spanien, Lusitanien, Aquitanien [...]37

Durch Übung bauten die Menschen, Vitruv zufolge, später nicht mehr Hütten, sondern Häuser und schließlich Tempel, wobei er die Formen des dorischen Tempels auf die seiner Meinung nach zunächst in Holz konstruierten Bauten zurückführte (siehe Abb. 20).3« Vitruv vertrat das Evolutionsmodell des harten Primitivismus, indem er seine römisch-antike Gesellschaft mit einer früheren Zivilisationsstufe verglich, auf der sich wilde und primitive Völker Nord- und Westeuropas zu seiner Zeit noch befanden. Zugleich lehrte er, daß die römische Architektur auf der griechischen beruhe bzw. nach ihrem Vorbild entstanden sei. Die Urhütte stand somit im Verständnis am Anfang sämtlicher Architektur und insbesondere der antiken Säulenarchitektur. Die Vitruvianer seit dem 15. Jahrhundert ahmten nun aber nicht griechische, sondern römische Architektur nach, deren Beispiele sie in Italien und gerade in Rom vor Augen hatten. Griechenland oder Kleinasien wurden ebensowenig wie die wenigen Beispiele altgriechischer Architektur in Italien - die Tempel von Paestum - aufgesucht oder rezipiert. Um so größer war der Schock dann, als in der Mitte des 18. Jahrhunderts erste Untersuchungen und Publikationen griechische Bauten bekannt machten. Gegenüber den eleganten römischen Tempeln erschienen die gedrungenen Massen der griechischen Tempel abstoßend und abschreckend. Johann Joachim Winckelmann, der durch seine Veröffentlichung Anmerkungen über die Baukunst der Alten*9 maßgeblich mit zur Antikenbegeiste36

37

3S 39

Pollio, Marcus Vitruvius, Baukunst. Aus der römischen Urschrift übersetzt von August Rode. Basel/Boston/Berlin 1995 [= Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1796, mit einer Einführung von Georg Germann]. Ebd., II, l, S. 64f. (siehe Abb. 19)

Ebd., IV, 2, S. 98f. Winckelmann, Johann Joachim, Anmerkungen über die Baukunst der Alten. Leipzig 1762.

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Abb. 19: H ttenbau, Holzschnitt von J rg Pencz, aus der deutschen Vitruv-Ausgabe von Walter Rivius. N rnberg 1548, fol. 62

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Abb. 20: Entstehung des dorischen Tempels aus der Zimmermannskunst. Stich nach der Rekonstruktionszeichnung von Friedrich Weinbrenner. Aus Alois Hirt, Die Baukunst nach den Grundsätzen der Alten, Berlin 1809, Taf. II, Abb. 4

rung des 18. Jahrhunderts beitrug, selbst aber nie in Griechenland war, interpretierte daraufhin die griechische Architektur als Verbindungsglied zwischen der Urhütte und der römischen Dorik (siehe Abb. 21 u. 22). Das Parthenon und die Tempel von Paestum erschienen ihm deshalb als urtümliche und primitive Vorläufer der Klassik, für ihn war Vitruv nach wie vor die architektonische Instanz.4" Es wurde dann jedoch von Seiten der Literaten und Philosophen Kritik an Vitruv und der sklavischen Nachahmung der Antike laut. Eines der meistgelesenen Traktate war dasjenige des Jesuiten- und späteren Benediktinerpaters Abb6 MarcAntoine Laugier Essai sur V architecture, welches 1753 zunächst anonym, 1755 in zweiter Auflage dann unter dem Namen des Verfassers erschien.41 1755 und 1756 wurde der Essai bereits in englischer und deutscher Übersetzung publiziert. Laugier forderte darin, unverkennbar beeinflußt von Rousseauschem Gedankengut, die Architektur nicht willkürlich auf antike Bauten zu gründen und auf den Instinkt, sondern auf feste, auf Vernunft begründete Prinzipien. Als alleinige Instanz ver40

41

Forssman, Erik, Erdmannsdorff und die Architekturtheorie der Aufklärung, in: Bechtoldt/Weiss, (wie Anm. 4), S. 99-115, v.a. S. 99f. u. S. 106f.; Günther, Hubertus, Anglo-Klassizismus, Antikenrezeption, Neugotik in Wörlitz, in: Bechtoldt/Weiss, (wie Anm. 4), S. 131161, v.a. S. 146ff. Laugier, Marc-Antoine, Essai sur l'architecture. Observation sur l'architecture. Edition integrale des deux volumes. Brüssel 1979. [= Nachdruck der Ausgaben Paris 1755 und 1756 mit einer Einleitung von Geert Bekaert].

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Abb. 21: Tempel zu Paestum, Giovanni Battista Piranesi, Kupferstich nach 1777

wies er auf die Natur: „Es ist in der Architektur wie in den anderen Künsten: Ihre Prinzipien beruhen auf der einfachen Natur, und in ihren Vorgängen finden wir die Regeln der Architektur vorgezeichnet."42 Auch Laugier sah den Anfang der Architektur in der Urhütte, die die Menschen zu ihrem Schutz aus vier Baumstämmen errichteten, die sie im Rechteck in die Erde gerammt, mit Balken bedeckt und mit einem Satteldach aus Zweigen versehen hätten (siehe Abb. 23). Jedoch wurde sie nicht mehr im Sinne Vitruvs als Keimzelle, sondern als Maßstab und Orientierungspunkt gedeutet: Die kleine ländliche Hütte [la petite cabane rustique] [...] ist das Muster, nach welchem man alle Herrlichkeiten der Architektur ersonnen hat. Und indem man sich bei der Ausführung der Einfachheit dieses Urmusters annähert, vermeidet man wesentliche Fehler und erreicht man wirklich Vollkommenes.43

Das Zurück zur Natur oder zur Urhütte führte dann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Ideal einer spartanischen Architektur, die auch die sogenannte

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Germann, Georg, Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie. Darmstadt 21987, S. 207. « Ebd., S. 208.

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u, KIOSQUK , ET DU PALAIS CHINOIS.

Abb. 37: Bagno Burgsteinfurth: Moschee, gotischer „Kiosk", chinesischer Palast

Wirklichkeit übergehender Dichtertraum vom Elysium der Alten" (Matthisson) angesehen, „daß die Götter dem Fürsten erlaubt haben, einen Traum um sich herum zu schaffen" (Goethe). Es ist die Frage, ob es der aufgeklärte Schöpfer des viel bewunderten Dessau-Wörlitzer Gartenreichs mit seiner Devise „das Nützliche mit dem Schönen" auch so gesehen hat. Die aufgeklärten Zeitgenossen, die erklärten Utilitaristen unter ihnen, sahen etwas ganz anderes, bezeichnend dafür ist allein schon der Ausdruck: Die Wörlitzer „Anlagen", was der Gartenspezialist der nachfolgenden Gartenbau-Generation, Peter Lenne, für die Gesamtgestaltung des „Gartenreichs" übernimmt und 1824 von den vorbildhaften „Dessauer Anlagen" spricht:3 Tatsächlich ist dieses Wörlitz eine riesige landwirtschaftliche Nutzfläche, die, wenn man genau hinschaut, nur aus Galeriepflanzungen längs der Feldränder, der Wege und Kanäle besteht und längs des die „Anlagen" zusammenhaltenden Eibdeiches, der wiederum ein gewaltiger Nutzbau ist, geschickt genutzt, um von seiner geringen Höhe herab vermittels Sichtschneisen und Sichtenfächern Einblicke in die großartige Landschaftsgestaltung zu gewähren. Matthissons Wort umgemünzt: „wenn je der Dichtertraum vom Elysium [...]", wenn also die Utopie ihren Platz, ihre Verwirklichung gefunden, U-topie heißt: kein Ort, nirgendwo - in Dessau-Wörlitz war der Ort, über den utopischen Dichtertraum hinaus Aufklärung und echten Humanismus - nämlich von unten, von der Volksbildung her - zu praktizieren. Nie hätten sich Philosophie und Künste so vereinigt (Wekhrlin). Nach mißratenem Abschluß eines der größten und gefährlichsten Experimente der sozialen, der sozialistischen Utopie beziehe ich mich dennoch auf die so viel von den Sowjet-deutschen Pseudo-Marxisten zitierte elfte Feuerbach-These Karl Marx': „Die Philosophen haben die Welt verschieden interpretiert: Es kommt aber darauf an, sie zu verändern". Einer, der sie entschieden verändern wollte und das ganz im Sinne der aufgeklärten Publizistik getan hat, war, sicher zum Ärger

3

In: Verhandlungen des Vereins zur Beförderung des Gartenbaues in den Königlich Preußischen Staaten l (1824), S. 89.

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Marx',4 ausgerechnet ein Feudalfürst. Auch wir haben als Utopie-Forscher damit unsere Schwierigkeit: Der Feudalfürst eigentlich als Anti-Absolutist. Weshalb er in seiner Familie als schwarzes Schaf galt und der bigotte Nachfolger seine Privatkorrespondenz verbrannte (darunter 40 Briefe Winckelmanns).5 Dabei bestand Vater Franz' aufgeklärtes Lebenswerk, mit Worten Paul Rillas, „nicht im luftleeren Raum ideologischer Forderungen". Der „Kleinfürst" Franz von Dessau (siehe Abb. 38) ist eine Schlüsselfigur zum Verständnis des aufgeklärten Absolutismus und seines Erfolges in Deutschland der „Princillon" mehr als die Großen der Zeit, Friedrich . und Joseph ., will man den zeitgenössischen Elogen Glauben schenken. Und als das Musterbeispiel eines aufgeklärt-absolutistischen Fürsten hatte er die wenigstens kleinstaatliche Macht und die Möglichkeit, das Mögliche zu tun, was ihm auf Grund seiner aufgeklärten Erziehung Herzensangelegenheit und Überzeugung geworden war und dem er sich lebenslang durch Selbststudium und Praxis verschrieben hatte, um die Zustände im Heiligen Römischen Reich oder doch wenigstens in seinem kleinen Lande zu verändern. Er wollte Lebensumstände für seine Bevölkerung schaffen, die dem Läuterungsprozeß der Menschheit entgegenkamen, von denen die größten Denker des deutschen Literaturfrühlings wirklich nur träumen konnten - Winckelmann, Lessing, Herder, Kant -, und sie alle sind seine Lehrer gewesen, z.T. stand Franz mit ihnen in Kontakt, alle sind sie direkt oder indirekt seine Lobredner geworden. Und das macht den epochalen zeitgenössischen Ruhm des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau aus: Sein Gartenreich (siehe Abb. 39) war nur die äußere sichtbare Krönung all seiner praktizierten Aufklärung, seines „wohladministrierten und zugleich äußerlich geschmückten Landes" (Goethe). Alles war Umsetzung der aufgeklärten Publizistik und Propaganda, von der eine mehrfache „Revolution" ausgegangen ist, die ohne ihn und sein aufgeklärtes Musterländle nicht in der Form und vermutlich nicht so schnell vor sich gegangen wäre: Die Revolutionierung auf dem Erziehungssektor, das von allen deutschsprachigen Denkern von der Schweiz und dem Elsaß bis nach Königsberg bestaunte pädagogische Jahrhundert-Experiment des Philanthropins und die in seinem Gefolge und in tätiger Anteilnahme des Fürsten durchgeführte Landesschulreform. Ich habe es in einer Kurzbiographie des Fürsten „Experiment Fortschritt" genannt:6 Praxisumsetzung des utopistischen Für Marx, der in Berlin studierte, von wo aus Dessau um diese Zeit nach Johann Gottfried Schadow immer noch „zu den Lustpartien des Sommers gehörte", war Anhalt-Dessau(-Köthen), wenn nun auch ironisch gegen Rüge gemünzt, noch 1851 (Brief an Hermann Ebner) der „kleine Musterstaat", den man für die Verfassungsfrage freilich nicht zum Vorbild nehmen könne. Und für die DDR-Historie und -Ideologie mußte ein noch heute populärer Feudalfürst („Vater Franz"!) erst recht suspekt sein. Hirsch, Erhard, Experiment Fortschritt - Praktizierte Aufklärung. Dessau 1990. Weitere Übersichten der Rezeption aufgeklärter Zeitgenossen vor allem in meiner Diss., (wie Anm. 1); in .Zierde und Inbegriff des XVIII. Jahrhunderts'. Der Dessau Wörlitzer Kulturkreis im Spiegel der zeitgenössischen Urteile, in: Philanthropismus und Dessauer Aufklärung. Wissenschaftli-

Utopia realisata

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Abb. 38: Vater Franz, Fürst v. Anhalt-Dessau (1740-1817) mit Gartenplan. (C. F. Reinhold Lisiewsky)

Denkens der Aufklärung - und es wäre, wenn überhaupt, so auch noch als dessen anarchistischer Zweig einzuordnen. Die Ergebnisse noch ,Utopie' zu nennen, habe ich Schwierigkeiten. Denn was hier auf einem breiten Sektor wahrer Volksbildung Erstaunliches geleistet worden ist, kann nach den zeitgenössischen Äußerungen auch vom heutigen Betrachter nicht hoch genug veranschlagt werden. Trotz seiner großen Belesenheit war aber Franz kein theoretischer Kopf, sondern ein ausgeche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle 1970/3 (A8), und in: ders., Dessau-Wörlitz, Aufklärung und Frühklassik. Leipzig/München 1985 ( 2 1987); ders., Dessau im Gartenreich. Dessau 1994; ders./Höhle, Thomas (Hg.), Dessau-Wörlitz-Beiträge V (= Zwischen Wörlitz und Mosigkau 40), S. 35-57.

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sprochener Praktiker. Karl August, der ihn als sein engster Freund wohl am besten beurteilen konnte, faßt es etwas überzogen in die Formel von der "Sinnlichkeit seines Wesens; denn daß er nicht im mindesten der Abstraktion fähig ist, sehe ich alle Augenblicke mehr".7 Tatsächlich war hier in viel höherem Maße als im aufgeklärten Berlin - ich berufe mich auf Zeitgenossen - dem Aberglauben, den Vorurteilen und der Intoleranz der Kampf angesagt, und es waren nach Zeugnissen geborener Berliner, die inzwischen ihrem Vaterlande aus den verschiedensten Gründen den Rücken gekehrt hatten und "Wahl-Dessauer" geworden waren,8 hier wesentliche Fortschritte erreicht worden. Ja, nach dem Zeugnis der jüdischen Historiographie9 waren die Emanzipation der deutschen Juden und ihr Avancement im vorigen Jahrhundert von Dessau ausgegangen, nicht von der viel größeren Gemeinde in Berlin etwa, wo die Juden unter Friedrichs Regiment, des angeblichen Philosophen auf dem Throne, sehr gedrückt wurden, der doch seinem Mitphilosophen Mendelssohn nicht nur die Berufung in "seine" Akademie verwehrt, sondern sogar das Bürgerrecht in Berlin verweigert hatte. Es muß wohl ein hoher Grad Erfüllung aufgeklärter Utopie-Vorstellungen dahinterstehen, wenn ein Zeitgenosse Anhalt-Dessau als das für die jüdische "Nazion wiedergefundene Land" apostrophiert!10 Auf seinen Studienreisen in Italien, Frankreich, der Schweiz und den Niederlanden, vor allem aber in England, fast immer gemeinsam mit seinem "Herzensfreunde" Erdmannsdorff, dem self-made-Architekten, dessen Vorzüge und Eignung für sein beabsichtigtes Kultur- und Bildungswerk Franz sofort erkannt hatte, sog der allem Fortschritt aufgeschlosse Fürst alle progressiven Errungenschaften dieser Völker und Länder gierig in sich auf, um sie zur Prosperität der Wirtschaft im eignen Lande mutatis mutandis umzusetzen. Das begann bei der Landwirtschaft11 und neuen Betriebsmethoden in der Schweiz und vor allem wieder in England. Aber er hatte auch die deutschen theoretischen Schriften gelesen und so schon zu Beginn seiner Regierung noch während des Siebenjährigen Krieges (den er frühzeitig verlassen hatte, was ihm wiederum die Bewunderung der Aufklärerpartei und den Titel "Der Friedensfürst" einbrachte) den Kleebau und den Fruchtwechsel eingeführt, die schädlichen Hut- und Triftgewohnheiten abge7

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An Knebel, Wörlitz, 7.6.1780, in: Briefe des Herzogs Karl August von Sachsen-WeimarEisenach an Knebel und Herder, hg. v. Heinrich Düntzer. Leipzig 1883, S. 7f. Z.B. Carl Wilhelm Kolbe ("Eichen-Kolbe"), Carl Spazier und der Handelsschullehrer Johann Michael Friedrich Schulze, siehe meine Diss., (wie Anm. 1), S. 192-209. Z.B. Meyer Kayserling oder Israel Friedländer in der Jewish Encyclopedia (1903), siehe meine Diss., (wie Anm. 1), S. 108 und Dessau-Wörlitz-Beiträge VIII (= Zwischen Wörlitz und Mosigkau 50. Dessau 1999), S. 11. In: Zeitung für die elegante Welt 1803, Sp. 1235; vgl. meine Diss., (wie Anm. 1), Bd. l, S. 108 u. Bd. 2, S. 160, unter: C.[L.] Nfiemeyer?]. Ebd., S. 124ff.; ders., Hortus oeconomicus, in: Wunderlich, Heinke (Hg.), Landschaft und Landschaften im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1995, S. 179ff.; Der Dessau-Wörlitzer Kulturkreis. Wörlitz 1969, S. 70ff.

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97 (1976), Sp. 1146, und Hosäus, Wilhelm, Wörlitz. Dessau 31902, S. 76, Anm. 23.

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Kunst-Könige in München und Berlin, die beide durch seine Schule gegangen sind, obwohl er im Verhältnis nicht weniger Kunst gebaut hat als diese.13 Da wären die hervorragend ausgebauten Straßen zu nennen, die auf die Reisenden den ersten Eindruck machten. Anhalt-Dessau erscheint ihnen „wie eine Arche Noah aus der allgemeinen Sündflut [der deutschen Misere] gerettet". Wir können sagen, nach diesen erstaunlichen und bewunderungswürdigen Dingen, die der Dessau-Wörlitzer Kulturkreis auf allen Gebieten vollbracht hatte, wandte Franz sein ökonomisch vor allem auf Landwirtschaft, Wollspinnereien und Tuchmanufakturen ausgerichtetes Englandstudium daneben auch auf die „LandesVerschönerung" an, was um so eher anging, als die durch die Tierzucht auch hier devastierte einstige Waldlandschaft mit ihren für die Schafzucht notwendigerweise stehen gelassenen Solitärs (die sonnenempfindlichen Schafe brauchen sie für die Zeit des Wiederkauens) der Themselandschaft schon außerordentlich ähnlich geworden war. Der Ausdruck , Landes Verschönerung' ist hier geprägt worden (wieder zuerst bei Matthisson),14 die dann das Schaffen der Landschaftskünstler des ganzen 19. Jahrhunderts beherrschen sollte. „Vater Franz" ließ sich dabei ausschließlich von der schon genannten aufgeklärt-utilitaristischen Devise leiten: „Das Nützliche mit dem Schönen" (siehe Abb. 42 u. 43).15 Da Franz, der Mann der Tat, hochgebildet war, entstanden im Bündnis mit seinem Architekten Erdmannsdorff all die vielen „Wunder von Wörlitz" (Schlichtegroll) und im ganzen Lande, die ja für die Kunst- und Kulturgeschichte gleich drei neue Stilphasen auf dem Kontinent durchsetzten: den Klassizismus, die Neugotik - beide beherrschen nach Sedlmeyrs schönem Vergleich den werdenden Historismus des 19. Jahrhunderts wie eine Art „Zweiparteiensystem der Stile" und drittens den „neuen", den englischen Gartenstil. Wer nur dies sah, kam bereits zu dem Urteil, daß Franz „Kew auf den Kontinent" übertragen hatte (Ayrer, Prinzenerzieher in Waldenburg, wo dann mit dem Greenfield-Park eine der großartigsten Nachschöpfungen Dessau-Wörlitz' entstehen sollte). Es tönte aber aus aller Munde das Lob des Fürsten von Dessau, dessen bloßer Name ja bereits „ein Lobspruch" sei (wieder Matthisson), und darin spiegelt sich natürlich auch die Erwartungshaltung der Aufklärergesellschaft wider. Der bereits frühliberale Kulturhistoriker Karl Julius Weber faßt den Gesamteindruck vom Fürstentum Anhalt-Dessau in dem Satz zusammen: „Das ganze Dessauer Ländchen lehrt, was ein Fürst zu tun 13

14

15

Auflistung seiner Bauten, getrennt nach Klassizismus und Neugotik, siehe Hirsch, Erhard, Der Ursprung der deutschen Neugotik im aufgeklärten Dessau-Wörlitzer Reformwerk. Dessau 1987 (Beiträge zur Stadtgeschichte. Heft 6), S. 58ff. 1795. Der Begriff fand durch Karl Christian Friedrich Krause sogar Eingang in die Philosophie, vgl. Däumel, Gerd, Über die Landesverschönerung. Geisenheim 1961, und Hirsch, Erhard, .Landwirtschaft und Gärtnerei daselbst galten für Schulen in diesen Fächern' im Bd. 5 der Festschrift für Günter Mühlpfordt (im Druck: Weimar/Köln/Wien 1999). In dieser Reihenfolge, nicht umgekehrt: siehe Hirsch, Erhard, Dessau-Wörlitz - die schöne Außenseite der Aufklärung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Halle-Wittenberg 41 (1992) G, Heft 6, S. 105.

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Abb. 40 (S. 160 u. 161):

Die Wörlitzer Anlagen (auch Schochs und Neumarks Garten sind größtenteils Nutzflächen gewesen)

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11 * ·ί—ι~^~ΐ~~Abb. 40: siehe S. 160

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• . » · . ^ . · · , . . Abb. 41: Wörlitz, Wirtschaftshof: „Tempel der Ceres"

vermag, wenn er Willen hat". Noch deutlicher drückt die Erwartungshaltung der Däne Schack de Staffeidt 1796 in seinem Tagbuch aus: „Warum ist er nicht König von Preußen, er mit seinem Geschmack und Wohltun für die Menschheit?" Damit wird - noch eine Generation später - ein utopischer Gedanke Winckelmanns wieder aufgenommen: „er ist ein Weiser zum Heil vieler Länder geboren", „ein Printz, der ein Kaiser seyn sollte, so wie er ein Menschenfreund ist".16 Wir haben es schon angedeutet, welchen Einfluß das Lebenswerk des Freundespaares Franz und Erdmannsdorff auf die kulturelle Entwicklung in Zentraleuropa ausübte. Wir haben die Zeitgenossen schon verschiedentlich zu Wort kommen lassen, wollen aber auch die offizielle zeitgenössische Historiographie zitieren, die endlich unser immer noch nicht korrigiertes preußen-deutsches Geschichtsbild richtigstellen oder wenigstens zu Bedenken Anlaß geben sollte. Welche Revolutionen nicht nur auf dem Gebiet der Pädagogik (von der Kant sprach), sondern auch in den Künsten durch Dessau-Wörlitz bewirkt wurden, zeigt schon 1796 Joseph Friedrich v. Racknitz in seiner Darstellung der Geschichte des Geschmacks der vorzüglichsten Völker auf, wo es um die Überwindung des Barocks geht und es abschließend heißt: Dieser von dem regierenden Fürsten Franz von Dessau nach seiner eigenen Zeichnung und Angabe angelegte Garten war in unsem Gegenden der erste in englischem Geschmack; und indem dadurch der Nachahmungsgeist geweckt wurde, war auch die Gewalt, die bisher der französische Geschmack über die Teutschen gehabt hatte, vernichtet. Auch das in jeder Rücksicht in gutem und edelem Geschmack von dem Hr. von Erdmannsdorff daselbst erbaute und innerlich verzierte fürstliche Lustschloß war eines der ersten, das frei von Schnörkeln und groteskem Geschmack, als Muster eines reinem und edlern Geschmacks in Arabesken und ändern innern Verzierungen diente. Bald folgte man allgemein diesem Beyspiele. So wirkten zwey Männer von Geist aus einer der minder großen aber ruhigen Provinzen auf den Geschmack der Nation.

Der „Friedensfürst" hatte seine „Irenopolis", wie der ungestüme Popular-Aufklärer Basedow Dessau, „Franzstadt im Freyland", idealisiert, zur Metropole der modernen Kunst - man denke auch an die Chalkographische Gesellschaft und Erd16

An Francke 18.1. u. 17.5.1766, siehe: Winckelmann, Johann Joachim, Briefe, hg. v. Walther Rehm. Bd. III. Berlin 1955, S. 155 u. 175.

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Abb. 42: Feldfläche in den Wörlitzer Anlagen (hinten Eibdeich und Venustempel)

Abb. 43: Solitärs (am rechten Bildrand verdecken junge Metasequoien den Floratempel: inzwischen korrigiert)

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mannsdorffs Kunst-Akademie17 - aus einem elenden hinterwäldlerischen Provinznest zu einem Bildungszentrum aufgeklärter Kunstbestrebungen gemacht und so das Vermächtnis erfüllt, das Winckelmann seinem Meisterschüler, dem principe filosofo, wie er ihn sah, während seiner römischen Zeit hinterlassen hatte, die Wandlung der deutschen Kunst, die von den Aufklärern propagierte „Verbesserung des Geschmacks" zu vollziehen. Das hat das viel frequentierte Dessau-Wörlitz binnen weniger Jahrzehnte vollbracht, und es war Erdmannsdorff, der noch persönlich, nach Friedrich . Tode von Friedrich Wilhelm . nach Berlin berufen, auch dort den Wandel als Lehrer des neuen Bauens gegenüber der großen aber leeren Pose des friderizianischen Stils bei den jungen Architekten bewirkte, wofür es genügend weitere zeitgenössische Zeugnisse gibt.18 Erdmannsdorff war es auch, der nach seinen Berliner Jahren noch in seinem letzten Lebensjahrzehnt, d.h. bereits in den 90er Jahren, mit seinen letzten Bürgerhäusern in Dessau die Motivik des deutschen Spätklassizismus einleitete. Nicht minder Erzieher als Franz, der Pädagoge auf dem Fürstenthron, hat Erdmannsdorff auch beispielweise mit der erstaunlichen „Stilfibel" am Fremdenhaus im Georgium (siehe Abb. 44) neben der Geschichte der Baukunst, wie man sie damals sah, auch seinem eignen Stilwollen mit der Nordfassade Ausdruck verliehen. Dabei spielen bei dieser Lehrschau sogar die Himmelsrichtungen eine Rolle: Nach Osten hat Erdmannsdorff eine gotische Fassade errichtet (was er so unter mittelalterlicher Architektur damals verstand; die Gotik sei aus dem Orient nach Frankreich vermittelt worden); nach Süden, nach Italien als dem Ursprungsland, demonstriert er eine Renaissancefassade mit ausschließlich palladianischen Elementen; nach Westen schaut eine Fassade mit bescheidenen Andeutungen des niederländischen Barocks, wie er aus Dessaus holländischer Epoche auch hier vor Ort zu finden war mit den „geehrten" Fenstern. Nach Norden endlich, und damit nach Deutschland und an die junge Architektengeneration gerichtet, die er bald in Berlin um sich scharen sollte, hat er dann eine Idealfassade des eigenen strengen klassizistischen Stils gestaltet, ein Muster an Schlichtheit, lediglich durch die flache jonische Pilastergliederung aufgehöht, ansonsten mit einfachen, also ohne jede Rahmung in die Fassade eingeschnittenen Fenster- und Türöffnungen, lediglich über den Fenstern der Außenachsen findet sich ein schlichter englischer Dekor.

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Nach den grundlegenden Arbeiten von Albrecht Heine/Ludwig Grote (1930) bzw. dem Katalog Veste Coburg 1987 jetzt: Michels, Norbert (Hg.), Die Chalkographische Gesellschaft Dessau. Katalog der Anhaltischen Gemäldegalerie. Bd. 3. Weimar 1996. Er selbst äußert sich über die friderizianische Architektur, sie sei nur der Brouillon (der rohe Entwurf) dessen, was es vielleicht hätte werden sollen, und betrachtet seine zweieinhalb Jahre Berlinaufenthalt wie eine „Verbannung". Als Rode 1801 diese Briefe publizierte, gab es seitens der Friedrich-Verehrer Protest (siehe Hirsch, Diss., wie Anm. l, S. 199f.). Vgl. auch meinen in Anm. 14 genannten 1999 erscheinenden Aufsatz zu diesem Punkt.

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Abb. 44: Stilfibel am Fremdenhaus im Georgium

So wurde hier die vielzitierte „Pädagogische Provinz" der Aufklärung tatsächlich in der Landschaft gestaltet und Gedankengut umgesetzt, das später in Goethes Wilhelm Meister Ausdruck fand. Wir könnten der „Stilformel" Erdmannsdorffs das sogennante „Brücken-Programm" (siehe Abb. 45) des Fürsten Franz entgegenstellen, auf das er offenbar sehr stolz war und das er in der ersten beabsichtigten Sticheserie über sein Gartenreich durch Georg Melchior Kraus besonders herausstellen wollte. Es ergibt eine Brücken-Historie von der einfachsten Flußdurchquerung durch eine Furt über die primitivste Urform, einem über den Bach gelegten Baumstamm, über altrömische, venezianische, Inka-, Palladio- und Barockbrücken bis zur damals modernsten Brückenkonstruktion in Eisen, der berühmten Coalbrookdale-Ironbridge über den Severn im westenglischen Industriegebiet, und

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*%£&*· ^fr^ Abb. 45 (S. 166 u. 167):

Brückenhistorie in den Wörlitzer Anlagen

schließt die Demonstration unterschiedlicher Funktionen wie Hausbrücke, Hängebrücke, Schwimmbrücke, Drehbrücke, Zugbrücke mit ein. Die Siebenfacher gerade in Wörlitz wurden genutzt, um geistvolle Denkanstöße zu geben, so der an der Nordseite des Gotischen Hauses, wo der Stilpluralismus sinnvoll von Sichtschneise zu Sichtschneise klassizistische Bauten mit neugotischen wechseln läßt. Harri Günther hat darauf hingewiesen, daß bei der ursprünglich noch größeren Schrägstellung der seitlichen Adnexbauten als Außenpunkte dieses Sichtenfächers die Rousseau-Insel einerseits, der Warnaltar anderer seits die Begrenzung bildeten:19 Bekenntnis zu Rousseau vermittels einer Naturly

Günther, Harri, ,Ein solches optisches Hilfsmittel möchte man sich bei allen weiten

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Abb. 45:

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siehe S. 166

Ovation, die die Inschrift noch unterstreicht - die Mahnung, sie zu erhalten, auf der anderen Seite mit der beherzigenswerten Inschrift: WANDERER ACHTE NATVR VND KVNST VND SCHONE IHRER WERKE, das erste NaturschutzMahnmal, das einer der ersten bewußten Ökologen seinen aufgeklärten Zeitgenossen hier setzte. Der Warnaltar tritt noch in vielen anderen Sichten und Sichtenfächem in Erscheinung. Wir wollen uns nur auf einen zweiten beschränken, weil er wieder ein Aussichten wünschen': Die Sichtachsen in den Wörlitzer Anlagen, in: Dessau-WörlitzBeiträge 1988 II, S. 5-17.

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bezeichnendes Lehrstück der Aufklärung vermittelt. Auf dem Sitz oberhalb der Goldenen Urne (siehe Abb. 46) erblickt man wieder in einem überstreckten Winkel vom Pantheon im Osten bis zum Monument auf der anderen Seite die unterschiedlichsten Zeugen menschlicher Kulturgeschichte: Wachhaus zum Pferde, Synagoge, Kirche, Schloß, Warnungsaltar, Blumengestell/2 Vasen, Gotisches Haus, Palladiobrücke, Diana, Hohe (chinesische) Brücke/Floratempel. Bei der vorauszusetzenden vielfachen Gleichheit der Winkelsegmente müßte vermutlich auch ein Ausblick auf den Stein und das Tahiteische Badehaus („Wurzelhütte") noch geöffnet werden. Seit an der Wiederherstellung dieses Fächerblicks gearbeitet wurde (Winter 19857 86), nennen wir ihn aber den „Toleranzblick", weil hier nichts Geringeres als die Gleichberechtigung von Kirche und Synagoge gemäß der Lessingschen Ring-Parabel sieben Jahre nach dem Erscheinen des Nathan demonstriert wird. Wir sehen, was der Aufklärerfürst mit den Mitteln der Landschaftsgestaltung alles versucht hat, dessen Lieblingsautor neben Winckelmann erklärtermaßen Lessing gewesen ist. Sein Stil sei wie „ein blanker Hämisch", äußerte er einmal und hatte Lessings Büste Luise geschenkt. Am schönsten hat wohl der dänische Dichter Adolf Wilhelm Schack de Staffeldt in seinem Wörlitz-Sonett Franz' Stilpluralismus gehuldigt: nicht nur daß „Einst und Jetzt", „Süd und Nord" einander „konstrastierten" und „sich vereinigten": ,J*dle Zonen mußten Weihrauch bringen [...]" für dieses Gesamtkunstwerk, das auf bildungspolitischem Sektor ein Museum der Weltkultur intentioniert:20 Wörlitz Sieh um Inseln mild den See sich schlingen, Wie durch Seraphsblut das Leben kreist; Seines Füllhorns Schätze lieh der Geist, Rohen Stoff mit Schönheit zu durchdringen. Alle Zonen mußten Weihrauch bringen, Der dieselbe Opferflamme speist; Götterbild und Säulentempel reißt Fort nach Hellas uns mit Geistesschwingen. Einst umarmt mit Jetzt sich lieb und traut, Wenn der Dichter selige Gefilde Bei Dionens Roseninseln schaut, Wo den Nord durchwärmt des Südens Milde Wo die Geisteshelden von Athen Gastlich unter Giebeldächern s lehn.

20

In: Schack de Slaffeldts Samlede Digte, hg. v. Frederik Ludwig Liebenberg. Kopenhagen 1843..Bd. I, S. 319 (hier in der Übersetzung von Prof. Otto Kunze, Stettin, in: Unser Anhaltland 2, 1902,5.522).

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Abb. 46: „Toleranzblick" über der Goldnen Urne, rechts Warnungsaltar

Überhaupt stehen sich „Chinesisches Haus", „Gotisches Haus" und „Neues Haus" (womit das „griechische" Schloß Wörlitz gemeint ist) schon von der Bezeichnung her so pointiert gegenüber, daß man auch hier eine historisch bildende Absicht erkennen muß: Denn der bereits im englischen Garten vorgebildete Stilpluralismus wird hier bewußt in den Dienst der Stil- und Volksbildung gestellt. „Man lernt auch hier überall etwas, man mag kommen, wohin man will", schreibt schon 1776 der aufgeklärte Pädagoge Schummel. Und tatsächlich waren „die gebildeten Dessauer" damals sprichwörtlich, was auch für die zahlreiche jüdische Minderheit und die Mädchenbildung galt. Wenn die in ihrem romantischen Individualismus etwas überzogene Ottilie v. Pogwisch (Goethes spätere Schwiegertochter), die in Dessau groß geworden war, sich über die gleichförmige Bildung der Dessauer Weiblichkeit erheben zu müssen glaubte, so konnte sie mit ihrem ironischen Ausfall über ihre gleichaltrigen Dessauer Geschlechtsgenossinnen, denen sie sich entwachsen fühlt, der Dessauer Schulausbildung kein größeres Lob ausstellen. Genau das war von der philanthropinischen Mädchenbildung beabsichtigt. Wenn der große Kunsthistoriker Pevsner das Wörlitzer Schloß als einen bloßen Nachbau des englischen Palladianismus abtut: Genau das aber war beabsichtigt - mit den Maßstäben der Kunst allein läßt sich Dessau-Wörlitz nicht messen - und zur Geschmacksverbes-

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serung, worauf es doch den deutschen Aufklärern so sehr ankam, waren dieses Schloß und alle fürstlichen Bauten dem Besuch von vornherein jedermann und selbst dem armen Judenjungen geöffnet, selbst wenn das den fürstlichen Bewohnern Unannehmlichkeiten brachte. Ludwig Philippson bedankt sich auch in seiner Autobiographie ausdrücklich dafür, daß die ersten Anregungen zu seiner phänomenalen Bildung von den fürstlichen Kabinetten ausgegangen seien, die frühzeitig mit ihren Kunstwerken und dem Gartenreich auf die Entwicklung des Geschmacks wirkten und dem jugendlichen Geiste Richtungen gaben, die er später verfolgen konnte. Sie „verliehen dem Volke einen gewissen Anstand, eine gewisse Würde, die auch nicht ohne sittlichen Einfluß waren [...]".21 Und das galt für die Gesamtbevölkerung, auch auf dem Lande. Selbst Rebmann, der dem Fürsten keineswegs wohlgesonnen war, aber doch die „im übrigen gute Regierung" hervorheben muß, schildert als beredtester Zeuge die Tiefe der Dessauer Volksbildung und preist sie sogar den Vollstreckern der Revolution, den Revolutionsregierungen in den neuen französischen Rhein-Departements unvoreingenommen und uneingeschränkt als Vorbild an: ein Land [...], in welchem fast alle diese Wünsche zur Wirklichkeit gebracht sind. Der Reisende betritt seine Gränzen und findet Güter, die mit der größten Kenntnis der Ökonomie und mit Gefühl für Naturschönheit angebaut sind, die Häuser des Landmannes sind reinlich, zweckmäßig und ländlich geschmackvoll eingerichtet, die Wege sind unverbesserlich und mit Obstbäumen bepflanzt, welche sich mit jedem Tage vermehren, und kein Paar heuratet, kein Kind wird geboren, ohne daß die Eltern oder die Brautleute irgendetwas zu dieser nützlichen und angenehmen Pflanzung beitragen. Der Landmann spricht mit Verstand und Kenntnis von seinem Ackerbau und von allen Gegenständen, die ihn interessieren, der Handwerksmann arbeitet mit Geschmack und zeichnet Modelle [aus Erdmannsdorffs und des Fürsten Sammlungen]22 nach, die in England oder Frankreich erfunden sind, und fast kein Tagelöhner findet sich in diesem Lande, der nicht wenigstens lesen und schreiben und im Nothfall einen Kauf oder Tausch schriftlich aufsetzen könnte; im Hause des gemeinen Mannes findet man statt GebetFormeln allgemein verständliche und nüzliche Schriften; ereignet sich ein Unglücksfall, [...] so geht er weder zur klugen Frau noch zum Quacksalber [...] Aus den Gesichtern der Einwohner spricht Gesundheit und Zufriedenheit [...].23

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Philippson, Ludwig, Aus meiner Knabenzeit, in: Allgemeine Zeitung des Judentums 51 (1887), S. 732 = Hirsch, Erhard, Bildung und Erziehung zur bürgerlichen Kultur, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Halle 27(1978), Heft 6, S. 69f. Zum Einfluß auf die kulturelle Bildung des Volkes siehe auch: Speier, Ralf-Torsten, Der Traum vom idealen Staatswesen. Anhalt-Dessau als Symbol des aufgeklärten Absolutismus, in: Biegel, Gerd (Hg.), Sachsen-Anhalt. 1200 Jahre Geschichte - Renaissance eines Kulturraumes. Braunschweig 1993 (Veröffentlichung des Braunschweigischen Landesmuseums 69), S. 136-146. Rode schreibt im Leben Erdmannsdorffs (Dessau 1801, S. 15): „Sein Haus war eine Akademie"; Franz' Sammlungen wurden sogar von den Berliner Architekten genutzt: vgl. Speier, Ralf-Torsten, Der künstlerische Einfluß Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorffs auf die klassizistischen Architekten in Berlin, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Halle 35 (1986) G, Heft5, S. 105. Rebmann, Georg Friedrich, Blick auf die vier neuen Rheindepartemente des linken Rheinufers, in Hinsicht auf Kunstfleiß, Sitten und auf Maasregeln betrachtet, welche zu ihrem Glück erforderlich seyn möchten. Koblenz/Trier, Jahr 10 [1802], S. 98ff.

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Was konnte mehr erreicht werden? Ein ganz wünschenswertes Bild, wenn wir die aufgeklärten Utopisten befragen. Und als „wünschenswert" hätte sich Franz erwiesen - mit diesem ausgeklügelten Epitheton versieht Goethe noch um 1811 den Fürsten Franz in Dichtung und Wahrheit. Die Volksbildung hatte das Dessauer Völkchen ganz geschmackvoll werden lassen und das in allen Ständen, wie uns allgemein berichtet wird.24 Der Fürst war sich darüber im klaren, daß er in seinem kleinen Lande, eingekeilt zwischen die hermetisch sich abriegelnden größeren Wirtschaftsblöcke Preußen und Sachsen, sein Volk nicht zu großem Reichtum bringen konnte. So sollten sie wenigstens verhältnismäßig durch Bildung glücklich werden. Auch in der Erfüllung dieses Eudaimonismus sehen wir seine Aufgabe vor dem Gericht der aufgeklärten Publizisten voll erfüllt - Erdmannsdorff hatte ihm diesen Weg schon in ihren Jugendjahren in einem Brief an den Fürsten aus Italien empfohlen. Und wenn wir um 1800 von „gleichmäßigem Reichtum"25 der Bewohner lesen, so ist auch hierin dem Geist wenigstens der bescheideneren Forderungen deutscher Aufklärer entsprochen worden, deren „Abgott"26 Franz geworden war. Bescheidener, aber nicht minder hoch das Urteil des großen zeitgenössischen schweizer Historikers Johannes v. Müller: „Das größte Lob der Politik eines Fürsten ist nicht sowohl in außerordentlichen Dingen, als daß er seine Lage kennt und nach derselben thut".27 Mit dem Bettlerproblem hatte Franz seine Regierung im zarten Alter von 18 Jahren angetreten; der „Friedensfürst" in seiner „Irenopolis" hatte nicht nur die Ursachen erkannt, sondern wußte auch den Lösungsweg - und hier wird er ganz modern: Arbeitsbeschaffung! Als die Krise mit den napoleonischen Kriegen wiederkehrte, richtete er nicht nur einen ganz modern wirkenden Arbeitsnachweis ein. Noch seine letzten Worte, die uns vom Sterbebett im Luisium (1817) überliefert wurden, lauteten: „Man muß für Arbeit sorgen, daraufkommt alles an!" Auch hier waren die Landschaftsgestaltungen eines der Ventile, mit denen er der Arbeitslosigkeit Herr werden konnte (siehe Abb. 47). Müßiggang war ihm aller Laster Anfang. Sich selbst charakterisiert er einmal mit den Worten: „Wahre Künstler und Gelehrte treibt schon der Geist, der sie nicht faul werden läßt". Und sein aufge24

Vgl. den frühvollendeten Medizinstudenten Adolf Müller aus Bremen, in: Philanthropismus, (wie Anm. 6), S. I32f. 25 Adolf Müller ebd., S. 133. 26 Zuerst bei dem Revolutionssympathisanten Andreas R. Riem, Reixen durch Deutschland, Frankreich, England und Holland in verschiedener, besonders politischer Hinsicht. In den Jahren 1785 und 1795. O.O. 1796, Bd. I, S. 129. Bei dem Zeitzeugen Friedrich Reil, (Leopold Friedrich Franz, Dessau 1845), S. 115f., steht zu lesen: „Man mußte damals und früher noch im Auslande leben, mit Gelehrten und Künstlern verkehren, sich unter Leuten aus allen Klassen der Gesellschaft umhertreiben, um sich zu überzeugen, daß der Fürst von Dessau der Abgott Deutschlands geworden war [...]". 27 Johannes [v.] Müller, Darstellung des deutschen Fürstenbundes. Leipzig 1787 (21788), zit. nach: Sämtliche Werke. 9. Theil. Tübingen 1811, 5. Buch, Kap. 12, S. 285f.; vgl. Stenzel, Gustav Adolf Harald, Leopold Friedrich Franz, Herzog von Anhalt=Dessau, in: Zeitgenossen, l. Reihe VI,4 (1821), S. 63, und Reil, (wie Anm. 26), S. 90.

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Abb. 47: Dessau, Arbeits- und Armenhaus (Erdmannsdorff 1766)

klärtes „inneres" Regierungsprogramm, das auch ganz seine physiokratische Gesinnung von einem gewissen Selbstlauf der Dinge erkennen läßt, umreißt er am Lebensabend mit den Worten: Sie können nicht glauben, welche Hindernisse und Schwierigkeiten sich der Ausführung meiner Pläne und Entwürfe zur Kultivirung des Landes entgegensetzten. Ich hatte mit Unwissenheit und Rohheit, mit Aberglauben und mit Vorurtheilen aller Art, und mit einer Unbeholfenheit und Trägheit zu kämpfen, die mich nicht selten höchst verdrießlich machten und empörten [...] An Aufklärung des Verstandes, an Zerstörung des Aberglaubens und der thörichten Vorurtheile, an der Erweckung des Sinnes für Naturschönheiten und Bildung des Geschmacks an Wissenschaft und Kunst, an äußerer Sitte, Zucht, Ordnung und Reinlichkeit war mir zuerst Alles gelegen. Ich glaubte den äußern Menschen und seine Verhältnisse und Zustände müsse man erst verändern und bessern, dann werde der innere Mensch wohl von selbst sich regen und veredeln. Ich bin nämlich der Meinung, daß bei diesem kein Zwang angewendet werden kann, wenn man ihn nicht um seine Freiheit bringen und seine wahre Würde verletzen will. Er muß sich selbst zu dem machen, was er sein und werden soll, und dazu muß man ihm behülflich sein.28

So weit der Aufklärerfürst und Physiokrat zum Begriff .Freiheit'. In puncto Eigentum legt Franz ein für einen Feudalfürsten erstaunlich weitgehendes aufgeklärtutopisches Glaubensbekenntnis ab: „So sollte alles, was die Erde hergibt und was der menschliche Geist schafft, Eigentum aller Menschen werden". Der Großagrarier hat in mindestens drei Anläufen versucht, die von seinem merkantilistisch denkenden Großvater angehäuften Domänenflächen aufzulösen und ganz entgegen der rigorosen Agrarpolitik Leopolds dem Landmann Ackerland zuzuteilen. Von solchen Ackerverteilungen hören wir schon in seinem ersten Regierungsjahr (1758/59), doch war in der Kriegssituation die Finanzlage zu angespannt, um die Kleinbauern mit dem nötigen Kleingeld bezuschussen zu können: Von dem antifeudalen Johann August Rode hören wir sehr kritische Äußerungen zu dem erstaunlichen Unternehmen. Doch waren auch Erfolge zu verbuchen: Der revolutionäre Kameralist Johann Christian Schmohl berichtet zwanzig Jahre danach mit Bewunderung davon, wie die Wirtschaft des Juden Herz in Wörlitz zu seiner 28

Reil, Friedrich, Leopold Friedrich Franz, (wie Anm. 26), S. 105.

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Freude florierte. Daß also auch Juden bedacht wurden, ist erstaunlich und zeigt den richtigen Weg, wie der Vordenker Franz sich fast ein Jahrhundert vor der 48er Revolution die Lösung der „Judenfrage" vorstellte. 29 Daß er den Juden 1788 eine Synagoge in den Wörlitzer Anlagen errichtete, erregt bei dem Süddeutschen Schelling offenbar mehr Verwunderung als Beifall. Und Juden wurden auch bei weiteren Dismembrierungen der großen Güter in den 80er und 90er Jahren wieder mit Land bedacht, wie die Philanthropin-Zeitschrift 1783 berichtet und der Kameralistikstudent Friedrich v. Hardenberg (Novalis) 1794 notiert. Zur Bedingung machte Franz dabei die Umpflanzung der Ackerflächen mit Hecken („Knick") zur Verbesserung des Kleinklimas und zum Vorteil für die Singvögel, so daß auch hier die Intentionen des Reformers wie des Landschaftsgestalters mit der Ökologie und der Ökonomie konform gingen. Er nutzte seine Schulinspektionen zu ökologischen Ermahnungen an den Nachwuchs und errichtete bezeichnenderweise den schon genannten „Warnungsaltar" in den Wörlitzer Anlagen. Um 1800 beschäftigt das Fürstenhaus jüdische Güterverwalter. Franz hatte in seinem letzten Lebensjahrzehnt noch viel größere Projekte vor, die auch im Raum Bobbau/Jeßnitz und Alten, wenn auch etwas halbherzig, in Angriff genommen wurden. Die Napoleonischen Kriege hinderten wohl den Fortgang. Reil kommentiert während des Vormärz (1845): Der Gedanke einer Vervollkommnung des Landbaues durch freie Hände und in Grundstücken von minderem Umfange scheint den Fürsten damals besonders angeregt und beschäftigt zu haben. ,Mir ist', sagte er bei dieser Veranlassung, ,Ein wohlhabender Bauer mehr als zehn reiche Pächter'.30

Auch die halbfertige „Dismembrierung", die gedanklich bereits die Separationen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts vorwegnahm, sahen die Durchreisenden, wie der Däne Staffeidt, so, daß hier der Landesherr „ein milder Gutsbesitzer gegen die Bauern" sei. „Daher die vielen Dörfer und Felder, an denen man die Kennzeichen des Wohlstandes gewahr wird". Sein Landsmann Eggers ergänzt 1806: „Die Dörfer zeugen alle von dem Wohlstand der Bewohner. Das ganze Land ist so 29

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Werner Grossert hat im Anhaltischen Landesarchiv Oranienbaum eine Fülle Einzelentscheidungen von Abschiebepolitik des Fürsten Franz gefunden und in: Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Landeskunde 5 (1996), S. 50-77, veröffentlicht, die nicht übersehen werden dürfen. Damit kontrastiert freilich die zeitgenössische Begeisterung über die Fortschritte der Dessauer Judenemanzipation (als Beispiel sei nur auf Andreas R. Riem verwiesen), die Einschätzung der jüdischen Historiographie wie die in Dessau lebenden Juden sprechen eine ganz andere Sprache, die man nicht bloß mit „von der Wirklichkeit abgehobenen sprachlichen Floskeln" abtun kann. Zur Reform der jüdischen Gemeinde und dem Avancement der Dessauer Juden in der Franz-Zeit (eine Hauptquelle ist die Sulamith, die erste deutschsprachige Zeitung des Judentums, die 1806-48 unter David Fränkel und Josef Wolf 16 Halbbände herausbrachte), vgl. Hirsch, Diss., (wie Anm. 1), S. 102ff. sowie S. 108-124, und Dessau-Wörlitz-Beitrüge VIII (= Zwischen Wörlitz. und Masigkau 50), S. 11-18. Reil, (wie Anm. 26), S. 57f.; Hirsch, Diss., (wie Anm. 1), S. 133ff. und die in Anm. 6 zitierten Dessau- Wörlitz-Beitrüge.

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bebauet und bepflanzt, daß es einem großen Garten gleicht". Auch Rebmann muß „fröhliche Landleute" zugestehen. Selbst die nüchternen Handbücher der Erdbeschreibung und landwirtschaftlichen Produkte bringen den fast gleichlautenden bewundernden Zusatz: „Das Land ist auf dem linken Eibufer wie ein Garten angebauet". Und dieser „Garten" ist eine Oase der Freundschaft und der viel zitierten „Läuterung", der Besserung - durch Freundschaft; für viele andere lassen wir nur den süddeutschen Spätaufklärer Abegg sprechen, der sich bei seinem Wörlitz-Besuch 1798 Frau, Familie und Freunde daherwünscht, um sich den Genuß der Anlagen noch zu erhöhen, die er als „Garten für den Menschen" apostrophiert. Oder aus neuer Quelle ein Brief (des selbst in kleinem Maßstab gärtnernden) Berliner Oberfinanzrats Joh. Ludwig Ransieben an seinen Freund, den Schöpfer des Lütetsburger Parks Edzard Mauritz von Inn- und Knyphausen, nach gemeinsamer WörlitzFahrt 1797 (nachdem man sich acht Jahre nicht gesehen hatte): „Ich bin dadurch beßer geworden":31 Es war das Hauptanliegen des damals größten deutschen Gartenmeisters und Pädagogen auf dem Thron, in dessen Gegenwart man ja allein schon besser wurde, wie Karl August v. Weimar Knebel versichert; Besserung des Menschen durch die Hohe Kunst ist die Hoffnung aller großen Meister von der Früh- bis zur Spätaufklärung durch die Wirkung ihrer Werke: fast gleichlautende Äußerungen finden sich bei Händel wie bei Beethoven. Mit der Frage nach dem .gleichmäßigen Wohlstand' für alle und dem verhältnismäßigen Reichtum' befinden wir uns auch wieder in der Diskussion der Spätaufklärer, etwa Franz Heinrich Ziegenhagens. Es wäre denkbar, daß Ziegenhagen bei der Entwicklung seiner Gedanken an das Dessauer Modell gedacht hat: Jedenfalls ist er wegen seiner in diesem Punkt für uns so wichtigen Schrift mit dem Fürsten Franz in Verbindung getreten! Der Landschaftsgestalter seiner Zeit, der alles tat, um die Standesunterschiede zu nivellieren - wir sehen es z.B. bei den Nationalfestspielen am Drehberg, im Theater und selbst bei der Anlage eines ersten kommunalen Friedhofs -, mußte es Ziegenhagen angetan haben, der freilich eine klassenlose Gesellschaft in umgestalteter Erde erträumte (und damit noch weit über Projekte seines Vorbilds Basedow hinausging). Beim Neujahrsfest des neuen Jahrhunderts waren angeblich „die verschiedenen Stände" im Dessauer Casino vereint.32 Ziegenhagen33 war frühzeitig auf Dessau gelenkt wie seine Mitschüler 31

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Kehn, Wolfgang, Der Schloßgarten zu Lütetsburg, in: Die Gartenkunst 1998, S. 8 und 15 sowie Brief Kehns an den Verf. v. 9.8.1998 mit freundlicher Mitteilung des vollen Wortlauts des Ransleben-Briefs vorn 7.10.1797. Am 25.9.97 hatte Ransieben bereits geschrieben: „Die mit Ihnen, mein Bester, verlebten Tage in Dessau und Wörlitz werde ich allzeit unter die glücklichsten meines Lebens rechnen." Und Knyphausen resümiert: „Hier besahen wir die schönsten Gärten [...] und was sonst dieser Sitz eines geschmackvollen deutschen Fürsten merkwürdiges hatte [...] 3 Tage eines sehr angenehmen Lebens [...]". Siehe Hirsch, Diss., (wie Anm. 1), S. 334-338. Der Vorgang findet sich im Anhaltischen Landesarchiv Oranienbaum Rep. Abt. DESSAU C 18 b Nr. 34 II, fol.310f: Ziegenhagen schreibt Hamburg 24.7.1793 an Franz, den „hell-

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Johann Simon und Jacob Schweighäuser, die aus der gleichen elsässischen Schule Oberlins nach Dessau gekommen waren und von denen der erstere schließlich im Schulministerium Condorcets saß und endlich im gleichen Jahr, da in Deutschland Ziegenhagens Verhältnislehre erschien, eine führende Rolle beim Sturm auf die Tuilerien spielte, an dem „fluchbeladenen Tage", wie Metternich kommentiert.34 Selbstredend war der Feudalfürst Franz kein Befürworter der Revolution; wo auch nur die geringste Rebellion sich anbahnte, wurde sie im Keim erstickt, und er reagierte härter, als man es bei seinem sonst so sanften Naturell gewohnt war. Er sah keine Notwendigkeit einer Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, wenn gute Fürsten die Sache in die Hand nähmen. „Die Guten aus uns", so formuliert er einmal gegenüber Karl Friedrich von Baden,35 müßten sich zusammentun, und einer seiner engsten Anhänger war Karl August von Weimar - man könnte von „Schüler" sprechen, und jedenfalls sah der Utopist Wieland es so,36 wenn nicht die engste Freundschaft zu dem 17 Jahre jüngeren die beiden verbunden hätte. Und das Dessauer Leitbild beherrscht die aufgeklärte Publizistik in dem Maße, daß die

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denkenden und für das Wol der Menschheit unparteiisch entbrannten Fürsten", daß die persönliche Bekanntschaft aus seiner Dessauer Lehrerzeit ihm „die zutrauensvolle Dreistigkeit" einflöße, sich mit seiner Schrift an ihn zu wenden. „Nur Fürsten der aufgeklärtesten Staaten können die in demselben (Buche) vorgetragenen einzigrichtigen Begriffe vom wahren Glükke, und mit denselben ein vergnügteres und zufriedeneres Leben am algemeinsten unter ihren Untertanen verbreiten. Nur Fürsten können die Kirchen und Schulen in Hörsäle gemeinnüzlicher Wissenschaften, Künste und Handwerke umwandeln, wenn Sie dabei die in dieser Schrift vorgeschlagenen sanften Maasregeln beobachten lassen. Nur Fürsten können dadurch die verschiedenen, schon längst von allen verständigen und einsichtsvollen Männern als Irrtümer anerkannte Parteienlehren, welche algemeine, offene Menschenliebe und Brauchbarkeit unvermeint stören, da der Weg zum wahren Glükke nur Einer seyn kann, berichtigen und in eine wahrhaftächte Glükseligkeitslehre verwandeln lassen. Nur Fürsten können dadurch die Unzufriedenheit der Untertanen mit ihrem Zustande und somit schädliche Neuerungssucht und Empörungslust am unfehlbarsten verhindern [...]". Vgl. Steiner, Gerhard, Franz Heinrich Ziegenhagen und seine Verhältnislehre. Ein Beitrag zur Geschichte des utopischen Sozialismus in Deutschland. Berlin 1962; Müller, Ruth, Gedanken des Philanthropismus in deutschen Sozialutopien am Ausgang des 18. Jahrhunderts, in: Zwischen Wörtitz und Mosigkau l (1969), S. 36-39. - Die Abhängigkeit von Basedow erhellt (außer dem Lehrplan der Kolonie) allein schon aus dem Titelkupfer seines Buches mit einer „Gottesverehrung" nach Basedows Liturgie: Man vergleiche es mit der Kupfertafel 48 zu Basedows Elementarwerk. Ziegenhagen hat von Chodowiecki statt des knienden Beters vorn Mendelssohn darstellen lassen, der auch in Basedows Kupfern (Tafel 80) erscheint. Metternich verfolgte natürlich aufmerksam Simons Leben, war doch ausgerechnet Simon, „mon vieux Jacobin", in Neuwied Mettemichs Informator gewesen: Denkwürdigkeiten. Bd. l, S. 65-68. Undatierter Brief (1782) an Karl Friedrich, gedruckt in: Politische Korrespondenz Karl Friedrichs von Baden (hg. v. B. Erdmannsdörffer, Bd. l, Heidelberg 1888), S. 34 (Nr, 1). Karl Friedrich greift im Antwortbrief die Formulierung „der Guten unter uns" auf. Der Weimarer Prinzenerzieher Wieland hatte schon am 24.1.1774 am Ende seines Auftrags sehr bezeichnend an Behrisch nach Dessau geschrieben: „Unserm theuren Karl August mangelt nichts als das Glück, ein paar Jahre unter einem Fürsten wie der Ihrige zu lernen; unter seinen Augen zu leben; sein Beispiel immer vor den seinigen zu haben [...]", siehe Hirsch, Diss., (wie Anm. 1), Bd. 2, Anm. 987.

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Zeitungsmacher wie beispielsweise Rudolf Zacharias Becker37 in Gotha angesichts der „guten Regenten" die Greuel der blutigen Revolution für vermeidbar erklärten bei einer „Völkerfamilie unter Väterfürsten", wie sie doch das Heilige Römische Reich darstelle. So bewirkte das Dessauer Modell mit seinem Reformismus angesichts der Greuel der Französischen Revolution ideologisch in der Tat eine Art Revolutionsprophylaxe.38 Mehrfach wird in den 90er Jahren unter den gärenden Bauernunruhen z.B. in Sachsen dieser Gedanke auch wirklich angesichts des Dessauer Ländchens von Besuchern hier geäußert. Es kommt sogar eine Diskussion darüber auf, daß man doch in den deutschen Kleinstaaten viel besser lebe als in den großen, und immer wird in erster Reihe Anhalt-Dessau genannt. Und das sind - auch der Revolutionssympathisant Riem ist darunter - keineswegs die Spießer oder Ignoranten. Vor der Revolution hatte ja auch Johann Friedrich Reichardt39 das Kleeblatt der deutschen Fürsten, Karl Friedrich, Franz und Karl August, als Muster guter Regentschaft herausgehoben, und Georg Forster wird schwankend in seiner revolutionären Gesinnung angesichts des „guten" Dessauer Fürstenpaares - er setze da eine Emphase drauf -, das er dreimal besuchte und hier fast noch besser finde als damals (1775) in England.40 Nichts ist bezeichnender für diese Revolutionsprophylaxe aus deutscher Sicht als die Antwort eines deutschen Reisenden in Paris auf die Frage Robespierres, welche Chancen denn die Revolution jenseits des Rheins habe: Die Deutschen brauchten keine Revolution, denn die deutschen Fürsten führten sie durch, und er nennt als erste Adressen Franz von Dessau und Karl August von Weimar.41 Hatte nach Ansicht seiner Zeitgenossen auch Kant bereits ,auf dem Katheder' die Revolution durchgeführt, hier in Dessau fand er ihre humanistischen Ergebnisse vor. In der Theorie schien in den Werken der großen Weimarer Klassiker die bürgerliche Utopie umgesetzt: nach Ansicht der Germanisten schon im Prometheus, dem weitesten Vorstoß des Sturm und Drang zur weltanschaulichen Emanzipation des Menschen, der seine Geschicke selbst in die Hand nimmt, und in der Iphigenie, dem Hymnus der Humanität. Gewissermaßen gezwungen, wird Goethe Zeuge des revolutionären Umsturzes, da verkündet der Seher auf dem Schlachtfeld von Valmy, daß von hier und heute eine neue Epoche der Geschichte ausgehe. In 37

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Siehe Hirsch, ebd. u.ö., und ders., Zeitung und Zeitschrift als Erziehungsmittel zu bürgerlichem Selbstbewußtsein, in: Wissenschaftliche Beitrüge Martin-Luther-Universität HalleWiitenberg 1982/5 (A 57), S. 118ff. Vgl. auch Hirsch, Erhard, Revolutionäres Denken und Handeln - .Revolutionsprophylaxe' im aufgeklärten Dessau und preußische Gegenrevolution. Der Drachentöter St. Michael in ikonologischer Umdeutung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift Universität Halle 39 (1990) G, Heft 5, S. 81-86. In: Schreiben an [...} Mirabeau. Hamburg/Berlin 1787, S. 37. Dank an Günter Härtung. Hirsch, Erhard, Georg Forster im Kreise der Dessauer Aufklärer, in: Wissenschaftliche Beiträge Murtin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1981/42 (T 42), S. 87-109. Hirsch, Diss., (wie Anm. 1), S. 359.

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der Pandora verkörpert der Träumer Epimetheus symbolisch die Nichterfüllbarkeit der vorrevolutionären bürgerlichen Utopie. Verwesender Feudalismus am Kaiserhofe und bürgerliche Ohnmacht bestimmt Fausts Tun im Helena-Akt, wovon Faust sich schließlich befreit: Auch hier zeigte sich in Goethes Werk die historische Epochen-Konfrontation, das Utopische sei aus seiner Sicht weitgehend abgebaut. Ansonsten gibt man sich in Weimar dem größten Epochenereignis in der realen Welt gegenüber ziemlich ignorant. Ehrenbürger der französischen Republik Schiller schreibt 1795 ausgerechnet an Johann Friedrich Reichardt: „[...] und ob ich mir gleich habe sagen lassen, daß in Frankreich eine Revolution vorgefallen, so ist dies ohngefähr das Wichtigste, was ich davon weiß". Auch in Dessau, wo in der Hauptschule täglich die Marseillaise gesungen und der Moniteur besprochen wurde,42 versucht man die Revolution zu ignorieren. Man behant aber auch nicht auf utopischen Vorstellungen. Hier wird Aufklärung praktiziert, Humanismus nicht nur gedacht, sondern auch real gestaltet. Die Aufklärer reinsten Wassers dankten das dem Lande und seinem Fürsten, dem „Abgott Deutschlands"; Wolke schreibt 1797, vor exakt 200 Jahren: „An Dessau denken daher mit Hochachtung und Dankgefühl [...] alle Freunde des Guten".43 Das wäre ein schönes Schlußwort, in dem die allgemeine Anerkennung der Dessau-Wörlitzer Leistungen durch einen aufgeklärten Zeitgenossen gewissermaßen zusammengefaßt wird; möchte nur noch so viel sagen, daß nirgends die Gesamtheit der in Dessau durch den Praktiker Vater Franz in humane Realität umgesetzten aufgeklärten Utopie Nachfolge finden konnte, daß aber auf gartengestalterischem Sektor - und um den geht es in unserer Tagung - vom Dessau-Wörlitzer Kulturkreis, dem so vielfältig gepriesenen „großen Muster", jene Gartenlandbewegung des vorigen Jahrhunderts ausgelöst wurde, die ganz Europa erfaßte, im deutschen Sprachraum unter Berufung auf das „Dessauer Ländchen" vor allem durch zwei größere Länder und ihre romantischen Monarchen vorangebracht wurde, die das Dessauer Muster in ihrer Kronprinzenzeit ausführlich studiert hatten, Bayerns Ludwig I. und Preußens Friedrich Wilhelm IV. mit den Ausführenden Lenne und der Gruppe um Gustav Vorherr. Aber das steht jetzt, wie auch die spätere „Volksgartenbewegung", unter ganz anderen geistigen Voraussetzungen und ist nicht mehr die eigentliche Fortsetzung meines Themas, obwohl die Muldpromenade des Dessauer Tiergartens der erste Volkspark war (alle Gärten waren der Öffentlichkeit zugänglich!) und die in Dessau-Wörlitz kreierte , Landes verschönerkunst' durch Karl Christian Friedrich Krause aus Eisenberg auf dem Münchener Lehrstuhl zum philosophischen Programm des 19. Jahrhunderts erhoben wurde.44 Um doch noch einen gewichtigen Zeitzeugen aussagekräftig am Schluß zu Wort kommen zu lassen: Der durch seinen Staatsroman Der Goldene Spiegel (1772) für 42 43 44

Reil, Leopold Friedrich Franz, (wie Anm. 26), S. 279f. Wolke, Christian Hinrich, Pasiphrasie. Dessau 1997, [S. 25]. Vgl. Däumel, Gerd, Über die Landesverschönerung. Geisenheim 1961.

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unsere Argumentation wichtigste deutschsprachige aufgeklärte Utopist Christoph Martin Wieland, der Prinzenerzieher Danischmend in Weimar, hat die weitgehende Realisierung seiner reformstaatlichen Ideen in Dessau-Wörlitz die „Zierde und den Inbegriff des 18. Jahrhunderts" genannt.45 Wohl deshalb, weil die aufgeklärte Trias des Radikalreformers Basedow: ,Natur - Schule - Leben' eben nicht nur die Grundpfeiler seiner im Dessauer Philanthropin praktizierten Pädagogik war, sondern im gesamten „kleinen Musterstaat" Anhalt-Dessau auf allen Sektoren des gesellschaftlichen Lebens auch umgesetzt, gelehrt, praktiziert, gelebt wurde. Übrigens war Franz wiederum ein Schüler Wielands, also der aufgeklärten Utopie: hat doch der Fürst von Dessau im Mai 1775 seiner Frau den Goldenen Spiegel vorgelesen, wie wir aus Luises Lektüreberichten erfahren, und zugleich Wieland nach Dessau eingeladen, aber erst 1783 konnte Danischmend „den thronwürdigen Mann", „den Phönix unter den Fürsten", „ihn und sein Feenschlößchen sehen".46 Dabei ist Schloß Wörlitz, das „Neue Haus", durchaus kein Feenschlößchen, sondern ein von vornherein jedermann zugängliches Museum gewesen zur individuellen Bildung wie zur allgemeinen, von der Aufklärung so lautstark propagierten „Geschmacksverbesserung". Und im Endeffekt kam aus der rastlos betriebenen Dessau-Wörlitz-Utopie, dem „wohladministrierten und zugleich äußerlich geschmückten Lande", ein „ändern vorleuchtendes" (Goethe) System heraus, das den sprichwörtlich gewordenen Progreß der Dessauer Verwaltung in der oft zitierten Redewendung dokumentiert: Er war „ein Dessauer und kein Schweriner, wie man sonst die Männer des Schlendergangs und Fortschritts unterschied", die uns der Turnvater Jahn überliefert hat.

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Die Orient-verfremdeten Utopien in der Nachfolge von Wielands Goldenem Spiegel reichen bis zu Wilhelm Friedrich von Meyem, der ebenfalls ein großer Lobredner des Vater Franz als humanistischen Landschaftsgestalters ist: (er könne sich in einer Ebene nie heimisch fühlen...) „Ich kenne nur eine Ebene, die wie ein heiliges Geheimniß immer neu und wechselnd dem Auge sich entschleiert - die des Landes Dessau. - Aber dort hat ein trefflicher Mann mit festem Sinn für alles Schöne, nach diesem innem Gesetze seines Geistes gebildet, was zu bilden war. - Und dieser Mann ist der Fürst [...] Jedes Land könnte dem seinen gleichen [...] Von jeher zeigt sich da, wo der Trieb zum Schönen der herrschende war, die Menschheit in ihrer reinsten Blüte [...]" (1804; 1800 war v. Meyern in Dessau). Tagebuch der Fürstin Luise im Anhaltischen Landesarchiv Oranienbaum. - Wieland an Gleim 17.3.1775 (siehe Festschrift Gleim/Lichtwer, Halberstadt 1969, S. 130). - Das Gästebuch des Fürsten Franz im Anhaltischen Landesarchiv Oranienbaum verzeichnet Wieland erst am 12.6.1783 zusammen mit Franz' engem Freunde Bertuch und Georg Melchior Kraus. Berenhorsts Tagebuch entnehmen wir, daß sie vom 10. bis 16. blieben, Franz mit ihnen am 13. nach Wörlitz geht, wohin Luise am 14. nachfolgt. Wieland und Bertuch reisen am 16. wieder heim, Kraus bleibt auf Wunsch des Fürsten zur Aufnahme seiner Zeichnungen aus dem Dessau-Wörlitzer Gartenreich, wo er schon 1781 weilte (Mitteilungen des Vereins für anhaltische Geschichte l, S. 208. Zu Kraus' Zeichnungen siehe Katalog Wörlitz 1988: Das Nützliche mit dem Schönen). Wieland ist Ende November 1791 abermals in Dessau (Mitteilungen des Vereins für anhaltische Geschichte l, S. 525). Auch für Willy Andreas: Carl August, Stuttgart 1953, S. 395, war Franz der „Landesvater im Sinne des Ideals, das Wieland in seinem Goldenen Spiegel (1772) vorgezeichnet hat".

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Und weitgehend war die Utopie Wirklichkeit geworden: Der dänische Dichter Christian Lävin Sander schrieb 1783 (am Ende seiner Lehrtätigkeit am Dessauer Philanthropin) an Vater Gleim: Ein zweyter Vorzug ist unsere Freyheit im Denken, in der Kleidung, in hundert ändern Punkten, die ich in meinem Vaterlande sehr vermissen werde. Ein dritter die literarische Lage von Dessau und die nie versiegende Gelegenheit, Menschen kennen zu lernen, Erfahrungen zu samlen und viele merkwürdige Bekanntschaften zu machen [...] so wäre ich [trotz seines Debakels im „Fegefeuer" des Philanthropins, E. H.] verpflichtet, ewig mit Dank an Dessau zurück zu denken.47

Und noch eine Idealvorstellung der Utopisten sahen die Aufklärer unter Vater Franz' Regiment erfüllt: Die Rückkehr zur Natur, die in der modernen Gesellschaft - „Läuterung des Menschengeschlechts" als Voraussetzung - nur durch die erstrebte „Simplicität" der Verhältnisse zu erreichen sei. Erdmannsdorffs CEuvre entsprach dieser Forderung. Wir können dieses Kapitel hier nur anreißen: Man sieht nach so viel Elogen auf Dessau-Wörlitz die Realisierung dieser utopischen Sehnsüchte nicht nur in den „elisischen Feldern" Goethes und Matthissons oder in dem viel berufenen „irdischen Paradies", nicht im „Tempe" der Gärten- und Landschaftsgestaltungen oder überhaupt im „Eden des Fürsten von Dessau": Das könnte als bloße Enkomiastik der von „allem Dessauischen" enthusiasmierten Zeitgenossen abgetan werden. Ein pädagogisch engagierter Schweizer Reisender formuliert mit vollem Ernst: „Hier ist guter Umgang und Freiheit - in Dessau ist Arkadien und Einfachheit".4*

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Siehe Hirsch, Erhard, ,Die literarische Lage von Dessau ...', in: Dessau-Wörlitz Beiträge III (= Wissenschaftliche Zeitschrift Universität Halle 41, 1992), S. 3. Nach Lose, Schattenrisse edler Teutscher I. Halle 1783, S. 30: siehe Hirsch, Diss., (wie Anm. 1), S. 300, 330, 336; Kolbe, Carl Wilhelm, in: Dorow, W., Denkschriften und Briefe 2 (Berlin 1838), S. 147f.; Rode, August, Georgenhaus. Dessau 1796, S. 65 (vgl. Klemm, Heinz, Die Entdeckung der Sächsischen Schweiz. Rudolstadt 1968, S. 16).

MICHAEL NIEDERMEIER (Berlin)

Wörlitz als höfische Veranstaltung? Eros zwischen höfischer Selbstreflexion, pädagogischer Kontrolle und naturalisierter Utopie I. Gärten haben über die Jahrtausende hinweg im Bild der vegetabilen Fruchtbarkeit auch immer den Gedanken der menschlichen Fortpflanzung und Sexualität mittransportiert. Seit den frühen vorgeschichtlichen und antiken Schöpfungsmythen und Kosmogonien, den Paradiesvorstellungen oder den Heiligen Hainen der Artemis, Venus oder des Baal waren Gärten Orte religöser Zeremonien, in denen die Kopulation als mystisch-sinnliche Metapher für die Zeugung und Fruchtbarkeit in der göttlichen Natur zelebriert wurde. Auch hielten Herrscher- oder Privatgärten oft genug das Versprechen auf das Ausleben einer ungekürzten Sexualität wach. Das zeigt sich noch im Falle der Wortbedeutung des Begriffes „Lustgarten", wobei die deutsche Bezeichnung noch etwas schillernder und assoziativer wirkte als die englischen und französischen Äquivalente „pleasure garden" oder „jardin de plaisir". Das vom Gotischen, Althochdeutschen, Angelsächsischen, Altnordischen abstammende Wort „Lust" übersetzte Joshua Maaler in seinem Wörterbuch von 1561 als das Lateinische „appetentia", Verlangen, aber auch als „cupido", Liebesverlangen, oder „concupiscentia", Begattungsbegierde.1 Auch in den Bibelübersetzungen steht das Wort .Lust' bekanntermaßen in Beziehung zur Sünde, zum Sündenfall. Und so ist es nicht verwunderlich, daß der Lustgarten neben der Bedeutung, ein Garten der Sinnenfreude, des Genusses und nicht primär der Ökonomie und der Nützlichkeit zu sein, mit der Fruchtbarkeit und der Zeugung in unmittelbare Verbindung gebracht wird. Joshua Maaler wiederum übersetzte Lustgarten für „paradisus", „hortus", „viridarium". Auch in Zeiten von religiöser Reglementierung und rationaler Libidokontrolle hielten Gärten die Sehnsucht nach einem Utopia wach, in dem die individuelle Liebe nicht als Gefahr, sondern als Erfüllung des menschlichen Strebens, als Versöhnung des Menschen mit seiner eigenen wie mit der ihn umgebenden Natur verstanden wurde.2 Die Eindeutigkeit, Vgl. die Belege in: Grimm, Jacob und Wilhelm, Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1885. Bde. 6 und?, S. 1314-1348, hier S. 1314. Vgl. die Literaturverweise bei: Niedermeier, Michael, Erotik in der Gartenkunst. Eine Kulturgeschichte der Liebesgärten. Leipzig 1995; ders., .Strolling under palm trees'. Gardens - Love - Sexuality, in: Journal of Garden History. An international Quarterly, Vol. 17 (1997), no. 3, July-September, S. 186-207. Die Studie von Alessandra Ponte (Architecture and Phallocentrism in Richard Payne Knight's Theory, in: Colomina, Beatriz (Hg.), Sexuality and Space (Princeton Papers on Architecture 1). Princeton, NJ, 1992, S. 273-305) wurde mir erst jetzt bekannt.

Wörlitz als höfische Veranstaltung ?

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die dem Begriff ,Lustgarten' heute innewohnt (Berliner oder Potsdamer Lustgarten etc.), besaß er früher nicht. Wenn ich nun die an mich herangetragene Frage anzureißen versuche, in welcher Weise der Eros im Wörlitzer Garten sich zwischen höfischer Veranstaltung und naturalisiertem Utopieentwurf zu interpretieren sei, dann muß nachdrücklich vorausgeschickt werden, daß dieser Garten durchaus mehrere Funktionen bediente. Er besaß neben der Rolle als Bühne für das höfische Leben sowohl eine sehr privat-intime als auch eine ausgeprägt aufklärerisch-pädagogische Bestimmung.3

II.

Der Wörlitzer Garten hatte aber - wie alle Fürstengärten - insbesondere eine ausgeprägt politisch-weltanschauliche Bedeutung. Er reflektierte nicht nur die privaten Auffassungen des Fürsten über Natur, Landschaft, Botanik, Ökonomie, Geschichte, Mythologie, Architektur, Kunst, Bildung, Liebe und Politik und war somit ein Ort der weltanschaulichen Selbstverständigung. Der Garten hatte gleichzeitig eine kulturpatriotische und politisch-agitatorische Absicht (siehe Abb. 25).4 Fürst Franz gelang es mit Hilfe der enormen Ausstrahlung, die seine Gartenanlage, ja sein Gartenreich insgesamt, im In- und Ausland hervorrief, die aufgeklärte Gesellschaft der Pädagogen, Gelehrten, Schriftsteller und Künstler, von Basedow, Campe, Rochow bis Goethe und Böttiger zu beeindrucken und zu beeinflussen. Die Gärten und die Landesverschönerung unterstrichen das Bild des beispielgebenden kunstsinnigen und philanthropischen Landesvaters und patriotischen Aufklärungsfürsten, der sein Land in eine ökonomisch nutzbare ornamented farm, in einen einzigen blühenden Garten verwandelte.5 Mit seinem Gartenprogramm erhoffte sich Fürst Franz aber auch einen patriotisch-politischen und einen weltanschaulichen Einfluß auf regierende Fürsten wie Carl August von Sachsen-Weimar, Ernst . von Sachsen-Gotha, Carl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel, Carl Friedrich von Baden oder den

Vgl. Hirsch, Erhard, Zum Stand der Dessau-Wörlitz-Forschung, in: Hartmann, Joseph (Hg.), Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt. Weimar 1997. Bd. 20, S. 412-419. Der Verf. wird in seinem Habilitations-Projekt u.a. neben den literarisch-künstlerischen, die politischen, patriotischen, pädagogischen und weltanschaulichen Dimensionen einiger anhaltischer Gartenlandschaften, aber auch korrespondierender Weimarer oder Gothaer Gärten in ihrer Genese vom 17.-19. Jahrhundert im Sinne von „Erinnernder Landschaft" untersuchen. Vgl. die Vielzahl der zeitgenössischen Elogen in: Hirsch, Erhard, Progressive Leistungen und reaktionäre Tendenzen des Dessau-Wörlitzer Kulturkreises in der Rezeption der aufgeklärten Zeitgenossen (1770-1815). [...] Diss. [masch.] Halle 1969. Vgl. in diesem Band den Aufsatz von Erhard Hirsch.

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preußischen Thronfolger. Nicht zufälligerweise bediente sich Friedrich Wilhelm . der Hilfe des Dessauer Architekten Erdmannsdorff und des Gärtners Eyserbeck bei der Gestaltung des Neuen Gartens am Heiligen See bei Potsdam und der Umgestaltung des Gartens in Charlottenburg. Die vermittelnde Rolle seiner einflußreichen Geliebten Wilhelmine Encke (der späteren Gräfin Lichtenau), die ja eine Patentochter von Fürst Franz war, ist ebenfalls nicht zu ignorieren.6 Insgesamt zeigte sich, daß der Dessauer Fürst mit seinen Gartenschöpfungen nicht nur den kulturell-künstlerischen Führungsanspruch anmeldete. Die Gärten beabsichtigen auch, die politischen Interessen seines Fürstentums wirkungsvoll zu demonstrieren. Im nachfolgenden sollen einige Anmerkungen zu den kulturellen und politischen Hintergründen des erotisch-kosmogonischen Gartenprogramms in Wörlitz gemacht werden, wobei hier eben die Frage gestreift wird, wie das Verhältnis von Utopiepotential und dem spezifisch Höfischen dieses Entwurfes einzuschätzen ist. Dabei muß es sich der Verfasser versagen, die an anderer Stelle versuchte Deutung der empfindsamen, naturphilosophischen und erotischen Passagen des Gartens nach literarischen Vorbildern ausführlicher zu diskutieren.7

III. Die Bilder-, Waffen- und Büchersammlungen im Gotischen Haus oder die ostentative Darstellung der Familiendeszendenz im Monument im Garten, zeigen deutlich, daß Fürst Franz sein Fürstengeschlecht als sein historisches Erbe betrachtete, ja daß er seine politische Legitimation aus der Familiengeschichte herleitete.8 Er Vgl. Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (Hg.), Friedrich Wilhelm H. und die Künste. Preußens Weg zum Klassizismus. (Ausstellungskatalog) Potsdam 1997, insbesondere die Beiträge von Clemens Alexander Wimmer, Gerhard Knoll, Michael Seiler und Ingo Pfeiffer. Vgl. auch Wimmer, Clemens Alexander, Die Geheimnisse von Marmorpalais und Neuem Garten. Vertrag gehalten vor der Pückler Gesellschaft. 4. September 1997; Niedermeier, Michael, Erotik in der Gartenkunst, (wie Anm. 2), S. 209f. Zur Sexualisierung der vorgeschichtlichen und antiken Schöpfungsmythen, der Kosmogonien, der Zeitalter- und der Elementenlehre, zu den Mustern sexueller Generativität bei der Entstehung der Welt vgl. neuerdings: Böhme, Gernot/Böhme, Hartmut, Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente. München 1996, insb. S. 32ff., 54ff., 74ff. u. 172ff. Zur erotisch-kosmogonischen bzw. -kosmologischen Deutung des Wörlitzer Gartens vgl. Niedermeier, Erotik in der Gartenkunst, (wie Anm. 2), S. 191-228. Das Monument ließ Franz für die männlichen Regierenden und Vormund-Regenten des Hauses Anhalt-Dessau seit 1603 als direktes Gegenüber zum Schloß errichten. Der Giebel des südlich gelegenen Einganges, der von ionischen Säulen getragen wird, enthält im Fries die Aufschrift: „Meinen Vorfahren. Franz." Im Inneren des 1802 fertiggestellten Gebäudes, das Fürst Franz ohne die Hilfe seines 1800 gestorbenen Freundes Erdmannsdorff gestaltet hatte, waren vom Hofbildhauer Hunold die Reliefporträts der Regenten angebracht. Da es genau in der Sichtachse des Schlosses errichtet wurde und einen gewissen Abschluß der Bautätigkeit im Garten darstellt, darf es als deutliches Signal verstanden werden. Die 1804 aufgestellte 5m hohe Säule aus Rom mag mehr gewesen sein als eine Erinnerung an die Römische Klassik, sie verweist auch auf die legendenhafte Rom-Abstammung der Fürsten von Anhalt.

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stellte sich ganz bewußt in die Tradition der Askanier. Fürst Franz, der sein kleines Land als Irenopolis, als Friedensreich, gestaltete, ging es dabei weniger um die große militärische Tradition seiner Vorfahren. Er orientierte sich vielmehr an den patriotischen und kulturschaffenden Leistungen seiner Vorfahren, wie sie besonders die „Fruchtbringende Gesellschaft" (siehe Abb. 49), die ja von den askanischen Fürsten und ihren sächsisch-ernestinischen Verwandten gegründet und dominiert wurde, hervorgebracht hatte.9 Es sind, so meine These, die ich hier nicht ausführlich diskutieren kann, die fiktiven wie wirklichen Genealogien des Hauses Anhalt, die einen wichtigen Schlüssel für eine synthetische Deutung der verschiedenen, anscheinend so desparaten Bildgehalte ägyptischer, römischer, griechischer germanischer, ritterzeitlicher oder otahitianischer Herkunft bieten. Und dies auch in bezug auf das Erotische. Die von den anhaltischen und ernestinischen Fürstenhäusern initiierte „Fruchtbringende Gesellschaft", die sich selbst als „Fruchtbringender Lustgarten" (Schottelius), „Fruchtbringender Gnaden-" und „Tugendgarten" oder „Kunstprächtiger Sprachgarten" (Neumark) verstand, war die bedeutendste deutsche Sprachgesellschaft bzw. patriotische Akademie des 17. Jahrhunderts. Sie setzte altadlige Tugendideale, Selbstdisziplin, kultivierte Dichtungs- und Spracharbeit und höfisches Benehmen gegen eine zunehmende Verrohung der Sitten, auch was die Sexualnormen der höfischen Gesellschaft anbetraf. Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen, das erste Oberhaupt, verstand die Fruchtbringende Gesellschaft als einen Bund, eine Bruderschaft, ja eine höfische „Pflanzschule"1*1 „der Tugend, des Umgangs und der nationalen Sprache von dem planenden Willen und der auf den Nutzen gerichteten Ratio des werdenden Fürstenstaats"." In den Zeiten der großen Religionsauseinandersetzungen, der europäischen Machtkämpfe und politischen Ambitionen, in die ja die Anhaltischen und Sachsen-Weimarischen Fürsten, z.B. Christian von Anhalt (in der Fruchtbringenden Gesellschaft: Der Sehnliche) oder Bernhard von Weimar (Der Austrucknende) an exponierter Stelle beteiligt waren, sollte die allgemeine Verwilderung aus dem schützenden Garten ausgeschlossen bleiben, Kultur die Natur erhöhen und nützlicher und genießbarer machen.12 Gartenkunst, Gartenbau

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Franz besaß in seiner Handbibliothek in Wörlitz ein Exemplar der Fruchtbringenden Gesellschaft, hier handelte es sich denkbarenveise um das Gesellschaftsbuch von 1641. Zur italienischen Ableitung des Begriffes „Pflanzschule" von „Akademie" vgl. Conermann, Klaus, War die Fruchtbringende Gesellschaft eine Akademie? Über das Verhältnis der Fruchtbringenden Gesellschaft zu den italienischen Akademien, in: Bircher, Martin/Ingen, Ferdinand van (Hg.), Sprachgeseüschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Hamburg 1978 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 7), S. 127. Ebd., S. 108. Vgl. Hoppe, Günther, Fruchtbringende Gesellschaft und emestinische Höfe, in: John, Jürgen (Hg.), Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20. Jahrhundert. Weimar/Köln/Wien 1994, S. 93-104.

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X Abb. 48: Peter Lauremberg: „Horticvltvra" (1. Aufl. 1631) (Frankfurt a. M. 1654), Theil I, p. 162: Beeteinteilung der ersten Art mit Phalli

und Landwirtschaft spielten in der künstlerischen Bildwelt, den Naturauffassungen, der Weltbetrachtung, der Sprachdeutung, den pädagogischen Konzeptionen und in der Wirtschaftsschaftspraxis der Fruchtbringenden Gesellschaft eine prägende Rolle.13 In der Atmosphäre dieses von hortikulturellen Allegorien, botanischer Impresenkunst und praktischen Gartengestaltung (Köthen, Weimar usw.) 13

Vgl. Niedermeier, Michael, Fruchtbringende Bildung im historischen Anhalt-Käthen. Festvortrag, gehalten anläßlich des Endes der institutionellen Lehrerbildung in Köthen am 22.9.1997 (Druck· in Vorbereitung).

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geprägten Gesellschaftsleben sollte ein Bündnis einer patriotisch-kulturellen Elite wie in einer „Pflanzschule" heranwachsen. Es entstand ein Gesellschaftsraum, in dem nicht mehr nur die aristokratische Herkunft, sondern der Adel der Gesinnung, der Tugend und der individuellen Leistung verkörpert schien, wobei die Anciennität der Familien von beträchtlicher Bedeutung blieb. Vordergründige politische Ambitionen oder Eitelkeiten wurden zugunsten des Conversatio-Ideals zurückgedrängt. Aus diesem Grunde wehrte Ludwig von Anhalt-Köthen den Vorschlag ab, die Gesellschaft in eine des Hochadels und eine der Bürgerlichen zu spalten. Auch nichthöfische Bürgerliche wurden seit 1642 in die Gesellschaft aufgenommen. Und trotzdem: Selbst die von Ludwig I. oder Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar benutzten Gartenlehrbücher, wie Peter Laurembergis Horticvltura (1631), vermochten es nicht, die heidnischen Götter der Gärten, der Liebe und Fruchtbarkeit gänzlich aus dem Reich der Lustgärten zu verbannen. Barauderien und Beete in Phallusform (Primi Generis), die auf die Schenkel eines Sternes gleich einer Vulva in der Mitte von Parterrepflanzung zulaufen, verweisen auf den ithyphallischen Fruchtbarkeitsgott Priapus. Beeteinfassungen aus Nutzpflanzen, wie Rosmarin, Salbei, Heidelbeere oder Raute, waren in Herzform entworfen oder Frauenbrüsten nachempfunden. Sie deuteten auf die Fruchtbarkeits- und Gartengöttinnen Venus, Flora oder Ceres und die Muster sexueller Generativität bei der Entstehung der Welt und der Fruchtbarkeit der Natur.14 Sie mögen auch ein Vorbild für die Phallusbeete vor dem Floratempel in Wörlitz gewesen sein (siehe Abb. 48).15 Bei aller patriotischen Sprach- und Tugendarbeit, mit der die Askanier und Ernestiner den Anspruch ihrer Dynastien als der politischen und kulturellen Avantgarde in Deutschland anmeldeten, die uralte Dignität der deutschen Sprache und Kultur des deutschen Reiches wieder zum Gegenstand der gebildeten und hochadeligen Gesellschaft machten, gestaltete sich das höfische Leben nicht etwa eingezogen spartanisch, sondern vielseitig künstlerisch. Die höfischen Lustbarkeiten, die etwa von der Academic des Parfaits Amants, die Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft mit den Damen des Hofes vereinigte, die in den nach italienischem Vorbild ausgestatteten Lustgärten in Szene gesetzt wurden, erforderten aufwendige Inszenierungen galanter Schäferspiele, mythologischer Triumphzüge, Cartelle und Ritterspiele. Gespielt wurden etwa nachgedichtete Szenen aus dem französischen Moderoman L'Astree nach Honore d'Urfe. Beliebt waren nach italienischem Vorbild - auch Maskenfeste nach den Metamorphosen des

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Laurembergis, Peter, Horticvltvra. Libris II. comprehensa; hvic nostra coelo & solo accomodata; Regulis, Observationibus, Experimentis, & Figuris novis instructa [...]. Frankfurt/M.: Merian [1631]. Bd. I, S. 162. Vgl. weiter Wimmer, Clemens Alexander, Peter Laurembergs .Horticvltvra' (1631), in: Zandern 10 (1995), Nr. 2, S. 45-70. Vgl. auch: Niedermeier, Michael, .Strolling under palm trees', (wie Anm. 2), S. 201ff.

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Abb. 49: F rst Georg Aribert von Anhalt-Dessau. Der Anmutige. 1619. Aus: Der Fruchtbringenden Gesellschaft Vorhaben/Nahmen/Gem hlde Und W rter. (Gesellschaftsbuch F rst Ludwigs I. von Anhalt-K then, 1629)

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Ovid.16 Als Lieblingswerke der fruchtbringenden Höfe übersetzte Dieterich von dem Werder Ariosts Der rasende Roland und Tassos Das befreite Jerusalem, die beide von ritterlicher Pflicht, Heiligem Krieg, aber auch den Freuden und Gefährdungen der Liebe in Liebesgärten oder auf Liebesinseln berichten.17 Veranstaltungsort dieser höfischen Feste waren auch die kunstvollen Lustgärten in Dessau, Weimar oder Zerbst. Der beabsichtigte freiere Umgang der Ordensmitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft untereinander, vor allem aber die höfisch-galanten Kontakte in der Academic des Parfaits Amants führte auch dazu, daß die Fürstenhäuser mit Vertretern des niederen Adels oder Bürgerlichen in vertrautere Verhältnisse kamen. Die Gefahr ließ sich dabei nicht ausschließen, daß so eine Atmosphäre geschaffen wurde, die den Nährboden darstellte für Romanzen zwischen in der Adelshierarchie nicht vereinbaren Partnern, die sogar riskante Mesalliancen nach sich zogen. Und das, obgleich die kleinen alten Fürstenhäuser doch aus Legitimationsgründen und wegen der Gefahr der zunehmenden Marginalisierung durch Zersplitterung unter Nebenlinien entschieden darauf bedacht waren, ihre Selbständigkeit durch Heiraten mit den ältesten und erfolgreichsten europäischen Dynastien abzusichern. Vergils Amor vincit omnia schlug jedoch immer wieder die Askanier in ihren Bann, und zwar noch öfter als die verwandten ernestinischen Linien des Hauses Sachsen, obgleich auch diese immer wieder Opfer des Liebesgottes wurden. Die romantische Ehe zwischen Georg Aribert von Anhalt-Dessau, dem „Anmuthigen" der Fruchtbringenden Gesellschaft, und Johanna Elisabeth von Krosigk, Tochter des Dessauischen Hofmarschalls, des „Wohlbekommenden", ist ein erstes „Beispiel später so häufiger Herzensbündnisse der Anhalter mit unebenbürtigen Frauen".18 Solche „Herzensbündnisse" aber waren politisch für die Fürsten und ihre engsten Vertrauten aus der Fruchtbringenden Gesellschaft katastrophal, nicht nur, weil sich durch die so entstehenden Nebenlinien die Askanier und Ernestiner immer mehr in die Bedeutungslosigkeit manövrierten, sondern auch, weil sie die ehrgeizigen kulturpatriotischen Pläne ihrer Häuser gefährdeten, die Anciennität und Legitimität des Geschlechts in Frage stellten. Fürst Ludwig konnte sich als erstes Oberhaupt der Gesellschaft nicht enthalten, im Reimgesetz Ariberts [des Anmuthigen], dem 24. Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft, eine tadelnde

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Zur italienischen Tradition insgesamt vgl. Hunt, John D., Ovid in the Garden, in: ders., Garden and Grove. The Italian Renaissance Garden in English Imagination: 1600-1750. Princeton 1987,5.42-58. Beide Werke befanden sich in verschiedenen deutschen, italienischen, englischen und französischen Ausgaben auch in der Herzoglichen Hofbibliothek in Dessau und waren daher Fürst Franz natürlich gut bekannt. Barthold, Friedrich Wilhelm, Geschichte der Fruchtbringenden Gesellschaft. Berlin 1848, S. 118.

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Wendung einfließen zu lassen.19 Wäschke stellte in seiner Anhaltischen Geschichte auch folgerichtig die Ambivalenz zwischen den ritterlichen Taten der Kriegshelden des Hauses und ihrer häufig aus unteren Ständen stammenden Liebes- und Lebenspartnerinnen als bezeichnendes Merkmal der Askanier heraus: Gewissermaßen ein Gegenstück zu der in den einzelnen Persönlichkeiten hervortretenden Heldenhaftigkeit bildet das Durchbrechen der Schranken und Ordnungen, welche Sitte und Herkommen aufgerichtet hatten. Dies zeigt sich vor allem in der Schließung unebenbürtiger Ehen in so großer Zahl, wie sie wohl kein anderes Zeitalter aufzuweisen hat.20

Fürst Georg Aribert durfte zwar, nach langen, zähen Verhandlungen, besonders Fürst Ludwig hatte sich lange dagegen gesperrt, heiraten und erhielt nach einem am 10. Februar 1637 mit den Fürsten August, Ludwig, Christian und Friedrich von Anhalt abgeschlossenen Vertrag das Dorf Radegast, das Dorf Riesigk, das Kreutzsche Gut zu Wörlitz und das Amt Wörlitz als „Stamm=Hauß" der männlichen Lehnserben zugewiesen (siehe Abb. 50). Aribert wurde vorher jedoch das Versprechen abgerungen, daß Johanna Elisabeth von Krosigk vermittelst dieser Ehelichen Verpflichtung und Beiwohung in den Fürsten=Grafen oder Freien=Stand keines weges erhoben/sondern in Ihrem angebohmen Alten Adelichen Stande allerdings und biß an Dir letztes Ende verbleiben/Sie demnach Sich des Fürstl. Nahmens/Tituls/Wapens/Ehren und Würde gäntzlich so wohl gegen das Fürstl. Hauß als Unterthanen und andere enthalten/und weder durch Sich/ noch durch andere bei seinen Lebzeiten oder hernach anmassen solle.21

Die kaiserliche Bestätigung der Ehe erfolgte aufgrund des Familienvertrages mit der Einschränkung, daß die Kinder nicht als ebenbürtig anerkannt wurden, sondern nur den Titel der Grafen und Gräfinnen von Bähringen und Herren, Frauen oder Fräulein von Waldersee und Radegast führen dürften.22 Später gab es noch erhebliche Turbulenzen, weil die Witwe, der Sohn und die beiden Töchter nach dem Vorbild an anderen Höfen in „Frankreich und Deutschland" als ebenbürtig erklärt werden wollten, so daß der verwandte Gothaer Herzog vermitteln mußte. Die Fürsten von Anhalt drängten die Witwe des Fürsten und ihre

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„Anmuthig ist die Frucht der reifen Pomerantzen Im Schmack und im Geruch/wo sie sich einst einpflantzen/Im Sprichwort sagt man wol/auff ein Ey schmeckt ein Trunck/Und auff ein Apffel schickt sich wol ein fremden Sprungk. Man soll anmuthig sein in allen ehren Sachen/Und nimmer niemand! nicht ein einzig Unlust machen/Also anmuthig ist man im Geruch und Schmack/Wenn man mit Grillen nicht zerstört sein gut Gelack." [Hervorh. M. N.]. Zitiert nach: Conermann, Klaus (Hg.), Der Fruchtbringenden Gesellschaft geöffneter Erzschrein (Edition). Das Köthener Gesellschaftsbuch Fürst Ludwigs I. von Anhalt Köthen 1617-1650. Leipzig 1985. Bd. l, Nr. 24. Conermann teilt diese Auffassung Bartholds nicht. Wäschke, Hermann, Anhaltische Geschichte. 3 Bde. Köthen 1912-1913, hier Bd. 3, S. 181. Beckmann, Johann Christoph, Historia des Fürstentums Anhalt. In sieben Theilen. Zerbst 1710. V. Theil, S. 241. Ebd. S. 241ff.;IV, S. 546 u.ö.

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Abb. 50: Ambtsflecken Wörlitz. (Ausschnitt). Aus: Johann Christoph Beckmann, Historia des Fürstenthums Anhalt. In sieben Theilen. Zerbst 1710. Das hier abgebildete Jagdschloß wurde erst nach 1698 erbaut und 1768 für das neue Landhaus von Erdmannsdorff abgerissen. 1632 hat in Wörlitz nach dem Vertrag mit seinem Bruder Fürst Johann Casimir Fürst Georg Aribert zusammen mit seiner Gattin Johanna Elisabeth, geborene von Krosigk, seine Residenz genommen.

beiden Töchter sogar mit Gewalt aus ihrer Residenz in Wörlitz hinaus und expedierten sie auf das Kreutzsche Gut. Wörlitz erhielt so frühzeitig den Charakter einer symbolischen Landschaft, in der sich die ambivalente Tradition zwischen standesherrlichem Sommersitz, fürstlicher Deszendenz und utopiegeladenem Lebensraum der sich über Standesschranken erhebenden Liebe festmachte (siehe Abb. 50). Fürst Franz, der seine natürlichen Kinder mit seiner Jugendliebe und „Beyschläferin der Hofmeyerin, die nachgehender unter dem Namen der Frau von Waldersee bekannt wurde" (Johann August Rode) und der Gärtnerstochter Luise Schoch, als von Waldersee und von Behringer aufziehen ließ, spielte auf diese nicht unproblematische Ahnenreihe durchaus bewußt auch im Bildprogramm des Wörlitzer Gartens an.23 Im Gotischen Haus, wo er ja mit der Gärtnerstochter Luise Schoch, der späteren Frau von Behringer, und den gemeinsamen Kindern lebte (den Grafen

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Mit der Wahl der Namen rekurrierte Franz auch auf die Ahnherren der Askanier bzw. eine ausgestorbene anhaltische Adelsfamilie, die zu den ältesten in Anhalt gehörte. Vgl. z.B. Beckmann, Historia, (wie Anm. 21), I. Theil, S. 20; V. Theil, S. 8f. u. 244.

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Abb. 51: Stammbaum des Hauses Anhalt. Kopfleiste aus Beckmanns „Historie" (Zerbst 1710)

Waldersee, den Sohn der Hofmeyerin, ließ Franz zusammen mit dem Erbprinzen auch in Wörlitz durch August und Karl Rode erziehen), befand sich des Fürsten Mittelpunkt für „all seine Vergnügungen, selbst in der Liebe" (Carl August Böttiger). In diesem neugotischen Gebäude spielte Franz mit vielen Bildern der anhaltischen Familie auf die uralte fürstliche Deszendenz an. Hier stellte Franz aber auch diverse Erotika und „aretinische Spielwerke" aus. Hier zeigte er zwischen Bildern, die auf die herausragende Rolle der Askanier in den Kämpfen um Religion und Reichspolitik verwiesen, auch zwei großformatige Gemälde von Adam und Eva, die einer Überlieferung nach mit den Physiognomien des Fürsten Joachim Ernst, des Ahnherrn der nachfolgenden Linien Anhalt, und seiner ersten Gemahlin Agnes von Barby gemalt worden seien.24 August Rode vermeidet es in seinem offiziellen Führer durch das Gotische Haus, deutlicher zu werden, wenn er schreibt: „Angeblich sind die Köpfe Portraits aus der fürstlichen Familie".25 Gegenüber Carl August 24

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Staatliche Schlösser und Gärten Wörlitz-Oranienbaum-Luisium (Hg.), Gotisches Haus Wörlitz. Wörlitz 3 1989, S. 16. Rode, August, Das Gotisches Haus zu Wörlitz [...]. Dessau 1818, S. 5.

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Böttiger aber, den Rode durch den Garten und das Gotische Haus geführt hatte, scheint er gesprächiger gewesen zu sein. Denn Rode war als Vertrauter des Fürsten und als Halbbruder zweier natürlicher Söhne des Alten Dessauers, den BerenhorstBrüdern, mit den Interna der Familie bestens vertraut. Schließlich notierte Böttiger in seiner Beschreibung, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war: Der Fürst „zeigt, wenn er Freunde herumführt, mit großem Wohlgefallen im zweiten Zimmer unten im Erdgeschoß das Gemälde, wo sich ein alter Fürst mit seiner Mätresse [!] hat nackend abbilden lassen".26 Franz machte es offensichtlich Vergnügen, im Kreise seiner Vertrauten, die kreatürlich-natürliche Sehnsucht seiner Vorfahren nach erotischer Erfüllung mit Wohlwollen zu diskutieren, ja bewußt in seinen Entwurf der Familienhistorie zu integrieren. Das Gotische Haus war, wie Bernard Korzus einleuchtend dargelegt hat,27 Ausdruck eines politischen Programms, in dem patriotisch gesinnte Fürsten, allen voran der Askanier Franz und der Ernestiner Carl August von Sachsen-Weimar, die altständische Ordnung zu reformieren hofften. Und dies übrigens in ganz ähnlichem Sinne, wie das schon die Fruchtbringende Gesellschaft versucht hatte. Im Unterschied zu Fürst Ludwig I. von AnhaltKöthen zogen aber Franz (und auch Carl August) die Grenzen des Diktats der Tugendideale, was die Liebe anbelangte, für sich nicht mehr sehr eng. Daß nach Auffassung von Franz sehr wohl der Anspruch auf die Freiheit in der Liebe zum Streben nach Glückseligkeit gehörte, ja daß sich in den achtziger und neunziger Jahren dahinter eine umfassende deistisch-naturreligiöse Auffassung verbarg, wird auch darin deutlich, daß das erotische Begehren als integraler Teil des Ritterlebens betrachtet wurde. Die „ritterlichen" Erotika28 im Gotischen Haus und die antik-heidnischen Blumenphalli vor dem Floratempel deuteten auf die wahre Urkraft der Natur hin, die der Fürst in heidnischem Sinne in der sexuellen Anziehung der Geschlechter und der Fortpflanzung sah. Dem entsprachen auch die literarischen Interessen des Fürsten. „Er", so sein Prediger Reil, hatte die Schriften der neuem gebildeten Nationen, besonders die erotischen [Hervorh. M. N.]und die, welche in das Fach der schönen Künste einschlagen, oft, die alten Klassiker in französischen, englischen und deutschen Uebersetzungen mehr als einmal gelesen.29

Im Gotischen Haus sammelte Franz alte Bücher aus dem 16. und 17. Jahrhundert, vornehmlich Ritterbücher, Historien, Adelsgenealogien, Tumierbücher, alte Boccaccio-Ausgaben oder das Buch der Liebe (1587), in dem nicht nur Beispiele der hohen, tugendhaften Minne gegeben wurden, sondern an Beispielen gezeigt, was 26 27

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Böttiger, Carl August, Reise nach Wörlitz 1797. Aus der Handschrift ediert und erläutert v. Erhard Hirsch. 7. erg. Aufl., Wörlitz 1988, S. 31. Korzus, Bernard, Neugotik im Alten Reich. Zum Architekturhistorismus in deutschen Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts. (Vortragsmanuskript. Für die Veröffentlichung vorgesehen). Böttiger, Reise nach Wörlitz 1797, (wie Anm. 26), S. 31. Reil, Friedrich, Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau [...]. Dessau 1845, S. 299.

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„Bulerische Lieb sey".30 Denn unter dem Begriff „Gotisch" - im Sinne von (alt)deutsch - verstand Franz mit Herder durchaus auch die Zeit der frühen Neuzeit.31 Ein wichtiges „mittelalterliches" Buch, das für den Fürsten - wie schon für seine Altvordern - die antike Welt an die Renaissancewelt Italiens knüpfte, war Ariostos Orlando fiirioso, der Rasende Roland, ein Lieblingsbuch schon in der Fruchtbringenden Gesellschaft (siehe Abb. 52). Wie Apulejus' Goldener Esel (Metamorphosen)32 hat auch dieses literarische Werk ganz unmittelbar die Vorlage für wichtige Partien des Wörlitzer Gartens abgegeben.33 Hier in aller Kürze: Für den Bildgehalt des Großen Saales im Schloß in Dessau, der für Winckelmanns Empfang von Erdmannsdorff 1767 neu gestaltet wurde, spielte das Gemälde vom Liebesgarten der Verliebten Medor und Angelika eine bedeutende Rolle für den Italien- und Rombezug (siehe Abb. 53). August Rode übersetzt in seinem offiziellen Führer des Dessauer Schlosses diese Deflorationsszene ganz bewußt und gibt so einen Wink für die Interpretation des Bildprogramms des Saales: Angelica läßt den Medor die erste, nie zuvor berührte Rose brechen; denn nie war jemand so glücklich gewesen; den Fuß in jenes Gärtchen zu setzen. Die Sache zu bemänteln, zu beschönigen, feiert man mit heiligen Gebräuchen die Hochzeit, wobei Amor Zeuge und des Hirten Frau Vorsteherin ist. Das Beilager wird unterm niedem Dache so feierlich gehalten, als es nur immer angeht; und länger als einen Monat blieben dann ruhig die Liebenden bei einander sich in Wonne zu letzen. [...] Unter so vielen Freuden grub sie, wo sie nur einen geschlanken Baum sah, der eine Quelle oder einen klaren Bach beschattete; wo sie nur einen weicheren Felsen antraf - mit einer Nadel, mit einem Messer ihre Namen ein: und außen an tausend Orten stand geschrieben, so wie innen im Hause an eben so vielen - Angelica und Medor, in mancherlei Zügen verschränkt und mannigfaltig ineinander geschlungen.34

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Franckfurt am Mayn/in Verlegung Sigmund Carls Feyerabends II M.D. LXXXVII.II., insb. S. 113ff. Uwe Quilitzsch und d. Verf. arbeiten an der Rekonstruktion der Bibliotheksbestände anhand aufgefundener Bücherlisten und planen deren Publikation. Herder war ein Lieblingsautor des Fürsten und der Fürstin, dem auf der Herder-Insel gegenüber des Pantheons ein Denkmal gesetzt wurde. Die Fürstin ließ sich 1813 von Heinrich Olivier in altdeutscher Tracht in einem gotischen Fenster vor einer Gartenlandschaft malen, einen Herder-Band in der Hand. Herder entwickelte seinen Begriff des Gotischen in Von deutscher Art und Kunst sowie der Adrastea. Vgl. noch immer die materialreiche Arbeit von Stolpe, Heinz, Die Auffassungen des jungen Herder vom Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung. Berlin 1955. Vgl. meine Interpretation in: Erotik in der Gartenkunst, (wie Anm. 2), insb. S. 212ff. Vgl. Niedermeier, Michael, Ariosts Rasender Roland und Hamiltons Erklärung des Isis-Tempels in Pompeji. Einige Bemerkungen zur Deutung der Kettenbrücke und des ägyptischen Kellers im Wörlitzer Garten, in: Dessau-Wörlitz-Beiträge 7 (1996) [= Zwischen Wörlitz und Mosigkau 46]. Dessau 1997, S. 147-163. Erst jetzt fand ich den kleinen Aufsatz von Julie Harksen: Italienische Dichtkunst und der Dessau-Wörlitzer Kulturkreis, in: Dessauer Kulturspiegel 1957, S. 140-145, 190-195. Rode, August, Wegweiser durch die Sehenswürdigkeiten in und um Dessau. 1. Heft. Dessau 1795, S. 21f.

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Abb. 52: Johann Fischer. Berlin. Porträt des Ariost in der Sammlung von Autoren der „Dichtung und Beredsamkeit" in der Wörlitzer Bibliothek.

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Abb. 53: Johann Joseph Freidhoff nach Pietro Rotari: Angelica und Medor bey den Hirten, 1798. ([Schabkunstblatt nach dem] Original Gemälde v. dem Grafen Peter Rotari im Fürstl: Schlosse zu Dessau. Chalcographische Gesellschaft Dessau.)

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Diese Szene ist das eigentliche Zentrum dieses Epos1, das von Ritterlichkeit und Liebesverlangen handelt. Daß der Ritter Roland das Liebesnest seiner verehrten Dame findet, wird ja auch der Auslöser für seinen Wahnsinn. Seine ritterliche Kraft ist zwar unüberwindlich, aber Ceres-Venus, die eleusinische Göttin, ist, wie es hier heißt, stärker als der Ritter Roland. Das Roland-Motiv findet in seiner Bedeutung für die Kettenbrücke in Wörlitz ihre Fortsetzung (siehe Abb. 54). Hier deutet Rode in seinem Gartenführer direkt auf die Rodomonte-Episode. Der sarazenische Ritter Rodomonte war verzweifelt, weil ihn Floralis verschmähte. Ein Wirt schildert, um den traurigen Rodomonte zu trösten, die angeborene Untreue und hemmungslose Buhlerei der Frauen in den krassesten Bildern. Rodomonte verliert so jede Hochschätzung für die Tugend des weiblichen Geschlechts und versucht, die schöne Isabella, die, von einem Eremiten begleitet, mit ihm zusammentrifft, zu vergewaltigen. Um sich Rodomontes lüsternen Angriffen zu entziehen, täuscht sie unüberwindliche Zauberkräfte vor und läßt sich bei einer Probe ihrer Unverletzlichkeit von ihm erschlagen. Tief bestürzt über ihren Tod baut Rodomonte ihr zu Ehren die Brücke und eine Burg, die nur halb fertig wurde. Rodomonte ahmte dabei gleichsam die königliche Burg nach, die Hadrian an den Wassern des Tyber erbaute [...]. Neben den Grabmahl will er einen hohen Thurm; denn er hat vor, einige Zeit da zu wohnen. Lieber das Wasser, das da in der Nähe lief, baute er eine schmale Brücke, von nur zwey Ellen. [...] In zehn Tagen, oder in weniger, war die Arbeit des Brückleins, das über den Fluß geht, vollkommen, aber so in Eile war das Grabmahl noch nicht, und der Thurm zu seiner Spitze gebracht.35

Die Wohnung des Klausners/Eremiten befand sich - wie im Epos, so auch im Wörlitzer Garten - direkt in der Höhle unter der Brücke, wodurch sehr sinnvoll das Rittergedicht mit der mystischen Partie um den Venustempel verbunden wurde (siehe Abb. 55).

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Ariost, Ludwig, Roland der Wüthende. Ein Heldengedicht von Ludwig Ariost dem Göttlichen. Aus dem Italiänischen aufs neue übersetzt durch Wilhelm Heinse. Hannover 1782, S. 798ff.

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Abb. 54: Wörlitz, Kettenbrücke. Kolorierte Radierung von J. F. Nagel, um 1790

Abb. 55: Der Venustempel zu Woerlitz, 1797. Gezeichnet und in Kupfer gearbeitet von Karl Kuntz

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IV. Während die empfindsame Partie im Neumarkschen Garten noch deutlich zeigt, wie Fürst Franz und seine Gattin Louise, eine geborene Prinzessin von Mecklenburg-Schwedt, die der Preußenkönig Friedrich . aus machtpolitischen Gründen zu dessen Gattin bestimmt hatte, unter Anleitung ihrer religiösen „Eheberater" Geliert und Lavater um den Bestand der Beziehung rangen, zeigen die Partien im Schochschen Garten, daß der Fürst nicht mehr gewillt war, „sich Zaum und Gebiß" anlegen zu lassen. Der Floratempel mit den Blumenphalli und der Supraporte mit nacktem, auf einer Wiese liegendem Liebespaar und der Venustempel mit der mystischen Partie nach dem Initiationsritus der Isismysterien machen deutlich, daß der Fürst, wie seine Vorfahren, die Askanier auch als das Geschlecht der Venus ansah. In Johann Christoph Beckmanns berühmter Historia des Fürstenthums Anhalt (1710), die Franz selbstverständlich gut kannte, wurde „Ascanien/von JEnex Sohn Ascanio benannt".36 Die Abstammung des Fürstengeschlechts über Ascanios oder lulus, der in der griechisch-römischen Sage der Sohn des Aeneas, der Enkel der Venus war, verschmolz das Haus Anhalt mit dem Stammvater der lulier, dem römischen Kaiser Cäsar und daher auch mit Augustus, Tiberius, Caligula, Claudius, Nero usw. Die julischen Kaiser, aber auch später der Kaiser Hadrian, dessen Villa der Fürst zu einem Vorbild für den Garten in Wörlitz nahm,37 waren überwiegend, wie wir mit Rode, dem besten Kenner der Gedanken des Fürsten wissen, Anhänger der erotisch-naturmystischen eleusinischen Mysterien bzw. des Isis-Kultes, der seit Caligula und dann besonders bei Hadrian zum Staatskultus erhoben wurde. Und schließlich war Venus, wie es Ovid in den Fasti ausführlich beschrieb, die eigentliche Stammesmutter Roms. Sie war aber auch die Stammesmutter von Magdeburg.38 Die Venus- bzw. Isisabstammung mit dem römischen Kaisergeschlecht39 zieht sich wie ein roter Faden durch den Wörlitzer Garten (Venustempel, Isis-Mysterien im mystischen Bereich nach Apulejus, Isis im ägyptischen Keller des „Pantheons", Venusbrücke, Venus aus dem Bande usw.) und spiegelt sich dann auch noch im letzten Bauwerk, das hier gebaut wurde, dem bereits erwähnten Monument. Das Monument steht bezeichnenderweise räumlich genau zwischen dem Venustempel und dem Pantheon, direkt gegenüber dem Wörlitzer Schloß und wurde 36 37 38 39

Beckmann, Historia, (wie Anm. 21), V. Theil, S. 2. Vgl. Hirsch, Erhard, Die Wörlitzer Anlagen. Die zweite Hadriansvilla, in: Istanbuler Mitteilungen, Bd. 46 (1996), S. 297-308. Beckmann, Historia, (wie Anm. 21), V. Theil, S. 2. Zum Hintergrund der Herkunfts- und Abstammungsmythen vgl. Graus, Frantiäek, Die Herrschersagen des Mittelalters als Geschichtsquelle, in: Archiv für Kulturgeschichte 51 (1969), S. 65-93, ders., Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter in den Vorstellungen vom Mittelalter. Köln/Wien 1975, insb. S. 206ff; Garber, Jöm, Trojaner - Römer - Franken Deutsche. .Nationale' Abstammungstheorien im Vorfeld der Nationalstaatsbildung, in: Garber, Klaus (Hg.), Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Tübingen 1989, S. 108163.

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durch eine aus Rom hergeschaffte tonnenschwere Säule geziert. Das Monument ist, wie gesagt, ein Tempel der Regenten und regierenden Vormünder des AnhaltDessauischen Hauses. Dies umsomehr, da „vor langen Zeiten her von den Alten Fürsten zu Anhalt"40 Wörlitz als Jagdsitz ausgebaut worden war. Daß auch die „Tempel=Herren allhier ein Gut gehabt haben"41 sollen, mag den Imaginationen von Franz als einem Anhänger des Ritterwesens, der Gotik und des Mittelalters entgegengekommen sein. Daß der Venustempel weit entfernt vom Landhaus und dem Dorf errichtet wurde, stimmt mit der Forderung Vitruvs überein, dessen klassische Übersetzung ebenfalls August Rode verfaßte, nachdem sich auch Erdmannsdorff daran versucht hatte: „Der Tempel der Venus, so wie die des Vulkans und des Mars [...] sind deshalb ausser halb der Stadt zu errichten, damit in der Stadt nicht unter den jungen Leuten und Weibern der Hang zur Unzucht einreisse."42 Anregungen für den Bau eines Venustempels hatten der Fürst und Erdmannsdorff nicht nur Hadrian und Vitruv, sondern auch Stowe, Rousham oder West Wycombe zu verdanken, was sich nicht zuletzt in bezug auf die erotischen Anspielungen zeigte. Sir Francis Dashwood, einer der Begründer der Society of Dilettanti und des Hell Fire's Club, hatte die Höhle unter seinem Tempel der Venus ganz ausdrücklich als die Vagina und die Eingangsmauern als gespreizte Schenkel entworfen.43

V.

Der Gedanke von der alles besiegenden Kraft der Liebe verknüpft letztlich verschiedene Gartenszenen in Wörlitz und zeigt sich auch in bezug auf das Badehaus, das an die Tahitimode in der damaligen Gartenkunst und Literatur erinnert.44 Commercon, Bougainvilles Begleiter, hat Tahiti nicht nur „das neue Kythera", die Lie-

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Beckmann, Historia, (wie Anm. 21), III. Theil, S. 396. Ebd., S. 398. Vitruv, Baukunst. Übers, v. August Rode. Reprint Zürich/München 1987. Bd. l, S. 55. Vgl. G. Jackson-Stops (Hg.), An English Arcadia, 1600-1990. Designs for Gardens and Garden Buildings in the Care of the National Trust. Washington D.C. 1991, S. 94, fig. 66. Vgl. Hartke, Werner, Garzau. Historisch-kritische Darstellungen zur Berliner Aufklärung. Wieder in: Mitteilungen der Pückler Gesellschaft N.F., 7. Heft, 1991, S. 60-134, insb. S. 85ff.; Werner, Brigitta, Otahitische Hütten und Kabinette. Ein Beitrag zum Exotismus in der bildenden Kunst des 18. Jahrhunderts, in: Die Gartenkunst 2/1992, S. 289-306; Lange, Thomas, Idyllische und exotische Sehnsucht. Formen bürgerlicher Nostalgie in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Kronberg i. Ts. 1976.; Wuthenow, Ralph-Rainer, Inselglück. Reise und Utopie in der Literatur des 18. Jahrunderts, in: ders., Das Bild und der Spiegel. Europäische Literatur im 18. Jahrhundert. München/Wien 1984, S. 25-39; ferner: Sperlich, Martin, Das neue Arkadien. Der Garten als utopische Landschaft, in: Neue Heimat 6/1979, S. 10-23.

Wörlitz als höfische Veranstaltung?

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besinsel, genannt, sondern gab ihr ausdrücklich den Namen Utopia, „mit dem Thomas Moms seine ideale Republik benannt hatte".45 Es ist auffallend, daß Fürst Franz in seiner Hand-Bibliothek eine recht ausführliche Sammlung von Robinsonaden- und Utopieliteratur hatte. Pädagogische Dorfutopien mit Bescheidenheits- und Anti-Luxus-Postulaten kannten die Wörlitzer aus den Romanen Hirzels Die Wirtschaft eines philosophischen Bauers (1761) oder aus Geßners Idyllen (1772).46 Für die Zeitschrift des Philanthropins in Dessau arbeiteten mit Wezel und Campe gleich zwei Autoren an Robinson-Übertragungen. Der Däne Sander, am Philanthropin von 1778-85 tätig, entwickelte nach dem Streit um die Robinson-Projekte dann Wezels Robinson-Eiland tatsächlich zu einer Art utopischer Inselrepublik, die das Aussehen einer gärtnerisch durchgestalteten ornamented farm hatte. Auch sein Lustspiel für Kinder Der kleine Herzog (1781) sticht mit seinen, das selbstgefällige Hofleben karikierenden Zügen von den übrigen Kinderschauspielen ab, indem ein großspuriger, selbstgefälliger Erbprinz auf einer Insel Matura selbst die Regierung übernehmen muß und wegen seiner Unfähigkeit die utopische Inselrepublik ins Chaos stürzt. Einen regelrecht kulturkritischen Ansatz verfolgte Sander in seinem an Swifts Gulliver erinnernden Schauspiel Pusillana (1783), das sogar am Philanthropin aufgeführt wurde.47 Daß der Fürst diese Texte kannte, ist anzunehmen, kümmerte er sich doch in diesen Jahren ganz persönlich um alle Belange des Philathropins. 1792 hatte Franz Heinrich Ziegenhagen, der kurze Zeit am Philanthropin in Dessau gewirkt hatte, seine pädagogische Utopie Lehre vom richtigen Verhältnisse zu den Schöpfungswerken veröffentlicht und 1793 persönlich an Fürst Franz übersandt.48 In der Schloßbibliothek in Wörlitz besaß Franz eine englische Fassung der Utopia von Thomas Morus, Nicolas d'Ablancours französische Übersetzung von Lukians Wahrhaftiger Geschichte, Pierre Bayles Dictionnaire historique (mit dem Artikel Sadeur). Natürlich hatte er ein Exemplar von Fonelons Telemaque, Fransois-Auguste de Moncrifs Ouvrages d'imagination, Voltaires Werkausgabe mit Micromegas und Candide, Beaurieus L'eleve de la nature, Merciers L'an deux mille quatre cent quarante und Wielands Der Goldene Spiegel mit der Utopie eines glücklichen „Völkchens von ausgemachten Wollüstlingen". Der erotisch-freimütige Wieland (Musa45

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Rugoff, Milton (Hg.)( The Great Travelers: A collection [...]. New York 1960. Bd. l, S. 408. Vgl. Niedermeier, Erotik in der Gartenkunst, (wie Anm. 2), S. 220ff. sowie den Beitrag von Eva-Maria Seng in diesem Band. Vgl. hierzu Bersier, Gabrielle, Wunschbild und Wirklichkeit. Deutsche Utopien im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1981; Hermand, Jost, Grüne Utopien in Deutschland. Zur Geschichte des ökologischen Bewußtseins. Frankfurt/M. 1991, S. 32ff.; Berghahn, Klaus L./Seeber, Hans Ulrich, Literarische Utopien von Morus bis zur Gegenwart. Königstein 1983. Zu all dem vgl. Niedermeier, Michael, Das Gartenreich Dessau-Wörlitz als kulturelles und literarisches Zentrum um 1780. (= Dessau-Wörlitz-Beitrüge 6: Zwischen Wörlitz und Mosigkau. Schriftenreihe zur Geschichte der Stadt Dessau und Umgebung. Bd. 44) Dessau 1995, S. 13ff. u. 72ff. Vgl. ebd. S. 90, Anm. 402.

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Michael Niedermeier

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